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https://de.wikipedia.org/wiki/Asien
Asien
Asien, Teil von Eurasien, ist mit rund 44,6 Millionen Quadratkilometern und etwa einem Drittel der gesamten Landmasse der nach Fläche größte Erdteil. Mit etwa 4,75 Milliarden Menschen, mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung, ist er auch der einwohnerstärkste. Es gibt 47 international anerkannte Staaten Asiens. Menschheitsgeschichtlich spielte Asien früh eine wichtige Rolle. Hier entstand um 1100 v. Chr. unter der Zhou-Dynastie das erste Großreich, es folgten u. a. das Neuassyrischen Reich und 500 v. Chr. das noch größere Achämenidenreich. Etymologie Das Wort „Asien“ geht über das lateinische Asia auf griechisch Ἀσία (Asía) zurück. Die weitere Herkunft ist unklar. Angenommen wird meist eine Herkunft vom assyrischen assu „Sonnenaufgang, Osten“. Der Name Asía würde demnach eine östliche Region benennen, die in der Richtung des Sonnenaufgangs liegt, und entspräche darin dem lateinischen Wort Orient oder dem deutschen „Morgenland“. In der griechischen Mythologie war Asia der Name einer Okeanide (oder auch Mutter einer solchen bei Hesiod), nach der die geographische Region benannt wurde. Die frühen Griechen nannten zunächst nur die Landmasse Kleinasiens Asien, woraus sich später auch der Name der römischen Provinz Asia ergab. Von Plinius dem Älteren (Naturalis historia, um 77 n. Chr.) wurde der Name dann auch auf den größeren Kontinent bezogen. Langfristig wurde so das alte Asia zu Asia minor. Geographie Asien ist der größte Kontinent der Erde. Mit ca. 44,6 Millionen Quadratkilometer Fläche (ohne Russland 31,7 Millionen Quadratkilometer) umfasst er rund ein Drittel der gesamten Landmasse. Gemeinsam mit Europa wird Asien auch als Teil des Großkontinents Eurasien betrachtet. Die kontinentale Landmasse liegt ganz in der östlichen Hemisphäre und nördlich des Äquators mit Ausnahme der südöstlichsten Inseln im Malaiischen Archipel, die sich auf der Südhalbkugel der Erde befinden. Die Tschuktschen-Halbinsel in Ostsibirien liegt zwar östlich des 180. Längengrades, es gilt aber die östliche Zeit +12h. Ausdehnung Asien wird im Norden vom Arktischen Ozean, im Osten vom Pazifischen Ozean und im Süden vom Indischen Ozean begrenzt. Asien hat im Westen gegenüber Europa keine eindeutige geographische oder geologische Grenze. Die häufigste Definition der Grenze zu Europa von Nord nach Süd: das Ural-Gebirge, der Ural-Fluss, das Kaspische Meer, der Kaukasus bzw. die Manytschniederung, die Südküste des Schwarzen Meeres sowie der Bosporus, das Marmarameer und die Dardanellen. Von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer ist diese Grenze rund 2700 km lang. Mit Afrika ist Asien nördlich des Roten Meeres über die Halbinsel Sinai (Landenge von Sues, 145 km breit) verbunden. Im Nordosten liegen die Festlandmassen von Asien und Nordamerika an der Beringstraße etwas mehr als 80 km voneinander entfernt. Im Südosten bildet der Malaiische Archipel die Verbindung zu Australien. Den südlichsten Punkt bildet die indonesische Insel Pamana. Der nördlichste Festlandspunkt Asiens und der Erde ist Kap Tscheljuskin auf der Taimyrhalbinsel (77° 43′ 21″ N), der östlichste Punkt Kap Deschnjow auf der Tschuktschen-Halbinsel (169° 39′ 7″ W). Von dort bis zum westlichsten Punkt Asiens, dem Kap Baba in Kleinasien (26° 3′ 50″ O), sind es 8.223 km Luftlinie. Der südlichste Festlandspunkt des asiatischen Kontinents ist das Kap Tanjung Piai auf der Malaiischen Halbinsel (1° 15′ 57″ N). Gliederung Zur regionalen Gliederung Asiens gibt es verschiedene Ansätze. Die folgende Unterteilung in Regionen wird neben anderen von der UN-Statistikbehörde UNSD verwendet. Diese Einteilung Asiens in Regionen durch die Vereinten Nationen geschieht ausschließlich aus statistischen Gründen und impliziert keine Annahme über politische oder sonstige Zugehörigkeiten der Länder und Gebiete. Nordasien Zentralasien Vorderasien (Westasien) Südasien Ostasien Südostasien In mancher Veröffentlichung werden diese Grenzen variiert, je nach Ziel, Thema und Hintergrund, für die eine Aufteilung verwendet wird. Früher war Afghanistan Zentralasien zugeordnet, jetzt zu Südasien. Darüber hinaus gibt es auch alternative bzw. zusätzliche Unterteilungen bzw. Überschneidungen, beispielsweise für Nordostasien. Flora und Fauna Die wichtigsten Vegetationszonen oder Ökozonen (von Nord nach Süd): Baumlose Tundra nördlich des Polarkreises. Die wichtigsten Tiere für die nomadisch lebenden Bewohner wie diejenigen der Nenzen sind die Rentiere. Wälder der gemäßigten Zone, darunter der boreale Nadelwald (Taiga) in Sibirien etwa zwischen Polarkreis und Verlauf der Transsibirischen Eisenbahn sowie Laubwälder etwa im Fernen Osten und im Gebiet des Kaspischen Meers. Die vielfältige Fauna hat (historische) Bedeutung für die Jagd, neben Ackerbau und der Viehzucht hat auch die Holznutzung Bedeutung. Hier leben z. B. die seltenen Amurtiger und Amurleoparden, dazu Hirsche, Wildschweine, Luchse und Bären. Kontinentale Graslandschaften oder Steppen. Zu den Tierarten, die diese Steppen natürlicherweise bewohnen, zählen Wildpferde, Saiga-Antilopen, Mongoleigazellen, Wölfe und Ziesel. Vegetationsarme, felsige Gebirgslandschaften und Wüstenlandschaften. Hochlandklima mit großen Tagestemperaturschwankungen und viel Sonnenschein. Die Gebirge werden von zahlreichen Gebirgsweidetieren wie Steinböcken, Goralen, Serauen und Wildschafen bevölkert. Der wichtigste Prädator der zentralasiatischen Gebirge ist der Schneeleopard. Die Wüstengebiete sind Heimat von Halbeseln, Wildkamelen, Geparden und Gazellen. Tropische Savannengebiete und Trockenwälder, vorzugsweise auf dem Indischen Subkontinent, aber auch in Südostasien. Charakteristische Großtiere sind Löwen, Hirschziegenantilopen, Nilgauantilopen und verschiedene Hirsche. Tropische Regenwälder. Nach der Rodung folgt als nächster Zerstörungsschritt häufig der Anbau von Monokulturen wie Palmöl-Plantagen, z. B. in Sabah (Malaysia) auf Borneo. Tropische Monsungebiete wie das Mekongdelta: Hier dominieren der Reisanbau und als Nutztiere Geflügel und Schweine sowie der Fischfang. Superlative Asien weist eine Reihe globaler geographischer Superlative auf: das bevölkerungsreichste Land: Indien (bis etwa Anfang 2023 China) den größten Anteil am weltweit flächenmäßig größten Land: Russland. Dieser Anteil Russlands selbst ist größer als das weltweit zweitgrößte Land Kanada. die höchste und die zweithöchste Gebirgskette: Himalaya und Karakorum, beinhalten alle Berge mit über 8000 Meter Gipfelhöhe den tiefsten und ältesten Binnensee: den Baikal den größten Binnensee: das Kaspische Meer das tiefstgelegene Gewässer: das Tote Meer Es ist der Erdteil mit der verschiedenartigsten Vegetation, wechselnd vom Permafrostboden Sibiriens bis hin zum Dschungel Südostasiens. Neben den Extremen Tundra, Wüste und tropischer Regenwald sind auch alle anderen auf der Erde vertretenen Vegetationszonen in Asien zu finden. Eine weitere Besonderheit sind die meisten interkontinentalen Staaten der Erde, mit sowohl asiatischen Landesteilen als auch Territorien in anderen Erdteilen. Dazu gehören Russland, Kasachstan, Indonesien, Japan, Ägypten und die Türkei. Geschichte Asien ist die Wiege zahlreicher Kulturen, beispielsweise in China, in Japan, in Indien, in Iran sowie Babylonien und Assyrien in Vorderasien. Alle sogenannten Weltreligionen sind in Asien entstanden. Asien und Europa verbindet eine lange Tradition an Kriegen (beispielsweise Alexander der Große, die Perserkriege, die Kreuzzüge, die Einfälle der Hunnen und der Türken) und an Entdeckungsreisen (beispielsweise Sven Hedin), aber auch viele wichtige Handelsverbindungen, wie zum Beispiel die Seidenstraße. Asien ist von jeher von Großreichen geprägt und nicht so zersplittert wie Europa. Die chinesische Kultur hat in der Welt, vor allem jedoch in Ostasien, ihre Spuren hinterlassen (Papier, Buchdruck, Kompass, Seide, Porzellan u. v. m.). Aus Indien hat sich der Buddhismus verbreitet. Nordasien (insbesondere Sibirien) blieb lange Zeit nahezu unbesiedelt, erst als sich das Russische Reich weiter ausdehnte, wurden dort größere Städte gegründet. Zentralasien war traditionell die Heimat von Steppenvölkern (Reitervölker) (beispielsweise den Mongolen), die in früheren Zeiten eine Bedrohung für Europa darstellten. Vorderasien ist seit dem 7. Jahrhundert vom Islam geprägt und hatte einen stark prägenden Einfluss auf Nordafrika. Bevölkerung Entwicklung der Bevölkerung Asiens (in Milliarden; ohne Russland, mit Türkei) In Asien leben rund 4,75 Milliarden Menschen, was etwa 60 % der Erdbevölkerung entspricht. In Indien und in der Volksrepublik China leben jeweils etwa 1,4 Milliarden Menschen. Während vor allem Russland und die Mongolei sehr dünn besiedelt sind, kämpfen andere Länder mit den Auswirkungen ihrer Bevölkerungsexplosion. Gesundheit und Lebenserwartung korrelieren mit dem Wohlstand der Nationen. Höherer Lebensstandard bedeutet auch mehr Ressourcen für die eigene wie für die Volksgesundheit. Die Bewohner von Macau, Singapur, Hongkong und Japan erreichen unter den Asiaten das höchste Durchschnittsalter. Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate, Brunei, China, Malaysia, Thailand, Philippinen und Indonesien liegen mit der Lebenserwartung weltweit etwa im Mittel. Die kürzeste Lebenserwartung in Asien haben Menschen in Indien, Bangladesch, Myanmar, Kambodscha, Laos, Bhutan und Afghanistan. Malaria ist in Südasien und Südostasien verbreitet. Es gibt noch kein effektives Impfmittel gegen Malaria. Durch Insektensprays könnte die Verbreitung etwas eingedämmt werden, diese sind aber für große Teile der betroffenen Bevölkerung zu teuer. AIDS ist weit verbreitet. Besonders in Russland, Indien, Nepal, Myanmar, Thailand, Kambodscha, Vietnam und Malaysia tritt das HI-Virus vermehrt auf. Dagegen sind in Japan, der Mongolei, Sri Lanka, Bangladesch, Bhutan, Afghanistan, Turkmenistan und in Vorderasien nur relativ wenige Menschen an AIDS erkrankt. Diese Angaben sind aber mit Vorsicht zu betrachten, da die HIV-Infektionsrate als Durchschnittswert auf das ganze Land bezogen ist, aber vor allem in den Großstädten gehäuft auftritt. Sprachen In Asien werden viele hundert einzelne Sprachen gesprochen. Zu den bedeutenden Sprachfamilien und Sprachgruppen gehören (Auswahl): Siehe auch Abschnitt Eurasien: Europa und asiatisches Festland im Artikel Sprachfamilien der Welt. Wirtschaft Nach der Einteilung in Nordasien (Russland), Westasien (W), Zentralasien (Z), Südasien (S), Südostasien (SO) und Ostasien (O) ergibt sich folgendes Bild: In Asien gibt es nach Afrika die meisten Entwicklungsländer. Dazu gehören Vietnam (SO), Kambodscha (SO), Laos (SO), Myanmar (SO), Bangladesch (S), Bhutan (S), Nepal (S), Pakistan (S), Afghanistan (S), Tadschikistan (Z), Usbekistan (Z), Kirgisistan (Z), Georgien (W), Armenien (W), Aserbaidschan (W), Jemen (W), die Mongolei (O) sowie (noch) die Volksrepublik China (O) und Indien (S). Zu den ins Industriezeitalter „eingekauften“ Ländern gehören die Erdöl fördernden Staaten Iran (S), Irak (W), Kuwait (W), Saudi-Arabien (W) und die Vereinigten Arabischen Emirate (W). Als Industrienationen gelten Japan (O), Singapur (SO), die Republik China (Taiwan) (O), Südkorea (O), Israel (W), und die beiden zur Volksrepublik China (O) gehörenden Sonderverwaltungszonen Hongkong und Macau. Diese Länder zählen heute zu den weltweit führenden Ländern in Bereichen der Hochtechnologie. Auch Malaysia (SO) unternimmt erfolgreich Anstrengungen, an die Spitze aufzuschließen. Das reichste Land der Welt, Katar (W), liegt in Asien. Industrienationen Sowohl gemessen am Wechselkurs-basierten Bruttoinlandsprodukt als auch in Kaufkraftparität ist China die größte Volkswirtschaft Asiens und die zweitgrößte weltweit. In Asien folgen die Staaten Japan, Indien und Südkorea. Die Wirtschaft Japans war über Jahrzehnte die am stärksten wachsende Volkswirtschaft Asiens. Während Japans wirtschaftliche Lage sich seit den 1990er-Jahren verschlechterte, weisen China und Indien im selben Zeitraum ein, im globalen Vergleich, überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum von mehr als 10 bzw. 7 Prozent pro Jahr auf. Japan hat aber die Rolle der führenden Wirtschaftsnation Asiens 2010 an China abgegeben. Dennoch ist es die führende Industrienation Asiens und (neben dem größtenteils zu Europa gezählten Russland) das einzige Land des Kontinents, das Mitglied der Gruppe der Acht führenden Industrieländer ist. Bezogen auf die Kaufkraftparität hat auch Indien heute (2015) ein größeres BIP als Japan. Tigerstaaten Nach dem Zweiten Weltkrieg, verstärkt ab den 1960er-Jahren, war das wirtschaftliche Wachstum zunächst auf die Länder und Gebiete entlang der Pazifikküste konzentriert, wovon vor allem Japan, Südkorea und Taiwan sowie die ehemaligen britischen Kolonien Hongkong und Singapur profitierten, die sich eng an die Wirtschaft der USA banden. In den 1980er-Jahren entwickelten sich mehrere Staaten in Ost- und Südostasien mit einem raschen Wirtschaftswachstum von Schwellenländern zu Industrieländern: die so genannten „Tigerstaaten“ Hongkong (damals noch eine Kronkolonie des Vereinigten Königreichs), Taiwan, Singapur und Südkorea. 1997/98 fand die rasante Hochkonjunktur in vielen dieser Länder mit der Asienkrise ihr Ende, die – von Thailand ausgehend – vor allem eine Finanz- und Währungskrise war. Seitdem wächst die Wirtschaft dieser Staaten zwar weiter, aber das sehr hohe Wachstum von bis zu zehn Prozent hat sich auf fünf bis sechs Prozent abgeschwächt. Entwicklungsländer Weite Teile Asiens sind nach wie vor landwirtschaftlich geprägt, wobei insbesondere Reisanbau und Fischerei von Bedeutung sind. Rohstoffarme Staaten oder durch Kriege und korrupte Regierungen zurückgeworfene Staaten wie Afghanistan, Bangladesch, Myanmar, Laos, Kambodscha, Vietnam sowie die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien sind nach wie vor landwirtschaftlich entsprechend ihrer Topographie geprägt. Die meisten heutigen zentral- und nordasiatische Staaten waren bis zu deren Zerfall 1990/91 Teil der Sowjetunion und somit planwirtschaftlich organisiert. Die Wirtschaft dieser Länder ist großteils von Landwirtschaft und Schwerindustrie bestimmt. Rohstoffreichtum einiger Regionen wie etwa Erdöl und -gas im Gebiet des Kaspischen Meeres oder diejenigen in der Tundra von Sibirien gewinnen Bedeutung im sich weltweit verstärkenden Kampf um diese Ressourcen, wobei Fluch und Segen für die Bewohner häufig nahe beieinander liegen (Umweltverschmutzung, Korruption und Kriege). Golfstaaten In Südwestasien ist vor allem die Erdölförderung der bestimmende Wirtschaftszweig. Die weltweit größten bekannten Reserven befinden sich auf der arabischen Halbinsel und in den umliegenden Regionen am Persischen Golf, wobei das Königreich Saudi-Arabien über die umfangreichsten Ölfelder verfügt. Weitere bedeutende Förderländer sind Iran und Irak. Die flächenmäßig kleinen Emirate Kuwait und Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und das Königreich Bahrain zählen durch den Verkauf von Erdöl bei zugleich relativ geringer Bevölkerungszahl zu den reichsten Staaten der Erde. Religion, Mythologie und Philosophie Mehrere Regionen Asiens, darunter Mesopotamien, das Tal des Indus (vgl. Indus-Kultur), Iran und China, gelten als „Wiegen der Zivilisation“. Mit der Entwicklung der Zivilisationen und der frühen Hochkulturen in diesen Gebieten ging auch die Entwicklung der Religionen einher. Alle im Allgemeinen als „Weltreligionen“ bezeichneten Religionen haben ihren Ursprung in Asien. Mit über 1 Milliarde Anhänger ist der Islam die größte Religion in Asien und umfasst mehr als ein Viertel aller Bewohner des Kontinents, Muslime stellen die Bevölkerungsmehrheit in mehr als der Hälfte aller Staaten Asiens. Vorderasien Zu den frühesten Monumenten religiösen Empfindens der Menschheit zählt etwa die Anlage in Göbekli Tepe in der heutigen Türkei. Entstanden um etwa 9000 v. Chr., wobei die Ursprünge noch deutlich weiter zurück reichen dürften, als die neolithische Revolution und damit der Beginn von Ackerbau und Viehzucht noch bevorstand, gilt Göbekli Tepe als älteste bekannte Tempelanlage der Welt. Etwa aus derselben Zeit datieren Funde in Nevalı Çori am Euphrat in der heutigen türkischen Provinz Şanlıurfa, wo auch vergleichbare bildhauerische Werke, wie anthropomorphe Figuren und Tierdarstellungen, die auf eine religiöse Nutzung hindeuten, gefunden wurden. In Mesopotamien (Zweistromland; vgl. „Fruchtbarer Halbmond“) entwickelte sich ab etwa dem vierten Jahrtausend v. Chr. die sumerische Religion. Sie ist eine der ältesten bekannten Religionen und hatte entscheidenden Einfluss auf sich später entwickelnde Glaubenssysteme der Kanaaniter (Vorläufer der Hebräer), Akkader, Babylonier, Assyrer, Hethiter, Hurriter, Ugariter und Aramäer. Neben einer Reihe von den Haupt- und Urgöttern verehrten die Sumerer, in einer Zeit als dort einige der ersten Städte wie Ur und Byblos entstanden (vgl. Liste historischer Stadtgründungen), Stadtgötter und verfügten damit bereits über ein Pantheon von Göttern. Das Gilgamesch-Epos, eines der frühesten schriftlichen Zeugnisse der Menschheit, hat seinen Ursprung in dieser Epoche und erzählt von den Begegnungen des Königs Gilgamesch mit den Göttern und seiner Suche nach Unsterblichkeit. Das Enūma eliš (niedergeschrieben ca. im 12. Jahrhundert v. Chr.) ist wiederum einer der ursprünglichsten Schöpfungs-Mythen. Sumerische Mythen, wie etwa die Erzählung von der Sintflut, fanden auch Eingang in die judäo-christlichen Traditionen. Vermutlich in Baktrien entstand zwischen 1800 v. Chr. und 700 v. Chr. der Zoroastrismus, eine der ältesten, wenn auch ursprünglich dualistischen, monotheistischen (Ahura Mazda) Religionen, die bis heute überdauert hat. Die Richter (ca. 1250 v. Chr.) und die Erzväter, die als früheste Überlieferungen der jüdischen Geschichte gelten, hatten ihren Ursprung in Mesopotamien, wo die Vorfahren der Hebräer als Nomadenvolk lebten. Abraham, der Stammvater Israels, soll selbst aus Ur gekommen sein. Tradiert ist die jüdische Religion in einer in der Tora festgehaltenen schriftlichen und einer mündlichen Lehre (Talmud u. a.). Mit Jesus von Nazaret (vgl. Jesus Christus) soll etwa 7 bis 4 v. Chr. in Palästina der selbst in der Tradition der jüdischen Religion stehende Begründer des Christentums geboren worden sein. Nach seinem Tod fand die Lehre seiner Jünger vorerst im Nahen Osten und, innerhalb des Römischen Reiches, in Südeuropa Verbreitung. In Asien entwickelten sich verschiedene Traditionen des christlichen Orients, von denen einige, wie etwa der Nestorianismus, bis weit nach Zentralasien und China vordrangen. Ausgehend vom byzantinischen Reich verbreiteten sich die altorientalischen Kirchen in Vorderasien und auch Indien sowie die heute noch in weiten Teilen Nordasiens vorherrschenden orthodoxen Kirchen. Die Geschichte des Islam begann im 6. Jahrhundert mit dem Wirken Mohammeds auf der arabischen Halbinsel. Gemäß der im Koran festgehaltenen Lehre des Islam gilt er als der letzte Prophet in der Geschichte der Menschheit und Vollender der biblischen Prophetie. In Asien fand der Islam im Zuge der islamischen Expansion Verbreitung im Nahen Osten und in weiten Teilen Zentral- und Südasiens bis zum Malaiischen Archipel im Südosten. Süd- und Ostasien Der bis heute vor allem in Indien vorherrschende Hinduismus entstand gegen Ende der Indus-Kultur um ca. 2000 v. Chr. Die Lehren basieren auf den Veden, heiligen Schriften, deren älteste, die Rigveda, etwa 1200 bis 1000 v. Chr. zusammengestellt wurde. Der Hinduismus umfasst eine große Zahl teils sehr unterschiedlicher Glaubensschulen und Ansichten. Es gibt weder ein gemeinsames Glaubensbekenntnis noch Institutionen, die für alle Gläubigen gleichermaßen Autorität besitzen. Verbindende Merkmale sind die zentralen Gottheiten Brahma, Shiva und Vishnu (Trimurti) – die jedoch in den Lehrtraditionen wie Shivaismus, Vishnuismus oder Shaktismus sehr unterschiedlich betrachtet werden – und der Glaube an den sich ständig wiederholenden Kreislauf des Lebens (Samsara) und die Reinkarnation. Der Hinduismus hatte, wie die indische Philosophie, schon früh prägenden Einfluss auf jene Länder, die im Einflussbereich der indischen Kultur lagen, und fand Eingang in die Glaubenswelten Süd- und Südostasiens. An der Wende vom sechsten zum fünften vorchristlichen Jahrhundert lebte in Nordindien Siddhartha Gautama, der nach der Überlieferung im Alter von 35 Jahren Erleuchtung erlangte und somit zum Buddha („Erwachter“, „Erleuchteter“) wurde. Aus der vedischen Tradition kommend und diese hinter sich lassend, wurde er zum Begründer des Buddhismus. Etwa zeitgleich begründete Mahavira ebenfalls in Indien die Lehre des Jainismus. Der Buddhismus wurde vorerst auf dem indischen Subkontinent, auf Sri Lanka und in Zentralasien bekannt. Der südliche Buddhismus (Theravada) fand Verbreitung in den Ländern Südostasiens. Der nördliche Buddhismus (Mahayana) erreichte über die Seidenstraße Zentral- und Ostasien, sowie von Nordindien die Länder der Himalayaregion, wo sich, in Wechselwirkung mit den bereits verbreiteten Glaubenssystemen wie etwa Bön, weitere Traditionen entwickelten; so beispielsweise Vajrayana (Tibet), Chan (China) bzw. Zen (Japan) und Amitabha-Buddhismus (Ostasien). In China hatten die Philosophen Laozi (auch Lao Tse, Lao-tzu; 6. Jahrhundert v. Chr., ob er tatsächlich existiert hat, ist nicht endgültig geklärt) und Konfuzius (auch Kong Tse, Kǒng Fū Zǐ; ca. 551 v. Chr. bis 479 v. Chr.) die Lehrtraditionen des Daoismus und des Konfuzianismus begründet, die bis heute prägenden Einfluss auf die Gedankenwelt und Gesellschaft Ostasiens besitzen und auch die Entwicklung des Buddhismus in diesen Regionen mitbeeinflussten (vgl. Buddhismus in China). Die Religion in Japan war schon früh durch den Synkretismus verschiedener Glaubenssysteme gekennzeichnet. Bis heute sind Shintō und Buddhismus (Zen, Amidismus), der Japan im 5. oder 6. Jahrhundert erreichte, die am weitesten verbreiteten Religionen. Inhalte der chinesischen Lehren Daoismus und Konfuzianismus wurden von Shintō und Buddhismus aufgenommen und integriert. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs herrscht eine besonders hohe religiöse Toleranz in Japan, was zu einem starken Anwachsen neureligiöser Gruppen geführt hat. An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert stiftete Guru Nanak im Punjab, im Nordwesten Indiens, den Sikhismus. Oft als Abspaltung oder Reformbewegung des Hinduismus oder als Synkretismus aus Hinduismus und Islam bezeichnet, beschreiben Sikhs ihren Glauben als religionsübergreifenden Lebensweg, der sich nicht an dogmatischen Grenzen, sondern an gelebter Weisheit orientiert. Offiziell am 7. September 1926 im südlichen Vietnam gegründet, ist der Caodaismus (Đạo Cao Đài) heute nach Buddhismus und Katholizismus die drittgrößte Religion des Landes. Religionsstifter war Ngô Văn Chiêu, der die Lehren dieser Religion, die verschiedene Inhalte aus mehreren asiatischen Religionen und dem Christentum umfasst, durch spiritistische Sitzungen empfangen hatte. Im 20. Jahrhundert hatten so unterschiedliche Persönlichkeiten wie der Inder Mahatma Gandhi, mit seiner aus der indischen Philosophie abgeleiteten Lehre der Gewaltlosigkeit (Ahimsa), und der chinesische Revolutionär Mao Zedong, mit seinem auf dem Kommunismus basierenden Maoismus, entscheidenden Einfluss auf die Politik der beiden nach ihrer Bevölkerungszahl größten Länder der Erde und darüber hinaus. Länder Asiens nach Regionen * wird politisch und kulturell Europa zugerechnet ** umstrittener Staat Als zwei weitere Staaten wurden seit 2008 Abchasien und Südossetien von Russland und vier nichtasiatischen Staaten anerkannt, von den übrigen Staaten jedoch weiterhin als Teil Georgiens betrachtet. Die türkisch besetzte Türkische Republik Nordzypern ist nur von der Türkei anerkannt. Das mit armenischer Hilfe von Aserbaidschan abgespaltene Bergkarabach wird zwar selbst von Armenien nicht anerkannt, jedoch von Abchasien und Südossetien. Auch die Autonome Region Kurdistan im Nordirak strebte ursprünglich die Unabhängigkeit an, hat sich jedoch in einem Grundlagenvertrag mit der Zentralregierung in Bagdad auf Autonomie innerhalb des Irak verständigt. Der aus den Palästinensischen Autonomiegebieten hervorgegangene Staat Palästina ist zwar Beobachterstaat in der UNO, jedoch kein UNO-Mitgliedsstaat. Bereits 1988 war die palästinensische Staatsgründung von über 100 Staaten (darunter DDR und Vatikan) anerkannt worden, zu denen Palästina diplomatische Beziehungen unterhält. International nicht anerkannt ist der Islamische Staat, der sich spätestens seit 2014 über weite Teile Iraks und Syriens erstreckt und die im 20. Jahrhundert entstandene staatliche Gliederung Westasiens in Frage stellt. Wirtschaftliche und politische Bündnisse und Organisationen Die Arabische Liga wurde als Verbund arabischer Staaten am 22. März 1945 in Kairo gegründet, wo sie auch ihren Sitz hat. Sie besteht aus 22 Mitgliedsstaaten: 21 Nationalstaaten in Afrika und Asien sowie Palästina. Hauptziel der Arabischen Liga sind die Förderung der Beziehungen der Mitgliedsstaaten auf politischem, kulturellem, sozialem und wirtschaftlichem Gebiet. Die Unabhängigkeit und Souveränität der Mitgliedsstaaten und der arabischen Außeninteressen soll bewahrt und Streit innerhalb der Liga geschlichtet werden. Beschlüsse der Liga sind nur bindend für jene Staaten, die ihnen zugestimmt haben. Mitgliedsstaaten aus Asien sind: Bahrain, Irak, Jemen, Jordanien, Katar, Kuwait, Libanon, Oman, Palästina, Saudi-Arabien, Syrien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Innerhalb der Liga bilden Saudi-Arabien, Kuwait, Bahrain, Katar, die VAE und Oman den Golf-Kooperationsrat. Im September 1960 gründeten Iran, Irak, Kuwait, Saudi-Arabien und der südamerikanische Staat Venezuela in Bagdad die OPEC (Organisation Erdöl exportierender Länder), der später auch die Ölförderländer Katar (1961), Indonesien (1962) und die Vereinigten Arabischen Emirate (1967) beitraten. Die OPEC-Mitgliedsstaaten aus Asien, Afrika und Südamerika fördern zusammen etwa 40 % der weltweiten Erdölproduktion und verfügen über rund drei Viertel der weltweiten Erdölreserven. Ziele der OPEC sind eine gemeinsame Ölpolitik, um sich gegen einen Preisverfall abzusichern und zugleich die weltweite Ölversorgung sicherzustellen. Über die Festlegung von Förderquoten für die einzelnen OPEC-Mitglieder wird die Erdölproduktion geregelt. Neben der OPEC sind eine Reihe von Staaten auch in der OAPEC (Organisation der arabischen Erdöl exportierenden Staaten) vertreten, die 1968 von Kuwait, Libyen und Saudi-Arabien als Zusammenschluss politisch konservativer arabischer Länder Asiens und Nordafrikas und Gegenpol zur OPEC geschaffen wurde. Weitere Mitglieder aus Asien sind heute Bahrain, Irak, Katar, Syrien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Die ASEAN (Verband Südostasiatischer Nationen) wurde am 8. August 1967 als politische, wirtschaftliche und kulturelle Vereinigung der südostasiatischen Staaten Thailand, Indonesien, Malaysia, Philippinen und Singapur gegründet. Ziel war und ist die Zusammenarbeit in der Förderung des wirtschaftlichen Aufschwungs, des sozialen Fortschritts und der politischen Stabilität in der Region. Gegründet in der Zeit des „Kalten Krieges“, war das Bündnis von Anfang an kapitalistisch-marktwirtschaftlich und auf die Zusammenarbeit mit den westlichen Industrienationen ausgerichtet und stand in Konkurrenz zur kommunistisch-planwirtschaftlichen Volksrepublik China. 1984 trat das Sultanat Brunei der ASEAN bei, 1995 Vietnam, 1997 Myanmar und Laos sowie 1999 Kambodscha. Papua-Neuguinea hat den Status eines Beobachters. Am 1. Januar 2003 wurde mit der Etablierung der ASEAN-Freihandelszone (AFTA) eine Freihandelszone geschaffen, der alle Mitgliedsstaaten der ASEAN angehören. Australien und Neuseeland stehen in Verhandlungen, um diesem Freihandelsabkommen beizutreten. ASEAN plus Drei bezeichnet die gemeinsame Konferenz der ASEAN-Staaten mit China, Japan und Südkorea. In Thailand wurde 2000 die Chiang-Mai-Initiative begründet, die eine enge Kooperation der ASEAN plus Drei-Länder im Finanzsektor festlegt. Iran, Pakistan und die Türkei gründeten 1985 die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (ECO), aus der eine Freihandelszone entstehen sollte. Seit der Auflösung der Sowjetunion traten auch Afghanistan, Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan dem Kooperationsbündnis bei. Internationale Bedeutung kommt ihm vor allem durch den Reichtum an Bodenschätzen in einigen Mitgliedsländern und durch die strategische Lage als Transitkorridor für diese Güter sowohl nach Europa wie auch nach China zu. Auf Initiative der USA, Japans und Australiens wurde 1989 die Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) geschaffen, deren Ziel die Einrichtung einer alle Pazifik-Anrainerstaaten umfassenden Freihandelszone in zwei Schritten ist: Ab 2010 sollen die Freihandelsabkommen für die Industrienationen der Regionen gelten, ab 2020 auch für die Entwicklungsländer. Asiatische Mitglieder der APEC sind Brunei, die Volksrepublik China, Indonesien, Japan, Malaysia, Papua-Neuguinea, die Philippinen, Russland, Singapur, Südkorea, Taiwan, Thailand und Vietnam. Das Asien-Europa-Treffen (Asia-Europe Meeting: ASEM) dient der Beratung und multilateralen Gesprächen zwischen Europa und Asien über eine Zusammenarbeit in Wirtschaft, Politik, Bildung und Kultur. Der Vorschlag zu diesem Treffen kam vom damaligen Premierminister von Singapur Goh Chok Tong und wurde im März 1996 umgesetzt. Mitglieder aus Asien sind: Brunei, die Volksrepublik China, Indonesien, Japan, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, Philippinen, Singapur, Südkorea, Thailand und Vietnam. 1997 wurde die Gruppe der acht Entwicklungsländer (D-8) gegründet, der neben Ägypten und Nigeria die asiatischen Staaten Bangladesch, Indonesien, Iran, Malaysia, Pakistan und die Türkei angehören. Ziel der D-8 ist es, ihre Stellung in der Weltwirtschaft zu verbessern, Handelsbeziehungen zu diversifizieren und neue Handelsbeziehungen zu schaffen, die Teilhabe bei Entscheidungen auf internationaler Ebene auszubauen und so für bessere Lebensbedingungen der Menschen in Entwicklungsländern zu sorgen. Die Shanghai Cooperation Organisation (SCO; auch: Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, SOZ) ging 2001 aus der Shanghai-Five-Gruppe hervor, die in erster Linie der militärischen Zusammenarbeit der Mitgliedsländer und der Reduktion der Militärpräsenzen an den gemeinsamen Grenzen dienen sollte. Zu den ursprünglichen Mitgliedsstaaten Volksrepublik China, Russland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan kam mit Gründung der SCO Usbekistan hinzu. Die Mongolei, Indien, Pakistan und der Iran befinden sich im Beobachterstatus. Besonders Indien wird zu einer vollen Mitgliedschaft ermutigt. Neben der Verbesserung der politischen Stabilität in der Region, wozu auch ein Antiterrornetzwerk (Regional Antiterrorism Structure, RATS) eingerichtet wurde, werden langfristig eine gemeinsame Außenpolitik und die Schaffung einer Freihandelszone angestrebt. Im Vorfeld der fünften ministeriellen Konferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Cancún (Mexiko) wurde am 20. August 2003 die G20 (zeitweise auch G21, G22 oder G20+) als gemeinsame Plattform für Entwicklungs- und Schwellenländer und Gegengewicht zu den USA und der EU geschaffen. Neben Brasilien sind die Volksrepublik China und Indien darin die führenden Kräfte. Mitglieder sind auch Indonesien, Pakistan, die Philippinen und Thailand. Seit 2002 kooperieren 30 asiatische Staaten aus allen Regionen im Asian Cooperation Dialogue. Jährliche Treffen vor allem der Außen-, Finanz- und Wirtschaftsminister sollen zu einer verstärkten Zusammenarbeit beitragen. Weitere wichtige asiatische Organisationen sind: die Organisation der Islamischen Konferenz, die Asiatische Entwicklungsbank (Asia Development Bank, ADB) und die Asiatische Menschenrechtskommission. Siehe auch Asiatisches Fernstraßen-Projekt Eurasisches Magazin – Netzzeitschrift mit Thema Europa und Asien. Transnationale Umweltverschmutzung in Ostasien Liste asiatischer Fernsehsender in Europa Liste geographischer Rekorde nach Kontinent#Asien Weblinks Stiftung Asienhaus in Köln, ein Zusammenschluss asienbezogen arbeitender Nichtregierungsorganisationen bietet vielfältige Informationen zu verschiedenen Ländern und Regionen mit Schwerpunkt auf soziale Entwicklungen, Menschenrechte und Umwelt. Bundeszentrale für politische Bildung: Schwerpunkt Asien Jochen Buchsteiner: Neue Kräfte in Asien – Rückwirkungen für Europa. Diskussionspapier für den Salzburger Trilog 2006 zu den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Folgen des „Pazifischen Jahrhunderts“. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2006 (PDF; 912 kB). Kultur in Asien: Kunst, Religion, Kult, Feste, Kalender, Architektur, Geschichte (von Dr. Bernhard Peter) (ein breit angelegtes Informationsforum über verschiedene asiatische Länder, das Essays, Photogalerien und Reiseberichte vereint) (englisch) Umfangreiche Landkartensammlung von Asien Perry-Castañeda Library Map Collection: Historical Maps of Asia (University of Texas, Austin) a resource of the Asia Society (englisch) Asia expatriates resources (englisch) Viele Bilder aus Asien von Dubai bis Vietnam Einzelnachweise Eurasien Kontinent
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https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitsrecht%20%28Deutschland%29
Arbeitsrecht (Deutschland)
Das deutsche Arbeitsrecht ist ein Rechtsgebiet, das die Rechtsbeziehungen zwischen einzelnen Arbeitnehmern und Arbeitgebern (Individualarbeitsrecht) sowie zwischen den Koalitionen und Vertretungsorganen der Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber (Kollektives Arbeitsrecht) regelt. Geschichte Die Arbeit ist bereits seit dem Altertum Gegenstand rechtlicher Regelungen. Im römischen Recht hatte der Dienstvertrag (locatio conductio operarum) jedoch aufgrund der weiter verbreiteten Sklaven­arbeit nur eine untergeordnete Rolle. Im Deutschland des Mittelalters tragen Dienstverhältnisse oft personalrechtliche Züge. Obgleich es in bestimmten Gebieten bereits eine echte Kapitalisierung der Arbeit gibt, wird heute die Verbreitung der kapitalistischen Verdinglichung der Arbeit ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als der Beginn der Arbeitsrechtsgeschichte angesehen. Die sozialen Missstände der Industrialisierung im 19. Jahrhundert waren Folge der Privatautonomie trotz Ungleichgewichtigkeit der Macht der Vertragspartner. Das erkennend entwickelte sich zum Beispiel der Jugendarbeitsschutz, das Verbot der Kinderarbeit und das Sozialversicherungsrecht, sowie die Abkehr vom Koalitionsverbot (1869). Dieser Entwicklung trug das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) von 1896 jedoch nicht Rechnung, der Dienstvertrag nach §§ 611 ff. BGB wird dort als normaler Austauschvertrag mit weitgehender Privatautonomie geregelt, der personenrechtliche Einschlag des Arbeitsverhältnisses wurde nicht anerkannt. Mit dem Stinnes-Legien-Abkommen wurden im November 1918 die Weichen für die weitere Entwicklung der Arbeitsverfassung gestellt. Um eine nach dem Rätesystem gegründete sozialistische Republik zu verhindern, waren die Unternehmer zur Anerkennung der Gewerkschaften bereit. § 1 des Abkommens regelte den Vorrang des Tarifvertrags vor dem einzelnen Arbeitsvertrag. In der Zeit der Weimarer Republik entstanden weitere Arbeitsschutzgesetze und einige entscheidende Weiterentwicklungen des kollektiven Arbeitsrechts, wie die verfassungsmäßig garantierte Koalitionsfreiheit (Art. 159 Weimarer Verfassung). Um „die revolutionären Tendenzen der Rätebewegung aufzufangen“, wurde in die Verfassung ein Räteartikel (Art. 165) aufgenommen. Er sah „ein dreistufiges Rätesystem vor, dessen Basis die Betriebsräte bilden sollten. Dadurch war die Rätebewegung, die unter dem Schlagwort 'Alle Macht den Räten' die politische und wirtschaftliche Macht im Staat gefordert hatte, in eine wirtschaftliche Interessenvertretung umgewandelt und in die Wirtschaftsverfassung eingebaut worden. Da den Gewerkschaften aber die Kompetenz zur Vereinbarung der Lohn- und Arbeitsbedingungen verfassungsrechtlich garantiert wurde, waren die Arbeiterräte in einem Kernbereich des Arbeitsrechts an den Rand gedrängt. Von dem dreistufigen Rätesystem wurde außerdem nur die unterste Stufe durch das Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 1920 verwirklicht.“ 1926 wurde die Arbeitsgerichtsbarkeit als neuer Instanzenzug eingerichtet (Arbeitsgerichtsgesetz). Während der Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945) wurde das kollektive Arbeitsrecht wegen Unvereinbarkeit mit dem Führerprinzip abgeschafft, das Arbeitsvertrags- und Arbeitsschutzrecht jedoch weiter ausgebaut. 1934 wurde das von Hans Carl Nipperdey und Alfred Hueck verfasste „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ in Kraft gesetzt. Es beseitigte die Reste des Weimarer Arbeitsrechts und verankerte das „Führerprinzip“ in den Betrieben, indem Arbeitnehmer als „Gefolgsleute“ bestimmt wurden. Nach 1945 wurden die Gewerkschaften wieder zugelassen. Das Kontrollratsgesetz Nr. 22 vom 10. April 1946, das als vorkonstitutionelles Recht in der Bundesrepublik auch nach deren Gründung in Kraft blieb, erlaubte die Bildung von Betriebsräten. Neben diesem Rahmengesetz wurden Landesgesetze erlassen, so dass aufgrund der Zersplitterung eine bundeseinheitliche Regelung notwendig wurde. „Der Kampf um die Ausgestaltung des Betriebsverfassungsgesetzes vom 11. Oktober 1952 wurde mit großer Erbitterung geführt, nachdem schon im Jahr vorher der Kampf um die Mitbestimmung in den Betrieben des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie beinahe zu einer Staatskrise geführt hätte.“ Die Gewerkschaften konnten sich mit ihren Vorstellungen für eine „Wirtschaftsdemokratie“ nicht durchsetzen. Vor allem als erster Präsident des Bundesarbeitsgerichts in Kassel von 1954 bis 1963 konnte Nipperdey seine Ideologie des Arbeitsverhältnisses als eines „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses“ als „herrschende Meinung in Literatur und Rechtsprechung“ in die Nachkriegszeit übertragen. „Rechtsprechung“ hießen dabei die einschlägigen Urteile des BAG unter eben seiner Ägide. Und als „Literatur“ firmierten Lehrmeinungen, die von ihm selbst sowie seinen Mitarbeitern Hueck, Rolf Dietz und Arthur Nikisch vertreten wurden. Durch diese unabhängig von demokratischen Gesetzen im Wege der „Rechtsfortbildung“ und „Rechtsschöpfung“ durchgesetzten Auffassungen wurde der Umbau des Arbeitsverhältnisses von einem Austausch- zu einem „Gemeinschaftsverhältnis“ erreicht, das die Interessen des Arbeitnehmers unterordnet. Das drückt sich u. a. darin aus, dass – im Widerspruch zur allgemeineuropäischen Rechtsprechung – der politische Streik in der Bundesrepublik als verboten gilt, dass auch Whistleblowing strafbar ist, hingegen Verdachtskündigungen aufgrund gestörten „Vertrauens“ auf Arbeitgeberseite möglich sind. Im Mitbestimmungsgesetz von 1976 wurde die Mitbestimmung in Großbetrieben ausgebaut. In der DDR war das Arbeitsrecht u. a. in einem einheitlichen Arbeitsgesetzbuch geregelt. Rechtsquellen Trotz einiger Bemühungen und der Regelung im Einigungsvertrag (), ein Arbeitsgesetzbuch zu schaffen, gibt es bisher noch keine einheitliche Kodifikation des Arbeitsrechts. Regelungen finden sich daher zersplittert u. a. in folgenden Rechtsquellen: Europarecht (meist als Richtlinien) Deutsche Gesetze: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland insb. Abs. 3, Koalitionsfreiheit Bürgerliches Gesetzbuch insbes. , Dienstvertrag Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns – Mindestlohngesetz Arbeitnehmer-Entsendegesetz Kündigungsschutzgesetz Betriebsverfassungsgesetz und Personalvertretungsgesetze (PersVG – öffentlicher Dienst) Tarifvertragsgesetz Mitbestimmungsgesetze (Montan-MitbestG, MitbestG und DrittelbG) regeln die Beteiligung der Arbeitnehmer am Aufsichtsrat Altersteilzeitgesetz Gewerbeordnung insbes. Handelsgesetzbuch insb. (Handlungsgehilfen und Handlungslehrlinge) Teilzeit- und Befristungsgesetz Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) Entgeltfortzahlungsgesetz Bundesurlaubsgesetz Arbeitszeitgesetz Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Mutterschutzgesetz und Bundeselterngeldgesetz Pflegezeitgesetz und Familienpflegezeitgesetz Nachweisgesetz Arbeitsplatzschutzgesetz Jugendarbeitsschutzgesetz und Kinderarbeitsschutzverordnung Berufsbildungsgesetz sowie Ausbildungsverordnungen der einzelnen Berufe Arbeitsschutzgesetz und Arbeitsstättenverordnung Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit () Berufskrankheiten-Verordnung Viertes Buch Sozialgesetzbuch insbes. Geringfügige Beschäftigung Neuntes Buch Sozialgesetzbuch, Schwerbehindertenrecht Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) Gesetz über Arbeitnehmererfindungen zusammen mit der Zweiten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über Arbeitnehmererfindungen Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung (SchwarzArbG) Arbeitsgerichtsgesetz Gesetz über die Statistik der Verdienste und Arbeitskosten (Verdienststatistikgesetz – VerdStatG) Strafgesetzbuch (Lohnwucher nach BAG, Urteil vom 24. März 2004 - 5 AZR 303/03) Verordnung über die Berechnung, Zahlung, Weiterleitung, Abrechnung und Prüfung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages (Beitragsverfahrensverordnung – BVV) diverse Rechtsverordnungen über Mindestarbeitsbedingungen für einzelne Branchen Tarifverträge für Branchen sowie Einzelunternehmen Betriebsvereinbarungen und Dienstvereinbarungen (öffentlicher Dienst) Einzelarbeitsverträge nicht das so genannte Richterrecht, da dieses rechtlich nicht bindend und somit keine Rechtsquelle ist. Faktisch kommt dem Richterrecht aber eine große Bedeutung im Arbeitsrecht zu, speziell im gesetzlich völlig ungeregelten Arbeitskampfrecht. (Zur Rangordnung der unterschiedlichen Rechtsquellen vergleiche Günstigkeitsprinzip sowie Normenpyramide im Arbeitsrecht.) Arbeitsvertrag Ausgangspunkt des Arbeitsrechts ist der Arbeitsvertrag, durch den das Arbeitsverhältnis überhaupt erst begründet wird. Der Arbeitsvertrag ist eingebettet in ein komplexes System arbeitsrechtlicher Regulierungen durch Betriebsvereinbarungen bzw. Dienstvereinbarung (im öffentlichen Dienst), Tarifverträge, nationale Gesetze und Verordnungen sowie durch supranationale EU-Richtlinien und EU-Verordnungen. Auch der Rechtsprechung durch die nationalen Gerichte und den Europäischen Gerichtshof (EuGH) kommt eingeschränkt eine rechtsetzende Funktion zu. Der Arbeitsvertrag, auch Anstellungsvertrag, ist nach deutschem Recht ein Vertrag zur Begründung eines privatrechtlichen Schuldverhältnisses über die entgeltliche und persönliche Erbringung einer Dienstleistung. Der Arbeitsvertrag wird in BGB geregelt und stellt eine Unterart des Dienstvertrages dar. Werden Arbeitsvertragsbedingungen für eine Vielzahl von Verträgen vorformuliert, unterliegen sie grundsätzlich auch dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen nach ff. BGB. Im Unterschied zum freien Dienstverhältnis ist das durch den Arbeitsvertrag begründete Arbeitsverhältnis von der persönlichen Abhängigkeit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber gekennzeichnet. Der Arbeitnehmer kann im Wesentlichen nicht selbst seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen. Er ist vielmehr in die Arbeitsorganisation des Arbeitgebers eingegliedert und unterliegt typischerweise den Weisungen des Arbeitgebers über Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit. Kollektives Arbeitsrecht Unter dem kollektiven Arbeitsrecht versteht man das Recht der arbeitsrechtlichen Koalitionen (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände), das Tarifvertrags­recht, das Arbeitskampfrecht (Streiks und Aussperrungen) sowie das Mitbestimmungsrecht in Unternehmen und Betrieben. Tarifvertragsrecht Das Tarifvertragsrecht ist im Tarifvertragsgesetz geregelt. Das Arbeitskampfrecht ist vorwiegend Richterrecht; eine gesetzliche Normierung ist bislang nicht erfolgt. Rechtliche Grundlage des Tarifvertragsrechts sind die Koalitionsfreiheit, Art. 9 Abs. 3 GG und die Tarifautonomie. Unternehmensmitbestimmung Zu unterscheiden ist die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in privaten Betrieben und die Mitbestimmung in Unternehmen. Ein Unternehmen ist ein Rechtsträger (Einzelperson, Gesellschaft, juristische Person), der einen oder mehrere Betriebe führen kann. Betriebe sind organisatorische Einheiten, mittels derer der Unternehmer einen Betriebszweck (z. B.: Produktion, Dienstleistung) zu erfüllen versucht. Mitbestimmung im Aufsichtsrat Die Unternehmensmitbestimmung im Aufsichtsrat ist im Drittelbeteiligungsgesetz, im Mitbestimmungsgesetz und im Montan-Mitbestimmungsgesetz geregelt. Das Drittelbeteiligungsgesetz hat 2004 die Weitergeltung von Teilen des BetrVG von 1952 abgelöst, ohne inhaltliche Änderungen nach sich zu ziehen. Betriebsrat und vergleichbare Gremien Die betriebliche Mitbestimmung der Arbeitnehmer in privaten Betrieben ist im Betriebsverfassungsgesetz und im Sprecherausschussgesetz geregelt. Sie wird durch Betriebsräte und für die leitenden Angestellten durch Sprecherausschüsse ausgeübt, die von den Arbeitnehmern in freier und geheimer Wahl bestimmt werden. In Betrieben und Verwaltungen des öffentlichen Dienstes sind Personalvertretungen zuständig, deren Arbeitsgrundlagen für die Bundesverwaltung im Bundespersonalvertretungsgesetz, ansonsten in Personalvertretungsgesetzen der 16 Bundesländer enthalten sind. In kirchlichen Tendenzbetrieben sind Mitarbeitervertretungen aufgrund kirchlichen Arbeitsrechtes tätig. Rechtsgrundlagen Im kollektiven Arbeitsrecht bestehen neben staatlichen Gesetzen Kollektivvereinbarungen als zwingende Rechtsgrundlagen für die erfassten Arbeitsverhältnisse. Das sind einmal branchen- oder unternehmensbezogen die Tarifverträge und betriebsbezogen die Betriebsvereinbarungen (bzw. im öffentlichen Dienst Dienstvereinbarungen). Siehe auch Gesetzliche Ausschlussfristen im Arbeitsrecht (Deutschland) Privatautonome Ausschlussfristen im Arbeitsrecht (Deutschland) Literatur Handbücher Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Übersicht über das Arbeitsrecht / Arbeitsschutzrecht. Januar 2008, ISBN 978-3-8214-7281-2 (Buch mit CD). Michael Kittner, Bertram Zwanziger, Olaf Deinert (Hrsg.): Arbeitsrecht. Handbuch für die Praxis. 6. Auflage, Bund-Verlag, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-7663-6085-4 (Buch mit CD). Rolf Geffken: Umgang mit dem Arbeitsrecht : Handbuch für Beschäftigte : Neuauflage und Altauflage in einem: 40 Jahre Erfahrung mit dem Arbeitsrecht Cadenberg 2019, ISBN 978-3-924621-18-6 Lehrbücher Hans Brox, Bernd Rüthers, Martin Henssler: Arbeitsrecht. 18. Auflage, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-17-021515-3. Wolfgang Däubler: Arbeitsrecht – Ratgeber für Beruf, Praxis und Studium. 8. Aufl. 2010, Bund-Verlag, Frankfurt a. M., ISBN 978-3-7663-3991-1. Wilhelm Dütz & Gregor Thüsing: Arbeitsrecht. 20. Auflage, Beck Juristischer Verlag, München 2015, ISBN 978-3-406-60559-8. Monika Hausmann: Die Reaktion auf Willensmängel beim Arbeitsvertragsschluss. Herbert Utz Verlag, München 2008, ISBN 978-3-8316-0809-6. Abbo Junker: Grundkurs Arbeitsrecht. 14. Auflage, Verlag C.H. Beck, München 2015, ISBN 978-3-406-61585-6. Günter Marschollek: Arbeitsrecht. 18. Auflage, Alpmann Schmidt, Münster 2011, ISBN 978-3-86752-166-6. Michael Wollenschläger: Arbeitsrecht. 3. Auflage, Heymanns, Köln 2010, ISBN 978-3-8006-4136-9. Kommentare Küttner, Jürgen Röller (Hrsg.): Personalbuch 2010. Arbeitsrecht – Lohnsteuerrecht – Sozialversicherungsrecht (Kommentierung nach Stichworten), 17. Auflage, München 2010, Verlag C.H. Beck, ISBN 978-3-406-57813-7. Wolfgang Däubler, Birger Bonin, Olaf Deinert: AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht (Kommentierung zu den §§ 305-310 BGB), 3. Auflage, München 2010, Verlag Franz Vahlen, ISBN 978-3-8006-3772-0. Zur Geschichte Zeitschriften Arbeit und Arbeitsrecht (AuA), Zeitschrift für das Personal-Management, Huss-Medien GmbH, . Arbeit und Recht (AuR), Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht. Bund-Verlag, . Arbeitsrechtliche Entscheidungen, Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht des Deutschen Anwaltvereins, Fachanwalt Arbeitsrecht (FA), Zeitschrift für die beratende und die gerichtliche Praxis. Luchterhand, . Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA). Verlag C.H. Beck, . Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht - Rechtsprechungs-Report Arbeitsrecht (NZA-RR). Verlag C.H. Beck, . Recht der Arbeit (RdA), Zeitschrift für die Wissenschaft und Praxis des gesamten Arbeitsrechts. Verlag C.H. Beck, . Zeitschrift für Arbeitsrecht (ZFA). Carl Heymanns Verlag, . Weblinks JuraWiki Arbeitsrecht Die Arbeitsgerichtsbarkeit auf der Website des Bundesarbeitsgerichts Informationen zum Thema Arbeitsrecht auf der Internetseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales Einzelnachweise Rechtsstaat
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https://de.wikipedia.org/wiki/Aussperrung
Aussperrung
Als Aussperrung bezeichnet man die vorübergehende Freistellung von Arbeitnehmern von der Arbeitspflicht durch einen Arbeitgeber in einem Arbeitskampf ohne Fortzahlung des Arbeitslohnes. Sie ist eine erlaubte mögliche Antwort der Arbeitgeberseite auf einen Streik (Abwehraussperrung) und soll die Kosten des Streiks für die Gewerkschaften erhöhen, da diese mehr Streikgelder bezahlen müssen. Zwar gilt bereits für die Streikenden der Grundsatz „Ohne Arbeit kein Lohn“, so dass der Arbeitgeber diesen ohnehin kein Entgelt zahlen muss. Jedoch kann der Arbeitgeber mit der Aussperrung auch die Arbeitswilligen von der Arbeit ausschließen. Gewerkschaftsmitglieder würden in diesem Falle Unterstützung aus der Streikkasse erhalten. Nicht-Mitglieder stünden jedoch ohne finanzielle Absicherung da. Der Staat darf aufgrund der Tarifautonomie keine Leistungen zahlen, da dies gegen das Neutralitätsgebot verstoßen würde. In der Praxis hat die Aussperrung in Deutschland an Bedeutung verloren. Seit der Wiedervereinigung kam diese kaum zum Einsatz. Im Februar 2020 kam es z. B. zu Aussperrungen seitens der Gilde-Brauerei, die im Arbeitskampf mit der NGG Tarifverhandlungen verhindern wollte. Die hessische Verfassung bestimmt in Artikel 29 Absatz 5: "Die Aussperrung ist rechtswidrig." Dazu hat das Bundesarbeitsgericht 1988 entschieden, dass die Regelung zumindest insoweit nichtig sei, als es um suspendierende Aussperrungen geht. Deren Zulässigkeit sei dem Tarifvertragsgesetz zu entnehmen, das als Bundesrecht gemäß Artikel 31 des Grundgesetzes Vorrang genieße. Begriffe Der Ausdruck ist die Eindeutschung des englischen Begriffs „Lock-out“ (nach Merriam-Webster’s: erstes Auftreten 1854) und wie die Maßnahme selbst aus dem Vereinigten Königreich übernommen worden. Neben der Abwehraussperrung wird in der Literatur auch die Angriffsaussperrung beschrieben, in der die Arbeitgeberverbände versuchen, ihrerseits tarifvertragliche Änderungen zu bewirken. Entsprechend der Typisierung von Streiks können auch Aussperrungen in Sympathie-, Straf-, Generalaussperrung oder nach flächenmäßigem Umfang nach Einzel-, Verbands- oder Flächenaussperrung unterschieden werden. Eine weitere Unterscheidung ist die nach suspendierender oder lösender Aussperrung. Bei lösender Aussperrung erfolgt eine Entlassung der betreffenden Mitarbeiter, ohne dass am Ende des Arbeitskampfes das alte Arbeitsverhältnis wieder auflebt. Bei einer suspendierenden Aussperrung ruht das Arbeitsverhältnis nur und wird automatisch wieder aufgenommen. Es wird zwischen kalter und heißer Aussperrung unterschieden. Heiße Aussperrung Die heiße Aussperrung ist im deutschen Recht eine Maßnahme des Arbeitgebers im Arbeitskampf. Sie bedeutet den vorübergehenden Ausschluss mehrerer Arbeitnehmer von Beschäftigung und Lohnzahlung, also eine Einstellung der Arbeit. Sie ist in der Praxis stets eine Reaktion (Abwehrmaßnahme) auf einen Streik. Die theoretisch denkbare Angriffsaussperrung kommt praktisch nicht vor. Die Zulässigkeit der Aussperrung ist in der rechtswissenschaftlichen und politischen Literatur umstritten, wird in der Rechtsprechung aber schon seit langem anerkannt. Dabei wird die Aussperrung grundsätzlich nur im Rahmen der Waffengleichheit (Kampfparität) gewährt. Kalte Aussperrung Mit einer kalten Aussperrung wird eine Aussperrung bezeichnet, wenn ein Betrieb nicht produzieren kann, da er abhängig von einem anderen Betrieb ist, der sich in einem Zustand des Streiks und somit auch der heißen Aussperrung befindet. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn ein Automobilhersteller keine Autos produzieren kann, weil der Zulieferer keine Bauteile anliefert, und deshalb aussperrt. Eine angebliche Abhängigkeit vom Zulieferer liegt dabei vor, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmern anstelle einer kalten Aussperrung Beschäftigungen anweisen könnte, die auch ohne das besagte Bauteil des bestreikten Zulieferers durchführbar wären, dies aber wegen einer zu geringen erwartbaren Wertschöpfung unterlässt. Eine echte Abhängigkeit liegt vor, wenn ein Produkt ohne das Bauteil des Zulieferers nicht gefertigt werden kann und sich das halbfertige Produkt, ohne das besagte Bauteil, nicht auf Halde legen lässt und wenn es keine anderweitigen wertschöpfenden Beschäftigungsmöglichkeiten gibt. Argumentation der Betriebe Kalte Aussperrungen werden damit begründet, dass eine Weiterproduktion aufgrund der fehlenden Zulieferteile nicht möglich ist. Argumentation der Gewerkschaften Unter Gewerkschaften ist eine verbreitete Meinung, dass kalte Aussperrungen nicht zwingend notwendig und nur willkürliche Kampfmittel sind, um Gewerkschaften zur Streikaufgabe zu zwingen („Kostenkeule“). Die Gewerkschaften sehen in kalten Aussperrungen ein Mittel der Arbeitgeber, die Kosten für einen Streik zu erhöhen. Bei einem Streik in einem kleinen Zulieferbetrieb, der für viele Betriebe produziert, führt eine „heiße“ Aussperrung dazu, dass in großem Maße Aussperrungen bei den nun nicht mehr belieferten Betrieben folgen. Damit werden auch diese kalt ausgesperrten Betriebe mit möglicherweise Hunderttausenden Arbeitnehmern in einen Arbeitskampf einbezogen. Ziel der Arbeitgeber sei es, so die Gewerkschaften, den Arbeitskampf schnell zu brechen, da nur für den Ursprungsbetrieb, der die heiße Aussperrung betreibt, Streikunterstützungen gezahlt werden. Die Beschäftigten, die von der kalten Aussperrung betroffen sind, erhalten keine finanzielle Unterstützung von der Gewerkschaft oder dem Arbeitsamt und üben damit Druck auch auf die Gewerkschaften aus. Nach einer Gesetzesänderung (§ 116 AFG) im Jahr 1986 wird kalt ausgesperrten Beschäftigten kein Kurzarbeitergeld mehr gezahlt. Änderung des § 116 AFG Zunehmende Auslagerung von Teilaufgaben (Outsourcing) erhöhte in den 1970er und 1980er Jahren die Abhängigkeit der Unternehmen von ihren Lieferanten. Erklärte Strategie der Gewerkschaften Anfang der 1980er war daher, durch Schwerpunktstreiks in ausgewählten Zuliefererbetrieben ganze Industriezweige lahmzulegen und die eigene Streikkasse durch die geringe Zahl der Streikenden zu schonen. Die Arbeitgeber reagierten auf diese Strategie mit umfangreichen „kalten“ Aussperrungen der Betriebe, die mangels Vorprodukten nicht mehr arbeiten konnten. Die von diesen Aussperrungen betroffenen Mitarbeiter erhielten im Regelfall aufgrund des Arbeitsförderungsgesetzes während der Aussperrung Arbeitslosengeld. Damit war die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit nach Meinung der Regierung gefährdet. Aufgrund dessen wurde (gegen den Widerstand von SPD und Gewerkschaften) 1986 durch den Bundestag durch das „Gesetz zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen“ der 116 AFG neu gefasst. Seit dieser Gesetzesänderung ist eine Zahlung von Arbeitslosengeld an „kalt“ ausgesperrte Arbeitnehmer nur unter sehr erschwerten Bedingungen möglich. Das Bundesverfassungsgericht erklärte in einem Urteil vom 4. Juli 1995 diese Regelung für zulässig. Die Regelung des § 116 AFG wurde mit der Einordnung des Arbeitsförderungsrechts in das Sozialgesetzbuch zum 1. Januar 1998 in SGB III ohne inhaltliche Änderungen übernommen. Seit dem 1. April 2012 wird das Ruhen des Arbeitslosengeldes bei Arbeitskämpfen in SGB III geregelt. Die Vorschrift wurde lediglich zur sprachlichen Gleichbehandlung von Frauen und Männern angepasst. Häufigkeit und Umfang von Aussperrungen Der Umfang und die Häufigkeit von Aussperrungen änderte sich je nach Epoche. Im deutschen Kaiserreich waren Aussperrungen ein vielfach angewendetes Mittel des Arbeitskampfes. Die im Vergleich zu späteren Jahren hohe absolute Zahl von Aussperrungen (und Streiks) erklärt sich daraus, dass zu dieser Zeit Arbeitskämpfe überwiegend auf Unternehmensebene geführt wurden. Entsprechend war die Zahl der Betroffenen je Aussperrung vergleichsweise gering. In der Weimarer Republik weiteten sich die Arbeitskämpfe auf Branchen und Regionen aus. Damit verbunden war ein starker Anstieg der Zahl der Betroffenen. Den Höhepunkt weist die Statistik im Jahr 1924 aus, in dem 976.936 Personen in 11.003 Betrieben von insgesamt 392 Aussperrungen betroffen waren und dadurch 22.775.774 Arbeitstage ausfielen. In der Bundesrepublik Deutschland findet das Instrument der Aussperrung nur noch vereinzelt Anwendung. Lediglich in den Arbeitskämpfen der Jahre 1963, 1971 und 1976 waren Arbeitnehmer in größerem Umfang von Aussperrungen betroffen. In der Zeit des Nationalsozialismus und in der Deutschen Demokratischen Republik waren Aussperrungen (und Streiks) verboten. Im Vergleich zu Streiks sind Aussperrungen wesentlich seltener, dauern aber länger und betreffen mehr Beschäftigte. Geschichte Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein spielten Aussperrungen keine große Rolle. Instrumente der Arbeitgeber in Arbeitskämpfen waren stattdessen Schwarze Listen, Streikfonds sowie die Entlassungen der Streikenden und Neueinstellungen. Ab den 1870er Jahren sind erste Aussperrungen überliefert. Voraussetzung waren die Bildung von Arbeitgeberverbänden. Aussperrungen wurden vor allem bei prinzipiellen Fragen und der Forderung nach Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen vorgenommen. Eine erste große Aussperrung fand ab Februar 1873 statt. Im Tarifkonflikt in der Druckindustrie (die Setzer wurden nach der kalkulatorischen Länge des gesetzten Textes bezahlt. Strittig war die Kalkulation: Die Gewerkschaft forderte die Anwendung der realen Breite der Buchstaben, die Arbeitgeber wollten einheitlich die Breite des „n“ ansetzen) wurde der erste reichsweite allgemeinverbindliche Tarifvertrag erstreikt. In diesem Konflikt erfolgte die Aussperrung aller gewerkschaftlich organisierten Buchdruckergesellen. Dennoch gelang es den Gewerkschaften am 5. März 1873 den gewünschten Tarifvertrag zu erreichen. Die Maiaussperrungen waren eine mehrfach vorkommende Strafaussperrung im Zusammenhang mit dem Gedenktag des Ersten Mai: 8000 Hafenarbeiter, die Teilnehmer der Feier am 1. Mai 1890 waren, wurden durch eine Strafaussperrung vom 2. bis 11. Mai sanktioniert. Auch in den Folgejahren wurde gleichartig vorgegangen. So erhielten im Folgejahr 181 Hamburger Kupferschmiede „die üblichen 6-8 Tage“. Nach dem Ende des Sozialistengesetzes 1890 stieg die Zahl der Streiks stark an. Entsprechend stieg auch die Zahl der Aussperrungen, diese waren aber weiter auf grundsätzliche Themen konzentriert und der Schwerpunkt lag darauf, gewerkschaftliche Organisation in den Betrieben zu vermeiden. Mit dem Jahr 1903 begann eine Welle von Aussperrungen, die 1905 einen Gipfel erreichte. Nachdem die Versuche, die Organisation der Gewerkschaften zu verhindern, wenig erfolgreich waren und die SPD Zuwächse erreichte, änderten die Arbeitgeber die Strategie: Kleinere Arbeitsniederlegungen wurden sofort mit Aussperrungen beantwortet, um die Gewerkschaften in die Knie zu zwingen. Die letzte große Aussperrung im Kaiserreich war der Tarifkonflikt im Bauarbeitergewerbe 1910. Situation in der Schweiz Durch die schweizerische Bundesverfassung wird das Recht zur Aussperrung in Art. 28 Abs. 3 BV verankert. Eine rechtmäßige Aussperrung setzt danach zweierlei voraus: Die Aussperrung muss die Arbeitsbeziehung betreffen und zudem dürfen keine Verpflichtungen entgegenstehen, den Arbeitsfrieden zu wahren oder Schlichtungsverhandlungen zu führen. Das Aussperrungsrecht ist systematisch gesehen ein Teilgehalt des Grundrechts der Koalitionsfreiheit nach Art. 28 BV. Rechtsprechung BAG vom 28. Januar 1955, AP Nr. 1 zu GG Arbeitskampf BAG vom 21. April 1971, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf BAG vom 10. Juni 1980, AP Nr. 65 zu Art. 9 GG Arbeitskampf BAG vom 26. April 1988, AP Nr. 84 zu Art. 9 GG Arbeitskampf BAG vom 26. April 1988, AP Nr. 101 zu Art. 9 GG Arbeitskampf BAG vom 7. Juni 1988, AP Nr. 107 zu Art. 9 GG Arbeitskampf BVerfG vom 26. Juni 1991, AP Nr. 117 zu Art. 9 GG Arbeitskampf BAG vom 11. August 1991, AP Nr. 124 zu Art. 9 GG Arbeitskampf BAG vom 27. Juni 1995, DB 1996, 143 zu Art. 9 GG Arbeitskampf Siehe auch Dublin Lockout Literatur Michael Schneider: Aussperrung: Ihre Geschichte und Funktion vom Kaiserreich bis heute. 1980, ISBN 3-7663-0414-3 Der Kampf um den Streikparagraphen 116 ... denn wir geben nicht auf, IG Metall, Frankfurt 1986, ISBN 3-922454-08-9 Ulrich Zachert, Maria Metzke und Wolfgang Hamer: Die Aussperrung: zur rechtlichen Zulässigkeit und praktischen Durchsetzungsmöglichkeit eines Aussperrungsverbots, Bund-Verlag 1978, ISBN 9783766301901 Ulrich Zachert: Demokratie ohne Streikrecht? – Der Paragraph 116 AFG vor dem Bundesverfassungsgericht, Gewerkschaftliche Monatshefte, 2/1995, S. 89–96 Weblinks kalte Aussperrung. IG Metall Einzelnachweise Kollektives Arbeitsrecht (Deutschland) Arbeitsrecht (Schweiz) Arbeitskämpfe
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https://de.wikipedia.org/wiki/AP
AP
Ap steht für: Ap (Wasser), das Wort „Wasser“ in Sanskrit und Avesta Arbeiderpartiet, deutsch „Arbeiterpartei“, sozialdemokratische Partei in Norwegen apothekenpflichtig (Ap.), Kennzeichnung für Arzneimittel einen Bestandteil von Familiennamen in der walisischen Sprache, siehe Patronym#Keltische Sprachen AP steht für: Naturwissenschaften und Medizin: Absolute Pressure, siehe Druck (Physik) #Absoluter / Relativer Druck Acetonperoxid, auch APEX oder TATP, hochexplosiver Stoff Aktionspotential, Spannungsänderung in Nervenzellen Alkalische Phosphatase, Enzym im Zellstoffwechsel Ammoniumperchlorat, NH4ClO4, Ammonium-Salz der Perchlorsäure Angina Pectoris, Stenokardie, Brustenge oder Herzschmerz, anfallsartiger Schmerz in der Brust Anilinpunkt, physikalische Kenngröße für Schmierstoffe Anthologia Palatina (A. P.), siehe Griechische Anthologie Anus praeter, künstlicher Darmausgang, siehe Enterostoma Austrittspupille, Kenngröße eines optischen Instruments Technik: Access Point im WLAN, siehe Wireless Access Point Armour Piercing, panzerbrechende Munition, siehe Wuchtgeschoss #AP Auf Putz, Bezeichnung für sichtbare Installationen Psychologie, Pädagogik und Bildungswesen: Advanced Placement, pädagogisches Programm in den Vereinigten Staaten Analytische Psychotherapie, zugelassenes Verfahren Attachment Parenting, Erziehungsmethode nach William Sears Geisteswissenschaften, Kunst und Religion: Adjektivphrase, in der Grammatik Apophthegmata Patrum, Sammlung von Aussprüchen verschiedener Wüstenväter Artist’s Proof, Künstlerexemplar bei einer Grafikedition, siehe Grafik #Vorzugsstücke der traditionellen Grafik Arbeit, Wirtschaft und Recht: Arbeitspaket, plan- und kontrollierbares Element in einem Projekt Arbeitsplanung, siehe Arbeitsvorbereitung #Arbeitsplanung Arbeitsproduktivität, Quotient aus mengenmäßiger Leistung und mengenmäßigem Arbeitseinsatz Arbeitsrechtliche Praxis, Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht, nach Gesetzesnormen geordnet Geowissenschaften und Geographie: Amapá, Bundesstaat im Norden Brasiliens Amsterdamer Pegel, Definition des mittleren Wasserstands der Nordsee Andhra Pradesh, indischer Bundesstaat Aufnahmepunkt, Lagefestpunkt in der Geodäsie Aussichtspunkt, hervorragender Geländepunkt oder anderes erhöhtes Objekt Bahnhof Pinneberg, laut DS100-Code U-Bahnhof Aufseßplatz, Nürnberger U-Bahn Parteien, Organisationen und Unternehmen: Adalet Partisi, deutsch Gerechtigkeitspartei, ehemalige politische Partei der Türkei Air One, italienische Billigfluggesellschaft, laut IATA-Code Alianza Popular, politische Partei in Spanien, siehe Partido Popular (Spanien) #Alianza Popular (1975–1988) Alliance for Progressives, politische Partei in Botswana Associated Press, Nachrichtenagentur aus New York City Atlantik/Pazifik, Luftverkehrslinie (Richtungscode), laut IATA-Code Auto-Partei, politische Partei in der Schweiz Autoriteit Persoonsgegevens, niederländische Datenschutzbehörde Belgian International Air Services, ehemalige belgische Fluggesellschaft, laut ICAO-Code Unterscheidungszeichen auf Kfz-Kennzeichen und sonstige Staatszugehörigkeitskennzeichen: Deutschland: Landkreis Weimarer Land (für Apolda) Griechenland: Argolis (Nauplion) Großbritannien: Norwich Indien: Andhra Pradesh Italien: Provinz Ascoli Piceno Mongolei: Archangai-Aimag Norwegen: Mysen in der Provinz Østfold Portugal: Marinha Portuguesa Schweden: Diplomatenkennzeichen für Bolivien, siehe Kfz-Kennzeichen (Schweden) #Diplomatenkennzeichen Ukraine: Oblast Saporischschja Staatszugehörigkeitszeichen für Luftfahrzeuge aus Pakistan, siehe Luftfahrzeugkennzeichen #Liste der Staatszugehörigkeitszeichen Siehe auch: Amtliche Prüfungsnummer (A. P.-Nr. bei Wein oder Weinbrand) Abkürzung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Augustus
Augustus
Augustus (* 23. September 63 v. Chr. als Gaius Octavius in Rom; † 19. August 14 n. Chr. in Nola bei Neapel) war der erste römische Kaiser. Der Großneffe und Haupterbe Gaius Iulius Caesars gewann die Machtkämpfe, die auf dessen Ermordung im Jahr 44 v. Chr. folgten, und war von 31 v. Chr. bis 14 n. Chr. Alleinherrscher des Römischen Reiches. Unter der Devise der Wiederherstellung der Republik – restitutio rei publicae – betrieb er in Wirklichkeit deren dauerhafte Umwandlung in eine Monarchie in Form des Prinzipats. Damit setzte er dem Jahrhundert der Römischen Bürgerkriege ein Ende und begründete die Julisch-Claudische Kaiserdynastie. Seine Herrschaft, nach außen durch zahlreiche Expansionskriege geprägt, mündete im Inneren in eine lang anhaltende Konsolidierungs- und Friedensphase, die als Pax Augusta verklärt wurde. Namen und Titel des Augustus Der Geburtsname des späteren Augustus lautete Gaius Octavius. Laut Sueton trug er ursprünglich das Cognomen Thurinus, das sonst nicht belegt ist. Cassius Dio nennt den Namen Kaipias als weiteres, jedoch wenig beachtetes Cognomen des Augustus. Nach der testamentarischen Adoption durch Caesar im Jahr 44 v. Chr. nahm er dessen Namen offiziell an: C. Iulius Caesar oder in vollständiger Form mit Filiation Gaius Iulius C. f. Caesar. Den Namenszusatz Octavianus, wie er nach einer Adoption eigentlich üblich gewesen wäre, hat er wohl selbst nie geführt, wenngleich andere, darunter Marcus Tullius Cicero, ihn so nannten. Auch die moderne geschichtswissenschaftliche Literatur verwendet für die Zeit seines Aufstiegs meist die Namen Octavian oder Oktavian, um ihn sowohl von Gaius Iulius Caesar als auch von seiner späteren Rolle als Augustus zu unterscheiden. Spätestens nach der offiziellen Apotheose Iulius Caesars im Jahr 42 v. Chr. lautete der neue Name seines Adoptivsohns Gaius Iulius Divi filius Caesar. Nach der Annahme des Titels Imperator als Vorname – vielleicht 38 v. Chr., spätestens 31 v. Chr. – verwendete er das ursprüngliche Cognomen Caesar an Stelle des Gentilnamens Iulius (Imperator Caesar Divi filius). Am 16. Januar 27 v. Chr. verlieh ihm der Senat den Ehrennamen Augustus (dt.: „der Erhabene“), so dass sich als vollständige Form Imperator Caesar Divi filius Augustus ergab. Der Name Augustus wurde wie der Name Caesar mit Beginn der Regierungszeit seines Nachfolgers Tiberius zum Bestandteil der römischen Kaisertitulatur. Die Bezeichnung Imperator dagegen wurde von den ersten Nachfolgern des Augustus noch nicht als Praenomen geführt. Zum Zeitpunkt seines Todes lauteten sein Name und seine vollständige Titulatur: Imperator Caesar Divi filius Augustus, Pontifex maximus, Co(n)s(ul) XIII, Imp(erator) XXI, Trib(uniciae) pot(estatis) XXXVII, P(ater) p(atriae) (zu deutsch etwa: „Imperator Caesar, Sohn des Vergöttlichten, der Erhabene, Höchster Oberpriester, 13 Mal Konsul, 21 Mal Imperator, 37 Mal Inhaber der tribunizischen Gewalt, Vater des Vaterlandes“). Nach seiner Konsekration im Jahr 14 n. Chr. wurde sein offizieller Name als Divus Augustus Divi filius weitergeführt. Leben Die Lebensgeschichte des Kaisers Augustus handelt von zwei scheinbar gegensätzlichen Persönlichkeiten: einerseits von einem jungen, ehrgeizigen, mitunter grausamen Politiker, der im Kampf um die Macht weder Gesetz noch Skrupel kannte, andererseits von dem Kaiser, der – einmal im Besitz dieser Macht – äußerst klugen Gebrauch von ihr machte und mit dem Prinzipat eine neue, dauerhafte Staatsordnung an die Stelle der in 100 Jahren Bürgerkrieg zerrütteten Republik setzte. Herkunft und Jugend Der spätere Augustus und seine Schwester Octavia waren die Kinder des Gaius Octavius und seiner Frau Atia, einer Nichte Gaius Iulius Caesars. Über seinen Großvater Marcus Atius Balbus war Augustus mit Gnaeus Pompeius Magnus verwandt. Dessen Großvater, Gnaeus Pompeius, war zugleich Augustus’ Ururgroßvater. Die Familie der Octavier gehörte den Equites, dem römischen Ritterstand an. Sie war wohlhabend, aber wenig bedeutend. Als Erster seines Familienzweigs seit über 100 Jahren schlug Gaius Octavius den Cursus honorum ein, stieg in den Senat auf und gelangte 61 v. Chr. bis zur Praetur. Nach dem überraschenden Tod des Vaters im Jahr 59 oder 58 v. Chr. heiratete die Mutter Lucius Marcius Philippus, der 56 v. Chr. das Konsulat bekleidete. Der junge Gaius wurde der Erziehung durch seine Großmutter Iulia übergeben, einer älteren Schwester Caesars. Auf ihrem Landgut in Velitrae wuchs er auf, bis sie im Jahr 51 v. Chr. starb. Laut Sueton hielt Gaius die Leichenrede für seine Großmutter. Den Rest seiner Kindheit verbrachte er im Haus seines Stiefvaters Philippus in Rom. Im Jahr 49 v. Chr. legte er die Männertoga (toga virilis) an. Da Caesar keinen gesetzlich anerkannten Sohn hatte, nahm er sich seines Großneffen an. So wurde Octavius dank Caesars Fürsprache 48 v. Chr. in das Kollegium der Pontifices aufgenommen. 47 v. Chr. wurde er für die Dauer des Latinerfestes, an dem sich die Konsuln und die übrigen Magistrate traditionsgemäß außerhalb Roms aufhielten, zum Praefectus urbi, das heißt zum stellvertretenden Oberhaupt der Republik, ernannt. Im Jahr 46 v. Chr. ließ Caesar ihn an seinem Triumphzug anlässlich des Sieges im Bürgerkrieg teilnehmen. Im Jahr darauf begleitete Gaius Octavius seinen Großonkel auf dessen Kriegszug gegen die Söhne des Pompeius nach Spanien, wo er Caesar angeblich durch seine Tapferkeit beeindruckte. Als Reiterführer (magister equitum) sollte er auch an dem geplanten Feldzug gegen die Parther teilnehmen und war mit seinen Freunden Marcus Vipsanius Agrippa und Quintus Salvidienus Rufus Salvius bereits nach Apollonia im heutigen Albanien vorausgeschickt worden. Dort erreichte ihn im Frühjahr 44 v. Chr. die Nachricht von Caesars Ermordung. Während seiner Rückreise nach Rom erfuhr er, dass der Diktator ihn durch Testamentsverfügung adoptiert und zum Haupterben seines Privatvermögens eingesetzt hatte. Caesar hatte diese Verfügung nach dem Tod seines zunächst als Erbe vorgesehenen Neffen Sextus Iulius Caesar getroffen, mit dem er, anders als mit Octavius, in männlicher Linie verwandt gewesen war. Aufstieg zur Macht Die testamentarische Adoption eines Erwachsenen war zwar ungewöhnlich, entsprach aber geltendem Recht. Daher nahm Gaius Octavius, sobald er zurück in Rom war, das Testament sowie alle damit verbundenen Verpflichtungen an und nannte sich fortan nach seinem Adoptivvater Gaius Iulius Caesar. Die moderne Geschichtsschreibung bezeichnet ihn von diesem Zeitpunkt an – wie schon einige Zeitgenossen – als Octavian. In dem Konflikt zwischen Caesars Anhängern – die sich um Marcus Antonius scharten – und den republikanisch gesinnten Caesarmördern um Gaius Cassius Longinus sowie Marcus und Decimus Iunius Brutus spielte er sehr schnell eine wichtige Rolle, da er von Caesars Veteranen, aber auch von den politischen Freunden des toten Diktators unterstützt wurde. Marcus Antonius beanspruchte als Unterfeldherr Caesars und dessen Mitkonsul für das Jahr 44 v. Chr. die Führung der caesarianischen Gefolgsleute für sich. So weigerte er sich zunächst, das Vermögen des Diktators an Octavian herauszugeben. Dieser zahlte dennoch die in Caesars Testament vorgesehenen Legate an dessen Veteranen und die Bevölkerung Roms aus. Dafür nutzte er die in Apollonia beschlagnahmte, für den Partherkrieg vorgesehene Kriegskasse, versteigerte aber auch eigene Güter. Dieses Vorgehen brachte ihm rasch eine große Zahl von Anhängern und damit auch politisches Gewicht ein. Der einflussreiche Senator und Konsular Marcus Tullius Cicero, der nicht zu den Verschwörern gehört hatte, aber mit der republikanischen Sache sympathisierte, unterstützte den scheinbar unerfahrenen jungen Mann, in der Hoffnung, ihn als politisches Gegengewicht zu Marcus Antonius aufbauen zu können. Octavian ging vordergründig darauf ein, verfolgte aber seine eigenen Pläne und stützte sich dabei auf eigene, erfahrene Ratgeber. Dazu gehörten persönliche Freunde wie der wohlhabende Gaius Maecenas, Marcus Vipsanius Agrippa und Quintus Salvidienus Rufus Salvius sowie sein Stiefvater Philippus. Als Lehrer und philosophische Berater zog Octavian Athenodoros von Tarsos und Areios von Alexandria zu Rate. Von besonderer Bedeutung war, dass Octavian sofort zwei der engsten Berater Caesars für sich gewinnen konnte: Gaius Oppius und Lucius Cornelius Balbus. Oppius hatte zuvor Caesars Korrespondenz verwaltet und seinem Nachrichtendienst vorgestanden; Balbus war Caesars Privatsekretär gewesen, hatte als „graue Eminenz“ hinter dem Diktator gegolten und während dessen häufiger Abwesenheit von Rom inoffiziell die Amtsgeschäfte geführt. Oppius und Balbus wurden zu wichtigen Vertrauensmännern Octavians, die starken Einfluss auf seine ersten Schritte als Caesars Erbe nahmen. So stand dem vermeintlich unerfahrenen Octavian vom Beginn seiner politischen Laufbahn an ein umfangreicher Beraterstab zur Verfügung, der ihn nachhaltig unterstützte. Bündnis mit den Republikanern Während Antonius Ende des Jahres 44 v. Chr. in Gallia cisalpina Decimus Iunius Brutus Albinus angriff, baute Octavian in Italien ein Heer aus Veteranen Caesars auf. Auf Drängen Ciceros, der den Kampf gegen Marcus Antonius forderte und dazu Octavians Truppen benötigte, legitimierte der Senat Anfang 43 v. Chr. dessen angemaßte militärische Befehlsgewalt. Darüber hinaus ernannte er den noch nicht 20-Jährigen zum Senator, verlieh ihm ein proprätorisches Kommando über seine Legionen sowie den Rang eines Konsularen und gestattete ihm die Übernahme aller Ämter zehn Jahre vor dem gesetzlich festgelegten Mindestalter. Octavian ging jetzt sogar ein Bündnis mit den Republikanern ein. Noch im selben Jahr besiegte er Antonius gemeinsam mit einem Senatsheer unter den Konsuln Aulus Hirtius und Gaius Vibius Pansa Caetronianus in der Schlacht von Forum Gallorum und einer weiteren Schlacht bei Mutina. Beide Oberhäupter der Republik kamen im Mutinensischen Krieg um, und Octavian verlangte nun eines der freigewordenen Konsulate für sich. Als der Senat dies verweigerte, marschierte Octavian mit seinen Truppen auf Rom und bemächtigte sich staatsstreichartig der Stadt. Am 19. August 43 v. Chr. erzwang er seine Wahl zum Konsul sowie die Ächtung der Caesarmörder. Mittlerweile hatte Antonius wieder mehr Legionen unter seinen Befehl gebracht als vor seiner Niederlage. Daher – und weil Octavian auf der politischen Bühne Roms nun als „Rächer“ seines Adoptivvaters auftrat – wechselte er die Seiten und ging ein Bündnis mit den Caesarianern ein: Zusammen mit Marcus Antonius und dem ehemaligen Reiterführer Caesars, Marcus Aemilius Lepidus, bildete er im Oktober 43 v. Chr. das so genannte zweite Triumvirat. Es beruhte, anders als das erste Triumvirat zwischen Caesar, Pompeius und Crassus nicht auf privaten politischen Absprachen, sondern wurde gesetzlich verankert. Zur Bekräftigung des Bündnisses heiratete Octavian Antonius’ Stieftochter Clodia. Zweites Triumvirat Die „Dreimännerherrschaft zur Ordnung des Staates“ (tresviri rei publicae constituendae), wie das Bündnis offiziell hieß, beruhte vor allem auf der militärischen Macht der Triumvirn, also auf ihrer Verfügungsgewalt über die römischen Legionen. Sie ließen sich von der Volksversammlung am 27. November 43 v. Chr. mittels der lex Titia weitgehende Machtbefugnisse auf fünf Jahre übertragen. Zwar erhielten sie quasi-diktatorische Vollmachten, die Bezeichnung Diktatur wurde aber vermieden, da Antonius dieses Amt nach Caesars Ermordung per Gesetz hatte abschaffen lassen. Wie zur Zeit Sullas wurden nun Proskriptionslisten veröffentlicht und alle, die darauf verzeichnet waren, für vogelfrei erklärt. Laut Sueton soll sich Octavian anfangs gegen die Proskriptionen gewehrt, sie dann aber unnachsichtiger durchgeführt haben als seine beiden Kollegen. Von den Proskriptionen waren 300 Senatoren und 2000 Ritter betroffen. Auf Antonius’ Betreiben fiel dem Massaker an den politischen Gegnern der Triumvirn auch Cicero zum Opfer. Die Proskriptionen erfüllten zwar nicht die finanziellen Erwartungen der Triumvirn, doch sie dezimierten die republikanische Führungsschicht im Senat von Rom, dessen Lücken die Machthaber mit loyalen Anhängern füllten. Ähnlich verfuhren sie mit den Magistraten anderer Städte. Diese und andere Maßnahmen verschoben die Gewichte innerhalb der römischen Führungsschicht entscheidend zu Ungunsten der republikanisch gesinnten Kräfte. Es waren diese Umwälzungen, die der Augustus-kritische Althistoriker Ronald Syme als „roman revolution“ bezeichnete. Im Jahr 42 v. Chr. gingen Antonius und Octavian nach Griechenland, wo die Caesarmörder Marcus Iunius Brutus und Gaius Cassius Longinus ihre Streitkräfte gesammelt hatten. Deren Niederlage in der Schlacht bei Philippi in Makedonien im Herbst besiegelte den Untergang der römischen Republik. Da der Sieg im Wesentlichen Antonius zu verdanken war, gewann seine Stimme innerhalb des Triumvirats weiter an Gewicht. Als die Triumvirn nach Philippi ihre Einflusssphären absteckten, erhielt Antonius zusätzlich zu Gallia Comata die Gallia Narbonensis und gab dafür die Gallia cisalpina auf, die fortan gemeinsam mit Italien verwaltet wurde. Ferner sollte er die Verhältnisse in den wohlhabenden Ostprovinzen ordnen. Lepidus wurden, nachdem er ursprünglich ganz ausgeschaltet werden sollte, die beiden nordafrikanischen Provinzen zugesprochen – damals die Kornkammer Roms. Octavian erhielt die beiden spanischen Provinzen und die schwierige Aufgabe, die Veteranen in Italien anzusiedeln, das von den Triumvirn gemeinsam verwaltet wurde. Die Versorgung der so genannten Heeresklientel mit Landbesitz wurde seit der marianischen Heeresreform von jedem Feldherrn erwartet, der sich die politische Unterstützung seiner Veteranen sichern und das Vertrauen künftiger Legionäre erwerben wollte. Bei den Landverteilungen kam es zu brutalen Enteignungen und Vertreibungen nicht nur einzelner Landbesitzer, sondern ganzer Stadtbevölkerungen. Octavian war damals allgemein verhasst. Überdies kam es wegen der Landverteilung zu schweren Differenzen mit Antonius’ Ehefrau Fulvia und seinem Bruder Lucius Antonius, die Octavian aber im Perusinischen Krieg (41/40 v. Chr.) besiegte. Nach der Eroberung Perusias setzte eine Hinrichtungswelle ein, bei der auch der wichtige vormalige Verbündete Octavians, der Volkstribun des Jahres 44 v. Chr., Tiberius Cannutius, starb. Antonius landete daraufhin mit seinen Truppen in Italien. Die Legionen beider Triumvirn verweigerten aber den Kampf gegeneinander und zwangen sie zu einem erneuten Bündnis. Der Vertrag von Brundisium vom Herbst 40 v. Chr. sah unter anderem die Heirat zwischen Antonius und Octavia vor, der Schwester Octavians. Er selbst ging in jenem Jahr ein weiteres familiäres Zweckbündnis ein: Nach der Trennung von seiner ersten Frau – Clodia – heiratete er Scribonia, eine Verwandte von Pompeius’ Sohn Sextus. Ihre gemeinsame Tochter Iulia sollte sein einziges leibliches Kind bleiben. Aber noch vor Iulias Geburt verstieß er ihre Mutter wieder, um im Jahr 38 v. Chr. Livia Drusilla zu ehelichen. Der Skandal wurde noch dadurch vergrößert, dass er Livia in sein Haus aufnahm, noch bevor sie sich von ihrem bisherigen Mann, dem überzeugten Republikaner Tiberius Claudius Nero, hatte scheiden lassen können. Die Frau, die zu seiner engsten Ratgeberin wurde, brachte die beiden Söhne Tiberius und Drusus mit in die Ehe. Tiberius sollte der Nachfolger seines Stiefvaters als Kaiser werden. Konflikt mit Sextus Pompeius Der letzte politische Gegner der Triumvirn, der noch über nennenswerte militärische Macht verfügte, war Sextus Pompeius mit seiner Flotte. Er kontrollierte unter anderem Sizilien und gefährdete die Kornzufuhr von dort nach Rom, was Octavians Autorität zusätzlich untergrub. Auf Druck des Senats schlossen Octavian und Antonius 39 v. Chr. mit Sextus Pompeius den Vertrag von Misenum, nach dem Sextus Sardinien, Korsika sowie Sizilien behalten durfte und von Antonius zusätzlich die Peloponnes erhalten sollte; ferner mussten die Triumvirn Sextus ein Konsulat für das Jahr 35 v. Chr. zusichern. Das Triumvirat wurde 37 v. Chr. im Vertrag von Tarent um weitere fünf Jahre verlängert. Da die Zugeständnisse im Vertrag von Misenum Octavians Macht erheblich einschränkten, setzte er bereits im folgenden Jahr alles daran, Pompeius’ Einfluss zurückzudrängen. Erst nach mehreren schweren Rückschlägen und Niederlagen gelang es seinem neuen Flottenführer Marcus Vipsanius Agrippa 36 v. Chr., Sextus Pompeius’ Streitmacht in der Seeschlacht von Naulochoi vor der Nordküste Siziliens zu vernichten. Kurz darauf entmachtete Octavian auch Lepidus, indem er dessen Truppen in Sizilien dazu brachte, zu ihm überzulaufen. Er beherrschte nun den gesamten Westen des Reichs und hatte die für die Getreideversorgung wichtigen Provinzen Sicilia und Africa unter seiner Kontrolle. Nach dem Sieg über Pompeius stellte die rasche Befriedung Italiens und die Veteranenversorgung die vordringliche Aufgabe dar. Italien hatte durch die fehlende Getreideversorgung während der Blockade des Pompeius schwer gelitten. Statt wie in den Jahren zuvor geschehen, Güter gewaltsam zu enteignen, wurden die 20.000 Mann, die Octavian nun aus seiner riesigen Armee entlassen konnte, mit Bauernstellen in Italien, Sizilien und Gallien abgefunden. 30.000 entlaufene Sklaven, die im Heer des Pompeius gedient hatten, wurden nach Rom geschickt, um ihren Herren übergeben zu werden. 6.000 herrenlose Sklaven wurden gekreuzigt. Kampf mit Antonius um die Alleinherrschaft Nachdem Octavian Pompeius und Lepidus ausgeschaltet hatte, stand ihm im Kampf um die Alleinherrschaft nur noch Antonius im Wege. Vom Frühjahr 35 bis 33 v. Chr. brachte er bei kleineren Feldzügen in Dalmatien ein schlagkräftiges Heer in Form. Unterdessen führte sein Rivale einen erfolglosen Krieg gegen die Parther, die bereits 40 v. Chr. unter dem Befehl des Quintus Labienus, eines Anhängers der republikanischen Sache, in Syrien eingedrungen waren. Zudem ging Antonius eine dauerhafte Beziehung mit Königin Kleopatra VII. von Ägypten ein, deretwegen er im Jahr 32 v. Chr. die in Rom äußerst populäre Octavia verstieß. Bereits 34 v. Chr. war er darangegangen, Teile des römischen Ostens an Kleopatra und ihre gemeinsamen Kinder zu verschenken, und hatte dadurch in Rom viel Rückhalt verloren. Octavian nutzte Antonius’ Verhalten propagandistisch geschickt aus. Um ihm auch noch seine letzten Anhänger abspenstig zu machen, schreckte er nicht einmal vor einem Sakrileg zurück: Er zwang die Vestalinnen zur Herausgabe des bei ihnen hinterlegten Testaments des Antonius und ließ es in Auszügen vor dem Senat und der Volksversammlung verlesen. Zuvor hatten zwei Zeugen der Testamentsausfertigung, die Senatoren Lucius Munatius Plancus und Marcus Titius, die im Herbst 32 v. Chr. von Antonius abgefallen waren, Octavian über den Inhalt des Dokuments informiert: Danach hatte Antonius Kleopatras Kinder als Erben römischer Gebiete eingesetzt, Caesarion als leiblichen Sohn Caesars anerkannt und bestimmt, dass er neben Kleopatra in Alexandria bestattet werden wolle. Als dies bekannt wurde, enthob der Senat Antonius aller Ämter. Da Octavian die ägyptische Königin als Urheberin von Antonius’ „romfeindlichem“ Verhalten darstellte, erklärte der Senat sie zur Staatsfeindin und Ägypten den Krieg. Mit diesem Schachzug war es Octavian gelungen, den Kampf gegen einen innenpolitischen Gegner in einen Krieg Roms gegen einen äußeren Feind umzumünzen. Wer Antonius von da an noch unterstützte, half damit auch diesem äußeren Feind und musste in den Augen traditionell denkender Römer als Verräter erscheinen. Octavians und Antonius’ triumvirale Befugnisse waren formell schon am 1. Januar 32 v. Chr. abgelaufen und ihre prokonsularischen Kompetenzen bestanden nur noch provisorisch. Daher benötigte Octavian zur Kriegführung die Verleihung einer neuen Amtsgewalt. Er ließ sich zum „Führer Italiens“ (dux Italiae) ausrufen, dem der gesamte Westen den Treueid leisten musste. Zudem übernahm er für das folgende Jahr erneut das Konsulat. Aus dieser rechtlich abgesicherten Position heraus eröffnete Octavian Anfang 31 v. Chr. den – offiziell gegen Kleopatra gerichteten – Ptolemäischen Krieg, indem er mit seinen Truppen nach Griechenland übersetzte, das zu Antonius’ Machtbereich gehörte. Am Ausgang des Ambrakischen Golfs in Epirus gelang es Agrippas Flotte und Octavians Heer, die See- und Landstreitkräfte des Antonius einzuschließen und vom Nachschub abzuschneiden. Die monatelange Blockade zeitigte verheerende Folgen für Antonius’ Armee, so dass er sich schließlich gezwungen sah, mit seinen Schiffen einen Durchbruchsversuch aus dem Golf in das offene Ionische Meer zu wagen. Dabei kam es am 2. September 31 v. Chr. zur alles entscheidenden Seeschlacht bei Actium, in der Antonius und Kleopatra den Streitkräften Octavians und Agrippas unterlagen. Diese nahmen im folgenden Jahr Alexandria ein, woraufhin Antonius und Kleopatra Selbstmord begingen. Ägypten verlor seine Selbstständigkeit und wurde als neue römische Provinz annektiert. Damit endeten der Krieg zweier Männer um die Macht in Rom und zugleich die 100 Jahre währende Epoche der römischen Bürgerkriege. Als Zeichen dafür, dass im ganzen Reich Frieden herrsche, wurden am 12. Januar 29 v. Chr. die Tore des Janustempels auf dem Forum Romanum geschlossen. Dies geschah laut Titus Livius erst zum dritten Mal seit der sagenhaften Gründung Roms 753 v. Chr. Die folgenden Jahre verbrachte Octavian damit, seine im Bürgerkrieg gewaltsam erworbene überragende Machtstellung schrittweise in eine für die Römer akzeptable, legale Form zu überführen. 28 v. Chr. hob er so demonstrativ alle seine „unrechtmäßigen“ Verfügungen aus der Zeit des Triumvirats auf. Augustus als Princeps Am 13. Januar des Jahres 27 v. Chr. begann im Senat von Rom ein mehrtägiger Staatsakt, der den Ausnahmezustand des Bürgerkriegs auch offiziell beendete. Formal wurde damit die alte Ordnung der Republik wiederhergestellt, tatsächlich aber eine völlig neue, monarchische Ordnung mit republikanischer Fassade geschaffen: das spätere römische Kaisertum in Gestalt des Prinzipats. Auf Vorschlag des Lucius Munatius Plancus verlieh der Senat Octavian am 16. Januar den neu geschaffenen Ehrennamen Augustus. In den Jahren nach Actium stand der Alleinherrscher vor drei großen Aufgaben: den Staat neu aufzubauen, das Reich nach innen und außen zu sichern und die Nachfolge zu regeln, um seinem Werk auch über seinen Tod hinaus Dauer zu verleihen. Da Augustus all das gelang, markiert der Staatsakt vom Januar 27 v. Chr. nicht nur den Beginn seiner 40-jährigen Regierungszeit als Princeps, sondern auch den einer ganz neuen Epoche der römischen Geschichte. Begründung des Prinzipats Frage der Neuordnung des Staates Als Octavian im Sommer 29 v. Chr. aus dem Osten nach Rom zurückgekehrt war und einen dreifachen Triumphzug abgehalten hatte, stand er vor dem gleichen Problem, an dem Caesar 15 Jahre zuvor gescheitert war: Eine Staatsordnung zu schaffen, die für das in mehr als 400 Jahren gewachsene, republikanische Rechtsverständnis der Römer akzeptabel war und zugleich der Tatsache gerecht wurde, dass sich die tatsächliche Macht seit 70 Jahren mehr und mehr verlagert hatte: weg vom Senat, den Konsuln und den anderen republikanischen Institutionen, hin zu den Befehlshabern der Legionen. Von Marius und Sulla bis zum ersten und zweiten Triumvirat hatten immer wieder militärische Machthaber eine außerordentliche politische Gewalt errungen. Die einfache Wiederherstellung der alten Adelsrepublik kam für ihn aus zwei Gründen nicht in Frage: Zum einen war die staatstragende Bevölkerungsschicht der Republik, der Senatsadel, durch die Bürgerkriege weitgehend vernichtet worden. Zum anderen erforderte die Ausdehnung des Reichs eine große Zahl von Legionen, deren Befehlshaber stets versucht sein konnten, die Macht auf ungesetzliche Weise an sich zu reißen. Da in der Republik die großen Adelsfamilien und politische Gruppierungen wie Optimaten und Popularen permanent um Macht und Einfluss kämpften, war dies in den Jahrzehnten des Bürgerkriegs – von Marius über Sulla bis zu Caesar – immer wieder geschehen. Scheinbare Wiederherstellung der Republik Aus all dem folgte wiederum zweierlei: Octavian musste zum einen bestrebt sein, die außerordentliche politische Gewalt, die Militärdespoten wie er selbst immer wieder errungen hatten, in eine ordnungsgemäße umzuwandeln, sie also rechtlich in das bisherige Staatsgefüge zu integrieren. Zum anderen musste er das imperium, die militärische Befehlsgewalt über die Mehrzahl der Legionen, auf denen die politische Macht nun beruhte, in einer Hand zu vereinen suchen. Kurz: Er musste die Heeresklientel monopolisieren und eine dauerhafte Alleinherrschaft errichten. Sein Vorteil war, dass sich sein persönliches Machtstreben mit der Notwendigkeit und dem allgemeinen Bedürfnis traf, erneute Machtkämpfe und Bürgerkriege zu verhindern. Denn nach den Wirren der vorangegangenen Jahrzehnte waren auch viele traditionell eingestellte Römer, die jede Art von Alleinherrschaft stets abgelehnt hatten, notgedrungen bereit, die militärische und politische Macht in die Hand nur eines Mannes zu legen. Wie schon im Kampf gegen Antonius erwies sich Octavian auch bei dieser Aufgabe als Meister der politischen Propaganda. Dies geht aus seinem Tatenbericht (Res gestae divi Augusti) hervor, in dem er gegen Ende seines Lebens folgendes Bild von seiner Handlungsweise zeichnete: Die Realität hinter diesem Bild sah jedoch anders aus: Octavian war zwar so klug, nicht den allgemein verhassten Königstitel anzustreben, aber er ließ sich von den bestehenden republikanischen Amtsgewalten all jene übertragen, die ihm in ihrer Bündelung faktisch zu einer monarchischen, königsgleichen Stellung verhalfen. Da er aber die republikanische Ordnung formal wiederherstellte, konnte er sich gleichzeitig als Retter und Beschützer der Republik darstellen. Letztlich ging er einen Kompromiss mit der Senatsaristokratie ein, indem er ihre politische Macht zwar massiv beschnitt, sie aber nicht völlig von der Machtausübung ausschloss. Zudem fügte er ihr – anders als Sulla und Caesar – keine Demütigungen zu und erlaubte ihr so, ihre Würde und ihr Sozialprestige (dignitas) zu wahren. Sicherung der Macht Gleich nach seiner Rückkehr aus dem Krieg gegen Antonius suchte Octavian die Unterstützung der alten Adelsgeschlechter und ging daran, das Ansehen der republikanischen Institutionen zu stärken. So ließ er aus dem Senat etwa 190 Mitglieder ausschließen, die offiziell als nicht standesgemäß galten. Gleichzeitig füllte er die gelichteten Reihen des Senatsadels wieder auf, indem er verdiente Personen und Anhänger in den Patrizierstand erhob. Er selbst nannte sich – betont bescheiden – princeps senatus, Erster des Senats, ein Titel, den es früher schon gegeben, der aber lediglich einen primus inter pares bezeichnet hatte, einen Ersten unter Gleichen. Daraus entwickelte sich die Bezeichnung Prinzipat für die augusteische Herrschaftsform, die so viel bedeutet wie „Herrschaft des ersten Bürgers“. Starke propagandistische Wirkung erzielte der Princeps damit, dass er Ende des Jahres 28 v. Chr. alle seine widerrechtlichen Anordnungen aus der Zeit des Triumvirats aufheben ließ. Ob Octavian Anfang 27 außer dem Konsulat weitere Vollmachten innehatte und worin diese gegebenenfalls bestanden, wird in der Forschung bereits seit Theodor Mommsen kontrovers diskutiert. Jedenfalls legte er am 13. Januar 27 v. Chr., am ersten Tag des Staatsakts, seine außerordentliche Allgewalt (potens rerum omnium) über die Provinzen und Legionen demonstrativ in die Hände des „gesäuberten“ Senats. Damit bildete dieser formal wieder das zentrale Herrschaftsorgan. Die Republik war äußerlich wiederhergestellt. Allgemein war von der res publica restituta die Rede. So weit stimmten die Tatsachen mit Augustus’ propagandistischer Version überein. Gleich in seiner nächsten Sitzung aber, nur vier Tage später, übertrug der Senat das militärische Kommando in der Hälfte der Provinzen offiziell an Octavian – und zwar in jener Hälfte, die an den Rändern des Imperiums lagen und in denen daher das Gros der Legionen stand. Vertreten wurde er dort durch Legaten. Der Beschluss wurde damit begründet, dass diese Gebiete besonders gefährdet seien, und dass Octavian nach ihrer Befriedung das Kommando dort niederlegen werde. Auf diese Weise erhielt er eine den Provinzstatthaltern übergeordnete Befehlsgewalt (imperium proconsulare) über den weitaus größten Teil der Armee. Octavian blieb also Militärmachthaber und alleiniger Patron der Heeresklientel, nun aber formal im Rahmen der Gesetze. Das Reich gliederte sich fortan de facto in kaiserliche und senatorische Provinzen. Ein weiteres republikanisches Element der neuen Staatsordnung war die Rückkehr zur jährlichen Neubesetzung der Magistrate. Eines der zwei Konsulate nahm der Princeps in den nächsten Jahren allerdings regelmäßig für sich in Anspruch. Dies änderte sich mit der Revision der Prinzipatsverfassung am 1. Juli 23 v. Chr. Bis auf zwei Jahre verzichtete Augustus von da an auf das Konsulat. Stattdessen ließ er sich auf Lebenszeit die tribunizische Gewalt (tribunicia potestas) übertragen, also nicht das Amt des Volkstribunen, sondern „nur“ dessen Amtsbefugnisse. Damit gewann er das Recht, den Senat und die Volksversammlungen einzuberufen, diesen Gesetze vorzuschlagen, sein Veto gegen Senats- und Volksbeschlüsse einzulegen und sogar den Konsuln Amtshandlungen zu verbieten. Um auch den Magistraten in Rom und Italien Anweisungen geben zu können, wurden der tribunicia potestas des Augustus alle konsularischen Sonderrechte hinzugefügt, die einem Volkstribunen eigentlich nicht zustanden. Damit wurde die tribunizische Gewalt zur Quelle der kaiserlichen Macht in Rom und Italien. Durch die Aufgabe des ständigen Konsulats verlor Augustus jedoch seine Weisungsbefugnis gegenüber den Prokonsuln des Senats und damit auch gegenüber den senatorischen Provinzen. Um diese wiederherzustellen, ließ er sich eine übergeordnete prokonsularische Gewalt (imperium proconsulare maius) übertragen. Außerdem ließ er im Jahr 23 das Volk eine lex de imperio (auch lex Augusti oder lex regia genannt) beschließen: Durch eine Generalklausel galt hinfort alles, was Augustus wünschte, als Gesetz. Dadurch hatte ihm das Volk, so die auch später nie bezweifelte Auslegung, das ihm zustehende imperium übertragen und ihn damit zu außerordentlicher gesetzesvertretender Normsetzung ermächtigt. Mit der Revision der Prinzipatsverfassung legte Augustus zwar formal das Konsulat nieder, behielt aber faktisch alle Befugnisse eines Konsuls. Durch seinen Verzicht auf das Konsulat hatte er jedoch bis auf die Purpurtoga und die Corona triumphalis alle äußeren Rangabzeichen verloren, die auf seine zentrale Stellung hindeuteten. Um auch dies auszugleichen, wurden dem Princeps 19 v. Chr. die konsularischen Ehrenrechte zuerkannt: So wurde er wieder ständig von zwölf Liktoren begleitet und durfte im Senat zwischen den beiden amtierenden Konsuln Platz nehmen. Augustus verzichtete also augenscheinlich auf die absolute Macht, indem er den Senatsadel daran teilhaben ließ, behielt aber in Wirklichkeit alle wichtigen Funktionen in Staat und Militär in seiner Hand. Augustus-Titel und weitere Ehrungen Der Ehrenname Augustus, „der Erhabene“, den der Senat Octavian am letzten Tag des Staatsakts vom Januar 27 v. Chr. verlieh, erinnerte an das augurium, eine Kulthandlung zur Deutung des Willens der Götter, die der Sage nach schon Romulus vorgenommen hatte. Der Name setzte seinen Träger also mit dem legendären Gründer der Stadt Rom gleich und verlieh der obersten politischen Gewalt im Staat eine sakrale Aura, wie sie die Konsuln zu Zeiten der Republik nie besessen hatten. Mit dem neuen Titel verlieh der Senat dem Princeps auch einen Ehrenschild (clipeus virtutis), auf dem Tapferkeit, Milde, Gerechtigkeit sowie Pflichterfüllung gegenüber den Göttern und dem Vaterland als die Tugenden des Augustus gepriesen wurden. Eine weitere Ehrung war die erstmalige Feier der decennalia, des zehnjährigen Regierungsjubiläums des Princeps, im Jahr 17 v. Chr. Das Fest ging darauf zurück, dass Augustus die ihm übertragene Machtstellung formell nur für 10 Jahre akzeptiert hatte. In seinem Verlauf gab er wie schon 27 v. Chr. die Macht in die Hände des Senats zurück, der sie ihm umgehend erneut übertrug. Auch die decennalia dienten also dem Zweck, den Anschein einer fortbestehenden Senatsherrschaft zu erwecken und die tatsächlichen Machtverhältnisse in Rom zu verschleiern. Die sakrale Würde des Princeps wurde weiter gestärkt, als im Jahre 13 oder 12 v. Chr. Marcus Aemilius Lepidus starb. Augustus’ einstiger Kollege im Triumvirat hatte nach seiner Entmachtung lediglich das Amt des Pontifex maximus behalten dürfen. Nun übernahm Augustus auch dieses Amt; als oberster Priester des römischen Staatskultes konnte er nun auch alle Belange der religio Romana in seinem Sinne regeln. Im Jahr 8 v. Chr. beschloss der Senat, den Monat Sextilis in Augustus umzubenennen. Als Grund für die Wahl dieses Monats anstelle von Augustus’ Geburtsmonat September wurde angeführt, dass er im Sextilis erstmals Konsul geworden sei und drei Triumphe gefeiert habe. Außerdem markiere dieser Monat, in dem Ägypten erobert worden war, das Ende der Bürgerkriege. Der eigentliche Grund könnte aber gewesen sein, dass der Sextilis direkt auf den nach Caesar benannten Juli folgte. Am 5. Februar des Jahres 2 v. Chr. verlieh der Senat Augustus schließlich den Titel pater patriae („Vater des Vaterlandes“), auf den er besonders stolz war, denn er war mehr als eine bloße Ehrenbezeichnung. Vielmehr führte er jedermann vor Augen, dass dem Kaiser gegenüber allen Reichsangehörigen die gleiche Autorität zustand wie jedem römischen Familienoberhaupt, dem pater familias, über die Seinen. Akzeptanz der neuen Ordnung Die Neuordnung des Staatswesens wurde von den Römern nicht widerspruchslos hingenommen. Insbesondere die patrizischen Familien des alten Senatsadels, die Augustus als Emporkömmling ansahen, konnten sich mit ihrer Entmachtung nur schwer abfinden. Einige Quellen berichten, dass Augustus sich in der Zeit nach seiner Rückkehr aus dem Osten nur mit einem Brustpanzer unter der Toga in den Senat wagte und Senatoren nur einzeln und nach eingehender Leibesvisitation empfing. Verschwörungen wie die des Fannius Caepio, die im Jahr 23 oder 22 v. Chr. aufgedeckt wurde, zeigen, dass Augustus’ Politik noch lange Zeit erheblichen Widerstand hervorrief. Da der Zeitpunkt der Verschwörung nicht genau datiert werden kann, ist bis heute ungeklärt, ob sie auslösender Faktor oder Folge der im Jahr 23 v. Chr. erfolgten Neujustierung der Prinzipatsordnung war. Dass das neue Herrschaftssystem schließlich doch akzeptiert wurde, lag sicher nur zum Teil daran, dass Augustus den republikanischen Institutionen und den althergebrachten Rechten und Sitten, dem mos maiorum, seinen Respekt erwies. Die Römer konnten sich zwar sagen, dass die alte Republik und ihre Institutionen der Form nach weiterhin bestanden, aber die politisch Interessierten dürften Augustus’ Propaganda durchschaut haben. Ausschlaggebend war am Ende die schlichte Tatsache, dass der Prinzipat funktionierte – im Gegensatz etwa zu den Ordnungsmodellen Sullas oder Caesars – und dass es zu Augustus keine realistische Alternative gab. Darüber hinaus war der Faktor Zeit entscheidend für den Erfolg der neuen Herrschaftsordnung: Augustus regierte nach der Erringung der Alleinherrschaft noch mehr als 40 Jahre, länger als jeder seiner Nachfolger. Die Römer gewöhnten sich in dieser langen Zeit an die Herrschaft des Ersten Bürgers. Als der Kaiser starb, waren kaum noch Römer am Leben, die die alte Republik noch bewusst erlebt hatten. So setzte mit der Errichtung des Prinzipats eine lange Periode des inneren Friedens und des Wohlstands ein. Augustus’ neue Ordnung sollte 300 Jahre – bis zur Herrschaft Diokletians – Bestand haben. Selbst der Geschichtsschreiber Tacitus, einer der schärfsten Kritiker des Prinzipats, erkannte in dieser Konsolidierungspolitik ein klares Verdienst des Augustus. Deren Mustergültigkeit zeigt sich im Begriff der „Augusteischen Schwelle“, mit dem die neuere Politikwissenschaft die gelungene Überführung eines wachsenden aber instabilen Imperiums in einen dauerhaft stabilen Zustand beschreibt. Hinsichtlich der Beurteilung durch antike Historiker ist jedoch zu berücksichtigen, dass unter Augustus die ersten Bücherverbrennungen stattfanden. Betroffen waren Geschichtswerke, die seine Herrschaft kritisch bewerteten. Selbst wenn einzelne Exemplare dieser Werke in Privatbeständen überlebten und später erneut Verbreitung fanden, war der Informationsfluss hierdurch schwer beeinträchtigt. Der spätere Kaiser Claudius soll zudem durch seine Mutter und seine Großmutter davon abgehalten worden sein, in seinem Geschichtswerk die Zeit nach Caesars Ermordung ausführlicher zu thematisieren. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Neuordnung Eine ebenso anspruchsvolle Aufgabe wie der Umbau der Staatsverfassung war die innere und äußere Stabilisierung des Reichs, seine wirtschaftliche Erholung, die Wiederherstellung von Recht und Ordnung in Rom und den Provinzen und die Sicherung der Grenzen. Die Voraussetzungen für einen allgemeinen Wirtschaftsaufschwung waren nach Actium besser denn je in den vorangegangenen Jahrzehnten. Augustus konnte mehr als ein Drittel der rund 70 Legionen entlassen, das heißt etwa 80.000 der 230.000 Mann, die 31 v. Chr. noch unter Waffen gestanden hatten. Ein solches Heer wäre für Friedenszeiten nicht nur zu groß und zu kostspielig gewesen; es hätte immer auch eine potenzielle Gefahr dargestellt, so viele Soldaten unter Waffen zu belassen. Anders als 12 Jahre zuvor musste er für die Abfindung der Veteranen nicht auf Konfiskationen zurückgreifen, sondern konnte die ungeheure Beute, die ihm mit dem ägyptischen Staatsschatz in die Hände gefallen war, für Landkäufe nutzen. So entstand in Italien und den Provinzen eine breite Schicht ihm ergebener Bauern. Auch seine Anhänger in Rom – etwa im neuen Senat – wurden mit Geld und Posten bedacht. So schuf Augustus selbst die neuen Gesellschaftsschichten, auf denen die Staatsordnung des Prinzipats ruhen sollte. Neuordnung der Provinzen In die Provinzen, die bis dahin immer wieder von Kontributionen, Truppenaushebungen und durchziehenden Heeren heimgesucht worden waren, kehrte allmählich ein gewisser Wohlstand zurück, denn der Prinzipat stellte Rechtssicherheit her und verhinderte vor allem die bis dahin übliche Ausplünderung durch ehemalige Magistrate der Republik. Diese hatten sich in den Provinzen stets für die Kosten schadlos gehalten, die ihr politisches Engagement in Rom verursachte. Der Geschichtsschreiber Velleius Paterculus fasste die Wirksamkeit von Augustus’ Politik wenige Jahre nach dessen Tod folgendermaßen zusammen: „Die Äcker fanden wieder Pflege, die Heiligtümer wurden geehrt, die Menschen genossen Ruhe und Frieden und waren sicher im Besitz ihres Eigentums.“ Anfangs übernahm der Kaiser die Neuordnung der Provinzen noch selbst. Bereits im Sommer des Jahres 27 v. Chr. brach er zu einer mehrjährigen Inspektionsreise durch den Nordwesten des Reiches auf. Gallien war seit der Eroberung durch Caesar sich selbst überlassen geblieben. Nach der Ordnung der Verhältnisse dort eroberte Augustus diejenigen Gebiete im Norden der Iberischen Halbinsel, die bis dahin noch nicht zum Reich gehört hatten, und gliederte sie der Provinz Hispania Tarraconensis ein. In Tarraco trat er sein 8. und 9. Konsulat an. Auf der Rückreise nach Rom im Jahr 23 v. Chr. erkrankte Augustus schwer. Obwohl mit seinem baldigen Ableben gerechnet wurde, designierte Augustus keinen neuen Nachfolger. Agrippa und Marcellus galten als die aussichtsreichsten Kandidaten. Der Princeps überlebte schließlich, entschloss sich aber, seine Legionen künftig nicht mehr persönlich zu führen. Sittenpolitik Zu einem Kennzeichen der Herrschaft des Augustus wurde auch seine Betonung althergebrachter Sitte und Moral. In den Jahren seines Aufstiegs hatte er selbst nicht eben ein Muster altrömischer Tugenden abgegeben. Einmal an der Macht, sah er in ihnen aber ein Mittel, diese Macht zu festigen und die Wunden der Kriegsjahre zu heilen. Der von ihm beklagte „Sittenverfall“, den er aufhalten wollte, war allerdings eher eine Folge der Bürgerkriege gewesen, nicht deren Ursache, wie Augustus, Horaz und viele andere in der Führungsschicht des Reiches dachten. Im Jahr 19 v. Chr. ließ sich der Princeps vom Senat die cura morum übertragen, die Sittenaufsicht. In den im Jahr darauf beschlossenen Leges Iuliae wurden beispielsweise die Strafvorschriften für Ehebruch, Unzucht und Kuppelei verschärft. Für alle Männer zwischen 25 und 60 und alle Frauen zwischen 20 und 50 Jahren wurde eine Pflicht zur Ehe eingeführt. Kinderreiche Familien erhielten Privilegien, Ehepaare mit weniger als drei Kindern mussten dagegen rechtliche Nachteile hinnehmen. Die lex Papia von 9 n. Chr. wiederum verbot bestimmte Ehen, etwa die von Prostituierten und die zwischen Senatoren und Freigelassenen. Die Gesetze stießen bei der Bevölkerung auf Ablehnung und Spott, zumal Augustus’ eigener laxer Umgang mit altrömischer Sitte und Moral allgemein bekannt war. Die erzwungene Scheidung seiner Frau Livia von ihrem früheren Mann und seine zweifelhafte Beziehung zu Terentia, der Frau seines Freundes Gaius Maecenas, waren dafür nur die hervorstechendsten Beispiele. Augustus selbst war von den Bestimmungen ausgenommen: , „der Prinzeps ist von den Gesetzen befreit“, wie es in einem Kommentar hieß. Ob diese Befreiung für alle oder nur für die Ehegesetze galt, ist umstritten. Gegen Theodor Mommsen, der letzteres annimmt, argumentiert Okko Behrends, dass dieselbe Formel später ohne Einschränkung in der lex de imperio Vespasiani gebraucht wurde. Dies deute darauf hin, dass bereits Augustus als legibus solutus galt. Würde und Autorität des Princeps erforderten jedoch, dass Augustus und seine Familie ein gutes Beispiel abgaben, auch wenn Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklafften. Dies führte schließlich zum Zerwürfnis mit seiner Tochter Iulia, die sich den väterlichen Moralvorschriften nicht unterwerfen wollte. Im Jahr 2 v. Chr. ließ Augustus selbst sie vor dem Senat des Ehebruchs anklagen und auf die kleine Insel Pandateria verbannen. Neun Jahre später, 8 n. Chr., ereilte den Dichter Ovid, den Autor der Ars amatoria („Liebeskunst“), das gleiche Schicksal: Er wurde nach Tomis am Schwarzen Meer verbannt. Das propagandistische Bild vom Princeps als treusorgendem altrömischem Patron, der über das Wohl der Seinen wacht, fand sichtbaren Ausdruck in einem umfangreichen Bauprogramm in Rom (publica magnificentia). Dazu gehörten Zweckbauten wie Aquädukte und eine riesige Sonnenuhr (das Solarium Augusti), vor allem aber Repräsentationsbauten wie das Augustusforum, das Marcellustheater und zahlreiche Tempel, die dazu dienten, den Römern Macht und Autorität des Augustus vor Augen zu führen. Der Kaiser spricht in seinem Tatenbericht von 82 Tempeln, die er in einem Jahr habe instand setzen, Vergil in der Aeneis von 300 Tempeln, die er insgesamt habe bauen lassen. Außenpolitik und Grenzsicherung Augustus’ Außenpolitik wurde lange als defensiv beurteilt. Historiker des 19. Jahrhunderts sahen in ihr nur eine Arrondierung und Sicherung der Reichsgrenzen. Zu dieser Sicht trug unter anderem die Tatsache bei, dass Augustus den Plan Caesars zu einem Feldzug gegen das Partherreich nicht wieder aufnahm. Eine militärische Machtdemonstration gegenüber dem Nachbarn im Südosten genügte, um den Partherkönig Phraates IV. im Jahr 20 v. Chr. zu einer vertraglichen Grenzregelung und zur Herausgabe der in der Schlacht bei Carrhae 53 v. Chr. erbeuteten, symbolträchtigen Legionsadler zu veranlassen. In Rom wurde als großer militärischer Sieg propagiert, was in Wirklichkeit eine friedliche Lösung darstellte. Die Eingliederung Ägyptens verlief weitgehend problemlos. Im Jahr 25 v. Chr. gewann Rom die neue Provinz Galatia in Kleinasien aufgrund einer testamentarischen Verfügung des letzten Galater-Königs Amyntas. Zudem geriet eine Reihe neuer Klientelstaaten wie Armenien, Kappadokien und Mauretanien in Abhängigkeit zu Rom. Dennoch ließ sich die These von der prinzipiell friedlichen, defensiven Außenpolitik nicht aufrechterhalten. Kein republikanischer Feldherr und kein Kaiser hat dem Römischen Reich so große Territorien einverleibt wie Augustus – und dies vor allem durch kriegerische Eroberungen. Pläne für eine Eroberung Arabiens scheiterten zwar schon im Ansatz, da der Feldzug des Aelius Gallus 25/24 v. Chr. erfolglos blieb. Im sechsjährigen Kantabrischen Krieg von 25 bis 19 v. Chr. eroberten Augustus’ Truppen jedoch die letzten nichtrömischen Gebiete im Norden der iberischen Halbinsel. Das Land der besiegten Kantabrer wurde als Teil der Provinz Hispania Tarraconensis dem Reich eingegliedert. Nachdem 17 v. Chr. bei den Säkularfeiern in Rom noch die Friedensordnung des Prinzipats gefeiert worden war, ging das Reich im darauffolgenden Jahr erneut zur Offensive über. Der Grund dafür ist bis heute ungeklärt. Womöglich fing als kleinere Grenzstreitigkeit mit germanischen Stämmen an, was mit ausgedehnten militärischen Operationen an den nordöstlichen Grenzen und der Eingliederung von nicht weniger als fünf neuen Provinzen endete. Von der Ostgrenze Galliens, den Alpen und dem dalmatinischen Küstengebirge wurde die Reichsgrenze bis zu Donau und Rhein, zeitweise sogar bis zur Elbe vorgeschoben. Südlich der Donau entstanden die neuen Provinzen Raetia – mit der 15 v. Chr. gegründeten und nach dem Princeps benannten Hauptstadt Augusta Vindelicum – Noricum, Pannonia, Illyricum und Moesia. Im Gegensatz zu diesen Erfolgen endeten die augusteischen Germanenkriege in einer Katastrophe. Der Versuch, die rechtsrheinische Germania magna zu erobern, war durch die Feldzüge von Augustus’ Stiefsohn Drusus von 12 bis 9 v. Chr. weit vorangetrieben und nach Drusus’ Tod durch seinen Buder Tiberius fortgeführt. Nach der Niederschlagung des Germanenaufstands der Jahre 1 bis 5 n. Chr. schien die Eroberung abgeschlossen. Auch neuere archäologische Funde wie die einer römischen Siedlung bei Waldgirmes sprechen dafür, dass die Provinzialisierung Germaniens zwischen Rhein und Elbe zu Augustus’ Zeit bereits weit vorangeschritten war. Im Jahr 9 n. Chr. aber vernichtete ein von dem Cheruskerfürsten Arminius initiiertes Bündnis germanischer Stämme im „saltus Teutoburgiensis“ – wahrscheinlich die Region um Kalkriese bei Osnabrück – drei römische Legionen unter dem Befehl des Provinzstatthalters Publius Quinctilius Varus. Nach Bekanntwerden der Niederlage, einer der größten in der Geschichte des Römischen Reichs, soll der Kaiser Aufstände in Rom selbst befürchtet und eine Verstärkung der Stadtwachen veranlasst haben. Auch persönlich zeigte sich Augustus von der Nachricht schwer getroffen, zumal Varus als Ehemann seiner Großnichte Claudia Pulchra zum weiteren Familienkreis gehörte. Sueton überliefert Augustus Ausruf Quinctili Vare, legiones redde! („Quinctilius Varus, gib die Legionen zurück!“). Der Kaiser habe sich als Zeichen der Trauer monatelang Haupthaar und Bart wachsen lassen und den Jahrestag der Varusschlacht stets als Trauertag begangen. Die Ordnungszahlen der drei vernichteten Truppenteile, der XVII., XVIII. und XIX. Legion, wurden nie wieder vergeben. Erst nach Augustus’ Tod, in den Jahren 14 bis 16 n. Chr., unternahm Drusus’ Sohn Germanicus verlustreiche Rückeroberungsversuche. Schließlich aber zogen sich die Römer auf die Rhein-Donau-Linie zurück und errichteten den Limes als befestigte Grenze gegen Germanien. Regelung der Nachfolge Obwohl Augustus in fast allen Quellen zu seinem Leben als gut aussehender Mann geschildert wird, war er seit seiner Kindheit von schwacher Konstitution. Er überlebte mehrere schwere Krankheiten wie die im Jahre 23 v. Chr. nur knapp und konnte nicht damit rechnen, das für die damalige Zeit sehr hohe Alter von fast 76 Jahren zu erreichen. Für sein Bestreben, der neu geschaffenen Herrschaftsordnung Dauer zu verleihen, stellte die Erbfolgeregelung daher eine zentrale Aufgabe dar. Während seine Frau Livia einen ihrer Söhne von Tiberius Claudius Nero auf dem Thron sehen wollte, verfolgte Augustus den Plan, die Nachfolge in der eigenen, julischen Familie zu sichern. Da der Kaiser keine Söhne hatte, zwang er seine Tochter Iulia, nacheinander mehrere Nachfolgekandidaten zu heiraten. Dies war im Jahr 25 v. Chr. zunächst Marcellus, der Sohn seiner Schwester Octavia und ihres ersten Mannes. Die Bevorzugung seines Neffen führte offenbar zeitweise zu Spannungen zwischen Augustus und seinem Feldherrn Agrippa, der sich selbst begründete Hoffnungen auf die Nachfolge machte. Doch Marcellus starb kaum 20-jährig Ende des Jahres 23 v. Chr. und Agrippa galt nun als aussichtsreicher Nachfolgekandidat. Augustus drängte den alten Freund im Jahr 21 v. Chr., sich von seiner Frau scheiden zu lassen und die 25 Jahre jüngere Iulia zu heiraten. Die beiden hatten zwei Töchter und drei Söhne, Gaius Caesar, Lucius Caesar und den nachgeborenen Agrippa Postumus. Spätestens seit Agrippas Tod 12 v. Chr. betrachtete Augustus die beiden älteren Enkel als seine bevorzugten Nachfolger. Aus diesem Grund hatte er sie schon zu Agrippas Lebzeiten als Söhne adoptiert. Beide Enkel waren aber 12 v. Chr. noch so jung, dass sie nach einem vorzeitigen Tod des Augustus nicht sofort die Nachfolge hätten antreten können. Bis sie als Nachfolgekandidaten alt genug sein würden und der römischen Öffentlichkeit vorgestellt werden konnten, benötigte der Princeps einen Stellvertreter. Dieser sollte Augustus bei den Regierungsgeschäften unterstützen und anstatt der zu jungen Enkel beerben. Diese Rolle, die einst Agrippa innegehabt hatte, sollte nun Tiberius ausfüllen. Augustus zwang ihn, sich von seiner Frau Vipsania, einer Tochter Agrippas, zu trennen, Iulia zu heiraten und sich zum Schutz der beiden jungen Prinzen zu verpflichten. Augustus scheint sich damals aber weder Tiberius noch dessen jüngeren Bruder Drusus, zu dem er ein besseres Verhältnis hatte, als Nachfolger gewünscht zu haben. Er machte deutlich, dass Tiberius nur ein „Platzhalter“ für die beiden Enkel war und nur für eine Übergangszeit als Nachfolgekandidat dienen sollte. Dies führte zum Zerwürfnis mit Tiberius, der die erzwungene Ehe mit Iulia zudem als Qual empfand. Der Stiefsohn legte daher 5 v. Chr. alle Ämter nieder und ging nach Rhodos ins Exil. Zu einer Aussöhnung kam es erst, nachdem Lucius und Gaius Caesar kurz hintereinander, 2 und 4 n. Chr., gestorben waren und Iulia wegen ihres Lebenswandels aus Rom verbannt wurde. Da Drusus bereits 9 v. Chr. bei einem Kriegszug in Germanien umgekommen war, blieb nur noch Tiberius als Nachfolger übrig. Augustus adoptierte ihn am 26. Juni des Jahres 4 gemeinsam mit seinem letzten noch lebenden Enkel Agrippa Postumus. Letzteren ließ er jedoch drei Jahre später aus nie ganz geklärten Gründen auf die Insel Planasia bei Elba verbannen, wo er unmittelbar nach Augustus’ Tod ermordet wurde. Tiberius wiederum musste den Sohn seines verstorbenen Bruders Drusus adoptieren: Germanicus. Der Großneffe des Augustus entstammte als Enkel der Octavia zugleich dem julischen und dem claudischen Familienzweig. Da Germanicus 4 n. Chr. noch zu jung war, um Augustus direkt im Amt nachzufolgen, wies der Princeps ihm die Rolle des Nachfolgers von Tiberius zu. Nach dieser familienpolitischen Weichenstellung bis in die dritte Generation übertrug Augustus Tiberius im Jahr 4 n. Chr. die tribunizische Amtsgewalt (tribunicia potestas). Aber erst im Jahr 13 n. Chr., im Jahr vor seinem Tod, verlieh Augustus ihm auch die prokonsularischen Befugnisse (imperium proconsulare maius) und designierte Tiberius damit öffentlich als einzig möglichen Nachfolger. In seinem umfangreichen Testament vermachte Augustus seinem Adoptivsohn und seiner Ehefrau Livia sein materielles Vermögen. Darüber hinaus setzte er Legate für die Bürger Roms und die Prätorianer aus. Ferner regelte er sein Begräbnis und gab Anweisungen für Tiberius und den Staat. Tod und Begräbnis Im Sommer des folgenden Jahres unternahm der Kaiser eine Reise, die ihn über Capri nach Benevent führen sollte. Er erkrankte bereits auf Capri an Diarrhoe, reiste aber noch weiter aufs Festland bei Neapel und ließ sich nach Nola bringen – angeblich in dasselbe Haus, in dem 71 Jahre zuvor sein Vater Gaius Octavius gestorben war. Dort verstarb der Kaiser in Gegenwart seiner Frau Livia und einer Reihe herbeigeeilter Würdenträger am 19. August des Jahres 14, am gleichen Tag, an dem er über 50 Jahre zuvor sein erstes Konsulat angetreten hatte. Laut Sueton soll der Mann, der in seinem Leben so viele Masken getragen hatte, sich mit einer Formel verabschiedet haben, die Komödianten am Ende eines Stückes sprachen: „Hat das Ganze Euch gefallen, nun so klatschet Beifall unserem Spiel, und entlasst uns alle mit Dank.“ Augustus’ Leiche wurde auf dem Marsfeld in Rom verbrannt und die Asche in dem prachtvollen Augustusmausoleum beigesetzt, das der Kaiser dort für sich und seine Familie hatte errichten lassen. Zudem wurde er – wie die meisten römischen Caesaren nach ihrem Tod – zum Staatsgott (divus) erklärt. Zwischen Kapitol und Palatin wurde ein Tempel des Divus Augustus geweiht. Der kultische Dienst dort oblag einem Kollegium von 21 Priestern, den Augustales, in das nur die höchsten Mitglieder des Senats und des Kaiserhauses berufen wurden. Augusteisches Zeitalter Schon Zeitgenossen des Augustus betrachteten ihre Gegenwart als „apollinische Ära“, geprägt von Apoll, dem Gott des Lichts, der Künste und der Musik, der Weisheit und der Weissagung. Der Kaiser ließ ihm Heiligtümer bei Actium und bei seinem eigenen Wohnhaus auf dem palatinischen Hügel in Rom errichten. Ein Beispiel dafür, welche Verehrung dem Princeps schon zu Lebzeiten zuteilwurde, ist ein Kultlied des Horaz (Übersetzung nach Werner Dahlheim): tutus bos etenim rura perambulat, nutrit rura Ceres almaque Faustitas, pacatum volitant per mare navitae; culpari metuit fides, […] quis Parthum paveat, quis gelidum Scythen, quis Germania quos horrida parturit fetus incolumi Caesare? quis ferae bellum curet Hiberiae? […] Nunmehr zieht seines Wegs sicher der Stier dahin, Ceres segnet die Flur wieder mit reicher Saat, Friedlich schaukelt das Schiff durch die versöhnte Flut Treu und Glauben sind neu erwacht (…) Wen erfüllt noch mit Angst Parther und Skythe jetzt? Wen Germaniens Brut, Söhne der rauen Luft Wen, da Caesar uns lebt, kümmert des Krieges Dräun Fern im wilden Iberien? (…) Vollends verklärt wurde die Regierungszeit des ersten Kaisers nach seinem Tod unter dem Begriff der Pax Augusta, des „augusteischen Friedens“. Im Vergleich zum vorangegangenen Jahrhundert und zur Herrschaft vieler Nachfolger des ersten Kaisers brachte die augusteische Ära – das Saeculum Augustum – Rom, Italien und den meisten Provinzen in der Tat eine lange währende Zeit von innerem Frieden, Stabilität, Sicherheit und Wohlstand. Nach den Verheerungen der Bürgerkriege blühte die Wirtschaft nun ebenso auf wie Kunst und Kultur. Die Zeit brachte Dichter wie Vergil, Horaz, Ovid und Properz, Historiker wie Titus Livius oder Architekten wie Vitruv hervor. Der Kaiser selbst versuchte sich als Tragödienautor, vernichtete aber sein Drama Ajax, dessen Unzulänglichkeit ihm bewusst war, mit dem Kommentar: Mein Ajax ist in den Schwamm gefallen. Rom wandelte sich, wie Augustus meinte, von einer Stadt aus Ziegeln zu einer Stadt aus Marmor. Beeindruckende architektonische Zeugnisse dieser Zeit haben sich bis heute erhalten, etwa das Marcellus-Theater, das von Agrippa erbaute und unter Kaiser Hadrian erneuerte Pantheon und nicht zuletzt Augustus’ Mausoleum und die Ara Pacis, der Friedensaltar aus dem Jahre 9 v. Chr., der auf einem Relief eine Prozession der kaiserlichen Familie zeigt. Das Bild, das der Kaiser mit solchen Bauten den Römern vermitteln wollte, kontrastierte aber spätestens seit dem Jahr 16 v. Chr. wieder mit den unablässigen Kriegen, die an den Grenzen geführt wurden. Das Reich expandierte unter Augustus in einem Maß wie nie zuvor und nie wieder danach. Neben dem reichen Ägypten und Galatia wurden ihm Provinzen an Rhein und Donau hinzugefügt, deren Eroberung nur mit der Galliens durch Caesar vergleichbar war. Von Krieg aber war im Inneren des Reichs und der Provinzen nach dem Jahr 31 v. Chr. nur noch wenig zu spüren. Frieden und Wohlstand nahmen deshalb auch schon die Zeitgenossen als prägendes Kennzeichen der Epoche wahr. Dies war der Grund, warum sie sich letztlich mit der Einführung der Monarchie und dem Ende der Republik abfanden, zumal der Versuch einer Rückkehr zu deren oligarchischer Ordnung neue Bürgerkriege hätte hervorrufen können. Und es war kein Zufall, dass die Anhänger eines neuen Glaubens später einen Zusammenhang herstellten zwischen der Herrschaft des vergöttlichten, als Retter und Friedensfürst gefeierten Augustus und der Geburt ihres Religionsstifters, den sie als Gottessohn, Heiland und Verkünder eines Reichs des Friedens verehrten. Augustus in Nachwelt und Forschung Das Bild des Princeps hat sich in den 2000 Jahren seit seinem Tod immer wieder gewandelt. Mit seiner Person und seiner Politik hatten diese Veränderungen meist wenig bis gar nichts zu tun. Augustusbilder von der Antike bis zur frühen Neuzeit Augustus hatte alles dafür getan, der Nachwelt ein möglichst positives Bild von sich zu hinterlassen. Seine Selbstbiographie ging zwar verloren, aber sein „Tatenbericht“, die sogenannten Res gestae divi Augusti, vermitteln einen guten Eindruck davon, wie der Herrscher selbst gesehen werden wollte. Auch Nikolaos von Damaskus war in seiner nur fragmentarisch erhaltenen Biografie des Augustus darum bemüht, ihn nur im besten Licht darzustellen. Allerdings finden sich in der antiken Geschichtsschreibung auch Spuren einer anderen, kritischen Beurteilung. Der Geschichtsschreiber Tacitus etwa, ein erklärter Anhänger der früheren, republikanischen Verhältnisse, schrieb im frühen 2. Jahrhundert in seinem Werk Annalen über die Begründung des Principats: Nach einer kritischen Passage über die in seinen Augen übertriebenen postumen Ehrungen des Augustus schrieb Tacitus über den Princeps selbst: Bestimmte Schilderungen Tacitus’ sowie des im frühen 3. Jahrhundert schreibenden Senators Cassius Dio weisen einige Übereinstimmungen auf. Während aber Tacitus ein eher negatives Bild vom ersten Princeps zeichnete, da er den Untergang der Republik bedauerte und die Machtpolitik des Augustus als solche erkannte, war Dios Darstellung positiver. Da sein Werk neben den mit Tacitus übereinstimmenden Passagen zusätzliches Material bietet, ist man sich in der Forschung weitgehend einig, dass Dio nicht Tacitus, sondern dass beide eine heute verlorene, gemeinsame Quelle verwendet haben. Wie die meisten antiken Geschichtsschreiber benannte auch Tacitus nur selten seine Quellen. Aus der senatorischen Geschichtsschreibung sind jedoch mehrere Werke aus der Zeit vor ihm bekannt, darunter das des Aulus Cremutius Cordus, der Brutus und Cassius anscheinend recht positiv dargestellt hat. Auch Aufidius Bassus schilderte wenigstens teilweise die Herrschaft des Augustus; allerdings ist nicht bekannt, ab welchem Zeitpunkt seine Historien einsetzten. Wahrscheinlich schrieb auch Servilius Nonianus über die Herrschaft des Princeps. Sueton verarbeitete Material aus verlorenen Werken dieser Zeit in seinen Kaiserviten. Tacitus mag aber der erste Geschichtsschreiber gewesen sein, dessen Gesamturteil über Augustus negativ gefärbt war. Eine wesentliche Umdeutung erfuhren Augustus und seine Zeit nach der Christianisierung des Römischen Reichs. Seit Spätantike und Mittelalter haben Christen immer wieder versucht, die pax Augusta mit der pax Christiana gleichzusetzen, da Jesus von Nazaret im augusteischen Zeitalter geboren worden war. Im Spätmittelalter nutzten die römisch-deutschen Könige und Kaiser diesen Umstand auch politisch, um ihren Vorrang gegenüber dem Papsttum zu begründen. Während des Weihnachtsdienstes wurde indirekt hervorgehoben, dass es zur Zeit von Jesu Geburt bereits einen römischen Kaiser aber noch keinen Papst gegeben habe. Auch in der Neuzeit wollten Politiker aus jeweils unterschiedlichen Motiven heraus immer wieder Parallelen zwischen der eigenen und der Zeit des Augustus konstruieren. Während der Französischen Revolution wurde zum Beispiel die Errichtung des Direktoriums nach der Terrorherrschaft der Jakobiner im Jahr 1794 mit der Errichtung des Prinzipats verglichen. Im 20. Jahrhundert wiederum entfachten die italienischen Faschisten ein regelrechtes Augustusfieber. Auch in der Zeit des Nationalsozialismus versuchten zahlreiche Althistoriker, darunter Wilhelm Weber, die Herrschaftsweise des Augustus als Vorbild für die so genannte nationale Erneuerung Deutschlands durch das „Führerprinzip“ darzustellen. Augustus in der modernen Geschichtswissenschaft Noch ganz anders hatte im 19. Jahrhundert der Althistoriker Theodor Mommsen geurteilt: Er hatte Augustus’ Prinzipatsordnung nicht als Allein-, sondern als Doppelherrschaft gedeutet, die sich Senat und Princeps geteilt hätten. Gegen dieses Bild wiederum wandte sich Ronald Syme, dessen 1939 erschienenes Werk The Roman Revolution vor allem aufgrund seines reichhaltigen Materials als Ausgangspunkt der modernen Augustus-Forschung gilt. Symes Darstellung war von der Ausbreitung faschistischer Bewegungen im Europa seiner Zeit geprägt. Er wollte in Augustus einen Diktator und in seinem Aufstieg Parallelen zu den Anfängen des Faschismus erkennen. Ähnlich sah dies auch Benito Mussolini selbst, auch wenn er Symes negative Bewertung nicht teilte. Nach Syme ist Augustus’ Regime aus einer Revolution hervorgegangen. Er selbst sei ein Parteimann gewesen, der gestützt auf Geld und Waffen die alte Führungsschicht beseitigt und durch eine neue ersetzt habe. Als kalkulierender Machtmensch habe er die alte, zerfallende Republik zu Grabe getragen, um unter einer scheinbar republikanischen Fassade eine Alleinherrschaft zu begründen. Der Historiker Jochen Bleicken urteilte zwar kritisch, aber nicht abwertend über den Princeps: In der antiken Geschichte gebe es nur Alexander und Caesar, deren Leistungen sich mit denen des Augustus vergleichen ließen. Dennoch könne man ihn nicht mit diesen „Großen“ gleichsetzen, die im Grunde nur zerstörend gewirkt hätten. Augustus hingegen sei vor allem der wegweisende „Baumeister des Römischen Kaiserreichs“ und „Erzieher“ der neuen Eliten des Prinzipats gewesen. Von einer Heuchelei des Augustus oder von einem Fassadencharakter seines Regimes könne keine Rede sein. Dietmar Kienast sah in Augustus gar den selbstlosesten Machthaber der gesamten Geschichte. Auch Klaus Bringmann (2007) zog in seiner Augustus-Biographie eine insgesamt positive Bilanz der Regierungszeit des ersten römischen Kaisers: Anders als Ronald Syme sieht er in dessen Leistungen den Beleg dafür, dass der Besitz der Macht für Augustus kein bloßer Selbstzweck war. Werner Dahlheim (2010) stellt den „mörderischen Winkelzüge[n] der ersten Jahre“ des jungen Octavian das positive Urteil über dessen zweiten Lebenshälfte gegenüber. Ihm erscheint Augustus, gemessen an der Dauerhaftigkeit seiner staatsmännischen Leistung, als „großer Mann“. Aus Anlass des 2000. Todestages des Kaisers wurde in der Scuderie del Quirinale in Rom von Oktober 2013 bis Februar 2014 die Ausstellung „Augusto“ gezeigt. Aus dem gleichen Anlass organisierten Ernst Baltrusch und Christian Wendt an der FU Berlin eine Ringvorlesung mit 12 Beiträgen von Fachkolleginnen und -kollegen zu wichtigen Aspekten der Politik und Kultur der Epoche des ersten Princeps und ihrer Bedeutung für die Nachwelt, die 2016 in einem Sammelband publiziert wurden. Werke Res gestae divi Augusti: von Augustus selbst verfasster Tatenbericht, der an Bronzesäulen vor seinem Mausoleum angebracht war. Kopien wurden als Inschriften in mehreren Orten in Kleinasien gefunden, die vollständigste – mit einer griechischen Übersetzung – in einem Tempel in Ankara, nach der das Werk auch als Monumentum Ancyranum bezeichnet wird. Es gibt zahlreiche Ausgaben, unter anderem eine lateinisch-griechisch-deutsche Ausgabe mit Kommentar hrsgg. von Ekkehard Weber, München u. Zürich 1975. Text (lateinisch), Text (lateinisch/griechisch/englisch) De vita sua: eine Autobiografie, die in dreizehn Büchern die Zeit bis zum Cantabrischen Krieg behandelte, aber praktisch vollständig verloren ging. (Moderne „Rekonstruktionen“ von O. K. Gilliam, Philipp Vandenberg und Allan Massie gehören in das Genre des historischen Romans.) Sicilia: verloren gegangenes Epos in Hexametern, nur von Sueton bezeugt. Ajax: Tragödie, von Augustus selbst vernichtet. Briefe; Reste von Privatbriefen des Augustus, etwa an Familienmitglieder, aber auch an Gaius Maecenas und die Dichter Vergil und Horaz, sind in recht großem Umfang als Zitate bei späteren Autoren (vor allem Sueton) erhalten. Amtsbriefe sind zum Teil auch in inschriftlicher Form überliefert. Quellen Appian, Römische Geschichte. Bd. 2: Bürgerkriege. Übersetzt von Otto Veh, 1988. Text (englisch) bei LacusCurtius Cassius Dio, Römische Geschichte. Übersetzt von Otto Veh, Artemis-Verlag, Zürich 1985, (englische Übersetzung) Nikolaos von Damaskus, Das Leben des Augustus. Oft kritisierte Biografie, die nicht immer zuverlässig ist und nur in byzantinischen Exzerpten erhalten ist. Zweisprachige Übersetzung von Jürgen Malitz, Nikolaos von Damaskus. Das Leben des Kaisers Augustus, Darmstadt 2003. Text (englisch) Text (deutsch) (PDF; 77 kB) Sueton, Divus Augustus. Ausführlichste antike Biografie aus der Sammlung der Kaiserbiografien von Gaius Iulius Caesar bis Domitian. Zahlreiche Ausgaben, beispielsweise in Sämtliche erhaltene Werke, Essen 2004 (deutsche Übersetzung). Text (lateinisch), (englische Übersetzung) Tacitus, Annalen. Das Geschichtswerk setzt erst mit dem Tod des Augustus ein, enthält aber zahlreiche Rückblicke auf seine Herrschaft. Zahlreiche Ausgaben, beispielsweise lateinisch und deutsch hg. von Erich Heller, München u. Zürich 1982. Text (lateinisch/englisch) Klaus Bringmann, Dirk Wiegandt: Augustus. Schriften, Reden und Aussprüche (= Texte zur Forschung). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008, ISBN 3-534-19028-9 (umfangreiche Quellensammlung, enthält alle bekannten Anordnungen und Edikte, persönlichen Briefe und amtlichen Dokumente des Octavian/Augustus) Henning Ohst: Die ‚Epistulae ad familiares‘ des Kaisers Augustus. Studien zur Textgeschichte in der Antike, Edition und Kommentar (= Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte. Bd. 152). De Gruyter, Berlin/Boston 2023, ISBN 978-3-11-119151-5. Literatur Biographien Jochen Bleicken: Augustus. Eine Biographie. Alexander Fest, Berlin 1998, ISBN 3-8286-0027-1. Neuauflage mit Nachwort von Uwe Walter, Rowohlt, Reinbek 2010, ISBN 978-3-499-62650-0. Klaus Bringmann: Augustus (= Gestalten der Antike.). Primus, Darmstadt 2007, ISBN 978-3-89678-605-0. Karl Christ: Geschichte der römischen Kaiserzeit. Von Augustus bis zu Konstantin. 4. durchgesehene und aktualisierte Auflage. Beck, München 2002, ISBN 3-406-36316-4, S. 47ff. Werner Dahlheim: Augustus. Aufrührer – Herrscher – Heiland. Eine Biographie. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60593-2 (Rezension von Christoph Michels in H-Soz-Kult, 2010 Online). Werner Dahlheim: Augustus. In: Manfred Clauss (Hrsg.): Die römischen Kaiser. 55 historische Portraits von Caesar bis Iustinian. 4. aktualisierte Auflage. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60911-4, S. 26–50 (Kurzbiografie). Werner Eck: Augustus und seine Zeit. 6. überarbeitete Auflage. Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-41884-6 (knappe Einführung). Karl Galinsky: Augustus. Sein Leben als Kaiser. Aus dem Englischen von Cornelius Hartz, von Zabern, Mainz 2013, ISBN 978-3-8053-4677-1. Dietmar Kienast: Augustus. Prinzeps und Monarch. 4., bibliographisch aktualisierte und um ein Vorwort ergänzte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2009, ISBN 978-3-534-23023-5 (problemorientierte, aber schwer lesbare Darstellung mit umfassendem wissenschaftlichem Apparat). Anne-Marie Lewis: Celestial inclinations. A life of Augustus. Oxford University Press, New York 2023, ISBN 978-0-19-759967-9. Angela Pabst: Kaiser Augustus. Neugestalter Roms. Reclam, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-15-010988-5. Pat Southern: Augustus. Magnus, Essen 2005, ISBN 3-88400-431-X. Heinrich Schlange-Schöningen: Augustus. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-16512-8 (knappe Darstellung). Einordnung und wichtige Einzelaspekte Ernst Baltrusch, Christian Wendt (Hrsg.): Der Erste. Augustus und der Beginn einer neuen Epoche, Zaberns Bildbände zur Archäologie. Sonderbände der Antiken Welt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2016, ISBN 978-3-8053-5033-4. Jochen Bleicken: Verfassungs- und Sozialgeschichte des Römischen Kaiserreiches. 2 Bände, 3. bzw. 4. 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November 2014 in Tübingen (= Tübinger archäologische Forschungen. Bd. 24). Verlag Marie Leidorf, Rahden 2017, ISBN 978-3-89646-915-1. Karl Galinsky (Hrsg.): The Cambridge Companion to the Age of Augustus. Cambridge University Press, Cambridge 2005, ISBN 0-521-00393-8 (Aufsatzsammlung). Wolfgang Havener: Imperator Augustus. Die diskursive Konstituierung der militärischen „persona“ des ersten römischen „princeps“ (= Studies in ancient monarchies. Bd. 4). Steiner, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-515-11220-8. A. J. S. Spawforth: Greece and the Augustan Cultural Revolution. Cambridge University Press, Cambridge 2012. Ines Stahlmann: Imperator Caesar Augustus. Studien zur Geschichte des Principatsverständnisses in der deutschen Altertumswissenschaft bis 1945. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1988, ISBN 3-534-03890-8. Ronald Syme: Die römische Revolution. Machtkämpfe im antiken Rom. Grundlegend revidierte und erstmals vollständige Neuausgabe, herausgegeben von Christoph Selzer und Uwe Walter. Klett-Cotta, Stuttgart 2003, ISBN 3-608-94029-4 (klassische Darstellung, die zum Ausgangspunkt der modernen Augustus-Forschung geworden ist). Paul Zanker: Augustus und die Macht der Bilder. 3. Auflage. Beck, München 1997, ISBN 3-406-34514-X (Gesamtdarstellung der propagandistischen und repräsentativen Politik des Augustus). Weblinks Ausführliche Informationen zu Leben und Werk des Augustus Mary Beard: The new Augustus. In: The Times Literary Supplement, Januar 2014, zu den Augustus-Ausstellungen in Rom und Paris 2013–2014 Vinzenz Völkel/Siegfried Höhne: Augustus – Friedenskaiser und Gewaltherrscher Bayern 2 Radiowissen. Ausstrahlung am 29. Juli 2019 (Podcast) Anmerkungen Kaiser (Rom) Konsul (Römische Republik) Censor Augur Julier Octavier Römischer Mäzen Geboren 63 v. Chr. Gestorben 14 Person im Neuen Testament Mann Gaius Iulius Caesar Herrscher (1. Jahrhundert)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Argumentum%20lege%20non%20distinguente
Argumentum lege non distinguente
Unter dem als argumentum lege non distinguente (übernommen aus dem Satz argumentum lege non distinguente nec nostrum est distinguere) bezeichneten Rechtsgedanken versteht man in der Rechtswissenschaft einen logischen Schluss bei der Auslegung von Gesetzen, der es im Wege der Analogie erlaubt, das betreffende Gesetz auch auf einen nicht ausdrücklich geregelten Sachverhalt anzuwenden. Voraussetzung ist, dass das auszulegende Gesetz nicht explizit oder nach seinem Grundgedanken zwischen beiden Sachverhalten unterscheidet. Aus einem Umkehrschluss (argumentum e contrario) ergibt sich dann ein Analogieverbot. Anmerkungen Literatur Theo Mayer-Maly, Hans Carl Nipperdey: Risikoverteilung in mittelbar von rechtmäßigen Arbeitskämpfen betroffenen Betrieben. Mohr, Tübingen 1965, (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart 304/305), S. 26 Carl Creifelds: Rechtswörterbuch. 21. Aufl. 2014. ISBN 978-3-406-63871-8 Lateinische Phrase Rechtssprache Juristische Methodenlehre
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https://de.wikipedia.org/wiki/Atlantischer%20Ozean
Atlantischer Ozean
Der Atlantische Ozean, auch Atlantik genannt, ist nach dem Pazifik der zweitgrößte Ozean der Erde. Als Grenzen gelten die Polarkreise und die Meridiane durch Kap Agulhas im Osten und Kap Hoorn im Westen. Die von ihm bedeckte Fläche beträgt 79.776.350 km², mit den Nebenmeeren 89.757.830 km² und mit dem Arktischen Ozean 106,2 Millionen km², insgesamt etwa ein Fünftel der Erdoberfläche. Dabei liegt die durchschnittliche Wassertiefe (bei Einschluss aller Nebenmeere) bei 3.293 Metern. Namensherkunft Der Name geht auf den Begriff Atlantis thalassa der altgriechischen Sprache zurück: . Geographie Der Atlantik entstand im Mesozoikum durch die Teilung der erdgeschichtlichen Kontinente Laurasia im Norden und Gondwana im Süden. Heute trennt er Europa und Afrika vom amerikanischen Kontinent. Der Mittelatlantische Rücken überragt den Tiefseeboden um bis zu 3000 Meter und trennt die west- von der ostatlantischen Senke des Ozeans. Der Atlantische Ozean liegt fast ausschließlich auf der Westhalbkugel der Erde. Er ist umgeben von der Arktis bzw. dem Arktischen Ozean im Norden, Europa, Afrika und dem Indischen Ozean im Osten, der Antarktis bzw. dem Südlichen Ozean im Süden, sowie Südamerika und Nordamerika im Westen. Der Atlantik kann entlang des Äquators in Nord- und Südatlantik unterteilt werden; gelegentlich wird er auch entlang der Wendekreise in Nord-, Zentral- und Südatlantik unterteilt. Der Atlantik birgt ein Wasservolumen von rund 354,7 Mio. km³. Seine größte Breite beträgt 9000 km zwischen Senegal und dem Golf von Mexiko, die geringste 1500 km zwischen Norwegen und Grönland. Die maximale Tiefe wird mit etwa 8.400 Metern im Milwaukeetief erreicht, einem Teil des Puerto-Rico-Grabens. Der Golfstrom, der aus der Karibik kommt und quer über den Atlantik bis nach Grönland zieht, ist für das relativ milde Klima an den nordeuropäischen Küsten verantwortlich. Wegen des intensiven Schiffsverkehrs auf den Nebenmeeren (u. a. Mittelmeer, Nord- und Ostsee) und des Transitverkehrs zwischen Europa und Nordamerika ist der Atlantik das verkehrsreichste Weltmeer. Nebenmeere Der Atlantik hat bedeutende Mittel-, Rand- und Binnenmeere: Natürliche Verbindungen zu den anderen Weltmeeren Nordatlantik Die Dänemarkstraße zwischen Grönland und Island sowie die Davisstraße mit der Baffin Bay zwischen Kanada und Grönland verbinden den Atlantik mit dem Arktischen Ozean. Östlich von Island geht das Europäische Nordmeer in den Arktischen Ozean über, der gegenüberliegend mit der Beringsee und damit mit dem Nordpazifik verbunden ist. Da der zentrale arktische Ozean für die gemeine Seefahrt unzugänglich ist, haben vor allem die Routen Bedeutung, die entlang der Nordküsten von Eurasien und Nordamerika verlaufen. Südatlantik Die größte zusammenhängende Verbindung des Atlantik mit den übrigen Ozeanen erstreckt sich südlich von Kap Agulhas (Südafrika). Der durch diesen Ort laufende Meridian trennt den Atlantik vom Indischen Ozean. Im Süden bildet der 60. Breitengrad die durch den Antarktisvertrag willkürlich gezogene Grenze zum Südpolarmeer. Natürliche Verbindungen zum Pazifischen Ozean sind die Magellanstraße, der Beagle-Kanal und die Drakestraße um Kap Hoorn. Künstliche Verbindungen Um eine einfache Anbindung an den Pazifik und den indischen Ozean zu schaffen wurden Kanäle einerseits vom Amerikanischen (Panamakanal, seit 1914) und andererseits vom Europäischen Mittelmeer (Sueskanal, seit 1869) gebaut. Beide Kanäle trennen dabei kontinentale Landmassen voneinander. Anrainerstaaten Um den Atlantischen Ozean herum und an seinen Nebenmeeren liegen zahlreiche Staaten, die im Osten zur Ostfeste und im Westen zur Westfeste gezählt werden. Durch das Mittelmeer hat er auch Zugang zum asiatischen Kontinent, womit der Atlantik Anrainerstaaten auf fünf der sieben Kontinente hat; so viel wie kein anderer. Ostfeste Europa liegt abgesehen vom äußersten Norden des Kontinents ausschließlich am Atlantik und seinen Nebenmeeren. Asien wird nur über das Mittelmeer und das Schwarze Meer mit dem Atlantik verbunden. In Afrika beschränkt sich das Anrainergebiet des Atlantiks auf die direkten Küstenstaaten. Westfeste Auf der Westfeste (Amerika) reicht der Atlantik mit seinem Amerikanischen Mittelmeer weit in den Kontinent hinein. Viele der Länder von Kanada im Norden über Panama in Mittelamerika bis Chile in Südamerika haben neben ihrem Atlantikzugang im Osten auch gleichzeitig einen Zugang zum Pazifischen Ozean im Westen. Geschichte Im 15. Jahrhundert begann die Europäische Expansion mit den Entdeckungsfahrten der Portugiesen nach Afrika und der Spanier nach Amerika. Erst nach Eröffnung des Sueskanals im November 1869 wurde es möglich, durch das Mittelmeer nach Persien, Indien oder Asien zu fahren. Bis dahin mussten die Schiffe das Kap der Guten Hoffnung umrunden. Der Atlantik ist nach wie vor der meistbefahrene Ozean. Welthandel Seit 1945 hat der Welthandel stark zugenommen; im Zuge der Globalisierung hat sich die Arbeitsteilung zwischen Volkswirtschaften stark verändert. Große Teile des Welthandels erfolgen per Schiff (Handelsschiffahrt). Die durchschnittliche Größe der Handelsschiffe hat stark zugenommen; seit den 1960er Jahren hat der Container die Stückgutschiffe weitgehend entbehrlich gemacht und den Transport von Stückgut sehr viel effizienter und billiger gemacht (siehe auch Containerisierung, Containerschiff). Große Schiffe haben meist einen großen Tiefgang und brauchen Tiefwasserhäfen. Teile des Atlantiks gelten als überfischt. Strategische Bedeutung Im 19. Jahrhundert war das British Empire die unangefochtene Seemacht. Von 1914 bis 1918, im ganzen Ersten Weltkrieg, praktizierte die Royal Navy eine Seeblockade des Deutschen Kaiserreichs; die Reichsregierung antwortete mit U-Boot-Angriffen. Forschungsgeschichte Die Deutsche Atlantische Expedition erkundete den südlichen Teil des Atlantiks (und die Atmosphäre darüber) von Mitte 1925 bis Mitte 1927 mit dem Forschungsschiff Meteor. Es fuhr dreizehn Mal auf verschiedenen Breitengraden von Ost nach West und zurück und erstellte dabei per Echolot Tiefenprofile des Meeresbodens. Flugzeuge sammelten große Mengen Wetterdaten. Seit dem Aufkommen von Satelliten sind diese der Hauptlieferant von Daten für die Erforschung des Atlantiks. Meeresboden, Wasser Auf dem Boden des Atlantiks gibt es außer Tiefseebecken, Tiefseerinnen und Meerestiefs und einigen niedrigeren Schwellen als auffälligste Struktur den Mittelatlantischen Rücken. Das ist eine zerklüftete Erhebung auf einer divergierenden Plattengrenze, die den Atlantik etwa in der Mitte von Nord nach Süd durchzieht. Hier steigt beständig Lava auf, welche die zwei angrenzenden ozeanischen Platten auseinanderschiebt, dadurch den Atlantik verbreitert und die dahinter liegenden Kontinente immer weiter auseinandertreibt; der Ablauf ist durch Datierung der Gesteine auf dem Ozeanboden nachgewiesen, die je weiter entfernt vom Rücken desto älter sind. Zu den Tiefseerinnen und Meerestiefs gehört der Puerto-Rico-Graben mit dem 9219 m unter dem Meeresspiegel liegenden Milwaukeetief, der tiefsten Stelle des ganzen Atlantiks. In den Atlantischen Ozean fließen zahlreiche Flüsse: von der Ostküste der Vereinigten Staaten bzw. Kanadas aus (siehe Nordamerikanische kontinentale Wasserscheide) von Mittelamerika aus (Mexiko, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Costa Rica, Panama) von Südamerika aus (Kolumbien, Venezuela, Guayana, Suriname, Französisch-Guyana, Brasilien, Uruguay, Argentinien) von der Westküste Afrikas (Westafrika, Zentralafrika, Namibia, Westküste Südafrikas) von Europa aus (soweit sie nicht ins Mittelmeer, die Ostsee oder das Nordmeer fließen; siehe Europäische Hauptwasserscheide) Sie transportieren mit ihrem Wasser auch zahlreiche Schadstoffe und Nährstoffe in den Atlantik. Salzgehalt Der Atlantische Ozean hat im Durchschnitt einen Salzgehalt von etwa 3,54 %, während der Wert im Pazifik bei 3,45 % und im Indischen Ozean bei 3,48 % liegt. Im Randmeer Nordsee ist der Salzgehalt mit 3,2–3,5 % schon merklich niedriger. In der Nähe von Flussmündungen fällt er auf 1,5–2,5 % und erreicht in der Ostsee, die fast vollständig von Festland umgeben ist und nur geringen Wasseraustausch mit dem Atlantik hat, nur noch 0,2–2,0 %. Inseln Einige der größten Inseln der Erde liegen im Atlantischen Ozean: Die Britischen Inseln, Grönland, Irland, Island und Neufundland. Archipele sind die Azoren, die Bahamas, die Bermudas, die Falklandinseln, die brasilianische Inselgruppe Fernando de Noronha, die Großen Antillen, die zur Kamerunlinie gehörige Inselgruppe um São Tomé und Príncipe, die Kanaren, die Kleinen Antillen, die unbewohnten Sankt-Peter-und-Sankt-Pauls-Felsen, die Scilly-Inseln und der Inselstaat Kap Verde. Isolierte Inseln sind Annobón, Ascension, Bioko, Bouvetinsel, Gough-Insel, Madeira, St. Helena, Trindade und Tristan da Cunha. Regatten Auf dem Atlantik werden berühmte Regatten gesegelt: Fastnet-Rennen Ozean-Wettfahrt Bermuda-Cuxhaven 1936 Solitaire du Figaro Volvo Ocean Race DaimlerChrysler North Atlantic Challenge Kapstadt–Rio de Janeiro Literatur Holger Afflerbach: Das entfesselte Meer. Die Geschichte des Atlantik. Malik-Verlag, München 2001, ISBN 3-492-23989-7. Manfred Leier: Weltatlas der Ozeane – mit den Tiefenkarten der Weltmeere. Frederking und Thaler, München 2001, ISBN 3-89405-441-7, S. 122–153. Simon Winchester: Der Atlantik. Biographie eines Ozeans. Knaus, München 2012, ISBN 978-3-8135-0431-6 (Erstausgabe: New York, HarperCollins 2010). Weblinks Einzelnachweise Ozean !!
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https://de.wikipedia.org/wiki/Arthur%20Schopenhauer
Arthur Schopenhauer
Arthur Schopenhauer (* 22. Februar 1788 in Danzig; † 21. September 1860 in Frankfurt am Main) war ein deutscher Philosoph und Hochschullehrer. Schopenhauer entwarf eine Lehre, die gleichermaßen Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ästhetik und Ethik umfasst. Er sah sich selbst als Schüler und Vollender Immanuel Kants, dessen Philosophie er als Vorbereitung seiner eigenen Lehre auffasste. Weitere Anregungen bezog er aus der Ideenlehre Platons und aus Vorstellungen indischer Philosophien. Innerhalb der Philosophie des 19. Jahrhunderts entwickelte er eine eigene Position des subjektiven Idealismus und vertrat als einer der ersten Philosophen im deutschsprachigen Raum die Überzeugung, dass der Welt ein irrationales Prinzip zugrunde liegt. Leben und Werk Herkunft und frühe Jahre Die Vorfahren Arthur Schopenhauers stammten meist aus dem Danziger Werder zwischen Elbing und Danzig. Der Großvater Andreas Schopenhauer (1720–1793) war ein sehr vermögender Kaufmann in Danzig, dessen Frau Anna Renata Soersman Tochter eines niederländischen Kaufmanns. Der Großvater mütterlicherseits Christian Heinrich Trosiener (1730–1797) war ebenfalls Kaufmann in Danzig und Ratsherr aus dem mittleren Stand. Die Großmutter Elisabeth Lehmann war die Tochter eines Apothekers. Der Vater Heinrich Floris Schopenhauer (1747–1805) übernahm das Unternehmen und einen Teil der Güter des Großvaters. 1785 heiratete er die 18-jährige Johanna Trosiener (1766–1838). Diese Ehe war zwar standesmäßig eine gute Wahl für sie, dennoch verlief sie nicht besonders glücklich für beide. Am 22. Februar 1788 wurde Arthur in Danzig in der Heilige-Geist-Gasse 114 geboren. Seine Kindheit verbrachte er auch auf einem Hof der Familie in Oliva. 1793 zog der Vater mit der Familie nach Hamburg, als preußische Truppen infolge der zweiten polnischen Teilung die Übergabe der Stadt Danzig erzwangen. Er verließ damit seine Güter in der Stadt, denn sein republikanischer Freiheitssinn lehnte die preußische Herrschaft in der Freien Hansestadt Danzig ab. Die Familie ließ sich zunächst am Neuen Weg 76 in der Hamburger Altstadt nieder und zog 1797 in ein größeres Haus im Neuen Wandrahm 92, wo sich dann auch der Geschäftsbereich befand. Dort wurde 1797 Schopenhauers Schwester Adele Schopenhauer geboren. Ausbildung zum Kaufmann Heinrich Schopenhauer hatte für seinen Sohn Arthur den in der Familie traditionellen Kaufmannsberuf vorgesehen und ihn deshalb in die dafür vorbereitende Hamburger Erziehungsanstalt unter der Leitung von Johann Heinrich Christian Runge geschickt. Seine damaligen Schulfreunde waren der spätere Ministerresident Carl Godeffroy und der spätere Weinhändler und Senator Georg Christian Lorenz Meyer. Arthur absolvierte schnell das in der Handelsschule Erlernbare und bat den Vater eindringlich, ein Gymnasium besuchen zu dürfen. Der Vater hielt dies jedoch für überflüssig und bot ihm stattdessen eine gemeinsame, längere Bildungsreise durch Europa an. Arthur willigte ein und bereiste, nachdem er mehrere Wochen zum Erlernen der englischen Sprache in Wimbledon verbracht hatte, von 1803 bis 1804 Holland, England, Frankreich, die Schweiz, Österreich, Schlesien und Preußen. Von September bis Dezember 1804 begann Schopenhauer auf Wunsch des Vaters eine Kaufmannslehre im Danziger Handelshaus von Jacob Kabrun, mit dem der Vater befreundet war. Dorthin begleitete ihn seine Mutter. 1805 kehrten sie nach Hamburg zurück und er setzte seine Kaufmannslehre im Unternehmen Jenisch fort. Am 20. April des Jahres wurde der Vater tot im Fleet hinter seinem Haus gefunden. Er litt unter Depressionen und war wahrscheinlich vom Dachspeicher gestürzt, vermutet wurde ein Suizid. Nach Auflösung des väterlichen Geschäfts und dem Verkauf des Wandrahms 92 wohnte die Familie vorübergehend von 1805 bis 1806 in einer Wohnung in den Kohlhöfen 29 nahe dem Großneumarkt. 1806 zog seine Mutter mit seiner jüngeren Schwester, der späteren Schriftstellerin Adele Schopenhauer, nach Weimar. Johanna Schopenhauer zählte zu den frühen Romanschriftstellerinnen und verfasst beispielsweise auch eine kunsthistorische Abhandlung zur Ölmalerei van Eycks. In Weimar sollte sie einen vielbeachteten Salon führen, in dem auch Goethe verkehrte. Arthur blieb allein in Hamburg zurück und war nun frei zu entscheiden, ob er pflichtgemäß seine Kaufmannslehre fortsetzen oder seiner Neigung zu einem geistigen Beruf nachgehen wolle. Hinwendung zur Philosophie Schopenhauer brach seine Lehre ab und wurde im Juni 1807 auf Ratschlag Carl Ludwig Fernows Schüler des Gymnasialdirektors Doering am Gymnasium Illustre in Gotha. Noch im selben Jahr übersiedelte er, wie zuvor seine Mutter und seine Schwester, nach Weimar, wo sein wichtigster Lehrer Franz Passow wurde. Der junge Schopenhauer pflegte Umgang mit dem Schriftsteller Johannes Daniel Falk und dem Dichter und Priester Zacharias Werner. Ein Jugendfreund war der spätere klassische Philologe Friedrich Gotthilf Osann (1794–1858). Im Jahre 1809 verliebte Schopenhauer sich unglücklich in die elf Jahre ältere 32-jährige Schauspielerin und Opernsängerin Karoline Jagemann, seinerzeit die Geliebte des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Für sie schrieb er sein einziges überliefertes Liebesgedicht. Volljährig geworden bekam Schopenhauer seinen Anteil am väterlichen Erbe ausgezahlt. Durch diesen ansehnlichen Geldbetrag wurde er vermögend und frei von finanziellen Sorgen. 1809 begann er an der Universität Göttingen ein Studium der Medizin, das er jedoch bald zugunsten der Philosophie aufgab. Den Doktortitel der Philosophie an der Universität Jena erhielt Schopenhauer am 2. Oktober 1813 (magna cum laude) für seine Schrift Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, welche er während seines Aufenthaltes im Gasthof „Zum Ritter“ in der Residenzstadt Rudolstadt im Sommer desselben Jahres vollendet hatte. Dem Prüfungsgremium saß der Dekan Heinrich Karl Eichstädt vor. Zu den ersten Lesern seines Werks gehörte der Dichter und Naturforscher Johann Wolfgang von Goethe. Goethe war bereits vorher über seinen Kontakt zur Mutter Schopenhauers, die in Weimar einen literarischen Salon unterhielt, auf ihn aufmerksam geworden. Häufigere Begegnungen mit Goethe folgten, der in dieser Zeit seine Farbenlehre ausformulierte. Diese, der newtonschen Lehre widersprechende Theorie fand in Schopenhauer einen ihrer wenigen Unterstützer. Als Schopenhauer begann, mit größerem Selbstbewusstsein eigene, abweichende Thesen zu vertreten, löste sich das enge Verhältnis allmählich. Gleichwohl hatte Schopenhauer zeitlebens große Bewunderung für Goethe. Durch Friedrich Majer wurde Schopenhauer mit der altindischen Philosophie des Brahmanismus bekannt gemacht. 1814 überwarf er sich mit seiner Mutter und ging nach Dresden, wo er in Literatenkreisen verkehrte und Studien in den reichen Sammlungen und Bibliotheken der Stadt trieb. 1815 veröffentlichte Schopenhauer eine eigene Farbenlehre mit dem Titel Ueber das Sehn und die Farben. Diese entstand in Korrespondenz mit Goethe und erschien 1816 im Druck. Auseinandersetzung mit dem Verleger Anschließend entwarf Schopenhauer sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, das Anfang 1819 bei F. A. Brockhaus erschien und später noch erheblich erweitert werden sollte. Der Philosoph war schon zu diesem Zeitpunkt von der geistesgeschichtlichen Bedeutung seiner Arbeit überzeugt, obwohl sie zunächst rein wirtschaftlich kein Erfolg wurde. Die erste Auflage war erst nach dreißig Jahren vergriffen. Der Briefwechsel zwischen Schopenhauer und seinem Verleger ist ein aufschlussreiches Zeitdokument. Modern war an Schopenhauer seine Auffassung von der Philosophie als einer speziellen Art von Schriftstellerei. Sein langer Kampf gegen Setzfehler passte zu seiner väterlichen Prägung vom penibel kalkulierenden Kaufmann und zu dem Bewusstsein, eine bedeutende Schrift verfasst zu haben. Diese Penibilität und eine gewisse Rechthaberei äußerten sich u. a. darin, dass er in einem Anhang zu seinem Hauptwerk, in welchem er die Kant’sche Philosophie kritisierte, sehr detailliert alle Auflagen der Kant’schen Werke nach begrifflichen Abweichungen untersuchte. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass nach seiner Auffassung die erste Auflage, nicht aber die späteren, mit seiner eigenen Philosophie verträglich sei. Schopenhauer verstand sich aber auch als Bewahrer der deutschen Sprache und verbot nicht nur zur Bewahrung der Schärfe philosophischer Formulierungen, sondern auch aus sprachlichen Gründen, sämtliche Änderungen seines Manuskripts, vor allem Anpassungen an den zeitgenössischen Sprachgebrauch. Dadurch verzögerte sich die Herausgabe, so dass es nicht pünktlich zur Leipziger Buchmesse im September 1818 erscheinen konnte. War er anfangs noch ganz geschmeidig und höflich („… Euer Wohlgeboren …“) mit Friedrich Arnold Brockhaus umgegangen, änderte sich dies schnell, nachdem der Kontrakt unterzeichnet war und erste Abweichungen auftauchten. Er sah sich als herausragenden, aber schlecht bezahlten Autor und beklagte sich: In einem anderen Brief an Brockhaus schreibt Schopenhauer: Brockhaus’ Erwiderung fiel scharf aus. Er sprach Schopenhauer ab, ein Ehrenmann zu sein, und weigerte sich, „etwaige Briefe“ seines Autors anzunehmen, Am gleichen Tag schrieb Brockhaus: Reisen und Berliner Jahre Im September 1818 trat der Privatgelehrte eine Reise nach Italien an, die ihn über Venedig, Rom, Neapel und Paestum nach Mailand führte. Dort erreichte ihn im Juni 1819 die Nachricht vom Zusammenbruch des Danziger Handelshauses A. L. Muhl & Co., bei dem er einen Teil seines Vermögens deponiert hatte. Er brach die Reise ab, um die Angelegenheit an Ort und Stelle zu regeln, wobei es erneut zu Spannungen zwischen ihm und seiner Mutter kam. Außerdem kamen finanzielle Belastungen aus der Marqet-Affäre hinzu. Caroline Louise Marqet, eine 47-jährige Näherin, hatte Schopenhauer durch ihr lautes Gespräch mit zwei anderen Frauen im Vorzimmer seiner Wohnung derartig in Rage gebracht, dass er sie schließlich handgreiflich hinauswarf, wobei sie stürzte. Die derart Behandelte klagte daraufhin gegen Schopenhauer, weil sie von seiner rohen Behandlung ein andauerndes Zittern des Armes zurückbehalten habe. Sie bekam nach einem fünfjährigen Prozess durch alle Instanzen schließlich vor dem Kammergericht Recht und ihr wurde eine Vierteljahresrente von 15 Talern zugesprochen, bis das Zittern wieder verschwunden sei. Zum Urteilsspruch bemerkte Schopenhauer sarkastisch, dass „sie wohl so klug sein wird, das Zittern des Arms nicht einzustellen“. Er musste die Rente bis zu Marquets Tod 20 Jahre später zahlen, den er mit dem Satz kommentierte: „Obit anus, abit onus“ (Die Alte stirbt, die Last vergeht). Seine finanziell prekäre Situation veranlasste ihn, sich um eine Dozentur an der Universität Berlin zu bewerben. 1820 begann Schopenhauer die Lehrtätigkeit an der noch jungen Berliner Universität. Dabei kam es zu dem berühmten Streit mit Hegel. Schopenhauer setzte seine Vorlesungen zeitgleich mit denen Hegels an, hatte aber nur wenige Zuhörer, da die Studenten Hegels Vorlesung bevorzugten. Bald begann er, die Universitätsphilosophie zu verachten. Als das Handelshaus Muhl 1821 seine Forderungen beglich, verließ er die Universität und setzte seine Italienreise fort. Ab 1821 unterhielt er mehrere Jahre lang ein Verhältnis mit der damals 19-jährigen Opernsängerin Caroline Medon. Er misstraute jedoch ihrem Gesundheitszustand und ihren möglichen Absichten, so dass es nie zu einer Heirat kam. Nach längeren, zum Teil krankheitsbedingten Aufenthalten in München, Bad Gastein und Dresden kehrte er erst im April 1825 nach Berlin zurück und unternahm einen erneuten Versuch, eine universitäre Laufbahn einzuschlagen. Trotz einer rühmenden Besprechung der Welt als Wille und Vorstellung durch Jean Paul fanden seine Ideen noch keine Resonanz. Während seiner Aufenthalte in Berlin von 1820 bis 1831 wohnte Schopenhauer nacheinander in der heutigen Dorotheenstraße 83 (damals Nr. 34), in der Kronenstraße 55, Niederlagstraße 4, in der Leipziger Straße 78, in der Dorotheenstraße 90 (damals Nr. 30) und zuletzt in der Behrenstraße 70 und 17 in Berlin-Mitte. Bei Ausbruch einer Choleraepidemie in Berlin floh Schopenhauer 1831 – anders als Hegel, der ihr vermutlich zum Opfer fiel  – nach Frankfurt am Main, wo er den Winter verbrachte. Die immer noch mit ihm liierte Medon ging nicht mit ihm aus Berlin fort, da er verlangte, dass sie ihren außerehelichen, damals im neunten Lebensjahr stehenden Sohn Carl Ludwig Gustav Medon (1823–1905) zurücklassen solle; dies führte zum Bruch. Im Alter von 43 Jahren interessierte er sich nochmals für ein junges Mädchen, nämlich die 17-jährige Flora Weiss, die den wesentlich älteren Verehrer jedoch abwies. Nach einem Aufenthalt in Mannheim vom Juli 1832 bis Juni 1833 ließ er sich am 6. Juli 1833 endgültig in Frankfurt nieder. Frankfurter Jahre Nach langem Schweigen meldete sich Schopenhauer 1836 mit seinem Werk Ueber den Willen in der Natur wieder zu Wort. 1837 griff er in die Gestaltung der Gesamtausgabe der Schriften Immanuel Kants ein, indem er erfolgreich für die Aufnahme der ersten Fassung der Kritik der reinen Vernunft anstatt der zweiten Fassung plädierte. 1838 starb Schopenhauers Mutter. Im folgenden Jahr krönte die Königlich Norwegische Societät der Wissenschaften seine Preisschrift Ueber die Freiheit des menschlichen Willens. 1841 erschien sie zusammen mit einer anderen, nicht gekrönten Preisschrift, Ueber das Fundament der Moral, unter dem zusammenfassenden Titel Die beiden Grundprobleme der Ethik. Als bedeutendster einer Reihe von „Aposteln und Evangelisten“ Schopenhauers war 1840 Julius Frauenstädt aufgetreten, weshalb Schopenhauer ihn „Erzevangelist“ nannte. Zuvor hatte schon Friedrich Dorguth (von Schopenhauer daher „Urevangelist“ genannt) auf Schopenhauer aufmerksam gemacht. 1843 nannte er in seiner Schrift Die falsche Wurzel des Idealrealismus den immer noch wenig bekannten Schopenhauer einen Denker von weltgeschichtlicher Bedeutung. Mit 55 Jahren bezog der Philosoph, der bis dahin meist zur Untermiete gewohnt hatte, am Mainufer, an der Schönen Aussicht 17, eine eigene Wohnung, die er 16 Jahre lang behielt. Als das Schopenhauerhaus aber ist die Nachbaradresse in die Geschichte eingegangen, das riesige Palais Schöne Aussicht 16, sein Sterbehaus. 1843 hatte Schopenhauer den zweiten Band seines Hauptwerkes vollendet und wandte sich erneut an den Verlag, der inzwischen von Heinrich Brockhaus geleitet wurde, mit der Bitte um Veröffentlichung. Nach einem Briefwechsel, der von gegenseitigem Respekt zeugt, erschien 1844 die ergänzte und überarbeitete 2. Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung. 1851 kamen die Parerga und Paralipomena (2 Bände) mit den Aphorismen zur Lebensweisheit heraus. Richard Wagner ließ dem von ihm verehrten Schopenhauer seine Dichtung Der Ring des Nibelungen überreichen. Julius Frauenstädts Brief über die Schopenhauer’sche Philosophie erschien. Eine Serie von Schopenhauer-Porträts von Jules Lunteschütz, Julius Hamel und anderen Künstlern entstand. Im Mai 1857 besuchte Friedrich Hebbel Schopenhauer. Im Sommer des Jahres 1859 rettete der häufig als Misanthrop bezeichnete Schopenhauer – er nannte seinen Hund immer dann „Mensch“, wenn er sich über ihn ärgerte – den neunjährigen Julius Frank vor dem Ertrinken. Die ihm erst spät angetragene Mitgliedschaft in der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin lehnte Schopenhauer ab. Am 9. September 1860 erkrankte er an einer Lungenentzündung. Nach bereits monatelangen „Atmungsbeschwerden mit starkem Herzklopfen im Gehen“ starb Schopenhauer daran schließlich am 21. September 1860 im Alter von 72 Jahren in der Schönen Aussicht 16 in Frankfurt am Main. Am 26. September wurde er auf dem Frankfurter Hauptfriedhof beigesetzt. Erst nach seinem Tod wurde 1864 seine Schrift Eristische Dialektik (Technik des Diskutierens) veröffentlicht. Schopenhauer formuliert darin 38 rhetorische Kunstgriffe, die es ermöglichen sollen, aus Streitgesprächen als Sieger hervorzugehen, sogar wenn Tatsachen gegen die eingenommene Position sprächen. Die polemisch gegen den Diskussionsstil seiner Zeitgenossen gerichteten Kunstgriffe liefern Beispiele für rabulistische Argumentation und bieten Hinweise auf die durch sie verursachten Fehlschlüsse. Philosophie Unter dem Einfluss Platons und Kants vertrat Schopenhauer in seiner Erkenntnistheorie die Position des Idealismus, beschritt jedoch innerhalb dieser Grundauffassung einen eigenen, subjektivistischen Weg („subjektiver Idealismus“). Was Schopenhauer von den Solipsisten trennt, ist sein Beharren auf einem alles verbindenden und bedingenden Etwas. Dieses ist für Schopenhauer der blinde, zum Dasein drängende Wille, Sanskrit: Tat twam asi („Das bist du“ / „Dieses Lebende bist du“). Schopenhauer lehnte die Philosophie Hegels ab, die er selbst abwertend als „Hegelei“ und als „Scharlatanerei“ bezeichnete. Er verfasste drastische Polemiken gegen Hegel, Schelling, Fichte und den zunächst verehrten Schleiermacher. Welt als Vorstellung Ähnlich wie George Berkeley vertritt Schopenhauer die Auffassung, dass sich die Frage nach einer von ihrer Wahrnehmung unabhängig gegebenen Außenwelt nicht stelle. Er argumentiert bezüglich der Existenz einer Außenwelt sowohl gegen den Dogmatismus, der seiner Darstellung nach in Realismus und Idealismus zerfalle, als auch gegen skeptizistische Argumente, da sich die Welt dem Subjekt gegenüber ohnehin nur als Vorstellung zeige – die jedoch nicht als Imagination zu verstehen sei – und die Wahrnehmung unseren einzigen Zugang zur objektiven Welt darstelle. Gegen den philosophischen Skeptizismus bringt er vor, jener bedürfe eher einer „Therapie“ oder „Kur“ als einer ernsthaften Diskussion. Nach Schopenhauers Konzeption ist uns als Subjekt die objektive Welt immer nur im Modus der Vorstellung gegeben, d. h., dass Objekte nur als eine Seite der vorstellenden Relation von Subjekt und Objekt ihre Existenz besitzen. Trotzdem kommt bei Schopenhauer der Welt eine Wirklichkeit zu, die über die reiner, imaginativer Vorstellung hinausgeht. Demnach wäre es falsch, die Welt lediglich als Imagination des menschlichen Bewusstseins zu verstehen. Wesentlich in der Terminologie Schopenhauers ist vielmehr die Unterscheidung zwischen der in Subjekt und Objekt zerfallenden Vorstellung einerseits und bloßer Imagination oder Fantasie, die damit nicht in Verbindung stehen, andererseits. Schopenhauer widersprach der Überzeugung Kants, dass das Ding an sich jenseits aller Erfahrung liege und deshalb nicht erkannt werden könne. Kants Ding an sich war für ihn zwar auch unerkennbar (wir sehen immer nur das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen), jedoch nicht unerfahrbar. Durch eine Selbstbeobachtung unserer Person können wir uns dessen gewiss werden, was wir letzten Endes sind: Wir erfahren in uns den Willen. Er ist das Ding an sich und damit nicht nur die Triebfeder allen Handelns von Mensch und Tier, sondern auch die metaphysische Erklärung der Naturgesetze. Die Welt ist letztlich blinder, vernunftloser Wille (vgl. Triebtheorie). Schopenhauer ist somit der klassische Philosoph und Hauptvertreter des metaphysischen Voluntarismus. Doch die Welt ist nicht nur Wille, sondern erscheint auch als Vorstellung. Sie ist die durch Raum und Zeit sowie Kausalität, die den a priori gegebenen Erkenntnismodus von uns Verstandeswesen bilden, individuierte und verknüpfte Erscheinung des einen Willens. „Die Welt ist meine Vorstellung“ ist der erste Hauptsatz seiner Philosophie. Was uns als Welt erscheint, ist nur für uns, nicht an sich. Es gibt für Schopenhauer nichts Beobachtetes ohne Beobachter, kein Objekt ohne ein Subjekt. Die Welt, als Vorstellung betrachtet, zerfällt in Subjekte und Objekte, die sowohl untrennbar als auch radikal voneinander verschieden, jedoch letzten Endes beide nur Erscheinungen des Willens sind. Dieser ist nach Schopenhauer das Wesen der Welt, das sich, in Subjekt und Objekt erscheinend, gleichsam selbst betrachtet. Welt als Wille Der Vorstellungswelt liegt der Wille zugrunde, den Schopenhauer als grundlosen Drang versteht. Er stuft den Willen nach den Gegebenheiten seines Wirkens ab, spricht von Ursachen, wenn die Wirkung ihnen gemäß ist, wie beim elastischen Stoß, von Reizen, wenn die Wirkung ein Energiepotential entlädt, und von Motiven, wenn die Wirkung als Umsetzung bestimmter Absichten berechnet wurde. In diesen Formen also bestimmt der Wille alle Vorgänge der organischen und anorganischen Natur. Er objektiviert sich in der Erscheinungswelt als Wille zum Leben und zur Fortpflanzung. Diese Lehre vom „Primat des Willens“ bildet die zentrale Idee der Schopenhauerschen Philosophie, sie hatte weitreichenden Einfluss und begründet die Aktualität von Schopenhauers Werk. Willensfreiheit kennt Schopenhauer, der sich wiederholt, mit unterschiedlichem Resultat, mit Augustinus auseinandersetzte, nur gemäß seiner berühmt gewordenen These: „Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.“ Jeglichem Handeln liegt immer und stets der Wille, das heißt das Wollen zu Grunde. In der streng kausal geordneten empirischen Welt, der Welt der Vorstellung, ist kein Platz für einen, ohne rein-empirische Ursache handelnden Menschen und zwar nicht nur in dem Sinne, dass dies unserer Denkweise widerspräche, sondern in dem tieferen Sinne, dass der Wille sich in allen seinen Teilen gemäß dem Gesetz der Kausalität manifestiert. Im Gegensatz zu Berkeley sieht Schopenhauer in der Kausalität kein bloßes gedankliches Konzept, sondern den Willen selbst, welchen zu deuten das Werk des Verstandes sei. Frei ist der Wille nur insofern, als ihm nichts vorschreibt zu sein, was er ist (d. h., dass die Naturgesetze zwar alles bestimmen, was passiert, selbst aber durch kein Gesetz so sind, wie sie sind). Diese Freiheit hat der so verstandene Wille demnach nur vor seiner Manifestation, welche selbst nichts weiter als sein wirksam gewordener Ausdruck ist. Im Falle des Menschen ist dessen wirkendes Wollen durch seinen „Charakter“ – als angeboren und unveränderlich gedacht – bestimmt, welcher willkürlich ist, also aus keinem tieferen Grund existiert. Nur diesem Charakter gemäß kann man wollen. Dennoch spricht Schopenhauer von einer intelligiblen Willensfreiheit: wenn das Subjekt den zugrunde liegenden Willen erkennt, kann es ihn in bestimmten Momenten der Kontemplation, beispielsweise durch Kunstgenuss, verneinen. Diese, beispielsweise im Zustand der ästhetischen Kontemplation erreichte Ansicht der Dinge ist nach Schopenhauers Lehre eine Ansicht der Dinge jenseits der vierfachen Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (Sein, Raum, Kausalität, Zeit) und somit frei von den mit diesen einhergehenden Kausalbeziehungen. Verstand und Vernunft Schopenhauer unterscheidet zwei intellektuelle Vermögen, den Verstand und die Vernunft. Der Verstand äußert sich in unmittelbaren Urteilen über das Angeschaute, beispielsweise zu erkennen, wie stark oder schnell jemand ist, welche Ursache ein Geräusch hat oder in welchem Winkel und mit welcher Kraft ein Speer geworfen werden muss, um sein Ziel zu treffen. Die Vernunft hingegen ist die Fähigkeit, begrifflich zu denken, also Anschauungen unter Begriffe zusammenzufassen, sich Begriffe vorzustellen, den Inhalt von Begriffen miteinander zu vergleichen usw. Diese Lehre vom Denken (Dianoiologie) unterscheidet Schopenhauer von der Lehre vom Sein (Ontologie). Während der Verstand allen Tieren gemein ist, ist die Vernunft das herausragende Merkmal des Menschen. Das menschliche Vernunftvermögen beschrieb Schopenhauer allerdings deutlich skeptischer als etwa Kant oder die reinen Idealisten. Pessimismus und Erlösung Schopenhauer begründete ein System des empirischen und metaphysischen Pessimismus. Der blinde, vernunftlose Weltwille ist für ihn die absolute Urkraft und somit das Wesen der Welt. Die Vernunft ist nur Dienerin dieses irrationalen Weltwillens. Die Welt – als Erzeugnis dieses grundlosen Willens – ist durch und durch schlecht, etwas, das nicht sein sollte, eine Schuld. Eine schlechtere Welt kann es überhaupt nicht geben. Die Welt ist ein „Jammertal“, voller Leiden. Alles Glück ist Illusion, alle Lust nur negativ definiert als Fehlen von Leid. Der rastlos strebende Wille wird durch nichts endgültig befriedigt. Die Basis allen Wollens ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz. Das Leben „schwingt also, gleich einem Pendel, hin und her zwischen dem Schmerz und der Langeweile“. Schon seiner Anlage nach ist das Menschenleben keiner wahren Glückseligkeit fähig. Jede Lebensgeschichte ist eine Leidensgeschichte, eine fortgesetzte Reihe großer und kleiner Unfälle. Mächtigster Ausdruck des Willens ist der nicht dauerhaft zu befriedigende Geschlechtstrieb. Im „Jammertal“ des Diesseits hält Schopenhauer den Tod für besser als das Leben. Es ist jedoch ein weit verbreiteter Irrtum, daraus eine Aufforderung zur Selbsttötung abzuleiten. Der Suizid stellt keine Lösung dar, weil der metaphysische Wille umgehend eine neue Form findet und so das Lebensrad aufs Neue in Gang bringt. Der Mensch ist jedoch als höchstes irdisches Wesen in der Lage, den Willen für sich zu negieren. Auch die Kunst (als die Produktion von Kunst oder die Perzeption von Kunst) und die Moral tragen dazu bei, das leidvolle Dasein zu überwinden und den (vom Willen befreiten) Zustand des Nirwanas zu erreichen – durch die Kunst punktuell, durch die Einstellung als Verneinung des Willens und Askese dauerhaft. Ästhetik Die Kunst wirkt als zeitweiliges „Quietiv des Willens“. Diese Ästhetik erreicht in der Weltverneinung ihren Höhepunkt. Dem Menschen – als höchster Form des sich in der Erscheinungswelt objektivierenden Willens – ist die Möglichkeit gegeben, den Willen und das Leiden aufzuheben und so in einen Zustand des „Nichtseins“ (eine Art Nirwana) zu gelangen. Das „wahre Kunstwerk“ hilft ihm dabei, indem es das „innere Wesen“ einer Sache, seine Idee, bewusst macht und dem Betrachter auf diese Weise zu einer objektiven Sichtweise verhilft, die ihn aus seiner Subjektivität, seinem „Wollen“, emporhebt. Unter der Gewahrung einer Idee versteht Schopenhauer dabei die Antizipation eines Anschaulichen, seine Ahnung, welche durch das Kunstwerk gereizt wird. Die Musik nimmt eine besondere Stellung ein, da sie nach Schopenhauer ein objektives Abbild allen Wollens dieser Welt zu geben vermag, wobei der Tonlage die Schlüsselrolle für die Unterscheidung der unterschiedlichen Willensformen zukommt – je tiefer, desto näher an den Gesetzen der Materie, je höher, desto näher an den Beweggründen des Menschen: Ethik Moralphilosophisch formuliert Schopenhauer im Unterschied zu Kant eine Mitleidsethik. Der einzige Grund, uneigennützig zu handeln, ist die Erkenntnis des Eigenen im Anderen – das ist Mitleid (wobei der Begriff anders als der heutige Sprachgebrauch ein Mitempfinden bedeutet). Schopenhauer verhandelt die Mitleidsethik im vierten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung und vor allem – konkretisierend – in der Preisschrift Ueber die Grundlage der Moral (oder auch Ueber das Fundament der Moral). Im ersten geht es ihm vor allem um die metaphysische Begründung, im letzten um die empirische Nachweisbarkeit (als Gegenprogramm zu Kant) der Mitleidsethik. Jeder Mensch gilt bei Schopenhauer als Objektivation des Willens. Der einzelne Mensch ist als Subjekt eine Individuation des Willens. Da der Wille bei Schopenhauer als allmächtig gilt, aus ihm alles hervorgeht, hält nun jedes Individuum sich als Individuation des Willens für den Angelpunkt nicht seiner, sondern der Welt überhaupt. Diese Sichtweise resultiert aus der falschen Identifikation der Vorstellungen als Tatsachen, wobei der Nicht-Künstler dabei nicht das „Ding an sich“ (den Willen) hinter den Vorstellungen erkennt und deshalb seine individuellen Vorstellungen als „Dinge an sich“ identifiziert. Im Gegenüber, im anderen Menschen, erkennt nun der Mensch (der individuierte Willen) denselben Willen. Der durch den Willen zur absoluten Bejahung des individuierten Willens strebende Mensch (Egoismus) erkennt nun in seinem Gegenüber, dass nur die absolute Verneinung des Willens des Gegenübers einer absoluten Bejahung des eigenen Willens entspricht. So bemerkt der vom blinden Willen getriebene Mensch, dass in allen anderen Lebewesen derselbe blinde Wille haust und sie ebenso leiden lässt wie ihn. Durch das Mitleid wird der Egoismus überwunden, der Mensch identifiziert sich mit dem Anderen durch die Einsicht in das Leiden der Welt. Nur dadurch kann der Wille, die treibende Kraft nach Schopenhauer, sich selbst am Leben erhalten. Hieraus folgt ein im Vergleich zu Kant radikal anderer „Imperativ“: Schopenhauer gilt als Begründer der Tierethik. Seine Ethik schließt den Schutz der Tiere ein: Da er die Welt als Manifestation eines metaphysischen Willens betrachtet, der Mensch und Tier verbinde, wisse er kein schöneres Gebet als das: „Mögen alle lebenden Wesen von Schmerzen frei bleiben.“ Dementsprechend mahnt er Respekt vor der Einzigartigkeit des Lebens an. Politische Ansichten Im Zusammenhang mit der Revolution 1848 äußerte sich Schopenhauer zur Rolle des Staates: In der Natur herrsche Gewalt, auch zwischen den Menschen, was die „Masse“ in Vorteil bringe; aber da das Volk ein „ewig unmündiger Souverain“ sei, „unwissend, dumm und unrechtlich“, so müsse dessen „physische Gewalt der Intelligenz, der geistigen Überlegenheit“ unterworfen werden. Zweck des Staates sei es, dass „möglichst wenig Unrecht im Gemeinwesen“ herrsche, zugunsten des Gemeinwohls dürfe der Staat auch Unrechtes tun. Schopenhauer bevorzugte einen aufgeklärten monarchischen Absolutismus, weil sich nur so die Menschen zügeln und regieren ließen. Er sprach von einem „monarchischen Instinkt im Menschen“. Republiken hingegen seien Schopenhauers Persönlichkeit Arthur Schopenhauer war ein Einzelgänger. In Frankfurt war der Gelehrte nach Einschätzung von Chronisten ein „verkannter Niemand“. Er hielt sich zeitlebens einen Pudel, den er häufig mit „Atman“ ansprach, dem Sanskrit-Wort für Lebenshauch, Atem, in der Tradition der Upanishaden die Essenz des Selbst bzw. die Einzelseele als Teil des Brahman, der „Weltseele“. Wenn ein Hund starb, was etwa alle zehn Jahre vorkam, erwarb er jeweils einen ähnlich aussehenden Pudel. Schopenhauer war der philosophischen Auffassung, dass jeder Hund gleichzeitig jeden anderen Hund enthalte. „Des Pudels Kern“ (Goethe) ging also nie verloren. Für Menschen galt ihm sinngemäß das Gleiche. Wie er gestikulierend im Selbstgespräch mit seinem Pudel am Mainufer spazierte, hat unter anderem der Lokaldichter Friedrich Stoltze bespöttelt. Schopenhauers Tagesablauf war strukturiert: morgens die Arbeit am Schreibtisch, Flötespielen regelmäßig vor dem Mittagessen. Die Mahlzeiten soll Schopenhauer nach der Überlieferung seiner Biographen stets in Gasthäusern eingenommen haben, bevor er einen zweistündigen Spaziergang mit seinem Pudel machte. Über „die Frauen“ äußerte Schopenhauer sich häufig negativ: Schopenhauer zufolge äußert sich in dem über eine sexuelle Leidenschaft hinausgehenden Gefühl von Liebe zwischen Mann und Frau lediglich der innere und damit tatsächliche Wille des Lebens im Individuum: Das Heiraten verwarf er stets – wohl auch gegründet in verunsichernden Erfahrungen in seinem Elternhaus: Über den jüdischen Glauben äußerte sich Schopenhauer eher abschätzig, z. B. bezeichnete er ihn (in Die Welt als Wille und Vorstellung und Parerga und Paralipomena) als „roh“ und „barbarisch“. Er hielt ihn angesichts seiner eigenen pessimistischen Weltsicht für zu optimistisch und machte ihm eine angebliche Unempfindsamkeit gegenüber Tieren zum Vorwurf. Unabhängig davon hatte er im Alltag Kontakte zu einigen Juden. Generell unterstellt Schopenhauer den Gelehrten in der Zeit zwischen der Blüte des Hellenismus und dem Beginn seines eigenen Philosophierens, sich bei der Suche nach der Wahrheit auf Irrwege begeben zu haben und das so genannte „Ding an sich“ an einem falschen Ort – zum Beispiel im Transzendentalen – gesucht zu haben, und er selbst als Philosoph müsse nun gegen die seinerzeit hoch geachteten, aber im Lichte des Systems von Wille und Vorstellung als falsch entlarvten „Wahrheiten“ ankämpfen. Etabliert wurden diese „Fehlschlüsse“ zu einem erheblichen Teil von jüdischen Gelehrten der nach-hellenistischen Zeit. Da nach Rüdiger Safranski der Mensch Schopenhauer sehr wohl darunter litt, dass seine Wirkung sowohl im Berufs- wie im Privatleben ins Leere stieß, habe er seine fast lebenslange Außenseiterrolle durch Aspekte und gelegentliche Erweiterung seiner Philosophie zu belegen gewusst. Sein Ziel war es, in sich aufkommende gesellschaftsbezogene Wünsche mit Recht verneinen zu können. Andersdenkende Menschen habe er nicht zuletzt aus dem Wunsch nach Selbstschutz abgewertet und vor den Kopf gestoßen. Wirkung und Rezeption Kaum ein deutscher Philosoph der Neuzeit hat sowohl breite Leserschichten als auch zahlreiche Berühmtheiten aus Kunst und Wissenschaft so unmittelbar erreicht wie Schopenhauer. Zu den Verehrern des Literaten und Philosophen Schopenhauer zählten u. a. Richard Wagner, Wilhelm Raabe, Wilhelm Busch, Thomas Hardy, Theodor Fontane, Friedrich Nietzsche, Henri Bergson, Max Klinger, Thomas Mann, Bruno Frank, Hermann Hesse, Albert Einstein, Kurt Tucholsky, Samuel Beckett, Hans Pfitzner, Thomas Bernhard, Stanisław Lem, Arno Schmidt, Leopardi, Theodor Lipps, Johannes Volkelt, August Macke, der späte Friedrich Theodor Vischer, der frühe Wölfflin, Ludwig Wittgenstein, der späte Horkheimer, Jorge Luis Borges und Michel Houellebecq. Leo Tolstoi brachte Ende August 1869 einen regelrechten Schopenhauer-Panegyrikus zu Papier: Schopenhauers Einfluss auf die moderne deutsche Literatur ist kaum zu überschätzen. Das erweist sich nicht nur an den zahlreichen Anhängern unter den Literaten, sondern auch an seinem Beitrag zur Genieästhetik, besonders zur Kategorie des Dämonischen als Movens der Kunst, der Musikphilosophie mit einer Neubewertung der Musik im System der Künste sowie seiner Bestimmung der Ironie. Im Gegensatz zu Nietzsche beeinflusste seine Prosa kaum nachfolgende Dichter in ihrem Stil, obgleich er neben ihm zu den größten Stilisten deutscher Gelehrtenprosa zählen kann. Insbesondere wegen seiner besonderen Beziehung zur Ästhetik und Kunsttheorie beriefen sich viele Künstler und Schriftsteller auf die Lehre Schopenhauers. Philosophie und Religion Der Philosoph Eduard von Hartmann kritisierte Schopenhauers Lehre schon sehr früh in seiner Philosophie des Unbewussten (1869) und sah die darin geforderte „Verneinung der Welt“ als „feige persönliche Entsagung“. Friedrich Nietzsche stellte seine dritte Unzeitgemäße Betrachtung (1874) unter den Titel Schopenhauer als Erzieher: Später freilich verwarf Nietzsche Schopenhauers Philosophie und setzte dessen Pessimismus einen radikal-optimistischen Vitalismus entgegen. Dabei bleibt Schopenhauer offensichtlich eine Referenz. Goethe schrieb 1814 in Schopenhauers Stammbuch: „Willst du dich des Lebens freuen, so mußt der Welt du Wert verleihen.“ Ferdinand Tönnies’ Willenstheorie als Axiomatik der Soziologie in Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) weist starke Einflüsse Schopenhauers auf. Max Scheler bezeichnete Schopenhauer im Jahr 1906 als Auslöser der Lebensphilosophie: „[Er ist] Vorgänger des Pragmatismus – nicht als Philosophie, sondern als Methodologie der Wissenschaft. […] insofern er den Intellekt als eine bloße Waffe des blinden Lebenswillens im Kampf ums Dasein ansieht […], ist er der Vorgänger Bergsons.“ Hermann Graf Keyserling spottete über das Artistentum Schopenhauers, dem es innerlich wie äußerlich stets um bloße Darstellung gegangen sei. Der Theosoph Johannes Maria Verweyen lehnte wiederum die negative Grundhaltung Schopenhauers ab: „[…] eine Vorherrschaft der Unlust und des Lebensschmerzes, denen gegenüber dann Lust und Glücksgefühl nicht so richtig aufzukommen vermögen“. Ludwig Wittgenstein weist einen deutlichen Einfluss Schopenhauers auf, da . Und: Max Horkheimers spätes Denken war stark von Schopenhauers Pessimismus beeinflusst: „Daß alles Leben der Macht gehorcht und aus dem Zauberkreis des Egoismus gerade noch die Hingabe an die Sache, die Identifikation mit dem, was nicht ich bin, herauszuführen und ins Nichts hineinzuführen scheint – und das ist ein Mythos –, hat Schopenhauer gesehen und war der Welt böse dafür.“ Arnold Gehlen ordnete Schopenhauers Mitleidsethik als „Teilwahrheit“ in den Rahmen seiner Konzeption einer „pluralistischen Ethik“ ein und wies in diesem Zusammenhang kritisch auf die isolierte Lebenssituation des Philosophen hin: Das Mitleidsmotiv sei „verständlich als Stimme eines Mannes, der familienlos, staatenlos und berufslos, als zugereister Frankfurter und Rentier Mühe gehabt hätte, andere Antriebe zu Verpflichtungen in sich zu finden“. Karl Hillebrand bewunderte insbesondere Schopenhauers Sprache: „Die Proprietät der Ausdrücke, die Fülle der schönen Gleichnisse, die durchsichtige An- und Unterordnung der Gedanken, die Leichtigkeit und Korrektheit des Satzbaus, die Farbe und das Leben dieses Stils sind beinahe einzig in unserer Literatur.“ Die Rezeption und Verbreitung des Buddhismus in Deutschland lässt sich auch auf Schopenhauers Wirken zurückführen. Der Philosoph sah in dieser Religion einen Gegenentwurf zur abendländischen Metaphysik und deutete deren Erkenntnisstreben als Mittel, die geistige Isolierung des Individuums zu durchbrechen. Schopenhauer fand zahlreiche Verbindungen zwischen seiner eigenen Philosophie und der buddhistischen Lehre, etwa den Atheismus. Die Indien-Begeisterung vieler damaliger Intellektueller wie auch die ersten deutschen Übersetzungen asiatischer Texte wurden durch seine Schriften angeregt. Psychologie Die Psychoanalyse (bzw. Metapsychologie) Sigmund Freuds setzt unmittelbar bei Schopenhauers Lehre vom Willen und seiner Negierung an, indem sie die Schäden untersucht, die durch (willentliche oder unfreiwillige) Triebunterdrückung entstehen. Freuds Ansatz kann als Versuch der Re-Rationalisierung des menschlichen Lebens eingeordnet werden, da er eine Methode zur Analyse des Schopenhauerschen Begriffs des Willens erarbeitet, mit dem Ziel, diesen kontrollierbar zu machen. Daneben knüpfte Carl Gustav Jung, ein Hauptvertreter der Analytischen Psychologie, mit seinem Konzept des kollektiven Unbewussten an Schopenhauer an. Der Begründer der Individualpsychologie Alfred Adler deutete Schopenhauers Ansatz der Leidensüberwindung als fundamental positiven Aspekt in der menschlichen Entwicklung auf dem Weg von seiner Unmündigkeit bei der Geburt zur individuellen Vollkommenheit. Der bei Schopenhauer auf einen Weltwillen zielende Entwurf wird als schöpferisches Element in jedem Lebewesen interpretiert. Adler sah Schopenhauers Ansatz zur Verneinung des Lebens vorbereitet in einer feindlichen Beziehung zur Mutter. Anderes 1911 gründete Paul Deussen die Schopenhauer-Gesellschaft, wurde ihr erster Präsident und begann mit der Herausgabe einer (unvollendet gebliebenen) kritischen Schopenhauer-Ausgabe in 14 Bänden. Zum 150. Todestag am 21. September 2010 erschienen neben Monographien, Zitatsammlungen auch zahlreiche Würdigungen in der Presse. In dem letzten Wohnort in Frankfurt am Main an der Schönen Aussicht steht heute das „Schopenhauer-Hotel“. Ausstellungen In Frankfurt am Main zeigte die Stadt- und Universitätsbibliothek ab 22. Oktober 2019 zu Schopenhauers Leben und Wirken die Ausstellung „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Ebenfalls in Frankfurt am Main war ab 30. Oktober 2019 bis 10. Oktober 2021 im Historischen Museum die Ausstellung „Schopenhauers Frankfurt“ zu sehen. Werke Maßgebliche Editionen wurden herausgegeben von Arthur Hübscher, Ludger Lütkehaus oder Wolfgang Freiherr von Löhneysen und die zehnbändige Zürcher Ausgabe von Angelika Hübscher. Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. 1813 (Dissertation). Zweite, sehr verbesserte und beträchtlich vermehrte Auflage. 1847 (Google Books, Commons). Dritte, verbesserte und vermehrte Auflage 1864 (Google Books). Ueber das Sehn und die Farben. 1816 (Google Books). Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage. 1854 (Commons). Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, 1819 (Volltext) (Zweiter Band s. u. 1844). Zweite, vermehrte Auflage 1844 (BSB München). Dritte, verbesserte und beträchtlich vermehrte Auflage 1859 (Google Books). Theoria colorum. 1830. (Lateinische Fassung der überarbeiteten Farbenlehre.) Ueber den Willen in der Natur. 1836. Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage 1854. (Digitalisat) Die beiden Grundprobleme der Ethik: Ueber die Freiheit des menschlichen Willens, Ueber das Fundament der Moral. 1841. Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage 1860 (Google Books, (pdf)). Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, 1844 (Digitalisat, BSB München), dritte vermehrte Auflage 1859. (Digitalisat) Parerga und Paralipomena, 1851. Zwei Bände, enthalten die Aphorismen zur Lebensweisheit, Über die Universitäts-Philosophie, Über Schriftstellerei und Stil u. a. (Zweiter Band Google Books) Versuch ueber das Geistersehn und was damit zusammenhängt. 1851 (PDF-Fassung). Darüber hinaus wurde Schopenhauers handschriftlicher Nachlass herausgegeben von Arthur Hübscher und Volker Spierling: Arthur Hübscher (Hrsg.): Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden. Vollständige Ausgabe in sechs Teilbänden. DTV, München 1985; unveränderter Nachdruck der historisch-kritischen Edition, Frankfurt am Main.: Waldemar Kramer 1966–1975. [Im Einzelnen: Frühe Manuskripte 1804–1811, Kritische Auseinandersetzungen 1809–1818, Berliner Manuskripte 1818–1830 (enthält die Eristische Dialektik), Die Manuskriptbücher der Jahre 1830–1852, Letzte Manuskripte/Gracians Handorakel (inkl. Über die, seit einigen Jahren, methodisch betriebene Verhunzung der deutschen Sprache), Randschriften zu Büchern]. Volker Spierling (Hrsg. und Einleitung): Philosophische Vorlesungen. 4 Bände. Aus dem handschriftlichen Nachlaß. Piper, München 1987–1990. [Im Einzelnen: Theorie des gesammten Vorstellens, Denkens und Erkennens, Metaphysik der Natur, Metaphysik des Schönen, Metaphysik der Sitten.] Ludger Lütkehaus (Hrsg.): Das Buch als Wille und Vorstellung. Arthur Schopenhauers Briefwechsel mit Friedrich Arnold Brockhaus. C. H. Beck, München 1996, ISBN 3-406-40956-3. Ludger Lütkehaus (Hrsg. und Nachwort): Ich bin ein Mann, der Spaß versteht – Einsichten eines glücklichen Pessimisten. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2010, ISBN 978-3-423-13910-6. Franco Volpi, Ernst Ziegler (Hrsg.): Senilia – Gedanken im Alter. C. H. Beck Verlag, München 2010, ISBN 978-3-406-59645-2. Ernst Ziegler (Hrsg. und Vorwort): Über den Tod – Gedanken und Einsichten über letzte Dinge. C. H. Beck Verlag, München, 2010, ISBN 978-3-406-60567-3. Ernst Ziegler (Hrsg.): Pandectae. Philosophische Notizen aus dem Nachlass. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-68369-5. Ernst Ziegler (Hrsg.): Spicilegia. Philosophische Notizen aus dem Nachlass. Beck, München 2015, ISBN 978-3-406-67114-2. Seit 2017 wird die Berliner Vorlesung über Die gesamte Philosophie oder die Lehre vom Wesen der Welt und dem menschlichen Geiste von 1820/21 als Studienausgabe neu herausgegeben von Daniel Schubbe unter Mitarbeit von Judith Werntgen-Schmidt und Daniel Elon: Teil 1: Theorie des Vorstellens, Denkens und Erkennens. Meiner, Hamburg 2022 (= PhB. 701). ISBN 978-3-7873-3176-5. Teil 2: Metaphysik der Natur. Meiner, Hamburg 2019 (= PhB. 702). ISBN 978-3-7873-3177-2. Teil 3: Metaphysik des Schönen. Meiner, Hamburg 2018 (= PhB. 703). ISBN 978-3-7873-3178-9. Teil 4: Metaphysik der Sitten. Meiner, Hamburg 2017 (= PhB. 704). ISBN 978-3-7873-3179-6. Sekundärliteratur Walter Abendroth: Arthur Schopenhauer in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1967, ISBN 3-499-50133-3. Urs App: Schopenhauers Kompass. Die Geburt einer Philosophie. UniversityMedia, Rorschach/ Kyoto 2011, ISBN 978-3-906000-02-2. Sabine Appel: Arthur Schopenhauer, Leben und Philosophie. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-538-07241-1. Dieter Birnbacher: Schopenhauer. Reclam, Grundwissen Philosophie, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-15-020327-9. Otto A. Böhmer: Schopenhauer oder die Erfindung der Altersweisheit. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60095-1. Alfred Estermann: Schopenhauers Kampf um sein Werk. Der Philosoph und seine Verleger. Insel, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-458-17252-1. Margot Fleischer: Schopenhauer. Herder, Freiburg im Breisgau 2001, ISBN 3-451-04931-7. Margot Fleischer: Schopenhauer als Kritiker der Kantischen Ethik. Königshausen & Neumann, Würzburg 2003, ISBN 3-8260-2470-2. Adrian Gmelch: Die politische Philosophie Arthur Schopenhauers. Diplomica Verlag, Hamburg 2016, ISBN 978-3-95934-910-9. Wilhelm Gwinner: Arthur Schopenhauer aus persönlichem Umgang dargestellt. 1. Auflage Brockhaus 1862, 2. Auflage. Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-7829-0349-8 (Diese Biographie wurde kurz nach Schopenhauers Tod verfasst). Rudolf Haym: Arthur Schopenhauer. Biographie. 1864 Arthur Hübscher: Schopenhauer. Biographie eines Weltbildes. (= Reclams Universal-Bibliothek. 7716/17). Reclam, Stuttgart 1952, . Arthur Hübscher: Denker gegen den Strom. Schopenhauer: Gestern – heute – morgen. Bouvier, Bonn 1973, ISBN 3-416-00950-9. Arthur Hübscher: Arthur Schopenhauer, ein Lebensbild. 3. Auflage. Brockhaus, Mannheim 1988, ISBN 3-7653-0418-2. Raphael von Koeber: Schopenhauers Erlösungslehre. Duncker, Berlin 1882. Ferdinand Laban: Die Schopenhauer-Literatur. Versuch einer chronologischen Übersicht derselben. Reprint der Ausgabe von 1880. Franklin, New York 1970. Ludger Lütkehaus (Hrsg.): Das Buch als Wille und Vorstellung. Arthur Schopenhauers Briefwechsel mit Friedrich Arnold Brockhaus. Beck, München 1996, ISBN 3-406-40956-3. Ludger Lütkehaus: Nichts – Abschied vom Sein, Ende der Angst. Haffmans Verlag, Zürich 2003, ISBN 3-86150-544-4. Barbara Neymeyr: Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik. (=Quellen und Studien zur Philosophie. Bd. 42) Walter de Gruyter, Berlin/New York 1996, ISBN 3-11-015229-0. Bryan Magee: The Philosophy of Schopenhauer. Oxford University Press, Oxford 1997, ISBN 0-19-823722-7. Rüdiger Safranski: Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie. Hanser, München 1987, ISBN 3-446-14490-0. 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Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2001, ISBN 3-10-046317-X (Kapitel: Schopenhauer: Trost bei gebrochenem Herzen) Christian Kortmann: Happy Hour Schopenhauer. Roman einer Bibliotherapie. Turia + Kant, Wien/ Berlin 2022, ISBN 978-3-9851403-0-5 Weblinks Arthur Schopenhauer im Internet Archive Schopenhauer-Archiv der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main Schopenhauer in Dresden Schopenhauer-Gesellschaft e. V. Arthur Schopenhauer – Studienkreis, seine Philosophie und die Weisheit der Upanishaden Englisch: Anmerkungen und Einzelnachweise Philosoph (19. Jahrhundert) Moralphilosoph Kantianer Autor Hochschullehrer (Humboldt-Universität zu Berlin) Schriftsteller (Frankfurt am Main) Vertreter des Atheismus Sprachkritik Aphoristiker Literatur (Neulatein) Person (Königlich-Preußen) Person (Danzig) Deutscher Geboren 1788 Gestorben 1860 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Architektur%20%28Informatik%29
Architektur (Informatik)
Architektur (von , ‚Ursprung‘, ‚Grundlage‘ und , ‚Handwerk‘ auch , ‚Haus‘, ‚Dach‘) bedeutet allgemein ‚Baukunst mit zweckbestimmter Gestaltung‘. Speziell in der Informatik bezieht sich „Architektur“ auf informationstechnische Systeme, ihre Zusammensetzung aus verschiedenen Komponenten und deren Zusammenwirken. Der Ausdruck wird in unterschiedlichen Bereichen und Zusammenhängen angewendet. Gemäß Nr. 6 des KONSENS-Gesetzes wird unter Architektur eine Beschreibung von IT-, Fach- und Betriebsarchitektur einschließlich der technischen Basis verstanden, auf der IT-Verfahren oder Software zur Umsetzung der festgelegten Anforderungen bereitgestellt werden müssen. Begriffsgeschichte Im 20. Jahrhundert wurde die aus dem Bauwesen stammende Bezeichnung „Architektur“ verallgemeinert und auf andere geplante, komplexe Strukturen und deren Konzeption (Entwurf) übertragen. Die angewandte Informatik hat den übertragenen Architekturbegriff übernommen. Dies spiegelt wider, dass nach Anwenderanforderungen gearbeitet wird und das Zusammenspiel vieler unterschiedlicher Komponenten berücksichtigt werden muss. Verwendungsbereiche Der Architekturbegriff findet dabei im Wesentlichen in folgenden unterschiedlichen Bereichen Anwendung: Der Architekturgedanke erfuhr insbesondere in der Informations- und Softwarearchitektur große Bedeutung, als 1987 durch Kent Beck und Ward Cunningham die Entwurfsmuster des Mathematikers und Architekturtheoretikers Christopher Alexander auf die Softwareerstellung übertragen wurden. Hierbei wurde die große Verwandtschaft deutlich, die das Verstehen in der Informatik mit dem von Architekten oder Stadtplanern aufweist: bestimmte Anforderungen führen zu einem zu erstellenden Funktionsumfang, der durch einzelne Komponenten realisiert werden muss. Ein Architekturmodell von Objekten insbesondere aus der Informatik, das als Vorlage für die Entwicklung und somit als Modellmuster dient oder zum Vergleich herangezogen wird, wird Referenzarchitektur genannt. Abgrenzung Die Informationsarchitektur befasst sich mit den für den Nutzer von Informationssystemen möglichen Interaktionen, der An- und Zuordnung und der Benennung der in dem System enthaltenen Informationseinheiten und Funktionen. Sie ist daher keine Architektur im Bereich Informatik. !
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https://de.wikipedia.org/wiki/Aemilianus%20%28Kaiser%29
Aemilianus (Kaiser)
Marcus Aemilius Aemilianus (kurz Aemilian; * 207 oder 213 in Djerba; † 253) war im Jahr 253 römischer Kaiser. Leben Aemilianus wurde entweder 207 oder 213 im afrikanischen Djerba geboren; nach dem mittelbyzantinischen Historiker Johannes Zonaras war er ein Libyer. Seine Frau hieß Cornelia Supera, über eventuelle Kinder ist nichts bekannt. Aemilianus wurde um 252 als Statthalter in die Provinz Niedermösien entsandt, wo ihm im Frühjahr 253 ein Sieg über den Gotenkönig Kniva gelang. Kniva forderte von Aemilianus eine Erhöhung der jährlichen römischen Tributzahlungen, die er von Trebonianus Gallus 251 erzwungen hatte. Aemilianus jedoch weigerte sich, worauf Kniva sein Heer in Bewegung setzte. Aemilianus versprach seinen Soldaten die Gelder, die bisher die Goten erhalten hatten; seine Truppen überraschten die Goten und schlugen sie vernichtend. Dieser unerwartete Sieg begeisterte seine Soldaten so sehr, dass sie ihn sofort nach Ende der Schlacht (wohl im Juli 253) zum Kaiser ausriefen. Aemilianus marschierte nun mit seiner Armee gegen Rom, um sich die Kaiserwürde zu sichern. Kaiser Gallus und sein Sohn Gaius Vibius Volusianus zogen dem Usurpator auf der Via Flaminia entgegen, woraus man schließen kann, dass Aemilianus’ Truppen höchstwahrscheinlich nicht in der Überzahl waren. Aus den nachfolgenden Kämpfen bei Interamna, wo sich das Heer des Gallus auflöste, ging jedoch Aemilianus als Sieger hervor. Gallus und sein Sohn flohen und wurden darauf von ihren eigenen Soldaten ermordet. Aemilianus zog anschließend in Rom ein und ließ sich offiziell vom Senat bestätigen. Zonaras spricht davon, dass er dem Senat versprach, Thrakien zu sichern und gegen die Sassaniden im Osten zu ziehen. Aemilianus kam jedoch nicht mehr dazu, seine Pläne in die Tat umzusetzen, denn kurz vor seinem Tode hatte Gallus noch den Kommandeur der oberrheinischen Truppen, Valerian, zu Hilfe gerufen. Valerian war nach dem Tod des Gallus selbst zum Kaiser ausgerufen worden, was typisch war für die chaotischen Zustände im Zeitalter der Reichskrise des 3. Jahrhunderts. Nun spielte sich fast dasselbe Schauspiel wie drei Monate zuvor ab: Als Aemilianus’ Soldaten das gegnerische Heer sahen, ermordeten sie ihn und liefen zu Valerian über; vermutlich ereignete sich dies im September 253 im Raum Spoleto. Mehreren Quellen zufolge spielte dabei auch der Umstand eine Rolle, dass die Soldaten nicht von Aemilianus’ Führungsstärke überzeugt waren und glaubten, Valerian würde ein besserer Kaiser sein. Dieser konnte sich auch gegen Silbannacus durchsetzen, der wahrscheinlich nach dem Tod des Aemilianus kurzzeitig in Rom den Kaisertitel beanspruchte. Über die kurze Herrschaft des Aemilianus lässt sich kaum etwas mit Bestimmtheit sagen. Er soll maßvoll regiert und sich gut mit dem Senat verstanden haben. Schon die antiken Autoren sahen in ihm wenig mehr als ein kurzes Zwischenspiel in der wirren Zeit der Soldatenkaiser. Lakonisch meinte Eutropius: Aemilianus entstammte einer völlig unbedeutenden Familie, seine Regierung war noch unbedeutender, und im dritten Monat wurde er erschlagen. Literatur David S. Potter: The Roman Empire at Bay. Routledge, London/New York 2004, ISBN 0-415-10057-7. Weblinks Anmerkungen Kaiser (Rom) Geboren im 3. Jahrhundert Gestorben 253 Mann Herrscher (3. Jahrhundert)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Aurelian
Aurelian
Lucius Domitius Aurelianus (kurz Aurelian; * 9. September 214 in Mösien oder Sirmium, Pannonien; † 275 bei Caenophrurium, in der Nähe von Byzanz) war römischer Kaiser in den Jahren von 270 bis 275. Er konnte die Reichseinheit sowohl im Westen als auch Osten wiederherstellen und begann die nach ihm benannte Stadtmauer von Rom. Leben Frühe Jahre Aurelian wurde im Jahr 214 in Moesia oder Sirmium in der römischen Provinz Pannonia geboren, angeblich als Sohn eines Landpächters. Bereits früh schlug er eine militärische Laufbahn ein. Über seine Jugend ist äußerst wenig bekannt, da die in der Historia Augusta niedergeschriebenen Geschichten vermutlich nur Hoftratsch und Stereotype wiedergeben. Er war jedenfalls mit Ulpia Severina verheiratet und hatte mit ihr eine Tochter. Im Jahr 268 befehligte Aurelian die Reiterei in Oberitalien, als Aureolus in Mediolanum (Mailand) einen Aufstand gegen Kaiser Gallienus vom Zaun brach. Zusammen mit dem Oberbefehlshaber der illyrischen Legionen, Claudius Gothicus, schlug Aurelian die Revolte zwar rasch nieder, doch im Anschluss daran wandten auch sie sich offenbar gegen Gallienus und scheinen Mitwisser eines Attentats auf den Kaiser gewesen zu sein. Nach dessen Ermordung übernahm zunächst Claudius die Herrschaft im Reich und beförderte Aurelian zum Oberkommandierenden der Kavallerie. Als im Jahr 270 Claudius in einer Pandemie, möglicherweise der Cyprianischen Pest, verstarb, übernahm dessen jüngerer Bruder Quintillus den Thron. Aurelian, der sich selbst Hoffnungen auf die Kaiserwürde gemacht hatte, sammelte seine Truppen und marschierte von seinem momentanen Aufenthaltsort an der Donau auf Rom zu. Als Quintillus erkannte, dass er gegen Aurelian nicht die geringste Chance hatte, tötete er sich angeblich selbst. Bekämpfung der Germanen Unmittelbar nach seinem Herrschaftsantritt sah sich Aurelian gezwungen, eine ganze Reihe von Konflikten aus der Herrschaftszeit des Gallienus und des Claudius weiterzuführen. Seit etwa dem Jahr 260 kontrollierte die Regierung nur noch Italien, Nordafrika und den Balkan sowie (zeitweilig) Teile Spaniens und Westkleinasiens, während sowohl die westlichen als auch die orientalischen Provinzen sich faktisch unabhängig gemacht hatten. Doch bevor sich Aurelian diesem Problem zuwenden konnte, musste der Kern seines Herrschaftsgebietes gegen Angreifer gesichert werden. Einen Krieg mit den Goten, die bereits sein Vorgänger entscheidend geschlagen hatte, konnte er relativ schnell zu Ende führen. Größere Gefahren drohten von den Kriegern der Juthungen, Markomannen und Vandalen, die ständig versuchten, über die Donau überzusetzen und teilweise sogar plündernd bis nach Italien gelangten. Mehrere solche Invasionen wurden von Aurelian abgefangen und zerschlagen. Die erste ernste Krise entstand, als erneut germanische Plünderer die Alpen überquerten und Italien verwüsteten. Aurelian blockierte die Alpenpässe und hoffte, die Angreifer so zur Aufgabe zwingen zu können. Doch er unterschätzte die Gegner, die seine Truppen in einen Hinterhalt lockten und in der Schlacht von Placentia (271) aufrieben. Die angespannte Situation in Rom entlud sich auf diese Niederlage hin offenbar in einem Aufstand der Münzpräger unter Führung des Felicissimus, die sich angeblich für die ständigen Korruptionsvorwürfe Aurelians rächen wollten. Die Revolte, deren genaue Hintergründe umstritten sind, erfuhr offenbar große Unterstützung auch seitens mancher Senatoren. Aurelian setzte das Militär ein. Schließlich wurde der Aufstand niedergeschlagen; spätere Geschichtsschreiber berichten von über 7.000 Opfern auf beiden Seiten und davon, dass sich darunter auch Senatoren befunden hätten. Inzwischen änderte sich die Lage in Norditalien, weil sich die Angreifer wieder in kleine Gruppen zersplitterten, die plündernd Italien durchstreiften. Die Römer hatten jetzt keine Probleme mehr, diese Gruppen sukzessive auszulöschen. Aurelian gelangen so die Siege in den Schlachten von Fano und Pavia. Infolge der dramatischen Kämpfe entschied sich Aurelian, Rom mit einem mächtigen Schutzwall zur Abwehr eventueller Barbarenangriffe zu versehen. Im Jahr 271 begannen die Arbeiten an der Aurelianischen Mauer, die sich noch bis in die Regierungszeit des Probus hinein erstreckten. Wiederherstellung der Reichseinheit Ab dem Jahreswechsel 271/272 sah Aurelian sich zunehmend mit Gegenkaisern wie Septimius und Urbanus konfrontiert, deren Putschversuche jedoch nie von langer Dauer waren. Die größte Herausforderung stellte dagegen Zenobia dar, die Herrscherin über Palmyra, die gemeinsam mit ihrem Sohn Vaballathus die Mehrzahl der Ostprovinzen kontrollierte. Bevor sich Aurelian jedoch den Problemen im Osten zuwandte, musste er zunächst noch die untere Donaugrenze dauerhaft sichern. Im Frühjahr des Jahres 272 schlug er die Goten vernichtend (dabei kam auch deren König Cannabaudes ums Leben) und entschied sich danach, trotz des Sieges die zunehmend von Barbarenstämmen infiltrierte Provinz Dacia endgültig zu räumen und aufzugeben, da ihre Verteidigung auf Dauer zu kostspielig war. Nun galt es, die kaiserliche Souveränität im Osten des Reiches wiederherzustellen. Das palmyrische Sonderreich der Zenobia erstreckte sich mittlerweile von Ägypten bis nach Kleinasien, wobei nicht ganz klar ist, ob Zenobia erst auf diese Gebiete ausgriff, nachdem ihr Aurelian den Krieg erklärt hatte. Entgegen allen Erwartungen verlief der Feldzug Aurelians jedenfalls erfolgreich. Schon bei ihrem Marsch durch Kleinasien stieß die kaiserliche Armee kaum auf Widerstand, Ägypten ergab sich bald darauf fast kampflos Aurelians Heerführer Probus, angeblich, ohne dass Opfer zu beklagen gewesen wären. Die entscheidenden Kampfhandlungen fanden bei Immae, Emesa und Palmyra statt, der Hauptstadt des Sonderreiches, sie alle konnten von Aurelian für sich entschieden werden. Noch während der Belagerung von Palmyra versuchte Zenobia, zu den persischen Sassaniden zu fliehen, wurde jedoch an der Grenze von römischen Truppen abgefangen. Palmyra ergab sich dem Sieger und wurde zunächst geschont. Doch nach Aurelians Abzug flackerten in den wiedereroberten Gebieten einige Aufstände auf; diesmal kannte Aurelian keine Gnade und schlug jede Art von Widerstand blutig nieder. Dabei wurde auch das blühende Palmyra gebrandschatzt und fast gänzlich dem Erdboden gleichgemacht. Seine große Zeit war damit vorbei. Nach seinem triumphalen Sieg im Osten ging Aurelian daran, auch die Verhältnisse im Westen zu ordnen und das dortige Sonderreich (Imperium Galliarum) endlich wieder dem Römischen Reich einzugliedern. Dabei kam es zu einem für diese kriegerische Zeit ungewöhnlichen Vorfall: Als die gegnerischen Armeen bei Châlons-en-Champagne aufeinandertrafen, verließ Tetricus, der regierende gallische Sonderkaiser, seine Truppen und lief, noch während die Schlacht andauerte, zu Aurelian über. Nach kurzer Gefangenschaft erhielt er eine hohe Stellung in der römischen Magistratur, und das Gebiet des Imperium Galliarum wurde im Herbst des Jahres 274 wieder dem Römischen Reich einverleibt. Wirtschaftspolitik Nun hatte Aurelian innerhalb von vier Jahren das unter Gallienus und Claudius noch massiv vom Zerfall bedrohte Römische Reich wieder geeint und gegen die ständigen Übergriffe der germanischen Stämme einigermaßen abgesichert. Im Folgenden musste er nun die innenpolitischen Probleme, vor allem die brachliegende Wirtschaft, ins Auge fassen. Als erste Maßnahme ließ er zwei hochwertige neue Münztypen einführen (einer davon wurde auch Aurelianus genannt), die den Zahlungsverkehr beleben und das Vertrauen der Bürger in den Geldwert wieder steigern sollten. Nach Ansicht vieler Althistoriker hatte die Maßnahme aber ganz im Gegenteil den Effekt, dass die Inflation erst recht zu galoppieren begann, da die Menschen dem neuen Geld nicht trauten. Zunächst aber profitierte Aurelian von den Geldern, die aus den wiedergewonnenen Provinzen in die Staatskasse flossen. Mit dieser Finanzkraft konnte es sich Aurelian leisten, einen heftigen Kampf gegen die allgegenwärtige Korruption zu beginnen. Unter anderem musste er – siehe oben – einen Aufstand der korrupten römischen Münzpräger, den Felicissimus begann, mit Waffengewalt niederschlagen. Im Bereich der Landwirtschaft und des Handels kam es, so die spätere Überlieferung, ebenfalls zu heilsamen Gesetzesneuerungen. Religionspolitik Auch in der Religion begünstigte Aurelian einschneidende Veränderungen: Um eine Glaubenseinheit innerhalb des Reichs zu fördern, unterstützte er die Ausbreitung des Sol-Invictus-Kults, als dessen Günstling er sich feiern ließ. Der Überlieferung nach soll Aurelian im Jahr 272 vor der Entscheidungsschlacht gegen Zenobia eine entsprechende Vision gehabt haben. Angeblich gab Aurelian daher zwei Jahre später die Errichtung eines großen Tempels für den Sonnengott Sol in Rom in Auftrag. Die alten römischen Götter verloren derweil schleichend an Bedeutung. Am 25. Dezember 274 feierten die Römer erstmals auf kaiserlichen Erlass reichsweit den Geburtstag des Sonnengottes, was den Grundstein für das spätere Weihnachtsfest gelegt haben dürfte. Auf Münzen erschien zunehmend die Inschrift Sol Dominus Imperii Romani („Sol, Herrscher des Römischen Reiches“), wodurch Aurelian sich selber als oberster Stellvertreter des Sonnengottes auf Erden darstellte. Eusebius von Caesarea und Laktanz sagen Aurelian die Absicht zu einer Christenverfolgung nach; Beweise fehlen jedoch. Der Name des Kaisers ist eng verbunden mit dem Martyrium und Tod der hl. Kolumba von Sens, die er der Legende zufolge habe enthaupten lassen. Tod Der Tod kam für Aurelian abrupt und unerwartet, als er inmitten seiner Planungen für einen Feldzug gegen die Sassaniden in der Nähe von Caenophrurium in Thrakien erstochen wurde. Als Hintermann für die Tat ist sein Privatsekretär Eros überliefert, der angeblich wegen der aurelianischen Korruptionsbekämpfung keinen anderen Ausweg mehr sah. Unter Kaiser Tacitus wurde Aurelian als divus vergöttlicht. Rezeption Während seiner kurzen Regentschaft vereinte Aurelian das seit dem Jahr 260 dreigeteilte Reich und war maßgeblich daran beteiligt, die barbarischen Invasoren, welche Italien selbst bedrohten, wieder zurückzuschlagen. Sein Tod kam einer vollständigen Wiederherstellung der politischen Stabilität und der Einrichtung einer langlebigen Dynastie, welche die Ära der Soldatenkaiser beendet hätte, zuvor. Als verhängnisvoll wird allerdings in der modernen Forschung, wie erwähnt, seine Währungsreform gewertet, die die ökonomischen Probleme massiv verschärft habe. Ungeachtet dessen brachte Aurelian das Imperium durch eine sehr kritische Phase seiner Existenz und bewahrte das Reich vor einem Zusammenbruch, ausgelöst von inneren sowie äußeren Faktoren. Insbesondere Kaiser Probus (reg. 276–282) gelang auf dieser Grundlage eine weitere Konsolidierung. Doch erst die Herrschaft Diokletians, die im Jahr 284 begann, sollte die Stabilität fast vollkommen wiederherstellen und die Reichskrise des 3. Jahrhunderts beenden. Sonstiges Die Stadt Orléans in Frankreich wurde ihm zu Ehren benannt, die heutige Namensform entspricht einer Lautverschiebung über die Jahrhunderte. Gioachino Rossini schuf 1813 die Oper Aureliano in Palmira. Literatur Eugen Cizek: L’empereur Aurélien et son temps. Les Belles lettres, Paris 1994, ISBN 2-251-38026-4. Udo Hartmann: Claudius Gothicus und Aurelianus. In: Klaus-Peter Johne (Hrsg.): Die Zeit der Soldatenkaiser. Krise und Transformation des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert n. Chr. Band 1, Akademie-Verlag, Berlin 2008, ISBN 978-3-05-004529-0, S. 297–323. Merav Haklai-Rotenberg: Aurelian’s Monetary Reform. Between Debasement and Public Trust. In: Chiron, Bd. 41 (2011), S. 1–40, . Peter Jacob: Aurelians Reformen in Politik und Rechtsentwicklung (= Osnabrücker Schriften zur Rechtsgeschichte. Band 9). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, ISBN 3-89971-148-3 (zugleich Dissertation, Universität Osnabrück 2003; Digitalisat bei Digi20: „Digitalisierung der DFG-Sondersammelgebiete“). Alaric Watson: Aurelian and the third century. Routledge, London 1999, ISBN 0-415-30187-4. John F. White: The Roman Emperor Aurelian. Pen & Sword, Barnsley 2016, ISBN 978-1-4738-4569-5 Weblinks Biografie aus der Historia Augusta (englisch) bei LacusCurtius Aurelians Münzprägungen Maren Gottschalk: 09.09.0214 - Der Geburtstag des römischen Kaisers Aurelian WDR ZeitZeichen vom 9. September 2014. (Podcast) Einzelnachweise Kaiser (Rom) Militärperson (Römische Kaiserzeit) Herrscher (3. Jahrhundert) Domitier Geboren 214 Gestorben 275 Mann Imperium Galliarum
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https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeine%20Psychologie
Allgemeine Psychologie
Die Allgemeine Psychologie ist eine Teildisziplin der Psychologie. Die Bezeichnung „allgemein“ geht auf ihren universalistischen Ansatz zurück: Sie befasst sich mit den psychischen Funktionen, die allen Menschen gemein sind, im Gegensatz zu anderen Teilbereichen der Psychologie (wie z. B. der Persönlichkeitspsychologie). Einen bedeutsamen Teilbereich bildet die Kognitionspsychologie. Bereiche und Methoden Insbesondere werden die folgenden Bereiche abgedeckt: Wahrnehmung bzw. Wahrnehmungspsychologie Bewusstsein und Aufmerksamkeit Motivation bzw. Motivationspsychologie Emotion bzw. Emotionspsychologie Volition Lernen bzw. Lernpsychologie und Konditionierung Kategorisierung und Wissenserwerb Gedächtnis und Wissensrepräsentation Sprachproduktion und Sprachverstehen bzw. Sprachpsychologie Denken bzw. Denkpsychologie Problemlösen und Logisches Schließen Die Allgemeine Psychologie beschäftigt sich mit u. a. folgenden Fragestellungen: Welche grundlegenden und allgemein gültigen Aussagen lassen sich hinsichtlich des menschlichen Verhaltens und Erlebens machen? Welche Regelmäßigkeiten und Zusammenhänge lassen sich im Erleben und Verhalten der Menschen finden? In der deutschsprachigen Psychologie wurde zeitweise zwischen "Allgemeine Psychologie I" (Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken) und "Allgemeine Psychologie II" (Lernen, Motivation, Emotion) unterschieden. Manchmal erfolgte auch eine umgekehrte Zuordnung und sachlich ist diese Abgrenzung durchaus nicht unproblematisch (etwa wegen des engen Zusammenhangs von Lernen und Gedächtnis oder von Lernen und Denken). Sie geht aber auf eine frühere in Deutschland verbreitete Prüfungsordnungen zurück, und diese Begriffe sind bei der Bezeichnung von Professuren und Vorlesungen teilweise weiterhin in Gebrauch. Die Forschung der Allgemeinen Psychologie beruht auf empirischen Beobachtungen, die vorzugsweise in kontrollierten Experimenten vorgenommen werden, weshalb sie auch im englischen Sprachraum als Experimental Psychology bezeichnet wird. Literatur Jochen Müsseler, Martina Rieger (Hrsg.): Allgemeine Psychologie. 3., neu bearb. Aufl., Springer, Berlin Heidelberg 2017, ISBN 978-3-642-53897-1. Stefan Pollman: Allgemeine Psychologie. Reinhardt & UTB, München [u. a.] 2020, ISBN 978-3-8463-8773-3. Andrea Kiesel, Hans Spada (Hrsg.): Lehrbuch Allgemeine Psychologie. 4., vollst. überarb. und erw. Aufl., Hogrefe, 2018, ISBN 978-3-456-85606-3. Miriam Spering, Thomas Schmidt: Allgemeine Psychologie kompakt. Beltz Psychologie Verlags Union, Weinheim 2009, ISBN 978-3-621-27752-5. en:Experimental psychology
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https://de.wikipedia.org/wiki/Andrei%20Dmitrijewitsch%20Linde
Andrei Dmitrijewitsch Linde
Andrei Dmitrijewitsch Linde (; * 2. März 1948 in Moskau) ist ein russischer Kosmologe und einer der Begründer der Inflationstheorie des Universums. Leben Linde kam als Sohn des Physikers Dmitri Pawlowitsch Linde und der Physikstudentin Irina Wjatscheslawowna Rakobolskaja zur Welt. Er studierte von 1966 bis 1971 Physik an der Lomonossow-Universität in Moskau. Danach arbeitete er am Lebedew-Institut, wo er sich 1975 habilitierte (russischer Doktortitel) und von 1975 bis 1985 auch Professor war. Er war dort ein Schüler von David Abramowitsch Kirschniz. Von 1989 bis 1990 arbeitete er am CERN, und seit 1990 ist er Professor für Physik an der Stanford University in Kalifornien. Dort arbeitet auch seine Ehefrau, die theoretische Physikerin Renata Kallosh. Das Ehepaar hat zwei Söhne, Dmitri und Alexander. Er leistete in den 1970er Jahren Vorarbeiten zur Entwicklung der Inflationstheorie (im Westen von Alan Guth 1980 vorgeschlagen) und war einer der Theoretiker der anschließenden Verbesserungen der neuen Inflationstheorie, unabhängig von Paul Steinhardt und Andreas Albrecht (1981). Bald darauf entwickelte er die Hypothese der chaotischen Inflation, entwickelte die Theorie der ewigen Inflation (eternal inflation) von Alexander Vilenkin weiter und begründete die Theorie der Multiversen, wobei er dies auch im Rahmen der Stringtheorie behandelte. Auszeichnungen Linde wurde 2001 mit der Oskar-Klein-Medaille für Physik der Universität Stockholm ausgezeichnet, 2002 erhielt er die Dirac-Medaille (ICTP) des ICTP und 2004 wurde ihm der Gruber-Preis für Kosmologie für die Entwicklung der Inflationstheorie verliehen. Seit 2008 ist er Mitglied der National Academy of Sciences, seit 2010 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg und seit 2011 der American Academy of Arts and Sciences. 2012 erhielt er den Fundamental Physics Prize, 2014 den Kavli-Preis in Astrophysik. Er ist auswärtiges Mitglied der Norwegischen Akademie der Wissenschaften. Werke Inflation and Quantum Cosmology, Academic Press, Boston, 1990 Particle Physics and Inflationary Cosmology, Harwood Academic Publishers, Chur, 1990 Weblinks Homepage von Andrei Linde in Stanford Linde, Andrei D. In: inspirehep.net Einzelnachweise Astronom (20. Jahrhundert) Astronom (21. Jahrhundert) Physiker (20. Jahrhundert) Physiker (21. Jahrhundert) Astrophysiker Kosmologe (20. Jahrhundert) Kosmologe (21. Jahrhundert) Hochschullehrer (Stanford University) Hochschullehrer (Lebedew-Institut für Physik) Person (CERN) Mitglied der National Academy of Sciences Mitglied der American Academy of Arts and Sciences Mitglied der Norwegischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg Russe Sowjetbürger Geboren 1948 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Apple
Apple
Apple Inc. [] ist ein US-amerikanischer Hard- und Softwareentwickler und ein Technologieunternehmen, das Computer, Smartphones und Unterhaltungselektronik sowie Betriebssysteme und Anwendungssoftware entwickelt und vertreibt. Zudem betreibt Apple ein Internet-Vertriebsportal für Musik, Filme und Software. Der Hauptsitz von Apple, der Apple Park, befindet sich im kalifornischen Cupertino. Apple wurde 1976 von Steve Wozniak, Steve Jobs und Ron Wayne als Garagenfirma gegründet und zählte zu den ersten Herstellern von Personal Computern. Das Unternehmen trug maßgeblich zu deren Entwicklung als Massenprodukt bei. Bei der Einführung der grafischen Benutzeroberfläche und der Maus in den 1980er Jahren nahm Apple mit den Computern Lisa und Macintosh eine Vorreiterrolle ein. Mit dem Erscheinen des iPods (2001), des iPhones (2007), des iPads (2010) und der Apple Watch (2014) weitete Apple sein Geschäft nach und nach auf andere Produktbereiche aus. Es legte damit die Basis für den bis heute anhaltenden Boom der Märkte für Smartphones und Tabletcomputer. In den letzten Jahren hat sich das iPhone, mit einem Umsatzanteil von mehr als 50 % am Gesamtumsatz des Konzerns, zu Apples wichtigstem Produkt entwickelt. Der 2003 eröffnete iTunes Store für Musik- und Film-Downloads wurde das erste kommerziell erfolgreiche Downloadportal und formte diesen Markt entscheidend mit. Heute sind der iTunes Store und der 2008 eröffnete App Store zwei der weltgrößten Vertriebswege für digitale Güter. Geschichte 1976–1980: Gründung Am 1. April 1976 gründeten Steve Jobs, Steve Wozniak und Ronald Wayne das Unternehmen Apple mit einem Startkapital in Höhe von 1300 US-Dollar. Jobs und Wozniak hatten je 45 % der Geschäftsanteile und Wayne hatte 10 %. Die drei kannten sich aus dem Homebrew Computer Club, einem Club von Enthusiasten und Hackern, aus dem viele Computer-Pioniere und -Unternehmer hervorgegangen sind. Dieser Club wird bezüglich des Personal Computers als „Schmelztiegel für eine ganze Branche“ bezeichnet. In dem Trio war Wozniak der kreative Bastler, ein – wie der Journalist Steven Levy schrieb – genialer Computer-Hacker, dem jedoch jedes Gefühl für Geschäftliches fehlte; Steve Jobs war der Visionär, der die Idee zur Firmengründung vorantrieb und Ron Wayne war derjenige, der die beiden zusammenbringen und zwischen ihnen vermitteln konnte, so dass sie sich auf ein gemeinsames Konzept einigten. Wayne kümmerte sich um die juristischen Formalien der Unternehmensgründung und zeichnete auch das erste Logo der neuen Firma; es zeigte Isaac Newton unter einem Apfelbaum sitzend, an dem ein einzelner Apfel hing. Wayne verließ Apple bereits elf Tage später, aufgrund von Sorgen um die Zahlungsmoral der Firma Byte Shop, die der erste Kunde der neuen Firma war. Seine Anteile am Unternehmen verkaufte er dabei für insgesamt 2300 US-Dollar. Das Konzept und die Entwürfe für den Apple I, den weltweit ersten Personal Computer, entstanden unter Federführung von Wozniak kurz vor der Unternehmensgründung in Los Altos im Silicon Valley. Sein PC war die Basis für die Idee zur Firmengründung und zugleich das erste Produkt von Apple. Die anschließend mit Hilfe von Steve Jobs montierten Baugruppen des Gerätes wurden ab Juli 1976 bei der Computerkette Byte Shop unter dem Slogan Byte into an Apple für einen Verkaufspreis von 666,66 US-Dollar in geringen Stückzahlen von etwa 200 Exemplaren veräußert. Das Nachfolgemodell, der 1977 erschienene Apple II, war der letzte industriell hergestellte PC, der – wie der Apple I – vollständig von einer einzelnen Person, Steve Wozniak, entworfen wurde. Zur Entwicklung und Vermarktung dieses Computers waren weitere über die Verkaufserlöse des Apple I hinausgehende Investitionen notwendig. Diese machten 1977 die Umwandlung von Apple in eine Kapitalgesellschaft notwendig, wobei die erste größere Investition von Mike Markkula getätigt wurde. Mit seinen eingebrachten 250.000 US-Dollar hielt er fortan 26 Prozent der Firmenanteile. Der im Juni 1977 der Öffentlichkeit vorgestellte kommandozeilenorientierte Apple II entwickelte sich rasch zu einem Verkaufsschlager und gilt als einer der erfolgreichsten Personal Computer seiner Zeit. 1981–1984: Xerox PARC, Lisa und Macintosh Beflügelt vom großen Erfolg des Apple II begann Apple im Herbst 1979 mit der Arbeit an einem neuen zukunftsweisenden Projekt. Unter dem Codenamen „Macintosh“ wurde die Entwicklung eines intuitiv zu bedienenden Computers für breite Bevölkerungsschichten ins Auge gefasst. Der verantwortliche Jef Raskin drängte dabei insbesondere auf die Einbindung einer kurz zuvor durch Xerox vorgestellten grafischen Benutzeroberfläche (englisch graphical user interface oder GUI). Diese hatte bereits das grundlegende Konzept heutiger GUIs mit Fenstern, anklickbaren Icons und einer Menüführung zur Bedienung via Computermaus nebst Mauszeiger, das sogenannte WIMP-Paradigma. Damit sollte die zuvor bei Computern vorherrschende und Spezialwissen voraussetzende kommandozeilenorientierte Oberfläche abgelöst werden. Raskin veranlasste Steve Jobs im November 1979, das Forschungszentrum Xerox PARC (Palo Alto Research Center) aufzusuchen, um sich selbst ein Bild zu machen. Jobs war von der GUI des Xerox Alto beeindruckt und entsandte wenige Wochen später weitere Apple-Entwickler zum Begutachten der Technologie. Xerox erhielt im Gegenzug die Gelegenheit, vor Apples Börsengang 100.000 Aktien im Wert von damals einer Million US-Dollar zu erwerben. Ebenso wie dem 1981 vorgestellten Xerox Star mit seiner GUI war auch Apple mit dem 10.000 US-Dollar teuren Apple Lisa zwei Jahre später kein kommerzieller Erfolg beschieden, obwohl der GUI von Apple einige Verbesserungen wie überlappende Fenster, Dropout-Menüs, Drag and Drop und der Papierkorb hinzugefügt worden waren. Erst 1984 gelang es dem wesentlich preisgünstigeren und in großen Stückzahlen verkauften Macintosh, die grafische Benutzeroberfläche auf dem entstehenden PC-Massenmarkt zu etablieren. 1985–1996: Sculley-Ära Bereits im Herbst 1982 war Apple auf der Suche nach einem Firmenchef gewesen, da Mike Markkula das Amt abgeben wollte. Die Wahl fiel im Frühjahr 1983 auf John Sculley, der zuvor für zwei erfolgreiche Werbekampagnen von PepsiCo verantwortlich gewesen war und als Marketing-Genie galt. Sculley und Jobs waren zunächst voneinander begeistert: So erklärte Jobs im Mai 1984, Sculleys Arbeitsbeginn bei Apple habe zu den schönsten Tagen seiner Karriere gehört. Sculley erklärte daraufhin, Apple habe „nur eine Führungsfigur – Steve und mich.“ Kurze Zeit später hatten die beiden immer häufiger Konflikte; im Mai 1985 versuchte Jobs einen Putsch. Nachdem dieser gescheitert war, wurde Jobs zunächst von seinen Aufgaben als Leiter der Macintosh-Abteilung entbunden und verließ Apple im September 1985. Er gründete den Computerhersteller NeXT. Nachdem die anfängliche Euphorie abgeflaut war, verkaufte der Macintosh sich nur schleppend, weil die Hardware zu leistungsschwach war. Dies änderte sich ab etwa 1986 mit der Vorstellung neuer Modelle wie dem Macintosh Plus. Eine hohe Verbreitung fand die Macintosh-Produktlinie im Desktop-Publishing-Markt, der infolge der WYSIWYG-Fähigkeiten des Macintosh sowie dank Software verschiedener Drittanbieter wie PageMaker und QuarkXPress entstand. Im Jahr 1987 begann eine Gruppe unter der Leitung von Steve Sakoman, an drahtlosen Netzwerken und Handschrifterkennung zu arbeiten. Das Projekt mit dem Codenamen „Newton“ fand die Unterstützung von Sculley, der dafür die Bezeichnung Personal Digital Assistant prägte und es im Frühjahr 1992 auf der Consumer Electronics Show vorstellte. Das Projekt verzögerte sich mehrfach. Als das erste Gerät, das Newton MessagePad, im Spätsommer 1993 schließlich erschien, war die Handschrifterkennung unausgereift und führte zu Spott bis hin zu einer Parodie in der Fernsehserie Die Simpsons. Da das Macintosh-Betriebssystem in den 1980er Jahren den Wettbewerbern deutlich voraus war, erzielten die Geräte damals Gewinnmargen von teils über 50 %. Mit dem Erscheinen von Windows 3.0 im Mai 1990 kam Apple jedoch unter Druck und stellte im Oktober 1990 mit dem Macintosh LC und dem Macintosh Classic zwei deutlich günstigere Macintosh-Modelle vor. Dies führte vorübergehend zu höheren Marktanteilen, gleichzeitig sanken Apples Gewinne jedoch deutlich. Da derweil die Kosten für verschiedene Forschungsprojekte deutlich stiegen – alleine das Newton-Projekt hatte Entwicklungskosten in Höhe von 100 Mio. US-Dollar  – fuhr Apple 1993 erstmals seit mehreren Jahren einen Quartalsverlust ein. Im Juni 1993 musste Sculley schließlich den Posten als CEO räumen und wurde von Michael Spindler abgelöst. Unter Spindler begann Apple 1994, das eigene Betriebssystem Mac OS – damals System 7 – an andere Hardwarehersteller zu lizenzieren, um so stärker in Konkurrenz mit Microsoft zu treten. Zunächst traten dem Lizenzprogramm nur kleinere Unternehmen wie Power Computing bei, erst 1996 mit Motorola auch ein größerer Hersteller. Die erhofften Marktanteil-Zugewinne traten jedoch nicht ein, stattdessen hatte sich das konkurrierende Betriebssystem Windows weitgehend durchgesetzt. Apple hatte nur noch in den Bereichen Bildung, Web- und Desktop-Publishing größere Bedeutung. In Spindlers Amtszeit fiel der erfolgreiche Umstieg von Motorolas 68k- auf PowerPC-Prozessoren, jedoch auch eine Reihe von technischen Problemen und Managementfehlern, die Anfang 1996 zu seiner Ablösung durch Gil Amelio und zu einer Abschreibung in Höhe von 740 Mio. US-Dollar führten. Apple stand damals kurz vor der Zahlungsunfähigkeit oder einer Übernahme durch Oracle, Sun, IBM oder Hewlett-Packard. 1997–2000: Der Weg aus der Krise Ein dringliches Problem war dabei, dass Apples Betriebssystem als veraltet galt und wesentliche Fähigkeiten wie präemptives Multitasking oder geschützter Arbeitsspeicher fehlten, sodass Probleme in einem einzigen Programm das gesamte Betriebssystem zum Absturz bringen konnten. Nachdem eigene Projekte wie Taligent oder Copland gescheitert waren, sah sich Apple gezwungen, außerhalb des Unternehmens Ausschau nach einem neuen Betriebssystem zu halten. Apple verhandelte daher über den Kauf des Unternehmens Be Incorporated, um deren Betriebssystem BeOS zu nutzen. Die Übernahme scheiterte im November 1996 an den als überhöht empfundenen Forderungen des Be-Chefs Jean-Louis Gassée. Stattdessen übernahm Apple im Dezember 1996 überraschend das Unternehmen NeXT des Apple-Gründers Steve Jobs für etwa 400 Mio. US-Dollar. Mit der Übernahme von NeXT zog bei Apple eine neue Unternehmenskultur ein. Im Sommer 1997 wurde Gil Amelio entlassen und das Board of Directors fast vollständig ausgetauscht. Ein neuer CEO wurde zunächst nicht ernannt. Steve Jobs, der bis dahin nur eine informelle Beraterfunktion innegehabt hatte, wurde Mitglied des Boards, wollte jedoch keine Führungsposition bei Apple übernehmen. Während Apple nach einem Nachfolger für Amelio suchte, wurde Jobs zunächst Interims-CEO und übernahm zweieinhalb Jahre später die Position schließlich dauerhaft. Auch zahlreiche weitere Schlüsselpositionen im Unternehmen wurden mit NeXT-Mitarbeitern besetzt. Jobs beendete die Lizenzierung des Betriebssystems an andere Hersteller, strich viele laufende Forschungs- und Entwicklungsprojekte und stellte mehrere Produktlinien ein, darunter den Newton, und viele Macintosh-Modelle. Die neue Strategie sah nur noch vier Produkte vor: Für Heimanwender waren dies das iBook für den mobilen und der iMac für den stationären Einsatz; an professionelle Anwender richteten sich die leistungsstärkeren Modelle PowerBook und Power Mac. Ein weiteres wichtiges Element der Apple-Rettung war ein Abkommen mit dem Erzrivalen Microsoft, das im August 1997 auf der Macworld Expo präsentiert wurde. Dabei investierte Microsoft 150 Mio. US-Dollar in stimmrechtslose Apple-Aktien. Beide Firmen vereinbarten eine Kreuzlizenzierung ihrer Patente sowie eine enge Zusammenarbeit bei der Java-Entwicklung. Außerdem machte Apple den Internet Explorer zum neuen Standard-Webbrowser des Macintosh-Betriebssystems und Microsoft verpflichtete sich, fünf Jahre lang für den Macintosh ebenso viele neue Versionen von Microsoft Office zu veröffentlichen wie für Windows. Ein fehlendes Microsoft Office auf dem Macintosh erschien damals als große Gefahr für Apple. Im Sommer 1997 erschien Mac OS 8. Während ein Teil des Unternehmens das klassische Mac-Betriebssystem weiterentwickelte, arbeitete eine andere Gruppe an dessen Nachfolger, Mac OS X, der Elemente von NeXTs Betriebssystem NeXTStep (etwa den Mach-Kernel) mit Elementen des klassischen Mac OS (etwa dem Finder) verband. Mac OS X hatte außerdem zwei Programmierschnittstellen (APIs): die von NeXTStep abstammende Cocoa-API sowie die ab Mac OS 8 verfügbare Carbon-API, die Entwicklern von Software für Mac OS 8 und 9 die spätere Portierung auf Mac OS X erleichtern sollte. Neu war auch die grafische Benutzeroberfläche „Aqua“, die Elemente von NeXTStep (etwa das Dock) und dem klassischen Mac OS (z. B. obere Menüleiste) kombinierte. Mac OS X erschien im Jahr 2000 als Beta-Version, ab 2001 wurde es auf neuen Macs neben Mac OS 9 vorinstalliert und ab 2002 war es Apples alleiniges Standard-Betriebssystem. 2001–2006: iPod und Intel-Macs Seit 1998 schrieb Apple wieder schwarze Zahlen, die Wende war geschafft. Bald darauf präsentierte Apple eine neue Strategie: Der Mac sollte das Zentrum des digitalen Lebens (englisch digital hub) werden. Im Oktober 1999 erschien das Programm iMovie, das Nutzern ermöglichen sollte, digitale Camcorder – welche gerade zu einem Massenmarkt wurden – an den Mac anzuschließen und aus den Aufnahmen Filme zu produzieren. In den Folgejahren stellte Apple mit iTunes und iPhoto Programme zur Musik- und Fotoverwaltung vor und fasste diese im iLife-Programmpaket zusammen. Im Oktober 2001 stellte Apple den MP3-Player iPod vor, der zunächst nur für Macs verfügbar war. In den nächsten Jahren führte Apple den iTunes Music Store zum Kaufen von Musik ein. Nachdem dieser – ebenso wie der iPod – auch für Windows-Computer bereitgestellt wurde, etablierten sich beide als Marktführer. Ebenfalls im Jahr 2001 begann das Unternehmen mit dem Aufbau einer eigenen Einzelhandelspräsenz. Die von Ron Johnson entwickelten Geschäfte verkauften der Digital-Hub-Strategie entsprechend auch Peripheriegeräte anderer Hersteller, etwa Digitalkameras oder PDAs, und erlauben Besuchern, die angebotenen Geräte auszuprobieren. Am 6. Juni 2005 kündigte das Unternehmen an, in der Macintosh-Produktlinie zukünftig Intel-Prozessoren statt der von IBM und Freescale gefertigten PowerPC-Prozessoren einzusetzen. Im Januar 2006 führte Apple das MacBook Pro als Nachfolger des PowerBook sowie einen neuen iMac ein. In den nächsten Monaten kamen ein neuer Mac mini und der iBook-Nachfolger MacBook auf den Markt. Mit der Einführung des Mac Pro als Nachfolger des Power Mac am 7. August 2006 wurde der Umstieg auf Intel-Prozessoren abgeschlossen. Seit 2007: iPhone und iPad Im Januar 2007 stellte Apple im Rahmen der Macworld San Francisco den Apple TV und das iPhone vor. Steve Jobs erklärte, dass Apple zusätzlich zum iPod nun zwei weitere Produktkategorien abseits des traditionellen Computer-Geschäfts habe. Um dies widerzuspiegeln, wurde das Unternehmen von Apple Computer, Inc. in Apple Inc. umbenannt. Apple erweiterte im Januar 2010 mit der Vorstellung des Tablet-Computers iPad seine iOS-Produktlinie erneut. Smartphones und Tablets mit den Betriebssystemen iOS oder Android dominieren (Stand 2021) seitdem die Märkte für Smartphones und Tablets. Im August 2011 trat Steve Jobs aus gesundheitlichen Gründen als CEO zurück; sein Nachfolger wurde Tim Cook. Die letzten Jahre unter Jobs sowie die ersten Jahre unter Cook waren vor allem durch den großen Erfolg der iOS-Geräte geprägt, die im Geschäftsjahr 2015 mehr als drei Viertel des Umsatzes ausmachten und Apple zu einem der größten und finanziell erfolgreichsten Unternehmen der Welt machten. Die Mac-Sparte, deren Betriebssystem 2012 in OS X (und später, 2016, in macOS) umbenannt wurde, wuchs in jener Zeit stetig, aber vergleichsweise langsam, während die iPods rasch an Bedeutung verloren. Im September 2014 wurde mit der Apple Watch eine neue Produktkategorie vorgestellt. Das Geschäftsjahr 2016 schloss Apple zum ersten Mal seit 2001 mit einem Umsatzrückgang ab. Der Umsatz lag bei 215,6 Milliarden Dollar (minus acht Prozent), der Gewinn bei 45,7 Milliarden Dollar. Auch in der Volksrepublik China waren die Zahlen rückläufig, hier brachen die Umsätze im ersten Quartal 2017 um mehr als 12 % ein. Das Geschäftsjahr 2018 schloss Apple mit einem Umsatz von 229,23 Milliarden US-Dollar ab. Das Geschäftsjahr 2019 schloss Apple mit einem Gewinn von 55,26 Milliarden US-Dollar. Rechtsstreit mit Qualcomm Seit dem Beginn des Jahres 2017 befindet sich Apple in einem weltweiten Rechtsstreit mit dem Halbleiterhersteller Qualcomm, der eine monopolähnliche Stellung bei Baseband-Prozessoren für Smartphones innehat. Der Rechtsstreit begann 2017, als Apple Qualcomm auf Zahlung von einer Milliarde Euro verklagte. Apple wirft Qualcomm überhöhte Lizenzgebühren und zurückbehaltene Rabatte vor. Qualcomm wiederum warf Apple die Verletzung seiner Patente vor und verklagte es weltweit. Als Hintergrund des Rechtsstreits gilt Folgendes: Apple bezieht Mikrochips nicht direkt von Qualcomm, sondern über Produktionspartner in China. Diese bezahlen Lizenzgebühren an Qualcomm, die sie Apple in Rechnung stellen. Aber auch Apple selbst zahlt neben den Produktionspartnern Lizenzgebühren an Qualcomm. Diese beziehen sich auf die Endprodukte. Hinsichtlich dieser Lizenzgebühren, die Apple an Qualcomm zahlt, gewährt Qualcomm wiederum Apple Rabatte. Diese begründet Qualcomm damit, dass es an Apples Produktionspartner verkaufe. Nach der Vertragsbeziehung können die Rabatte im Falle von Rechtsstreitigkeiten zwischen Apple und Qualcomm entfallen. Weil Apple mit der südkoreanischen Kartellbehörde kooperierte, die gegen Qualcomm ermittelte, hielt Qualcomm die Rabatte zurück. Apple verklagte Qualcomm im Januar 2017 auf Zahlung der Rabatte und Rückzahlung überhöhter Lizenzgebühren. Apple warf Qualcomm außerdem vor, an Verkäufen und Lizenzgebühren doppelt zu verdienen. Im März 2019 urteilte ein kalifornisches Gericht, dass die Forderung Apples gegen Qualcomm in Höhe von einer Milliarde Euro weiterhin offen sei. Qualcomm verklagte Apple dann weltweit und machte die Verletzung diverser Patentrechte durch Apple geltend. Deutschland war unter den ersten Staaten, in denen Qualcomm klagte. Am 20. Dezember 2018 erwirkte Qualcomm vor dem Landgericht München gegen Apple für Deutschland ein Verkaufsverbot für das iPhone 7, das iPhone 8 und das iPhone X wegen Verletzung eines Europäischen Patents zur Stromversorgung für elektrische Verstärker. Qualcomm löste dieses Verkaufsverbot am 3. Januar 2019 durch Hinterlegung einer Sicherheitsleistung in Höhe von 1,34 Milliarden Euro aus. Das LG München wies fünf weitere Klagen Qualcomms gegen Apple wegen Patentrechtsverletzungen (darunter vier Klagen zu Spotlight & Suchen und Siri) ab. Das Landgericht Mannheim wies eine weitere Klage wegen Patentrechtsverletzung ab. Am 27. März 2019 wurde bekannt, dass Apple im Rahmen eines weiteren Patentrechtsstreits ein Verkaufsverbot einiger iPhone-Modelle in den USA drohen könnte. Unternehmen Name Der Name Apple Computer war die Idee von Steve Jobs, Wozniak war damit zunächst nicht einverstanden. Da beiden innerhalb einer selbst gesetzten Frist kein anderer Name einfiel, meldete Jobs das Unternehmen als „Apple Computer“ an. Jobs selbst erklärte dazu: Diese zweite Erklärung bestätigt Steve Wozniak in seiner Autobiografie iWoz. Rechtsstreite Im Jahr 1981 führte der Unternehmensname erstmals zu Konflikten mit dem Beatles-Label „Apple Records“. Apple vermied einen Prozess um den Namen, indem sie zusicherten, sich nicht in der Musikindustrie zu betätigen. Da die Apple-Rechner in den folgenden Jahren über immer weiter gehende Multimediafähigkeiten verfügten, kam es 1989 schließlich zu einem Rechtsstreit, der mit einer außergerichtlichen Einigung endete. Apples Verkauf des iPods und der Betrieb des iTunes Stores führten erneut zu einem Rechtsstreit, der im Februar 2007 beigelegt wurde. Apple ist seitdem Eigentümer aller Markenrechte am Namen „Apple“ und lizenziert bestimmte Rechte an das Musiklabel. Finanzielle Details wurden nicht genannt. Im September 2011 widersprach Apple der Einrichtung einer Markenanmeldung seitens des Bonner Cafés apfelkind. Dieses wollte sich ein Logo mit dem Schnittmuster eines Kopfes innerhalb eines Apfels sichern. Apple legte wegen „hochgradiger Verwechslungsgefahr“ Einspruch gegen die Eintragung des Logos beim Deutschen Patent- und Markenamt in München ein. Einen Kompromissvorschlag von Apple, die Logonutzung auf das Café zu beschränken – und das Logo insbesondere nicht für Hüllen für digitale Geräte, Computer- oder Videospiele zu nutzen – lehnte die Besitzerin ab und reagierte mit einer Gegenforderung, auf die Apple nicht einging. Am 17. September 2013 zog Apple den Einspruch beim Patentamt ohne Angabe von Gründen zurück, nachdem ein Vergleich mit dem Café gescheitert war. Apple-Logo Das erste Logo war eine Zeichnung im Stile eines barocken Kupferstichs, die Isaac Newton unter einem Apfelbaum sitzend zeigte – eine Anspielung auf die Entdeckung der Schwerkraft mithilfe eines Apfels. Der Entwurf stammte von Ron Wayne. Man stellte jedoch schnell fest, dass sich dieses viel zu kleinteilige Logo nur schlecht reproduzieren ließ, und so wurde es wieder verworfen. Die in Regenbogenfarben gestreifte, angebissene Apfelsilhouette wurde 1977 von Rob Janoff entworfen. Oft wurden darin Anspielungen auf Isaac Newton gesehen oder auf Alan Turing (siehe unten) oder ein Wortspiel mit dem englischen Wort bite („Biss“), das genauso klingt wie Byte, was Janoff aber verneinte. Warum ihn das Logo bis heute fasziniert und weshalb es so zeitlos ist, erklärt er so: „Es ist immer eine kleine Enttäuschung, wenn ich das erzähle, warum der Apfel so aussieht, wie er aussieht. Der Biss sollte klarmachen, dass es sich um einen Apfel handelt, nicht um eine Tomate“, lacht er „und außerdem kann jeder etwas mit der Vorstellung anfangen, herzhaft in einen Apfel zu beißen“. Während der Apple II die Farben darstellen konnte, wurde für andere Zwecke oft eine einfarbige Version des Logos verwendet. Beim Textteil des Logos kam die Schrift Motter Tektura von Othmar Motter zum Einsatz, erschienen bei Letraset Ltd. in Großbritannien. Bei den ersten Macintosh-Modellen kam lediglich der farbige Apfel als Bildlogo zum Einsatz. Ab der Betriebssystemversion 7 wurde das Logo in Form einer Wortmarke in Bitstream-Garamond dargestellt, womit die neue TrueType-Fähigkeit besser zur Geltung kam. Seit 1998 wird das Logo meist nur noch einfarbig dargestellt, jedoch in wechselnden Farben und teilweise mit Oberflächenstrukturen, je nach umgebendem Design. Die Erscheinung der auf den heutigen Produkten befindlichen Logos ist meist farblos. Sie heben sich nur durch ihre Oberflächenstruktur vom Untergrund ab. Im Rahmen einer Umweltschutzkampagne wird zeitweise, z. B. am Earth Day, das Blatt des Logos teilweise grün eingefärbt dargestellt, die Darstellung der Apple Stores wird dann ebenfalls angepasst. Es gab die urbane Legende, das Logo sei vom britischen Mathematiker Alan Turing inspiriert worden, der 1954 mit einem vergifteten Apfel Suizid beging. Steve Jobs wies das bei einem Interview zurück. Mitarbeiter Zwischen 1997 und 2011 war Jobs CEO von Apple. Nach seinem Rücktritt am 24. August 2011 übernahm Tim Cook, der zuvor als COO für das operative Geschäft zuständig war, diesen Posten. Andere hochrangige Manager sind Eddy Cue (Onlinedienste), Craig Federighi (Software), John Giannandrea (Maschinelles Lernen), Phil Schiller (Marketing) und Johny Srouji (Chipdesign). Vorsitzender (Chairman) des Board of Directors ist seit November 2011 Arthur D. Levinson (ehemaliger Chairman und CEO von Genentech). Weitere Mitglieder sind James Bell (ehemaliger Präsident und CFO von Boeing), Apple-CEO Tim Cook, Al Gore (ehemaliger Vizepräsident der USA), Robert Iger (ehemaliger Chair of the Board und CEO von Disney) und Andrea Jung (ehemals Chairwoman und CEO von Avon Products). Eric Schmidt (ehemals CEO von Google) verließ am 3. August 2009 das Board of Directors, da angesichts des zunehmenden Wettbewerbs zwischen Google und Apple Interessenskonflikte befürchtet wurden. Wichtige Apple-Mitarbeiter im Zusammenhang mit der Entwicklung von Lisa und Macintosh waren Jef Raskin (Usability-Spezialist), Andy Hertzfeld, Bill Atkinson und Susan Kare, die u. a. zahlreiche Icons für das Macintosh-System entwarf. Das Unternehmen beschäftigte im September 2022 rund 164.000 Mitarbeiter (gezählt in Vollzeit-Äquivalenten). Etwa die Hälfte der Angestellten arbeiten im Retail-Bereich. Das interne Bildungsprogramm für die Mitarbeiter trägt den Namen Apple University. Apple Stores Die Apple Stores verkörpern ein ungewöhnliches Konzept, bei dem sehr großer Wert auf die Interaktion der Besucher mit den Produkten gelegt wird. Um dies umzusetzen, können fast alle ausgestellten Produkte von den Kunden ausprobiert werden; Regale und ähnliche typische Elemente anderer Ladengeschäfte sind nicht vorhanden. Dieses Konzept wird als wesentlicher Grund für den Erfolg der Apple Retail Stores angesehen. Jeder Store verfügt über eine Genius Bar, an der Kunden von Apple-Produkten geholfen wird. Das Unternehmen betreibt weltweit über 500 Apple Retail Stores. Davon befinden sich mehr als die Hälfte in den USA, weitere Stores gibt es in etwa 20 anderen Ländern. In Deutschland gibt es insgesamt 16 Stores: je zwei in Berlin (Kurfürstendamm und Rosenthaler Straße), München (Innenstadt und OEZ), Hamburg (Jungfernstieg und Alstertal-Einkaufszentrum) und Köln (Rhein-Center und Schildergasse), sowie je ein weiterer in Frankfurt am Main (Freßgass), in Oberhausen (CentrO), in Dresden (Altmarkt-Galerie), in Augsburg (City-Galerie), in Sulzbach (Main-Taunus-Zentrum), in Sindelfingen (Breuningerland), in Düsseldorf (Kö-Bogen) und in Hannover (Bahnhofstraße). In der Schweiz existieren vier Apple Retail Stores; zwei in Zürich (Rennweg und Glattzentrum), einer in Genf und einer in Basel. In Wien (Kärntner Straße) wurde am 24. Februar 2018 der erste Apple Retail Store Österreichs eröffnet. Die 2004 vorgestellten „Mini“ Retail Stores wurden vom Design-Studio Eight Inc. entworfen. Bis 2013 wurden alle Mini Retail Stores durch Geschäfte von regulärer Größe ersetzt. Finanzdaten Das Unternehmen zählt, gemessen an verschiedenen betriebswirtschaftlichen Kennzahlen, zu den größten Unternehmen der Welt. Gemessen an der Marktkapitalisierung ist Apple laut der Liste von PricewaterhouseCoopers seit September 2011 mit kurzen Unterbrechungen das wertvollste Unternehmen der Welt. Laut der Liste Fortune Global 500 war Apple 2020 auf Platz 12 der umsatzstärksten Unternehmen der Welt. Gemessen am Gewinn war Apple gleichzeitig auf Platz 3 der in den Forbes Global 2000 gelisteten Unternehmen. Auf den von den Marktforschungsinstituten Millward Brown und Interbrand zusammengestellten Listen der wertvollsten Marken nimmt die Marke Apple seit einigen Jahren Platz 1 oder 2 ein. Als erstes Unternehmen überhaupt erreichte Apple am 3. Januar 2022 – dem ersten Handelstag des neuen Jahres – eine Marktkapitalisierung von über 3 Billionen US-Dollar. Am 24. Februar 2022 begannen russische Truppen den Überfall auf die Ukraine; die Energiepreise und Lebensmittelpreise stiegen in vielen Ländern der Erde. Die Aktienkurse von öl-und-gasfördernden Unternehmen stiegen stark; im Mai 2022 überholte Saudi Aramco Apple als höchstbewertetes Unternehmen der Welt. Apples Börsengang fand am 12. Dezember 1980 statt. Die Aktie wird unter dem Kürzel „AAPL“ an der New Yorker Börse NASDAQ gehandelt und ist Bestandteil der Aktienindizes NASDAQ-100, S&P 500 und Dow Jones. Apple schüttete ab 1995 keine Dividenden aus; dies wurde um 2010 angesichts hoher Geldreserven von einigen Aktionären zunehmend kritisiert. Nachdem die Finanzreserven des Konzerns auf etwa 100 Milliarden US-Dollar angestiegen waren, kündigte Apple im März 2012 an, ab Juli 2012 eine Dividende in Höhe von zunächst 0,38 US-Dollar im Quartal zu zahlen. Gleichzeitig kündigte Apple an, eigene Aktien im Wert von 10 Mrd. US-Dollar zurückzukaufen. Bis April 2016 erhöhte Apple das Aktienrückkaufprogramm in mehreren Schritten auf einen Gesamtumfang von schließlich 175 Mrd. US-Dollar bis März 2018. Gleichzeitig wurde die Dividende auf schließlich 0,57 US-Dollar pro Quartal angehoben. Produkte Apple entwirft Software und Hardware. Hardware lässt Apple zum größten Teil von Auftragsfertigern in und aus Taiwan herstellen, u. a. von Foxconn, Quanta und Pegatron. Die Produkte werden oft als innovativ angesehen und besitzen meist ein funktionales Design. Die klare und schnörkellose Linienführung ist durch Produkte des deutschen Elektrogeräteherstellers Braun inspiriert, die von Chefdesigner Dieter Rams und seinem Team entworfen wurden. Software Betriebssysteme Apples erste Betriebssysteme waren die in den Apple-II- und Apple-III-Baureihen verwendeten Systeme Apple DOS, SOS und ProDOS. Diese waren kommandozeilenorientiert, wie damals (Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre) üblich. 1983 stellt Apple mit dem Lisa OS eines der ersten kommerziell erhältlichen Betriebssysteme vor, das vollständig über eine grafische Oberfläche bedient wurde. 1984 wurde mit dem Macintosh das erste grafische Betriebssystem auf den Markt gebracht, das sich in großem Umfang verkaufte. Zwei Jahre später wurde der Apple IIgs vorgestellt, dessen Betriebssystem GS/OS viele Funktionen des Macintosh-Betriebssystems übernahm. Mit der Einstellung der Apple-II-Produktlinie Anfang der 1990er Jahre konzentrierte sich Apple auf die Macintosh-Reihe, deren Betriebssystem bis Version 7 schlicht „System“ und später „Mac OS“ genannt wurde. Mac OS 9 erschien im Jahr 1999. Sein Nachfolger, Mac OS X, übernahm Teile der Oberfläche, basiert jedoch auf einem vollkommen anderen Betriebssystemkern. Mit Version 10.8 wurde Mac OS X in OS X, und 2016 mit Version 10.12 in macOS umbenannt. Eine Servervariante, macOS Server (früher: OS X Server bzw. Mac OS X Server), ist erhältlich, wird jedoch ab Version 10.7 nicht mehr als eigenständige Betriebssystem-Distribution vertrieben, sondern kann über den App Store nachinstalliert werden. Auf dem iPhone kommt das Betriebssystem iOS und auf dem iPad das System iPadOS zum Einsatz, welche den Betriebssystemkern mit macOS teilen, jedoch über eine für Touchscreens angepasste Nutzeroberfläche verfügen. Auch die Betriebssysteme für das Apple TV (tvOS) und die Apple Watch (watchOS) sind technisch eng mit iOS und macOS verwandt, verfügen jedoch über jeweils eigene Oberflächen. Anwendungen Apple liefert mit den Betriebssystemen macOS und iOS Programme für viele häufige Anwendungsfelder mit, etwa den Webbrowser Safari, das Fotoverwaltungs- und bearbeitungsprogramm Fotos, den Instant Messenger Messages (im deutschsprachigen Betriebssystem als Nachrichten bezeichnet) oder Mail, Kontakte und Kalender. Zusätzlich können auf jedem neu gekauftem Mac oder iOS-Gerät das Videoschnittprogramm iMovie, das Musikprogramm GarageBand, das Textverarbeitungsprogramm Pages, das Präsentationsprogramm Keynote und das Tabellenkalkulationsprogramm Numbers kostenlos heruntergeladen werden. Außerdem entwickelt das Unternehmen mit Logic Pro (Audio und Sequencing) und Final Cut Pro (Videoschnitt) Software für die professionelle Audio- und Videobearbeitung. Die Entwicklung von Aperture (Fotobearbeitung und -verwaltung) wurde im April 2015 eingestellt. Open Source Das Unternehmen veröffentlicht den Quellcode von Darwin, der gemeinsamen Grundlage von macOS und iOS, unter der APSL. Zudem nutzen macOS und iOS sowie die Entwicklerwerkzeuge verschiedene Open-Source-Projekte, an deren Entwicklung Apple sich beteiligt. Hierzu zählen die Browser-Engine WebKit, die im mobilen Bereich führend ist, die Programmiersprache Swift, die Compiler-Backend-Infrastruktur LLVM und insbesondere Clang (C/C++/Objective-C-Frontend) sowie Teile von Grand Central Dispatch, einer Bibliothek, die es Softwareentwicklern erleichtern soll, Prozessorlast besser auf die Prozessorkerne zu verteilen. Computer Desktops Das Unternehmen stellt derzeit vier verschiedene Desktop-Rechner her. Der iMac, bei dem Rechner und Bildschirm in einem Gehäuse kombiniert sind, und der günstigere Mac mini richten sich an normale Nutzer, während der Mac Pro und der Mac Studio (wie einst der iMac Pro) auf rechenintensive Aufgaben wie professionelle Videobearbeitung ausgerichtet ist. Der Mac Pro und der Mac Studio beschreiben im Gegensatz zum iMac nur einen Computer ohne Monitor. Notebooks Apples erster tragbarer Rechner war 1989 der mehr als 7 kg schwere Macintosh Portable. Zwei Jahre später führte das Unternehmen mit dem PowerBook die bis heute übliche Notebook-Bauform mit zurückgesetzter Tastatur und Handballenauflage ein. Derzeit stellt Apple zwei verschiedene Notebooks her: das MacBook Air und das MacBook Pro. Mobile Geräte iPod Am 23. Oktober 2001 stellte das Unternehmen den iPod vor, im Laufe der Jahre kamen mehrere Modelle hinzu. Er etablierte sich als Marktführer unter den MP3-Playern. Bis September 2012 wurden mehr als 350 Millionen Stück verkauft. Der iPod classic wurde im September 2014 eingestellt, die Varianten iPod shuffle und iPod nano wurden 2017 vom Markt genommen. Zuletzt bot Apple nur noch den iOS-basierten iPod touch an, dessen Produktion im Mai 2022 eingestellt wurde. Anschließend wurden Restbestände abverkauft. iPhone Am 9. Januar 2007 stellte das Unternehmen das iPhone vor, im Herbst des Jahres folgte der erste iPod mit Touchscreen, der iPod touch. Beide nutzen das gleiche Betriebssystem, welches zunächst als iPhone OS bezeichnet und im Sommer 2010 mit Version 4.0 in iOS umbenannt wurde. Ein erster großer Wandel kam mit dem iPhone 4 im Jahr 2010. Das letzte von Steve Jobs vorgestellte iPhone hatte jetzt ein kantiges Design und war sowohl das erste iPhone mit einer Glasrückseite als auch mit einem Apple-eigenen Prozessor, dem Apple A4. Außerdem war es das erste iPhone mit einer Frontkamera. Mit dem iPhone 4s erschien Apples digitaler Sprachassistent Siri. Das iPhone 5c im Jahr 2013 war dann das erste iPhone im Mittelklasse-Bereich, das iPhone 5s unterstützte erstmals den Mobilfunkstandard LTE. Ein Jahr später brachte Apple beim iPhone 6 dann wieder das Design mit den abgerundeten Kanten zurück, außerdem gab es mit dem iPhone 6 Plus zum ersten Mal eine größere iPhone-Variante. Mit dem iPhone 6s führte Apple dann 3D-Touch ein. 2016 erschien das erste iPhone SE, ein Mittelklasse-iPhone, welches 2020 und 2022 jeweils Nachfolger erhielt. Beim iPhone 7 verschwand der 3,5-mm-Klinkenanschluss und der physische Home-Button, der durch einen 3D-Touch Home-Button ersetzt wurde, beim Plus-Modell verbaute Apple erstmals eine Dualkamera, mit einem Weitwinkel- und Teleobjektiv. Während das iPhone 8 im Vergleich zum Vorgänger relativ unverändert blieb, überarbeitete Apple das iPhone mit dem iPhone X erstmals grundlegend. Der Home-Button entfiel komplett und Apple wechselte zu einem All-Screen-Design, wodurch auch der Fingerabdrucksensor Touch-ID durch Face-ID, die neue Gesichtserkennung ersetzt wurde, die in einer Aussparung im Display, der sogenannten Noch untergebracht war. Ein Jahr später erfolgte dann ein genereller Wechsel im Lineup, welches nun aus dem günstigerem iPhone XR, dem Flaggschiff iPhone XS und dem größeren iPhone XS Max bestand. 2019 löste dann das iPhone 11 das iPhone XR ab, auf das iPhone XS und XS Max folgten das iPhone 11 Pro und Pro Max, bei dem Apple erstmals eine Triple-Kamera verbaute. Beim iPhone 12 gab es dann vor allem Änderungen beim Design, denn wie beim iPhone 4 war der Rahmen von nun an wieder kantig gestaltet und auch gab es mit dem iPhone 12 mini wieder ein kleineres iPhone, alle iPhone-12-Modelle unterstützen den Mobilfunk Standard 5G. Beim iPhone 13 behielt Apple das Lineup der Vorgängergeneration bei, größere Neuerungen waren die seit dem iPhone X erstmals verkleinerte Notch und das adaptive 120-Hertz-Display bei den Pro Modellen. Das iPhone 14 Pro und 14 Pro Max erschienen 2022 dann ganz ohne eine Notch, welche durch „Dynamic Island“ ersetzt wurde, bei der Kamera verbaut Apple erstmals einen 48-Megapixel-Hauptsensor. Das iPhone 14 Plus ist dann wieder eine größere Variante des normalen iPhones. Gemessen an der Anzahl der verkauften Geräte war Apple zur Jahresmitte 2018 die drittgrößte Marke von Mobiltelefonen und als Hersteller der viertgrößte Hersteller von Mobiltelefonen (nach Samsung, Huawei mit den Marken Huawei und Honor sowie BBK Electronics mit den Marken Oppo, Xiaomi, Vivo und OnePlus). iPad Anfang 2010 stellte das Unternehmen das iPad vor, ein Tablet, auf dem ebenfalls iOS lief. Im Oktober 2012 wurde zudem das iPad mini vorgestellt, welches über einen kleineren Bildschirm als das normale iPad verfügt. Am 9. September 2015 wurde das iPad Pro vorgestellt, das einen um 70 % größeren Bildschirm hat. Am 1. November 2013 wurde dann das iPad Air vorgestellt, welches sich zwischen dem normalen iPad und dem iPad Pro einreiht. Bis zum Wechsel auf das eigene Betriebssystem iPadOS 2019 kam bei den iPads ebenfalls IOS zum Einsatz. Ähnlich wie schon beim iPhone X erschien mit dem iPad Pro erstmals ein komplett überarbeitetes iPad, mit einem kantigen Rahmen und ohne einen Home-Button. Bis 2022 wechselten dann auch das iPad Air 2020, das iPad Mini 2021 und das normale iPad 2022 zum neuen Design. Während das iPad Pro über Face-ID verfügt befindet sich Touch-ID bei den anderen iPads im Power-Button oben. Alternativ können die iPads auch mit dem Apple Pencil, einem Stylus, der magnetisch an der Seite haftet, und bei der 2. Generation dort auch kabellos geladen werden kann, bei der 1. Generation wird der Stylus über den Lightning-Anschluss geladen. Apple Watch Die Apple Watch ist eine Smartwatch, die am 9. September 2014 angekündigt wurde und seit dem 24. April 2015 erhältlich ist. Die neueste Series 8 wurde am 9. September 2022 vorgestellt. Des Weiteren hat Apple mit der Apple Watch SE seit 2020 auch noch eine günstigere Apple Watch im Lineup. 2022 wurde dann mit der Apple Watch Ultra eine Outdoor-Version auch für extreme Bedingungen vorgestellt. Apple TV Das im September 2006 vorgestellte Apple TV lief zuerst mit einer modifizierten Version von Mac OS X; seit die Hardware im September 2010 runderneuert wurde, läuft auf dem Apple TV eine iOS-Variante mit angepasster Nutzeroberfläche. Ab der 2015 vorgestellten 4. Generation des Apple TV wird das Betriebssystem als tvOS bezeichnet und verfügt über einen App Store. Bedient wird der Apple TV mit der Apple Remote. Onlinedienste App Store – Plattform zum Anbieten und Laden von Programmen für die Betriebssysteme iOS, iPadOS, watchOS, tvOS und macOS iTunes Store – in iTunes integrierte Onlineplattform zum Kauf von Musik, Spielfilmen und anderen Multimedia-Inhalten iCloud – teilweise kostenloser Cloud-Computing-Dienst, mit dem beispielsweise Mails, Termine, Kontakte und Fotos zwischen allen eigenen Endgeräten (iPod, iPhone, Mac und Windows-Computer) synchronisiert werden können Apple Music – Musikstreamingdienst, der mit iOS 8.4 am 30. Juni 2015 in 100 Ländern gestartet wurde Apple Arcade – Videospiele-Abonnement-Service Apple TV+ – Video-on-Demand-Service Apple Fitness+  – Fitness-Dienst, der Workout-Videos anbietet und mithilfe von Apple-Geräten aufzeichnet Peripheriegeräte und Unterhaltungselektronik Das Unternehmen stellt verschiedene Peripheriegeräte her, darunter Bildschirme (Apple Pro Display XDR, früher Apple Thunderbolt Display und Apple Cinema Displays), Kopfhörer (AirPods) und Smart Speaker (HomePod), Eingabegeräte wie Mäuse, Tastaturen (u. a. Wireless Keyboard) und das sogenannte Magic Trackpad. Apple entwickelte zudem die FireWire-Schnittstelle zur Anbindung von Geräten wie Videokameras oder Festplatten, die später unter dem Namen „IEEE 1394“ zu einem Industriestandard wurde. Heute wird diese Schnittstelle zunehmend durch Thunderbolt ersetzt, sodass es die FireWire-Schnittstelle in den Produkten der neuen Generationen nicht mehr gibt. Früher bot das Unternehmen weitere Peripheriegeräte wie WLAN-Geräte (AirPort und Time Capsule), Drucker (u. a. StyleWriter und LaserWriter) und Scanner, Digitalkameras (u. a. QuickTake und iSight), das iPod Hi-Fi oder eine Dockingstation und mehrere Adapter an. Auch eigenständige Geräte wie der PDA Newton, die Spielekonsole Apple Pippin oder der CD-Player PowerCD wurden verkauft. Viele dieser Geräte waren keine Eigenentwicklungen, sondern wurden von anderen Herstellern in Apples Auftrag produziert. Barrierefreiheit Das Unternehmen stattet seine Produkte mit dem Screenreader VoiceOver aus, der es blinden und sehbehinderten Nutzern ermöglicht, die Geräte ohne fremde Hilfe nach dem Kauf selbstständig in Betrieb zu nehmen und zu benutzen. Ferner kann sowohl unter macOS als auch unter iOS eine sogenannte Braillezeile angeschlossen werden, die den Bildschirminhalt in Punktschrift ausgibt. Neben der Ausgabe des Bildschirms in gesprochener Sprache und Punktschrift beinhalten die Bedienungshilfen optische Anpassungsmöglichkeiten und eine Zoom-Funktion für Menschen mit ausreichendem Sehrest sowie weitere Bedienungshilfen für Hörgeschädigte und von anderen Behinderungen Betroffene. Das Unternehmen hat als erster Computerhersteller alle angebotenen Geräte softwareseitig barrierefrei gemacht. Der US-Blindenverband National Federation of the Blind (NFB) lobte Mitte 2014 Apples Engagement im Bereich der Barrierefreiheit und betonte, dass Apple mehr als jeder andere Hersteller hierfür getan habe. Produktdesign Grundprinzipien der Produktgestaltung Prinzip der Einfachheit Apples Produkt-Design ist gekennzeichnet durch seine Schlichtheit und Einfachheit. Beispielsweise besitzen alle iPhone-Modelle vor dem iPhone X auf der Vorderseite nur ein Bedienelement und das Display, alle Modelle nach dem iPhone X verfügen über keine Bedienelemente mehr auf der Vorderseite. Der iPod weist auch eine starke Reduktion auf, welche an der klaren Trennung zwischen Ein- und Ausgabe erkennbar ist. Das Prinzip zeigt sich auch in der begrenzten Anzahl von Kabeln, da Apples Tastaturen und Mäuse sich durch Bluetooth verbinden lassen. Ähnlich wie die deutsche Firma Braun verfolgt auch Apple den Leitspruch „Weniger ist mehr“ und beschränkt sich bei der Produktgestaltung nicht nur auf das Aussehen, sondern auch auf die technischen Eigenschaften. Dies äußert sich beispielsweise in der grafischen Benutzeroberfläche, welche eine vergleichsweise geringe Anzahl an Bedienelementen aufweist. Die Reduktion war gerade in Apples Anfangszeit von funktionaler Bedeutung, damit Computerneulinge ein Verständnis zum Bedienen der Produkte hatten. Als Folge daraus steht die Designabteilung gegenwärtig im Zentrum aller unternehmerischen Entscheidungen. Prinzip der Integration Das Prinzip der Integration beschreibt eine Zusammenarbeit von technischer Forschung, klassischem Produktdesign und Entwicklung. „Some people think that design means how it looks. But of course, if you dig deeper, it’s really how it works“ – Steve Jobs. Laut Steve Jobs sind die Designer dabei nicht nur Gestalter einer Hülle oder Oberfläche, sondern arbeiten an innovativen Lösungen für das gesamte Bedienkonzept. Die designgetriebene Produktentwicklung ist damit die treibende Kraft in einem Unternehmen und ist für die Produktstrategie von großer Bedeutung. Prinzip der Obsoleszenz Das Prinzip der Obsoleszenz beschreibt einen planmäßigen Ersatz von Produkten. Die Begrenzung der Lebensdauer eines Produkts verkürzt somit die Zeit zur Wiederbeschaffung und der entstehende Umsatz erhöht sich. „Apples Strategie des Produktersatzes ist keine funktionale, sondern eine, die auf Design setzt: ästhetische Obsoleszenz.“. Apple produziert keine Endgeräte, die nach einer bestimmten Nutzungszeit die Funktion einstellen. Das Unternehmen versucht, die Kunden ohne technische Gründe zum freiwilligen Ersatz zu überzeugen, indem sie den Konsumenten über das Design zum Kauf animieren. Es wird die Strategie der Alterung angewendet, bei der die Kunden empfinden, dass ihr bisheriges Produkt veraltet sei und aufgrund des wesentlich veränderten Designs des neuen Produkts der Wunsch des Erwerbs erzeugt wird. Das neue Produkt besitzt neue technische Eigenschaften und ein neues Design, beispielsweise hatte die erste Generation des iPhones nur sehr wenige technische Besonderheiten: kein GPS, einen geringen Speicherplatz und keine Möglichkeit zur Installation von Drittherstellersoftware. Der erlangte Umsatz finanzierte die Entwicklung und Forschung weiterer Technologien, die jährlich hinzugefügt wurden und erzeugt gegenwärtig beim Kunden den Wunsch nach dem nächsten Modell. „Deutlich wird dies beim iPod, der im Jahr 2001 mit ungewöhnlich weißen Kopfhörern geliefert wurde.“ Die Werbepsychologie der Reaktanz verstärkt die Obsoleszenz: Am ersten Verkaufstag wird eine limitierte Stückzahl an neuen Produkten ausgeliefert und gleichzeitig als ausverkauft gemeldet. Diese Strategie erzeugt beim potenziellen Kunden eine Einschränkung in der Wahlfreiheit und wertet zusätzlich das neue Produkt auf. Materialien des Apple-Designs Die Materialwahl ist neben ökonomischen, ökologischen und funktionalen Aspekten auch aus der Perspektive des Produktdesign entscheidend. „Der Umgang mit Werkstoffen zählt zu den wichtigsten Innovationen des Designteams bei Apple.“ Im letzten Jahrhundert wurden zahlreiche neue Werkstoffe entwickelt, welche die Auswahl für Designer vergrößert. Jonathan Ive, Apples langjähriger Chief Design Officer, experimentierte oft mit traditionellen Materialien und setzte sie auf eine ungewöhnliche Art beim Design ein. Aufgrund der Reduktion bei einer neuen Produktgestaltung kam Jonathan Ives Team 2008 auf ein Herstellungsverfahren, welches zu einer neuen Formgebung, dem sogenannten „Unibody-Design“, führte. Jonathan Ive erklärte, dass anstatt der Schichtung von mehreren Blechen das neue Verfahren von einem dicken Metallblock ausgehe. Die entstehende Bezeichnung „Unibody“ bedeutet, dass aus Aluminiumblöcken dreidimensionale Gehäuse gefräst werden.„Eines der fantastischen Dinge an Aluminium ist seine Wiederverwendbarkeit. Und in jeder einzelnen Phase sammeln wir ständig das Material, reinigen es und recyceln es.“-Jonathan Ive. Der Vorteil besteht darin, dass das technische Innenleben berücksichtigt wird und somit weniger Produktionsschritte benötigt werden. Das Gehäuse ist zudem stabiler und hat durch den Verzicht auf Zusatzteile keine Nahtstellen. Bereits im Jahr 1998 feierte das Unternehmen Apple durch seine Materialwahl einen großen Erfolg. In diesem Jahr stellte die Firma die ersten iMac-Computer vor. Das Besondere dieser Produkte war, dass die Gehäuse aus farbigem lichtdurchlässigem Kunststoff gefertigt wurden. Kunststoffe waren zu dieser Zeit im Computerbereich meistens mit beiger Farbgebung auf dem Computermarkt verbreitet. Jonathan Ive entwickelte eine dem Interieur angepasste Gestaltung des Gehäuses, sodass der Konsument nach eigenem Belieben aus unterschiedlichen Farben auswählen konnte. Diese Möglichkeit bewirkte eine Emotionalisierung beim Kunden, wodurch die Hemmschwelle der Computerneulinge zum Kauf des neuen Produkts verringert wurde. Im Laufe der Zeit meldete der Konzern Apple zahlreiche Patente an, die sich auf die Verwendung von Werkstoffen beziehen. Resultierend lässt sich sagen, dass Apple gegenwärtig weiterhin versucht, innovative Materialien einzusetzen. Als Beispiel sei das 2010 vorgestellte iPhone 4 genannt. Die Vorder- und Rückseite dieses iPhones sind aus einem Glas, aus dem auch die Windschutzscheiben von Hochgeschwindigkeitszügen bestehen. Apple warb zu dieser Zeit mit einem ultrarobusten und kratzfesten Display. Die Materialien tragen damit zum Alleinstellungsmerkmal Apples in der Elektronik-Industrie bei. Kritik Arbeitsbedingungen bei Zulieferfirmen Apple lässt viele Produkte von Auftragsfertigern in Asien produzieren, deren Arbeitsbedingungen westlichen Standards nicht entsprechen. Arbeitsrechtliche und gesundheitliche Belange werden oft unzureichend berücksichtigt. Im Jahr 2006 berichtete die britische Zeitung Mail on Sunday über erzwungene Überstunden und Unterschreitungen des gesetzlichen Mindestlohns in zwei Foxconn-Werken. Eine Untersuchung von Apple widersprach dem, stellte jedoch Verstöße gegen den Apple-eigenen Verhaltenskodex für Zulieferer fest. Daher schloss Apple sich dem Industrieverband EICC an, der einheitliche Verhaltensregeln und Prüfinstrumente definiert, und begann die Zusammenarbeit mit der Nichtregierungsorganisation Verité. Seit 2007 veröffentlicht Apple jährlich Berichte über im Vorjahr durchgeführte Überprüfungen von Zulieferbetrieben. Auch in den folgenden Jahren gab es immer wieder Berichte über schlechte Arbeitsbedingungen bei Zulieferbetrieben. Die von Greenpeace unterstützten Public Eye Awards nominierten Foxconn 2011 für einen Negativpreis, da „Dumpinglöhne“ und „unethische bis illegale“ Arbeitsbedingungen zu mindestens 18 Selbstmorden junger chinesischer Wanderarbeitern geführt hätten. Anfang 2012 trat Apple der Fair Labor Association bei, die im März die Ergebnisse einer unabhängigen Untersuchung der Arbeitsbedingungen bei Foxconn veröffentlichte. In zwei weiteren Untersuchungen seitdem stellte die FLA fest, dass alle im ersten Bericht empfohlenen Maßnahmen umgesetzt wurden. Neben Arbeitszeitverkürzungen und ergonomischen Maßnahmen wurde so etwa der Organisationsgrad in Gewerkschaften stark erhöht. Seit 2012 überwacht Apple Wochenarbeitszeiten von mehr als einer Million Arbeiter in Zulieferbetrieben und veröffentlicht diese Daten im Internet. Nach Firmenangaben sank die Häufigkeit der Verstöße gegen die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 60 Stunden von 35 % im Jahr 2006 auf rund 8 % im Jahr 2014. Dem widerspricht ein Bericht der BBC (Apple’s Broken Promises) von Ende 2014, bei dem als Arbeiter getarnte BBC-Reporter bei Foxconn mit versteckter Kamera unter anderem 12-Stundenschichten für das iPhone 6 und die Überbelegung der Arbeiterheime und die ungeschützte Arbeit mit gefährlichen Chemikalien bewiesen. Im Februar 2020 listete ein Bericht des Australian Strategic Policy Institute Apple als ein Unternehmen auf, das „potentiell direkt oder indirekt von uigurischer Zwangsarbeit profitiert“. Im gleichen Jahr bemühten sich Lobbyisten des Apple-Konzerns, den „Uyghur Forced Labor Prevention Act“ zu schwächen, ein US-Gesetz, um auf die Zwangsarbeit in Xinjiang, China zu reagieren. Dieses Gesetz würde Hersteller für Zwangsarbeit bei Zulieferern transitiv haftbar machen – auch Subunternehmer der Zulieferer betreffend. Im Mai 2021 deckte The Information auf, dass die Region Xinjiang für Apple eine größere Rolle spiele als bisher angenommen. Demnach wären mindestens fünf Einrichtungen mit der Produktion für Apple betraut, in denen „Tausende von Uiguren“ beschäftigt seien und die „Gefängnissen ähnelten“. Apple hingegen betonte, man habe keine Hinweise auf Zwangsarbeit in der eigenen Lieferkette. Umweltschutz Das Unternehmen sah sich Vorwürfen von mehreren Umweltschutzorganisationen, darunter Greenpeace, ausgesetzt. Der im August 2006 erstmals veröffentlichte Guide to Greener Electronics kritisierte anfangs insbesondere die Verwendung von damals industrieweit üblichen, giftigen Chemikalien wie PVC oder bromhaltigen Flammschutzmitteln sowie die Tatsache, dass Apple keine Pläne zum Verzicht auf diese Chemikalien veröffentlicht hatte. Zudem wurde bemängelt, dass Apple in einigen Ländern keine alten Produkte zum Recycling annimmt. Kritiker, darunter das Online-Magazin treehugger.com, wiesen auf methodische Mängel hin. Unter anderem habe Greenpeace zu großen Wert auf öffentliche Absichtserklärungen der Unternehmen gelegt. Im 2017 von Greenpeace herausgebenden Guide to Greener Electronics belegt Apple allerdings den zweiten Platz hinter der Firma Fairphone. Jobs hat auf die Vorwürfe von Greenpeace im Mai 2007 erwidert, dass er Apple im Bereich des Umweltschutzes führend machen wolle. In seinem Text A Greener Apple führte Jobs bereits erreichte Erfolge auf und kündigte weitere Maßnahmen für den Umweltschutz an. Apples Entscheidung, die US-amerikanische Handelskammer wegen ihrer Fundamentalopposition gegen ein Klimaschutzgesetz zu verlassen, stieß bei Umweltschutzverbänden auf Zustimmung. Im November 2012 lag das Unternehmen in einer aktualisierten Version des Guide to Greener Electronics auf Platz 6 von 16 untersuchten Konzernen. Während Greenpeace den weitgehenden Verzicht auf schädliche Chemikalien sowie eine hohe Recyclingrate positiv bewertete, bemängelte die Organisation vor allem, dass Apple keine ausreichenden Absichtserklärungen zum Umstieg auf erneuerbare Energien und zur Vermeidung von Treibhausgasen sowie zur Verwendung von recyceltem Plastik und Papier veröffentliche. Im Juli 2012 zog sich das Unternehmen aus dem Programm Electronic Product Environmental Assessment Tool (EPEAT) zurück. Das bedeutet, dass die Produkte des Unternehmens nicht mehr nach den EPEAT-Richtlinien zertifiziert werden, wie es seit 2007 getan wurde. Die Entscheidung wurde öffentlich stark kritisiert, da das EPEAT-Zertifikat für die Beschaffung von Endgeräten durch Bundes- und Landesbehörden der USA notwendig ist. In einer offiziellen Stellungnahme wies das Unternehmen darauf hin, dass die eigenen Produkte besonders in Punkten gut abschneiden würden, die von EPEAT nicht berücksichtigt würden. Wenige Tage nach der Stellungnahme erklärte Apple, der Ausstieg aus EPEAT sei ein Fehler gewesen. Die Zertifizierung für sämtliche betroffenen Geräte werde fortgesetzt. Im Frühjahr 2013 stellte das Unternehmen Lisa Jackson, die langjährige Chefin der US-Umweltschutzbehörde EPA, als Koordinatorin für Umweltschutz-Aktivitäten ein. In einem im April 2014 veröffentlichten Bericht erklärte Greenpeace, dass Apple das einzige untersuchte Unternehmen war, das alle Rechenzentren vollständig auf erneuerbare Energien umgestellt habe. Im März 2016 gab Apple bekannt, dass 93 % des eigenen Energiebedarfs aus erneuerbaren Energieträgern gedeckt werden. Im April 2018 gab Apple-Vorstand Lisa Jackson bekannt, dass weltweit Büros, Rechenzentren und andere eigene Einrichtungen vollständig mit erneuerbarer Energie betrieben werden. Zudem ist bei Produkten ab 2018, sofern diese Aluminium enthalten, dieses zu 100 % recycelt. Im Nachhaltigkeitsbericht von 2020 wird ein ambitioniertes Ziel angekündigt. Jedes Produkt von Apple soll bis 2030 klimaneutral sein. Apple möchte dabei sowohl Produktion, Auftragsfertigungen, Gerätenutzung und die Entsorgung klimaneutral gestalten. Rund 75 % der Emissionen entstehen in der Produktion. In diesem Teil der Wertschöpfungskette spielen Zulieferer eine große Rolle, bei denen die Produktion umgebaut werden muss. Jackson macht hierbei eine klare Forderung: „Wer 2030 nicht klimaneutral produziert, produziert nicht mehr für Apple.“ Rückdatierte Aktienoptionen Das Unternehmen hat zwischen 1997 und 2006 Aktienoptionen in der Höhe von 84 Millionen US-Dollar an Mitarbeiter, darunter der damalige CEO Steve Jobs, rückdatiert. Infolge dieser Affäre traten die Chef-Justiziarin und der Finanzchef von Apple zurück. Jobs selbst habe laut einer internen Untersuchung zwar von der Rückdatierung von Aktienoptionen gewusst, jedoch geglaubt, nicht selbst von dieser Praxis zu profitieren. Folgen für die Bilanzen seien ihm demnach nicht klar gewesen. Vorgehen gegen nichtautorisierte Berichterstattung Das Unternehmen ging 2005 gerichtlich gegen die Blogs Apple Insider, PowerPage und Think Secret vor, die über unveröffentlichte Produkte berichtet hatten. Apple vermutete hinter den Berichterstattern zum Teil eigene Angestellte, die Unternehmensinterna preisgäben. In den bisherigen gerichtlichen Verfahren gegen die Autoren der Berichte hatte Apple jedoch keinen Erfolg: Ein kalifornisches Gericht urteilte erstmals, dass Blogger und Online-Journalisten denselben verfassungsgemäßen Schutz der Pressefreiheit genießen wie Vertreter der traditionellen Presse. Außerdem musste Apple Prozesskosten der Electronic Frontier Foundation, welche die Blogs vor Gericht unterstützt hatte, in Höhe von 700.000 US-Dollar übernehmen. Spiegel Online kritisiert die „extreme Geheimhaltung“ und schreibt, das Unternehmen sei ein „paranoider Konzern, für den Geheimnisse nicht nur Schutz vor der Konkurrenz sind, sondern auch ein Marketingwerkzeug“. So sei kostenlose Werbung durch den Hype und die Gerüchteküche vor der Einführung eines neuen Produkts gewährleistet. Wie wirkungsvoll diese Strategie ist, zeigt eine Schätzung des Harvard-Professors David Yoffie, wonach die Berichterstattung über das iPhone Anfang 2007 etwa die gleiche Wirkung gehabt habe, wie eine 400 Mio. US-Dollar schwere Werbekampagne. Geheimnisverrat werde nach Aussagen eines Augenzeugen mit geheimdienstähnlichen Methoden verfolgt, ohne Rücksicht auf die Privatsphäre der Mitarbeiter. Es herrsche „eine Kultur der Angst“. Softwareverbreitung über den App Store Das Unternehmen überprüft alle Programme, die für den iOS-App-Store eingereicht werden, vor der Veröffentlichung auf eine Reihe von technischen – etwa Sicherheit und Stabilität – aber auch inhaltlichen Kriterien. Da es Nutzern schwer möglich ist, aus anderen Quellen als dem App Store native Programme zu beziehen, sehen Kritiker in der Nichtzulassung von Programmen eine Zensur. Andere Autoren sehen die Kontrolle des App Stores dagegen als möglichen Vorteil für Nutzer an: Datenschutz bei kundenbezogenen Nutzerdaten und Arbeitnehmern Auch der Umgang des Konzerns mit Datenschutz steht in der Kritik. Die frühere deutsche Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger fordert mehr Transparenz und wird im Spiegel mit den Worten zitiert: „Den Nutzern von iPhones und anderen GPS-fähigen Geräten muss klar sein, welche Informationen über sie gesammelt werden.“ Der Hinweis, dass sie der Nutzung der Daten widersprechen können, fehlt in der Datenschutzerklärung des Unternehmens. Daher wurde Apple 2011 der Negativpreis Big Brother Award verliehen. Einen weiteren Big Brother Award erhielt 2013 die Apple Retail Germany GmbH, welche die Apple Stores in Deutschland betreibt, für den Umgang mit der Privatsphäre der Belegschaft. Sie soll nicht nur die Verkaufsräume, sondern auch Lager- sowie Pausenräume der Beschäftigten per Video überwacht haben. Eine solche flächendeckende Videoüberwachung von Beschäftigten ist nach dem deutschen Datenschutz jedoch nicht zulässig. Um weiterhin auf dem chinesischen Markt verkaufen zu dürfen, speichert Apple seit Januar 2018 nach dem dortigen Cybersicherheitsgesetz die Daten chinesischer Kunden in China und gibt den dortigen Behörden bei Bedarf vollen Zugriff auf die Nutzerdaten. Die Wirkung des Ende April 2021 vorgestellten iOS 14, das mit der App-Tracking-Transparenz (ATT) den Datenschutz verbessern sollte, gilt als zweifelhaft. EU-Vorwürfe gezielter Kundentäuschung Die frühere EU-Justizkommissarin Viviane Reding beschuldigt in einem Brief an die Verbraucherschutzminister der Mitgliedsstaaten Apple, die Kunden beim Kauf von Mobiltelefonen und Computern hinsichtlich der ihnen innerhalb der EU zustehenden 24-monatigen gesetzlichen Gewährleistung zu täuschen und eine zusätzliche Garantie gegen Aufpreis zu verkaufen. „Es scheint, dass Apple-Verkäufer es versäumten, den Verbrauchern klare, wahrheitsgemäße und vollständige Informationen über die ihnen nach EU-Recht zustehende gesetzliche Gewährleistung zu geben“, wird darin erläutert. So bietet Apple zusätzlich zur gesetzlichen Gewährleistung eine kostenlose 1-Jahres-Garantie an, schildert aber nicht, dass die Gewährleistung (von Gesetzes wegen) parallel existiert und über die doppelte Laufzeit geht. Der Unterschied kann gerade von Laien nicht erfasst werden. Im Dezember 2011 wurde von italienischen Behörden aufgrund dieser Praxis bereits eine Geldbuße in Höhe von 900.000 Euro gegen Apple erlassen. Steuervermeidung Apple praktiziert Steuervermeidung bzw. Steueroptimierung in Milliardenhöhe, unter anderem mit dem legalen Double-Irish-With-a-Dutch-Sandwich-Prinzip: Apple verbucht in der EU erzielte Einnahmen bei einer irischen Apple-Holding-Gesellschaft, Irland besteuert den Gewinn kaum, weil diese Gesellschaft vom Ausland (USA) geleitet wird, die USA besteuern Auslandsgewinne nicht, die nicht in die USA fließen. Diese Praktik wird zunehmend kritisiert. Ermittler des Senates der Vereinigten Staaten von Amerika veröffentlichten am 20. Mai 2013 einen Bericht über Apples Vorgehen. Von 2009 bis 2012 flossen nicht in den USA versteuerte Auslandsgewinne von mindestens 74 Milliarden US-Dollar an irische Tochterfirmen. Die Einnahmen der irischen Apple-Tochtergesellschaft wurden in keinem Land besteuert, ein anderes Tochterunternehmen versteuerte Einnahmen mit nur 0,05 %. Einige Tochterunternehmen verfügten über keine Angestellten. Am Tag darauf kam es zu einer öffentlichen Anhörung im Senat, an der Apple-CEO Tim Cook teilnahm. Cupertinos Bürgermeister, Barry Chang, kritisiert Apples Steuervermeidung als „Missbrauch“. Die kalifornische Kleinstadt kann die gestiegenen Kosten für Ausbau und Erhalt der Infrastruktur nicht mit Steuereinnahmen finanzieren. Die Europäische Kommission bewertet Apples Steuersparmodell als EU-Wettbewerbsregeln verletzende staatliche Beihilfe. Am 30. August 2016 teilte die Europäische Kommission mit, dass sie die Apple von Irland gewährten Steuervorteile als illegal erachtet: Die EU-Kommissarin für Wettbewerb Margrethe Vestager erklärte, Apple habe in Irland 0,005 Prozent Steuern gezahlt. Die Apple Sales International (ASI) im irischen Cork kauft formal Zulieferern aus Asien Waren ab und verkauft sie mit Aufpreis Apple-Firmen, die sie weltweit Endkunden verkaufen. Der nur virtuelle Umweg über Irland erspart die Besteuerung dreistelliger Milliardengewinne: ASI wurde in Irland gegründet und wird von den USA aus geleitet. Laut US-Recht sind Firmen im Gründungsland steuerpflichtig. Laut irischem Recht sind Firmen in dem Land steuerpflichtig, in dem sie geleitet werden. Irland sollte von Apple 13 Mrd. Euro unbezahlter Steuern aus den Jahren 2003 bis 2014 zuzüglich Zinsen nachfordern. Tim Cook erklärte am 31. August 2016, Apple wie auch Irland werden die die rückwirkende Änderung von Steuerregeln anfechten. Der EuGH annullierte die Entscheidung der EU-Kommission am 15. Juli 2020. Damit bleibt eine letztinstanzliche Auseinandersetzung am EuGh. Am gleichen Tag stellte die EU-Kommission einen Aktionsplan für faire und simple Besteuerung vor – unter Anwendung von Artikel 116 des EU-Vertrags. Damit können Mitgliedstaaten gezwungen werden, nationale Steuergesetze zu ändern – notfalls per Gerichtsurteil. Im November 2014 wurde durch die Luxemburg-Leaks bekannt, dass Apple mit der Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers die Besteuerung in Luxemburg optimierte. Im November 2017 wird Apple in den Veröffentlichungen der Paradise Papers aufgelistet: Apple ließ Kanzleien in den Steuerparadiesen Britische Jungferninseln, Kanalinseln und Isle of Man anfragen, wie man dort den Abgaben entgehen könne. Apple häufte bisher knapp 250 Milliarden Dollar Bargeld steuerfrei im Ausland an. Nachdem der Vorstandsvorsitzende Tim Cook, der Apple den „größten Steuerzahler der Welt“ nennt, der US-Regierung eine Reform der Besteuerung von Auslandsgewinnen empfahl, senkte diese jenen Steuersatz für Unternehmen von 35 auf 21 Prozent. Bringen Firmen wie Apple im Ausland gehortetes Geld heim, werden auch Alt-Gewinne nur mit 15 Prozent besteuert. Verarbeitungsqualität Jüngere Berichte aus 2018 kritisieren einen Rückgang in der Qualität von Apple-Produkten. Dies betreffe sowohl Hardware als auch Software: Am 11. Mai 2018 wurde beim Northern District Court of California Klage gegen Apple eingereicht. Apple wird beschuldigt, darum gewusst zu haben, dass die Tastatur bei einigen MacBook-Laptopcomputern aufgrund eines Konstruktionsfehlers zu frühzeitigen Ausfällen neigt und diese Geräte trotz dieses bekannten Fehlers beworben und verkauft zu haben. Um die Dicke der Geräte weiter zu senken, wurde der klassische Scherentastenmechanismus beim MacBook ab 2015 durch einen Schmetterlingsmechanismus ersetzt. Dieser neue Tastaturmechanismus neigt zu Defekten, die sich darin äußern, dass Tasteneingaben nicht mehr richtig erkannt werden oder die Tastatur ohne Nutzereingabe Tastendrücke an das Betriebssystem weitergibt. Einem Bericht des Apple Insiders zufolge ist die Tastaturdefekthäufigkeit beim 2016er-MacBook-Pro doppelt so hoch wie bei älteren Geräten. Ende Mai 2018 wurde aus Dokumenten eines Gerichtsverfahrens bekannt, dass es Apple bereits vor dem Produktstart des iPhone 6 bekannt war, dass das Gehäusematerial der Geräte unzureichend stark ist und sich zu leicht biegen ließ. Die Wahrscheinlichkeit des Verbiegens sei beim iPhone 6 3,3-mal größer, als beim iPhone 5s. Beim Nachfolger iPhone 6s hat Apple ein anderes Material gewählt, das sich nicht mehr so leicht verbiegen lässt. Durch ein Video des Webvideoproduzenten Quinn Nelson geriet der Fokus auf die unzureichende Verarbeitungsqualität der VESA-Halterung des iMac Pro. Die Qualität der mitgelieferten Schrauben ist so schlecht, dass sie bereits beim ersten Entfernen teilweise abbrechen. Nelson kontaktierte dieses Problems wegen den Apple-Support, der ihn zurückwies, da der VESA-Halter kein Apple-Produkt sei, obwohl er von Apple verkauft wird und ein Apple-Logo trägt. Bei einer darauffolgenden Reparatur des iMac Pro in einem Applestore stellte sich heraus, dass das Personal nicht ausreichend geschult war, um das Gerät zu reparieren. Verhinderung von Reparaturen durch nicht-autorisierte Dritte Der bei neueren Geräten verbaute Sicherheitsprozessor T2 kann in Zukunft dazu verwendet werden, dass bestimmte Komponenten durch unautorisierte Reparateure nicht mehr getauscht werden können. Wie Apple im IT-Blog The Verge mitgeteilt hat, muss nach dem Tausch bestimmter Komponenten ein proprietäres Diagnosewerkzeug ausgeführt werden, um das Gerät wieder starten zu können. iFixit hält diese Reparatur-Vernagelung per T2 für „ein Fallbeil, das über der Reparaturbranche schwebt“. Sonderweg in der Absichtserklärung für universelle Ladegeräte Im Jahr 2009 unterschrieben 10 Hersteller von Mobiltelefonen (unter anderem Nokia, Samsung und Apple) eine Absichtserklärung für einen gemeinsamen Standard für Ladegeräte. Der Standard sollte es für Handynutzer bequemer machen und dafür sorgen, dass weniger alte Aufladegeräte zu Elektroschrott werden. „[Apple] führt zwar USB-Netzgeräte ein, weigert sich aber, in seinen Handys einen Steckeranschluss für Micro-USB zu schaffen.“ „Apple halte sich zwar formell an die Absichtserklärung, doch es ‚gebe den Eindruck bei Teilen der Öffentlichkeit und manchen Abgeordneten‘, dass Apple seine Versprechen ignoriere.“ Abhörung durch Siri Der Whistleblower Thomas le Binniec hat in einem Brief an die europäische Datenschutzbehörden davon berichtet, dass er Teil des sogenannten Grading-Projekts war und seine Aufgabe darin bestand, den Sprachassistenten Siri zu verbessern, indem er aufgezeichnete Gespräche transkribierte. Er kritisierte scharf, dass auch Gespräche aufgezeichnet wurden, ohne dass dies dem Benutzer bewusst war oder dass der Benutzer dieser Aufzeichnung aktiv zugestimmt hatte, und dass außerdem andere Personen wie Familie oder Freunde aufgezeichnet wurden. Dadurch hörte er auch intime und private Gespräche ab. Dieses Bewertungsprogramm wurde mittlerweile ausgesetzt. Vorwurf der Zensur von Telegram-Kanälen der belarussischen Protestbewegung Während der Proteste in Belarus ab 2020, die sich gegen den langjährigen Machthaber Aljaksandr Lukaschenka richten, forderte Apple nach Angaben des Telegram-Gründers Pawel Durow die Sperrung von drei Chatgruppen bzw. -kanälen. In diesen Gruppen wurden persönliche Informationen von Polizeikräften veröffentlicht, die an der Niederschlagung der Proteste beteiligt gewesen sind. Die Ordnungshüter handeln dabei größtenteils vermummt, weswegen oppositionelle Gruppen damit begannen, die Identitäten der Beamten zu enttarnen. Apple reagierte auf die Vorwürfe Durows dahingehend, dass man nicht die Sperrung der Kanäle gefordert habe, sondern ihn stattdessen darum gebeten habe, persönliche Informationen von diesen Kanälen zu löschen. Irreführende Werbung bezüglich Wasserschutz Im November 2020 hat die italienische Wettbewerbsbehörde eine Geldstrafe in Höhe von 10 Millionen Euro gegen Apple verhängt. Die Behörde kam zum Ergebnis, dass die Aussagen der Apple-Werbespots und die tatsächlich getesteten Produkteigenschaften der iPhone-Modelle 8 bis 11 zu weit auseinander lägen. Darüber hinaus wurde bemängelt, dass Wasserschäden nicht von der Garantie abgedeckt seien. Im April 2021 wurde in den USA eine Sammelklage gegen Apple eingereicht, die ähnliche Vorwürfe vorträgt. EU-Kartellverfahren Im Sommer 2020 leitete die EU-Kommission zwei Kartellverfahren gegen Apple ein. Untersucht wird, ob der Konzern eine zu hohe Provision von Entwicklern verlangt und ob Apples Bezahlsystem gegen die Regeln des Wettbewerbs verstößt. Im April 2021 kam die europäische Wettbewerbsaufsicht zum vorläufigen Ergebnis, dass Apple seine dominierende Marktposition beim Vertrieb von Mobilen Apps zum Nachteil von Konkurrenten und Kunden ausnutzt. Konkret geht es um die Bevorteilung des eigenen Musikstreaming-Dienstes Apple Music und der Benachteiligung konkurrierender Angebote wie Spotify oder Deezer. Die EU-Kommission bemängelt die verbindliche Vorgabe, dass die Streaming-Anbieter das Apple-eigene System für In-App-Käufe nutzen müssen, die mit einer Provision verbunden ist. Darüber hinaus wird bemängelt, dass alternative Kaufmöglichkeiten in der App nicht beworben werden dürfen. Dies führe schließlich dazu, dass Konkurrenzprodukte höhere Gebühren verlangen müssten oder Abonnements gar nicht über die App erhältlich seien. Literatur Charlotte Erdmann: One more thing: Apples Erfolgsgeschichte vom Apple I bis zum iPad. Addison-Wesley, München 2011, ISBN 978-3-8273-3057-4. Scott Galloway: The Four. Die geheime DNA von Amazon, Apple, Facebook und Google. Plassen, Kulmbach 2018, ISBN 978-3-86470-487-1. (Amerikanische Originalausgabe: The Four. The Hidden DNA of Amazon, Apple, Facebook and Google. Portfolio/Penguin, New York 2017, ISBN 978-0-7352-1365-4) Joachim Gartz: Die Apple-Story. Aufstieg, Niedergang und „Wieder-Auferstehung“ des Unternehmens rund um Steve Jobs. SmartBooks, Kilchberg 2005, ISBN 3-908497-14-0. Leander Kahney: Tim Cook. Das Genie, das Apples Erfolgsstory fortschreibt. Plassen, Kulmbach 2019, ISBN 978-3-86470-651-6 (Mit Quellenangaben). Yukari Iwatani Kane: Das wankende Imperium. Apple nach Steve Jobs. Carl Hanser, München 2015, ISBN 978-3-446-44305-1. (Mit Anmerkungen und Register) Daniela Kickl: Apple intern – Drei Jahre in der Europa-Zentrale des Technologie-Multis. Edition A, 2017, ISBN 978-3-99001-218-5. Adam Lashinsky: Inside Apple. Das Erfolgsgeheimnis des wertvollsten, innovativsten und verschwiegensten Unternehmens der Welt. Wiley-VCH Verlag, Weinheim 2012, ISBN 978-3-527-50714-6. Owen W. Linzmayer: Apple streng vertraulich. Die Tops und Flops der Macintosh-Geschichte. Midas, Zürich 2000, ISBN 3-907100-12-3. Owen W. Linzmayer: Apple Confidential 2.0. The definitive history of the world’s most colorful company. No Starch Press, San Francisco 2004, ISBN 1-59327-010-0 (englisch). Andrew Zuckerman: Designed by Apple in California. Apple, Cupertino 2016, ISBN 978-0-9975138-1-3 (englisch). Weblinks Offizielle deutschsprachige Websites: Apple Deutschland – Apple Liechtenstein – Apple Österreich – Apple Schweiz Apple-Sicherheitsupdates Firmengeschichte bei macprime.ch Die Geschichte von Apple und dem Macintosh apple-history.com – Auflistung fast aller Apple-Geräte nach Datum, Familie oder Prozessor (englisch) Einzelnachweise Hardwarehersteller (Vereinigte Staaten) Softwarehersteller (Vereinigte Staaten) Audiotechnikhersteller Unternehmen (Cupertino) Markenname (Hard- und Software) Unternehmen im NASDAQ-100 Bürogerätehersteller Gegründet 1976 Produzierendes Unternehmen (Kalifornien) Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf%20Hitler
Adolf Hitler
Adolf Hitler (* 20. April 1889 in Braunau am Inn, Österreich-Ungarn; † 30. April 1945 in Berlin) war ein deutscher Politiker österreichischer Herkunft und von 1933 bis zu seinem Tod Diktator des Deutschen Reichs. Ab 1921 war er Vorsitzender der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), von 1933 bis 1945 deutscher Reichskanzler, ab 1934 auch Staatsoberhaupt und ab 1938 Oberbefehlshaber der deutschen Wehrmacht. Im November 1923 versuchte er mit einem Putsch von München aus die Weimarer Republik zu stürzen. Mit seiner Schrift Mein Kampf (1925/26) prägte er die antisemitische und rassistische, auf Eroberung von Lebensraum ausgerichtete Ideologie des Nationalsozialismus. Hitler wurde am 30. Januar 1933 von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum deutschen Reichskanzler ernannt. Innerhalb weniger Monate beseitigte sein Regime mit Terror, Notverordnungen, dem Ermächtigungsgesetz, Gleichschaltungsgesetzen, Organisations- und Parteiverboten die Gewaltenteilung, die pluralistische Demokratie, den Föderalismus und den Rechtsstaat. Politische Gegner wurden in Konzentrationslagern inhaftiert, gefoltert und ermordet. 1934 ließ Hitler anlässlich des „Röhm-Putsches“ politische Gegner und potenzielle Rivalen in den eigenen Reihen ermorden. Hindenburgs Tod im August 1934 nutzte er, um das Amt des Reichspräsidenten mit dem des Reichskanzlers vereinen zu lassen, und regierte ab da als Führer und Reichskanzler. Die deutschen Juden wurden ab 1933 zunehmend ausgegrenzt und entrechtet, besonders durch die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935, die Novemberpogrome 1938 und die Arisierung von Unternehmen jüdischer Eigentümer sowie zahlreiche weitere Gesetze und Verordnungen, die ihnen schrittweise die Teilnahme am wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben unmöglich machten und sie ihrer Vermögen und Erwerbsmöglichkeiten beraubten. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit bekämpfte er mit staatlichen Investitionsprogrammen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wie dem Autobahnbau und der Aufrüstung der Wehrmacht sowie der Einrichtung des paramilitärisch organisierten Reichsarbeitsdienstes. Mit dem zunächst geheimen Aufbau (1934) der Reichsluftwaffe, der Wiedereinführung der Wehrpflicht, der Aufrüstung der Wehrmacht und der Rheinlandbesetzung brach Hitler den Versailler Vertrag. Die nationalsozialistische Propaganda stellte die Wirtschafts-, Sozial- und Außenpolitik als erfolgreich dar und steigerte so bis 1939 Hitlers Popularität. 1938 übernahm er die unmittelbare Befehlsgewalt über die Wehrmacht und setzte den „Anschluss“ Österreichs durch. Über das Münchner Abkommen vom 30. September 1938, das ihm die Angliederung des Sudetenlandes an das Deutsche Reich gestattete, setzte er sich mit der „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ bereits am 15. März 1939 hinweg. Mit dem durch den Abschluss des sogenannten Hitler-Stalin-Pakts vom 23./24. August 1939 mit der Sowjetunion vorbereiteten Überfall auf Polen am 1. September 1939, der vertragsgemäß die Zerschlagung des polnischen Staates und die Aufteilung seines Territoriums unter den Vertragspartnern zum Ziel hatte und auf den bald die sowjetische Besetzung Ostpolens folgte, löste er den Zweiten Weltkrieg in Europa aus. Nach dem Sieg über Frankreich im Westfeldzug vom 10. Mai bis 25. Juni 1940 und dem Beginn der später gescheiterten Luftschlacht um England am 10. Juli 1940 teilte er am 31. Juli 1940 Vertretern des Oberkommandos der Wehrmacht seinen Entschluss mit, die Sowjetunion anzugreifen und gegen sie einen Vernichtungskrieg zur Eroberung von „Lebensraum im Osten“ zu führen. Den am 22. Juni 1941 begonnenen Krieg gegen die Sowjetunion ließ er unter dem Decknamen „Unternehmen Barbarossa“ vorbereiten und führen. Im Zweiten Weltkrieg verübten die Nationalsozialisten und ihre Helfer zahlreiche Massenverbrechen und Völkermorde. Bereits im Sommer 1939 erteilte Hitler die Weisung, die „Erwachseneneuthanasie“ vorzubereiten. Zwischen September 1939 und August 1941 wurden in der „Aktion T4“ über 70.000 psychisch kranke sowie geistig und körperlich behinderte Menschen, bis Kriegsende über 200.000 Menschen systematisch ermordet. Hitlers Antisemitismus und Rassismus gipfelte schließlich im Holocaust. In diesem wurden etwa 5,6 bis 6,3 Millionen Juden, im Porajmos bis zu 500.000 Sinti und Roma ermordet. Hitler autorisierte die wichtigsten Schritte des Judenmordes und ließ sich über den Verlauf informieren. Seine verbrecherische Politik führte zu vielen Millionen Kriegstoten und zur Zerstörung weiter Teile Deutschlands und Europas. Er beging am 30. April 1945 im Bunker der Reichskanzlei Suizid, acht Tage vor der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Frühe Jahre (1889–1918) Familie Hitlers Familie stammte aus dem niederösterreichischen Waldviertel an der Grenze zu Böhmen. Seine Eltern waren der Zollbeamte Alois Hitler (1837–1903) und dessen dritte Frau Klara Pölzl (1860–1907). Alois war unehelich geboren und trug bis zu seinem 39. Lebensjahr den Familiennamen seiner Mutter Maria Anna Schicklgruber (1796–1847). Diese heiratete 1843 Johann Georg Hiedler (1792–1857). Hiedler gilt in der Forschung mitunter als Alois’ Vater, doch bekannte er sich zeitlebens nicht dazu. 1876 ließ zwar Hiedlers jüngerer Bruder, Johann Nepomuk Hiedler (1807–1888), Johann Georg als Alois’ Vater beurkunden und die Namensform in Hitler ändern. Manche Historiker halten indes Johann Nepomuk selbst für Alois Hitlers Vater. Davon abgesehen, war Klara Pölzl die Enkelin Johann Nepomuk Hiedlers. Somit hatte Alois seine Halbnichte ersten oder zweiten Grades geheiratet. Adolf Hitler wurde am 20. April 1889 in Braunau am Inn geboren und zwei Tage später in der Braunauer Stadtpfarrkirche getauft. Seine älteren Geschwister Gustav (1885–1887) und Ida (1886–1888) waren vor seiner Geburt gestorben. Die drei jüngeren Geschwister waren Otto (*/† 1892, nur sechs Tage alt geworden), Edmund (1894–1900) und Paula (1896–1960). Ottos korrekte Lebensdaten wurden erst 2016 ermittelt. Hitlers zwei ältere Halbgeschwister Alois junior und Angela Hammitzsch stammten aus der zweiten Ehe seines Vaters. Sie wuchsen nach dem Tod ihrer Mutter im Haushalt von Hitlers Eltern auf. Ab 1923 verschwieg Hitler manche Details seiner Herkunft. 1930 verbot er Alois Hitler junior und dessen Sohn William Patrick Hitler, sich in Medien als seine Verwandten vorzustellen, weil seine Gegner seine Herkunft nicht kennen durften. Er wollte das öffentliche Interesse an seiner Abstammung beenden. Beunruhigt wegen entsprechender Äußerungen seines Neffen, soll Hitler 1930 seinen Anwalt Hans Frank, später Generalgouverneur im besetzten Polen, damit beauftragt haben, eine jüdische Herkunft seines Vaters zu widerlegen. Nach dem Krieg stellte Frank die so genannte „Frankenberger-These“ auf, wonach Hitlers Großvater väterlicherseits Jude gewesen sein könne. Diese These wurde jedoch von allen maßgeblichen Hitlerbiografen verworfen und 1971 von Werner Maser widerlegt. Als ausländische Medien 1932/33 wiederholt behaupteten, der Führer der antisemitischen NSDAP habe jüdische Vorfahren aus dem Ghetto von Polná, ließ er zwei Ahnenforscher seinen Stammbaum untersuchen, der 1937 veröffentlicht wurde. Nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 erklärte Hitler die Heimatdörfer seines Vaters und seiner Großmutter im sog. Ahnengau, Döllersheim und Strones, zum militärischen Sperrgebiet. Bis 1942 ließ er dort einen großen Truppenübungsplatz anlegen, die etwa 7000 Einwohner umsiedeln und mehrere Gedenktafeln für seine Vorfahren entfernen. Auch das Ehrengrab seiner Großmutter wurde zerstört, während die Taufakten ihrer Familie erhalten blieben. Dem Journalisten Wolfgang Zdral zufolge wollte Hitler mit all diesen Maßnahmen Zweifel an seinem „Ariernachweis“ unterbinden und Inzest-Vorwürfen wegen der Blutsverwandtschaft seiner Eltern vorbeugen. Schulzeit Wegen der Beförderung des Vaters zum Zollamts-Oberoffizial übersiedelte die Familie im Sommer 1892 in die deutsche Grenzstadt Passau. Im Frühjahr 1895 kehrte die Familie nach Österreich zurück und bezog das Rauschergut in Hafeld, sodass Hitler ab Mai die einklassige Volksschule in Fischlham besuchte. Mit dem Umzug nach Lambach im Juli 1897 absolvierte er die zweite und dritte Klasse und schließlich mit dem Umzug nach Leonding die vierte Klasse. Er galt als guter, aufgeweckter Schüler. Ab 1900 besuchte er die K. k. Staats-Realschule Linz, wo er zweimal wegen Verfehlung des Leistungszieles nicht in die nächstfolgende Klasse aufsteigen konnte. Den Religionsunterricht bei Franz Sales Schwarz verachtete er, nur der Geografie- und der Geschichtsunterricht bei Leopold Pötsch interessierten ihn. In Mein Kampf (1925) hob er den positiven Einfluss von Pötsch hervor. In seiner Realschulzeit las Hitler gern Bücher von Karl May, den er zeitlebens verehrte. Sein Vater hatte ihn für eine Beamtenlaufbahn bestimmt und reagierte auf seine Lernunwilligkeit mit häufigen und erfolglosen Prügelstrafen. Er starb Anfang 1903. 1904 schickte die Mutter Hitler auf die Oberrealschule in Steyr. Nach erfolgreich bestandener Nachprüfung im Herbst 1905 hätte Hitler in die fünfte Klasse aufsteigen können, er entschied sich aber, die Schule abzubrechen. In Linz lernte Hitler durch Mitschüler, Lehrer und Zeitungen das Denken des radikalen Antisemiten und Gründers der Alldeutschen Vereinigung, Georg von Schönerer, kennen. Er besuchte erstmals Aufführungen von Opern Richard Wagners, darunter Rienzi. Dazu äußerte er später: „In jener Stunde begann es.“ Unter dem Eindruck der Hauptfigur soll er laut seinem damaligen Freund August Kubizek gesagt haben: „Ich will ein Volkstribun werden.“ In Mein Kampf stellte Hitler sein Schulverhalten als Lernstreik gegen den Vater dar und behauptete, ein schweres Lungenleiden habe seinen Schulabschluss vereitelt. Die Gewalttätigkeit des Vaters gilt als mögliche Wurzel für seine weitere Entwicklung. Nach dem Zeithistoriker Joachim Fest schwankte er schon in der Schulzeit zwischen intensiver Beschäftigung mit verschiedenen Projekten sowie Untätigkeit und zeigte ein Unvermögen zu regelmäßiger Arbeit. Kunstmaler in Wien und München Nach dem Tod seines Vaters bezog Hitler als Halbwaise ab 1903 eine anteilige Waisenrente; ab 1905 erhielt er Finanzhilfen von seiner Mutter und seiner Tante Johanna. Anfang 1907 wurde bei seiner Mutter Brustkrebs festgestellt. Der jüdische Hausarzt Eduard Bloch behandelte sie. Da sich ihr Zustand rapide verschlechterte, soll Hitler auf der Anwendung von schmerzhaften Iodoform-Kompressen bestanden haben, die letztlich ihren Tod beschleunigten. Seit 1906 wollte Hitler Kunstmaler werden und trug später diese Berufsbezeichnung. Er sah sich zeitlebens als verkannter Künstler. Im Oktober 1907 bewarb er sich erfolglos für ein Kunststudium an der Allgemeinen Malerschule der Wiener Kunstakademie. Er blieb zunächst in Wien, kehrte nach Linz zurück, als er am 24. Oktober erfuhr, dass seine Mutter nur noch wenige Wochen zu leben habe. Nach Aussage Blochs und Hitlers Schwester versorgte er den elterlichen Haushalt bis zum Tod der Mutter am 21. Dezember 1907 und sorgte für ihr Begräbnis zwei Tage darauf. Er bedankte sich dabei bei Bloch, schenkte ihm einige seiner Bilder und schützte ihn 1938 vor der Festnahme durch die Gestapo. Als vorgeblicher Kunststudent erhielt Hitler von Januar 1908 bis 1913 eine Waisenrente von 25 Kronen monatlich sowie das Erbe seiner Mutter von höchstens 1000 Kronen. Davon konnte er etwa ein Jahr in Wien leben. Sein Vormund Josef Mayrhofer drängte ihn mehrmals vergeblich, zugunsten seiner minderjährigen Schwester Paula auf seinen Rentenanteil zu verzichten und eine Lehre zu beginnen. Hitler weigerte sich und brach den Kontakt ab. Er verachtete einen „Brotberuf“ und wollte in Wien Künstler werden. Im Februar 1908 ließ er eine Einladung des renommierten Bühnenbildners Alfred Roller ungenutzt, der ihm eine Ausbildung angeboten hatte. Als ihm das Geld ausging, besorgte er sich im August von seiner Tante Johanna einen Kredit über 924 Kronen. Bei der zweiten Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie im September wurde er nicht mehr zum Probezeichnen zugelassen. Er verschwieg seinen Verwandten diesen Misserfolg und seinen Wohnsitz, um seine Waisenrente weiter zu erhalten. Deshalb gab er sich bei Wohnungswechseln als „akademischer Maler“ oder „Schriftsteller“ aus. Ihm drohte die Einziehung zum Wehrdienst in der österreichischen Armee. Nach August Kubizek, der mit ihm 1908 ein Zimmer teilte, interessierte sich Hitler damals mehr für Wagner-Opern als für Politik. Nach seinem Auszug im November 1908 mietete er in kurzen Zeitabständen immer weiter von der Innenstadt entfernte Zimmer an, offenbar weil seine Geldnot wuchs. Im Herbst 1909 bezog er für drei Wochen ein Zimmer in der Sechshauser Straße 56 in Wien; danach war er drei Monate lang nicht behördlich angemeldet. Aus seiner Aussage in einer Strafanzeige ist ersichtlich, dass er ein Obdachlosenasyl in Meidling bewohnte. Anfang 1910 zog Hitler in das Männerwohnheim Meldemannstraße, ebenfalls ein Obdachlosenasyl. 1938 ließ er alle Akten über seine Aufenthaltsorte in Wien beschlagnahmen und gab ein Haus in einem gehobenen Wohnviertel als seine Studentenwohnung aus. Ab 1910 verdiente Hitler Geld durch nachgezeichnete oder als Aquarelle kopierte Motive von Wiener Ansichtskarten. Diese verkaufte sein Mitbewohner Reinhold Hanisch bis Juli 1910 für ihn, danach der jüdische Mitbewohner Siegfried Löffner. Dieser zeigte Hanisch im August 1910 wegen der angeblichen Unterschlagung eines Hitlerbildes bei der Wiener Polizei an. Der Maler Karl Leidenroth zeigte Hitler, wahrscheinlich im Auftrag Hanischs, wegen des unberechtigten Führens des Titels eines „akademischen Malers“ anonym an und erreichte, dass die Polizei ihm das Führen dieses Titels untersagte. Daraufhin ließ Hitler seine Bilder von dem Männerheimbewohner Josef Neumann sowie den Händlern Jakob Altenberg und Samuel Morgenstern verkaufen. Alle drei waren jüdischer Herkunft. Der Mitbewohner im Männerwohnheim, Karl Honisch, schrieb später, Hitler sei damals „schmächtig, schlecht genährt, hohlwangig mit dunklen Haaren, die ihm ins Gesicht schlugen“, und „schäbig gekleidet“ gewesen, habe jeden Tag in derselben Ecke des Schreibzimmers gesessen und Bilder gezeichnet oder gemalt. In Wien las Hitler Zeitungen und Schriften von Alldeutschen, Deutschnationalen und Antisemiten, darunter eventuell die Schrift Der Unbesiegbare von Guido von List. Deren Wunschbild eines vom „Schicksal“ bestimmten, unfehlbaren germanischen Heldenfürsten, der die Germanen vor dem Untergang retten und zur Weltherrschaft führen werde, kann laut Brigitte Hamann Hitlers späteren Anspruch auf Auserwähltheit und Unfehlbarkeit mit erklären. Für Hitler damals zugänglich war auch die Zeitschrift Ostara, die der List-Schüler Jörg Lanz von Liebenfels herausgab, und die von Eduard Pichl verfasste Biografie Georg von Schönerers (1912). Dieser hatte seit 1882 die „Entjudung“ und „Rassentrennung“ per Gesetz gefordert, einen Arierparagraphen für seine Partei eingeführt, ein völkisch-rassistisches Deutschtum gegen den Multikulturalismus der Habsburger Monarchie und als Ersatzreligion für das katholische Christentum vertreten („Los von Rom!“). Hitler hörte Reden seines Anhängers, des Arbeiterführers Franz Stein, und seines Konkurrenten, des Reichsratsabgeordneten Karl Hermann Wolf. Beide bekämpften die „verjudete“ Sozialdemokratie, tschechische Nationalisten und Slawen. Stein strebte eine deutsche Volksgemeinschaft zur Überwindung des Klassenkampfes an; Wolf strebte ein Großösterreich an und gründete 1903 mit anderen die Deutsche Arbeiterpartei (Österreich-Ungarn). Hitler hörte und bewunderte auch den populären Wiener Bürgermeister Karl Lueger, der die Christlichsoziale Partei (Österreich) gegründet hatte, für Wiens „Germanisierung“ eintrat und als antisemitischer und antisozialdemokratischer „Volkstribun“ massenwirksame Reden hielt. Hitler diskutierte 1910 nach Aussagen seiner Mitbewohner im Männerwohnheim über politische Folgen von Luegers Tod, lehnte einen Parteieintritt ab und befürwortete eine neue, nationalistische Sammlungsbewegung. Wieweit diese Einflüsse ihn prägten, ist ungewiss. Laut Hans Mommsen herrschte damals Hitlers Hass auf die Sozialdemokraten, die Habsburgermonarchie und die Tschechen vor. Während bis Sommer 1919 einige wohlwollende Aussagen Hitlers über Juden überliefert sind, griff er ab Herbst 1919 auf antisemitische Klischees zurück, die er in Wien kennengelernt hatte; seit 1923 stellte er Schönerer, Wolf und Lueger als seine Vorbilder dar. Im Mai 1913 erhielt Hitler das Erbe des Vaters (etwa 820 Kronen), zog nach München und mietete in der Schleißheimer Straße 34 (Maxvorstadt) ein anfangs mit Rudolf Häusler geteiltes Zimmer. Ein Grund dafür war die Flucht vor der militärischen Dienstpflicht in Österreich. Um diese zu vertuschen, ließ er nach dem Anschluss Österreichs 1938 seine militärischen Dienstpapiere beschlagnahmen. In München las Hitler unter anderem Houston Stewart Chamberlains damals populäre Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, malte weiterhin Bilder, meist nach Fotografien bekannter Gebäude, und verkaufte sie an eine Münchner Kunsthandlung. Er behauptete später, er habe sich nach einer „deutschen Stadt“ gesehnt und sich zum „Architektur-Maler“ ausbilden lassen wollen. Nachdem die Münchner Kriminalpolizei ihn am 18. Januar 1914 aufgegriffen und beim österreichischen Konsulat vorgeführt hatte, wurde er am 5. Februar 1914 in Salzburg gemustert, als waffenunfähig beurteilt und vom Wehrdienst zurückgestellt. Liebesbeziehungen Hitlers zwischen 1903 und 1914 sind unbekannt. Kubizek und Hanisch zufolge äußerte er sich in Wien verächtlich über weibliche Sexualität und floh vor Annäherungsversuchen von Frauen. 1906 verehrte er, ohne Kontaktaufnahme, die Linzer Schülerin Stefanie Isak. Später bezeichnete er eine Emilie, vielleicht Häuslers Schwester, als seine „erste Geliebte“. Auch diese Beziehung stuft Brigitte Hamann als Wunschdenken ein. Hitler soll schon 1908, wie die Alldeutschen, ein Verbot der Prostitution und sexuelle Enthaltsamkeit für junge Erwachsene gefordert und Letztere aus Angst vor einer Infektion mit Syphilis selbst praktiziert haben. Soldat im Ersten Weltkrieg Wie viele andere begrüßte Adolf Hitler im August 1914 begeistert den Beginn des Ersten Weltkriegs. Nach eigener Darstellung hatte er die königliche Kanzlei Bayerns mit einem Immediatgesuch vom 3. August 1914 erfolgreich um die Erlaubnis ersucht, als Österreicher in die Bayerische Armee einzutreten. Am 16. August sei er als Kriegsfreiwilliger dort aufgenommen worden, am 8. Oktober sei er auf den König von Bayern vereidigt worden. Heute wird vermutet, dass Hitlers Staatsbürgerschaft für das bayerische Königreich im Trubel des Kriegsausbruches bei seiner Meldung keine Rolle spielte, zumal er nicht der einzige Österreicher im Regiment war. Möglicherweise wurde er gar nicht danach gefragt. Eine von ihm später behauptete, kurzfristig beantragte österreichische Sondergenehmigung gilt als Legende. Am 1. September 1914 wurde er der ersten Kompanie des Reserve-Infanterie-Regiments 16 zugeteilt. Hitler nahm Ende Oktober 1914 an der Ersten Flandernschlacht teil. Am 1. November 1914 wurde er zum Gefreiten befördert und am 2. Dezember 1914 mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet, weil er am 15. November 1914 mit einem zweiten Meldegänger im Verlauf der Ersten Flandernschlacht nordwestlich von Messines das Leben des unter französischem Feuer stehenden Regimentskommandeurs Philipp Engelhardt geschützt und eventuell gerettet hatte. Ab dem 9. November 1914 bis zum Ende des Krieges diente Hitler als Ordonnanz und Meldegänger zwischen dem Regimentsstab und den Stäben der Bataillone mit 1,5 bis 5 Kilometer Abstand zur Hauptkampflinie, zunächst am Wytschaete-Bogen der Westfront. Entgegen seiner späteren Darstellung war er also kein besonders gefährdeter frontnaher Meldegänger eines Bataillons oder einer Kompanie und hatte weit bessere Überlebenschancen als diese. Vom März 1915 bis September 1916 wurde er im Sektor Aubers-Fromelles und in der Schlacht von Fromelles (19./20. Juli 1916) eingesetzt. In der Schlacht an der Somme wurde Hitler am 5. Oktober 1916 bei le Barqué (Ligny-Thilloy) durch einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet, was später zu zahlreichen Spekulationen über seine Monorchie führte. Er wurde bis zum 4. Dezember im Vereinslazarett Beelitz (Potsdam) gesund gepflegt und hielt sich danach zur Pflege in München auf. Später wollte er dort erstmals die schwindende Kriegsbegeisterung in Deutschland bemerkt haben. Am 5. März 1917 kehrte Hitler zu seiner inzwischen nach Vimy verlegten alten Einheit zurück. Im Frühjahr nahm er an der Schlacht von Arras, im Sommer an der Dritten Flandernschlacht, ab Ende März 1918 an der deutschen Frühjahrsoffensive und an der kriegsentscheidenden zweiten Schlacht an der Marne teil. Im Mai 1918 erhielt er ein Regimentsdiplom für hervorragende Tapferkeit und das Verwundetenabzeichen in Schwarz. Am 4. August erhielt er das Eiserne Kreuz I. Klasse für einen Meldegang an die Front nach dem Ausfall aller Telefonleitungen. Der Regimentsadjutant Hugo Gutmann, ein Jude, hatte ihm dafür diese Auszeichnung versprochen; der Divisionskommandeur genehmigte sie nach zwei Wochen. Hitler bestritt später, das Eiserne Kreuz I. Klasse im Ersten Weltkrieg getragen zu haben, da es dem Juden Gutmann (Hitler: „ein Feigling sondersgleichen“) ebenfalls verliehen wurde. Am 21. August 1918 verließ Hitler das in schwere Kämpfe verwickelte Regiment zu einem einwöchigen Telefonistenkurs in Nürnberg, um daraufhin seinen regulären Heimaturlaub in Berlin anzutreten. Während er später immer wieder auf seine Eindrücke in Berlin zu sprechen kam, verschwieg er den vermutlich erstmaligen Besuch in der späteren Stadt der Reichsparteitage zeitlebens, was zu Spekulationen über Zusammenhänge mit dem aus Nürnberg stammenden Vorgesetzten Gutmann Anlass gab. Am 27. September kehrte er an die Westfront zurück, wo sein Regiment inzwischen von den Auflösungserscheinungen betroffen war, die mit dem Schwarzen Tag des Deutschen Heeres am 8. August an der gesamten Westfront begonnen hatten. Am Morgen des 14. Oktober 1918 geriet Hitler auf einem Meldegang bei Wervik in Flandern in einen Senfgasangriff, den er auch in Mein Kampf schilderte. Gelangte das Gift in die Augen, schwollen die Lider unter heftigen Schmerzen schnell an, was zur funktionellen Erblindung führte. Kamen keine Komplikationen hinzu, klangen die Symptome wie bei Hitler nach wenigen Wochen oft vollständig ab. Die derart Verwundeten galten als „leicht verwundet“. Mit dieser Einstufung wurde Hitler unter der Nummer 7361 mit der Diagnose „gasvergiftet“ am 21. Oktober in das Reservelazarett Pasewalk, ein Genesungsheim für Leichtverletzte, eingeliefert. Üblicherweise dauerte der Genesungsaufenthalt vier Wochen. Hitler ging am 19. November als „kriegsverwendungsfähig“ zum Ersatzbataillon des 2. Bayerischen Infanterieregiments nach München ab. Hitler erfuhr in Pasewalk am 10. November von der Novemberrevolution und den Waffenstillstandsverhandlungen von Compiègne, was er zutiefst empört aufnahm. Später (1924) bezeichnete er diese Ereignisse im Sinne der Dolchstoßlegende als „größte Schandtat des Jahrhunderts“, die ihn zu dem Entschluss veranlasst habe, Politiker zu werden. Letzteres gilt als unglaubwürdig, da Hitler damals nahezu mittel- und perspektivlos war, keine Kontakte zu Politikern hatte und den angeblichen Entschluss bis 1923 nie erwähnte. Hitler verhielt sich laut Zeitzeugen unterwürfig gegenüber Offizieren. „Den Vorgesetzten achten, niemandem widersprechen, blindlings sich fügen“, gab er 1924 vor Gericht als seine Maxime an. Er klagte nie über schlechte Behandlung als Soldat und sonderte sich damit von seinen Kameraden ab. Darum beschimpften sie ihn als „weißen Raben“, als jemanden, der sich für etwas Besonderes hielt oder eine von der Mehrheit abweichende Meinung vertrat. Nach ihren Aussagen rauchte und trank er nicht, redete nie über Freunde und Familie, war nicht an Bordellbesuchen interessiert und saß oft stundenlang lesend, nachdenkend oder malend in einer Ecke des Unterstands. Die Nationalsozialisten Fritz Wiedemann und Max Amann behaupteten nach 1933, Hitler habe eine militärische Beförderung abgelehnt, für die er als mehrfach Verwundeter sowie Träger des Eisernen Kreuzes erster Klasse in Frage gekommen wäre. Späteres Lob von Hitlers angeblicher Kameradschaft und Tapferkeit durch Kriegskameraden gilt als unglaubwürdig, da die NSDAP sie dafür mit Funktionärsposten und Geld belohnte. Nach seinen Feldpostbriefen missbilligte Hitler den spontanen Weihnachtsfrieden 1914. Am 5. Februar 1915 schilderte er die Kampfhandlungen detailliert und äußerte zum Schluss, er hoffe auf die endgültige Abrechnung mit den Feinden im Inneren. Deutsche Kriegsverbrechen wie Brandschatzung und Massenerschießungen zur Vergeltung angeblicher Sabotage, die 1914 im besetzten Belgien begangen worden waren, stellte Hitler im September 1941 nach Beginn des Russlandfeldzugs im Rückblick deutlich übertrieben dar und bezeichnete sie als vorbildliche Methode zur Partisanenbekämpfung im Osten. Sebastian Haffner nannte Hitlers Fronterfahrung sein „einziges Bildungserlebnis“. Ian Kershaw urteilte: „Der Krieg und die Folgen haben Hitler geschaffen.“ Da Hitler sich 1914 erstmals in seinem Leben ganz einer Sache hingegeben habe, dem Krieg, hätten sich seine schon mitgebrachten Vorurteile und Phobien in der Erbitterung über die Kriegsniederlage ab 1916 entscheidend verstärkt. Thomas Weber urteilt dagegen: „Hitlers Zukunft und seine politische Identität waren noch vollkommen offen und formbar, als er aus dem Krieg zurückkehrte.“ Politischer Aufstieg (1918–1933) Propagandaredner der Reichswehr Am 21. November 1918 kehrte Hitler in die Oberwiesenfeldkaserne in München zurück. Er versuchte, der Demobilisierung des Deutschen Heeres zu entgehen, und blieb deshalb bis zum 31. März 1920 Soldat. In dieser Zeit formte er sein politisches Weltbild, entdeckte und erprobte sein demagogisches Redetalent. Vom 4. Dezember 1918 bis 25. Januar 1919 bewachte Hitler mit 15 weiteren Soldaten etwa 1000 französische und russische Kriegsgefangene in einem von Soldatenräten geleiteten Lager in Traunstein. Am 12. Februar wurde er nach München in die zweite Demobilmachungskompanie versetzt und ließ sich am 15. Februar zu einem der Vertrauensmänner seines Regiments wählen. Als solcher arbeitete er mit der Propagandaabteilung der neuen bayerischen Staatsregierung unter Kurt Eisner (USPD) zusammen und sollte seine Kameraden in Demokratie schulen. Am 16. Februar nahm er daher mit seinem Regiment an einer Demonstration des „Revolutionären Arbeiterrates“ in München teil. Historiker sind sich uneins darüber, ob Hitler am 26. Februar 1919 den Trauerzug für den fünf Tage zuvor ermordeten Eisner begleitete, wie ein unscharfes Foto belegen soll. Am 15. April ließ Hitler sich zum Ersatzbataillonsrat der Soldatenräte der Münchner Räterepublik wählen, die am 7. April ausgerufen worden war. Nach deren gewaltsamer Niederschlagung Anfang Mai 1919 denunzierte er andere Vertrauensleute aus dem Bataillonsrat vor einem Standgericht der Münchner Reichswehrverwaltung als „ärgste und radikalste Hetzer […] für die Räterepublik“, trug damit zu ihrer Verurteilung bei und erkaufte sich das Wohlwollen der neuen Machthaber. Später verschwieg er seine vorherige Zusammenarbeit mit den sozialistischen Soldatenräten. Diese wird meist als Opportunismus oder Beleg dafür gewertet, dass Hitler bis dahin kein ausgeprägter Antisemit gewesen sein könne. Anders als andere Angehörige seines Regiments schloss er sich keinem der gegen die Räterepublik aufgestellten Freikorps an. Im Mai 1919 traf Hitler erstmals Hauptmann Karl Mayr, den Leiter der „Aufklärungsabteilung“ im Reichswehrgruppenkommando 4. Dieser rekrutierte ihn eventuell kurz darauf als V-Mann. Auf Empfehlung seiner Vorgesetzten nahm er im Sommer 1919 an der Universität München zweimal an „antibolschewistischen Aufklärungskursen“ für „Propaganda bei der Truppe“ teil. So schulten ihn erstmals deutschnationale, alldeutsche und antisemitische Akademiker wie Karl Alexander von Müller, der Hitlers Talent als Redner entdeckte, und Gottfried Feder, der das Schlagwort von der „Brechung der Zinsknechtschaft“ geprägt hatte. Durch die Begegnung mit Feder, so schrieb Hitler während seiner Landsberger Festungshaft, habe er „den Weg zu einer der wesentlichen Voraussetzungen zur Gründung einer neuen Partei“ gefunden. Ab 22. Juli sollte Hitler mit einem 26-köpfigen „Aufklärungskommando“ der Münchner Garnison angeblich von Bolschewismus und Spartakismus „verseuchte“ Soldaten im Reichswehrlager Lechfeld propagandistisch umerziehen. Seine Reden weckten starke Emotionen, auch mit antisemitischen Äußerungen. Mayr stellte ihn im Frühjahr oder Herbst 1919 Ernst Röhm vor, dem Mitgründer der geheimen rechtsradikalen Offiziersverbindung „Eiserne Faust“. Mayrs V-Leute sollten neue politische Parteien und Gruppen in München überwachen. Dazu besuchte Hitler am 12. September 1919 erstmals eine Versammlung der Deutschen Arbeiterpartei (DAP). Dort widersprach er heftig der diskutierten Sezession Bayerns vom Reich. Der Parteivorsitzende Anton Drexler lud ihn wegen seiner Redegewandtheit zum Parteieintritt ein. Am 16. September verfasste er im Auftrag Mayrs ein „Gutachten zum Antisemitismus“ für Adolf Gemlich, einen Teilnehmer der Lechfelder Kurse. Darin betonte er, das Judentum sei eine Rasse, keine Religion. „Dem Juden“ seien „Religion, Sozialismus, Demokratie […] nur Mittel zum Zweck, Geld- und Herrschgier zu befriedigen. Sein Wirken wird in seinen Folgen zur Rassentuberkulose der Völker.“ Daher müsse der „Antisemitismus der Vernunft“ seine Vorrechte planmäßig und gesetzmäßig bekämpfen und beseitigen. „Sein letztes Ziel aber muss unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein. Zu beidem ist nur fähig eine Regierung nationaler Kraft […] nur durch rücksichtslosen Einsatz national gesinnter Führerpersönlichkeiten mit innerlichem Verantwortungsgefühl.“ Mayr stimmte Hitlers Ausführungen weitgehend zu. Aufstieg zum Führer der NSDAP Hitler trat der DAP im September 1919 bei. Entgegen seiner Behauptung in Mein Kampf war er nicht das siebte Mitglied der Partei, sondern des Arbeitsausschusses der Partei als Werbeobmann. In der ersten überlieferten Parteimitgliederliste vom 2. Februar 1920 trägt er die Nummer 555, was ihn jedoch nicht zum 555. Mitglied macht, denn die Liste beginnt mit der Nummer 501 und ist zudem alphabetisch geordnet. Was Hitler in Mein Kampf über die Umstände seines Parteieintritts berichtete, ist kritisch zu lesen. Möglicherweise trat er der DAP lediglich auf Geheiß Mayrs bei. In der Rückschau erhöhte Hitler seinen Anteil am Aufstieg der Partei auf Kosten aller anderen Beteiligten. Er sei einer Partei ohne Mitglieder und Organisation beigetreten, die sich in schäbigen Hinterzimmern getroffen habe, und erst er habe daraus kraft seines eigenen politischen Genies eine Massenbewegung zur Rettung Deutschlands geformt. Den Parteiführern Drexler und Karl Harrer sprach er die Inspiration ab. Während Hitler nach ersten erfolgreichen Reden auf Versammlungen in Bierkellern und Gasthäusern auf eine große Massenveranstaltung im Festsaal des Münchner Hofbräuhauses drängte, trat der skeptische Harrer von seinem Posten als „Reichsvorsitzender“ zurück. Hitler behauptete später, Harrer habe sich auf einen kleinen politischen Zirkel beschränken wollen und seine, Hitlers, weiter reichenden Pläne blockiert. Offenbar hatte Harrer aber Kontakte zur DNVP geknüpft, während Hitler keine Kooperation mit einem mächtigeren Partner wollte. Vor Hitlers Beitritt zur DAP hatte der antisemitische Schriftsteller Dietrich Eckart bei DAP-Versammlungen gesprochen und sich offenbar des Parteineulings angenommen. Eckart hatte sich in völkischen Kreisen bereits einen Namen gemacht und öffnete Hitler die Türen zur Münchner Gesellschaft. Wohlhabende Geschäftsleute wie der Verleger Julius Friedrich Lehmann, aber auch die Reichswehr in Person von Mayrs Büro und Franz Ritter von Epp finanzierten die klamme Partei. Eckarts Freund Gottfried Grandel sollte später für die Gelder bürgen, die zum Aufkauf des Völkischen Beobachters verwendet wurden. Eckart brachte Hitler mit vermögenden Bewunderern zusammen, die zu großzügigen und treuen Geldgebern für seinen Lebensunterhalt wurden, wie Helene Bechstein, Ehefrau des renommierten Berliner Klavierfabrikanten, oder dem Münchner Verlegerehepaar Hugo und Elsa Bruckmann. Als die DAP am 24. Februar 1920 zur NSDAP umbenannt wurde, trug Hitler das von ihm, Drexler und Feder verfasste 25-Punkte-Programm vor. Am 16. März 1920 stellte Eckart ihn in Berlin einigen Initiatoren des Kapp-Lüttwitz-Putsches vor, der am Folgetag zusammenbrach. Bei einem weiteren Berlinbesuch 1920 traf Hitler Heinrich Claß (Alldeutscher Verband), der ihn danach finanziell unterstützte und den Ausbau und die Entschuldung der Parteizeitung Völkischer Beobachter vorantrieb. Bei seiner Entlassung aus der Reichswehr (1. April 1920) konnte Hitler von seinen Redehonoraren leben. Er erreichte damals pro Auftritt 1200 bis 2500 Zuhörer und warb neue Mitglieder für die NSDAP an, mit welcher der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund (DVSTB) und die Deutschsozialistische Partei (DSP) damals noch stark konkurrierten. Er hielt Drexler von einer Vereinigung der NSDAP mit der DSP ab und setzte am 7./8. August in Salzburg ein Bündnis mit der österreichischen DNSAP durch, um den alldeutschen Anspruch seiner Partei zu unterstreichen. In seiner Grundsatzrede Warum sind wir Antisemiten? vom 13. August 1920 erklärte Hitler erstmals ausführlicher seine Ideologie: Alle Juden seien aufgrund ihres angeblich unveränderlichen Rassecharakters unfähig zu konstruktiver Arbeit. Sie seien wesenhaft Parasiten und täten alles zum Erlangen der Weltherrschaft, darunter (so behauptete er) Rassenmischung, Volksverdummung durch Kunst und Presse, Förderung des Klassenkampfes bis hin zum Mädchenhandel. Damit machte er den rassistischen Antisemitismus zum Hauptmerkmal des NSDAP-Programms. Mit einem langen Regenmantel über dem Anzug, einem „Gangsterhut“, einem auffällig sichtbaren Revolver und einer Hundepeitsche machte Hitler bei Münchner Empfängen auf sich aufmerksam. Anhänger beschrieben ihn als „grandiosen Volksredner“, der „äußerlich irgendwie zwischen Unteroffizier und Handlungsgehilfen, mit gezierter Unbeholfenheit und zugleich so viel Redegewalt […] vor einem Massenpublikum“ auftrat. Hitler wandelte die SA von einer „Saalschutztruppe“ in eine paramilitärische Schläger- und Einschüchterungstruppe der NSDAP um. Er entwarf Hakenkreuzfahnen und Standarten für Machtdemonstrationen der SA in Stadt und Land. Im Juni 1921 war er erneut in Berlin, um Geldmittel für seine Partei zu beschaffen. Die NSDAP München lud Otto Dickel, ein sozialreformerisches Parteimitglied aus Augsburg, als Ersatzredner ein und vermittelte ein Treffen am 10. Juli 1921 mit Nürnberger DSP-Abgesandten, um über eine Fusion zu verhandeln. Hitler, den vielleicht Hermann Esser informiert hatte, erschien. Als Eckart, Drexler und andere Dickels Vorschläge zu einer Programmreform begrüßten, verließ er wütend das Treffen. Am 11. Juli trat er aus der NSDAP aus, vielleicht weil er seine besondere Stellung in der Partei zu verlieren fürchtete. Am 14. Juli kritisierte er Dickel und dessen Ansichten in einer ausführlichen Erklärung scharf. Für seinen Wiedereintritt, den Dietrich Eckart vermittelte, forderte er diktatorische Machtbefugnisse in der NSDAP. Eine Mitgliederversammlung beschloss am 29. Juli 1921 eine Satzung mit dem geforderten „diktatorischen Prinzip“, übertrug Hitler die Parteileitung und schloss Drexler als „Ehrenvorsitzenden“ von den Entscheidungsprozessen aus. Hitlers Vertrauter Amann straffte und zentralisierte die Parteiorganisation. So setzte Hitler seinen Führungsanspruch durch und verhinderte eine Linkswende der Partei. Er war jetzt ein lokaler Parteiführer, den viele Nationalisten, Demokratiegegner und Militaristen unter Intellektuellen, in der Regierung und Verwaltung Bayerns unterstützten. Um seinen Einfluss auszudehnen, hielt er seit 1920 einige Reden vor dem Berliner Nationalklub von 1919 und in Österreich. Durch gezielte Angriffe auf politische Gegner wollte er öffentlich bekannter werden. Am 14. September 1921 störten er und seine Anhänger gewaltsam eine Veranstaltung des separatistischen Bayernbunds im Münchner Löwenbräukeller. Dabei wurde dessen Gründer Otto Ballerstedt verletzt, der ihn daraufhin anzeigte. Hitler wurde am 12. Januar 1922 wegen Landfriedensbruchs und Körperverletzung zu drei Monaten Haft verurteilt; zwei Monate waren bei guter Führung zur Bewährung ausgesetzt. Zwischen dem 24. Juni und dem 27. Juli 1922 verbüßte er seine Strafe in Stadelheim. Bei der Säuberungsaktion im Zuge des „Röhm-Putsches“ (1934) ließ Hitler Ballerstedt ermorden. Manche britische und US-amerikanische Presseartikel schätzten ihn damals als „potentiell gefährlich“, als Vertreter einer „Armee der Rache“ oder als „deutschen Mussolini“ ein. Als solchen ließ Hitler sich am 3. November 1922, drei Tage nach Mussolinis erfolgreichem Marsch auf Rom, von Hermann Esser in München ausrufen. Putschversuch Während des Kapp-Putsches 1920 zwang die Reichswehrführung in Bayern die Koalitionsregierung Hoffmann zum Rücktritt. Die neue Regierung unter Gustav von Kahr schlug einen Rechtskurs ein, um aus Bayern die „Ordnungszelle“ des Reiches zu machen. Sie gewährte vielen militanten Rechtsextremen wie Hermann Ehrhardt Unterstützung und Unterschlupf. Sie organisierten sich nach der Auflösung der Freikorps im selben Jahr in bewaffneten „Einwohnerwehren“ und „vaterländischen Verbänden“, die den Sturz der Weimarer Republik anstrebten. Einige bejahten und verübten dazu politische Morde oder Fememorde. Bayern wurde infolge dieser Ereignisse zu einem Hort gegenrevolutionärer, antirepublikanischer Kräfte, die auf eine Beseitigung der parlamentarischen Demokratie drangen. Hitler und die NSDAP waren nur einer Teil dieser breiten, rechten Bewegung. Sie umfasste auch andere völkische Gruppierungen, die DNVP und Teile der Bayerischen Volkspartei (BVP) und fand starke, teils offene, teile verdeckte Unterstützung im Militär-, Polizei- und Justizapparat. Putschstimmung in Bayern Zum 17. März 1922 lud der christlich-konservative Bayerische Innenminister Franz Xaver Schweyer die Vorsitzenden der wichtigsten im Bayerischen Landtag vertretenen Parteien zu einer Besprechung, um die Abschiebung des als „staatenlos“ gemeldeten Hitlers aus Bayern zu erreichen. Die Vertreter der bürgerlichen Parteien stimmten Schweyers Vorschlag zu, lediglich der SPD-Fraktionschef Erhard Auer war dagegen. Die anderen Parteien gaben Auer nach und daher wurde Hitler nicht des Landes verwiesen. Nachdem die Alliierten 1921 die Auflösung der bayerischen Einwohnerwehren erzwungen hatten, betraute Kahr Otto Pittinger mit der geheimen Fortführung der „Wehrarbeit“. Im August 1922 planten Pittinger, der Münchner Polizeipräsident Ernst Pöhner und Ernst Röhm einen Putsch, ausgehend von einer geplanten Massenkundgebung der vaterländischen Verbände gegen das Republikschutzgesetz am 25. August. Diese wurde jedoch kurzfristig verboten, sodass sich nur einige Tausend Nationalsozialisten versammelten. Hitler, der den Putschplan kannte, soll darüber vor Wut geschäumt und angekündigt haben, beim nächsten Mal werde er handeln. Die radikalen Kräfte um Röhm und Ludendorff lehnten Pittingers monarchistisch-föderalistischen Kurs ab und widerstanden zunehmend seinen Versuchen zur Einigung der Wehrbewegung. Zwar schloss sich die NSDAP zunächst der am 9. November 1922 gegründeten „Vereinigung vaterländischer Verbände in Bayern“ an, nicht jedoch der Bund Oberland und der Bund Wiking. Im Februar 1923, während der Ruhrbesetzung, gründete sich auf Initiative Röhms die Arbeitsgemeinschaft der Vaterländischen Kampfverbände, der sich die NSDAP und SA anschlossen. In ihr übte Hitler maßgeblichen Einfluss aus und definierte als ihre Ziele: Nachdem mehrere völkische Politiker, darunter Hitler, wegen Verstößen gegen das Republikschutzgesetz gerichtliche Vorladungen erhielten, ließ er die bayerische Staatsregierung im April 1923 durch die Arbeitsgemeinschaft ultimativ auffordern, Haftbefehle gegen „vaterländisch gesinnte Männer Bayerns ein für allemal“ abzulehnen. Sein Einfluss stieg, als er die SA aus ihrer Verbindung mit Ehrhardts Organisation löste. Hitler forderte als Erster eine „nationale Maifeier“. Die traditionelle, behördlich genehmigte Demonstration der Linksparteien am Ersten Mai 1923 in München ließ sich jedoch nicht verhindern. Die Kampfverbände beschlossen daher, selbst gewaltsam gegen die Maifeier der Linken vorzugehen. Die 3.000 Bewaffneten, die sich dazu auf dem Oberwiesenfeld versammelt hatten, wurden dort jedoch von Reichswehrtruppen und Landespolizei umstellt und zur Aufgabe gezwungen. Dies schwächte Hitlers Autorität in der NSDAP, so dass er sich eine Weile aus der Öffentlichkeit zurückzog. Im Mai 1923 gründete er mit dem Münchner Stoßtrupp Adolf Hitler eine Garde von Leibwächtern und Schlägern, die aus engen Vertrauten bestand. Beim „Deutschen Tag“ am 1. und 2. September 1923 in Nürnberg vereinigten Hitler, Ludendorff und ihre Anhänger den Bund Oberland mit dem Bund Reichskriegsflagge unter Röhm und der SA zum Deutschen Kampfbund. Dieser forderte eine „nationale Revolution“, bei der es wegen der Erfahrung vom 1. Mai primär darum gehe, von den „polizeilichen Machtmittel[n] des Staates“ Besitz zu ergreifen. Am 25. September übernahm Hitler seine politische Führung. Bei einem durch Ulrich Wille junior vermittelten Aufenthalt in Zürich im August 1923 redete er vor geladenen Gästen „Zur Lage in Deutschland“ und erhielt Spenden zwischen 11.000 und 123.000 Franken, meist in bar und ohne Quittung. Ob die unbekannte Gesamtsumme die Putschvorbereitung der NSDAP ermöglichte, ist ungeklärt. Am 26. September ließ der neue Reichskanzler Gustav Stresemann (DVP) den wirtschaftlich ruinösen passiven Widerstand gegen die belgisch-französische Ruhrbesetzung abbrechen. Daraufhin rief die bayerische Regierung den Ausnahmezustand über Bayern nach Artikel 48 aus und übertrug die vollziehende Gewalt auf Gustav von Kahr als „Generalstaatskommissar“. Er sollte offiziell mit seinen „speziellen Beziehungen“ zu bayerischen rechtsradikalen Organisationen und seiner bekannten völkisch-antisemitischen Gesinnung „Dummheiten“ von „irgendeiner Seite“ vorbeugen. Als eine seiner ersten Maßnahmen ließ er ostjüdische Familien aus Bayern ausweisen und ihren Besitz konfiszieren. Ein Artikel mit dem Titel Die Diktatoren Stresemann – Seeckt im Völkischen Beobachter, der die Reichsregierung scharf angriff, ließ den Konflikt zwischen ihr und der Regierung Bayerns eskalieren. Reichswehrminister Otto Geßler, der nach der Verhängung des Ausnahmezustands über das ganze Reich am 27. September die vollziehende Gewalt innehatte, verbot daraufhin den Völkischen Beobachter. Kahr und der Kommandeur der Reichswehr in Bayern, Otto von Lossow, verweigerten diesen Befehl. Am 29. September erklärte Kahr, er werde das Republikschutzgesetz in Bayern nicht länger vollziehen. Hitler besuchte am 30. September erstmals die Villa Wahnfried. Der „Bayreuther Kreis“ um Cosima Wagner unterstützte seinen Putschplan und seinen Anspruch, der ersehnte nationale „Führer“ zu werden. Am 7. Oktober versuchte Hitler vergeblich, Lossow und Seißer zum Eintritt in seinen Kampfbund zu bewegen. Am 20. Oktober setzte Geßler Lossow ab. Kahr ernannte Lossow daraufhin demonstrativ zum „Landeskommandanten“ und ließ die in Bayern stationierte 7. Reichswehrdivision auf Bayern vereidigen. Dieser offene Verfassungsbruch war ein erster Schritt zur Lösung Bayerns vom Reich. Nach dem Austritt der SPD aus dem Kabinett Stresemann am 2. November 1923 forderte Reichspräsident Friedrich Ebert am 3. November analog zur Reichsexekution gegen das von Kommunisten mitregierte Sachsen, Reichswehrtruppen gegen Bayern einzusetzen. Der Chef der Heeresleitung, Hans von Seeckt, lehnte dies ab, da man nicht über ausreichende Kräfte verfüge und Reichswehr nicht gegen Reichswehr marschiere. Seeckt verurteilte zwar den Ungehorsam der bayerischen Reichswehrtruppen, ließ aber Kahr gegenüber durchblicken, dass er vor allem im Interesse der Einheit des Reiches an den verfassungsgemäßen Formen festgehalten habe. Zugleich warnte er Kahr und Lossow, sich nicht zu sehr an den völkischen und nationalen Extremisten zu orientieren. Seeckt war zudem sowohl von Vertretern der Schwerindustrie wie Hugo Stinnes als auch zeitweise von Politikern wie Ebert und Stresemann als möglicher „Notstandskanzler“ einer nationalen Diktatur vorgesehen. Auch das „bayerische Triumvirat“ Kahr, Lossow und Oberst Hans von Seißer, Chef der Bayerischen Landespolizei, erwog Putschpläne gegen Berlin. In Absprache mit Kontaktleuten in Norddeutschland hofften sie im Oktober 1923, die Reichsregierung durch militärischen Druck dazu zu bringen, ein „nationales Direktorium“ einzusetzen. Lossow sprach bei einem Treffen mit den Führern der paramilitärischen Verbände am 24. Oktober sogar von einem „Marsch auf Berlin“, spielte tatsächlich aber vor allem gegenüber dem Deutschen Kampfbund auf Zeit. Anfang November herrschte indes noch völlige Unklarheit über die etwaige Zusammensetzung des Direktoriums. Während Kahr als Reichspräsident im Gespräch war, wären Hitler und Ludendorff, die ein Direktorium unter ihrer Führung in München wollten, in keinem Fall daran beteiligt worden. Am 3. November stellte Seeckt freilich gegenüber Seißer fest, nichts gegen die rechtmäßige Regierung unternehmen zu wollen. 9. November 1923 Nach dem 3. November warnte Kahr alle Führer „vaterländischer Verbände“ vor eigenmächtigen Aktionen und lehnte ein Treffen mit Hitler ab. Dieser fürchtete Kahrs Einigung mit der Reichsregierung und verabredete daher am 7. November mit den anderen Kampfbundführern den baldigen Putsch. Am Abend des 8. November sprach Kahr im Münchner Bürgerbräukeller vor etwa 3000 Anhängern über die Notwendigkeit der Diktatur und des Sturzes der „marxistischen“ Reichsregierung. Hitler ließ das Gebäude von seinem Kampfbund umstellen, verschaffte sich mit Waffengewalt Zutritt, rief die „nationale Revolution“ aus und forderte Kahr, Seißer und Lossow unter vorgehaltener Waffe zu einer Unterredung in einem Nebenraum auf. Das „Triumvirat“ war zunächst unwillig die Aktion mitzutragen. Erst nachdem Hitler durch eine kurze Rede im Saal die Stimmung in seinem Sinne gedreht und der mittlerweile eingetroffene Ludendorff Lossow und Seißer überzeugt hatte, erklärte sich auch Kahr bereit, den Putschversuch zu unterstützen und einer „provisorischen deutschen Nationalregierung“ unter Hitlers Führung zuzustimmen. Dass diese Zustimmung allein unter Todesdrohung erpresst worden sei, war eine spätere Schutzbehauptung Kahrs, Lossows und Seißers. Im weiteren Verlauf des Abends ließ Hitler alle anwesenden Mitglieder der bayerischen Landesregierung festsetzen und ernannte Ludendorff zum Oberbefehlshaber der Reichswehr. Dieser ließ das Triumvirat gegen 22.30 Uhr frei, das seine anfängliche Zustimmung, einige Stunden später widerrief, als klar wurde, dass die Aktion, deren Zielsetzung sie teilten, dilettantisch vorbereitet war und auf Widerstand stieß. Erst dann trafen sie Maßnahmen zur Niederschlagung des Putsches. SA und Bund Oberland nahmen zahlreiche wirkliche oder vermeintliche Münchner Juden, deren Namen und Adressen aus Telefonbüchern entnommen waren, als Geiseln fest. Obwohl der Münchner Kompaniechef Eduard Dietl, frühes DAP-Mitglied und Ausbilder der SA, und der Offiziersnachwuchs sich weigerten, gegen die Putschisten vorzugehen, gelang es den von Ernst Röhm geführten Kampfbundverbänden in der Nacht zum 9. November nicht, die meisten Münchner Kasernen, den Bahnhof und wichtige Regierungsgebäude zu besetzen. Seit den Ereignissen vom 1. Mai wusste Hitler, dass ein Putsch ohne Unterstützung von Reichswehr und Polizei aussichtslos war. Um sie und die Bevölkerung doch noch auf ihre Seite zu ziehen und den Umsturz in München zu erzwingen, beschlossen Hitler und Ludendorff, mit bis zu 4000 teilweise bewaffneten NSDAP-Anhängern vom Bürgerbräukeller durch die Innenstadt zum Sitz des Wehrkreiskommandos zu marschieren. Eine Einheit der Landespolizei unter Michael von Godin stoppte diesen Marsch nahe der Feldherrnhalle. In einem kurzen Feuergefecht starben 15 Putschisten und 4 Polizisten sowie ein Unbeteiligter. Eine tödliche Kugel traf den Finanzier der NSDAP, Max Erwin von Scheubner-Richter, der sich bei Hitler untergehakt hatte. Als er stürzte, zog er Hitler mit sich, der sich dabei die Schulter ausrenkte. Dennoch gelang es ihm zunächst, zu fliehen und sich im Haus Ernst Hanfstaengls am Staffelsee zu verstecken. Dort wurde er am 11. November verhaftet. Die schon in neun deutschen Ländern verbotene NSDAP wurde ebenfalls in Bayern und am 23. November reichsweit verboten. Ebert hatte Seeckt trotz dessen Befehlsverweigerung noch am 8. November 1923 den Oberbefehl über die Reichswehr übertragen, damit dieser die bayerische Reichswehr zum Vorgehen gegen die Putschisten bewegen konnte. So bewirkte Hitlers und Ludendorffs Alleingang ungewollt, dass die 7. Division den Zusammenhalt mit der übrigen Reichswehr wahrte, die republikfeindlichen Kräfte gespalten und die Putschpläne des bayerischen „Triumvirats“ durchkreuzt wurden. Hitler lernte daraus, dass er die Macht „nicht in totaler Konfrontation mit dem Staatsapparat, sondern nur im kalkulierten Zusammenspiel mit ihm“ erreichen konnte und dazu den „Schein der Legalität“ wahren musste. Der dilettantisch inszenierte, gescheiterte Putschversuch wurde ab 1933 zum Triumph umgedeutet und jährlich als heroische Tat mit dem Gedenken an die „Blutzeugen der Bewegung“ gefeiert. Prozess und Festungshaft Ab 26. Februar 1924 begann vor dem bayerischen Volksgericht, nicht vor dem zuständigen Reichsgericht in Leipzig, ein Prozess gegen zehn Putschteilnehmer. Die bayerische Staatsregierung, insbesondere Justizminister Franz Gürtner, der Hitler nach 1933 in gleicher Funktion auf Reichsebene diente, setzte alles daran, die Hintergründe des Putschversuchs zu verschleiern, vor allem die Verwicklung Kahrs, Lossows und Seißers. Weder ihre Verbindungen zu Hitler noch dessen Rolle am 1. Mai 1923 wurden als Gegenstand des Verfahrens zugelassen, sondern ausschließlich die Ereignisse des 8./9. November. Aber selbst die Geiselnahmen und die Tötung der vier Polizisten wurden nicht verhandelt. Mit dem Vorsitz wurde der deutschnational eingestellte Landgerichtsdirektor Georg Neithardt betraut, der Hitler und den übrigen Angeklagten mit äußerstem Wohlwollen begegnete. So ersetzte er ein erstes Verhörprotokoll Ludendorffs, aus dem dessen monatelange, aktive Putschvorbereitungen hervorgingen, durch ein zweites, in dem er behauptete, von dem Putschplan nichts gewusst zu haben. Indem Neithardt ihm Gelegenheit zu ausführlichen politisch-propagandistischen Statements gab, ermöglichte er es Hitler, sich von Beginn an als treibende Kraft des Putschversuchs darzustellen. Hitler bestritt allerdings den Vorwurf des Hochverrats und behauptete, die „Novemberverbrecher“ von 1918 seien die eigentlichen Verräter. Sein scheinbar mutiges Auftreten war die Folge eines Angebots von Neithardt: Dieser hatte Hitler ein mildes Urteil in Aussicht gestellt, falls er die Putschpläne der als Zeugen geladenen Kahr, Lossow und Seißer verschweige. Die „Justizkomödie“, wie Hitlers erster Biograf Konrad Heiden den Prozess nannte, endete am 1. April 1924 mit einem Freispruch für Ludendorff und milden Strafen gegen fünf Mitangeklagte wegen Beihilfe zum Hochverrat. Richter Neithardt hatte schon 1922 den ersten Prozess wegen Landfriedensbruchs gegen Hitler geführt und wusste daher, dass die damalige Haftstrafe noch zur Bewährung ausgesetzt war. Auch dass vier Beamte der Münchner Polizei von den Putschisten erschossen worden waren, wurde nicht zum Gegenstand der Verhandlungen gemacht. In einem Akt der Rechtsbeugung verurteilte er Hitler lediglich zur Mindeststrafe von fünf Jahren Festungshaft mit der Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung und einer Geldbuße von 200 Goldmark. Zudem verweigerte das Gericht seine nach dem Republikschutzgesetz zwingend vorgeschriebene Ausweisung als straffällig gewordener Ausländer, da er eine „ehrenhafte Gesinnung“ habe, deutsch denke und fühle, viereinhalb Jahre freiwillig im deutschen Heer Soldat gewesen und dabei verwundet worden sei. Sowohl die Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung als auch der Verzicht auf die Ausweisung widersprachen eindeutig den geltenden Gesetzen, die für vergleichbare Taten die Todesstrafe vorsahen. Hitler genoss während seiner Haft in einem separaten Trakt der Gefangenenanstalt Landsberg am Lech zahlreiche Privilegien; er hatte engen Kontakt mit Mitverurteilten und durfte viele Besucher empfangen (unter Berücksichtigung der Mehrfachnennungen verzeichnet die Besucherliste Hitlers 330 Personen) und mit ihnen vertrauliche Gespräche führen. Besucher bezeichneten seinen Haftraum wegen der vielen Feinkostwaren als „Delikatessenladen“. Für seine „Hofhaltung“ ließ die Anstaltsleitung sogar zusätzliche Zellen herrichten. Einer vorzeitigen Entlassung widersprach Staatsanwalt Ludwig Stenglein: Künftiges Wohlverhalten sei wegen seiner Verstöße gegen Haftauflagen (Briefschmuggel, Abfassen von Mein Kampf u. a.) nicht zu erwarten. Dennoch wurde Hitler wegen angeblich guter Führung nach weniger als neun Monaten Haft am 20. Dezember 1924 entlassen. Bis zum Prozess hatte Hitler sich eher als „Trommler“ der völkischen Bewegung gesehen, der den Weg für einen anderen „Retter Deutschlands“ wie etwa Ludendorff frei machen sollte. Die Bühne, die das Gericht ihm bot, erlaubte es ihm nun, in eine neue, führende Rolle zu schlüpfen. Durch die Prozessberichte wurde er auch im Norden Deutschlands als radikalster „völkischer“ Politiker bekannt. Seine Anhänger verehrten ihn als Helden und Märtyrer für die nationale Sache. Das stärkte seine Stellung in der NSDAP und sein Ansehen bei anderen Nationalisten. Wegen dieser Zustimmung, des Propagandaerfolgs seiner Verteidigung, seiner Reflexion beim Abfassen von Mein Kampf und des Zerfalls der NSDAP während seiner Haft sah Hitler sich selbst in der Rolle des großen, von vielen erhofften Führers und Retters Deutschlands. Er wollte die NSDAP nach seiner Entlassung als straff organisierte, von anderen Parteien unabhängige Führerpartei neu aufbauen. Ideologie „Mein Kampf“ Hitler schrieb in seiner Haftzeit 1923/24 weitgehend ohne fremde Hilfe den ersten Teil seiner Programmschrift Mein Kampf. Eine Autobiografie oder einen Ersatz für das 25-Punkte-Programm beabsichtigte er nicht. Der erste Band wurde von 1925 bis 1932 etwa 300.000 Mal verkauft und durch viele Rezensionen in öffentlichen Konflikten weithin bekannt. Beachtet wurden davon jedoch fast nur Hitlers außen- und parteipolitische Ziele, nicht seine Rassentheorie. Fast kein führender Politiker des Auslands las das Buch. Der 1926 erschienene zweite Band Die nationalsozialistische Bewegung führte Hitlers Vorstellungen zur Außenpolitik, Aufgabe und Struktur der NSDAP genauer aus und wurde noch weniger beachtet. Hitlers Zweites Buch von 1928 führte seinen extremen Antisemitismus, Rassismus und seine bevölkerungspolitischen Pläne näher aus, blieb aber unveröffentlicht. Rassismus und Antisemitismus Im ersten Band von „Mein Kampf“ entfaltete Hitler seinen seit Sommer 1919 vertretenen Rassenantisemitismus mit dem politischen Ziel einer „Entfernung der Juden überhaupt“. Zentralidee war ein Rassenkampf, der die Geschichte der Menschheit bestimme und in dem sich zwangsläufig das „Recht des Stärkeren“ durchsetze. Er verstand die „große[n] unvermischte[n] Bestände an nordisch-germanischen Menschen“ im „deutschen Volkskörper“, womit er sich auf die Rassenideologie Hans F. K. Günthers bezieht, als die stärkste, zur Weltherrschaft bestimmte Rasse. Als welthistorischen Todfeind der Arier sah Hitler die Juden: Diese strebten ebenfalls die Weltherrschaft an, sodass es zu einem apokalyptischen Endkampf mit ihnen kommen müsse. Denn da sie keine eigene Kraft und Nation besäßen, trachteten sie, als „Parasit im Körper anderer Völker“, alle anderen Rassen zu vernichten. Da dieses Streben in ihrer Rasse angelegt sei, könnten die Arier ihre Rasse nur durch Vernichtung der Juden bewahren. Im letzten Kapitel des zweiten Bandes von Mein Kampf schrieb er über deutsche Juden: „Hätte man zu Kriegsbeginn und während des Krieges einmal zwölf- oder fünfzehntausend dieser hebräischen Volksverderber so unter Giftgas gehalten, wie Hunderttausende unserer allerbesten deutschen Arbeiter aus allen Schichten und Berufen es im Felde erdulden mußten, dann wäre das Millionenopfer der Front nicht vergeblich gewesen. Im Gegenteil: Zwölftausend Schurken zur rechten Zeit beseitigt, hätten vielleicht einer Million ordentlicher, für die Zukunft wertvoller Deutschen das Leben gerettet.“ Das belegt Hitlers Bereitschaft zum Völkermord. Vernichtung „unwerten“ Lebens Aus Hitlers Rassismus folgte seine Ablehnung alles „Schwachen“ als „unwertes“ Leben ohne Lebensrecht: „Der Stärkere hat zu herrschen und sich nicht mit dem Schwächeren zu verschmelzen, um so die eigene Größe zu opfern.“ Nach außen wertete er die Slawen als „minderwertige Rasse“ ab, die zu Staatenbildung unfähig und darum künftig von höherwertigen Germanen zu beherrschen sei. Nach innen forderte er etwa eine Zwangssterilisation von zeugungsfähigen Erbkranken, Menschenzucht und „Euthanasie“. So sagte er auf dem Nürnberger NSDAP-Parteitag 1929: „Würde Deutschland jährlich eine Million Kinder bekommen und 700.000 bis 800.000 der Schwächsten beseitigt, dann würde am Ende das Ergebnis vielleicht sogar eine Kräftesteigerung sein.“ Diese Ideen gehen auf Vertreter der deutschsprachigen Rassenhygiene wie Alfred Ploetz und Wilhelm Schallmayer zurück. Sie betrafen vor allem Menschen mit Behinderungen. Hitlers Vorstellung des „Artfremden“, „Asozialen“ oder „Entarteten“ betraf auch in Mein Kampf ungenannte Gruppen, etwa „Zigeuner“ (gemeint: Roma und Jenische), Homosexuelle und christliche Pazifisten wie die Zeugen Jehovas, die Hitler als idealistisch verirrte und darum politisch gefährliche Verweigerer des notwendigen Überlebenskampfs abwertete. Ab 1933 ermordeten die Nationalsozialisten viele Mitglieder dieser Gruppen. Eroberung von „Lebensraum“ Die programmatische Forderung nach der Eroberung von Lebensraum im Osten zielte auf „Vernichtung des ‚jüdischen Bolschewismus‘“, wie Hitler das System der Sowjetunion nannte, und die „rücksichtslose Germanisierung“ osteuropäischer Gebiete. Gemeint war das Ansiedeln von Deutschen und Vertreiben („Aussiedlung“), Vernichten oder Versklaven insbesondere der slawischen Bevölkerung. Eine kulturell-sprachliche Assimilation lehnte er als „Bastardisierung“ und letztlich Selbstvernichtung der eigenen Rasse strikt ab. Damit hatte er, so Kershaw, „eine feste gedankliche Brücke zwischen der ‚Judenvernichtung‘ und einem auf den Erwerb von ‚Lebensraum‘ gerichteten Krieg gegen Rußland hergestellt“. Auf dieser ideologischen Basis sollte Osteuropa bis zum Ural „als Ergänzungs- und Siedlungsraum“ für das nationalsozialistische Deutsche Reich gewaltsam erschlossen werden. Hitlers Lebensraumidee knüpfte an Karl Haushofers Theorien zur Geopolitik an und überbot sie, indem er die Eroberung Osteuropas zum primären Kriegsziel der NSDAP und zum Mittel für dauerhafte ökonomische Autarkie und Hegemonie Deutschlands in einem von Grund auf neugeordneten Europa erhob. Führerprinzip Gegen Demokratie, Gewaltenteilung, Parlamentarismus und Pluralismus setzte Hitler ein unbeschränktes Führerprinzip: Alle Autorität in Partei und Staat sollte von einem nicht gewählten, nur per Akklamation bestätigten „Führer des Volkes“ ausgehen. Dieser sollte die ihm untergeordnete Führerebene ernennen, diese wiederum die nächsttiefere Ebene. Die jeweilige „Gefolgschaft“ sollte blind und bedingungslos gehorchen. Diese Führeridee war seit 1800 im modernen Nationalismus entstanden und seit 1900 als Sehnsucht nach einem „Volkskaiser“ oder einem autoritären, kriegerischen Reichskanzler wie Otto von Bismarck im demokratiefeindlichen Lager Allgemeingut geworden. Hitler hatte sie in Linz als Kult um Georg von Schönerer kennengelernt und in Wien die Wirkung antisemitischer Volksreden Karl Luegers erlebt, den er nun als Vorbild eines „Volkstribuns“ hervorhob. Dem Führerprinzip entsprach die paramilitärische Organisation der NSDAP. Er reklamierte die Rolle des nationalen Führers ab November 1922 nach Mussolinis erfolgreichem Marsch auf Rom für sich und übernahm den damit verbundenen „Führerkult“ und ein voluntaristisches Politikverständnis aus dem italienischen Faschismus. Demgemäß behauptete er, er habe seine Ideologie in Wien bis 1913 als Autodidakt erworben und dieses „granitene Fundament“ seines Handelns seither kaum verändert. Schönerer und Lueger hätten ihm zwar die Augen für die „Judenfrage“ geöffnet und ihn gelehrt, die Juden in allen Varianten als fremdes Volk zu betrachten; aber durch eigenes Forschen habe er die Identität von Marxismus und Judentum erkannt und so seinen instinktiven Hass bis 1909 zu einer „Weltanschauung“ verdichtet. Einstellung zu den christlichen Kirchen Hitler blieb trotz Ablehnung der Amtskirchen, die er als Konkurrenz auf ideologischer und organisatorischer Ebene sich unterzuordnen suchte, zeitlebens Mitglied der römisch-katholischen Kirche. Rhetorisch bekannte er sich zu einem persönlichen Gott, den er als „Allmächtigen“ oder „Vorsehung“ bezeichnete und als in der Geschichte wirksame Macht verstand. Er habe das deutsche Volk geschaffen, zur Herrschaft über die Völker bestimmt und Einzelpersonen wie ihn selbst zu seinen Führern auserwählt. Damit übertrug er die biblische Erwählung des Volkes Israel auf das Deutschtum und integrierte sie in das rassistische Weltbild des Nationalsozialismus. Für dieses beanspruchte er in der Politik einzige und totale Geltung. Der Philosoph Hermann Schmitz charakterisiert Hitler in Adolf Hitler in der Geschichte (1999) als antichristlich. Zum Beleg zitiert er u. a. Joseph Goebbels’ Tagebucheintrag vom 8. April 1941: „Der Führer ist ein ganz auf die Antike ausgerichteter Mensch. Er haßt das Christentum, weil es alles edle Menschentum verkrüppelt hat.“ Gemäß dem NSDAP-Programm, das ein überkonfessionelles „positives Christentum“ gegen den „jüdisch-materialistischen Geist“ im Rahmen des „Sittlichkeits- und Moralgefühls der germanischen Rasse“ bejahte, erklärte Hitler den politischen Antisemitismus zum Willen Gottes und sich zu dessen Vollstrecker: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“ Diesen „Erlösungsantisemitismus“ behielt er bis zu seinem Suizid unverändert bei und hob ihn immer wieder als Kern seines Denkens hervor. Aus dem Scheitern der „Los-von-Rom“-Bewegung Schönerers folgerte er: Der Nationalsozialismus müsse beide Großkirchen und ihre Lehren als „wertvolle Stützen für den Bestand unseres Volkes“ respektieren, schützen und konfessionelle Parteipolitik bekämpfen. Gläubige Protestanten und Katholiken könnten ohne Gewissenskonflikte in der NSDAP mitwirken. Schönerers Kampf gegen die Kirche habe die Volksseele missachtet und sei taktisch falsch gewesen, ebenso Luegers Judenmission, statt eine Lösung für die „Lebensfrage der Menschheit“ anzustreben. Als Einfluss nach 1918 lobte er nur Gottfried Feder. Einordnung und zeitgenössische Kritik Da Hitler fast alle seine Ideen aus dem Antisemitismus, dem Sozialdarwinismus und pseudowissenschaftlichen Biologismus des 19. und 20. Jahrhunderts übernahm, wird seine Ideologie und sein Aufstieg nicht als Ausnahme, sondern als Bestandteil und Ergebnis dieser Strömungen eingestuft. So war die Gleichsetzung von Sozialdemokraten, Marxisten und Juden in Österreich-Ungarn bei Christsozialen, Deutschnationalen und böhmischen nationalen Sozialisten seit den 1870er Jahren üblich. Viele Einzelmotive seiner frühen Vorträge wie das angebliche Nomadentum der Juden und ihre angebliche Unfähigkeit zu Kunst, Kultur und Staatenbildung entnahm Hitler aus vielfach neu aufgelegten Schriften deutscher Antisemiten, die er 1919/20 vom Münchner Nationalsozialisten Friedrich Krohn ausgeliehen haben kann. Darunter waren H. Naudh (Die Juden und der deutsche Staat, 12. Auflage 1891), Eugen Dühring (Die Judenfrage als Frage des Racencharakters, 5. Auflage 1901), Theodor Fritsch (Handbuch zur Judenfrage, 27. Auflage 1910), Houston Stewart Chamberlain (Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, 1899), Ludwig Wilser (Die Germanen, 1913), Adolf Wahrmund (Das Gesetz des Nomadentums und die heutige Judenherrschaft, München 1919) und die deutsche Übersetzung der Protokolle der Weisen von Zion, die Ludwig Müller von Hausen 1919 veröffentlicht hatte. Hitler benutzte die „Protokolle“ wie vor ihm Feder als Beweis für die angebliche „jüdische Weltverschwörung“. Um die Nationalsozialisten als unglaubwürdige Heuchler zu entlarven, betonten politische Gegner den Widerspruch von Hitlers Rassenideal zu seinem Aussehen. So zitierte Fritz Gerlich in der katholischen Zeitung Der gerade Weg 1932 ein „Gutachten“ des „Rassenhygienikers“ Max von Gruber von 1923 („Gesicht und Kopf schlechte Rasse, Mischling …“) und kam anhand der Rasse-Kriterien von Hans F. K. Günther zu dem Ergebnis, Hitler gehöre einer „ostisch-mongolischen Rassemischung“ an. Gerlich wurde vor allem wegen dieser Kritik 1934 ermordet. Auch Kurt Tucholsky bezeichnete Hitler 1932 als „hergelaufenen Mongolenwenzel“. Die Kritik an Hitlerkult und NS-Ideologie lebte nach 1933 als lebensgefährlicher Flüsterwitz fort: „Blond wie Hitler, groß wie Goebbels, schlank wie Göring und keusch wie Röhm.“ Neugründung und erste Erfolge der NSDAP Am 4. Januar 1925 versprach Hitler Bayerns Ministerpräsidenten Heinrich Held, er werde nur noch auf legale Weise Politik machen und der Regierung im Kampf gegen den Kommunismus helfen. Daraufhin hob Held das NSDAP-Verbot zum 16. Februar 1925 auf. Mit einem Leitartikel im Völkischen Beobachter gründete Hitler am 26. Februar die NSDAP unter seiner Führung neu. Damit seine Parteizentrale die Aufnahme kontrollieren konnte, mussten alle bisherigen Mitglieder einen neuen Mitgliedsausweis beantragen. Hitler selbst erhielt die Mitgliedsnummer 1. Zugleich appellierte er an die Einigkeit der völkischen Bewegung im Kampf gegen Judentum und Marxismus, nicht gegen den in Bayern starken Katholizismus. Damit grenzte er sich gegen Ludendorff ab, der den Vorsitz der Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung am 12. Februar niedergelegt und so deren Auflösung eingeleitet hatte. Hitler erreichte, dass die während des NSDAP-Verbots entstandenen konkurrierenden Splittergruppen Großdeutsche Volksgemeinschaft, „Deutsche Partei“, „Völkisch-Sozialer Block“ und die Deutschvölkische Freiheitspartei wieder oder neu in die NSDAP eintraten. Die SA ließ er nur noch als Hilfstruppe der NSDAP, nicht mehr als eigenständige paramilitärische Organisation zu, sodass Ernst Röhm ihre Führung abgab. Hitler verfügte über einen von Jakob Werlin geliehenen schwarzen Mercedes, einen eigenen Chauffeur und eine Leibgarde, mit der er zu seinen Auftritten fuhr. Er inszenierte diese fortan bis in jedes Detail hinein, indem er den Zeitpunkt seiner Ankunft, sein Betreten des Veranstaltungsraums, der Rednerbühne, seine Kleidung für die beabsichtigte Wirkung auswählte und seine Rhetorik und Mimik einstudierte. Auf Parteiversammlungen trug er eine hellbraune Uniform mit einer Hakenkreuzbinde, einen Gürtel, einen Lederriemen über der rechten Schulter und kniehohe Lederstiefel. Vor einem größeren Publikum trug er einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte, „wenn es angemessen erschien, […] einen weniger martialischen, respektableren Hitler vorzuführen“. Mit seinem oft getragenen blauen Anzug, Regenmantel, Filzhut und Hundepeitsche wirkte er dagegen wie ein „exzentrischer Gangster“. In der Freizeit trug er am liebsten traditionelle bayerische Lederhosen. Im Hochsommer vermied er es, in Badehose gesehen zu werden, um sich nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Hitler gründete im April 1925 in München mit der Schutzstaffel (SS) eine der Partei unterstehende persönliche „Leib- und Prügelgarde“, die ab dem Reichsparteitag im Jahr 1926 der SA unterstand. Er betrieb erfolgreich zunächst die deutschlandweite Ausdehnung der NSDAP durch Gründung neuer Orts- und Regionalgruppen, für die er „Gauleiter“ ernannte. Regionale Redeverbote behinderten diese Arbeit kaum. Er beauftragte Gregor Strasser im März 1925 mit dem Aufbau der NSDAP in Nord- und Westdeutschland. Strasser bildete dort bis September 1925 einen eigenen Parteiflügel, der gegenüber Hitlers Münchner Parteizentrale stärker sozialistische Ziele, einen sozialrevolutionären Kurs sowie eine außenpolitische Zusammenarbeit mit der Sowjetunion befürwortete. Strassers Entwurf eines neuen Parteiprogramms verlangte eine Bodenreform, die Enteignung von Aktiengesellschaften und auch eine Beteiligung der NSDAP am Volksbegehren zur Fürstenenteignung. Hitler ließ ihn zunächst gewähren, gewann aber Strassers Anhänger Joseph Goebbels als Unterstützer seines Kurses und seiner Führerrolle. Im Februar 1926 setzte er gegen Strassers Flügel die Ablehnung des neuen Programmentwurfs und damit auch von dessen Forderung einer Fürstenenteignung als Form eines „jüdischen Ausbeutungssystem[s]“ durch. Hitler untersagte jede Diskussion über das Parteiprogramm (von 1920). Im Sommer 1926 führte die NSDAP den Hitlergruß ein und machte so den Hitlerkult zu ihrem zentralen Merkmal. Hitler beherrschte die Partei damals ähnlich wie ab 1933, indem er Streit und Rivalitäten zunächst zuließ und dann die Entscheidung an sich zog. So wurde die persönliche Bindung an den „Führer“ entscheidend für den Einfluss, den ein Funktionär in der Partei hatte, und Hitler wurde in der NSDAP fast unangreifbar. Seit seinem Legalitätsversprechen wollte Hitler die Demokratie mit ihren eigenen Waffen schlagen und untergraben. Die NSDAP sollte in die Parlamente einziehen, ohne dort konstruktiv mitzuarbeiten. Zudem sollte die SA mit spektakulären Aufmärschen, Straßenschlachten und Krawallen öffentliche Beachtung der Partei und ihres Führers erzeugen und zugleich die Schwäche des demokratischen Systems offenbaren. Dazu bediente sich die NSDAP der damals völlig neuen Methoden der Werbung und Massenbeeinflussung (→ NS-Propaganda). Grundlegend für deren Erfolg war Hitlers massenwirksame Rhetorik. Er griff tagespolitische Themen auf, um regelmäßig und gezielt von der „Schuld der Novemberverbrecher von 1918“, ihrem „Dolchstoß“, der „bolschewistischen Gefahr“, der „Schmach von Versailles“, dem „parlamentarischen Wahnsinn“ und der Wurzel allen Übels zu reden: „den Juden“. Mit seiner Ruhrkampagne und der Broschüre Der Weg zum Wiederaufstieg versuchte er, die Unterstützung der Ruhrindustrie zu gewinnen. Bei der Reichstagswahl 1928 blieb die NSDAP mit 2,6 Prozent der Stimmen jedoch „eine unbedeutende, wenn auch lautstarke Splitterpartei“. Die stabilisierten wirtschaftlichen Verhältnisse und der anhaltende Wirtschaftsaufschwung („Goldene Zwanziger“) boten radikalen Parteien bis 1929 kaum Ansätze für ihre Agitation. Der 1929 von NSDAP und DNVP gemeinsam initiierte Volksentscheid gegen den Young-Plan, der die offenen Reparationsfragen zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Kriegsgegnern regeln sollte, scheiterte zwar. Aber Hitler und seine Partei erhielten bei den Landtagswahlen in Thüringen im Herbst 1929 erstmals erhebliche Zustimmung im nationalistisch-konservativen Bürgertum. Auch das Presseimperium des DNVP-Vorsitzenden Alfred Hugenberg unterstützte Hitler fortan, weil er in ihm und der NSDAP lenkbare Mittel sah, den deutschnationalen Kräften zu einer Massenbasis zu verhelfen. Infolge der Weltwirtschaftskrise zerbrach in Deutschland am 27. März 1930 die Weimarer Koalition. Dem Reichskanzler Hermann Müller (SPD), der noch eine demokratisch gesinnte Reichstagsmehrheit hatte, und dem ersten Präsidialkabinett von Heinrich Brüning (Zentrum) folgte die Reichstagswahl 1930: Dabei steigerte die NSDAP ihren Stimmenanteil auf 18,3 Prozent und ihre Reichstagssitze von 12 auf 107 Abgeordnete. Damit war sie als zweitstärkste Partei ein relevanter Machtfaktor in der deutschen Politik geworden. Im Ulmer Reichswehrprozess schwor Hitler als Zeuge der Verteidigung am 25. September 1930, er werde seine „ideellen Ziele unter keinen Umständen mit ungesetzlichen Mitteln erstreben“ und Parteigenossen, die sich nicht an diese Vorgabe hielten, ausschließen. Dann drohte er: „Wenn unsere Bewegung in ihrem legalen Kampf siegt, wird ein deutscher Staatsgerichtshof kommen; und der November 1918 wird seine Sühne finden, und es werden Köpfe rollen.“ Bei einer Zeugenvernehmung deckte Rechtsanwalt Hans Litten 1931 auf, dass Hitler weiterhin NS-Propaganda für einen gewaltsamen Umsturz zugelassen und somit seinen Legalitätseid gebrochen hatte. Hitler wurde wegen Meineides angezeigt. Obwohl genügend Beweise vorlagen, um ihn auszuweisen, wurde das Verfahren verschleppt und eingestellt. Währenddessen versuchte Kanzler Brüning, Hitler zur Zusammenarbeit zu bewegen und bot ihm eine Regierungsbeteiligung an, sobald er, Brüning, die Reparationsfrage gelöst habe. Hitler lehnte ab, sodass Brüning sein Minderheitskabinett von der SPD tolerieren lassen musste. Weg zur Kanzlerschaft Seit 1931 wurde Reichspräsident Hindenburg von Unterschriftenlisten und Eingaben für Hitlers Reichskanzlerschaft „geradezu überschwemmt“. Er lud Hitler und Hermann Göring zu einem ersten Gespräch am 10. Oktober 1931 ein, dem Vortag des Treffens der „Harzburger Front“. Laut Hitlerbiograf Konrad Heiden hielt Hitler dabei Monologe, statt Hindenburgs Fragen zu beantworten. Dieser soll daraufhin zu Kurt von Schleicher gesagt haben, der „böhmische Gefreite“ (Hindenburg verwechselte hier vermutlich das österreichische Braunau mit der gleichnamigen böhmischen Stadt, tschechisch Broumov, die er 1866 als Leutnant auf dem Weg zur Schlacht bei Königgrätz kennengelernt hatte) könne „höchstens Postminister“ werden. Hitler beeindruckte ihn zwar, überzeugte ihn dennoch nicht von seiner Eignung für das Kanzleramt. Im Krisenjahr 1932 wirkten die konservativen Politiker Franz von Papen, Kurt von Schleicher, Alfred Hugenberg und Oskar von Hindenburg mit verschiedenen persönlichen Zielen teils mit-, teils gegeneinander auf Hindenburg ein. Sie alle wollten die Weimarer Demokratie durch eine autoritäre Staatsform ersetzen und lehnten Hitler und seine Partei zunächst als „plebejisch“ ab. Weil sie kaum Rückhalt in der Bevölkerung erhielten, betrachteten und förderten sie die NSDAP oder einen ihrer Flügel zunehmend als die für ihre Vorhaben benötigte Massenbasis und setzten sich bei Hindenburg für deren Machtbeteiligung ein. Um bei der Reichspräsidentenwahl März/April 1932 gegen Hindenburg antreten zu können, musste Hitler, der seit dem 30. April 1925 Staatenloser war, nach § 1 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz Staatsangehöriger eines Bundesstaates und somit Deutscher werden (siehe Einbürgerung Adolf Hitlers Februar 1932). Als wegen Hochverrats Vorbestrafter strebte er die nach § 14 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz mögliche „Anstellung im unmittelbaren oder mittelbaren Staatsdienst“ an, die „für einen Ausländer als Einbürgerung […]“ galt, um die zu erwartenden Bedenken eines Bundesstaats gegen seine Einbürgerung zu umgehen. Nach mehreren erfolglosen Anläufen berief ihn der Innenminister im Freistaat Braunschweig Dietrich Klagges (NSDAP) drei Tage nach Bekanntgabe seiner Kandidatur zum Braunschweiger Regierungsrat. Hitler trat seinen vorgesehenen Dienst aber nie an, sondern erhielt sofort Urlaub für den Wahlkampf und beantragte später unbefristeten Urlaub für seine künftigen „politischen Kämpfe“. Er wurde erst als Reichskanzler am 16. Februar 1933 aus dem braunschweigischen Staatsdienst entlassen. Hindenburg wurde im zweiten Wahlgang am 10. April mit 53 % der Stimmen wiedergewählt, Hitler bekam hingegen nur 36,8 % der abgegebenen Stimmen. Viele SPD-Wähler hatten auf Rat Brünings für Hindenburg als „kleineres Übel“ gestimmt, um Hitlers Sieg und damit das Ende der Weimarer Demokratie zu verhindern. Der wiedergewählte Hindenburg entließ Brüning jedoch am 29. Mai, ernannte Franz von Papen zum neuen Reichskanzler und löste den Reichstag auf. Die NSDAP nutzte alle für 1932 vorgesehenen Landes- und Reichswahlen zu ständiger Agitation. Hitler engagierte den Opernsänger Paul Devrient als Stimmtrainer und Wahlkampfbegleiter und ließ sich von April bis November 1932 zu 148 Großkundgebungen einfliegen, die durchschnittlich 20.000 bis 30.000 Menschen besuchten. Die NS-Propaganda inszenierte ihn dabei als über den sozialen Klassen stehenden Heilsbringer („Hitler über Deutschland“) einer Bewegung. Er wurde in der Bevölkerung bekannter als jeder andere Kandidat vor ihm. Bei provokativen NSDAP-Aufmärschen starben in diesem Wahlkampf Dutzende Menschen gewaltsam. Der „Altonaer Blutsonntag“ (17. Juli) etwa bot Papens Regierung den Anlass, die verfassungsgemäß geschäftsführend amtierende Landesregierung Preußens durch eine Notverordnung abzusetzen (Preußenschlag, 20. Juli). Bei der Reichstagswahl vom Juli 1932 wurde die NSDAP mit 37,3 % stärkste Partei. Hitler beanspruchte das Kanzleramt. Schon in der zweiten Reichstagssitzung am 12. September löste Hindenburg den Reichstag auf Vorschlag Papens auf, da zu erwarten war, dass der Reichstag die Notverordnungen vom 4. und 5. September 1932, die erhebliche sozialpolitische Einschnitte enthielten, aufheben würde. Bei der Reichstagswahl November 1932 wurde die NSDAP trotz Stimmenverlusten mit 33,1 % erneut stärkste Partei; die KPD gewann ebenfalls Sitze dazu, sodass die demokratischen Parteien keine parlamentarische Mehrheit mehr stellen konnten. Daraufhin trat Papen zurück und schlug Hindenburg vor, ihn per Notverordnung zum Diktator zu ernennen. „Nationalkonservative Kräfte in Wirtschaft, Militär und Bürokratie“ strebten die „autoritäre (monarchistische) Umgestaltung des Staates“, die „dauerhafte Ausschaltung von KPD, SPD und Gewerkschaften“, den „Abbau der steuerlichen und sozialstaatlichen Belastungen der Wirtschaft“, die „schnelle Überwindung des Versailler Vertrages“ und die „Aufrüstung“ an. Sie glaubten, ihre Ziele nur gestützt auf die nationalsozialistische Massenbewegung erreichen zu können. Für sie unerwünschte Teile von Hitlers Programm (Führerdiktatur statt Monarchie, Berücksichtigung von Arbeiterinteressen) wollten diese Eliten durch die „Einrahmung“ Hitlers und die „Zähmung“ seiner Politik abschwächen. Dazu erschien ihnen Papen als geeigneter Bündnispartner, da er „nach wie vor das volle Vertrauen Hindenburgs besaß und als Einziger in der Lage war, dessen Misstrauen gegenüber Hitler zu zerstreuen“. Die meisten Industriellen lehnten eine Kanzlerschaft Hitlers aber weiterhin ab. Die lange verbreitete Vorstellung, Hitler wäre dank der Finanzierung durch die Großindustrie an die Macht gekommen, gilt heute als „Legende“ bzw. als „Mythos“. Hitler hatte Kapitalismuskritik in der NSDAP früh dem Antisemitismus untergeordnet, wonach nur die Juden ökonomisches Elend verschuldet hätten. Hitlers Rede vor dem Industrie-Club Düsseldorf lobte Anfang 1932 die Rolle der Wirtschaftseliten und betonte gegen die Wähler der Linksparteien: Das deutsche Volk könne nicht überleben, solange es zur Hälfte „Eigentum als Diebstahl“ betrachte. Nachdem Hitler bis Ende 1932 gute Beziehungen zu Unternehmerkreisen gewonnen und deren Bedenken gegen das NS-Wirtschaftsprogramm weitgehend ausgeräumt hatte, unterstützte die Großindustrie den Aufstieg der NSDAP in der Arbeitsstelle Schacht oder der Wirtschaftspolitischen Abteilung der NSDAP, vor allem durch „Wirtschaftsvertreter aus dem zweiten und dritten Glied der Eisen- und Stahlindustrie“ und spätere Arisierungsgewinnler, aber auch Bankiers und Großagrarier: Diese versuchten, eine künftige NS-Wirtschaftspolitik „mit dem Gedeihen privater Wirtschaft in Einklang zu bringen“, damit „Industrie und Handel mitmachen können“. Um das Risiko eines Bürgerkriegs und einer möglichen Niederlage der Reichswehr gegen die paramilitärischen Kräfte von SA und KPD zu vermeiden, ernannte Hindenburg Kurt von Schleicher am 3. Dezember zum Reichskanzler. Dieser war unter Papen Reichswehrminister geworden und vertrat scheinbar einen arbeiterfreundlicheren Kurs. Schleicher versuchte, die NSDAP durch eine Querfront-Strategie zu spalten: Gregor Strasser war bereit, auf Schleichers Vorschlag einer Regierungsbeteiligung einzugehen, Vizekanzler zu werden und damit Hitler zu übergehen. Dieser setzte seine Führungsrolle in der NSDAP und Anspruch auf das Kanzleramt im Dezember 1932 unter Tränen und Drohungen, sich umzubringen, durch. Damit waren Hindenburgs konservative Berater mit dem Versuch, die NSDAP an der Regierung zu beteiligen, ohne Hitler das Kanzleramt zuzugestehen, gescheitert. Das Treffen Papens mit Hitler im Haus des Bankiers Schröder am 4. Januar 1933 gilt als „Geburtsstunde des Dritten Reiches“, die „eine unmittelbare kausale Geschehensfolge bis zum 30. Januar“ einleitete: Indem Hitler Papen die Vizekanzlerschaft, die Besetzung der klassischen Ministerien mit Deutschnationalen und das Recht anbot, bei allen Vorträgen des Kanzlers beim Reichspräsidenten zugegen zu sein, erlangte er dessen Zustimmung. Papen und Hugenberg glaubten weiter, einen Reichskanzler Hitler in einer von konservativen Ministern dominierten Regierung „einrahmen“ und „zähmen“ zu können. Ihr Bündnis mit Hitler isolierte Schleichers Regierung, die der nationalsozialistisch geführte Reichslandbund im Schutzzollkonflikt zwischen Landwirtschaft und Exportindustrie zusätzlich unter Druck setzte. Die NSDAP wurde bei der Landtagswahl in Lippe 1933 (15. Januar) mit 39,5 % der Stimmen (bei 100.000 Wahlberechtigten) stärkste Partei und sah damit ihren Führungsanspruch bestärkt. Als der Missbrauch der Osthilfe Hindenburgs Ruf bedrohte, setzte sich dessen Freund Elard von Oldenburg-Januschau persönlich für Hitlers Kanzlerschaft ein, von dessen Kabinett er die Vertuschung des Skandals erwartete. Zudem gewann Hitler am 22. Januar Oskar von Hindenburg mit Drohungen und Angeboten als Unterstützer. Dies beseitigte letzte Vorbehalte des Reichspräsidenten gegen seine Ernennung. Als General Werner von Blomberg mit dem Versprechen, neuer Reichswehrminister zu werden, für Hitlers Regierung gewonnen wurde, verlor Schleicher die geschlossene Unterstützung der Reichswehr und war völlig isoliert und handlungsunfähig. Als Hindenburg seine Bitte um Neuwahlen ablehnte, trat er am 28. Januar 1933 zurück. Hitler, Papen und Hugenberg hatten sich inzwischen auf ein Kabinett geeinigt. Das ermöglichte Hitlers Ernennung zum Reichskanzler. Herrschaft vor dem Zweiten Weltkrieg (1933–1939) Errichtung der Diktatur Am 30. Januar 1933 ernannte Hindenburg verfassungswidrig zunächst Blomberg zum neuen Reichswehrminister, da die NSDAP in Berlin Putschgerüchte gestreut hatte. Erst danach vereidigte er Hitler und das übrige Kabinett und erlaubte ihm die geforderte Auflösung des Reichstags, um Neuwahlen zu ermöglichen. So wollte Hindenburg die politische Einigung der Rechtsparteien in einer von Deutschnationalen dominierten Koalitionsregierung erreichen. Demgemäß gehörten fast alle Minister im Kabinett Hitler zur DNVP. Vertreter der NSDAP waren außer Hitler nur Wilhelm Frick, der mit dem Reichsministerium des Innern ein Schlüsselressort innehatte, und ohne Geschäftsbereich Göring, der jetzt als „Reichskommissar für das preußische Innenministerium“ die Polizei im größten deutschen Staat kontrollierte. Damit konnte die NSDAP die Innenpolitik in Deutschland bestimmen. Hitler soll schon beim Einzug in die Alte Reichskanzlei gesagt haben: „Keine Macht der Welt wird mich jemals wieder lebend hier herausbringen.“ Bereits vor den Neuwahlen schränkte die Regierung Hitler durch die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes Grundrechte ein, bis der Reichstagsbrand vom 27. Februar als angebliches Startzeichen zu einem kommunistischen Aufstand ihr den Vorwand zur Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat (Reichstagsbrandverordnung) gab. Die auf Hitlers Initiative von Frick verfasste und vom Kabinett einstimmig beschlossene Verordnung schaffte Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und das Briefgeheimnis ab und ermöglichte die Verhaftung politischer Gegner. Sie begründete für die gesamte Zeit des Nationalsozialismus bis 1945 den Ausnahmezustand. Sie gilt daher als eigentliche „Verfassungsurkunde des Dritten Reiches“. Im folgenden Wahlkampf ließ Hitlers Regime viele Gegner, vor allem Kommunisten, einschüchtern, verhaften oder ermorden. Dennoch verfehlten NSDAP und DNVP bei der Reichstagswahl am 5. März die für Verfassungsänderungen notwendige Zweidrittelmehrheit. Hitler kandidierte im Wahlkreis 24 (Oberbayern-Schwaben) und wurde Mitglied des Reichstages. Am Tag von Potsdam, der Reichstagseröffnung am 21. März, inszenierten NSDAP und Deutschnationale ihre Einigung unter der Leitfigur Hindenburg. Am 23. März 1933 beschloss der Reichstag nach Annullierung der KPD-Mandate aufgrund der Reichstagsbrandverordnung mit den Stimmen der bürgerlichen Parteien das verfassungsändernde Ermächtigungsgesetz. Es erlaubte dem Regime für zunächst vier Jahre, Gesetze künftig direkt zu erlassen. Damit verzichtete der Reichstag auf seine Rolle als Gesetzgeber (Legislative), überließ diese der Regierung (Exekutive) und entmachtete den Reichspräsidenten. Das ermöglichte Hitlers Diktatur und die Gleichschaltung von Staat und Gesellschaft. Das NS-Regime zerschlug am 2. Mai, nach den Maifeiern des Vortags, die freien Gewerkschaften und gründete stattdessen am 10. Mai die Deutsche Arbeitsfront. Am 22. Juni wurde die SPD verboten, deren Abgeordnete als einzige gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hatten, und bis zum 5. Juli die Selbstauflösung der übrigen Parteien verfügt. Am 1. Dezember 1933 wurde die NSDAP mit dem Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat zur einzigen Staatspartei. In diesem Prozess wirkten „Druck von ‚unten‘“ und Hitlers „persönliche Initiative“ zusammen. Am 30. Juni 1934 und an den folgenden Tagen wurden auf Hitlers Befehl unter dem Vorwand eines angeblichen von Ernst Röhm geplanten Putsches („Röhm-Putsch“) unter maßgeblicher Beteiligung der Leibstandarte SS Adolf Hitler 150 bis 200 Führungskräfte der SA ermordet. Hitlers Kabinett legalisierte die Morde am 3. Juli 1934 mit dem Staatsnotwehrgesetz als „Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe“. Am 13. Juli 1934 versprach Hitler der Reichswehr erneut, sie bleibe die einzige Waffenträgerin des Staates. Am 1. August 1934, als der Tod Hindenburgs absehbar wurde, vereinigte das Kabinett dessen Reichspräsidentenamt per Gesetzesbeschluss mit dem Kanzleramt und übertrug „die bisherigen Befugnisse des Reichspräsidenten auf den Führer und Reichskanzler Adolf Hitler“. Am selben Tag gab Blomberg, ohne von Hitler dazu aufgefordert zu sein, bekannt, nach dem Ableben Hindenburgs die Soldaten der Wehrmacht auf den neuen Oberbefehlshaber vereidigen zu lassen. Bisher waren alle Soldaten auf die Weimarer Verfassung vereidigt worden. Am 2. August, Hindenburgs Todestag, ordnete ein Führererlass an, Hitler künftig „im amtlichen und außeramtlichen Verkehr wie bisher“ mit diesem Doppeltitel anzureden, da der Titel „Reichspräsident“ mit Hindenburgs Namen „unzertrennlich verbunden“ sei. Seitdem führte Hitler den Titel Führer und Reichskanzler. Die Ämtervereinigung bejahten am 19. August in der Volksabstimmung über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs 89,9 Prozent derer, die gültige Stimmen abgegeben hatten. Dennoch enttäuschte das Abstimmungsergebnis die NS-Führung, weil es in ihren Augen zu wenig beeindruckend ausgefallen war. Kabinettssitzungen verloren zunehmend an Bedeutung. 1935 kamen die Minister zwölfmal, 1937 sechsmal, am 5. Februar 1938 letztmals zusammen. Bis 1935 hielt sich Hitler an einen einigermaßen geordneten Tagesablauf in der Alten Reichskanzlei: vormittags, ab 10 Uhr, Besprechungen mit Hans Heinrich Lammers, Otto Meissner, Walther Funk und verschiedenen Ministern, Mittagessen um 13 oder 14 Uhr, nachmittags Besprechungen mit militärischen oder außenpolitischen Beratern oder bevorzugt mit Albert Speer über Baupläne. Allmählich wich Hitler von diesem festen Tagesablauf ab und pflegte wieder seinen früheren Bohème-Lebensstil. So erschwerte er seinen Adjutanten, von ihm als Staatsoberhaupt Entscheidungen zu erhalten. Die Minister (außer Goebbels und Speer) erhielten keinen Zugang mehr zu Hitler, falls sie keinen guten Kontakt zu dessen Adjutanten besaßen, die so große informelle Macht erlangten. Ausweitung des Hitlerkults 1933 wurde der Hitlerkult zum Massenphänomen, bei dem Erwartungen der Bevölkerung und NS-Propaganda zusammenwirkten. Hitlers Herrschaft war von Beginn an „extrem personalisiert“: Er hatte kein Politbüro wie Josef Stalin, keinen Kriegsrat und keinen Großrat wie Mussolini. Er ließ keinen Länderrat oder Parteisenat als Gegengewicht zu und ersetzte das Kabinett nicht, nachdem es nicht mehr zusammengetreten war. Der Hitlergruß wurde 1933 für Beamte zur Pflicht gemacht und von großen Bevölkerungsteilen freiwillig übernommen. Hitlers Politik stieß in weiten Teilen der Bevölkerung auf wachsende Zustimmung. Die realen oder scheinbaren Erfolge des Regimes – Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit, Überwindung des Versailler Vertrags und die innenpolitische Konsolidierung sowie später die zunächst spektakulären Siege zu Beginn des Zweiten Weltkriegs – schrieb die NS-Propaganda Hitler allein zu. Dadurch dehnte sie den Führerkult vom Parteimerkmal zu einem nationalen Kult aus und stärkte Hitlers Position gegenüber den konservativen Eliten und dem Ausland. Die fehlende Kritik nutzte Hitler zum weiteren Ausbau des schrankenlosen Führerstaates. Dieser wurde 1939 vollendet, als alle Beamten und Soldaten einen persönlichen Führereid ablegen mussten. Die NS-Rechtslehre legitimierte dies, indem sie Verfassungsrecht mit dem an keiner Rechtsidee messbaren Führerwillen gleichsetzte. Schon seit 1934 als „Führer und Reichskanzler“ angeredet, war der Titel „Führer“ ab 1941 ausschließlich Hitler vorbehalten. Dadurch, so die Germanistin Cornelia Schmitz-Berning, habe sich der Begriff allmählich zum Eigennamen entwickelt. Der Hitlerkult wurde im deutschen Alltag allgegenwärtig, etwa durch Umbenennung vieler Straßen und Plätze nach Hitler, durch die Würdigung als Ehrenbürger, einen Adolf-Hitler-Koog als Musterbeispiel für die staatliche Blut-und-Boden-Ideologie, dörfliche „Hitlereichen“ und „Hitlerlinden“, kommerziell vermarktete Hitlerbilder, ab 1937 staatliche Briefmarkenserien und Besucherandrang auf dem Obersalzberg. Diese Verehrung überstieg den Personenkult um Bismarck bei weitem. Für kritische Zeitgenossen wurde es immer schwieriger, sich davon zu distanzieren. Hitler zeichnete andere mit seinem Namen aus, etwa ab 1937 durch die Vergabe des Titels Adolf-Hitler-Schule an NS-Ausleseschulen. Dem kamen weite Gesellschaftsbereiche zunächst freiwillig entgegen: So entwickelte sich die Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft für den „nationalen Wiederaufbau“ ab 1. Juni 1933 von einer freiwilligen Spende hin zu einer Pflichtabgabe, die sich bis 1945 auf rund 700 Millionen Reichsmark für die NSDAP addierte, über deren Verwendung Hitler frei entscheiden konnte. Dafür stiftete er 1937 den „Adolf-Hitler-Dank“, eine jährliche Spende von einer halben Million Reichsmark „für besonders verdiente, notleidende Parteigenossen“. Der Hitlerkult gilt Historikern als Kennzeichen einer „charismatischen Herrschaft“, die bürokratische Instanzen nicht ersetzte, sondern überwölbte und so vielfach Kompetenzstreit zwischen Parteihierarchie und Staatsapparat erzeugte. Rivalitäten von NS-Behörden, die in Wettläufe um das vorauseilende Erfassen des „Führerwillens“ eintraten, erforderten wiederum immer mehr autoritative tagespolitische Entscheidungen Hitlers. Dieser ließ jedoch viele Konflikte unentschieden, um seinen Ruf als über den Alltagskonflikten stehender, unfehlbarer, genialer Alleinherrscher nicht zu beschädigen, und trug so zur Aushöhlung einer funktionierenden Staatsverwaltung bei. Mit dem Wachsen des Hitler-Mythos sank zugleich das Ansehen der NSDAP. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich und der ersten Wahl zum „Großdeutschen Reichstag“ am 10. April 1938 mit 99,1 % Zustimmung war das Prestige des Diktators abermals gestiegen und die Konsensbasis seiner Herrschaft vermutlich nie größer. Der Überfall auf Polen war bei den Deutschen nicht populär. Kershaw zufolge erreichte Hitlers Popularität trotzdem nach dem siegreichen „Blitzkrieg“ gegen Frankreich einen neuen Höhepunkt, ging 1941 nur allmählich zurück und stürzte erst nach der Niederlage in Stalingrad 1943 rasch ab. Götz Aly dagegen folgerte 2006 aus neuen Indikatoren eines von ihm geleiteten Forschungsprojekts, dass Hitlers Popularität schon vor dem Polenfeldzug stark abnahm, sich nach dem Westfeldzug 1940 kaum erholte und ab dem Überfall auf die Sowjetunion rapide abnahm. Verfolgungen Nach dem Straßenterror der SA in der Weimarer Republik begann mit Hitlers Machtantritt eine systematische, gewaltsame Verfolgung politischer Gegner der NSDAP unter dem Schlagwort der „nationalen Revolution“. So ließ die SA ab Januar 1933 Konzentrationslager einrichten. Die staatlichen Internierungen, Misshandlungen und Morde trafen seit der „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 1933 Kommunisten, Sozialdemokraten, Pazifisten, Zeugen Jehovas, konservative NS-Gegner und andere Deutsche, die Kritik äußerten oder sich widersetzten (→ Mitglieder des Widerstandes), sowie vor allem Juden. In den folgenden Jahren wurden die Verfolgungen auf verschiedene christliche Gruppen, Behinderte, Homosexuelle, vermeintlich Asoziale und „Fremdrassige“ ausgeweitet. Hitler hatte keinen umfassenden Plan für die staatliche „Judenpolitik“, sondern reagierte oft kurzfristig auf den Druck von NSDAP-Mitgliedern mit Gesetzesinitiativen. Deren erkennbares Ziel war die im NSDAP-Programm festgeschriebene Ausgrenzung und Vertreibung der deutschen Juden. Hitler bereitete den „Judenboykott“ vom 1. April 1933 direkt mit vor, trat aber nach außen nicht als dessen Initiator und Organisator auf. Er beriet das am 7. April erlassene Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (zum Ausschluss „nichtarischer“ Beamter) mit und entschied sich aus Rücksicht auf die politischen Bedingungen für eine gemäßigtere Fassung. Daraufhin schlossen auch viele Berufsverbände Juden aus. Dem folgten zahlreiche weitere, auch nichtstaatliche Ausgrenzungsschritte. Hitler schwebte schon 1933 eine konsequente Ghettoisierung der Juden und ihre räumliche Ausgrenzung vor: Sie müssten „heraus aus allen Berufen […], eingesperrt in ein Territorium, wo sie sich ergehen können […], während das deutsche Volk zusieht, wie man wilde Tiere sich ansieht“. Auch die Nürnberger Gesetze von 1935, die den deutschen Juden die staatsbürgerlichen Rechte entzogen und „Mischehen“ sowie sexuelle Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden als „Rassenschande“ mit Gefängnis oder Zuchthaus bedrohten, wurden durch Terror aus der Parteibasis angebahnt und sollten diese zufriedenstellen. Hitler bereitete sie monatelang mit vor, sodass er sich beim Nürnberger Reichsparteitag im September anderen Themen zuwenden konnte. Er strich die Begrenzung auf „Volljuden“ im Gesetzentwurf noch unmittelbar vor dessen Bekanntgabe am 15. September. Die Judenverfolgung trat zwar 1936 wegen Sommer- und Winter-Olympia und 1937 in den Hintergrund. Doch als Hitler am 9. November 1938 vom Tod des Botschaftssekretärs Ernst Eduard vom Rath erfuhr, auf den zwei Tage zuvor Herschel Grynszpan einen Anschlag verübt hatte, beriet er sich sofort mit Goebbels und autorisierte ihn, das Attentat als Vorwand für die Novemberpogrome auszunutzen. Dabei wurden in ganz Deutschland und Österreich Hunderte Juden ermordet, Zehntausende in KZs interniert und enteignet und Tausende Synagogen und jüdische Friedhöfe zerstört. US-Präsident Franklin D. Roosevelt verschärfte daraufhin den Ton gegenüber Deutschland. Hitler übertrug die weitere „Judenpolitik“ Hermann Göring, Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich. Diese unterbanden den „spontanen“, unkontrollierten Straßenterror endgültig, indem sie die Juden gesetzlich wie Kriminelle behandelten und etwa mit der „Judenbuße“ für die Schäden der Novemberpogrome aufkommen ließen. Hitler sagte in seiner Reichstagsrede zum sechsten Jahrestag seines Amtsantritts am 30. Januar 1939: Die Rede fand durch ihre Wiedergabe im Rundfunk, in Wochenschauen, in der gesamten Tagespresse und in mehreren Buchveröffentlichungen größte Verbreitung, wurde vom Publikum aber zumeist nicht wörtlich verstanden. Die zentrale Passage, dass ein Weltkrieg, für den selbstverständlich das Judentum verantwortlich wäre, die physische Vernichtung der Juden bringen würde, wiederholte Hitler in den Kriegsjahren in weiteren Reden. Dabei datierte er seine „Prophezeiung“ vom 30. Januar 1939 auf den Tag des Kriegsbeginns um und verschärfte seine Rede von der „Vernichtung“ noch um das Wort „ausrotten“. Baupolitik Hitler gab sich mit einem inszenierten Spatenstich am 23. September 1933 fälschlich als Erfinder und Planer der Reichsautobahnen aus und ließ deren Ausbau als „Hitler-Programm“ zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit propagieren. Tatsächlich waren die ersten zwei Autobahnen vor 1933 gebaut und weitere geplant worden. Der Weiterbau in der NS-Zeit beschäftigte meist nur Zehntausende, maximal 125.000 Arbeiter, die abkommandiert, zum Arbeiten für Niedriglöhne gezwungen und bei Weigerung in KZs inhaftiert wurden. Das Programm wurde 1941 wegen der Einziehung der Arbeiter für den Kriegsdienst unvollendet eingestellt. Hitlers Versprechen einer Massenmobilität blieb uneingelöst. Dennoch bestand das Klischee nach 1945 fort, er habe die Arbeitslosigkeit mit dem Autobahnbau bis 1938 erfolgreich beseitigt. Hitler plante seit 1933, Berlin bis 1950 als „Hauptstadt des germanischen Reichs deutscher Nation“ völlig umzugestalten und in „Germania“ umzubenennen. Dazu ernannte er Albert Speer 1937 zum „Generalinspekteur für die Neugestaltung der Reichshauptstadt“. Speer entwarf im Zuge der Planungen für den sich in der Öffentlichkeit gerne bescheiden gebenden Hitler einen gigantischen „Führerpalast“ im Spreebogen. Von den geplanten Monumentalbauten wurde 1939 nur die Neue Reichskanzlei fertiggestellt. Die Stadt sollte von einem Autobahnring umgeben und von zwei schnurgeraden, kreuzungslosen, breiten, für Aufmärsche geeigneten Prachtstraßen durchquert werden. Der Bau eines Tunnels zur Unterquerung der Nord-Süd-Achse wurde 1939 begonnen, aber 1942 wegen Materialmangels im Krieg eingestellt. Hitler ließ sich als „genialer Baumeister“ des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg ausgeben und mischte sich mit seinen Ideen, Skizzen und Besuchen in die Planung ein, segnete tatsächlich aber meist nur Initiativen anderer NSDAP-Stellen ab. Kirchenpolitik Gemäß der machttaktischen Bejahung des Christentums hatte Hitler Vertreter des Neuheidentums wie Artur Dinter 1928 aus der NSDAP ausgeschlossen und Alfred Rosenberg 1930 gezwungen, sein antikirchliches Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts als Privatansicht zu kennzeichnen. Zugleich hatte er planmäßige Versuche von NSDAP-Mitgliedern zugelassen, das Christentum an die NS-Rassenideologie anzugleichen. Dazu gründeten diese 1932 die Kirchenpartei Deutsche Christen (DC). Hitlers erste Regierungserklärungen (1. Februar, 23. März 1933) betonten, er werde das Christentum als „Basis unserer gesamten Moral“ schützen, „tiefe, innere Religiosität“ ermöglichen, die Staatsverträge beider Kirchen einhalten, ihnen in Schule und Erziehung angemessenen Einfluss zugestehen, den „Bolschewismus“ und atheistische Organisationen bekämpfen und freundschaftliche Beziehungen zum Vatikan ausbauen. Die Großkirchen seien die „wichtigsten Faktoren zur Erhaltung unseres Volkstums“. Dafür sollten sie sich am Kampf gegen die „materialistische Weltauffassung“ und am Aufbau der „Volksgemeinschaft“ beteiligen. Er schloss mit dem Vaterunser nachempfundenen liturgischen Gebetsformeln und mit „Amen“. Beim inszenierten „Tag von Potsdam“ (21. März) knüpfte er an preußische Staatskirchentradition an und zerstreute zugleich katholische Sorgen vor einem neuen „Kulturkampf“. Wegen dieser gezielten NS-Propaganda und ihrer eigenen antidemokratischen Tradition bejahten beide Großkirchen die Aufhebung der Demokratie. Die katholische Zentrumspartei unter Ludwig Kaas stimmte am 23. März für das Ermächtigungsgesetz. Die deutschen katholischen Bischöfe hoben die 1931 erklärte Unvereinbarkeit von Christentum und Nationalsozialismus am 28. März auf und erlaubten Katholiken den Beitritt zur NSDAP. Die meisten evangelischen Landeskirchen begrüßten die „nationale Wende“ und ließen Fürbitten zu Hitlers Geburtstag verlesen, ohne die Opfer der NS-Gewaltpolitik zu erwähnen. Bis zum 20. Juli handelte Hitler mit dem Vatikan ein Reichskonkordat aus, ähnlich den Lateranverträgen des Vatikans mit Mussolini (1929). Es verpflichtete die Bischöfe, vor Übernahme ihrer Diözese den Treueeid für sich und ihren Klerus „in die Hand des Reichsstatthalters“ zu schwören (Artikel 16). Es auferlegte dem Heiligen Stuhl unter anderem, politische Betätigungen katholischer Kleriker in und für Parteien zu untersagen (Artikal 32). Die Einrichtung von Bekenntnisschulen wurde zugesichert (Artikel 23, 25). Katholische Vereinigungen durften nur innerhalb staatlicher Verbände tätig werden, außerhalb davon nur für rein religiöse, rein kulturelle und karitative Aufgaben. Und: „Staatliche Verbände werden religiöses Verhalten nicht behindern“ (Artikal 31). Die konkrete Festlegung der Vereinigungen unterblieb, weil die Selbstauflösung der Zentrumspartei (5. Juli) den raschen Vertragsabschluss erzwang. Im Geheimanhang vereinbarten Hitler und der Vatikan Regelungen für die Wiedereinführung der verbotenen Wehrpflicht und den Kriegsfall. Um alle evangelischen Landeskirchen in einer „Reichskirche“ gleichzuschalten, berief Hitler am 25. April den ostpreußischen Militärpfarrer Ludwig Müller (DC) zum „Bevollmächtigten“ für evangelische Angelegenheiten und ernannte am 24. Juni August Jäger zum „Staatskommissar“ für die Landeskirchen in Preußen. Jäger ersetzte alle Kirchenleiter, die gegen staatliche Übergriffe protestierten, durch DC-Vertreter. Nach heftigen Protesten und einem von Hindenburg vermittelten Treffen nahm Hitler Jägers Maßnahmen zurück. Die am 11. Juli gebildete Deutsche Evangelische Kirche (DEK) verpflichtete sich dafür zu Kirchenwahlen am 23. Juli. Am Vorabend warb Hitler im Rundfunk massiv für die DC, die daraufhin die Leitung der meisten evangelischen Landeskirchen errangen. Nach Gesprächsprotokollen von Zeitzeugen lehnte Hitler das Christentum jedoch im Juli 1933 als „jüdischen Schwindel“ ab. „Deutsches Christentum“ sei Krampf und Illusion. Man könne nur entweder Christ oder Deutscher sein. Sein Eintreten für die DC war demnach nur machtpolitisch motiviert. Am 5. September wählten die DC Müller zum Reichsbischof und führten in Preußen ein zum Arierparagraphen analoges Gesetz ein, das Judenchristen aus der Landeskirche ausschloss. Infolge der Sportpalast-Kundgebung (13. November 1933) verloren sie viele Mitglieder und ihre Einheit. Daraufhin setzte Müller ihre Sprecher ab, unterstellte die evangelische Jugend im Dezember widerrechtlich der Hitlerjugend und verbot im Januar 1934 alle innerkirchliche Kritik an seiner Führung. Damit verlor er seine Autorität in der DEK. Im folgenden Kirchenkampf zerbrach deren organisatorische Einheit; der Arierparagraph ließ sich in ihr nicht mehr durchsetzen. Hitler nötigte die DC-Gegner am 25. Januar 1934 mit Vorführen abgehörter Telefonate Martin Niemöllers zunächst, sich staatsloyal zu zeigen und Müller als Reichsbischof zu akzeptieren. Im März ernannte er den ehemaligen Freikorpskämpfer Franz von Pfeffer zum „Sonderbeauftragten für Kirchenfragen“, am 12. April Jäger zum „Rechtswalter“ der DEK. Deren Versuche, die Gleichschaltung der Landeskirchen durch Absetzen gewählter Landesbischöfe zu erzwingen, scheiterten am Widerstand der DC-Gegner. Am 30. Mai 1934 gründeten diese die Bekennende Kirche (BK), deren von Karl Barth verfasste Barmer Theologische Erklärung nur einen Rechtsstaat als dem Evangelium gemäß definierte und totalitäre Staatsideologien als Häresie verwarf. Im Oktober schuf ein Teil der BK eigene Verwaltungsstrukturen. Londoner Vertreter der Ökumene drohten mit dem Abbruch der Beziehungen zur DEK. Infolge der starken in- und ausländischen Proteste setzte Hitler Pfeffer und Jäger Ende Oktober 1934 ab, sagte die geplante Vereidigung aller evangelischen Bischöfe auf sich ab und erkannte die Bischöfe Hans Meiser, Theophil Wurm und August Marahrens als rechtmäßige Kirchenvertreter an. So inszenierte er sich als Schlichter des Streits in der DEK. Parallel dazu stärkte Hitler 1934 die kirchenfeindlichen Kräfte in der NSDAP: Er ernannte Alfred Rosenberg zum „Weltanschauungsbeauftragten“ (Januar), ließ beim „Röhmputsch“ auch einige engagierte Katholiken ermorden (Juli), den Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (SD) einrichten und dessen Hauptamt nach Berlin verlegen (Dezember). Die SD-Zentralabteilung für „weltanschauliche Auswertung“ bespitzelte beide Großkirchen und bekämpfte ihren öffentlichen Einfluss zugunsten neuheidnischer Religiosität. Im Anschluss an Vorschläge von Staatssekretär Wilhelm Stuckart (Januar 1935) lehnte Hitler den Rückzug des Staates aus kirchlichen Belangen jedoch ab und bevorzugte abwartende Neutralität und verschärfte Aufsicht des Staates über die Kirchen. Dazu ernannte er Hanns Kerrl zum „Reichskirchenminister“ (Juli). Dieser erließ ein „Gesetz zur Sicherung der DEK“ (September), das die Tätigkeit der BK mit 17 Durchführungsverordnungen bis 1939 stark begrenzte und den DEK-Teilkirchen unter anderem die Verfügung über ihre Geldmittel und Rechtsverfahren entzog. Mit Vertretern aller Richtungen besetzte staatliche „Kirchenausschüsse“ sollten die DEK organisatorisch einen. Kerrl verfehlte dieses Ziel und spaltete die BK in Befürworter und Gegner seiner Ausschüsse (Februar 1936). Infolge wachsender Proteste gegen Kerrl setzte Hitler am 15. Februar 1937 überraschend Neuwahlen in der DEK an, angeblich um ihr eine autonome Kirchenverfassung zu gewähren. Da Teile der DEK mit einem Wahlboykott drohten, wurde der Wahltermin mehrmals verschoben und im November abgesagt. Die Gestapo nahm bis zum Jahresende zahlreiche BK-Vertreter und katholische NS-Gegner fest. Im Dezember übertrug Kerrl die DEK-Leitung dem Juristen Friedrich Werner. Dieser schränkte kirchliche Publizistik, Ausbildung und Finanzierung fortlaufend weiter ein und entzweite die BK, indem er von allen Pfarrern Preußens einen Treueid auf Hitler verlangte (April 1938). Die meisten BK-Vertreter bejahten den Eid als rechtmäßige Staatsforderung, aber Hitlers Stellvertreter Martin Bormann schrieb an alle NSDAP-Gauleiter, der Eid sei innerkirchlich und freiwillig (Juli). Indem das NS-Regime dies im September bekannt werden ließ, schwächte es die Autorität der BK-Leitung erheblich. Kerrl versuchte 1939 wiederholt, alle DEK-Führer auf eine Erklärung zur „dem deutschen Volke artgemäßen nationalsozialistischen Weltanschauung“ und zum „unerbittlichen Kampf gegen den politischen und geistigen Einfluß der jüdischen Rasse“ zu verpflichten. August Marahrens unterschrieb die Erklärung im Juli eigenmächtig für den Lutherrat, der damit ebenfalls Autorität in der BK verlor. Nach dem Anschluss Österreichs (März 1938) begrenzte Hitler Kerrls Befugnisse auf das „Altreich“; nach Kerrls Tod (Dezember 1941) ließ er dessen Amt unbesetzt. Er ließ die antikirchlichen NSDAP-Vertreter kirchliche Aktivitäten in den neuen Gebieten unterdrücken; sie beseitigten 1938 in Österreich alle Ordens- und Klosterschulen. Im September 1939 verbot Hitler jedoch alle NSDAP-Maßnahmen gegen die Großkirchen, damit sie seinen Krieg unterstützten. Diese riefen die Christen 1939 gemeinsam zum „Gehorsam gegen den Führer“, Gebet und Einsatz für den deutschen Sieg auf. Gauleiter Arthur Greiser erklärte die Kirchen im neugebildeten „Reichsgau Wartheland“ 1940 zu Religionsvereinen ohne staatlichen Rechtsschutz und enteignete sie bis auf reine Kulträume. Zwar protestierten die Großkirchen, dankten Hitler aber Ende Juni 1941 dafür, dass er die „christlich-abendländische Kultur“ vor dem „Todfeind aller Ordnung“, dem Kommunismus, gerettet habe. Dieser erklärte nun vor allem aufgrund deutlicher kirchlicher Proteste gegen die Euthanasiemorde vor Vertrauten öfter: Nach dem Krieg werde er das „Kirchenproblem lösen“ und die Großkirchen entmachten; das Christentum müsse „abfaulen wie ein brandiges Glied“. Daraufhin übertrug Bormann allen NSDAP-Gauleitern die Kirchenpolitik in den eroberten Gebieten und befahl ihnen, den Einfluss der Kirchen auf die „Volksführung“ endgültig zu brechen. Aufrüstungs-, Expansions- und Kriegskurs Wie die demokratischen Regierungen der Weimarer Republik wollte Hitler außenpolitisch zunächst die im Versailler Vertrag von 1919 festgelegten deutschen Gebietsverluste und Rüstungsbeschränkungen revidieren, jedoch nicht bloß mit diplomatischen Vorstößen, sondern mit dem Risiko militärischer Konflikte. Öffentlich betonte er bis 1939 wiederholt seinen Friedenswillen; tatsächlich bereitete er seit 1933 erst die Aufrüstung der Wehrmacht und die deutsche Kriegsfähigkeit, spätestens seit 1937 einen Angriffskrieg vor. Laut der Liebmann-Aufzeichnung erläuterte er der Reichswehrführung am 3. Februar 1933 die angestrebte kriegerische Eroberung von „Lebensraum im Osten“ und nahm Polen schon als „Feindstaat“ ins Visier. Öffentlich betonte er dagegen in der Friedensrede vom 17. Mai 1933 vor dem Reichstag seinen Friedenswillen – ein Propagandamanöver, mit dem die Gegner des NS-Regimes beruhigt werden sollten. Die SPD-Fraktion stimmte in der Abstimmung zu dieser so genannten Friedensrede mit Ja, was zum Bruch der Reichs-SPD mit der Sozialistischen Internationale führte. Im Oktober 1933 brach das NS-Regime Abrüstungsverhandlungen mit Großbritannien und Frankreich ab und veranlasste den Austritt des Deutschen Reiches aus dem Völkerbund. Nach Hindenburgs Tod 1934 teilte Hitler der Generalität mit, dass Deutschland in fünf Jahren kriegsbereit sein solle. Er unterstützte einen nationalsozialistischen Putschversuch in Wien, bei dem der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß ermordet wurde. Nachdem dieser Putschversuch gescheitert war, erklärte Hitler, das deutsche Reich habe nichts damit zu tun gehabt. Im März 1934 erhöhte Hitler den deutschen Wehretat über die Grenzen des Versailler Vertrags hinaus. Im September 1934 schloss er mit Polen überraschend einen zehnjährigen Nichtangriffspakt. Am 16. März 1935 führte er die im Versailler Vertrag verbotene allgemeine Wehrpflicht wieder ein. In einer Sitzung seines Kabinetts am 21. Mai 1935 verkündete er das neue Wehrgesetz, wonach der „Führer und Reichskanzler“ „Oberster Befehlshaber der Wehrmacht“ sei. Unter ihm übe der Reichskriegsminister Blomberg als „Oberbefehlshaber der Wehrmacht“ Befehlsgewalt über die Wehrmacht aus. Um Großbritannien in Sicherheit zu wiegen, wiederholte er am selben Tag in einer „Friedensrede“ im Reichstag, die deutsche Marine strebe nur 35 Prozent der Tonnage der britischen Flotte an. Am 18. Juni 1935 schloss Großbritannien mit Deutschland ein von Hitler angebotenes Flottenabkommen, um eine andernfalls eventuell noch stärkere deutsche Aufrüstung zu vermeiden. 1936 kündigte Hitler den Vierjahresplan an. Dieser sollte in vier Jahren die deutsche Armee einsatzfähig und die deutsche Wirtschaft kriegsfähig machen. Er wurde mit Mefo-Wechseln finanziert und trug zum deutschen Wirtschaftsaufschwung bei. Im März 1936 folgte die Rheinlandbesetzung. Beide Brüche des Versailler Vertrags nahmen die Alliierten hin. Das NS-Regime verhalf Francisco Franco im Spanischen Bürgerkrieg seit 1936 mit dem Einsatz der deutschen Legion Condor und völkerrechtswidrigen Bombenangriffen auf Städte wie Gernika zum Sieg. Am 5. November 1937 erläuterte Hitler vor dem Außenminister, dem Kriegsminister und den Oberbefehlshabern der drei Wehrmachtteile seine „grundlegenden Gedanken über […] unsere außenpolitische Lage“. 85 Millionen Deutsche hätten ein „Anrecht auf größeren Lebensraum“, daher sei die „Lösung der Raumnot“ die zentrale Aufgabe der deutschen Politik. England und Frankreich seien dabei die beiden Hauptgegner. Am Schluss des mehr als zweistündigen Monologs nannte er als erstes Ziel die Niederwerfung der „Tschechei und gleichzeitig Österreich[s], um die Flankenbedrohung […] auszuschalten“. Damit hatte der Diktator seine Karten aufgedeckt und die beiden Nahziele deutscher Expansion genannt. In der folgenden zweistündigen Diskussion erhoben die Generäle Bedenken nicht wegen eines Anschlusses Österreichs und einer Annexion der Tschechoslowakei, waren aber beunruhigt wegen Hitlers Ungeduld und befürchteten einen vorzeitigen europäischen Konflikt. Außenminister Neurath will Hitler im Januar 1938 davor gewarnt haben, „dass seine Politik zum Weltkrieg führen“ müsse. Hitler soll nur erwidert haben, „er habe keine Zeit mehr“. In der Blomberg-Fritsch-Krise (Januar/Februar 1938) trat Blomberg vom Amt als Reichskriegsminister zurück; Hitler entband Werner von Fritsch vom Oberkommando des Heeres (OKH) und übernahm das neugeschaffene Oberkommando der Wehrmacht (OKW) per Führererlass vom 4. Februar 1938. Er sah sich dabei als idealen „Feldherrn“, der „mit Kopf, Willen und Herzen den totalen Krieg für die Lebenserhaltung des Volkes“ (Ludendorff 1935) zu führen habe und dies wie sein Idol Friedrich „der Große“, aber anders als Wilhelm II. nicht den Militärs überlassen dürfe. Vielmehr verlange der im „Kampf ums Dasein“ notwendige, kommende Vernichtungskrieg vom „‚Führer‘ des deutschen Volkes“ die Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte. Er müsse nicht nur allgemeine „weltanschauliche“ und politische Ziele, sondern auch die Strategien der einzelnen Feldzüge vorgeben. Mit militärischen Drohungen („Unternehmen Otto“) erreichte Hitler im März 1938 den „Anschluss“ Österreichs an das fortan „Großdeutsche Reich“. In Wien verkündete er am 15. März einer begeisterten Menge die „Vollzugsmeldung meines Lebens“: den „Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich“. Im September 1938 verlangte er von der Tschechoslowakei, das Sudetenland an Deutschland abzutreten, und drohte andernfalls mit dem Einmarsch deutscher Truppen (Sudetenkrise). Auf der Münchener Konferenz am 29. September 1938 sicherte Hitler deren Verbündeten Frankreich und Großbritannien den Bestand der übrigen Tschechoslowakei zu. Dafür gestanden ihm der britische Premier Neville Chamberlain und der französische Ministerpräsident Édouard Daladier die Eingliederung der sudetendeutschen Gebiete zu, um den angedrohten Krieg zu verhindern. Hitler, der Krieg und Expansion für unaufgebbare Überlebensbedingungen seines Regimes hielt, fühlte sich mit dem Abkommen um die angestrebte Eroberung der ganzen Tschechoslowakei betrogen. Auf Hitlers Druck hin rief Jozef Tiso im März 1939 die Erste Slowakische Republik aus. Hitler ließ am 15. März das verbliebene tschechische Staatsgebiet von der Wehrmacht besetzen und am folgenden Tag als „Protektorat Böhmen und Mähren“ des Großdeutschen Reiches annektieren. Dieser Bruch des Münchner Abkommens sollte die „Germanisierung“ dieser Gebiete erleichtern: Ein Teil der Tschechen sollte assimiliert, der Rest als „rassisch unbrauchbar“ und „reichsfeindlich“ ermordet oder vertrieben werden. Die Slowakei wurde zu einem Satellitenstaat Deutschlands. Am 23. März 1939 trat Litauen, das Hitler zuvor ebenfalls massiv unter Druck gesetzt hatte, das Memelland an Deutschland ab. Wegen Hitlers Vertragsbruch beendeten Frankreich und Großbritannien ihre bisherige Appeasement-Politik und schlossen mit Polen bis zum 13. April 1939 militärische Beistandsverträge. Schon am 11. April befahl Hitler dem Wehrmachtführungsstab, den Überfall auf Polen bis zum Herbst militärisch vorzubereiten. Am 28. April kündigte er den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt sowie das deutsch-britische Flottenabkommen und verlangte den Anschluss der Freistadt Danzig an das Deutsche Reich. Am 23. Mai erklärte er den Generälen der Wehrmacht, diese Forderung sei nur ein Vorwand zur Eroberung von „Lebensraum“ für eine autarke Ernährung der Deutschen (siehe Schmundt-Protokoll). Als Bedingung für einen Nichtangriffsvertrag mit den Westmächten, der diesen Polens Verteidigung erleichtern sollte, verlangte der sowjetische Diktator Josef Stalin von Polen eine Durchzugsgarantie für die Rote Armee, die dessen Regierung erwartungsgemäß ablehnte. Dann vereinbarte Stalin mit Hitler bis zum 24. August den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt. Damit wollte er Zeit zur Reorganisation der Roten Armee gewinnen, deren Offiziere er im Großen Terror (1937–1939) massenhaft hatte ermorden lassen. Im geheimen Zusatzprotokoll des Paktes vereinbarten beide Seiten die Aufteilung Polens und des Baltikums. In der Ansprache Hitlers vor den Oberbefehlshabern am 22. August 1939 gab er die „Vernichtung Polens = Beseitigung seiner lebendigen Kraft“ als sein Kriegsziel bekannt und erklärte: „Wir werden den Westen halten, bis wir Polen erobert haben.“ Die Zeitschrift Time wählte Hitler 1939 zum „Mann des Jahres“ 1938, weil er zur größten Bedrohung der demokratischen, freiheitsliebenden Welt geworden sei. Herrschaft im Zweiten Weltkrieg (1939–1945) Überfall auf Polen Kurz nach Abschluss des Pakts mit Stalin forderte Hitler von Polen, den Polnischen Korridor abzutreten und die polnischen Rechte in der Freien Stadt Danzig dem Deutschen Reich zu überlassen. Die NS-Propaganda behauptete verstärkt angebliche Gräueltaten und Massaker von Polen an sogenannten Volksdeutschen und forderte ein Einschreiten dagegen. Seit dem 28. August stand für die deutsche Wehrmacht als Angriffstermin der 1. September fest. Am 31. August um 12:40 Uhr erteilte Hitler seine „Weisung Nr. 1 für die Kriegführung“. In der Nacht vom 31. August auf den 1. September 1939 inszenierten in polnische Uniformen gekleidete SS-Männer einen Überfall auf den Sender Gleiwitz in Schlesien. Ab 4:45 Uhr beschoss das deutsche Linienschiff Schleswig-Holstein die polnischen Stellungen auf der Danziger Westerplatte. Mit diesem Angriff begann der deutsche Überfall auf Polen, durch den Hitler den Zweiten Weltkrieg entfesselte. Am 1. September behauptete Hitler wahrheitswidrig in seiner im Radio übertragenen Rede vor dem Reichstag, Polen habe Deutschland angegriffen und seit 5:45 Uhr werde „zurückgeschossen“. Frankreich und Großbritannien erklärten am 3. September Deutschland den Krieg gemäß ihren Bündnisverträgen mit Polen, jedoch ohne eigene Kampfhandlungen gegen Deutschland zu eröffnen. Am 18. September wurde die Masse der polnischen Truppen eingeschlossen, nachdem tags zuvor die Rote Armee mit ihrem Einmarsch in Ostpolen begonnen hatte. Warschau kapitulierte am 27. September. Hitler nahm hier am 5. Oktober eine Parade der 8. Armee ab. Im Verlauf des deutschen Polenkriegs fielen etwa 66.000 polnische und 17.000 deutsche Soldaten. Speziell aufgestellte Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, Soldaten der Wehrmacht und Einheiten von Volksdeutschen ermordeten im Polenfeldzug rund 16.400, bis zum Jahresende rund 60.000 Polen, darunter etwa 7.000 Juden. Damit wollten sie möglichst viele der zwei Millionen polnischen Juden in das sowjetisch besetzte Ostpolen vertreiben. Ab Oktober 1939 erfolgten Deportationen von Juden in abgelegene polnische Gebiete. Sie wurden zwar im März 1940 nach örtlichen Protesten eingestellt, dienten aber als erprobtes Muster für umfassende Abschiebepläne der Folgejahre wie der (nach dem Westfeldzug undurchführbare) Madagaskarplan, deren erwünschte Folge die Vernichtung der europäischen Juden sein sollte. Am 17. September 1939 marschierte die Rote Armee gemäß dem geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt in Ostpolen ein. Nach dem Zusammentreffen von deutschen und sowjetischen Truppen in Brest-Litowsk am 22. September 1939 erfuhr Hitler, wie schlecht die sowjetischen Panzer seien. Die Niederlagen der Roten Armee im Winterkrieg gegen Finnland 1939/40 bestärkten Hitler in seiner Annahme, die Rote Armee sei ein leicht zu besiegender Gegner. „Euthanasie“ Aller Wahrscheinlichkeit nach äußerte sich Hitler um das Jahr 1935 grundsätzlich positiv zur „Euthanasie“, ohne diese konkret zu planen. Er habe geäußert, die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ erst im Falle eines Krieges aufzugreifen, „wenn alle Welt auf die Kampfhandlungen schaut und der Wert des Menschenlebens ohnehin minder schwer wiegt“. Der Fall eines behinderten Kindes aus Pomßen in Sachsen führte 1938 oder 1939 dazu, dass sich Hitler selbst oder die Kanzlei des Führers näher mit der Krankentötung beschäftigte. Zunächst wurde die Kinder-„Euthanasie“ vorbereitet. Im Juli 1939 erteilte Hitler dem Reichsärzteführer Leonardo Conti dann den Auftrag, auch die „Erwachseneneuthanasie“ zu organisieren. Bereits zuvor hatte Hitler Ärzte als durch ihr Ansehen wertvolle Propagandisten der NS-Ideologie erkannt und zahlreiche Mediziner um sich versammelt. Während Conti eine Reglementierung befürwortete, beauftragte Hitler mittels eines privaten Briefes Philipp Bouhler und Karl Brandt, die „Aktion Gnadentod“ in die Wege zu leiten. Im Oktober 1939 erging zu diesem Zweck ein informelles Schreiben Hitlers, das auf den 1. September, mithin auf den Kriegsbeginn, zurückdatiert war und Philipp Bouhler und seinen Begleitarzt Karl Brandt ermächtigte, die sprachlich als „Gnadentod“ verschleierte Ermordung von Psychiatriepatienten und behinderten Menschen zu organisieren. Diese schriftliche Vollmacht legitimierte auf Drängen der Organisatoren Hitlers vorherigen mündlichen Auftrag für diesen Massenmord ohne ausdrückliches Gesetz, das er aus Geheimhaltungsgründen auch weiterhin verweigerte. Die Krankenmorde in der Zeit des Nationalsozialismus wurden als „Euthanasie“ beschönigt und als „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ideologisch gerechtfertigt. Über die halbstaatliche Sonderverwaltung Zentraldienststelle T4 wurden Zwischenanstalten eingerichtet, in denen die Opfer aus dem ganzen Reich zunächst gesammelt und zur Vergasung in eigene Tötungsanstalten transportiert wurden. Wegen verschiedener Durchführungspannen erfuhren Vertreter der Großkirchen in Deutschland, darunter Bischof Clemens August Graf von Galen, von dieser „Geheimen Reichssache“ und wandten sich nach einiger Bedenkzeit vereinzelt öffentlich dagegen. Am 24. August 1941 befahl Hitler offiziell die Einstellung der „Aktion T4“ und damit einen Stopp der Krankenmorde, was vermutlich in erster Linie planungsstrategische Gründe hatte. Die Morde wurden dezentral als „wilde Euthanasie“ (auch als „Aktion Brandt“ bezeichnet) nun vor allem mit Medikamenten und Nahrungsentzug fortgesetzt. In der „Aktion 14f13“ wurden außerdem kranke, alte oder „nicht mehr arbeitsfähige“ KZ-Insassen ermordet. Bei Kriegsende war ungefähr die Hälfte aller Anstaltsinsassen getötet worden. Die Ermordung der Behinderten diente den SS-Einsatzkommandos als Experimentierfeld für die späteren Massenmorde an Juden. Allein im damaligen Reichsgebiet wurden fast 190.000 geistig und körperlich behinderte Menschen vergast, vergiftet, erschossen oder dem Hungertod überlassen; viele weitere Opfer gab es in den besetzten Gebieten. Gesamtschätzungen belaufen sich auf bis zu 260.000 Opfer. Völkermord an den Sinti und Roma Hitler teilte seit seiner Wiener Zeit die gängigen Stereotype des Antiziganismus. Er beurteilte die in Mein Kampf unerwähnten Roma implizit wie die Juden als „rassefremde Elemente“, die somit aus dem „Volkskörper“ „auszumerzen“ seien. Gemäß Himmlers Erlass vom 8. Dezember 1938 zur „endgültigen Lösung der Zigeunerfrage“ wurden die Roma seit Juni 1939 aus vom NS-Regime kontrollierten Gebieten nach Osteuropa deportiert. Im Polenfeldzug ab September 1939 begannen die Nationalsozialisten und ihre Helfer mit Massenmorden an ihnen. Bis zum Kriegsende ermordeten sie zwischen 100.000 und 500.000 Roma. Hitler lehnte die Einberufung von Roma in die Wehrmacht 1940/41 ab und verbot Himmler 1942, „arische“ Roma von der Internierung in KZs auszunehmen. SS-Einsatzgruppen, Offiziere der Wehrmacht bei Racheaktionen für Partisanenanschläge oder KZ-Besatzungen führten die Massenmorde aus, besonders 1943/44 in den Gaskammern von Auschwitz. Der Porajmos war wie die Shoa ein rassistischer, auf Vernichtung zielender Völkermord. Direkte Mordbefehle Hitlers zu den Roma sind nicht bekannt. Seine Verantwortung steht jedoch wegen der rassistischen Gesamtplanung und Politik seines Regimes fest. Westfeldzug In seiner Ansprache vor den Oberbefehlshabern am 23. November 1939 kündigte Hitler an, „zum günstigsten und schnellsten Zeitpunkt“ Westeuropa anzugreifen. Im „Unternehmen Weserübung“ besetzte die Wehrmacht vom 9. April bis 10. Juni 1940 zunächst das neutrale Dänemark und eroberte Norwegen. Vom 10. Mai bis zum 25. Juni okkupierte sie im Westfeldzug Luxemburg, Belgien, die Niederlande und zwang das mit Großbritannien verbündete Frankreich nach wenigen Wochen zur Kapitulation. Ausschlaggebend für diesen überraschend schnellen Sieg war der später so bezeichnete Sichelschnittplan, den Generalleutnant Erich von Manstein ausgearbeitet und Anfang 1940 mit Unterstützung Hitlers gegen Vorbehalte seitens des OKH durchgesetzt hatte und der den ursprünglichen Angriffsplan ersetzte, welcher den Alliierten durch den Mechelen-Zwischenfall bekanntgeworden war. Der Sichelschnittplan sah einen hochriskanten Panzervorstoß durch die Ardennen vor, mit dem die Wehrmacht die Maginot-Linie umging und das Gros der gegnerischen Streitkräfte in Belgien und Nordfrankreich einkesselte. Hitlers persönliches Eingreifen in die Dynamik des schnellen Truppenvormarschs durch Haltebefehle führte jedoch dazu, dass das Hauptziel verfehlt wurde. Am 24. Mai entschied Hitler, in Übereinstimmung mit Rundstedt und im Widerspruch zur Meinung anderer Generäle, die angeschlagene Panzertruppe zu schonen und die Einschließung von Dünkirchen der Luftwaffe zu überlassen. Das ermöglichte es der Royal Navy, während der „Operation Dynamo“ über 224.000 britische und fast 112.000 französische und belgische Soldaten über den Ärmelkanal zu evakuieren. Waffen und Kriegsmaterial mussten die Alliierten zwar zurücklassen, aber der Kern des britischen Heeres blieb aufgrund von Hitlers Anhaltebefehl bestehen. Das besiegte Frankreich und Deutschland unterzeichneten am 22. Juni 1940 die Kapitulation Frankreichs im Beisein Hitlers, am selben Ort und im selben Eisenbahnwaggon wie die Unterzeichnung des Waffenstillstands nach dem Ersten Weltkrieg. Am darauffolgenden Tag besichtigte Hitler mit seiner Entourage frühmorgens Paris. Kurz vor der französischen Kapitulation im Juni 1940 war Italien als Verbündeter Deutschlands in den Krieg eingetreten. Zusammen mit dem japanischen Botschafter Saburō Kurusu unterzeichneten Mussolini und Hitler am 27. September 1940 in Berlin den Dreimächtepakt zwischen Japan, Italien und Deutschland, der gegenseitigen Beistand bei der „Schaffung einer neuen Ordnung in Europa“ und „im großasiatischen Raum“ zusicherte. Die Vertragsbestimmungen, die vor allem die USA von einem Kriegseintritt abhalten und eine starke Front gegen Großbritannien bilden sollten, verfehlten diesen Zweck. Etwa zur gleichen Zeit, im Sommer und Frühherbst 1940, zeichnete sich jedoch ab, dass Hitler damit scheiterte, Großbritannien zur Anerkennung der deutschen Alleinherrschaft auf dem europäischen Festland und Duldung weiterer Eroberungen im Osten zu zwingen. Am 10. Mai 1940 war Winston Churchill, seit 1933 ein strikter Gegner der Appeasementpolitik, neuer britischer Premierminister geworden. Am 19. Juli 1940 lehnte er Hitlers öffentliches Waffenstillstandsangebot über die BBC umgehend und endgültig ab. Die Luftschlacht um England (10. Juli bis 31. Oktober 1940), die als militärisches Patt endete, war eine politische und strategische Niederlage für Hitler, dem es zum ersten Mal misslang, einem Land seinen Willen aufzuzwingen. Daraufhin ließ Hitler im Frühjahr 1941 die Planungen für die Invasion Englands einstellen. Ebenso misslangen Hitlers Versuche, Spanien und das französische Vichy-Regime zum Kriegseintritt gegen Großbritannien zu bewegen. Am 23. Oktober 1940 traf er sich in Hendaye mit dem spanischen „Caudillo“ Franco. Hitler rechnete damit, dass dieser sich für die deutsche Hilfe im Spanischen Bürgerkrieg als dankbar erweisen würde, und schlug den sofortigen Abschluss eines Bündnisses und den spanischen Kriegseintritt für den Januar 1941 vor. Den spanischen Territorialwünschen in Nordafrika (Französisch-Marokko, Provinz Oran) wollte er aber mit Rücksicht auf Vichy-Frankreich nicht nachgeben. Außerdem konnte Großbritannien, anders als Deutschland, Spanien mit Kohle, Kautschuk, Baumwolle und lebenswichtigem Weizen beliefern, was das Land im Sommer 1940 vor einem wirtschaftlichen Kollaps bewahrt hatte. Der vorsichtige Franco ließ sich daher nicht zu unbedachten Schritten, z. B. zu einem Angriff auf Gibraltar, bewegen und war nur zu einem Protokoll bereit, wonach der spätere Kriegseintritt erst noch gemeinsam festgelegt werden müsse. Damit war die Abmachung für Hitler praktisch wertlos. Im internen Kreis „wütete“ er später über das „Jesuitenschwein“ und den „falsche[n] Stolz des Spaniers“. Auf der Fahrt nach Hendaye war Hitler bereits am 22. Oktober 1940 in Montoire-sur-le-Loir zu einem informellen Gespräch mit dem französischen Außenminister Pierre Laval zusammengetroffen, einem Fürsprecher der Kollaboration mit Deutschland. Einen Tag nach der Begegnung mit Franco traf Hitler erneut in Montoire ein, diesmal zu Gesprächen mit Marschall Pétain, seit Juni Staatschef des besetzten Frankreichs. Dabei verfolgte er die Absicht, wenn schon nicht eine Kriegserklärung Frankreichs an Großbritannien, so wenigstens die Verteidigung der französischen Kolonien in Nordafrika und Nahost gegen Angriffe der Forces françaises libres (Charles de Gaulle) und der Briten zu erreichen. Frankreich könne bei einer Neuverteilung afrikanischer Kolonien aus englischem Besitz voll entschädigt werden. Pétain und Außenminister Laval bekräftigten, dass das Ausmaß der Zusammenarbeit Frankreichs mit Deutschland von großzügiger Behandlung und dem Erwerb von Kolonialgebieten bei einem Friedensschluss abhänge. Hitler bot Pétain nichts Konkretes an, und umgekehrt sagte Pétain eine aktive Unterstützung nicht präzise zu. „Das Ergebnis“, so Ian Kershaw, „war daher bedeutungslos“. Henry Rousso weist darauf hin, dass die Konsequenzen dennoch weitreichend gewesen seien. Denn obwohl enttäuscht, verkündete Pétain am 30. Oktober 1940 in einer Rede, er werde den „Weg der Kollaboration“ betreten, und leitete den Wechsel von einer attentistischen zu einer aktiven Zusammenarbeit seines Regimes mit der Besatzungsmacht ein. Er prägte dabei nicht nur einen neuen politischen Begriff, sondern führte auch einen Bruch herbei, der in der französischen und internationalen Öffentlichkeit negativ aufgenommen wurde. Hitler gab schließlich den Plan auf, Großbritannien aus dem Mittelmeerraum (Gibraltar, Malta, Ägypten) zu verdrängen. Seiner Ansicht nach waren die gravierenden Interessengegensätze zwischen Spanien, Frankreich und Italien im Mittelmeerraum nicht zu überwinden, sodass eine darauf ausgerichtete Strategie gegen Großbritannien nicht von großem Nutzen sein würde, diesen Gegner zu besiegen und derart die USA von einem möglichen Kriegseintritt im Jahr 1941 abzuhalten. Für zwei weitere Optionen, einen strategischen Luftkrieg oder einen Belagerungskrieg gegen Großbritannien, fehlten die materiellen Voraussetzungen: eine Flotte schwerer Bomber beziehungsweise eine starke Marine. Die vierte Option, eine Invasion auf der britischen Insel, wurde von der Heeresführung favorisiert. Hitler jedoch sah im Sieg über die Sowjetunion, den er aus weltanschaulichen und rassischen Gründen ohnehin anstrebte, den sichersten Weg für das Deutsche Reich, sich seitens der USA und Großbritanniens unangreifbar zu machen. Er und sein Regime hatten laut Ian Kershaw „1940 nur eine Wahl: weiterzuspielen und wie stets den kühnen Schritt nach vorn zu wagen“. Der Diktator hatte nach dem Sieg über Frankreich den Gipfel seiner Popularität bei den Deutschen erreicht. Nach einem Ausspruch von Generaloberst Wilhelm Keitel stilisierte ihn die NS-Propaganda zum „größten Feldherrn aller Zeiten“, dessen Genie die nun so genannte „Blitzkriegstrategie“ erfunden und die raschen Siege bewirkt habe. Auch Hitler selbst war von seinen militärischen Fähigkeiten überzeugt. Daher griff er, anders als etwa Stalin, immer wieder in operative Entscheidungen der Militärs ein und entmachtete zunehmend die Generalstäbe, speziell das Oberkommando des Heeres. Zudem war er der Ansicht, ein Krieg gegen die Sowjetunion sei, verglichen mit dem Westfeldzug, ein „Sandkastenspiel“. Diese Geringschätzung des sowjetischen Militärpotentials teilte Hitler mit seinen Befehlshabern; denn das nachrichtendienstliche Wissen über die Sowjetarmee war gering. All das sollte sich im Verlauf des Russlandfeldzugs als verhängnisvoll für die deutsche Kriegsführung erweisen. Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion Das Wirtschaftsministerium hatte Hitler 1940 informiert, dass die im Hitler-Stalin-Pakt vereinbarten sowjetischen Rohstofflieferungen, die Deutschland bereits kaum begleichen konnte, nicht ausreichen würden, um einen langen Krieg gegen Großbritannien und möglicherweise die USA zu führen. Seine Absicht, demnächst die Sowjetunion anzugreifen, wurde dadurch bestärkt und in führenden Kreisen von Wehrmacht, Großwirtschaft und Ministerialbürokratie von vielen geteilt. Hitlers Ziel war „ein blockadefestes Großimperium“ bis zum Ural und über den Kaukasus hinaus. Am 21. Juli 1940 sagte Hitler in einer Besprechung mit Walther von Brauchitsch, sein militärisches Ziel sei es, so weit „russischen Boden in die Hand zu nehmen“, um feindliche Luftangriffe auf Berlin und das schlesische Industriegebiet verhindern zu können. Damit rechtfertigte er den Zweifrontenkrieg. Zehn Tage später erörterte er auf dem Berghof in einem Kreis der höchsten Generale den geplanten Feldzug gegen die Sowjetunion: Wenn Russland geschlagen sei, dann sei Englands letzte Hoffnung getilgt. Als politische Ziele nannte er: „Ukraine, Weißrußland, Baltische Staaten an uns. Finnland bis ans Weiße Meer.“ Militärisch war eine Linie von Archangelsk im Norden längs der Wolga bis nach Astrachan an der Mündung derselben avisiert. Am 12. und 13. November 1940 besuchte der sowjetische Außenminister Molotow Berlin. Auch dieses Treffen blieb ergebnislos, da die territorialen Interessen Deutschlands und der Sowjetunion nach Ansicht Hitlers nicht miteinander vereinbar waren. Danach war er mehr denn je davon überzeugt, dass die „Vernichtung“ der Sowjetunion in einem Blitzfeldzug der einzige Weg sei, den Krieg zu gewinnen. Er wies daher Brauchitsch und Franz Halder am 5. Dezember 1940 an, das Heer für einen Angriff auf die Sowjetunion Ende Mai nächsten Jahres vorzubereiten. Am 18. Dezember 1940 gab er seine formelle Weisung für das „Unternehmen Barbarossa“ heraus, „vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrussland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen.“ In den Folgemonaten erließ er den Kommissarbefehl und weitere Befehle, die sowjetischen Führungseliten im Gefolge der Front zu ermorden und Partisanenaktionen durch Vergeltungsakte an Zivilisten zu bekämpfen. Vor über 200 höheren Offizieren der Wehrmacht erklärte er am 30. März 1941 in der Neuen Reichskanzlei, der bevorstehende Krieg sei ein rassenideologischer Vernichtungskrieg und ohne Rücksicht auf kriegsvölkerrechtliche Normen zu führen. Die Befehlshaber müssten jegliche persönlichen Skrupel überwinden. Keiner der Anwesenden nahm den Anlass wahr, Hitlers Forderungen nachher noch einmal zur Erörterung zu stellen. Das OKW und das OKH gaben daraufhin entsprechende operative Befehle aus. Zudem sah die Blitzkriegsplanung vor, große Teile der sowjetischen Bevölkerung verhungern zu lassen. Überleben sollte nur, wer in den besetzten Gebieten für die Bereitstellung von Rohstoffen und Nahrungsmitteln benötigt wurde. Die übrigen galten als unnütze Esser, welche die deutsche Ernährungsbilanz belasteten (→ Hungerplan). Mit einmonatiger Verzögerung infolge des Balkanfeldzuges überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion am 22. Juni 1941 auf Hitlers Befehl ohne offizielle Kriegserklärung. Goebbels verlas um 5.30 Uhr auf allen deutschen Radiosendern eine längst vorbereitete Proklamation Hitlers. Zugleich wurde ein inhaltlich identischer Tagesbefehl an die „Soldaten der Ostfront“ erlassen. Das Auswärtige Amt übermittelte in den frühen Morgenstunden eine Note an die Sowjetunion, die Gründe für die angeblichen „militärischen Gegenmaßnahmen“ mitteilte. Auf Hitlers ausdrücklichen Befehl wurde das Wort „Kriegserklärung“ dabei vermieden, obwohl es de facto nichts anderes als eine Kriegserklärung war. Alle diese Dokumente hatten propagandistischen Charakter und enthielten im Kern die Behauptung, Deutschland sei lediglich sowjetischen Aggressionsplänen zuvorgekommen. Hitler wurde als Retter des Abendlandes vor „asiatischer Barbarei“ und kulturzerstörendem „(jüdischem) Bolschewismus“ ausgegeben. An dieser Präventivkriegsthese hielten viele Generäle der Wehrmacht weit über 1945 hinaus fest. Dagegen betonen Historiker Hitlers Absichten, die er 1927 im zweiten Band von Mein Kampf dargelegt und seit 1933 wiederholt bekräftigt hatte: Er wollte die Sowjetunion zur „Erweiterung des Lebensraumes bzw. der Rohstoff- und Ernährungsbasis“ der Deutschen erobern, das fiktive, dort angeblich herrschende Weltjudentum vollständig vernichten und die Bevölkerung der eroberten Gebiete entweder als Sklavenarbeiter ausbeuten oder ebenfalls vernichten. Während der Leningrader Blockade von September 1941 bis Januar 1944 verhungerten im damaligen Leningrad gemäß dem deutschen „Hungerplan“ etwa 1,1 Millionen Menschen. Trotz siegreicher Kesselschlachten war der Plan Barbarossa bereits im August 1941 gescheitert, weil aus den Kesselschlachten große Teile des Gegners entkamen und sich neu formierten, der Überraschungseffekt abflaute, die deutschen Verluste zunahmen und Hitlers „Zickzack der Anordnungen“ zur Schwerpunktbildung bei der Heeresgruppe Mitte und der Heeresgruppe Süd sich häufte. Der deutsche Vormarsch geriet ab Oktober 1941 ins Stocken. Die Sowjetunion konnte einen Großteil ihrer Rüstungsproduktion östlich des Urals fortsetzen und neue Divisionen an ihre Westfront führen. Sie war grob fahrlässig unterschätzt worden, und die deutsche Logistik für die Eroberung eines so großen Landes war unzureichend. Bei einer Konferenz in Berlin am 29. November 1941 berichtete Walter Rohland Hitler und dem OKW von der Überlegenheit der sowjetischen Panzerproduktion. Nach seinen Angaben sagte Rüstungsminister Fritz Todt dabei im kleinen Kreis: „Dieser Krieg ist militärisch nicht mehr zu gewinnen!“ Hitler habe gefragt, wie er ihn beenden solle, und eine politische Lösung als kaum möglich ausgeschlossen. Der Angriff auf Moskau (Beginn 2. Oktober) war ein letzter improvisierter Versuch Hitlers, die Niederlage der Sowjetunion vor dem Winter zu erzwingen. Aber ab Mitte Oktober ließen heftige Regenfälle und später strenger Frost (−22 °C) alle Operationen zum Stillstand kommen. Die Ausrüstung der deutschen Armee für den Winterkrieg und der Nachschub für die Heeresgruppe Mitte waren völlig unzureichend. Trotzdem beharrte Hitler auf der Meinung, die Rote Armee befinde sich kurz vor dem Zusammenbruch, und wollte Moskau belagern und aushungern lassen. Am 5. Dezember musste der Vormarsch wegen arktischer Temperaturen von minus 40 bis 50 Grad Celsius und des mangelnden Nachschubs an Waffen, Verpflegung und Winterausrüstung 20 km vor Moskau eingestellt werden. Am Tag darauf begann der sowjetische Gegenangriff mit 100 Divisionen, unter ihnen frische, für den Winterkrieg ausgerüstete Einheiten aus Fernost, der die Heeresgruppe Mitte zum Rückzug zwang. Der Rückzug drohte in eine heillose Flucht umzuschlagen. In dieser gefährlichen Situation verbot Hitler am 15. und am 19. Dezember 1941 jeden weiteren Rückzug und erlaubte „nur dort eine Ausweichbewegung […], wo weiter rückwärts eine Stellung vorbereitet ist“. Dieser Befehl trug „möglicherweise und vorübergehend zur Vermeidung einer Katastrophe von napoleonischen Ausmaßen bei“. Hitler übernahm selbst den Oberbefehl über das Heer von Walther von Brauchitsch und war überzeugt: „Das bißchen Operationsführung kann jeder machen.“ Aber wäre Hitler flexibler gewesen, wäre die Ostfront bis Ende Januar 1942 wahrscheinlich mit weniger Verlusten an Menschenleben konsolidiert worden. Die deutschen Verluste in der Schlacht um Moskau, 581.000 Soldaten, waren größer als die in Stalingrad und bei Kursk im folgenden Jahr. Die Sowjetunion verlor 1,8 Millionen Soldaten. Vor Moskau wandte das Ostheer erstmals das Prinzip der „verbrannten Erde“ zur Deckung des Rückzugs an, das sowjetische Zivilisten und Kriegsgefangene im Rückzugsgebiet massenhaft dem Hunger- oder Kältetod preisgab. Nicht alle Befehle dazu stammten von Hitler oder Keitel, sollten aber „dem Führer entgegenarbeiten“. Die Niederlage vor Moskau gilt als Zäsur des Weltkriegs, weil sie die Serie der deutschen Blitzkriege beendete. Hitler erkannte dies laut Jodl sofort. Der Deutsch-Sowjetische Krieg „war genau der Krieg, den Hitler seit den zwanziger Jahren gewollt hatte“. Als bisher verlustreichster Krieg der Menschheitsgeschichte kostete er etwa 28 Millionen Sowjetbürgern das Leben, darunter 15,2 Millionen Zivilisten. Mindestens 4,2 Millionen Menschen starben hungers, unter ihnen 2,5 Millionen der 3,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die im deutschen Gewahrsam an Unterernährung, Krankheiten oder Misshandlungen starben oder erschossen wurden. Holocaust Der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und die Eskalation zum Holocaust gingen Hand in Hand. Die vier Einsatzgruppen der SS sollten nach Heydrichs Instruktion vom 2. Juli 1941 kommunistische Funktionäre, „radikale Elemente“ (Partisanen) sowie „alle Juden in Partei- und Staatsstellungen“ erschießen. Bald wurden unterschiedslos alle auffindbaren Juden als angebliche Partisanen ermordet – zunächst überwiegend Männer, dann auch jüdische Frauen und Kinder. Am 16. Juli 1941 begrüßte Hitler gegenüber ranghohen NS-Funktionären den sowjetischen Partisanenkrieg: „… er gibt uns die Möglichkeit, auszurotten, was sich gegen uns stellt.“ Er übertrug Himmler für diese Mordaufgabe die Führung über SS, Polizei und SD im Osten. Himmler verstärkte die Einsatzgruppen sofort von 3.000 auf 33.000 Mann. Hitler ließ sich ab 1. August laufend über ihre Ergebnisse berichten. In den ersten fünf Monaten des Ostfeldzugs ermordeten sie ungefähr 500.000 Juden. Am 19. August folgte Hitler dem Vorschlag von Goebbels, nach den polnischen die deutschen Juden zum Tragen des Judensterns zu zwingen. Etwa am 17. September 1941 erlaubte er auf Drängen vieler Gauleiter, die Deportation der deutschen Juden nach Osten einzuleiten, die er bislang erst nach dem Sieg über die Sowjetunion beginnen lassen wollte. Damit reagierte er auf Alfred Rosenbergs Vorschlag, sich so an Stalins Deportation der Wolgadeutschen zu rächen. Am 25. Oktober kam Hitler vor Vertrauten auf seine Ankündigung vom 30. Januar 1939 zurück, die Juden im Fall eines neuen Weltkriegs als Vergeltung für die deutschen Kriegsopfer zu vernichten: „Diese Verbrecherrasse hat die zwei Millionen Toten des Weltkrieges auf dem Gewissen, jetzt wieder Hunderttausende. Sage mir keiner: Wir können sie doch nicht in den Morast schicken! […] Es ist gut, wenn uns der Schrecken vorangeht, daß wir das Judentum ausrotten.“ Am 12. Dezember 1941, dem Tag nach seiner Kriegserklärung an die USA, sagte Hitler nach Goebbels’ Notizen zu den in die Neue Reichskanzlei geladenen Gau- und Reichsleitern: „Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muss die notwendige Folge sein.“ Die Juden müssten die Opfer unter deutschen Soldaten im „Ostfeldzug“ mit ihrem Leben bezahlen. Die Anwesenden, darunter Hans Frank, verstanden Hitlers Aussage als Aufforderung, die europäischen Juden nicht mehr abzuschieben, sondern im besetzten Polen zu ermorden und nach geeigneten Methoden dafür zu suchen. Am 18. Dezember 1941 notierte Himmler in seinen Dienstkalender, Hitler habe auf sein Nachfragen das bisherige Vorgehen der Einsatzgruppen bestätigt und befohlen: „Judenfrage / als Partisanen auszurotten“. Hitler hatte Görings Auftrag an Reinhard Heydrich vom 31. Juli 1941 zur „Gesamtlösung der Judenfrage“ autorisiert und ordnete auch die Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 an, auf der Heydrich seinen Auftrag erläuterte: 11 Millionen europäische Juden sollten nach Osten deportiert werden, angestrebt sei ihre „natürliche Verminderung“ durch Sklavenarbeit sowie „entsprechende Behandlung“ der Überlebenden. Damit umschrieb er die Ausrottungsabsicht in der Tarnsprache des NS-Regimes. Für die „Räumung“ von bereits überfüllten Judenghettos für nachfolgende Deportierte wurden ab März 1942 im besetzten Polen drei Vernichtungslager in Betrieb genommen. Damit begann auch die Ermordung der Deportierten sofort bei ihrer Ankunft und durch Gaskammern. Davon waren Juden und Roma betroffen. Ein schriftlicher Holocaustbefehl Hitlers wurde nicht gefunden und gilt als unwahrscheinlich. Seine Aussage vom 12. Dezember 1941 deuten manche Historiker als Entscheidung, die Judenmorde auf ganz Europa auszuweiten, oder zumindest als wichtigen Eskalationsschritt des Holocaust. Diesen habe Hitler jedoch nicht allein eingeleitet und nicht an einem einzigen Datum befohlen. Zeitzeugen belegten mündliche Befehle Hitlers zur Durchführung von Judenmorden. So berief sich Staatssekretär Wilhelm Stuckart Ende Dezember 1941 – also wenige Wochen vor der Wannseekonferenz zur systematischen Vernichtung der Juden –, als er wegen Anordnungen zu Judenmorden entlassen werden sollte, erfolgreich auf einen Führerbefehl. Heinrich Himmler sprach in Briefen und Reden an Untergebene wie den Posener Reden von 1943 wiederholt von Hitlers ihm auferlegten Befehl zur „Endlösung“ und hielt besondere Anweisungen Hitlers dazu in seinen Privatnotizen fest. Hitler selbst erklärte ab Januar 1942 öffentlich mehrfach, dass sich seine „Prophezeiung“ vom Januar 1939 nun „erfülle“. Folgerichtig bezeichnete Goebbels ihn in einem Tagebucheintrag vom 27. März 1942 als „unentwegten Vorkämpfer und Wortführer einer radikalen Lösung“ der „Judenfrage“. Hitler ließ sich am 7. Oktober 1942 persönlich von Odilo Globocnik über die Judenmorde in vier Vernichtungslagern unterrichten und im März 1943 den Korherr-Bericht über die Ermordung (umschrieben als „Evakuierung“ und „Sonderbehandlung“) von bis dahin 2,5 (tatsächlich über drei) Millionen Juden vorlegen. Auch die Tarnsprache ordnete er an. NS-Täter wie Rudolf Höß und Adolf Eichmann haben nach Kriegsende einen Befehl Hitlers vom Sommer oder Herbst 1941 zur Ausrottung der Juden bezeugt. Auf dem Höhepunkt der Schlacht um Stalingrad erinnerte Hitler am 8. November 1942 im Münchener Löwenbräukeller zum vierten Mal in jenem Jahr an seine „Prophezeiung“ über die Juden, als er gerade alle Kompromisse und Friedensangebote an äußere Feinde ausgeschlossen hatte. Das Ergebnis des „internationalen Weltkrieg“[s] werde „die Ausrottung des Judentums in Europa sein“. Weiterer Kriegsverlauf Am 7. Dezember 1941 griff das mit Deutschland verbündete Kaiserreich Japan den US-Flottenstützpunkt Pearl Harbor an und zog damit die USA in den Zweiten Weltkrieg. Hitler, nicht über den Zeitpunkt des japanischen Angriffs informiert, begrüßte den Angriff euphorisch: Nun könne Deutschland den Krieg nicht mehr verlieren. Im Reichstag erklärte er am 11. Dezember 1941 den USA den Krieg, ohne dass der Dreimächtepakt ihn dazu verpflichtete, ohne vorher seine Generäle zu konsultieren und ohne die militärstrategischen und wirtschaftlichen Folgen für die eigene Kriegführung kalkulieren zu lassen. Historiker nehmen verschiedene Gründe dafür an: Hitler habe für 1942 ohnehin mit dem Eingreifen der USA gerechnet und ihre seit dem Leih- und Pachtgesetz begonnenen Rüstungslieferungen an Großbritannien und die Sowjetunion als Kriegseintritt gewertet. Er habe ihre Kriegserklärung nicht abwarten wollen, um ein Zeichen der Stärke zu setzen. Er habe immer noch mit dem baldigen Sieg über die Sowjetunion gerechnet und einen „Weltblitzkrieg“ mit dem Ziel deutscher Weltherrschaft führen wollen. Er habe Einzelsiege der USA gegen die Achsenmächte und etwaige bilaterale Friedensverhandlungen von vornherein ausschließen wollen. Er habe die Möglichkeit eines U-Boot-Krieges im Atlantik gegen US-Schiffe eröffnen wollen. Hitler versuchte, die Entwicklung im Pazifik als vorteilhaft darzustellen. Denn der Krieg im Pazifik werde die USA veranlassen, ihre Waffenlieferungen an Großbritannien zu reduzieren. Deutschland werde also genügend Zeit gewinnen, um vor einem amerikanischen Eingreifen in Europa den Kontinent vollständig unter Kontrolle gebracht zu haben. Im Krieg wurde Hitler zu einem Workaholic, der vor allem mit Details beschäftigt war, ohne sich erholen zu können, umgeben von der immer gleichen, wenig inspirierenden Entourage. Nächte mit wenig Schlaf und tägliche lange Besprechungen mit führenden Militärs folgten aufeinander – eine Lebensweise, die er nur durch die Einnahme immer stärkerer Medikamente durchhalten konnte. Sein Arbeitsstil war Folge der extrem personalisierten Herrschaft und seiner Unfähigkeit, Autorität zu delegieren. Seine egomanische Überzeugung, nur er könne den Sieg gewährleisten, verstärkte sein Misstrauen gegen seine Generäle und vermehrte seine cholerischen Wutausbrüche. Dies zerstörte ab 1940 die geregelte Arbeit der Regierung und des militärischen Kommandos, was mit Hitlers Übernahme der Heeresführung in der Winterkrise 1941 deutlich wurde. Bei Angelegenheiten, welche die Heimatfront betrafen, beanspruchte er kompromisslos die Autorität, intervenierte aber nur sporadisch und unsystematisch, um Untätigkeit zu verschleiern. Anfang 1943 verlor die Wehrmacht mit ihren bislang höchsten Verlusten die Schlacht von Stalingrad. Diese Niederlage gilt als Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. Hitler war dafür persönlich verantwortlich, da er dem Oberbefehlshaber der 6. Armee General der Panzertruppe Friedrich Paulus den Rückzug aus Stalingrad verboten hatte, solange dies noch operativ möglich gewesen war, ohne die Heeresgruppe A, die bis zum Kaukasus vorgestoßen war, zu gefährden. Hitler selbst äußerte danach, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei. Das Deutsche Afrikakorps (DAK) verlor die zweite Schlacht von El-Alamein, und Rommel befahl am 4. November 1942 gegen Hitlers Befehl wegen erdrückender Übermacht der Briten den Rückzug. In Tunesien wurde das DAK von britischen und inzwischen eingetroffenen US-Truppen in die Zange genommen („Operation Torch“). Rommels Bitte vom März 1943, Tunesien räumen und seine Truppen nach Sizilien zurückziehen zu dürfen, lehnte Hitler strikt ab und berief Rommel aus Nordafrika ab. Am 12. Mai 1943 kapitulierten 150.000 deutsche und 100.000 italienische Soldaten bei und in Tunis. Diese Niederlage deuteten viele Deutsche als „zweites Stalingrad“ oder „Tunisgrad“. Anfang April 1943 traf Hitler Mussolini im Schloss Kleßheim bei Salzburg und lehnte dessen Eintreten für einen Kompromissfrieden im Osten kategorisch ab. Mit langen Monologen über die preußische Geschichte versuchte er, Mussolini zur Fortsetzung des Krieges zu bewegen. Auch die verbündeten Machthaber von Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Norwegen, der Slowakei, Kroatien und Frankreich traf er bis Ende April in Kleßheim, um ihren Widerstandswillen durch Schmeichelei, gutes Zureden und kaum verhüllte Drohungen zu stärken. Mit Hilfe eigens angefertigter Karten des OKW, auf denen der Frontverlauf im Osten falsch eingetragen und die Kräfte des Gegners sowie die eigenen nicht erkennbar waren, beschönigte er die Lage. Anfang 1944 erlangten die alliierten Bomber- und Jagdverbände allmählich die Luftüberlegenheit und zerstörten neben den wichtigen Rüstungsbetrieben auch viele große und mittlere deutsche Städte durch Flächenbombardements. Trotzdem ließ Hitler weiterhin Bomber statt vermehrt Jagdflugzeuge zur Bekämpfung dieser Angriffe bauen. Nach der „Operation Gomorrha“ gegen Hamburg im Juli 1943, bei der über 30.000 Menschen im Feuersturm umkamen, weigerte er sich, die zu mehr als 50 Prozent zerstörte Stadt zu besuchen, empfing keine Delegation der Rettungsdienste und hielt keine Rundfunkrede. Nach drei Großangriffen auf Berlin im August und September 1943 notierte Goebbels in sein Tagebuch, dass man „vor allem beklagt, daß bezüglich des Luftkriegs von seiten des Führers kein erklärendes Wort gesprochen wird“. Hitlers strategische Fehlentscheidungen begünstigten die „Operation Overlord“ am 6. Juni 1944. So hatte er zwar zunächst die Normandie als Invasionsgebiet angenommen, sich jedoch von seinem Stab wieder davon abbringen lassen und glaubte noch am 13. Juni an ein Täuschungsmanöver. Er verbot, Truppen von anderen Küstenabschnitten abzuziehen, und vermutete eine Landung am Pas-de-Calais. Die deutschen Truppen in der Normandie wurden an unerwarteter Stelle überrascht. Von Rundstedt, der Oberbefehlshaber West, hatte am frühen Morgen um die Freigabe zweier bei Paris stationierter Panzerdivisionen gebeten. Alfred Jodl lehnte das ab. Erst gegen Mittag stimmte Hitler dem verspäteten Einsatz dieser Reserve gegen den 150 Kilometer entfernten alliierten Brückenkopf zu. Seine Adjutanten hatten bis etwa 10 Uhr gezögert, Hitler zu wecken, da er erst gegen drei Uhr morgens zu Bett gegangen war. „Diese Verzögerung war entscheidend.“ Als alliierte Truppen im August 1944 auf Paris vorrückten, befahl Hitler, die Stadt bis zum letzten Mann zu verteidigen bzw. als zerstörte Stadt zurückzulassen. Der deutsche Stadtkommandant Dietrich von Choltitz ignorierte Hitlers Befehl zum Widerstand, erklärte Paris zur offenen Stadt und übergab es am 25. August 1944 kampflos und nahezu unversehrt an den französischen Generalmajor Jacques-Philippe Leclerc de Hauteclocque. Weil Hitler merkte, dass er das Vertrauen der Deutschen verloren hatte und ihnen keine Triumphe mehr verkünden konnte, redete er 1944 nicht mehr öffentlich und nur dreimal (am 30. Januar, 21. Juli und 31. Dezember) im Rundfunk. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rasch. Wahrscheinlich litt er an der Parkinson-Krankheit, die seine politisch-militärische Entscheidungsfähigkeit wohl kaum beeinflusste. Der „Verfall“ lasse sich gemäß Thamer deutlich an seiner zunehmend unleserlichen Unterschrift ablesen. Ab 1943 benutzte er einen Unterschriftenautomaten. Einzig seine Testamente vom April 1945 unterzeichnete er noch eigenhändig, brachte aber, wie der Historiker Hans-Ulrich Thamer bemerkt, nur „Gekleckse“ zustande. Trotz fortwährender Niederlagen, immenser Opfer, gewaltiger Zerstörungen und des Wissens um die unvermeidbare deutsche Niederlage ließ Hitler den Krieg fortsetzen. Seine Eingriffe in die Kriegführung, etwa das Verbot, gefährdete Truppenteile frühzeitig zurückzuziehen (→ Fester Platz), bewirkten massive Verluste auf Seiten der Wehrmacht. In einer von zahlreichen Illusionen bestimmten Gesamtbeurteilung hatte Hitler schon Mitte August 1944 erwogen, gegen die Westalliierten einen empfindlichen militärischen Schlag zu führen, der den Zusammenbruch der Anti-Hitler-Koalition bewirken sollte. Vier Tage vor Beginn der Ardennenoffensive sagte er zu seinen Kommandeuren, dass der Feind, „ganz gleich, was er auch tut, nie auf eine Kapitulation rechnen kann, niemals, niemals“; dieser werde schließlich „eines Tages einen Zusammenbruch seiner Nervenkräfte erleben“. Die ersten Vorbereitungen für die Offensive liefen, unter größter Geheimhaltung, im Spätsommer 1944 an. Hauptziel der Offensive war die Hafenstadt Antwerpen, für den Nachschub der Alliierten von großer Bedeutung. Sie begann am 16. Dezember 1944 und musste bereits Anfang 1945 abgebrochen werden. Hitler trug dennoch weiter öffentlich höchste Zuversicht zur Schau und feuerte Menschen in seiner Umgebung an. Gegenüber Nicolaus von Below gab er jedoch zu, der Krieg sei verloren. Das führte er wie üblich auf Verrat und Versagen anderer zurück. Er strebte jetzt nur noch seinen Platz in der Geschichte an: „Wir kapitulieren nicht, niemals. Wir können untergehen. Aber wir werden eine Welt mitnehmen.“ Dabei machte Hitler vor dem eigenen Volk nicht halt. Der Terror kehrte heim ins Reich: Am 7. März erreichten US-Soldaten die unzerstörte Brücke von Remagen südlich des Ruhrgebiets. Hitler ließ ein „Fliegendes Standgericht“ an die Westfront entsenden, das fünf Offiziere der Brückenmannschaft von Remagen am 9. März zum Tode verurteilte. Am 23. März begann die Rheinüberquerung nördlich des Ruhrgebiets bei Wesel durch britische Truppen. Damit war der Krieg im Westen endgültig verloren, aber Hitler weigerte sich, zu kapitulieren. Er sah nur noch in einem „Kampf bis zum Letzten“ Sinn, um so wenigstens von zukünftigen Generationen geachtet zu werden. Seit Anfang seiner politischen Karriere dachte Hitler in extremen Alternativen: Deutschland werde siegen oder untergehen. Je unwahrscheinlicher ein Sieg wurde, desto totaler sollte die deutsche Niederlage sein. Gegenüber Speer erklärte er am 18. März 1945, es sei nicht notwendig, Rücksicht auf die Grundlagen zu nehmen, die das Volk zu seinem primitivsten Weiterleben brauche. Es sei besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Das Volk habe sich als das schwächere erwiesen, und die Zukunft gehöre ausschließlich dem stärkeren „Ostvolk“. Am 19. März befahl Hitler durch Führererlass (später „Nerobefehl“ genannt) die Zerstörung aller Infrastrukturen beim Rückzug des Heeres. Er beauftragte Speer und die Gauleiter, die Zerstörungen durchzuführen, erfuhr aber, dass Speer seinen Befehl sabotiere. Dieser bestritt dies. Goebbels sah darin Hitlers Autorität schwinden. Widerstand gegen Hitler Zwischen 1933 und 1945 leisteten Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen aus verschiedenen Gründen Widerstand gegen Hitlers Regime. Nur wenige lehnten von vornherein seine Diktatur ab. Die verfolgten Kommunisten und Sozialdemokraten hatten schon vor 1933 gewarnt: „Hitler bedeutet Krieg!“ Die Exil-SPD Sopade versuchte, die Deutschen vom Ausland aus zu beeinflussen, und rief sie am 30. Januar 1936 mit der Flugschrift „Für Deutschland – gegen Hitler!“ zum Aufstand gegen dessen Regime auf. Seit Februar 1933 gab es viele anonyme Attentatsdrohungen gegen Hitler. Einzeltäter waren unter anderen der von der nationalsozialistischen Oppositionsgruppe „Schwarze Front“ beauftragte Helle Hirsch im Dezember 1936, der ehemalige Schweizer Theologiestudent Maurice Bavaud im November 1938 und der Handwerker Georg Elser. Dessen selbstgebastelter Sprengsatz explodierte am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller, nur Minuten nachdem Hitler seine Rede dort beendet hatte. Elser wurde als „Sonderhäftling des Führers“ im KZ Dachau am 9. April 1945 auf Hitlers persönlichen Befehl ermordet. Die 1934 gegründete Bekennende Kirche widersprach staatlichen Übergriffen auf die Kirchenorganisation. Pastor Dietrich Bonhoeffer kritisierte den Führerkult im Februar 1933 in einem Rundfunkvortrag („Führer und Amt, die sich selbst vergotten, spotten Gottes“) und forderte im April 1933 kirchlichen Widerstand gegen Menschenrechtsverletzungen des Hitlerregimes. Nach den Novemberpogromen 1938 half er im Kreis um Hans Oster aktiv mit, ein Attentat auf Hitler vorzubereiten. 1938 bildeten sich konservative und innermilitärische Widerstandsgruppen wie der Goerdeler-Kreis und der Kreisauer Kreis. Ihre Umsturzpläne setzten auf Teile der Wehrmacht, hatten daher nur bei einer Tötung Hitlers Erfolgsaussicht und konnten nur von Personen mit Zugang zum engsten Führungskreis um ihn ausgeführt werden. Diese hatten Hitler unbedingte Treue geschworen; schwere Gewissenskonflikte waren also unvermeidbar. In der Septemberverschwörung planten einige hohe Militärs und Beamte im Auswärtigen Amt, dass Hauptmann Friedrich Wilhelm Heinz am 28. September 1938 mit einem Stoßtrupp in die Reichskanzlei eindringen und Hitler in einem Handgemenge erschießen sollte. Als dieser überraschend einem Kompromiss für das Münchner Abkommen zustimmte, erschien es aussichtslos, seinen Sturz mit „militärischem Abenteurertum“ zu rechtfertigen. Daraufhin unterblieb das Attentat, das von Brauchitsch und Halder nur halbherzig unterstützt hatten. Die an der Verschwörung beteiligten Militärs im OKH und in der Amtsgruppe Abwehr des OKW hielten Hitlers Vorhaben, Frankreich schon 1939 anzugreifen, für undurchführbar und wollten diesen Angriff mit einem weiteren Putschversuch verhindern. Nach Elsers Attentat wurden die Vorkehrungen zu Hitlers Schutz jedoch verschärft. Brauchitsch fürchtete nach einem Wutausbruch Hitlers am 5. November 1939, dieser wisse über den bevorstehenden Putschversuch Bescheid. Daraufhin nahm Hans Oster an, dass eine für den 11. November 1939 geplante Sprengstoffübergabe an Erich Kordt zu riskant sei; somit unterblieb dieses geplante Attentat. Die als Weiße Rose bekannt gewordene Münchner Gruppe versuchte bis zur Verhaftung der Geschwister Scholl am 18. Februar 1943, die Deutschen, besonders die Jugend, mit Flugblättern zum Widerstand zu bewegen. Hauptgrund waren NS-Verbrechen wie der Holocaust, von dem die Gruppe über Auslandssender wusste. Die Mitglieder wurden am 22. Februar 1943 hingerichtet. Nach der Niederlage in Stalingrad versuchten einige Offiziere der Heeresgruppe Mitte erneut, Hitler zu töten. Die Bombe, die Henning von Tresckow am 13. März 1943 in Hitlers Flugzeug schmuggelte, zündete nicht. Am 21. März 1943 wollte Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff sich während einer Ausstellung im Berliner Zeughaus zusammen mit Hitler in die Luft sprengen. Dieser verließ die Ausstellung schon nach wenigen Minuten, bevor der Säurezünder wirksam werden konnte. Von Gersdorff konnte den Zünder noch rechtzeitig entschärfen. Das Attentat vom 20. Juli 1944 im Führerhauptquartier Wolfsschanze verletzte vier Anwesende tödlich; Hitler blieb fast unverletzt. Er äußerte direkt danach: Die Vorsehung habe ihn gerettet, damit er seinen „Auftrag“ zu Ende führen könne. Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der die Bombe abgelegt und einen Staatsstreich zur Beendigung des Krieges vorbereitet hatte, und drei seiner Mitstreiter wurden ohne Prozess und ohne Hitlers Einverständnis am 21. Juli kurz nach Mitternacht im Hof des Bendlerblocks in Berlin von einem Erschießungskommando exekutiert. Im Rundfunk erklärte Hitler, eine „ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere“ habe geplant, ihn und den Wehrmachtführungsstab „auszurotten“. Anders als beim Dolchstoß 1918 würden diesmal die Verbrecher „unbarmherzig ausgerottet werden“. Die Wehrmacht sollte die beteiligten Offiziere zuerst ausschließen, der Volksgerichtshof sollte sie dann als gewöhnliche Kriminelle zum Tod verurteilen und innerhalb von zwei Stunden hängen lassen, damit sie ihre Motive und Ziele nicht erklären konnten. Roland Freisler, der auch in der NSDAP als „Blutrichter“ galt, war sofort bereit, ganz im Sinne Hitlers zu urteilen. Dieser nutzte das gescheiterte Attentat, um Widerstände gegen seine Kriegführung in den Stäben der Wehrmacht endgültig auszuschalten und skeptischen Generälen die Schuld an den verlorenen Schlachten zu geben. Eine 400 Mitarbeiter umfassende Ermittlungsgruppe der Gestapo deckte ein weit verzweigtes Verschwörernetz auf und fand am 22. September 1944 in Zossen Akten, die Absprachen für Putschversuche vor 1939 und damit eine dauerhafte militärische Opposition gegen Hitler belegten. Dieser verbot dem Volksgerichtshof, die Dokumente in den laufenden Prozessen zu verwenden: Die Deutschen sollten nicht erfahren, dass der Attentatsversuch Vorläufer hatte und nicht nur von wenigen geplant worden war. Ab August 1944 verurteilte der Volksgerichtshof in mehr als 50 Prozessen über 110 Personen des 20. Juli 1944 zum Tod; 89 davon wurden bis zum 30. April 1945 im Gefängnis Berlin-Plötzensee erhängt. Insgesamt wurden etwa 200 Personen als Beteiligte hingerichtet. Ende im Bunker Ab dem 16. Januar 1945 lebte Hitler meist in den Räumen des Bunkers im Garten der Alten Reichskanzlei in Berlin. Seine letzte Rundfunkansprache hielt er am 30. Januar 1945. Bei seinem letzten öffentlichen Auftritt am 20. März 1945 zeichnete er 20 Hitlerjungen und 30 SS-Soldaten mit dem Eisernen Kreuz für ihren Fronteinsatz aus. Als Präsident Roosevelt am 12. April 1945 starb, hoffte Hitler kurzzeitig auf einen Zerfall der Anti-Hitler-Koalition und drängte die Soldaten der Wehrmacht mit der Drohung sowjetischer Gräueltaten am 16. April nochmals zum bedingungslosen Weiterkämpfen. Am 20. April 1945 empfing er im Führerbunker letztmals Gäste zu seinem Geburtstag. Am 22. April erlitt er einen Nervenzusammenbruch, als er erfuhr, dass SS-Obergruppenführer Felix Steiner den befohlenen Entsatzangriff seiner Armeegruppe in der Schlacht um Berlin als undurchführbar verweigert habe. Hitler klagte, alles sei verloren, auch die SS habe ihn verraten, und entließ Teile seines Stabes. Er beschloss, in Berlin zu bleiben, und beauftragte seinen Chefadjutanten, SS-Obergruppenführer Julius Schaub, alle Papiere und Dokumente aus seinen Privattresoren in Berlin, München und auf dem Berghof zu verbrennen. Am 23. April 1945 telegrafierte Göring aus Berchtesgaden an Hitler, er (der Reichsmarschall) betrachte sich für den Fall, dass Hitler weiterhin in Berlin ausharre und bis 22 Uhr keine anderslautende Mitteilung einginge, gemäß der im Juni 1941 per Erlass getroffenen Regelung ab sofort als Nachfolger des Führers mit allen Vollmachten. Hitler interpretierte dies als versuchten Staatsstreich und unterzeichnete einen von Martin Bormann aufgesetzten Funkspruch, wonach der Reichsmarschall seiner Ämter enthoben und sofort wegen Hochverrats zu verhaften sei. Göring wurde daraufhin in seinem Haus im Führersperrgebiet Obersalzberg von der SS verhaftet. Am 25. April meldete der Großdeutsche Rundfunk, Göring sei aufgrund von Herzproblemen von all seinen Ämtern zurückgetreten. Am 25. April hörte Hitler von der Siegesfeier von US-Soldaten mit Rotarmisten in Torgau und von der Einkesselung ganz Berlins durch die Rote Armee. Er ließ sich laufend über deren Vorrücken in das Stadtzentrum unterrichten. Am 27. April soll Hitlers Entschluss zum Suizid festgestanden haben, um Rotarmisten nicht lebend in die Hände zu fallen und einer Strafe für seine Verbrechen zu entgehen. Am 28. April erfuhr er von Himmlers seit Monaten laufenden Geheimverhandlungen mit den Westalliierten über einen Separatfrieden und seinem „Angebot“, dafür den laufenden Holocaust an den ungarischen Juden einzustellen. Die Westalliierten gaben Himmlers Gesprächsangebot an die Presse weiter. Hitler reagierte mit einem Wutanfall. Aus Rache an Himmler ließ er den Verbindungsoffizier der Waffen-SS zum Führerhauptquartier, Hermann Fegelein, festnehmen und erschießen. Gegen Mitternacht heiratete er seine Lebensgefährtin Eva Braun. Danach diktierte er seiner Sekretärin Traudl Junge sein politisches und sein privates Testament, in denen er seinen Suizid ankündigte. In seinem politischen Testament ernannte er Karl Dönitz zu seinem Nachfolger als Reichspräsident und Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Goebbels zum neuen Reichskanzler, schloss Göring und Himmler aus der NSDAP aus und rief die Deutschen zur unbedingten Fortsetzung des Krieges, Einhaltung der Nürnberger Gesetze und weiteren Judenvernichtung – umschrieben als „unbarmherzigen Widerstand“ – auf. Am Abend des 29. April erfuhr er von Mussolinis Erschießung am Vortag und vielleicht von der Schändung seiner Leiche. Dies bestärkte seinen Entschluss zum Suizid. Am 29. April weigerte sich General Walther Wenck, seine 12. Armee noch wie befohlen nach Norden in den Berliner Endkampf zu führen, und rettete stattdessen die Reste der 9. Armee im Kessel von Halbe. Am 30. April mittags verteilte er Giftampullen an seine Begleiter und erlaubte ihnen private Ausbruchsversuche. Die Wirkung des Gifts ließ er vorher an seiner Schäferhündin erproben, ohne dabei anwesend zu sein. Etwa um 15:30 Uhr schluckte Eva Braun Zyankali; Hitler erschoss sich. Martin Bormann und andere aus dem Führerbegleitkommando verbrannten wie befohlen ihre Leichen im Garten der Neuen Reichskanzlei und begruben die Überreste mit anderen Leichen in einem Bombenkrater in der Nähe des Bunkerausgangs. Das OKW meldete Hitlers Tod erst am Abend des 1. Mai über den noch verbliebenen Reichssender Hamburg und verschwieg dabei seinen Suizid. Am 10. Mai identifizierte Fritz Echtmann, langjähriger Assistent von Hitlers Zahnarzt Hugo Blaschke, gegenüber dem sowjetischen NKWD Gebissteile und Zahnbrücken der Leichen Hitlers und Eva Brauns. Beteiligt war dabei Jelena Moissejewna Rschewskaja als Übersetzerin. Spätere Untersuchungen bestätigten die Identifizierung. Die Sowjets hielten die Auffindung und Identifikation der Überreste Hitlers gegenüber ihren Verbündeten geheim und ließen Echtmann und andere Zeugen der letzten Tage Hitlers für Jahre in der Sowjetunion verschwinden. Die Ergebnisse ihrer Verhöre präsentierte der Innenminister Sergei Kruglow im Dezember 1949 Stalin in einem Geheimdossier. Im Westen löste die Ungewissheit viele Verschwörungstheorien aus. Um diese einzudämmen, belegte der britische Historiker Hugh Trevor-Roper Hitlers Tod 1947 anhand vieler Indizien und Zeugenaussagen und begründete damit eine „Hitler-Tod“-Forschung. Otto Günsche hatte Hitlers Raum an seinem Todestag bewacht und den Pistolenschuss gehört; er und andere hatten Hitler tot in einem Sessel sitzend aufgefunden. Diese und andere Zeugen bezeugten den Hergang 1956 vor dem Amtsgericht Berchtesgaden. Dieses erklärte Hitler daher am 25. Oktober 1956 für tot. Dennoch werden immer wieder Verschwörungstheorien verbreitet, nach denen es Hitler und Eva Braun gelungen sein soll, aus dem umkämpften Berlin nach Argentinien zu entkommen. Die Überreste von Adolf Hitler und Eva Braun sind neunmal an verschiedenen Orten in Berlin, Finow, Rathenow, Stendal und Magdeburg begraben und 1970 in Schönebeck (Elbe) vollständig verbrannt und als Asche bei Biederitz in die Ehle, einen Nebenfluss der Elbe, gestreut worden. Die Hitler zugeschriebenen Schädelfragmente wurden 2017 erstmals wissenschaftlich untersucht. Demnach stammt das Stück Schädeldecke im Staatsarchiv der Russischen Föderation von einer erwachsenen Person. Am linken Scheitelbein wurde ein sechs Millimeter großes Austrittsloch eines Projektils festgestellt. Das Gebiss im Archiv des russischen Geheimdienstes FSB ließ sich Hitler zuordnen. Zyanid-Rückstände daran legten nahe, dass er seinen Suizid zusätzlich zum Kopfschuss mit der Einnahme von Zyanid verübte. Dönitz ließ gemäß Hitlers letztem Willen zunächst weiterkämpfen. Am 8. Mai 1945 erfolgte jedoch die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht, mit der der Zweite Weltkrieg in Europa endete. Darin verloren weltweit mehr als 66 Millionen Menschen ihr Leben. Weitere Millionen wurden verletzt, zu dauerhaft Kriegsversehrten, obdachlos, vertrieben, deportiert oder inhaftiert. Viele Städte Europas und Ostasiens waren zerstört. Das Deutsche Reich wurde in vier Besatzungszonen aufgeteilt und seine Ostgebiete teils unter polnische, teils sowjetische Verwaltungshoheit gestellt. Knapp zwölf Millionen Deutsche wurden aus den damaligen Ostgebieten vertrieben. Später folgten die jahrzehntelange Teilung Europas und die deutsche Teilung. Hitlers Nachlass, sein Vermögen und seine Urheberrechte fielen an den bayerischen Staat. Dazu hatte dieser am 15. Oktober 1948 vor der Spruchkammer München I einen Rechtstitel erwirkt, wonach Hitler als „Hauptschuldiger“ im Sinne der Entnazifizierung anzusehen sei, um sein Vermögen als Sühnemaßnahme einziehen zu können. In Österreich wurde am 5. September 1952 entsprechend dem Antrag der Staatsanwaltschaft Wien auf Verfall des Hitlerschen Vermögens zu Gunsten der Republik Österreich geurteilt. Dabei ging es vor allem um Objekte, die zum Bestand des geplanten „Linzer Kunstmuseums“ gehörten. Privatleben Im persönlichen Gespräch ließ Hitler sich als „Mein Führer“ anreden. Enge Freunde durften seit etwa 1921 seinen Lieblingsspitznamen „Wolf“ verwenden. Im Krieg wählte Hitler für einige Führerhauptquartiere Namen, die das Wort Wolf enthielten. Vom 1. Mai 1920 bis zum 5. Oktober 1929 wohnte Hitler in München in der Thierschstraße 41 im Stadtteil Lehel. 1929 zog er in eine 9-Zimmer-Wohnung im Stadtteil Bogenhausen, Prinzregentenplatz 16, ein. Ab 1934 nutzte er die Wohnung kaum mehr, obwohl sie seine Meldeadresse blieb. Im Sommer 1933 kaufte er das Haus Wachenfeld auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden und ließ es bis Mitte 1936 zum Berghof umbauen. Zwischen 1926 und 1931 korrespondierte er vertraulich mit Maria Reiter, einer Urlaubsbekanntschaft, lehnte aber ihren Ehewunsch ab. 1928 mietete er auf dem Obersalzberg ein Landhaus, in das seine Halbschwester Angela Raubal und deren beide Töchter einzogen. 1929 ließ er seine Halbnichte Geli Raubal in seine Münchner Wohnung einziehen und zwang sie, eine Liebesbeziehung zu seinem Chauffeur Emil Maurice zu beenden. Am 19. September 1931 wurde sie mit seinem Revolver erschossen aufgefunden; ein Suizid wurde angenommen. Hitler nutzte diesen Verlust zur Selbstdarstellung gegenüber Parteifreunden: Er wolle „[…] nur noch uneigennützig seiner politischen Mission zum Wohle des deutschen Volkes […] dienen.“ Seit Januar 1932 kamen Gerüchte auf, dass Hitler mit Eva Braun, einer Angestellten seines Fotografen Heinrich Hoffmann, ein intimes Verhältnis habe. Nach einem Suizidversuch von ihr ging er ein festeres Verhältnis zu ihr ein, das er jedoch bis zu seinem Tod nicht öffentlich bekannt machte. Eine Ehe mit ihr lehnte er bis kurz vor ihrem gemeinsamen Selbstmord ab. Hitler war seit seiner Jugendzeit Nichtraucher. Nach seiner Haftentlassung 1925 schränkte er seinen Konsum von Alkohol und Fleisch ein. Ab 1932 ernährte er sich aus Furcht vor Magenkrebs vegetarisch. Diese Gewohnheit thematisierte er in Monologen vor engsten Anhängern als Mittel für die nationalsozialistische Gesundheitspolitik nach dem Krieg. Seit dem Ersten Weltkrieg mochte und hielt Hitler Hunde. Oft ließ er sich mit seiner Schäferhündin Blondi vor idyllischen Landschaften abbilden, um so seine private angebliche Tierliebe und Naturverbundenheit vorzuführen, den Deutschen Identifikation zu ermöglichen und eine verbreitete Sehnsucht nach Harmonie zwischen Führer und Geführten zu bedienen. Hitler lehnte Hochschulen, Professoren („Profaxe“) und etablierte Wissenschaft lebenslang ab und eignete sich Detailwissen autodidaktisch an. Er konnte sich gelesene Informationen dauerhaft merken und flocht sie bei Bedarf ohne Herkunftsangaben in Reden, Gespräche oder Monologe ein, um sie als eigene Ideen auszugeben. Er besaß 16.000 Bücher, von denen noch rund 1.200 erhalten sind und in der Library of Congress in Washington stehen. Rund die Hälfte davon ist militärische Gebrauchsliteratur; mehr als jedes zehnte Buch behandelt rechte Esoterik, Okkultismus, deutschnationale und antisemitische Themen. Nur wenige Werke gehören zur schönen Literatur, etwa einige Dramen William Shakespeares. Zwischen 1919 und 1921 lieh sich Hitler aus der Bibliothek des Starnberger Zahnarztes Friedrich Krohn verschiedene Werke aus, etwa von Leopold von Ranke, zur Russischen Revolution, von Montesquieu, Jean-Baptiste Rousseau, Immanuel Kant, Schopenhauer, Oswald Spengler, aber auch von Antisemiten wie Houston Stewart Chamberlain, Henry Ford, Anton Drexler, Gottfried Feder und Dietrich Eckart. Während seiner Haftzeit in Landsberg soll sich Hitler mit Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Heinrich von Treitschke und Otto von Bismarck befasst haben. Anstreichungen und Randnotizen zeigen sein Leseverhalten. Er beherrschte keine Fremdsprache, nur etwas Französisch seit seiner Realschulzeit. Auslandspresseberichte ließ er sich von seinem Chefdolmetscher Paul-Otto Schmidt übersetzen. Historische Einordnungen Die Hitler-Forschung fragt vor allem, wie Hitler ohne berufliche und charakterliche Qualifikation zum Kanzler und Diktator aufsteigen konnte, welche Ziele er hatte und welche Rolle er im NS-Staat spielte, besonders im Krieg und beim Holocaust. Friedrich Meinecke war 1946 der Ansicht, Hitler sei vom preußischen Militarismus stark gefördert worden, habe die Kanzlerschaft nur zufällig von Hindenburg erhalten. Mit ihm sei ein „satanisches Prinzip“ und „innere Fremdherrschaft“ in die deutsche Geschichte getreten. Diese Sicht diente in der Nachkriegszeit dazu, „alles oder fast alles Hitler und eben nicht ‚den Deutschen‘ zur Last“ zu legen. Schon 1936 hatte Konrad Heiden Hitlers Politik als detaillierten Plan zum Erringen der Weltherrschaft beschrieben. Dagegen erklärte Hermann Rauschning 1939, Hitler sei ein Machtpolitiker ohne klare Ziele und benutze außenpolitische Gelegenheiten nur für Machtgewinn. Dieser Sicht folgte 1952 Alan Bullock, der erste international anerkannte Hitlerbiograf: Hitler sei ein „völlig prinzipienloser Opportunist“ mit nur einer Idee gewesen, nämlich „seine eigene und die Macht der Nation, mit der er sich identifizierte, immer weiter auszudehnen“. Laut Alan J. P. Taylor (1961) wollte Hitler wie frühere deutsche Politiker nur Deutschlands kontinentale Großmachtstellung wiederherstellen. Dagegen begründete Hugh Trevor-Roper 1960 mit späteren Aussagen Hitlers seine Ansicht, Hitler habe konsequent sein frühes Lebensraum-Konzept durchgehalten und verwirklicht. Günter Moltmann vertrat 1961 die Ansicht: Hitler habe die Weltherrschaft angestrebt. Andreas Hillgruber führte 1963 aus: Hitler habe zuerst Kontinentaleuropa, dann den Nahen Osten und die britischen Kolonien erobern wollen, um später die USA besiegen und die Welt beherrschen zu können. Klaus Hildebrand, Jost Dülffer, Jochen Thies, Milan Hauner und andere „Globalisten“ stützten Hillgrubers These mit Spezialuntersuchungen. Auch für die „Kontinentalisten“ (Trevor-Roper, Eberhard Jäckel, Axel Kuhn) bestimmte Hitler die NS-Außenpolitik und hielt sein rassistisches Lebensraumprogramm und eine dauerhafte Weltmachtstellung Deutschlands bei allen taktischen Wendungen als Kernziele durch. Schon 1941 meinte Ernst Fraenkel: Die Konkurrenz zwischen Verwaltungsbehörden und NSDAP habe Hitlers Handlungsspielraum begrenzt. In den 1970er Jahren stritt die Forschung darüber, ob eher individuelle Absichten oder eher allgemeine Entwicklungen und anonyme Machtstrukturen die NS-Zeit bestimmten und ob Hitler eher ein „starker“, die Geschichte eigenwillig bestimmender oder eher ein „schwacher“, auf Zeitumstände und Sachzwänge reagierender Diktator war. Hitlers Rolle beim Holocaust war besonders umstritten. „Intentionalisten“ wie Hillgruber und Jäckel sahen Hitlers „rassenideologisches Programm“ und konsequent verfolgte Vernichtungsabsicht als entscheidenden Faktor, auch wenn er nicht jede einzelne Eskalationsstufe des Holocaust initiiert habe. „Funktionalisten“ wie Hans Mommsen und Martin Broszat dagegen erklärten den Holocaust aus einer kumulierenden Eigendynamik und einem komplexen Bedingungsgeflecht von vorauseilendem Gehorsam, innenpolitischer Funktionalisierung und selbstgeschaffenen Sachzwängen. Hitlers antisemitische Rhetorik habe diesen Prozess nur ausgelöst. Neuere Spezialuntersuchungen zum „Räderwerk der Vernichtung“ haben diesen Deutungsstreit überholt. Im Prozess (1995–2000) gegen den Holocaustleugner David Irving belegte Peter Longerich mündliche Befehle Hitlers zur Judenvernichtung und seine treibende Kraft bei deren Durchführung. Auch Raul Hilberg, dessen Monographie Die Vernichtung der europäischen Juden 1961 den Holocaust aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Machtgruppen und Behörden im NS-System erklärte, betonte 2002: Dass Hitler seinen Antisemitismus „zum Regierungsprogramm machte, führte zum Mord an den europäischen Juden“. Kershaw fasste 2009 zusammen: 1961 hatte Waldemar Besson eine Biografie, die Hitler als prägenden Repräsentanten der NS-Zeit darstelle, zur wichtigsten Aufgabe der Geschichtsschreibung erklärt. Die NS-Forschung verwarf Hitlerbiografien von Zeitzeugen wie Helmut Heiber (1960), Hans Bernd Gisevius (1963), Ernst Deuerlein (1969), Robert Payne (1973) wie auch Bestseller von Geschichtsrevisionisten wie Erich Kern, David Irving und Werner Maser sowie Werke zur Psychopathographie Adolf Hitlers von Walter Charles Langer, Rudolph Binion und Helm Stierlin als wissenschaftlich wenig ertragreiche „Hitler-Welle“. Auch die Hitlerbiografie von Joachim Fest (1973) wurde als auf die Einzelperson fixierter „Hitlerismus“ kritisiert, da sie großenteils auf seinen Gesprächen mit Albert Speer beruhe und Hitlers Vernichtungspolitik aus einem selbstzerstörerischen Charakterzug erkläre. Broszat lehnte jede Erklärung von Hitlers Politik nach 1933 aus seiner frühen Biografie als unzulässigen Rückschluss von historischen Wirkungen auf persönliche Ursachen ab. Faschismustheorien wiederum sahen Hitler nur als austauschbare Figur und vernachlässigten seine individuellen Absichten und Taten. In der DDR erschien deshalb keine Hitlerbiografie. Gerhard Schreiber stellte 1983 als westlichen Forschungskonsens heraus: Hitler sei für den Nationalsozialismus unersetzlich und die NS-Zeit ohne ihn undenkbar gewesen. Diese Wirkung hätten auf Hitlers „Persönlichkeit“ fokussierte Biografien kaum erklärt. Man müsse auch die historischen Bedingungen für seinen Werdegang darstellen. Diesem Anspruch versuchte Ian Kershaw mit seiner zweiteiligen Hitlerbiografie (1998; 2000) zu genügen. Er erklärt Hitlers Aufstieg mit Max Webers Modell der „charismatischen Herrschaft“: Aufgrund der sozialen Bedingungen nach dem Ersten Weltkrieg habe der „Führermythos“ Hitlers Popularität und seine späteren Anfangserfolge begründet. Seine Macht habe darauf beruht, dass seine Anhänger und große Teile der deutschen Gesellschaft bereit waren und sich verpflichteten, auch ohne direkte Befehle „im Sinne des Führers ihm entgegenzuarbeiten“, wie es der NSDAP-Beamte Werner Willikens 1934 ausdrückte. Ludolf Herbst kritisierte: Kershaw deute Hitlers charismatische Herrschaft als vom Glauben der Beherrschten getragene soziale Beziehung und somit als Produkt gesellschaftlicher Erwartungen. Dabei bleibe unbeachtet, ob und wie dieses Charisma den politischen Alltag bestimmt habe. Ein Glaube der meisten Deutschen an außergewöhnliche Fähigkeiten Hitlers, der die NS-Herrschaft legitimiert habe, sei nicht beweisbar. Die NS-Propaganda habe Hitlers Charisma künstlich geschaffen, um Heilserwartungen der Deutschen auszunutzen. Brendan Simms äußerte im Jahr 2020 seine Ansicht, dass alle bisherigen Veröffentlichungen über Adolf Hitler dessen Aversion gegen das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten im Allgemeinen und gegen den amerikanisch dominierten internationalen Kapitalismus im Besonderen außer Acht ließen und dass diese mit Respekt durchsetzte Ablehnung gegenüber den Briten und Amerikanern, die Hitler im Ersten Weltkrieg entwickelte, wesentlich seine Weltanschauung prägte, von der er sich leiten ließ. Veröffentlichungen Mein Kampf. Band 1: Eine Abrechnung. Franz Eher Verlag, München (Juli) 1925; 2. Auflage ebenda (Dezember) 1925; weitere Auflagen: 1926, 1932 ff. Band 2: Die nationalsozialistische Bewegung. Franz Eher Verlag, München (Dezember) 1926; 2. Auflage ebenda 1927; weitere Auflagen: 1932 ff. Adolf Hitlers Reden. Hrsg. von Ernst Boepple. Boepple, München 1925. Die Südtiroler Frage und das deutsche Bündnisproblem. Eher, München 1926. Die Reden Hitlers am Reichsparteitag 1933. Eher, München 1934. Rede des Reichskanzlers Adolf Hitler vor dem Reichstag am 13. Juli 1934. Müller, Berlin 1934. Die Reden Hitlers am Parteitag der Freiheit 1935. Eher, München 1935. Reden des Führers am Parteitag der Ehre 1936. 6. Auflage. Eher, München 1936. Führerbotschaft an Volk und Welt. Eher, München 1938. Reden des Führers am Parteitag Großdeutschland 1938. 6. Auflage. Eher, München 1939. Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939. Eher, München 1939. Der großdeutsche Freiheitskampf. Reden Adolf Hitlers. Hrsg. von Philipp Bouhler. 3 Bände. Eher, München 1940–1943. Quelleneditionen Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933. Hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte. De Gruyter Saur, München 1992–2003. Band I: Die Wiedergründung der NSDAP. Februar 1925 – Juni 1926. Herausgegeben und kommentiert von Clemens Vollnhals. München 1992. Band II: Vom Weimarer Parteitag bis zur Reichstagswahl. Juli 1926 – Mai 1928. Herausgegeben und kommentiert von Bärbel Dusik. München 1993. Teil I: Juli 1926 – Juli 1927 Teil II: August 1927 – Mai 1928 Band II/A: Außenpolitische Standortbestimmung nach der Reichstagswahl. Juni–Juli 1928. Eingeleitet von Gerhard L. Weinberg. Herausgegeben und kommentiert von Gerhard L. Weinberg, Christian Hartmann und Klaus A. Lankheit. München 1995. Band III: Zwischen den Reichstagswahlen. Juli 1928 – September 1930. Teil 1: Juli 1928 – Februar 1929. Herausgegeben und kommentiert von Bärbel Dusik und Klaus A. Lankheit unter Mitwirkung von Christian Hartmann. München 1994. Teil 2: März 1929 – Dezember 1929. Herausgegeben und kommentiert von Klaus A. Lankheit. München 1994. Teil 3: Januar 1930 – September 1930. Herausgegeben und kommentiert von Christian Hartmann. München 1995. Band IV: Von der Reichstagswahl bis zur Reichspräsidentenwahl. Oktober 1930 – März 1932. Teil 1: Oktober 1930 – Juni 1931. Herausgegeben und kommentiert von Constantin Goschler. München 1994. Teil 2: Juli 1931 – Dezember 1931. Herausgegeben und kommentiert von Christian Hartmann. München 1995. Teil 3: Januar bis März 1932. Herausgegeben und kommentiert von Christian Hartmann. München 1997. Band V: Von der Reichspräsidentenwahl bis zur Machtergreifung. April 1932 – Januar 1933. Teil 1: April 1932 – September 1932. Herausgegeben und kommentiert von Klaus A. Lankheit. München 1996. Teil 2: Oktober 1932 – Januar 1933. Herausgegeben und kommentiert von Christian Hartmann und Klaus A. Lankheit. München 1998. Band VI: Register, Karten und Nachträge. Herausgegeben und kommentiert von Christian Hartmann Katja Klee und Klaus A. Lankheit. München 2003. Ergänzungsband: Der Hitler-Prozess 1924. Herausgegeben von Lothar Gruchmann und Reinhard Weber unter Mitarbeit von Otto Gritschneder. München 1997–1999. Josef Becker, Ruth Becker (Hrsg.): Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933. Dtv, Neuauflage 1996, ISBN 3-423-02938-2. Robert Eikmeyer (Hrsg.): Adolf Hitler: Reden zur Kunst und Kulturpolitik. 1933–1939. Mit einer Einführung von Boris Groys. Revolver, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-86588-000-2. Christian Hartmann u. a. (Hrsg.): Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition (2 Bände). Institut für Zeitgeschichte, München/Berlin 2016, ISBN 978-3-9814052-3-1. Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.): Hitlers Zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahr 1928. Eingeleitet und kommentiert von Gerhard Ludwig Weinberg, mit einem Geleitwort von Hans Rothfels. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1961. Werner Jochmann (Hrsg.): Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944. Aufgezeichnet von Heinrich Heim (1980). 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Nachlass Bundesarchiv N 1128 Einzelnachweise Adolf Reichskanzler (Deutsches Reich, 1933–1945) Staatsoberhaupt (Deutsches Reich) Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP DAP-Mitglied NSDAP-Mitglied Teilnehmer am Hitlerputsch Täter des Holocaust Täter des Porajmos Person (Aktion T4) Verurteilte Person Reichstagsabgeordneter (Weimarer Republik) Reichstagsabgeordneter (Deutsches Reich, 1933–1945) Regierungsrat Beamter (deutsche Geschichte) Parteivorsitzender (Deutschland) Militärperson im Nationalsozialismus Oberbefehlshaber des Heeres (Heer der Wehrmacht) Autor (Antisemitismus) Opfer eines Attentats Träger des Eisernen Kreuzes I. Klasse Gefangener Person (Braunschweig, Land) Person (österreichische Geschichte) Person (Braunau am Inn) Person (Cisleithanien) Vertreter einer Verschwörungstheorie Österreichischer Emigrant in Deutschland Österreicher Staatenloser Deutscher Geboren 1889 Gestorben 1945 Mann
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Algerien
Algerien (; , und ; amtlich , auf ) ist ein Staat im Nordwesten Afrikas. Algerien, als mittleres der Maghrebländer, ist – seit der Trennung des Südsudans vom Sudan – der Fläche nach der größte Staat des afrikanischen Kontinents und der zehntgrößte Staat der Welt. Die Fläche beträgt somit das Dreifache der Fläche der Türkei oder 6 mal die Fläche Deutschlands. Nach Einwohnern lag Algerien im Jahr 2017 innerhalb Afrikas mit gut 41 Millionen an achter Stelle. Es grenzt im Norden an das Mittelmeer, im Westen an Mauretanien, Marokko und die von Marokko beanspruchte Westsahara, im Süden an Mali und Niger und im Osten an Libyen sowie Tunesien. Das Land ist nach seiner Hauptstadt Algier () benannt. Weitere bedeutende Großstädte sind Oran, Constantine, Annaba und Batna. Das Land wurde nach Ende des Algerienkriegs (1954–1962) unabhängig. Mit der Verfassung von 1996 trat ein semipräsidentielles Regierungssystem in Kraft. Geographie Geomorphologie Hinter dem nur schmalen, buchtenreichen Saum der Mittelmeerküste erhebt sich der steil ansteigende Tellatlas. Der durch Becken, Längs- und Quertäler gegliederte Gebirgszug erreicht östlich von Algier in der wild zerschluchteten Kabylei 2308 m Höhe und südwestlich von Algier steigt das Ouarsenis-Gebirge bis 1963 m an. Die Südseite des Tellatlas fällt zum Hochland der Schotts auf 1000 m bis 391 m ab. Hier liegen zahlreiche abflusslose und versumpfte Salzseen, die sogenannten Schotts. Südlich an dieses bis zu 150 km breite Hochland schließt sich der Saharaatlas an; er verläuft parallel zur Küste und zum Tellatlas. Sein höchster Berg erreicht 2328 m. Jenseits der markanten Südabdachung des Atlasgebirges, die am Schott Melghir im östlichen Tiefland bis 35 m unter Meeresniveau abfällt, breitet sich die algerische Sahara aus; sie nimmt mit gut zwei Millionen Quadratkilometern 85 % der Landesfläche ein. An einen Streifen Wüstensteppe im Norden schließen sich die ausgedehnten, fast vegetationslosen Sanddünengebiete des Östlichen Großen Erg, des Westlichen Großen Erg, des Erg Iguidi und des Erg Chech an. Zu einem größeren Teil wird die Sahara Algeriens von den steinigen Plateaus wie der Hammada du Draa oder der Hammada du Guir im Westen und von Stufenlandschaften (Tassili n’Ajjer im Südosten) eingenommen. Im Süden erhebt sich das im Tahat (höchster Berg Algeriens) 2908 m hohe Ahaggar-Massiv, ein wüstenhaftes Hochgebirge vulkanischen Ursprungs, das bis heute erdbebengefährdet ist. Südlich des Tassili n’Ajjer liegen die großen Dünengebiete des Tschadbeckens. Als längster unter den sonst meist kurzen Dauerflüssen in der Küstenregion des Tellatlas ist der Cheliff zu erwähnen. Weiter im Süden sind die Flusstäler Algeriens meist trocken (Wadis) und mitunter von Oasen gesäumt; durch heftige Regenfälle – auch in entfernteren Gebieten – kann ein Wadi unvermittelt zum reißenden Strom werden. Eines der längsten dieser Trockentäler hat der Wadi Igharghar geschaffen. Klima Algerien hat im Norden mediterranes Klima, im Süden extrem trockenes Wüstenklima. An der Mittelmeerküste und den Nordhängen des Tellatlas beträgt die Mitteltemperatur im August 25 °C, im Januar 12 °C; die Niederschläge (durchschnittlich 500 bis 1000 mm) fallen vorwiegend im Winter. Im Hochland der Schotts herrscht winterfeuchtes Steppenklima mit ausgeprägten saisonalen Temperaturschwankungen (Januarmittel kaum über 0 °C, Augustmittel 30 °C). Die Niederschläge, meist in Form von kurzen Platzregen, betragen hier nur noch 350 mm. Der Nordhang des Saharaatlas wird stärker beregnet; an der Südseite aber vollzieht sich rasch der Übergang zum heißen, trockenen Wüstenklima der Sahara mit täglichen Temperaturschwankungen bis 20 °C und mehr. Die Temperaturen erreichen im Sommer über 40 °C, im Winter können sie unter 0 °C sinken. In manchen Gegenden liegt das langjährige Niederschlagsmittel bei nur 10 mm. Aus der Sahara weht in den Sommermonaten häufig der Scirocco, ein trockener, staubbeladener Wind. Flora und Fauna Algerien hat heute einen Waldanteil von nur 2 %, etwa 80 % des Landes sind nahezu vegetationslos. Gezielte Aufforstungsmaßnahmen wie der Barrage vert haben das Ziel, die Ausbreitung der Wüste zu bremsen. Zwischen 1990 und 2000 hat der Waldbestand um 1,3 % zugenommen. An der ausreichend beregneten Nordseite des Tellatlas wachsen mediterrane Sträucher wie Macchie, Aleppo-Kiefern, Korkeichen und Steineichen sowie (über 1600 m) Atlas-Zedern; in der Kabylei gibt es noch zusammenhängende Waldgebiete. Im Hochland der Schotts dominieren Steppen mit Halfagras und Wermutgewächsen. Die Gebirgssteppe des Saharaatlas geht nach Süden in die weitgehend vegetationslose Wüste über; Pflanzen (v. a. Dattelpalmen) wachsen nur in Randzonen und grundwasserbegünstigten Gebieten (Oasen). Das Ahaggar-Gebirge ist waldlos; stellenweise gibt es mediterrane Vegetation. An wildlebenden Tieren kommen Gazellen, Wüstenfüchse (Fenneks), Mähnenschafe, Berberaffen, vereinzelt Geparde, Springmaus, Schlangen, Echsen, Skorpione und verschiedene Vogelarten (darunter große Greifvögel) vor. Ursprünglich waren auch Berberlöwen und Atlasbären in Algerien heimisch. Die wildlebenden Bestände sind allerdings ausgestorben. Im Nationalpark Tassili n’Ajjer, der Weltnatur- und Weltkulturerbestätte der UNESCO, gibt es noch Bestände von Mähnenschafen und Dünengazellen sowie einige wenige Geparde. Humangeographie Im Norden Algeriens, an der Südküste des Mittelmeers und im Atlasgebirge, lebt der Hauptteil der Bevölkerung. Der weitaus größere Südteil, in Algerien Le Grand Sud genannt, ist nur dünn besiedelt und wird von den Wüstenregionen der Sahara dominiert. Bevölkerung Demografie Algerien hatte 2020 43,5 Millionen Einwohner. Das jährliche Bevölkerungswachstum betrug + 1,7 %. Zum Bevölkerungswachstum trug ein Geburtenüberschuss (Geburtenziffer: 22,4 pro 1000 Einwohner vs. Sterbeziffer: 5,4 pro 1000 Einwohner) bei. Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2020 statistisch bei 2,9, die der Region Naher Osten und Nordafrika betrug 2,7. Der Median des Alters der Bevölkerung lag im Jahr 2020 bei 27,6 Jahren. Im Jahr 2020 waren 30,6 Prozent der Bevölkerung unter 15 Jahre, während der Anteil der über 64-Jährigen 6,0 Prozent der Bevölkerung betrug. Bevölkerungsstruktur Die Bevölkerung in Algerien ist sehr ungleich verteilt. 96 % der Einwohner leben im Norden auf einem Fünftel der Staatsfläche. Im Jahr 2021 lebten 74 Prozent der Einwohner Algeriens in Städten, die vornehmlich im Küstenbereich liegen. Schätzungsweise 2,3 Millionen Algerier leben im Ausland, davon über 1,5 Millionen in Frankreich. Diese bilden die größte islamische Bevölkerungsgruppe in Frankreich. Ursachen der hohen Auswanderungsquote sind hauptsächlich das rasche Bevölkerungswachstum und fehlende Arbeitsmöglichkeiten. 2017 waren nur 0,6 % der Bevölkerung Algeriens Ausländer. Das Land hat damit einen sehr niedrigen Migrantenanteil. Fast alle Algerier sind berberischer Herkunft; etwa 40 % bekennen sich zu ihrer berberischen Identität. Algerien erlebte im Zuge der Islamisierung im 7. und 8. Jahrhundert eine umfassende Arabisierung hinsichtlich Kultur, Sprache und Religion. Vorwiegend sich als Araber bezeichnende Menschen (70 %) und verschiedene Berberstämme (30 %), die zum Teil arabisiert sind, bevölkern Algerien. Da sich die Volksgruppen ab dem 20. Jahrhundert zunehmend vermischt haben, ist es bisweilen schwierig, einen Algerier einem bestimmten Stamm zuzuordnen. Immer mehr haben sowohl arabische als auch berberische Wurzeln. Die Zahl der Europäer, die unter französischer Herrschaft im Jahre 1960 noch 10 % der Bevölkerung ausmachten, sank nach Erlangung der Unabhängigkeit bis auf etwa 20.000. Nach Jahrhunderten osmanischer Herrschaft wird die Anzahl der Kulughli genannten osmanischstämmigen Bevölkerung (mit türkischen, kurdischen und teils armenischen Wurzeln) auf 600.000 bis 2 Millionen geschätzt. Sprachen Die Amtssprachen Algeriens sind Arabisch und verschiedene Berbersprachen (Tamazight). Französisch spielt eine wichtige Rolle als Bildungs-, Handels- und Verkehrssprache. Algerien gilt als das Land mit den meisten Französischsprechenden außerhalb Frankreichs; aus politischen Gründen bekennt es sich jedoch nicht zur Frankophonie. Staatliche Fernsehsender strahlen Nachrichten und Dokumentationen auch auf Französisch aus; im staatlichen Hörfunk ist eines der drei Hauptprogramme auf Französisch. Seit 2002 hat auch Tamazight den Status einer Nationalsprache, seit 2016 ist es Amtssprache, in der auch Radioprogramme sowie vereinzelt Fernsehsendungen ausgestrahlt werden. Als Schriftsprachen finden vor allem Französisch und Hocharabisch Verwendung; Initiativen der Regierung forcieren seit den 1970er Jahren den Gebrauch des Hocharabischen und eine Zurückdrängung des Französischen. Insbesondere in der Großen und Kleinen Kabylei ist Kabylisch als Schriftsprache verbreitet, doch sind dazu fast nur junge Menschen in der Lage, da die über 30-Jährigen in der Schule noch nicht auf Kabylisch alphabetisiert wurden. Heute (Stand 2014) ist die Muttersprache von etwa 70 % der Bevölkerung ein algerischer Dialekt des Arabischen (Darja), das sich vom Hocharabischen, das in Medien, Politik, Verwaltung und Schulen vorherrscht, deutlich unterscheidet. Die Muttersprache weiterer ca. 30 % der Bevölkerung ist Tamazight. Der Süden des Landes ist fast ausschließlich von Tamascheq-sprachigen Tuareg (die zu den Amazigh zählen) bewohnt. Französisch wird von fast allen Algeriern verstanden; der Grad der Beherrschung variiert jedoch stark. Ältere Menschen, deren Schulbildung vor der Umstellung des Schulsystems von Französisch auf Hocharabisch (1976) erfolgte, akademisch Gebildete und viele Bewohner der Kabylei sprechen meist fließend Französisch mit nahezu muttersprachlicher Kompetenz. Jüngere Menschen beherrschen das Französische dagegen in schriftlicher Form oft fehlerhaft und bedienen sich eines Français régional, einer Mischsprache aus Französisch und Darja. Eine kleine Minderheit im Westen von Algerien spricht Korandje, die nördlichste von den Songhai-Sprachen. Religionen Zwischen 98 % und 99 % der Bevölkerung bekennen sich zum Islam. Eine Minderheit, vor allem in Algerien lebende Ausländer und konvertierte Algerier, gehören dem Christentum in Algerien an, traditionellerweise der katholischen Kirche Algeriens. Im Gefolge des 1992 ausgebrochenen Bürgerkriegs zwischen Regierung und der Islamischen Heilsfront (FIS), die vor Massenmorden an Landsleuten nicht zurückschreckte, wandten sich einige Algerier, v. a. in der Kabylei, dem protestantischen Christentum zu. Die protestantischen Gemeinden in der Kabylei existieren teilweise schon seit den 1930er Jahren. Außerdem gibt es noch eine geringe Zahl an Einwohnern jüdischen Glaubens (heute weniger als 0,1 % der Bevölkerung). Die Mozabiten sind eine islamische Minderheit. Algerien hat den sunnitischen Islam zur Staatsreligion erklärt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewann der Islam immer stärker an Einfluss im täglichen Leben der Algerier. Schon Algeriens Unabhängigkeitsbewegung war stark vom Islam durchdrungen, weshalb die Religionsführer nach dem Sieg über Frankreich mehr Rechte einforderten. Seit 1963 gilt das Staatsbürgerschaftsrecht auf islamischer Grundlage; seit 1964 wird an allen Schulen der Koran unterrichtet. Mit der Zeit wurde auch die Scharia als Grundlage des Rechtssystems eingeführt: Seit 1984 ist ein Familienrecht in Kraft, in dem die Benachteiligung bzw. Andersbehandlung von Frauen festgeschrieben wird. Ein am 28. März 2006 in Kraft getretenes Gesetz stellt die Missionierung von Muslimen durch andere Religionen unter hohe Strafen. Soziales Für alle Arbeitnehmer besteht eine allgemeine Sozialversicherung; ab dem 60. Lebensjahr wird eine Altersrente gezahlt. Ebenso gibt es Invaliden- und Hinterbliebenenrenten. Was fehlt, ist eine Arbeitslosenunterstützung – ein Manko, das bei der hohen Arbeitslosigkeit (2016: 12,4 %) beträchtliche soziale Auswirkungen hat. Bildung Allgemeine Schulpflicht besteht für 6- bis 15-Jährige. Darauf können drei Jahre auf einer weiterführenden Schule folgen. Die Unterrichtssprachen sind Französisch und Arabisch. Die Bildungs- und Ausbildungsunterschiede zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Stadt und Land sind immer noch erheblich. In Algerien stieg die mittlere Schulbesuchsdauer von 3,6 Jahren im Jahr 1990 auf 7,8 Jahre im Jahr 2015 an. Alphabetisierungsprogramme für Erwachsene und eine höhere Einschulungsrate ließen die Analphabetenquote in den letzten Jahrzehnten langsam auf mittlerweile 13 % bei den Männern und 27 % bei den Frauen sinken. Das Land hat zwölf Universitäten; die älteste wurde 1879 in Algier gegründet. Die Reform des algerischen Schulwesens mit dem Ziel einer grundlegenden Modernisierung des Schulunterrichts wird seit 2014 von der Regierung vorangetrieben. Den europäischen Fremdsprachen wird – nach den Jahren der Arabisierung des Schulsystems – eine wichtige Rolle zugeschrieben. Französisch ist erste, Englisch zweite, Deutsch, Spanisch oder Italienisch dritte Fremdsprache. In der Praxis leidet die Reform am Fachkräftemangel (Abwanderung von Lehrkräften ins Ausland, stagnierende Studentenzahlen/etwa 1,3 Millionen im Studienjahr 2014/15), dem Fehlen einer modernen Fremdsprachendidaktik und häufigen Streiks des Lehrpersonals. Nur ein Teil der algerischen Lehrer wurde an Hochschulen ausgebildet. Im PISA-Ranking von 2015 erreichten algerische Schüler Platz 71 in Mathematik, Platz 71 in den Naturwissenschaften und Platz 69 beim Leseverständnis; die Situation in insgesamt 72 Staaten wurde in der Studie untersucht. Gesundheit Der Standard des Gesundheitswesens ist trotz Verbesserungen noch unzureichend. Trotz allgemeiner kostenloser medizinischer Versorgung der Bevölkerung ist vor allem ein beträchtliches Stadt-Land-Gefälle zu beobachten. Im Jahr 2018 praktizierten in Algerien 17,2 Ärztinnen und Ärzte je 10.000 Einwohner. Die Sterblichkeit bei unter 5-jährigen betrug 2020 22,7 pro 1000 Lebendgeburten. Die Lebenserwartung der Einwohner Algeriens ab der Geburt lag 2020 bei 74,5 Jahren (Frauen: 75,9, Männer: 73,1). Quelle: UN Geschichte Berber, Phönizier, Vandalen und Oströmer Ursprünglich war das Gebiet des heutigen Algerien von berberischen Volksstämmen bewohnt, im Osten von Tuareg. Vom 12. Jahrhundert v. Chr. an errichteten die Phönizier an der Küste Handelsstützpunkte und gründeten 814 v. Chr. die Handelsstadt Karthago im heutigen Tunesien, die sich in der Folge zur Großmacht im westlichen Mittelmeer entwickelte. Um 202 v. Chr. schlossen sich die Berber-Stämme (Mauren) unter Massinissa zum Königreich Numidien zusammen und verbündeten sich mit Rom gegen Karthago. Die Erhebung Karthagos gegen Massinissa 149 v. Chr. lieferte Rom den erwünschten Vorwand für den Dritten Punischen Krieg, in dessen Verlauf Karthago zerstört wurde. 46 v. Chr. unterwarf Rom Numidien und vereinigte es mit Karthago zur römischen Provinz Numidia-Mauretania. Bis zum Einfall der Vandalen im Jahre 429 n. Chr. war diese die Kornkammer Roms. Die Vandalenherrschaft endete 534 mit der Eroberung durch Truppen des oströmischen Kaisers Justinian I., wodurch Nordafrika byzantinische Provinz wurde. Schon seit dem 3. Jahrhundert hatte das Christentum in Nordafrika an Einfluss gewonnen. In den großen Städten waren mehrere Bistümer entstanden: So war der hl. Augustinus, der einflussreichste Kirchenlehrer des frühen Christentums, Ende des 4. Jahrhunderts Bischof von Hippo Regius, dem heutigen Annaba. Islamisierung und Arabisierung Um die Mitte des 7. Jahrhunderts stießen die Araber in den Maghreb vor. 697 eroberten sie einen Großteil des heutigen Algerien. Die Bevölkerung wurde größtenteils islamisiert. Im Laufe des 8. Jahrhunderts kam es wiederholt zu Aufständen der Berber gegen die arabischen Eroberer: 757 wurden die Berber-Reiche im Atlasgebirge vom Kalifat unabhängig, während die drei sich herausbildenden Fürstentümer der Idrisiden, Aghlabiden und Ziriden unter dessen Herrschaft gerieten. Im 11. Jahrhundert konnte sich die Berberdynastie der Almoraviden im Gebiet des heutigen Algerien durchsetzen; sie beherrschte das Land fast 100 Jahre, bis sie 1147 von den Almohaden abgelöst wurde. Diese Dynastie eroberte in der Folgezeit den Maghreb und Südspanien; in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zerfiel das Reich dann jedoch. Ostalgerien wurde Teil eines tunesischen Fürstentums, im Westen bildete sich von 1269 an das Königreich der Abd-al-Wadiden mit der Hauptstadt Tlemcen (heutiges Tilimsen) heraus. Osmanische Herrschaft Anfang des 16. Jahrhunderts versuchten die Spanier, an der algerischen Küste Fuß zu fassen. Daraufhin unterstellte sich das Land 1519 der Oberhoheit des Osmanischen Reiches und wurde dessen Vasall; Algerien wurde das Eyâlet Cezayir innerhalb des Osmanischen Reiches und später in ein Vilâyet umgewandelt. Es blieb bis 1830 unter Osmanischer Oberhoheit, war jedoch ab 1711 faktisch unabhängig. Bis ins 19. Jahrhundert konnte sich Algerien gegen die Versuche der Spanier, Niederländer, Briten und Franzosen zur Eindämmung der Seeräuberei erfolgreich zur Wehr setzen. Die Barbaresken-Piraten plünderten Schiffe von Christen und Nichtmuslimen im Mittelmeer. Oft raubten die Piraten auch die Seemänner und Passagiere, um diese in die Sklaverei weiterzuverkaufen. Schätzungen des Historikers Robert Davis gehen davon aus, dass zwischen dem 16. bis 19. Jahrhundert etwa 1 Million bis 1,25 Millionen Europäer in der Sklaverei landeten. Durch die Sklaven-Raubzüge an den europäischen Küsten entstand der heutige Begriff Razzia. Französische Kolonialherrschaft Erste Pläne zur Eroberung Algeriens durch Frankreich wurden unter Napoleon Bonaparte erstellt. 1830 begann die französische Invasion. Hintergrund waren innenpolitische Probleme Karls X.; als Begründung des Angriffes auf Algerien wurden aber vor allem das respektlose Verhalten des algerischen Dey (der berühmte Schlag mit dem Fliegenwedel), die von den nordafrikanischen Küsten ausgehende Piraterie und das Ziel der Verbreitung des Christentums angeführt. Dazu wurde auch 1831 die Fremdenlegion – Légion étrangère gegründet. Die vom Sufismus geprägten Algerier empfanden den französischen Vorstoß als Angriff des Christentums auf die Welt des Islams. Der junge Abd el-Kader wurde zu ihrem Führer und rief zum Dschihad auf. Nach massiven Rückschlägen wurde Thomas Robert Bugeaud Befehlshaber der französischen Truppen. Durch eine äußerst grausame Kriegsführung, auch gegen Zivilisten, besiegte er Abd el-Kader 1847. Die große Kabylei wurde bis 1855 erobert. In den folgenden Jahren wurden Aufstände der Algerier niedergeschlagen, sodass die Franzosen 1881 die vollständige Kontrolle über den Norden Algeriens erlangt hatten. Die algerische Bevölkerung hatte massive Verluste erlitten. Die staatlichen und religiösen Strukturen Algeriens wurden zerschlagen, das Gemeineigentum an Ländereien wurde aufgehoben. Zahlreiche Siedler, Italiener, Spanier, Franzosen und Malteser, strömten in die Siedlungskolonie, während die einheimischen Bauern in weniger fruchtbare Gebiete abgedrängt wurden. Um die Jahrhundertwende eroberten die Franzosen auch die Saharagebiete Algeriens. Danach wurde Algerien in drei Départements gegliedert: Oran, Algier, Konstantin. Die Bevölkerung Algeriens wurde durch den Code de l’indigénat von 1875 in Bürger erster und zweiter Klasse unterteilt, in französische Staatsbürger (zuerst nur Franzosen, seit 1889 auch Italiener, Malteser und Spanier) und französische Untertanen ohne Staatsbürgerschaft („Sujets“). Am 26. August 1881 wurden die drei Départements zum Bestandteil Frankreichs erklärt. Sie waren danach keine Kolonie mehr, sondern französisches Staatsgebiet mit denselben Rechten und Pflichten wie alle anderen Départements. Die Sahara-Gebiete blieben unter Militärverwaltung. Die nicht-französischen Europäer in Algerien assimilierten sich rasch an die französische Kultur. Eine Zwischenstellung hatten die fast 40.000 algerischen Juden. Seit der Dreyfus-Affäre war unter den Siedlern der Antisemitismus verbreitet; es kam zu Ausschreitungen gegen Juden, und es wurden antisemitische Zeitungen publiziert. 1870 waren die jüdischen Algerier mit dem Décret Crémieux gegen ihren Willen zu französischen Staatsbürgern erklärt worden. In der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg erwarben die Europäer immer mehr Ackerland, teils durch Kauf, teils durch rechtliche Tricks. 1936 hielten sie 40 % des fruchtbaren Landes. Dennoch lebte die Mehrheit der europäischen Algerier in den Städten. Die Zahl der muslimischen Algerier stieg nach 1870 von zwei auf neun Millionen, die Zahl der Europäer auf eine Million. Die muslimischen Algerier verarmten in 100 Jahren französischer Herrschaft, sodass Unterernährung bis hin zu Hungersnöten verbreitet war. Von der Bildung, die Frankreich als seinen zivilisatorischen Auftrag verherrlichte, waren fast alle Muslime ausgeschlossen. Reformversuche der französischen Politik, ob von konservativen oder sozialistischen Kräften, scheiterten, da sie meist nationalistisch gefärbt waren und nicht wagten, den Anspruch Frankreichs auf die Herrschaft über Algerien in Frage zu stellen. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs waren rund 30.000 Algerier als Arbeitskräfte in Frankreich beschäftigt. Während des Krieges benutzte die französische Regierung die algerische Bevölkerung als wirtschaftliche und militärische Reserve. Insgesamt wurden in dieser Zeit 120.000 Algerier zur Arbeit nach Frankreich geholt. Weitere 173.000 dienten als Freiwillige oder Wehrpflichtige in den französischen Streitkräften. Bis 1939 fiel die Zahl der algerischen Arbeitsmigranten in Frankreich dann auf rund 32.000. Aus der Gruppe dieser Migranten entstand die Étoile Nord-Africaine, eine politische Partei der Algerier mit dem Ziel der Unabhängigkeit von Frankreich. Aufschwung erhielt die Unabhängigkeitsbewegung insbesondere nach dem Massaker von Sétif; bei Unruhen in Sétif, Kherrata und Guelma waren zehntausende Algerier von der französischen Armee getötet worden. Als Reaktion auf das Erstarken der Unabhängigkeitsbewegung wurde im September 1947 durch das Algerien-Statut allen Algeriern die französische Staatsbürgerschaft zuerkannt, doch hielt dies den Kampf um die Loslösung von Frankreich nicht auf. Der 1954 beginnende Algerienkrieg (bis 1962) wurde von beiden Seiten mit äußerster Härte geführt. Die arabischen Algerier verübten Terroranschläge gegen die europäischen Soldaten und Zivilisten in Algerien. Das französische Militär wandte die Methoden der so genannten „französischen Doktrin“ an, die summarische Hinrichtungen, Folter und das Auslöschen ganzer algerischer Dörfer umfasste. Dies war zunächst militärisch erfolgreich, führte aber nach Bekanntwerden der systematischen Menschenrechtsverletzungen innen- und außenpolitisch zu einer Schwächung Frankreichs. Unter der Führung der Nationalen Befreiungsfront (FLN), die konkurrierende Gruppierungen der Unabhängigkeitsbewegung bekämpfte und ausschaltete, erlangte Algerien die Unabhängigkeit, die am 18. März 1962 im Abkommen von Évian anerkannt und in zwei Referenden – in Frankreich wie in Algerien selbst – bestätigt wurde. Am 5. Juli (Nationalfeiertag neben dem Tag der Revolution am 1. November) 1962 wurde offiziell die Unabhängigkeit proklamiert. Die Gesamtzahl der in Algerien getöteten Muslime wurde von Frankreich später mit 350.000, von algerischen Quellen mit bis zu 1,5 Millionen angegeben. Die sozialistische Volksrepublik Algerien entwickelte sich in der Folgezeit zu einer Volksrepublik mit der FLN als sozialistisch ausgerichteter Einheitspartei. Erster Staatspräsident wurde Ferhat Abbas. Nach dessen Absetzung folgte 1963 Muhammad Ahmed Ben Bella, bis Verteidigungsminister Oberst Houari Boumedienne durch einen Militärputsch im Juni 1965 an die Macht gelangte. Seine Regierung versuchte zunächst durch eine verstärkte Sozialisierungspolitik und Öffnung gegenüber dem Ostblock Algeriens wirtschaftliche Abhängigkeit von Frankreich zu überwinden. Ab 1972 verfolgte sie einen Kurs der Blockfreiheit und knüpfte Kontakte zum Westen. Nach dem Tod Boumediennes übernahm 1978 zunächst Rabah Bitat kommissarisch das Präsidentenamt, bis im Februar 1979 Oberst Chadli Bendjedid zum Präsidenten gewählt wurde. Mitte 1988 brachen schwere Unruhen aus, die zur Aufgabe des Machtmonopols der FLN führten. Ursache waren unter anderem die hohe Arbeitslosigkeit und die Wohnungsnot. Eine Demokratisierung wurde eingeleitet und eine neue demokratische Verfassung, die die Trennung von Partei und Staat, parlamentarische Verantwortung, Pluralismus, politische Freiheiten und Garantien der Menschenrechte vorsah, geschaffen (Verfassung vom 19. November, drei Tage später in Kraft getreten; Änderungen am 3. November 1988, 23. Februar 1989 und 26. November 1996). Bürgerkrieg Der wirtschaftliche Niedergang führte im Oktober 1988 zu spontanen Ausschreitungen in der Hauptstadt Algier, die bald auf andere Städte übergriffen und Hunderte von Todesopfern forderten. Bei den Parlamentswahlen 1991/1992 befürchtete die Regierung einen Sieg der islamistischen Bewegung. Nach dem sich abzeichnenden Sieg der Islamischen Heilsfront (Front islamique du salut, FIS) wurden die Wahlen abgebrochen; Präsident Chadli Bendjedid trat unter dem Druck des Militärs zurück. Als Übergangspräsidenten setzte dieses zunächst Muhammad Boudiaf, nach dessen Ermordung Ali Kafi und schließlich 1994 General Liamine Zéroual ein. Im März 1992 wurde die Auflösung der FIS angeordnet, die daraufhin zum bewaffneten Kampf aufrief. Der Bürgerkrieg, der zwischen Islamisten und dem algerischen Militär geführt wurde, forderte über 120.000 Todesopfer. Im Februar 1995 starben beim Massaker im Serkadji-Gefängnis 95 Gefangene und vier Wärter. Die algerische Regierung wandte Vorgehensweisen eines „Schmutzigen Krieges“ an. Bereits im September 1998 war vom früheren GIA-Führer Hassan Hattab die „Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf“ (französisch: „Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat“, GSPC) gegründet worden. Sie wurde auf Rat von Osama bin Laden gebildet, des vormaligen Führers der international tätigen islamistischen Terrororganisation Al-Qaida, mit dem Ziel, den „heiligen Krieg“, Dschihad, gegen die algerische Staatsmacht in seiner ursprünglichen Form wieder aufzunehmen. Wichtigstes innenpolitisches Ziel des im April 1999 mit Unterstützung des Militärs zum Staatspräsidenten gewählten Abd al-Aziz Bouteflika war die Beendigung der gewalttätigen Auseinandersetzungen durch eine „Politik der nationalen Versöhnung“. Während die algerische Führung zuvor die Zahl der Opfer des Bürgerkrieges meist mit nur rund 30.000 angegeben hatte, gestand er zu, dass sie 1999 schon bei rund 100.000 lag. Im September 1999 wurde das von ihm vorgelegte „Gesetz zur Aussöhnung der Bürger“ (französisch: Loi de la Concorde Civile) vom Volk in einem Referendum bestätigt. Es sieht eine Amnestie für Terroristen vor, die ihre Waffen niederlegen und nicht schwere Verbrechen wie Mord, Vergewaltigung oder Bombenanschläge begangen haben. Wenig später entschied sich die „Islamische Heilsarmee“ (französisch: Armée Islamique du Salut, AIS), der bewaffnete Arm der seit 1992 verbotenen Partei Islamische Heilsfront (französisch: Front Islamique du Salut, FIS), die Waffen niederzulegen. Die „Bewaffnete Islamische Gruppe“ (französisch: Groupe Islamique Armé, GIA), bestand zwar weiterhin, ihre Reste waren aber, so Der Spiegel, in eine Art Banditentum abgeglitten, bei dem religiöse Motive nur noch als Bemäntelung von Kriminalität dienten. Nach einer Phase relativer Ruhe in den Jahren 1999/2000 nahmen die gewalttätigen Auseinandersetzungen wieder zu. Im April 2001 wurden Demonstrationen in der Kabylei, einer hauptsächlich von Berbern bewohnten Bergregion im Norden Algeriens, von der staatlichen Gendarmerie niedergeschlagen (rund 60 Tote). Befriedung des Landes Zur Entschärfung der Forderungen der Berber nach mehr Autonomie und demokratischer Partizipation begnadigte Bouteflika im August 2002 die Mehrheit der inhaftierten Demonstranten. Den Forderungen nach Abzug der Gendarmerie aus der Kabylei kam Bouteflika nicht nach. Wirtschaftspolitisch versuchte Bouteflika ein Privatisierungsprogramm durchzusetzen. 2003 mussten jedoch die zuständigen Minister Mourad Medelci und Abdelhamid Temmar unter dem Druck des einflussreichen Gewerkschaftsdachverbands UGTA zurücktreten. Er hatte im Februar 2003 – zum zweiten Mal seit Beginn des Jahrzehnts – einen dreitägigen Generalstreik organisiert, der sich gegen das Privatisierungsprogramm der Regierung richtete. An dem Streik nahmen über 90 % der Arbeiter teil. Bei den Präsidentschaftswahlen am 8. April 2004 wurde Bouteflika mit 83 % der Stimmen als erster Präsident für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Sein wichtigster Konkurrent, der frühere Ministerpräsident Ali Benflis, sprach von Betrug. Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sprachen aber von einer fairen Wahl. Nach seiner Wiederwahl setzte Bouteflika seine „Versöhnungspolitik“ mit der Vorlage einer „Charta für Frieden und nationale Versöhnung“ fort. Sie wurde im September 2005 in einem Referendum angenommen. Sie umfasst eine Generalamnestie sowohl für staatliche Sicherheitskräfte und vom Staat bewaffnete Milizen als auch für bewaffnete Gruppen. Sie verneint jede Verantwortung der Sicherheitskräfte und der Milizen für schwere Menschenrechtsverletzungen. Kritik an den Sicherheitsorganen stellt sie unter Strafe. Die Verordnung, mit der sie umgesetzt wird, verhindert eine gerichtliche Untersuchung und Aufklärung des Schicksals Tausender im Verlauf des Bürgerkriegs „verschwundener“ Personen. Klagen gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte müssen von den Gerichten abgewiesen werden. Angehörige von „Verschwundenen“ können allerdings eine Entschädigung beantragen. Wirtschaftspolitisch wurden die Versuche, auf dem Weg von einer sozialistischen Planwirtschaft zu einer stärker marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftsordnung zu kommen, fortgesetzt. Die als wirtschaftspolitische Reformer geltenden Mourad Medelci und Abdelhamid Temmar, die 2003 zurücktreten mussten, übernahmen das Finanz- bzw. Investitionsförderungsministerium. Sie setzen sich für die Privatisierung öffentlicher Betriebe und die Öffnung des Erdöl- und Erdgassektor für private Investitionen ein. Anfang April 2009 gewann Bouteflika zum dritten Mal die Präsidentenwahl in Algerien nach offiziellen Angaben mit 90,24 % der Stimmen, bei einer Wahlbeteiligung von 74,5 %. Die Wahl war von mehreren gewaltsamen Zwischenfällen überschattet, außerdem war Bouteflikas fünf Gegenkandidaten kaum Gelegenheit gegeben worden, sich im 19-tägigen Wahlkampf zu profilieren. Die wichtigsten Oppositionsparteien, die Rassemblement pour la culture et la démocratie (RCD) und der Front des forces socialistes (FFS), waren erst gar nicht zur Wahl angetreten. Die Opposition zweifelte das Ergebnis an. 2007 gab es unter anderem im April Anschläge auf den Amtssitz des algerischen Ministerpräsidenten und eine Polizeistation in Algier. Im Dezember wurde ein Anschlag auf das UNHCR-Büro in Algier verübt. Am 23. Februar 2011 wurde der seit 19 Jahren bestehende Ausnahmezustand aufgehoben. Dies war eine Forderung der Opposition. 1992 wurde der Ausnahmezustand in Kraft gesetzt zur Bekämpfung von bewaffneten Islamisten. Am 16. Januar 2012 griffen Islamisten einen Standort des Ölkonzerns BP an und nahmen offenbar zahlreiche Ausländer als Geiseln. Die algerische Nachrichtenagentur APS meldete, bei dem Angriff seien zwei Menschen getötet worden. Einer der Angreifer erklärte, seine Gruppe komme aus dem Nachbarland Mali, wo Frankreich seit Ende vergangener Woche einen Militäreinsatz gegen Islamisten führt. Nach eigenen Angaben brachte die Gruppe der Angreifer 41 westliche Ausländer in ihre Gewalt, darunter 7 US-Amerikaner. Bei der Wahl am 17. April 2014 wurde Bouteflika zum vierten Mal trotz der Schwächung durch einen Schlaganfall in seinem Amt bestätigt; nach Angaben des Innenministeriums entfielen 81,5 % der Stimmen auf den Amtsinhaber, 12,18 % gingen an Ali Benflis. Im Frühjahr 2019 wurde bekannt, dass der schwer erkrankte Bouteflika für eine fünfte Amtszeit antreten werde. Nach Massenprotesten wurde er aber unter dem Druck des Militärs zum Rücktritt gezwungen. Im September 2021 starb Bouteflika mit 84 Jahren. Präsident Tebboune hatte das Parlament im Februar nach Massenprotesten aufgelöst. Mit den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni versucht das algerische Regime, sich einmal mehr zu legitimieren – wie bei den Präsidentschaftswahlen 2019. Auch damals waren die Wahlen massenhaft boykottiert worden. Nach offiziellen Angaben hatten gerade mal knapp 24 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Politik Politisches System Gemäß der Verfassung von 1996 ist Algerien eine semipräsidentielle Republik mit einem alle fünf Jahre durch das Volk gewählten Staatsoberhaupt an der Spitze. Er ernennt und entlässt den nur ihm verantwortlichen Ministerpräsidenten als Vorsitzenden der Exekutive. Das Parlament besteht aus der Nationalen Volksversammlung (Assemblée Populaire Nationale) und dem Rat der Nation (Conseil de la Nation/Majlis al-’Umma). Die 462 Mitglieder der Volksversammlung werden alle fünf Jahre gewählt. Im Rat der Nation werden 96 Mitglieder alle sechs Jahre voll und alle drei Jahre zur Hälfte von den Kommunalräten neu gewählt und die restlichen 48 Mitglieder vom Staatsoberhaupt ernannt. Alle Algerier besitzen ab dem 18. Lebensjahr das Wahlrecht. Am 10. Mai 2012 wurden in Algerien die ersten Parlamentswahlen nach dem Arabischen Frühling abgehalten. 2017 fanden erneut Wahlen statt. Die regierende Nationale Befreiungsfront (FLN) erzielte mit 26 % den höchsten Stimmanteil und erhielt 161 Sitze im Parlament. Die Nationale Demokratische Sammlung (RND) erzielte 100 Sitze. Am 2. April 2019 trat der seit 20 Jahren regierende Staatspräsident Abd al-Aziz Bouteflika nach heftigen Protesten der Bevölkerung gegen seine erneute Kandidatur zur Präsidentschaftswahl 2019 zurück. Die Wahl wurde mehrmals verschoben und fand am 12. Dezember statt. Abdelmadjid Tebboune gewann sie im ersten Wahlgang. Die Armee stellte sich nach Bekanntgabe des Ergebnisses hinter Tebboune. Das Verfassungsgericht erklärte die Wahl am 16. Dezember für rechtmäßig. Am 19. Februar 2021 kündigte Präsident Abdelmadjid Tebboune die Auflösung der Nationalversammlung und deren vorgezogene Neuwahl an. Frauenwahlrecht Die Geschichte des Frauenwahlrechtes in Nordafrika und im Nahen Osten in Algerien reicht in die Kolonialzeit zurück: 1944 erhielten Christinnen und Jüdinnen mit französischer Staatsbürgerschaft (Européennes), die im zu Frankreich gehörenden Algerien lebten, das Wahlrecht; Muslimas waren ausgeschlossen. Im Juli 1958 setzte Charles de Gaulle die loi-cadre Defferre, die auch Muslimas das Wahlrecht gab, für Algerien in Kraft. Bei der Proklamation der Unabhängigkeit am 5. Juli 1962 wurde dieses Recht bestätigt. Damit waren das aktive und passive Frauenwahlrecht für den neuen Staat Algerien am 5. Juli 1962 festgeschrieben worden. Politische Indizes Innenpolitik Durch wirtschaftliche und soziale Probleme sowie die Unzufriedenheit mit den Leistungen des politischen Systems sind islamistische Bewegungen in Algerien sehr erfolgreich. Diese fordern einen islamistischen Staat, dessen innere Struktur und Außenpolitik sich an den Regeln einer radikalen Interpretation des Islams orientieren soll. Sie sind gleichwohl zum überwiegenden Teil verboten und stellen höchstens so etwas wie eine außerparlamentarische Opposition dar. Nach Angaben von Amnesty International gibt es weiterhin pro Jahr mehrere hundert Tote als Folge von Attentaten. Sie werden jetzt häufig der Gruppe „al-Qaida im islamischen Maghreb“ zugeschrieben, in die sich die GSPC Anfang 2007 umbenannte. Menschenrechte und Demokratie Werner Ruf, emeritierter Professor für Internationale Politik, übte in einem Interview mit der Tagesschau anlässlich des Besuchs von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Juli 2008 scharfe Kritik an der politischen Entwicklung in Algerien: „De facto regiert noch das Militär.“ Der Parlamentarismus sei eine Fassade. „Dahinter herrscht eine undurchsichtige Clique an der Spitze des Militärs. Das sind Leute, die sich bereichern. Die Korruption ist gewaltig.“ Das Land bleibe „weit entfernt von dem, was wir einen Rechtsstaat, eine Demokratie, nennen.“ Thomas Schiller, Leiter des Auslandsbüros Algier der Konrad-Adenauer-Stiftung, erklärte 2008 hingegen, dass Algerien in den letzten 10 Jahren trotz immer noch erheblicher politischer, wirtschaftlicher und vor allem sozialer Defizite viel erreicht – vor allem Stabilität. Die politische Stabilisierung seit dem Amtsantritt Bouteflikas und eine zunehmend aktivere Zivilgesellschaft würden dem Land helfen, den Weg zur Normalität zu gehen. Die Politik Bouteflikas bezeichnet er als „erfolgreich“. Sie mische hartes Durchgreifen gegen Terroristen mit einer „Aussöhnungspolitik“, Sicherung der algerischen Unabhängigkeit mit vorsichtigen Reformen und wirtschaftlicher Öffnung. In Algerien gibt es zwar die Todesstrafe, doch sie wurde seit mehr als zehn Jahren nicht mehr offiziell vollstreckt. In Algier herrscht seit 2001 ein allgemeines Demonstrationsverbot. Die Pressefreiheit ist spürbar eingeschränkt. Es herrscht eine Zensur in Algerien. Der UN-Menschenrechtsausschuss zeigte sich in seinem Bericht zur Lage der Menschenrechte in Algerien vom November 2007 besorgt über zahlreiche Hinweise auf geheime Haftzentren. Er hebt außerdem hervor, dass es viele Berichte über Folterungen und Misshandlungen durch den Militärgeheimdienst DRS gebe. Der Ausschuss kritisiert auch, dass zahlreiche Journalisten Opfer von Einschüchterungen sind und Frauen in der Ehe weiterhin diskriminiert werden (s. Literatur, Amnesty International). Von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International wird der „Versöhnungspolitik“ Bouteflikas vor allem vorgeworfen, sie ziele lediglich darauf ab, die Gewalt der neunziger Jahre vergessen zu machen, anstatt die Ereignisse juristisch aufzuarbeiten. Kritik daran sowie Demonstrationen von Angehörigen der Opfer würden von der Regierung unterdrückt. Im Bericht der Bertelsmann-Stiftung zur politischen und wirtschaftlichen Transformation in Algerien („Bertelsmann Transformationsindex 2003“) heißt es dazu: „Die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen, die im Zusammenhang mit dem seit 1992 anhaltenden innenpolitischen Konflikt stehen, fand auf nationaler Ebene nicht statt. Weder die islamistischen Vergehen, noch die staatlichen Übergriffe im Rahmen der Bekämpfungsmaßnahmen des islamistischen Terrorismus wurden thematisiert.“ Im Juni 2018 wurden Vorwürfe bekannt, Algerien habe seit April 2017 mindestens 13.000 Migranten, darunter Schwangere und Kinder, mit Lastkraftwagen in die Wüste verbracht und dort ohne Wasser und Nahrung ausgesetzt. Die Menschen seien angewiesen worden, 15 Kilometer durch die Wüste in Richtung des Nachbarstaates Niger, etwa zum Dorf Assamaka, zu laufen. Die Polizei nahm Migranten zuvor nach Berichten Geld und Mobiltelefone ab. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) kamen nur etwa 11.276 Menschen nach oft tagelangen Irrmärschen im Niger an. Augenzeugen berichteten von zahlreichen Todesfällen, meist aufgrund von Erschöpfung, und von Menschen, die sich in der Wüste verirrten und nicht wieder gesehen wurden. Die EU soll über die Zustände informiert gewesen sein, jedoch mit Hinweis auf die Souveränität Algeriens nicht eingegriffen haben. Die algerischen Behörden streiten die Vorwürfe ab. Homosexualität in Algerien ist gesellschaftlich geächtet und dort nach geltendem Recht illegal. In den vergangenen Jahren kam es zu mehreren tödlichen Übergriffen auf Homosexuelle und auch zu einer öffentlichen Steinigung. Algerien steht wegen der von Staat und Unternehmen ausgeübten Unterdrückung unabhängiger Gewerkschaften wie der Union Algérienne des Industries (UAI) in der Kritik der Internationalen Arbeitsorganisation. Außenpolitik Algerien ist seit 1962 Mitglied der Vereinten Nationen und hat Beobachterstatus in der WTO. Ansonsten ist das Land Mitglied der Afrikanischen Union (AU), der Arabischen Liga, der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, der Organisation erdölexportierender Staaten (OPEC) und der Organisation arabischer erdölexportierender Staaten (OAPEC). Neben den Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union und der Arabischen Liga pflegt Algerien gute Beziehungen zur Europäischen Union (EU), den Vereinigten Staaten, Russland und besonders zur Volksrepublik China. Im Rahmen der Euro-mediterranen Partnerschaft kooperiert Algerien mit der EU. Im Jahr 2002 unterzeichneten die EU und Algerien ein Assoziierungsabkommen. Es trat im Jahr 2005 in Kraft. Am 13. März 2017 auf der Tagung des Assoziationsrates haben Algerien und die EU ihre gemeinsamen Partnerschaftsprioritäten verabschiedet. Die Partnerschaftsprioritäten bis 2020 umfassen Folgendes: „politischer Dialog, Staatsführung, Rechtsstaatlichkeit und Förderung der Grundrechte; Zusammenarbeit, sozioökonomische Entwicklung und Handelsbeziehungen einschließlich des Zugangs zum europäischen Binnenmarkt Energiefragen, Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung strategischer und sicherheitspolitischer Dialog menschliche Dimension, einschließlich des kulturellen und interreligiösen Dialogs, sowie Migration und Mobilität.“ Die Beziehungen Algeriens zu Frankreich sind eng. Beide Seiten sprechen von einer strategischen Partnerschaft sowie einer vertrauensvollen Zusammenarbeit trotz der schwierigen gemeinsamen Kolonialvergangenheit. Die ohnehin schon intensiven Wirtschaftsbeziehungen sollen weiter ausgebaut werden. Die Beziehungen Algeriens zu Deutschland sind gut und weitgehend spannungsfrei. Für Algerien zählt Deutschland zu den wichtigsten Handelspartnern. Beide Länder schlossen 2015 eine Energiepartnerschaft ab. Algerien ist aufgrund seiner Größe, seiner geographischen Lage und seines Reichtums an Bodenschätzen ein wichtiger Akteur in der Region. Algerien sieht sich von verschiedenen Unruheherden umgeben und sorgt sich um Stabilität und Sicherheit sowie wirtschaftliche Entwicklung in der Region. In den Beziehungen zu seinen internationalen Partnern spielen für Algerien neben der Bekämpfung des Terrorismus vor allem Wirtschaftsinteressen (Öl-/Gasexporte sowie Interesse an ausländischen Investitionen in Algerien) eine Rolle. Die regionale Zusammenarbeit im Maghreb leidet anhaltend an dem gespannten Verhältnis zwischen Algerien und Marokko. Die Landgrenzen zwischen beiden Ländern bleiben weiterhin geschlossen. Insbesondere Differenzen über die Westsahara erschweren eine Annäherung. Algerien unterstützt die Polisario Bewegung, die für die Unabhängigkeit der Westsahara kämpft und gewährt führenden Mitgliedern Unterschlupf. Die Beziehungen Algeriens zu Tunesien sind partnerschaftlich. Zwischen beiden Ländern gibt es eine verstärkte und gut funktionierende Kooperation im Sicherheitsbereich, insbesondere bei der Sicherung der gemeinsamen Grenzen. Die Situation in Libyen bereitet Algerien mit Blick auf die von dort ausgehende Instabilität große Sorgen. Algerien lehnt jegliche militärische Intervention ab und setzt sich für eine politische Lösung auf der Grundlage eines Dialogs zwischen allen libyschen Parteien ein. Algerien unterstützt die entsprechenden Vermittlungsbemühungen der Vereinten Nationen. Algerien hatte als Chef-Vermittler eine entscheidende Rolle bei den erfolgreich geführten Friedensverhandlungen zwischen der malischen Regierung und nordmalischen Gruppen übernommen, die im Juni 2015 mit der Unterzeichnung eines Friedensabkommens in Algier ihren Abschluss fanden. Algerien hält gute Beziehungen zur syrischen Regierung aufrecht und versucht eine Isolierung Syriens in der islamischen Welt zu verhindern. Ex-Außenminister Lakhdar Brahimi bemüht sich seit 2012 als UNO-Sondervermittler vergeblich um eine Beendigung des Bürgerkriegs in Syrien. Der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 und die danach folgende Gasversorgungskrise ließ Algerien für die Europäer zu einem interessanten Partner werden. Der italienische Premier Mario Draghi reiste deshalb im April 2022 nach Algerien. Militär Streitkräfte Die 147.000 Mann starken Streitkräfte gliedern sich in Heer (127.000), Luftwaffe (14.000) und Marine (6.000). Dem algerischen Verteidigungsministerium unterstehen des Weiteren die Gendarmerie, die Grenzwache und weitere paramilitärische Verbände. Algerien gab 2017 knapp 5,7 Prozent seiner Wirtschaftsleistung oder 10 Mrd. US-Dollar für seine Streitkräfte aus. Insgesamt 16,1 % der Staatsausgaben kamen dem Militär zugute was zu den höchsten Anteilen der Welt gehört und eine große Bürde für den Staatshaushalt darstellt. Algerien hatte die höchsten Militärausgaben in Nordafrika. Französische Atomwaffentests Es gibt zwei ehemalige französische Atomtestgelände, auf denen Frankreich zwischen 1960 und 1966 insgesamt 17 Atombombentests vorgenommen hat: bei Reggane: 1960–1961: 4 Tests, oberirdisch bei In Ekker: 1961–1966: 13 Tests, unterirdisch Am 13. Februar 1960 testete Frankreich seine erste Atombombe (mit einer Sprengkraft von 70 kt TNT-Äquivalent) in der Nähe von Reggane. Es war die stärkste Bombe, die bei einem ersten Test je zur Detonation gelangte. Zum Vergleich: Der erste US-Test (Trinity) hatte eine Stärke von 20 kt, der erste UdSSR-Test (RDS-1) hatte 22 kt, der erste britische Test (Hurricane) hatte 25 kt. Die Hiroshima-Bombe (Little Boy) hatte 13 kt, die Nagasaki-Bombe (Fat Man) 22 kt. Die weiteren drei oberirdischen Bomben bei Reggane hatten jeweils weniger als 5 kt. Am 7. November 1961 fand der erste von 13 unterirdischen Tests bei In Ekker im Hoggar statt. Bei dem zweiten Test (Béryl) am 1. Mai 1962 hielt der Verschluss des Tunnels nicht stand. Radioaktive Gase, Staub und Lava wurden ausgestoßen. Die Beobachter des Tests wurden kontaminiert (darunter auch anwesende französische Minister). Drei andere Tests verliefen ebenfalls nicht plangemäß, jedoch nach Angaben des Verteidigungsministeriums ohne Austritt von radioaktiven Substanzen: 30. März 1963 – „Amethyst“ / 20. Oktober 1963 – „Rubin“ (Stärke 100 kt) / und 30. Mai 1965 – „Jade“. Der stärkste Test in In Ekker war am 25. Februar 1965 „Saphir“ mit 150 kt. Mit dem Test am 16. Februar 1966 endeten die Versuche in Algerien. Die Tests wurden nach Französisch-Polynesien (Mururoa und Fangataufa-Atoll) verlegt, wo oberirdisch (erst ab 1974 wieder unterirdisch) weitergetestet wurde. Zu beachten ist, dass es zwischen Großbritannien, USA und der UdSSR ein Verbot von atmosphärischen Atomwaffentests gab (am 5. August 1963 zur Unterzeichnung freigegeben, trat am 10. Oktober 1963 in Kraft), an das sich diese hielten (letzter atmosphärischer Test: GB: 23. September 1958 / USA: 9. Juni 1963 / UdSSR: 25. Dezember 1962). Frankreich und China hielten sich nicht daran, testeten oberirdisch weiter: Frankreich: 2. Juli 1966 bis 14. September 1974: 41 Tests, China: 16. Oktober 1964 bis 16. Oktober 1980: 22 Tests. Auf Wunsch Algeriens untersuchte die IAEA das Gelände bei Reggane und stellte in ihrem Bericht von 2005 fest, dass aufgrund der sehr schwachen restlichen Radioaktivität nichts zu veranlassen sei, lediglich im Fall größerer menschlicher Aktivitäten in der Gegend sollte der Zutritt zu den vier Explosionsorten untersagt werden. Der Ort des Béryl-Unfalls bei In Ekker scheint nach wie vor kontaminiert und zumindest in der Vergangenheit schlecht gesichert gewesen zu sein, so dass die Reststrahlung eine Gefahr für uninformierte Einheimische und Touristen darstellen kann. Die Regionen werden touristisch genutzt, wobei vermutlich nicht jeder Tourist über die Vergangenheit und die Strahlensituation der Gelände informiert ist. Verwaltungsgliederung Das Land ist in 58 Verwaltungsbezirke (Wilayat, Singular Wilaya), die jeweils nach der Hauptstadt benannt sind, unterteilt. Die Wilayat haben eigene Parlamente, unterstehen jedoch letztlich der Zentralregierung. Unterhalb der Verwaltungsebene des Wilaya (Provinz) gibt es die Ebene Daïra (Kreis) und als unterste Ebene die Kommune (, ). Die Kommunen haben wie die Wilayat den Status von Collectivités territoriales (Gebietskörperschaften). 2016 lebten 71,3 % der Bevölkerung in Städten oder städtischen Räumen. Die größten Städte sind (Stand Zensus 2008): Algier: 2.364.230 Einwohner Oran: 803.329 Einwohner Constantine: 448.028 Einwohner Annaba: 342.703 Einwohner Blida: 331.779 Einwohner Wirtschaft Algerien gehört vom Pro-Kopf-Einkommen her zu den reicheren Ländern Afrikas. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegte Algerien Platz 86 von 138 Ländern (Stand 2016–2017). Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegt Algerien 2019 Platz 171 von 180 Ländern. Die Wirtschaft des Landes ist noch wenig liberalisiert. Bestimmend für die algerische Wirtschaft sind Förderung und Export von Erdöl und Erdgas. Die Exporterlöse aus dem Hydrokarbonsektor, der zu etwa 27 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) beiträgt und etwa 60 Prozent der Staatseinnahmen generiert, machen rund 94 Prozent der Exporteinnahmen aus. Der seit Jahren wachsende inländische Energiekonsum schmälert zusätzlich zu den anhaltend niedrigen Preisen die Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport. Die algerische Regierung will die industrielle Produktion in Algerien erhöhen und mehr Arbeitsplätze außerhalb des Öl- und Gassektors schaffen. Die algerische Regierung forciert den Abbau von Phosphat- und Erzvorkommen. Langfristig ist auch beabsichtigt, mit der Schiefergasproduktion zu beginnen, obgleich es gegen erste Schiefergasexplorationen Widerstand in der Bevölkerung gegeben hatte. Zudem soll die Gewinnung von Energie aus erneuerbaren Quellen erheblich ausgebaut werden. Rasche Fortschritte hin zu wirtschaftlicher Diversifizierung und damit der Reduzierung der starken Abhängigkeit vom Öl- und Gassektor sind angesichts der sich verschlechternden Haushaltslage dringend geboten. Die Regierung will den Know-how-Transfer und die Ausbildung von qualifiziertem Fachpersonal verbessern. In der beruflichen Bildung wird der Fokus auf die Schaffung von Bildungszentren in Partnerschaft mit Unternehmen gerichtet, die zu einer engeren Verzahnung des Bildungssektors mit der Wirtschaft und bedarfsgerechten Ausbildung beitragen sollen. Landesweit sind Industriezonen mit Clusterbildung im Aufbau begriffen. Aufgrund sinkender Staats- und Deviseneinnahmen sieht das Haushaltsgesetz 2017 eine Reihe von Einsparmaßnahmen und Steuererhöhungen vor. Zusätzlich begrenzt die Regierung den Import ausländischer Güter über die Vergabe von Lizenzen für bestimmte Produktgruppen wie Kfz-Neuwagen, aber auch Zement, Stahlarmierungen und weitere Produkte. Die Arbeitslosenquote lag im Jahr 2017 bei 5,7 %, zudem ist Unterbeschäftigung weit verbreitet. Bei Jugendlichen beträgt die Arbeitslosenquote im selben Jahr 23,9 %. Die Gesamtzahl der Beschäftigten wird für 2017 auf 11,8 Millionen geschätzt; davon sind 18,3 % Frauen. Ordnung und Produktionsstruktur Planwirtschaft Nach Erlangung der Unabhängigkeit setzte die regierende Einheitspartei Front de Libération Nationale (FLN) lange auf staatliche Planwirtschaft und einen „algerischen Sozialismus“. Dank der Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport konnte sich Algerien eine ineffiziente Staatswirtschaft zunächst leisten. Ende der 80er Jahre führten sinkende Ölpreise, hohe Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot jedoch zu sozialen Spannungen, die sich 1988 schließlich in schweren Unruhen entluden und zum Ausbruch des Bürgerkrieges beitrugen. Nachdem sich die innenpolitische Lage seit Ende der 1990er Jahre deutlich stabilisiert hat, bemüht sich die Regierung verstärkt um eine Liberalisierung und Privatisierung der Wirtschaft. Das Erbe der früheren Planwirtschaft, die exzessive Bürokratie, weitverbreitete Korruption, ein wenig leistungsfähiger Bankensektor und die immer noch unsichere innere Lage bilden für eine rasche Entwicklung privater Unternehmen und ausländische Investitionen allerdings keine günstigen Bedingungen. Staatsunternehmen Industrie und Bankensektor werden immer noch weitgehend von Staatsunternehmen beherrscht. Bei den Privatisierungsbemühungen in der Industrie stehen Düngemittelhersteller, petrochemische und pharmazeutische Unternehmen im Mittelpunkt. Das Bankenwesen dominieren sechs staatliche Institute. Die für Mitte 2007 vorgesehene Privatisierung der Bank Crédit Populaire d'Algérie musste wegen der internationalen Finanzmarktkrise verschoben werden. Da die sechs Staatsbanken weiterhin Kredite an unrentable Staatsunternehmen vergeben, machen „faule Kredite“, die nicht zurückgezahlt werden und teilweise vom Staat aufgekauft werden, über 30 % des gesamten Kreditportfolios aus. Zudem bleibt die Wirtschaft aufgrund zu geringer Kapitalausstattung der Banken im Vergleich zu den Nachbarn Tunesien oder Marokko mit Krediten unterversorgt. Bartransaktionen dominieren. Energiewirtschaft Algeriens Wirtschaft ist weiterhin stark vom Energiesektor abhängig, der von der staatlichen Öl- und Gasgesellschaft Sonatrach beherrscht wird. Die Ölreserven werden auf 12,2 Milliarden Barrel und die Gasreserven auf 4,5 Billionen Kubikmeter geschätzt. Die Erdöl- und Erdgasindustrie hatte 2019 einen Anteil von etwa 20 % am BIP und war für 85 % der Exporte verantwortlich. Geschichte der Erdöl- und Erdgasförderung Die kommerzielle Erdölförderung in Algerien begann 1958 in den Ölfeldern Edjeleh und Hassi Messaoud. Dabei arbeiteten französische Erdölfirmen und die französische Kolonialregierung eng zusammen, um eine günstige, eigene Erdölförderung innerhalb Frankreichs aufzubauen. Nach der Unabhängigkeit wurde die Tätigkeit der französische Ölkonzerne zunächst nicht berührt, wie in den Verträgen von Evian vereinbart. Nach dieser Übereinkunft wurde aber nur ein kleiner Teil der Gewinne an den algerischen Staat abgegeben. Um mehr Geld im Land zu halten, gründete die Regierung Ben Bella 1963 die Société Nationale de Transport et de Commercialisation des Hydrocarbures (kurz Sonatrach). Nach weiteren Verhandlungen mit Frankreich wuchs der Einfluss des Staatskonzerns, der in den Folgejahren viele Anteile ausländischer Ölfirmen an Projekten in Algerien übernahm. 1969 kontrollierte Sonatrach alle algerischen Ölfelder, und hatte Mehrheitsanteile an allen Pipelines und der einzigen Raffinerie des Landes in Algier. Im gleichen Jahr trat das Land der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) bei. 1971 verstaatlichte die Regierung Boumedienne auch die Erdgasvorkommen und Pipelines, und übernahm 51 % der Anteile aller ausländischen Ölkonzerne in Algerien. Diese Verstaatlichung der französischen Erdölgesellschaften in Algerien führe auch zu internationalen Verstimmungen. Das Verstaatlichungsgesetz (Loi sur les Hydrocarbures, dt. etwa Kohlenwasserstoff-Gesetz) erlaubte auch Joint-Ventures mit ausländischen Firmen, bei denen Sonatrach aber immer mindestens 51 % der Anteile halten musste. In den folgenden Jahren wandte sich Sonatrach vermehrt der Petrochemie und dem Export von Erdgas zu, z. B. über die Transmed-Pipeline nach Italien. In den 80er-Jahren war die Gesellschaft einer der weltgrößten Exporteure von Flüssigerdgas (LNG). In den nächstenen Jahrzehnten wurden mehrere neue Joint-Ventures mit internationalen Firmen gegründet, um mehr Erdöl und Erdgas zu fördern und abzusetzen. Dazu gehörte auch der Bau der Meghreb-Europa-Gasleitung (MEG) nach Spanien, später ergänzt durch die Medgaz-Pipeline. Seit dem neuen Jahrtausend gab es auch Bemühungen, den Einfluss der Regierung auf Sonatrach zu reduzieren und den Markt zu liberalisieren. Am 20. März 2005 verabschiedete die Regierung Bouteflika ein neues Kohlenwasserstoff-Gesetz, das die alten Regelungen ersetzte. Sonatrach verlor ihre Rolle als Regulierungsbehörde und ihr Vertriebsmonopol. Das Gesetz erlaubte außerdem ausländischen Unternehmen, 70 % der Anteile an Förderstätten und -anlagen zu erwerben. Das Parlament protestierte gegen das Gesetz, sodass es im Juli 2006 wieder geändert wurde. Danach müssen sich ausländische Öl- und Gasfirmen bei Beteiligungen in Algerien wieder mit Minderheitsanteilen begnügen. Außerdem fällt eine Sondersteuer an, wenn der Ölpreis bei über 30 US-Dollar pro Barrel liegt. Da in den nächsten Jahren, auch nach der Weltwirtschaftskrise ab 2007, immer weniger Fremdinvestitionen angezogen werden konnten, folgten drei weitere Gesetzesnovellen. Im Januar 2020 wurde schließlich ein neues Kohlenwasserstoff-Gesetz beschlossen, dass unter anderem Steuern und Zölle im Erdgas- und Erdölsektor senkte und abschaffte. Seit dem Beginn der weltweiten COVID-19-Pandemie sind Ölpreis und Gaspreis noch niedriger als zuvor. Öl 2019 wurden in Algerien täglich 1,1 Millionen Barrel Erdöl gefördert, wovon etwa die Hälfte exportiert wurde. Der fallende Weltmarktpreis für Öl beeinträchtigte die algerische Wirtschaft stark, außerdem sind die erschlossenen Erdölfelder zunehmend erschöpft. Die wichtigsten Ölfelder im Land waren zu diesem Zeitpunkt Hassi Messaoud und Ourhoud. Gas Nach einer Expansionsphase bis 2005 wächst die Erdgasförderung in Algerien in den letzten Jahren eher mäßig. Auch die Geiselnahme von In Aménas beeinträchtigte die Förderung zwei Jahre lang. Geringe Auslandsinvestitionen, die zunehmend erschöpften Gasfelder (darunter das größte Gasfeld Hassi R’Mel) und eine steigende Inlandsnachfrage führten dazu, dass der Export von Erdgas seit 2005 rückläufig ist. Es wurden 2018 etwa 100 Milliarden Kubikmeter Erdgas gefördert, von denen etwas mehr als die Hälfte exportiert wurde. Hauptabnehmerländer waren Italien und Spanien, die insgesamt zwei Drittel der Exportmenge ausmachten. Neben den bestehenden drei Gasleitungen (Transmed, MEG, Medgaz) in diese Länder gibt es in Algerien auch zwei LNG-Terminals, in Béthioua und Skikda. Elektrizitätsversorgung Algerien lag bzgl. der jährlichen Erzeugung im Jahre 2011 mit 48,05 Mrd. kWh an Stelle 52 und bzgl. der installierten Leistung im Jahre 2013 mit 15,2 GW an Stelle 48 in der Welt. 2011 wurden 99,8 % des Stroms in Gaskraftwerken erzeugt. Laut Energieministerium wurden im Jahre 2011 48,87 Mrd. kWh produziert, davon 9,65 Mrd. (19,8 %) durch Dampfkraftwerke, 15,7 Mrd. (32,1 %) durch GuD-Kraftwerke, 22 Mrd. (45,1 %) durch Gasturbinen und 1,5 Mrd. (3,0 %) durch sonstige Erzeugung. Der Spitzenverbrauch stieg von 4.965 MW im Jahre 2002 auf 8.606 MW im Jahre 2011 an, was einer durchschnittlichen jährlichen Steigerung von 6,3 % entspricht. Die Société Algérienne de Production de l’Electricité (SPE), eine Tochter der staatlichen Sonelgaz verfügte 2009 über eine Erzeugungskapazität von 8.445 MW und erzeugte 2010 24,24 Mrd. kWh. Sie war 2011 der mit Abstand größte Stromerzeuger in Algerien. 2013 schloss SPE einen Vertrag mit GE, der die Errichtung von 6 neuen GuD-Kraftwerken mit einer installierten Leistung von 8 GW vorsieht. Algerien beabsichtigt auf längere Sicht auch die Errichtung von Kernkraftwerken. 2014 wurde eine Vereinbarung zwischen der russischen ROSATOM und Algerien unterzeichnet, die eine Zusammenarbeit auf diesem Gebiet vorsieht. Potentielle Standorte für Kernkraftwerke wurden bereits auf ihre Eignung hin untersucht. Das Verbundnetz Algeriens ist Teil des South-Western Mediterranean Block (SWMB), der die Stromnetze von Algerien, Marokko und Tunesien umfasst. Seit 1997 ist der SWMB mit dem europäischen Verbundsystem synchronisiert, als ein erstes Drehstrom-Seekabel (400 kV, 700 MW) von Spanien aus nach Marokko verlegt wurde. Erneuerbare Energien Zudem sollen die erneuerbaren Energien stark ausgebaut werden. Ein im Februar 2015 durch die Regierung verabschiedetes Programm sieht vor, bis 2030 eine regenerative Kraftwerkskapazität von 22 GW zu errichten. Davon sollen 13,5 GW auf die Photovoltaik entfallen, 5 GW auf Windenergie, 2 GW auf Sonnenwärmekraftwerke, 1 GW auf Bioenergie, 400 MW auf Kraft-Wärme-Anlagen und 15 MW auf Geothermie. Bereits 2011 ging mit dem Kraftwerk Hassi R’Mel das weltweit erste ISCC-Kraftwerk ans Netz, d. h. ein Solar-Hybrid-GuD-Kraftwerk, bei dem ein herkömmliches gasbefeuertes GuD-Kraftwerk durch zusätzliche eingekoppelte Solarwärme unterstützt wird. Der Bau weiterer und größerer Anlagen dieses Typs ist geplant. Diversifizierung Die Diversifikation der Wirtschaft, die stärkere Entwicklung der Wirtschaft außerhalb der Energiewirtschaft, ist deswegen ein Hauptziel der Regierung. Besondere Hoffnungen werden auf die Branchen Transportwesen, Tourismus, Bauwirtschaft und Informationstechnologie gesetzt. Die Baubranche erhielt bereits einen kräftigen Wachstumsimpuls mit einem staatlichen Investitionsprogramm im Umfang von 60 Milliarden USD, das unter anderem die Errichtung einer Million Neubauwohnungen vorsieht. Außenwirtschaftliche Liberalisierung Mit der Umsetzung des am 1. September 2005 in Kraft getretenen Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union (EU) steigt der Wettbewerbsdruck für algerische Unternehmen. Der Vertrag mit der EU sieht vor, dass innerhalb von zwölf Jahren sämtliche Handelsschranken zwischen den beiden Partnern wegfallen und Algerien damit Teil der beabsichtigten Freihandelszone wird. Auch der angestrebte Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) wird Algerien zu einer stärkeren Öffnung seiner Märkte zwingen. Die Bildung der Mittelmeerunion mit den EU-Staaten zeigt deutlich, welch hohe Bedeutung die rohstoffreichen Mittelmeeranrainer für die EU – insbesondere im Hinblick auf die Energieversorgung – haben. Die Bemühungen der EU um eine stärkere Streuung ihrer Energiebezugsquellen lassen Algerien, das heute schon rund 25 % der Erdgasimporte der EU liefert, zu einem immer wichtigeren Handelspartner werden. Am 22. Juli 2009 hat sich die algerische Regierung entschlossen, das Wochenende von Donnerstag/Freitag auf Freitag/Samstag zu verlegen. Diese Regelung soll ab dem 14. August 2009 gelten. Dadurch soll ein Wachstum des BIP von 1,2 Prozent erzielt werden. Da sich Algerien seit 1976 lediglich drei Wochentage mit den westlichen Industrienationen teilt, sind laut Berechnungen der Weltbank jährliche Verluste zwischen 500 und 700 Mio. US-Dollar entstanden. Gesamtwirtschaftliche Entwicklung Wachstum, Inflation, Arbeitsmarkt 2016 konnte Algerien ein Wirtschaftswachstum von 3,3 % verzeichnen. Aufgrund des niedrigeren Ölpreises lag das Wachstum im Vergleich zum Vorjahr niedriger, als es noch bei 3,8 % lag. Die Produktion außerhalb des Öl- und Gassektors steigt seit 2003 stabil um rund 4 bis 5 %. Staatliche Investitionsprogramme, vor allem für die Schaffung von Wohnraum und den Ausbau der Infrastruktur, tragen dazu wesentlich bei. Der Anstieg der Verbraucherpreise beschleunigte sich 2008 bei stark steigenden Lebensmittelpreisen zwar, blieb mit 4,4 % aber relativ niedrig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass etwa die Energiepreise in Algerien staatlich reguliert sind. Eine anhaltende Herausforderung für die algerische Regierung ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Nach offiziellen Angaben lag sie 2019 bei 11,7 %. Besonders hoch ist die Jugendarbeitslosigkeit, sie wurde 2019 mit 29,1 % angegeben. Exporterlöse Begünstigt wurde die gesamtwirtschaftliche Entwicklung seit 2003 von kräftig steigenden Öl- und Gaspreisen. Sie sorgten dafür, dass sich die Exporterlöse von 2003 bis 2007 auf rund 60 Mrd. US-Dollar verdoppelten. Der Überschuss in der Leistungsbilanz erhöhte sich auf knapp ein Viertel des BIP, wozu auch die Überweisungen von im Ausland beschäftigten Algeriern beitrugen. Dank der stark gestiegenen staatlichen Einnahmen aus dem Öl- und Gassektor hatte Algerien auch hohe Überschüsse im Staatshaushalt vorzuweisen. Sie fließen zum Teil als Ersparnisse in den sogenannten „Einnahmen-Regulierungs-Fonds“ (FRR). Mittel aus diesem Fonds wurden auch zur Tilgung algerischer Auslandsschulden verwendet, die von rund 58 % des BIP im Jahr 1999 auf rund 2,5 % des BIP im Jahr 2009 abgebaut wurden. Die internationalen Währungsreserven erreichten zum 31. Dezember 2009 dank hoher Einnahmen aus dem Öl- und Gassektor rund 150 Milliarden US-Dollar. Staatshaushalt Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben von umgerechnet 66,45 Mrd. US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 42,69 Mrd. US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 14,7 % des BIP. Die Staatsverschuldung betrug 2016 32,8 Mrd. US-Dollar oder 20,4 % des BIP. 2006 betrug der Anteil der Staatsausgaben (in % des BIP) folgender Bereiche: Gesundheit : 4,2 % Bildung : 5,1 % (1999) Militär : 3,3 % Sektorale Wirtschaftsentwicklung Landwirtschaft Die Landwirtschaft trug nach Angaben der deutschen Bundesagentur für Außenwirtschaft 2006 knapp 8 % zur gesamtwirtschaftlichen Produktion bei. Sie beschäftigt ca. 1,2 Mio. Erwerbstätige. Eine intensive landwirtschaftliche Nutzung ist nur auf einem schmalen Streifen im Norden möglich. Lediglich 3 % der Landesfläche sind Acker- und Dauerkulturland, das sich überwiegend in Privatbesitz befindet. Die extensive, zum Teil nomadische Viehhaltung konzentriert sich auf das Hochland der Schotts und die nördliche Sahara. In den Wäldern des Tellatlas wird Kork gewonnen. Die wichtigsten Agrarprodukte sind Getreide, Zuckerrüben, Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Tomaten, Oliven, Datteln, Feigen, Tabak, Wein und Zitrusfrüchte. In Treibhäusern aus Kunststoff-Folie wird Frühgemüse für den Export kultiviert. In Algerien gibt es etwa 15 Mio. Dattelpalmen, die meisten davon in den Oasen. Sie liefern jährlich einen Ertrag von ca. 500.000 Tonnen Datteln unterschiedlicher Qualität. Die weichen, hochwertigen Sorten werden teilweise nach Europa exportiert, die harten, widerstandsfähigen Sorten werden auch in viele Länder Schwarzafrikas verkauft, die sich dort wegen ihrer Haltbarkeit im tropischen Klima großer Beliebtheit erfreuen. Weniger als 40 % des Nahrungsmittelbedarfs werden durch Eigenproduktion gedeckt. Algerien ist der wichtigste Nahrungsmittelimporteur Afrikas: Nur 20 % bei Getreide und Getreideprodukte, 20 % bei Gemüse, 60 % bei Milch und 95 % bei rotem Fleisch werden im Inland produziert. 95 % des rohen Speiseöls und praktisch der gesamte Rohzucker und Kaffee werden importiert. Bergbau Als Bodenschätze werden in Algerien außer Erdöl und Erdgas auch Eisen-, Kupfer-, Blei- und Zinkerze sowie Quecksilber und Phosphat abgebaut. Industrie und Handel Die Schwerpunkte im industriellen Bereich liegen bei der Erdöl- und Erdgasverarbeitung sowie bei der Eisen- und Stahlindustrie und den darauf basierenden metallverarbeitenden Zweigen. Hinzu kommen die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte, zum Beispiel eine Speiseöl-Raffinerie und eine Zuckerraffinerie in der Hafenstadt Oran, die Düngemittelproduktion und die Baustoffindustrie. Ausgeführt wurden 2007 Waren im Wert von insgesamt 59,9 Mrd. US$, zu 98 % Rohöl, Erdgas und Erdölerzeugnisse. Hauptabnehmerländer waren die USA (27 %), Italien (15 %), Spanien (10 %), Kanada (8 %) und Frankreich (7,5 %). Importiert wurden 2007 Waren im Wert von insgesamt 25,2 Mrd. US$, und zwar zu 37 % Ausrüstungsgüter, zu 31 % Produktionsgüter, zu 18 % Nahrungsmittel, zu 15 % Konsumgüter. Hauptlieferanten waren zu 17 % Frankreich, zu 9 % Italien, zu 8 % China, zu 8 % die USA und zu 6 % Deutschland. Handelsbeschränkungen Um unerwünschte und qualitativ minderwertige Einfuhren zu vermeiden, bestimmte die Zentralbank Algeriens im Februar 2009 mit der Mitteilung N°16/DGC/2009, dass drei Dokumente beim Import von Waren vorgelegt werden. Die Vorlage ist mit sofortiger Wirkung obligatorisch, wenn per „remise documentaire“ (Export-Inkasso) oder „crédit documentaire“ (Export-Akkreditiv) gezahlt wird. Es handelt sich hierbei um die drei folgenden Zertifikate: certificat phytosanitaire certificat d’origine certificat de contrôle de qualité de la marchandise Die Zertifikate müssen im Land des Exporteurs für jede Lieferung ausgestellt werden. Die ersten zwei Zertifikate wurden bisher bei der Einfuhr nach Algerien verlangt, neu ist die obligatorische Vorlage des „certificat de contrôle de qualité de la marchandise“ für jede Lieferung, es muss von einer unabhängigen Prüf-Organisation wie dem TÜV Hessen ausgestellt werden. Liegen die drei Dokumente bei der Wareneinfuhr nicht vor, wird die „Domilizierung“ bei der algerischen Bank nicht akzeptiert und die Waren können nicht zollamtlich abgefertigt werden. Das Zertifikat muss nach Angaben der algerischen Banken die Qualität des Produkts und die Normenkonformität mit algerischen Standards oder den entsprechenden internationalen Standards und Normen bestätigen. Kennzahlen Infrastruktur Verkehrswesen Das Verkehrsnetz ist auf Nordalgerien konzentriert. Die wichtigsten Hafenstädte sind Algier, Annaba, Oran, Bejaia, Skikda und Béthioua, von denen Fährverbindungen über das Mittelmeer ausgehen. Das Schienennetz der algerischen Eisenbahn (SNTF) hat eine Länge von 3810 Kilometern, wovon 386,3 Kilometer elektrifiziert sind. Die wichtigste Bahnstrecke des algerischen Schienenverkehrs verläuft in West-Ost-Richtung meist im Tellatlas parallel zur Küste und hat Anschluss an das marokkanische und tunesische Eisenbahnnetz. Von ihr gehen Stichstrecken sowohl zu den Hafenstädten als auch nach Süden an den Rand der Sahara aus. Für das im Jahr 2009 in Algier eröffnete, 160 km/h schnelle S-Bahn-System wurden 64 vierteilige elektrische Triebzüge der Bauart FLIRT bei Stadler in der Schweiz bestellt. Die Straßen (insgesamt 180.000 Kilometer, davon rund 85 % asphaltiert) gehen südlich des Atlasgebirges meist in Wüstenpisten über. 2007 wurde mit dem Bau eines großen Infrastrukturprojektes, der 1216 km langen, sechsspurigen Ost-West-Autobahn A1 (Teil der „Transmaghrébine“), begonnen und mit Hilfe zahlreicher internationaler Baufirmen bereits Mitte 2010 weitgehend fertiggestellt. Der Bau einer zweiten Ost-West-Autobahn wurde Anfang 2014 begonnen. Die befestigten Straßen im Süden des Landes verlaufen im Wesentlichen in Nord-Süd-Richtung und verbinden Algerien mit den Nachbarstaaten Niger (N 1) und Mali (N 6) sowie der Grenzregion zwischen Mauretanien und der von Marokko beanspruchten West-Sahara (N 50). Internationale Flughäfen gibt es unter anderem in Algier (ALG), Oran (ORN), Annaba (AAE) und Chlef (QAS). Da die Verkehrsinfrastruktur die wirtschaftliche Entwicklung Algeriens besonders hemmt, hat die Regierung im Jahr 2005 einen Fünf-Jahres-Plan ausgearbeitet, nach dem die Verkehrsinfrastruktur durch Joint Ventures mit dem privaten Sektor modernisiert werden soll. Großes Aufholpotential besteht verglichen mit den Nachbarländern auch im Tourismus. 70 Prozent der heutigen Touristen sind Algerier, die Freunde oder die Familie besuchen. Pipelines Stand 2020 ist Algerien an drei internationale Gasleitungen angeschlossen, außerdem gibt es mehrere inländische Pipelines. Die 1070 km lange Transmed-Pipeline, auch Enrico-Mattei-Pipeline genannt, führt vom Gasfeld Hassi R’Mel in der algerischen Sahara über Tunesien nach Sizilien. Die 1978–1983 gebaute Gasleitung ist die wichtigste und älteste internationale Gaspipeline Algeriens. 1995 wurde die Jahreskapazität auf 24 Mrd. Kubikmetern verdoppelt, und später noch auf 32 Mrd. Kubikmeter pro Jahr erhöht. Die 1375 km lange Maghreb-Europa-Gasleitung (MEG), auch Pedro-Duran-Farrel-Pipeline genannt, verbindet Hassi R’Mel über Marokko und die Straße von Gibraltar mit Córdoba. Dort ist sie mit dem spanischen und portugiesischen Gasnetz verbunden. Die im November 1996 eröffnete Pipeline hatte zunächst eine Jahreskapazität von 8,5 Mrd. Kubikmeter pro Jahr, die 2005 auf 12,5 Mrd. Kubikmeter erweitert wurde. Die Medgaz-Pipeline, die zwischen dem Erdgasfeld Hassi R’Mel in Algerien und dem spanischen Festland an der Küste von Almería verläuft, wurde 2011 eröffnet. Sie hat eine Kapazität von 8,5 Mrd. Kubikmeter pro Jahr. Weitere internationale Gasleitungen sind bislang nur geplant: Die GALSI -Pipeline von Hassi R’Mel über El Kala nach Sardinien und von dort nach Norditalien ist seit etwa 2004 in Planung. Nach mehreren Verzögerungen und Veränderungen im Markt wird das Projekt Stand 2020 nicht mehr weitergeführt. Längerfristig vorgesehen ist ein Anschluss an die geplante 4400 km lange Transsahara-Pipeline von Nigeria nach Algerien und Spanien. 2009 unterzeichneten Nigeria, Niger und Algerien ein Abkommen, doch bis 2018 war das Projekt laut einem Regierungsbeamten nicht über eine erste Planungsphase hinausgekommen. Grund dafür sollen auch die Probleme der nigerianischen Gasindustrie sein, ihre Lieferverträge für Westafrika zu erfüllen. Raumfahrt Die Agence Spatiale Algérienne (ASAL) ist die Weltraumorganisation Algeriens. Sie wurde im Jahr 2002 gegründet. Internet Im Jahr 2020 nutzten 62,9 Prozent der Einwohner Algeriens das Internet. Kultur Die algerische Kultur wird durch Einflüsse der früheren Kolonialmacht, berberische und arabische Traditionen bestimmt. Seit den 1980er Jahren kam es verstärkt zu Auseinandersetzungen zwischen Berbern und der Zentralregierung, bei denen zahlreiche Menschen von der Gendarmerie umgebracht worden sind. Im Jahre 2001 beispielsweise wurden über 100 Menschen auf offener Straße erschossen. Im Zuge der 2004 angestrebten Parlamentswahlen machte die Regierung Bouteflika den Berbern schließlich Zugeständnisse (Berberisch an Schulen). Erst seit kurzem ist die Berbersprache eine offiziell anerkannte Amtssprache. Literatur Mohammed Dib musste nach dem Erscheinen seiner ersten Romane in den 1950er Jahren Algerien verlassen. Die algerische Literatur stellt sich heute als Exilliteratur dar, da die Schriftsteller aufgrund der politischen Repression mit wenigen Ausnahmen den Weg ins Ausland gesucht haben. Bekannte Vertreter sind Assia Djebar, Rachid Boudjedra, Maïssa Bey, Yasmina Khadra oder Boualem Sansal. Die algerische Literatur ist stark vom arabischen Kulturerbe beeinflusst. Allerdings gibt es auch ein Kulturerbe der berberischen Minderheit. Viele berberische Autoren schreiben in französischer Sprache und Tamazight. Rundfunk Radio Algérienne ist der nationale Rundfunk Algeriens. Sein Auslandsdienst sendet auf mehreren Kurzwellenfrequenzen Koranprogramme, die über einen Sender in Issoudun, Frankreich ausgestrahlt werden. Audio-Livestreams in arabischer Sprache sind über das Internet zugänglich. Der Inlandsdienst von Radio Algérienne sendet auf Lang- und Mittelwelle. Sport Olympische Spiele Bislang konnten fünf algerische Sportler bei Olympischen Spielen eine Goldmedaille gewinnen: Hassiba Boulmerka (1992 – Leichtathletik, 1500 m, Frauen) Noureddine Morceli (1996 – Leichtathletik, 1500 m, Männer) Hocine Soltani (1996 – Boxen, Mittelgewicht 71–75 kg, Männer) Nouria Mérah-Benida (2000 – Leichtathletik, 1500 m, Frauen) Taoufik Makhloufi (2012 – Leichtathletik, 1500 m, Männer) Special Olympics Algerien Special Olympics Algerien wurde 1997 gegründet. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Program von Freiburg betreut. Fußball Schon seit den 1930er Jahren spielten algerische Fußballer eine wichtige Rolle in der französischen Profiliga (siehe auch hier). Die algerische Fußballnationalmannschaft konnte sich bisher viermal für die Endrunde einer Fußball-Weltmeisterschaft qualifizieren: 1982, 1986, 2010 und zuletzt 2014, wo man erstmals ins Achtelfinale einziehen konnte und dort in einem umkämpften Spiel mit 1:2 nach Verlängerung gegen Deutschland unterlag. 2019 gewann Algerien den Afrika-Cup. Der Kabyle Rabah Madjer war der erste Fußballspieler aus Afrika, der den Europapokal der Landesmeister, die heutige Champions League gewinnen konnte, und zwar mit seinem portugiesischen Klub FC Porto. Legendär ist immer noch sein Hackentrick-Tor im Finale 1987 in Wien gegen den FC Bayern München. Der dreimalige Weltfußballer Zinédine Zidane wurde als Sohn algerisch-kabylischer Einwanderer geboren, spielte allerdings nur für Frankreich. Radsport Seit 1949 wird in unregelmäßigen Abständen die Tour d’Algérie der Radsportler ausgetragen, ein internationales Etappenrennen. Rallyesport Bis zum Ende der 1980er Jahre führte die Rallye Paris-Dakar durch Algerien. Siehe auch Algerienfranzosen Liste der algerischen Botschafter in Deutschland Liste der algerischen Botschafter in der Deutschen Demokratischen Republik Literatur Weblinks Allgemein Präsidentschaft der Republik Algerien (arabisch, französisch) Portal des Premierministers (arabisch, französisch) Länderübersicht Algerien auf der Webpräsenz des Auswärtigen Amtes Algeria country profile auf BBC News (englisch) Amnesty International: Algerien. Wirtschaft Bundesagentur für Außenwirtschaft: Algerien. Wirtschaftsdaten kompakt. November 2019 International Monetary Fund: Algeria and the IMF World Bank: Country Brief Algeria Einzelnachweise Staat in Afrika Volksrepublik (Staat) Mitgliedstaat der Vereinten Nationen Ehemaliges Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung Verwaltungseinheit als Namensgeber für einen Asteroiden
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Arbeitsspeicher
Der Arbeitsspeicher oder Hauptspeicher () eines Computers ist die Bezeichnung für den Speicher, der die gerade auszuführenden Programme oder Programmteile und die dabei benötigten Daten enthält. Der Hauptspeicher ist eine Komponente der Zentraleinheit. Da der Prozessor unmittelbar auf den Hauptspeicher zugreift, beeinflussen dessen Leistungsfähigkeit und Größe in wesentlichem Maße die Leistungsfähigkeit der gesamten Rechenanlage. Arbeitsspeicher wird charakterisiert durch die Zugriffszeit bzw. Zugriffsgeschwindigkeit und (damit verbunden) die Datenübertragungsrate sowie die Speicherkapazität. Die Zugriffsgeschwindigkeit beschreibt die Dauer, bis angefragte Daten gelesen werden können. Die Datenübertragungsrate gibt an, welche Datenmenge pro Zeit gelesen werden kann. Es können getrennte Angaben für Schreib- und Lesevorgang existieren. Zur Benennung der Arbeitsspeichergröße existieren zwei unterschiedliche Notationsformen, die sich aus der verwendeten Zahlenbasis ergeben. Entweder wird die Größe zur Basis 10 angegeben (als Dezimalpräfix; 1 kByte oder kB = 103 Bytes = 1000 Bytes, SI-Notation) oder zur Basis 2 (als Binärpräfix; 1 KiB = 210 Bytes = 1024 Bytes, IEC-Notation). Aufgrund der binärbasierten Struktur und Adressierung von Arbeitsspeichern (Byte-adressiert bei 8-Bit-Aufteilung, wortadressiert bei 16-Bit-Aufteilung, doppelwortadressiert bei 32-Bit-Aufteilung usw.) ist letztere Variante die üblichere Form, die zudem ohne Brüche auskommt. Soweit Arbeitsspeicher über den Adressbus des Prozessors angesprochen wird oder direkt im Prozessor integriert ist, spricht man von physischem Speicher. Modernere Prozessoren und Betriebssysteme können durch virtuelle Speicherverwaltung mehr Arbeitsspeicher bereitstellen, als physischer Speicher vorhanden ist, indem sie Teile des Adressraums mit anderen Speichermedien hinterlegen (etwa mit einer Auslagerungsdatei, pagefile oder swap u. a.). Dieser zusätzliche Speicher wird virtueller Speicher genannt. Zur Beschleunigung des Speicherzugriffs – physisch oder virtuell – kommen heute zusätzliche Pufferspeicher zum Einsatz. Grundlagen Der Arbeitsspeicher des Computers ist ein durch Adressen (in Tabellenform) strukturierter Bereich, der Binärwörter fester Größe aufnehmen kann. Durch die binäre Adressierung bedingt hat Arbeitsspeicher praktisch immer eine 'binäre' (auf Potenzen von 2 basierende) Größe, da andernfalls Bereiche ungenutzt blieben. Der Arbeitsspeicher moderner Computer ist flüchtig, d. h., dass alle Daten nach dem Abschalten der Energieversorgung verloren gehen – der Hauptgrund dafür liegt in der Technologie der DRAMs. Verfügbare Alternativen wie etwa MRAM sind allerdings für die Verwendung als Arbeitsspeicher noch zu langsam. Deshalb enthalten Computer auch Festspeicher in Form von Festplatten oder SSDs, auf dem das Betriebssystem und die Anwendungsprogramme und Dateien beim Abschalten erhalten bleiben. Die häufigste Bauform für den Einsatz in Computern ist das Speichermodul. Es ist zwischen verschiedenen RAM-Typen zu unterscheiden. Waren in den 1980ern noch übliche Bauweisen Speicher in Form von ZIP-, SIPP- oder DIP-Modulen, so wurden in den 1990ern vorwiegend SIMMs mit FPM- oder EDO-RAM genutzt. Heute kommen in Computern in erster Linie DIMMs mit z. B. SD-, DDR-SD-, DDR2-SD-, DDR3-SD oder DDR4-SDRAMs zum Einsatz. Geschichte Die ersten Computer hatten keinen Arbeitsspeicher, nur einige Register, die mit der gleichen Technik wie das Rechenwerk aufgebaut waren, also Röhren oder Relais. Programme waren fest verdrahtet („gesteckt“) oder auf anderen Medien, wie zum Beispiel Lochstreifen oder Lochkarten gespeichert und wurden nach dem Lesen direkt ausgeführt. „In Rechenanlagen der 2. Generation dienten Trommelspeicher als Hauptspeicher“ (Dworatschek). Zusätzlich wurde in der Anfangszeit auch mit eher exotischen Ansätzen experimentiert, beispielsweise mit Laufzeitspeichern in Quecksilberbädern oder in Glasstabspiralen (mit Ultraschallwellen beschickt). Später wurden Magnetkernspeicher eingeführt, die die Information in kleinen Ferritkernen speicherten. Diese waren in einer kreuzförmigen Matrix aufgefädelt, wobei sich je eine Adressleitung und eine Wortleitung in der Mitte eines Ferritkerns kreuzten. Der Speicher war nicht flüchtig, die Information ging jedoch beim Lesen verloren und wurde anschließend von der Ansteuerungslogik sofort wieder zurückgeschrieben. Solange der Speicher nicht beschrieben oder gelesen wurden, floss kein Strom. Er ist um einige Größenordnungen voluminöser und teurer herzustellen als moderne Halbleiterspeicher. Typische Großrechner waren Mitte der 1960er Jahre mit 32 bis 64 Kilobyte großen Hauptspeichern ausgestattet (zum Beispiel IBM 360-20 oder 360-30), Ende der 1970er Jahre (zum Beispiel die Telefunken TR 440) mit 192.000 Worten à 52 Bit (netto 48 Bit), also mit über 1 Megabyte. Der Kernspeicher als Ganzes bot ausreichend Platz, neben dem Betriebssystem, das aktuell auszuführende Programm zunächst von einem externen Medium in den Arbeitsspeicher zu laden und alle Daten zu halten. Programme und Daten liegen in diesem Modell aus Sicht des Prozessors im gleichen Speicher, die heute am weitesten verbreitete Von-Neumann-Architektur wurde eingeführt. Mit Einführung der Mikroelektronik wurde der Arbeitsspeicher zunehmend durch integrierte Schaltungen (Chips) ersetzt. Jedes Bit wurde in einem bistabilen Schalter (Flipflop) gespeichert, das mindestens zwei, mit Ansteuerlogik aber bis zu sechs Transistoren benötigt und relativ viel Chipfläche verbraucht. Solche Speicher verbrauchen immer Strom. Typische Größen waren integrierte Schaltungen (ICs) mit 1 KiBit, wobei jeweils acht ICs gemeinsam adressiert wurden. Die Zugriffszeiten lagen bei einigen 100 Nanosekunden und waren schneller als die Prozessoren, die um ein Megahertz getaktet waren. Das ermöglichte zum einen die Einführung von Prozessoren mit sehr wenigen Registern wie dem MOS Technology 6502 oder dem TMS9900 von Texas Instruments, die ihre Berechnungen größtenteils im Arbeitsspeicher durchführten. Zum anderen ermöglichte es den Bau von Heimcomputern, deren Videologik einen Teil des Arbeitsspeichers als Bildschirmspeicher verwendete und parallel zum Prozessor darauf zugreifen konnte. Ende der 1970er Jahre wurden dynamische Arbeitsspeicher entwickelt, die die Information in einem Kondensator speichern und nur noch einen zusätzlichen Feldeffekttransistor pro Speicherbit benötigen. Sie können sehr klein aufgebaut werden und benötigen sehr wenig Leistung. Der Kondensator verliert die Information allerdings langsam, die Information muss daher in Abständen von einigen Millisekunden immer wieder neu geschrieben werden. Das geschieht durch eine externe Logik, die den Speicher periodisch ausliest und neu zurückschreibt (Refresh). Durch die höhere Integration in den 1980er Jahren konnte diese Refreshlogik preiswert aufgebaut und in den Prozessor integriert werden. Typische Größen Mitte der 1980er waren 64 KBit pro IC, wobei jeweils acht Chips gemeinsam adressiert wurden. Die Zugriffszeiten der dynamischen RAMs lagen bei preiswertem Aufbau ebenfalls bei einigen 100 Nanosekunden und haben sich seitdem nur wenig verändert, die Größen sind jedoch auf einige GBit pro Chip gewachsen. Die Prozessoren werden heute nicht mehr im Megahertz-, sondern im Gigahertz-Bereich getaktet. Daher werden, um die durchschnittliche Zugriffszeit zu reduzieren, Caches verwendet und sowohl die Taktrate als auch die Breite der Anbindung des Arbeitsspeichers an den Prozessor erhöht (siehe Front Side Bus). Im Juni 2012 wurde bekannt gegeben, dass mit dem sogenannten Speicherwürfel (englisch und kurz genannt) eine neue kleinere und leistungsstärkere Bauform für Arbeitsspeicher entwickelt werden soll, bei der ein Stapel aus mehreren Dies genutzt werden soll. Eigens dafür wurde das Hybrid Memory Cube Konsortium gegründet, dem unter anderem ARM, Hewlett-Packard und Hynix beigetreten sind. Physischer und virtueller Arbeitsspeicher Um den physischen Arbeitsspeicher zu erweitern, können moderne Betriebssysteme zusätzlichen virtuellen Arbeitsspeicher auf Massenspeichern allozieren (platzieren, zuteilen). Diesen Speicher nennt man auch Swapspeicher. Um diese Erweiterung transparent zu realisieren, bedient sich das Betriebssystem eines virtuellen Speicherraumes, in dem sowohl der physische als auch der virtuelle Speicher vorhanden sind. Teile dieses virtuellen Speicherraumes – eine oder mehrere Speicherseiten – werden dabei entweder in das physisch vorhandene RAM oder in den Auslagerungsspeicher (Swapspace) abgebildet. Die Nutzungsrate der einzelnen Seiten bestimmt, welche Speicherseiten ausgelagert und nur auf Massenspeichern und welche im schnellen RAM existieren. Diese Funktionen werden von heutigen CPUs unterstützt, wobei die Menge des unterstützten Gesamtspeichers im Laufe der Entwicklung deutlich gestiegen ist. Der Auslagerungsspeicher stellt eine sehr preiswerte, aber mit extrem schlechter Leistung verbundene Erweiterung zum physischen Arbeitsspeicher dar. Ein Missverhältnis zwischen beiden Speicherarten ist an häufigem „Swappen“, also dem Verschieben von Daten zwischen Massen- und physischem Arbeitsspeicher, zu erkennen. Verglichen mit dem Arbeitsspeicher benötigt die Festplatte mit mehreren Millisekunden sehr lange, um die Daten bereitzustellen. Die Zugriffszeit auf den Arbeitsspeicher beträgt nur wenige Nanosekunden, was einem Millionstel der Festplatte entspricht. Cache Zugriffe auf den Arbeitsspeicher durch den Hauptprozessor werden zumeist über ein oder mehrere Pufferspeicher oder (kurz „Cache“) optimiert. Im Cache hält und benutzt der Rechner die am häufigsten angesprochenen Speicherbereiche, stellvertretend für die originären Hauptspeicherbereiche. Der Cache ist im Verhältnis zu anderen Speichern sehr schnell, da er möglichst direkt am Prozessor angebunden ist (bzw. sich in modernen Prozessoren direkt auf dem Die befindet). Allerdings ist er in der Regel nur wenige Megabyte groß. Bei geringem Speicherbedarf können Programme oder Teile davon fast ausschließlich im Cache laufen, ohne dass der Hauptspeicher angesprochen werden muss. Der Cache ist als Assoziativspeicher ausgeführt, kann also entscheiden, ob die Daten einer Adresse schon im Cache gespeichert sind oder noch vom Arbeitsspeicher geholt werden müssen. Dann wird ein anderer Teil des Caches aufgegeben. Der Cache wird dabei stets mit mehreren aufeinander folgenden Worten gefüllt, beispielsweise stets mit mindestens 256 Bit (sogenannter Burst-Modus), da es sehr wahrscheinlich ist, dass in Kürze auch Daten vor oder hinter den gerade benötigten gelesen werden sollen. Leistung von Speichermodulen Die Leistung von Speichermodulen (Takt und Schaltzeitverhalten, englisch ) misst sich vor allem in der absoluten Latenz. Die theoretische Bandbreite ist ausschließlich beim Burst-Transfer relevant. Ein weit verbreiteter Irrtum ist, dass höhere numerische Timings eine schlechtere Leistung zur Folge hätten. Das gilt jedoch nur bei gleichem Takt, da sich die absolute Latenz aus den Faktoren (effektiver) Takt und Schaltzeitverhalten (Timing) ergibt. Berechnung Formel: Beispiel: DDR3-1333 CL8-8-8 Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass DDR2/3/4-SDRAM, obwohl sie höhere (numerische) Schaltzeiten (Timings) als DDR-SDRAM aufweisen, schneller sein können und eine höhere Bandbreite zur Verfügung stellen. Einige Speicherhersteller halten die offiziellen Spezifikationen der JEDEC nicht ein und bieten Module mit höheren Taktraten oder besserem Schaltzeitverhalten (Timings) an. Während DDR3-1600 CL9-9-9 einer offiziellen Spezifikation unterliegt, handelt es sich bei DDR2-1066 CL4-4-4-12 um nicht standardkonforme Speichermodule. Diese schnelleren Speicher werden oft als Speichermodule für Übertakter bezeichnet. CAS (column access strobe) – latency (CL) Gibt an, wie viele Taktzyklen der Speicher benötigt, um Daten bereitzustellen. Niedrigere Werte bedeuten höhere Speicherleistung. RAS to CAS Delay (tRCD) Dabei wird über die Abtastsignale „Spalten“ und „Zeilen“ eine bestimmte Speicherzelle lokalisiert, ihr Inhalt kann dann bearbeitet werden (Auslesen/Beschreiben). Zwischen der Abfrage „Zeile“ und der Abfrage „Spalte“ befindet sich eine festgelegte Verzögerung ⇒ Delay. Niedrigere Werte bedeuten höhere Speicherleistung. RAS (row access strobe) – precharge delay (tRP) Bezeichnet die Zeit, die der Speicher benötigt, um den geforderten Spannungszustand zu liefern. Erst nach Erreichen des gewünschten Ladezustandes kann das RAS-Signal gesendet werden. Niedrigere Werte bedeuten höhere Speicherleistung. Row-Active-Time (tRAS) Erlaubte Neuzugriffe nach festgelegter Anzahl von Taktzyklen, setzt sich rein rechnerisch aus CAS + tRP + Sicherheit zusammen. Command Rate (zu Deutsch Befehlsrate) Ist die Latenzzeit, welche bei der Auswahl der einzelnen Speicherchips benötigt wird, genauer gesagt, die Adress- und Command Decode Latency. Die Latenzzeit gibt an, wie lange ein Speicherbank-Adressierungssignal anliegt, bevor die Ansteuerung der Zeilen und Spalten der Speichermatrix geschieht. Typische Werte für DDR- und DDR2-Speichertypen sind 1–2T, meistens wird 2T genutzt. Praxis In der Praxis konnten FSB1333-Prozessoren von Intel mit ihrem Front Side Bus maximal 10 GiB/s an Daten empfangen. Das wird im üblichen Dual-Channel-Betrieb mit zwei Speicher-Riegeln bereits von DDR2-667 (10,6 GiB/s) ausgereizt. Aktuelle Prozessoren unterliegen dieser Beschränkung nicht mehr, da hier der Speichercontroller nicht mehr in der Northbridge, wie beim Sockel 775 und Vorgängern, sondern direkt auf der CPU verbaut ist. Neben Dual Channel spielt es auch eine Rolle, ob der Speicher Dual-Rank unterstützt. Dual-Rank steht für die beidseitige Bestückung der Speicherriegel mit doppelt so vielen, aber nur halb so großen Speicherchips. Insbesondere CPUs mit interner GPU, wie die AMD-Kaveri-Architektur, können von dieser Form der Speicherverschränkung profitieren. Anbindung des Arbeitsspeichers Die klassische Anbindung von physischem Speicher erfolgt über einen (bei Von-Neumann-Architektur) oder mehrere (bei der heute im PC-Bereich nicht mehr verwendeten Harvard-Architektur bzw. Super-Harvard-Architektur) Speicherbusse. Speicherbusse übertragen Steuerinformationen, Adressinformationen und die eigentlichen Nutzdaten. Eine von vielen Möglichkeiten ist es, für diese unterschiedlichen Informationen getrennte Leitungen zu nutzen und den Datenbus sowohl zum Lesen wie zum Schreiben von Nutzdaten zu verwenden. Der Datenbus übernimmt dann den eigentlichen Datentransfer. Aktuelle PC-Prozessoren benutzen zwischen zwei und vier 64-Bit-Speicherbusse, die aber seit etwa dem Jahr 2000 keine generischen Speicherbusse mehr sind, sondern direkt die Protokolle der verwendeten Speicherchips sprechen. Der Adressbus dient zur Auswahl der angeforderten Speicherzellen; von seiner Busbreite (in Bit) ist die maximal ansprechbare Anzahl von Speicherworten abhängig. An jeder Adresse sind bei heute üblichen Systemen meist 64 Bit abgelegt (siehe 64-Bit-Architektur), früher wurden auch 32 Bit (Intel 80386), 16 Bit (Intel 8086) und 8 Bit (Intel 8080) verwendet. Viele, aber nicht alle Prozessoren unterstützen feiner granulare Zugriffe, meist auf Byteebene, durch ihre Art der Interpretation von Adressen (Endianness, „Bitabstand“ von Adressen, misalignte-Zugriffe) auf Software-Ebene wie auch durch das Hardware-Interface (Byte-Enable-Signale, Nummer der niederwertigsten Adressleitung). Beispiel: Intel 80486 Adressbus: A31 bis A2 Datenbus: D31 bis D0 Byte-Enable: BE3 bis BE0 Endianness: Little Endian Unterstützung von misalignten Zugriffen: ja ansprechbarer Speicher: 4 Gi × 8 Bit als 1 Gi × 32 Bit Einer der wesentlichen Unterschiede der beiden bei PCs aktuellen Prozessorgenerationen „32-Bit“ und „64-Bit“ ist also der bereits angesprochene maximal ansteuerbare Arbeitsspeicher, der jedoch zum Teil mit Hilfe von Physical-Address Extension noch etwas über das übliche Maß hinaus erweitert werden kann. Allerdings ist mit der Anzahl der Bits einer Prozessorgeneration im Allgemeinen die Breite des Datenbusses gemeint, die nicht notwendigerweise mit der Breite des Adressbusses übereinstimmt. Allein die Breite des Adressbusses bestimmt jedoch die Größe des Adressraums. Aus diesem Grund konnte beispielsweise der „16-Bit“-Prozessor 8086 nicht nur 64 KiB (theoretischer 16-Bit-Adressbus), sondern 1 MiB (tatsächlicher 20-Bit-Adressbus) adressieren. Der Bus moderner Computer vom Cache zum Arbeitsspeicher wird schnell ausgeführt, also mit hoher Taktrate und Datenübertragung bei steigender und fallender Taktflanke (DDR: Double Data Rate). Er ist synchron und mit großer Wortbreite, zum Beispiel 64 Bit pro Adresse. Werden mehrere Speichersteckplätze auf der Hauptplatine eines PCs eingesetzt, so werden aufeinander folgende Adressen in verschiedenen Steckplätzen gespeichert. Das ermöglicht überlappenden Zugriff (Interleaved) bei Burst-Zugriffen. Innerhalb der Speicherchips werden ganze Adresszeilen in Schieberegistern gespeichert. Ein 1-MiBit-Chip kann zum Beispiel 1024 Zeilen mit 1024 Bit haben. Beim ersten Zugriff wird ein schnelles, internes 1024-Bit-Register mit den Daten einer Zeile gefüllt. Bei Burst-Zugriffen sind die Daten der folgenden Adressen dann bereits im Schieberegister und können mit sehr geringer Zugriffszeit von diesem gelesen werden. Sinnvollerweise überträgt man daher nicht nur das angeforderte Bit zum Prozessor, sondern gleich eine sogenannte „Cache-Line“, die heute 512 Bit beträgt (vgl. Prozessor-Cache). Hersteller Die größten Speicherchiphersteller sind: Nanya Technology Hynix Semiconductor Micron Technology Promos Samsung Toshiba Winbond Etron Fujitsu Siemens Computers Diese Hersteller teilen sich 97 Prozent Marktanteil. Anbieter von Speichermodulen, wie Corsair, Kingston Technology, MDT, OCZ, A-Data usw. (sogenannte Third-Party-Hersteller) kaufen Chips bei den genannten Herstellern und löten diese auf ihre Platinen, wofür sie ein eigenes Layout entwerfen. Außerdem programmieren sie die SPD-Timings gemäß ihren eigenen Spezifikationen, die durchaus schärfer eingestellt sein können als die der Originalhersteller. Für Dual-Channel- oder Triple-Channel-Betrieb sollten nach Möglichkeit annähernd baugleiche Module verwendet werden, damit die Firmware (bei PCs das BIOS oder UEFI) den Parallel-Betrieb nicht aufgrund von unvorhersehbaren Inkompatibilitäten verweigert oder das System dadurch instabil läuft. Es ist gängige Praxis, dass ein Hersteller beim selben Produkt im Laufe der Produktion andere Chips auf seine Module lötet bzw. umgekehrt unterschiedliche Hersteller die gleichen Chips verwenden. Da diese Informationen jedoch in so gut wie allen Fällen nicht zugänglich sind, ist man beim Kauf von Speicher-Kits auf der sicheren Seite – obwohl der Dual-/Triple-Channel-Modus normalerweise auch mit unterschiedlichen Modulen funktioniert. Als Mittler zwischen den großen Speicherchip- und Modulherstellern einerseits und dem Handel und den Verbrauchern andererseits haben sich in Deutschland Anbieter wie z. B. CompuStocx, CompuRAM, MemoryXXL und Kingston etabliert, die für die gängigsten Systeme spezifizierte Speichermodule anbieten. Das ist deshalb notwendig, weil einige Systeme durch künstliche Beschränkungen durch den Hersteller nur mit Speicher arbeiten, der proprietäre Spezifikationen erfüllt. Siehe auch Halbleiterspeicher Speicherausrichtung Bereitschaftsbetrieb, Ruhezustand für energiesparende Techniken, um mit dem Arbeitsspeicher umzugehen Speicherschutz, Speichermedium, Speichern Weblinks Einzelnachweise Rechnerarchitektur hu:Memóriaegység
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https://de.wikipedia.org/wiki/Arcadius
Arcadius
Flavius Arcadius (gräzisiert Arkadios ; * um 377 in Hispanien; † 1. Mai 408 in Konstantinopel) war zwischen 395 und 408 Kaiser der Osthälfte des Imperium Romanum und gilt daher als der erste Herrscher des Oströmischen bzw. Byzantinischen Reiches. Leben Jugend Arcadius war der älteste Sohn Kaiser Theodosius’ I. und Aelia Flacillas und damit der Bruder des Westkaisers Honorius. Sein Vater, der 379 überraschend von Gratian zum Mitkaiser ernannt worden war, hatte ihn bereits im Januar 383 zum Augustus erheben lassen, gab ihm jedoch faktisch keinen Spielraum. Theodosius, der seit 379 für den Osten des Reiches zuständig war, ließ zwar Arcadius am Hof in Konstantinopel zurück, als er 387/88 in den Westen zog, um einen Bürgerkrieg gegen Magnus Maximus zu führen. Federführend war aber der Prätorianerpräfekt (der höchste zivile Verwaltungsbeamte). Als sein Vater 394 erneut in den Westen zog, blieb Arcadius im Unterschied zu Honorius erneut am Bosporus zurück. Nach dem überraschenden Tod des Theodosius und der faktischen Reichsteilung im Januar 395 übernahm Arcadius mit knapp 18 Jahren nicht nur die Herrschaft über den Osten, sondern rückte zugleich zum senior Augustus mit dem Anspruch auf die Oberhoheit im Gesamtreich auf. Herrschaft Als Kaiser nannte Arcadius sich Imperator Caesar Flavius Arcadius Augustus und versuchte offenbar, einen eigenen Kurs gegen seinen mächtigsten Berater Rufinus durchzusetzen. Er erließ mehrere Gesetze gegen die Häresie und präsentierte sich als christlicher Kaiser, obwohl er seine Ausbildung auch von paganen Lehrern erhalten hatte. Anstatt die Tochter des Rufinus zur Frau zu nehmen, heiratete er am 27. April 395 Aelia Eudoxia, die Tochter des Bauto, eines ehemaligen magister militum unter Gratian. Dennoch behielt Rufinus zunächst die Macht in den Händen und befand sich in einer ähnlichen Position wie im Westreich Stilicho. Stilicho behauptete, er sei vom sterbenden Theodosius zum Vormund beider Söhne ernannt worden, und begründete damit einen Anspruch auf die Oberhoheit des westlichen Hofes, an dem er sich aufhielt, über den östlichen. Dies lehnten sowohl der senior Augustus Arcadius als auch Rufinus empört ab. Zwischen beiden Höfen kam es daher schon 395 zu Spannungen, die sich unter anderem in Hinblick auf einige Provinzen im Illyricum äußerten, die Stilicho für das Westreich forderte. Umgekehrt verlangte Arcadius die Überstellung starker Heeresverbände, die 394 mit Theodosius nach Westen gezogen waren. Stilicho musste nachgeben und die Truppen unter dem comes Gainas nach Konstantinopel schicken. Rufinus war allerdings bei der Armee unbeliebt und wurde schließlich im Herbst 395 in Anwesenheit des Kaisers bei einer Parade der aus dem Westen zurückgekehrten Soldaten getötet; dahinter stand angeblich Stilicho, dessen Gefolgsmann Gainas war. Rufinus’ Platz nahm der Eunuch Eutropios ein, der oberste Kammerherr (praepositus sacri cubiculi) des Arcadius. Auch dieser wurde jedoch 399 unter Beteiligung des Gainas gestürzt und anschließend hingerichtet. Der anschließende Versuch des Gainas, den östlichen Hof so zu dominieren, wie es Stilicho im Westen tat, wurde 400 durch den Heermeister Fravitta und einen Aufstand der Bevölkerung niedergeschlagen. Zahlreiche gotische foederati fanden dabei den Tod, was dazu beitrug, dass hohe Militärs (römischer wie nichtrömischer Herkunft) im Osten in der Folge nicht die entscheidende Rolle spielten, die ihnen im Westen zufallen sollte. Vielmehr behielt der Hof die Kontrolle. In diesen Jahren stand das Ostreich zudem unter dem Druck mehrerer Barbareneinfälle. Von 395 bis 397 plünderten Hunnen die Ostprovinzen. Meuternde westgotische foederati unter Alarich drangen seit 395 mehrmals tief in oströmisches Territorium ein, während es gleichzeitig zu Revolten unter den germanischen Hilfstruppen kam. 399 bestieg mit Yazdegerd I. ein neuer König den persischen Thron, der gegenüber den Römern zunächst feindselig auftrat. Dennoch konnte Arcadius in den Jahren ab 400 wohl ungehindert vom Einfluss seiner Berater selbst regieren. Kirchengeschichtlich von großer Bedeutung ist die Verbannung Johannes Chrysostomos’, die Arcadius 403 auf Betreiben von Eudoxia erwirkte. Johannes hatte den angeblich ausschweifenden Lebensstil der jungen Kaiserin angeprangert und damit ihre Ungunst erregt. Er wurde das Opfer einer Hofintrige: Johannes, einer der wichtigsten Theologen des Christentums, starb am 14. September 407 in der Verbannung. Papst Innozenz I. und Honorius hatten zuvor vergeblich versucht, eine Aufhebung des Bannes zu erwirken. Nach dem Tod der Eudoxia 404 trat der tatkräftige Prätorianerpräfekt Anthemius als wichtigster Berater des Kaisers hervor, in dessen Schatten Arcadius nun nach außen völlig verschwand. Seinen Pflichten kam Anthemius mit großer Sorgfalt und Kompetenz nach; insbesondere gelang es ihm, nach Beilegung der anfänglichen Spannungen mit Yazdegerd sehr gute Beziehungen mit dem persischen Sassanidenreich herzustellen, was die außenpolitische Lage Ostroms sehr verbesserte. Der Perserkönig soll laut Prokopios von Caesarea sogar vom sterbenden Arcadius 408 zum Vormund seines Sohnes bestellt worden sein. Ob dies stimmt ist in der Forschung sehr umstritten. 407 brach ein Bürgerkrieg mit Westrom aus, als Alarich im Auftrag Stilichos in oströmisches Gebiet einfiel, doch wurden die Kämpfe abgebrochen, als Westrom an anderen Fronten bedroht wurde. Für 408 einigten sich die beiden Kaiserhöfe zum Zeichen der Versöhnung auf ein gemeinsames Paar Konsuln. Arcadius hatte vier Kinder: Drei Töchter (Pulcheria, Arcadia und Marina) und den 401 geborenen Sohn und Mitkaiser (seit 402) Theodosius II., der nach dem frühen Tod des Kaisers im Jahr 408 noch im Kindesalter als Augustus den oströmischen Thron bestieg. Bewertung Die Regierungszeit des Arcadius war eine Krisenzeit für die Entwicklung Ostroms. An den Grenzen war es bedroht (im Norden und Nordwesten von den Germanen, im Illyricum anfangs sogar von Westrom, in Kleinasien von den Hunnen, im Osten zunächst von den Sassaniden), im Inneren kam es zu Aufständen, und das West- und Ostreich entfernten sich aufgrund von Konflikten im Balkanraum immer mehr voneinander (ohne dass dies zur Aufgabe der Vorstellung von einer grundsätzlichen Reichseinheit geführt hätte). Arcadius und seine Berater reagierten oft nur, statt zu agieren. Ihm selbst wird in mehreren Quellen ein wohlwollender Charakter bescheinigt, doch wird er auch als schwache Persönlichkeit und schwacher Kaiser beschrieben, der dieser Situation nicht gewachsen war. Allerdings muss dabei auch der Tatsache Rechnung getragen werden, dass er etwa seit seinem sechsten Lebensjahr unter der Bevormundung seiner Berater gestanden hatte. Dennoch überstand Ostrom diese Zeit relativ gut, während das Westreich unter Honorius nach 408 bereits erste Auflösungserscheinungen zeigte. Dies ist nicht zuletzt dem äußerst fähigen Anthemius zu verdanken, der noch bis 414 die Geschicke Ostroms bestimmte und ganz wesentlich dazu beitrug, die äußere Lage des Reiches zu verbessern. Literatur John B. Bury: History of the Later Roman Empire. Bd. 1. 1923, ND New York 1958. Arnold Hugh Martin Jones: The Later Roman Empire (284–602). 3 Bände, Oxford 1964. John H. W. G. Liebeschuetz: Barbarians and Bishops. Army, Church, and State in the Age of Arcadius and Chrysostom. Clarendon Press, Oxford 1990. Alan Cameron, Jacqueline Long: Barbarians and Politics at the Court of Arcadius. Berkeley 1993. Thomas S. Burns: Barbarians within the gates of Rome. A study of Roman military policy and the barbarians, ca. 375–425 AD. Bloomington 1994. Wolfgang Hagl: Arcadius Apis imperator: Synesios von Kyrene und sein Beitrag zum Herrscherideal der Spätantike. Stuttgart 1997. David Buck: The reign of Arcadius in Eunapius' Histories. In: Byzantion 68, 1998, S. 15–46. Johannes Hahn: Arcadius. In: Manfred Clauss (Hrsg.): Die römischen Kaiser. 55 historische Portraits von Caesar bis Iustinian. 4., aktualisierte Auflage. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-60911-4, S. 374–379. Weblinks Kaiser (Rom) Kaiser (Byzanz) Theodosianische Dynastie Herrscher (4. Jahrhundert) Herrscher (5. Jahrhundert) Geboren im 4. Jahrhundert Gestorben 408 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ampelkoalition
Ampelkoalition
Mit Ampelkoalition bezeichnet man in der Bundesrepublik Deutschland die Zusammenarbeit der drei politischen Parteien SPD, FDP und Bündnis’90/Die Grünen zur Bildung einer Regierungsmehrheit (rot, gelb, grün = Vgl. mit einer Ampel). Ausgehend von der ursprünglichen Bedeutung der Koalition einer sozialdemokratischen oder sozialistischen, einer liberalen und einer grünen Partei hat der Begriff einige Varianten entwickelt. Der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz wurde im Dezember 2021 mit den Stimmen der ersten Ampelkoalition Deutschlands auf Bundesebene gewählt. Deutschland Mit Ampelkoalition wird in Deutschland im Journalismus eine regierende Koalition der Parteien SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen bezeichnet, da die traditionellen Farben dieser Parteien den Farben einer Ampel (rot-gelb-grün) entsprechen. Bundesebene Auf Bundesebene ist eine solche Konstellation erstmals am 7. Dezember 2021 zustande gekommen, auf Landes- und Kommunalebene gab es zuvor schon Beispiele für solche Koalitionen. Nachdem die Ampelkoalition auf Bundesebene lange Zeit keine ernsthaft in Erwägung gezogene Option zur Regierungsbildung war, kam es infolge des Ergebnisses der Bundestagswahl 2021 erstmals zu Koalitionsverhandlungen zwischen den drei Parteien. Am 24. November 2021 einigten sich SPD, Grüne und FDP auf den Koalitionsvertrag der 20. Wahlperiode des Bundestages. Nach der Zustimmung der Gremien von SPD und FDP und der Mitglieder der Grünen wurde Olaf Scholz am 8. Dezember mit den Stimmen einer Ampelkoalition zum Bundeskanzler im Kabinett Scholz gewählt. Landesebene Als Ampelkoalition bezeichnet wurde die von 1990 bis 1994 in Brandenburg bestehende Regierungskoalition, obwohl die Grünen an der 5-%-Hürde gescheitert waren und stattdessen Bündnis 90 mitregierte. Bündnis 90 fusionierte 1993 mit den Grünen zu Bündnis 90/Die Grünen, die Fraktionsmitglieder des Bündnis 90 traten der neuen Partei jedoch nicht alle bei. Die Koalition zerbrach im Februar 1994 ein halbes Jahr vor der regulären Landtagswahl an Meinungsverschiedenheiten über die Bewertung der Rolle von Ministerpräsident Manfred Stolpe in seiner Funktion als Konsistorialpräsident der evangelischen Kirche Brandenburg zu DDR-Zeiten. Eine echte Ampelkoalition regierte von 1991 bis 1995 in Bremen. Auch diese Koalition wurde wenige Monate vor dem regulären Wahltermin aufgekündigt. Anlass hierfür war die sogenannte Piepmatzaffäre. Einige Versuche zur Bildung einer solchen Koalition scheiterten. Nach der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin 2001 war dies der Fall. Sondierungsgespräche in dieser Richtung nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2010 führten ebenso wenig zum Erfolg. Ferner wurden Ampelkoalitionen auf Bundes- und Landesebene von der FDP und insbesondere von Guido Westerwelle mit Verweis auf die unterschiedlichen Parteiprogramme von SPD und Grünen einerseits und der FDP andererseits wiederholt abgelehnt. Nachdem das Stimmenergebnis bei der rheinland-pfälzischen Landtagswahl 2016 nicht für eine Fortsetzung der rot-grünen Koalition ausgereicht hatte, eine schwarz-gelbe Koalition jedoch ebenfalls keine Mehrheit erzielen konnte und Malu Dreyer eine Große Koalition als „Ultima Ratio“ befand, einigten sich SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf die Bildung der ersten Ampelkoalition in Rheinland-Pfalz. Mit der Vereidigung des zweiten Kabinetts Dreyer trat diese Koalition am 18. Mai 2016 ihr Amt an. Sie war die erste Ampelkoalition auf Landesebene, welche die komplette Wahlperiode bis zur nächsten Landtagswahl Bestand hatte und bei der nach der folgenden Wahl alle beteiligten Parteien wieder im Landtag vertreten waren. Nach der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz 2021 kündigte Malu Dreyer an, Koalitionsverhandlungen aufzunehmen mit dem Ziel einer Neuauflage der Ampelkoalition. Die Regierung wurde wiedergewählt; das Kabinett Dreyer III wurde am 18. Mai 2021 vereidigt. Eine analoge Konstellation nach der Niedersachsenwahl 2017 schied aufgrund der deutlichen Ablehnung der FDP aus, die SPD musste deswegen eine Große Koalition mit den intensiv bekämpften Rivalen der CDU bilden. Auch in Schleswig-Holstein war zuvor eine aufgrund des zweiten Platzes der SPD weniger realistische, aber von den Grünen lange bevorzugte Ampelkoalition nach Sondierungen mit der FDP nicht zu Stande gekommen, so dass dort eine in Deutschland bis dahin noch seltener diskutierte Jamaika-Koalition unter Führung der CDU gebildet wurde. Im Anschluss an die Landtagswahl in Hessen 2018 scheiterten Sondierungsgespräche, nachdem durch das endgültige Wahlergebnis bestätigt wurde, dass die Grünen mit Tarek Al-Wazir als stimmenstärkster Koalitionspartner in einer Ampelkoalition das Amt des Ministerpräsidenten beanspruchen könnten. Ein mögliches Bündnis mit einem Ministerpräsidenten der Grünen wurde im Rahmen der Wahl von den Medien als Grüne Ampel bezeichnet. Kommunale Ebene Auf kommunaler Ebene gab es von Januar 2006 bis September 2006 in Bonn eine Ampelkoalition, von Juli 2006 bis Juni 2009 in der kreisfreien Stadt Darmstadt. Nach den Kommunalwahlen 2009 arbeiteten Ampelkoalitionen in den nordrhein-westfälischen Großstädten Bielefeld, Mönchengladbach (bis 2013) und Remscheid, und nach den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen 2014 bildeten sich Bündnisse aus SPD, GRÜNE und FDP in der Landeshauptstadt Düsseldorf und in Oberhausen. Nach den Kommunalwahlen in Rheinland-Pfalz 2009 fand sich in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz ein Ampelbündnis, während in Trier die FDP die Ampelkoalition zwischenzeitlich verlassen hat. Seit den Kommunalwahlen in Hessen 2011 bilden SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die FDP im Wetteraukreis ebenfalls eine Koalition. In den Landschaftsversammlungen der höheren Kommunalverbände Rheinland und Westfalen-Lippe bildeten ebenfalls die Fraktionen von SPD, FDP und Grüne bis 2014 die Mehrheit, die so genannte „Gestaltungsmehrheit“. Andere Bezeichnungen für die Ampel Als „Afrika-Koalition“ wurde eine derartige Ampelkoalition von Fritz Goergen wegen der grün-gelb-roten Farben Afrikas erstmals in der Financial Times Deutschland im Juli 2006 bezeichnet. Der grüne Politiker Jürgen Trittin schlug im September 2006 vor, stattdessen von einer Senegal-Koalition zu sprechen. Die Nationalflagge des westafrikanischen Staates umfasst die Farben Grün, Gelb und Rot, wobei auf dem mittleren, gelben Streifen zudem ein grüner Stern abgebildet ist. Verwandte Varianten Eine Koalition aus CDU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen wird gelegentlich als schwarze Ampel (kurz Schwampel) bezeichnet, häufiger jedoch als Jamaika-Koalition. Eine solche Regierungskoalition wurde in der Geschichte Deutschlands oberhalb der Kommunalebene erstmals 2009 im Saarland umgesetzt, scheiterte jedoch nach zwei Jahren. Von 2017 bis 2022 gab es sie in Schleswig-Holstein. Im unmittelbaren Anschluss an die Bundestagswahl 2005 war sie in der Diskussion, nach der Bundestagswahl 2017 gab es Sondierungsgespräche zwischen CDU, FDP und Grünen, die jedoch von der FDP nach vier Wochen beendet wurden. Nach der Landtagswahl 2012 regierten in Schleswig-Holstein SPD, Grüne und SSW in einer rot-grün-blauen Koalition, die unter dem – teilweise umstrittenen – Schlagwort Dänen-Ampel bekannt wurde. Später wurde sie Küstenkoalition genannt. Nach der Landtagswahl in Thüringen 2014 war eine schwarz-rot-grüne (Afghanistan oder Kenia) Koalitionsvariante im Gespräch und wurde nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2016 erstmals auf Landesebene umgesetzt. Österreich In Österreich wurde in den 1990er Jahren in Anlehnung an die Begriffsbildung in Deutschland unter Ampelkoalition eine Koalition aus SPÖ, Liberalem Forum und Grüne diskutiert, obwohl die Parteifarbe des Liberalen Forums damals nicht gelb, sondern hellblau war. Nach der Landtags- und Gemeinderatswahl in Wien 1996 wurde eine solche Variante rechnerisch möglich, allerdings wurde seitens der SPÖ eine mutmaßlich stabilere Zweierkoalition mit der ÖVP bevorzugt. Dem Bedeutungsverlust des Liberalen Forums mit dem Ausscheiden aus dem Parlament nach den Nationalratswahlen 1999 folgte 2014 ein Aufgehen in der neuen liberalen Partei NEOS – Das Neue Österreich und Liberales Forum. Deren Parteifarbe ist allerdings pink. Als Ampelkoalition wird auch die von 2012 bis 2015 amtierende Innsbrucker Regierung aus der bürgerlich-liberalen Liste Für Innsbruck (Erkennungsfarbe gelb), den Grünen und der SPÖ verstanden. Diese kam nach der Gemeinderatswahl 2012 zustande. Luxemburg In Luxemburg wird eine Koalition aus Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen als Gambia-Koalition bezeichnet, da die Parteifarbe der liberalen Demokratesch Partei blau und nicht gelb ist. Rot, blau und grün sind die Nationalfarben Gambias. Eine solche Koalition wurde nach der Kammerwahl 2013 unter Premierminister Xavier Bettel gebildet. Damit gelang nach langer Zeit wieder eine Regierung unter Ausschluss der bislang dominierenden Christdemokraten, die bis auf eine vierjährige Unterbrechung in den 1970er-Jahren an allen Nachkriegsregierungen beteiligt waren und nach wie vor stärkste Partei sind. Vereinigtes Königreich Unter dem Begriff traffic light coalition wird in England eine Koalition unter Einschluss der Labour Party, den Liberal Democrats und der Green Party of England and Wales verstanden, die beispielsweise im City Council des englischen Verwaltungsbezirkes City of Lancaster die Mehrheitsfraktionen stellen. Eine vergleichbare Koalition in Schottland zwischen Labour, Liberal Democrats und der Scottish Green Party wurde nach den Wahlen zum schottischen Parlament im Jahre 2003 diskutiert, kam aber nicht zustande. Belgien und Niederlande In Belgien und den Niederlanden werden liberale Parteien (VVD bzw. VLD und MR) mit der Farbe blau assoziiert. Nach der Mischfarbe von rot und blau heißen Koalitionen aus Sozialdemokraten und Liberalen daher „lila Regierung“ (paars kabinet). Kommen die Grünen und/oder die linksliberalen Democraten 66 (deren Erkennungsfarbe ebenfalls grün ist) hinzu, ist von paars-groen („lila-grün“), paars-plus oder auch „Regenbogenkoalition“ die Rede. Eine „lila Regierung“ aus Arbeitspartei, VVD und D66 regierte in den Niederlanden von 1994 bis 2002 unter Wim Kok, wodurch erstmals seit 1945 keine Christdemokraten an der Regierung beteiligt waren. Nach der Parlamentswahl 2010 wurde eine paars-plus-Koalition unter Einschluss der GroenLinks sondiert, kam aber nicht zustande. In Belgien regierten von 1999 bis 2003 Liberale, Sozialisten und Grüne (die sich nochmals in je eine flämische und eine wallonische Partei gliedern; erstes Kabinett Verhofstad), dies war das erste Mal seit 1958, dass die Christdemokraten in die Opposition verwiesen wurden. Von 2003 bis 2007 folgte eine „lila Regierung“ ohne die Grünen (Verhofstadt II). Schweden Nach den schwierigen Verhältnissen nach der Reichstagswahl in Schweden 2018, bei der weder die liberal-konservative Alliansen noch das Rot-grüne Bündnis die Mehrheit erreichte, bildete Stefan Löfven eine Minderheitsregierung bestehend aus der sozialdemokratischen SAP und der grüne MP, die von der sozialistischen Vänsterpartiet (V), der liberalen Liberalerna (L) und der ländlichen, grünliberalen Centerpartiet (C) toleriert wird. Diese Vereinbarung wurde in der deutschsprachigen Presse vereinzelt als „Ampel“ bezeichnet, obwohl die Parteifarbe der schwedischen Liberalen nicht gelb, sondern blau ist. Weblinks Einzelnachweise Regierungskoalition
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Avitus
Eparchius Avitus (* um 385 in der Auvergne; † Anfang 457) war von 455 bis 456 weströmischer Kaiser sowie von 456 bis zu seinem Tode Bischof von Placentia. Leben Herkunft und politisches Wirken Avitus wurde in der Auvergne um das Jahr 385 als Spross einer vornehmen, traditionsreichen gallorömisch-senatorischen Familie geboren. Sein Vater hieß Agricola, war zweimal gallischer Prätorianerpräfekt gewesen und bekleidete 421 das Konsulat. Avitus hatte eine Tochter, Papianilla, und zwei Söhne, Ecdicius und Agricola. Um 419/20 diente Avitus dem Heermeister und kurzzeitigen Kaiser Constantius III. und knüpfte erste Kontakte mit dem westgotischen Hof in Toulouse; sein Schwiegersohn war Sidonius Apollinaris, dem wir auch wichtige Nachrichten für diese Zeit und bezüglich des Avitus verdanken, so, dass die Vorbildung des Avitus juristisch geprägt war (civilia iura secutus). 430 und 435 war Avitus unter dem „Reichsfeldherrn“ (patricius) Flavius Aëtius tätig, bevor er 437 selbst das prestigeträchtige und einflussreiche Amt des Heermeisters für Gallien übernahm. Nach dieser Tätigkeit wurde er zwei Jahre später ungewöhnlicherweise Prätorianerpräfekt für Gallien – ungewöhnlich deshalb, weil die zivilen und militärischen Laufbahnen in der Spätantike eigentlich recht strikt voneinander getrennt waren. Obgleich Gallien zu dieser Zeit aufgrund der so genannten Völkerwanderung ständiges Krisen- und Kriegsgebiet war, war es für die weströmischen Kaiser nach dem Wegfall Britanniens und Nordafrikas sowie der weitgehenden Verwüstung Hispaniens das wichtigste Reichsgebiet neben Italien. Vor allem die gallischen Steuerzahlungen, die nun fast den gesamten weströmischen Staatshaushalt sicherten, waren extrem wichtig. Darum war die Präfektur, die Avitus besetzte und die für die Steuererhebung zuständig war, ein politisch besonders bedeutendes Amt. Avitus half dem faktischen Machthaber Aëtius, als dessen Parteigänger er gelten darf, dabei, die Kontrolle der Regierung in Ravenna über Gallien und Hispanien zu sichern. Avitus erzielte als Präfekt seinen ersten großen Erfolg, als er durch geschickte Verhandlungen 439 die marodierenden westgotischen Foederaten, die kurz zuvor römische Truppen, die sie angegriffen hatten, besiegt hatten, unter ihrem rex Theoderich I. trotz dem vorangegangenen Vertragsbruch zu einem neuen Bündnis überreden konnte. Nach diesem diplomatischen Erfolg zog sich Avitus, mittlerweile ein persönlicher Freund der westgotischen Herrscherfamilie, vorerst ins Privatleben zurück (um 440). Tätigkeit als Diplomat Erst über zehn Jahre später sind uns wieder politische Aktivitäten seinerseits überliefert, als er 451 auf Bitten des weströmischen Kaisers Valentinian III. und des Aëtius hin seine Kontakte nutzte und als Diplomat die Westgoten dazu brachte, sich einer militärischen Allianz gegen Atilla anzuschließen, der in die innerrömischen Machtkämpfe eingegriffen hatte und in Gallien einmarschiert war. Eigentlich bestanden zwischen Aëtius und den Westgoten Spannungen; Avitus aber meisterte diese Aufgabe, und Theoderich I. verbündete sich mit den ravennatischen Truppen unter Führung des Aëtius. Der Westgote führte selbst seine Armee in die berühmte Schlacht auf den Katalaunischen Feldern, in der er den rechten Flügel befehligte, aber dabei umkam. Im Herbst 454 erschlug Kaiser Valentinian III. eigenhändig den Aëtius, um sich von dessen Dominanz zu befreien, und im März 455 wurde der Kaiser selbst von Anhängern des Aëtius ermordet. Mit ihrer Hilfe wurde anschließend Petronius Maximus nach dem Tod von Valentinian Kaiser. Er versuchte, seine instabile Herrschaft abzusichern, und holte deshalb erfahrene Senatoren, die zu den Anhängern des Aëtius gezählt hatten, in die Politik zurück, darunter Avitus. Dieser wurde in den Rang eines patricius erhoben und sollte sich erneut diplomatisch mit den Westgoten beschäftigen, die das neue Regime militärisch stützen sollten. Zudem fühlten sich die Westgoten nach dem Tod Kaiser Valentinians, mit dem sie ihr Bündnis geschlossen hatten, offenbar nicht mehr an den Vertrag mit den Römern gebunden. Avitus' Schwiegersohn, der Dichter Sidonius Apollinaris, berichtet, nur durch die Vermittlung des Avitus, der sich unverzüglich zu den Goten begab, habe ein Krieg verhindert werden können. Doch nur kurz darauf überschlugen sich die Ereignisse: Petronius Maximus versuchte, vor den bei Rom gelandeten Vandalen sowie vor der Stadtbevölkerung, die ihn für den Mord an Valentinian III. verantwortlich machte und verachtete, zu fliehen, doch scheiterte dies; er wurde erkannt und am 31. Mai 455 getötet. Da Geiserich, der Anführer der Vandalen, keinen eigenen Kaiser erhob, folgte eine Thronvakanz. Der junge westgotische rex Theoderich II., der einst vielleicht sogar Latein bei Avitus gelernt hatte, drängte diesen nun angeblich dazu, sich zum Kaiser erheben zu lassen, und versprach die Unterstützung durch seine Krieger. Kaiserherrschaft Avitus zögerte nicht lange und nahm das Angebot an; denkbar ist durchaus, dass die Initiative ohnehin von ihm selbst ausgegangen war. Dieser Schritt war jedenfalls auch im Sinne einflussreicher Kreise der gallorömischen Senatsaristokratie, die so wieder stärkeren Einfluss auf die Reichspolitik gewinnen wollte. Auf die Aufforderung des westgotischen Königs hin wurde nun – was die Schwäche des Weströmischen Reichsteils verdeutlichte – in Beaucaire eine außerordentliche Sitzung des gallischen Konvents aus den römischen Notabeln der gesamten Präfektur einberufen, die Avitus am 9. Juli 455 ihr Einverständnis gab. Daraufhin wurde er von den römischen Truppen vor Ort zum Kaiser ausgerufen. Zustimmung kam auch aus der mittlerweile fast völlig verwüsteten Region Pannonien. Der oströmische Kaiser Markian verweigerte Avitus allerdings die Anerkennung. Zunächst schien die Herrschaft des Avitus abgesichert zu sein: Von Ostrom zumindest stillschweigend toleriert und von den Westgoten gestützt, glaubte er ausreichend Rückhalt zu haben. Er ernannte den Westgoten Remistus zum ersten Heermeister und patricius, also zum faktischen Regierungschef. Doch als er sich nach Italien begab, erkannte er, dass die Gegner seiner Parteiung heftig gegen ihn opponierten und ihn mit Verleumdungen angriffen. Die italischen Senatoren, die im 4. Jahrhundert ganz im Schatten der gallo-römischen Aristokratie gestanden hatten, waren seit etwa 30 Jahren wieder in den Vordergrund gerückt und waren nicht bereit, diese Rolle nun wieder an ihre gallischen Rivalen abzutreten. Die stadtrömische Bevölkerung stand ihm ebenso wie zuvor Petronius Maximus feindselig gegenüber. Zunächst jedoch drohte eine viel direktere Bedrohung durch die Vandalen, deren Kriegsflotte von rund 60 Schiffen das Tyrrhenische Meer unsicher machte und die Küsten der Italischen Halbinsel angriff. Ihr König Geiserich forderte die Einsetzung des Olybrius als neuen Westkaiser. Gleichzeitig wüteten die Sueben in Hispanien, und Pannonien fürchtete eine weitere Verwüstung. Avitus suchte unter dem Eindruck all dieser Gefahren eine arbeitsteilige Lösung zu erreichen: Er bat seinen Verbündeten Theoderich II. um Unterstützung in Spanien, der dort in kaiserlichem Auftrag 456 die Sueben vernichtend schlug, die in die Provinz Tarraconensis eingefallen waren, und wollte sich persönlich den Verhältnissen in Pannonien widmen. Um der maritimen Bedrohung durch Geiserich Herr zu werden, ernannte er einen im römischen Heer tätigen Offizier mit germanischen Wurzeln zum zweiten Heermeister für Italien: Flavius Ricimer. Als dieser bei Agrigent in Sizilien einen Seesieg über eine vandalische Flottenabteilung errang, konnte diese Bedrohung kurzzeitig eingedämmt werden. Abstieg und Ende Gleichzeitig war jedoch in Rom eine schwere Hungersnot ausgebrochen, da Geiserich die wichtigen Getreidelieferungen aus Nordafrika unterbrochen hatte. Avitus erkannte, dass die kostenlosen Getreidespenden des Staates (annona civica) unter diesen Bedingungen nicht mehr leistbar waren, zumal auch die bei Rom stationierten foederati im römischen Heer diese Leistungen beanspruchten. Der Kaiser entschied offenbar, diese Truppen zu entlassen, beging damit allerdings einen schwerwiegenden Fehler: Zur Finanzierung der Entlassungen ließ er zahlreiche Bronzestatuen in und um Rom einschmelzen, um aus ihnen Münzen auszuprägen, was die hungernden Bürger noch mehr gegen ihn aufbrachte. Die Senatoren glaubten zudem, Italien werde zugunsten Galliens ausgeplündert. Gleichzeitig verlor er mit der Entlassung der vorwiegend gotischen Soldaten ein wichtiges Druckmittel gegenüber der Stadtbevölkerung, die sich nun Ricimer zuwandte. Dieser war ohnehin nicht damit einverstanden, dass Avitus den größeren Teil jener Armee, die Italien zu schützen hatte, auflösen wollte. Er nutzte daher die Situation und schloss ein politisches Bündnis mit einigen Senatoren und dem comes domesticorum Iulius Valerius Maiorianus (Majorian), um Avitus zu entmachten. Majorian war bereits mit Petronius Maximus verfeindet gewesen; Remistus wurde von ihnen besiegt und getötet. Avitus versuchte daraufhin, sich nach Gallien zu begeben, wo sich seine Machtbasis befand. Nun stellte es sich aber als verhängnisvoll heraus, dass seine westgotischen Verbündeten gerade in Spanien kämpften und ihm daher nicht zur Hilfe kommen konnten. Am 26. Oktober 456 wurde Avitus mitsamt seinen verbliebenen Anhängern bei Piacenza gestellt; seine Truppen verloren die überaus blutige Schlacht, und er wurde zur Abdankung gezwungen. Die sich anschließende Weihe zum Bischof dieser Stadt vermochte Avitus aber nicht zu retten, denn er überlebte seine Entmachtung nur wenige Wochen und kam spätestens im Januar 457 ums Leben. Ob er eines natürlichen oder eines gewaltsamen Todes starb, möglicherweise auf Anstiften Ricimers hin, bleibt offen; Majorian wird in einigen Quellen ebenfalls dafür verantwortlich gemacht. Nach Gregor von Tours soll Avitus seine letzte Ruhestätte in Brioude gefunden haben. In Gallien weigerten sich viele seiner Anhänger zunächst, sich Majorian, der 457 selbst den Thron bestieg, anzuschließen, und mussten mit militärischer Gewalt zum Gehorsam gezwungen werden. Die Familie des Avitus wurde verschont (wahrscheinlich, um die gallorömische Aristokratie nicht weiter zu entfremden) und blieb in ihrer Heimat einflussreich. Avitus’ Sohn Ecdicius stieg unter Kaiser Iulius Nepos 474 sogar zum Heermeister in Gallien auf und kämpfte dort bis zu seiner Absetzung gegen die Goten. Auch Avitus' Schwiegersohn Sidonius Apollinaris blieb unbehelligt. Literatur Henning Börm: Westrom. Von Honorius bis Justinian (= Urban-Taschenbücher. Band 735). Kohlhammer, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-17-023276-1, S. 99–102. Alexander Demandt: Die Spätantike. Römische Geschichte von Diocletian bis Justinian 284–565 n. Chr. (= Handbuch der Altertumswissenschaft. Abt. 3, Tl. 6). 2., vollständig bearbeitete und erweiterte Auflage. Beck, München, 2007, ISBN 978-3-406-55993-8, S. 205–207. John Drinkwater, Hugh Elton (Hrsg.): Fifth-Century Gaul. A Crisis of Identity? Cambridge University Press, Cambridge u. a. 1992, ISBN 0-521-41485-7. Dirk Henning: Periclitans res Publica. Kaisertum und Eliten in der Krise des Weströmischen Reiches 454/5–493 n. Chr. (= Historia. Einzelschriften. Band 133). Steiner, Stuttgart 1999, ISBN 3-515-07485-6. Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien (260–640 n.Chr.) (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge, Band 8). Duncker & Humblot, Berlin 1987, S. 68 f. Ralph W. Mathisen: Sidonius on the Reign of Avitus: A Study in Political Prudence. In: Transactions of the American Philological Association. Band 109, 1979, , S. 165–171, . Ralph W. Mathisen: Avitus, Italy and the East in AD 455-456. In: Byzantion. Band 51, 1981, , S. 232–247. Ralph W. Mathisen: The Third Regnal Year of Eparchius Avitus. In: Classical Philology. Band 80, 1985, S. 326–335. Ernst Stein: Geschichte des spätrömischen Reiches. Band 1: Vom römischen zum byzantinischen Staate. (284–476 n. Chr.). Seidel, Wien 1928, S. 543–551. Weblinks Anmerkungen Weströmischer Heermeister Bischof (5. Jahrhundert) Galloromane Kaiser (Rom) Patricius (Westrom) Prätorianerpräfekt Gallorömischer Senatsadel Person (Piacenza) Geboren im 4. Jahrhundert Gestorben 457 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/LEG%20%E2%80%93%20Adler%20und%20Pfeil
LEG – Adler und Pfeil
Der Adler war die erste Lokomotive, die kommerziell erfolgreich im Personenverkehr und später auch im Güterverkehr in Deutschland fuhr. Er und seine Schwestermaschine Pfeil wurden als Dampfwagen geführt. Das Eisenbahnfahrzeug wurde 1835 von der 1823 gegründeten Firma Robert Stephenson and Company im englischen Newcastle konstruiert und gebaut und an die Königlich privilegierte Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft in Nürnberg (LEG) für den Betrieb auf ihrer Strecke zwischen Nürnberg und Fürth geliefert. Die offizielle Eröffnungsfahrt der Bahn fand, nach mehrmaliger Terminverschiebung (als erster Termin war der Geburtstag Ludwigs I. am 25. August geplant, ein weiterer am 24. November), schließlich am 7. Dezember 1835 statt. Der reguläre Betrieb wurde am 8. Dezember 1835 aufgenommen. Der Adler war eine Dampflokomotive der Bauart Patentee mit der Achsfolge 1A1 (Whyte-Notation: 2-2-2) und war mit einem Schlepptender der Bauart 2 T 2 ausgestattet. Geschichte Frühere deutsche Lokomotiven Der Adler gilt häufig als die erste Lokomotive einer Eisenbahn auf deutschem Boden. Allerdings wurde bereits 1816 von der Königlich Preußischen Eisengießerei zu Berlin ein betriebsfähiger Dampfwagen konstruiert. Die sogenannte Krigar-Lokomotive zog bei einer Probefahrt einen mit 8000 Pfund beladenen Wagen. Das Fahrzeug kam jedoch nie zu einem kommerziellen Einsatz. Der Adler war zweifellos die erste erfolgreiche Lokomotive in Deutschland, die regelmäßig eingesetzt wurde. Entstehung Als während der Konstruktion der von Georg Zacharias Platner gegründeten Ludwigsbahn eine geeignete Lokomotive gesucht wurde, ging die erste Anfrage über die Londoner Firma Suse und Libeth an die Lokomotivfabrik von Stephenson und an Braithwaite & Ericsson in England. Die Lokomotive sollte in der Lage sein, ein Gewicht von zehn Tonnen zu ziehen, außerdem die Strecke zwischen Nürnberg und Fürth in acht bis zehn Minuten zurückzulegen und mit Holzkohle beheizbar sein. Stephenson antwortete, dass eine Lokomotive derselben Bauart wie die der Liverpool and Manchester Railway mit vier Rädern und einem Gewicht von 7,5 bis 8 Tonnen geliefert werden könne. Eine leichtere Maschine würde nicht bei jeder Wetterlage die nötige Adhäsionskraft besitzen und wäre teurer als eine schwerere Maschine. Johannes Scharrer bat trotzdem am 16. Juni 1833 um einen Kostenvoranschlag für zwei Lokomotiven mit einem Gewicht von 6,5 Tonnen und nötigem Zubehör. Der Kostenvoranschlag von Stephenson vom 4. Juli 1833 hatte eine Höhe von 1.800 Pfund Sterling. Die deutsche Firma Holmes und Rolandson in Unterkochen bei Aalen machte ein Angebot für einen Dampfwagen mit zwei bis sechs PS für 4.500 Gulden. Diese Verhandlungen verzögerten sich jedoch und führten zu keinem brauchbaren Ergebnis, worauf sie abgebrochen wurden. Ein weiteres Angebot kam von Josef Reaullaux aus Eschweiler bei Aachen. Ende April hielten sich Platner und Mainberger aus Nürnberg in Neuwied bei Köln auf, um dort den Auftrag für die Schienen an die Firma Remy & Co. in Rasselstein zu erteilen. Remy & Co. war damals das einzige deutsche Werk, das seinerzeit Schienen in der geforderten Güte bezüglich Länge, gerade ausgerichtet, aus gewalztem Stahl und schräg abgeschnitten liefern konnte. Die nur 15 Fuß langen Schienen wurden dann aber gerade abgeschnitten geliefert, was von dem deutschen Konstrukteur Denis massiv bemängelt wurde und mussten teilweise noch gerichtet werden. Außerdem spielte ein möglicher hoher Einfuhrzoll und die nicht unerheblichen Frachtkosten bei einer eventuellen Bestellung in England mit, hier diesen Schritt zu wagen. Am 28. April reisten sie nach Köln weiter, um sich mit Platners Freund Konsul Bartls zu treffen. Dieser empfahl ihnen die belgische Maschinenbaufabrik Cockerill. Platner und Mainberger reisten dorthin nach Lüttich, mussten aber feststellen, dass Cockerill bis zu diesem Zeitpunkt noch keine einzige Lokomotive gebaut hatte. Sie erfuhren allerdings, dass Stephenson sich in Brüssel aufhalten würde. Sie erreichten Brüssel am 1. Mai und quartierten sich in dem Gasthof von Flandern ein. Dort wohnte auch Stephenson, der zu der Eröffnung der Eisenbahn von Brüssel nach Antwerpen am 5. Mai angereist war, mit mehreren Ingenieuren. Am 3. Mai 1835 kam es zu dem Abschluss eines Vorvertrages mit Stephenson, der eine Lokomotive der Bauart Patentee mit sechs Rädern mit einem Gewicht von sechs Tonnen für 750 bis 800 Pfund Sterling liefern sollte. Am 15. Mai 1835 wurde die neue Lokomotive bei der Lokomotivfabrik von Stephenson in Newcastle zu diesen Bedingungen bestellt. Darüber hinaus wurden ein Schlepptender und je ein Rahmen für einen Personen- und einen Güterwagen bestellt. Später stellte sich jedoch heraus, dass die Lokomotive entgegen den Vereinbarungen in Brüssel 900 Pfund Sterling kosten würde. Stephenson versprach ursprünglich in Brüssel eine Lieferung der Lokomotive bis Ende Juli nach Rotterdam. In Nürnberg und England wurde mit abweichenden Maßeinheiten gearbeitet. Das bayerische Fuß und das englische Fuß waren unterschiedlich. Die Spurweite wurde auf die der Stockton and Darlington Railway festgelegt, da Stephenson auf dem Maß von 4 englischen Fuß und 8,5 Zoll (1435 mm) beharrte. Die in Nürnberg bereits verlegten Gleise waren um 5/8 Zoll zu schmal. Der Abstand der Schienen musste entsprechend angepasst werden. Die Lieferung des Fahrzeugs mit allen Zubehörteilen nach Nürnberg zu einem Preis lt. Rechnung von 1140 Pfund Sterling, 19 Schilling und 3 Pence (entspricht Pfund in heutiger Kaufkraft) bestand aus über 100 Einzelteilen in 19 Kisten von 177 Zentnern Gewicht. Die Kisten wurden am 3. September 1835 verspätet auf dem Schiff Zoar von London nach Rotterdam verschifft. Der Frachtlohn von Rotterdam nach Köln betrug 700 Francs, von Köln bis Offenbach 507 Gulden und 9 Kreuzer und von Offenbach bis Nürnberg 653 Gulden und 11 Kreuzer. Das Direktorium der Bayerischen Ludwigsbahn suchte am 23. April 1835 um eine Befreiung vom Einfuhrzoll nach. Die Lokomotive wurde als ein Muster für ein bisher unbekanntes Produkt für die Fabriken möglicher Hersteller im Inland deklariert. Nach verschiedenen Schwierigkeiten genehmigte am 26. September 1835 das Finanzministerium die beantragte zollfreie Einfuhr mit dem Fabrikanten Johann Wilhelm Spaeth als Empfänger der Lieferung. Mit dem Schleppkahn van Hees des Schiffers van Hees, der von dem Dampfboot Hercules stromaufwärts geschleppt wurde, wurden die Transportkisten ab dem 23. September 1835 von Rotterdam auf dem Rhein nach Köln transportiert. Wegen Niedrigwasser des Rheins musste er sich ab Emmerich für den Weitertransport statt des Dampfbootes des Treidelns mit Zugpferden bedienen. Am 7. Oktober 1835 traf der Schleppzug in Köln ein. Der Rest der Strecke musste ab dem 13. Oktober 1835 mit Pferdefuhrwerken zurückgelegt werden, da der Main wegen Niedrigwasser nicht schiffbar war. Diese Reise an Land wurde durch einen Streik der Fuhrleute in Offenbach unterbrochen, der einen Wechsel des Spediteurs zur Folge hatte. Am 26. Oktober 1835 erreichte der Transport Nürnberg. In den Werkstätten der Maschinenfabrik von Johann Wilhelm Spaeth wurde die Dampflokomotive zusammengesetzt. Der Aufbau erfolgte unter Aufsicht des mitgereisten Ingenieurs und Lokomotivführers William Wilson und des Fachlehrers Bauer mit der Hilfe von örtlichen Zimmerleuten. Am 10. November 1835 äußerte das Direktorium der Bayerischen Ludwigsbahn die Hoffnung auf eine baldige Betriebsfähigkeit der Lokomotive. Die Lokomotive stand als Sinnbild für Kraft, Wagemut und Schnelligkeit. Die beiden von Stephenson gelieferten Wagengestelle stellten sich als zu schwer für die Verhältnisse in Nürnberg heraus. Denis ging dagegen bei seinen Planungen davon aus, dass die Wagen sowohl von Pferden als auch von der Dampflokomotive gezogen würden und hielt aus diesem Grund eine leichtere Bauart für erforderlich. Der Bau der Wagen wurde von mehreren Firmen durchgeführt, die Untergestelle wurden von Späth, Gemeiner und Manhard hergestellt. Die Aufbauten aus Holz lieferte der Wagnermeister Stahl aus Nürnberg. Wegen der starken Auslastung der genannten Firmen mit anderen Aufträgen wurden drei Wagengestelle und 16 Räder bei der Firma Stein in Lohr bei Aschaffenburg hergestellt. Denis drohte den beteiligten Firmen mit einer künftigen Auftragsvergabe nach England, wenn diese die Arbeiten nicht beschleunigten. Ende August 1835 wurde der erste Wagen fertiggestellt. In der zweiten Oktoberhälfte war die Fertigstellung der restlichen Wagen absehbar. Bis zur Eröffnung der Bayerischen Ludwigsbahn wurden neun Wagen hergestellt: zwei Wagen der dritten Wagenklasse, vier der zweiten und drei Wagen der ersten Klasse. Am 21. Oktober 1835 fand der erste öffentliche Fahrversuch mit einem von einem Pferd gezogenen Personenwagen und 23 Personen statt. Der Konstrukteur Denis hatte eine Bremse für die Wagen entwickelt, die bei dieser Gelegenheit getestet wurde. Der Wagen konnte in jeder Situation sicher zum Stehen gebracht werden. Am 16. November 1835 wurde die erste Probefahrt mit der Dampflokomotive von Nürnberg nach Fürth und zurück unter großer Anteilnahme der Bevölkerung durchgeführt. Wegen der herrschenden Kälte wurde mit gemäßigter Geschwindigkeit gefahren. Drei Tage später wurden bei einer weiteren Testfahrt fünf vollbesetzte Wagen in 12 bis 13 Minuten über die Strecke befördert. Auf der Rückfahrt erfolgten Bremsproben, und das Ein- und Aussteigen der Passagiere wurde geprobt. Darauf folgende tägliche Versuche zeigten unter anderem, dass bei der Verwendung von Holz als Heizmaterial durch Funkenflug die Kleider von mehreren Passagieren versengt wurden. Die Teilnahme an einer Probefahrt kostete 36 Kreuzer, der Erlös wurde der Fürsorge für Arme zugeführt. Konstruktion und Aufbau Lokomotive Der Adler war auf einem mit Blech beschlagenen Rahmen aus Holz aufgebaut. Die beiden innenliegenden, mit Nassdampf betriebenen waagerechten Zylinder trieben die in der Mitte liegende Treibachse an. Die Treibräder besaßen keinen Spurkranz, um enge Kurvenradien befahren zu können. Die geschmiedeten Radspeichen waren mit dem Radkranz vernietet. Die ursprünglichen Räder bestanden aus Gusseisen und waren mit einem geschmiedeten Radreifen umgeben. Sie wurden später durch stabilere Räder aus Schmiedeeisen ersetzt. Die hohlen Speichen enthielten einen Kern aus Holz, um Unebenheiten besser abzufedern. Alle Räder der Lokomotive waren ungebremst. Eine Spindelbremse wirkte auf die beiden auf der rechten Seite des Heizers liegenden Räder des Tenders. Die Verbindung zwischen Lokomotive und Tender war starr. Die Puffer waren aus Holz. Der hufeisenförmige Wasserkasten umfasste den Kohlenvorrat des Tenders. Als Brennmaterial wurde zunächst Koks und später Steinkohle benutzt. Wagen Die Personenwagen hatten beim Kutschenbau verwendete Kutschenkästen, die auf ein Fahrgestell aus Eisen montiert waren. Der zweiachsige Coupé-Wagen mit drei hintereinandergesetzten einzelnen voneinander getrennten Abteilen bildete das Grundprinzip der ersten deutschen Eisenbahnwagen. Spezielle Fahrgestelle für Personenwagen wurden erst 1842 bei der Great Western Railway entwickelt. Sämtliche Wagen waren in der Farbe Gelb der Postkutschen lackiert. Die Wagen der dritten Wagenklasse besaßen ursprünglich kein Dach, drei Abteile mit acht bis zehn Sitzplätzen, die Einstiege hatten keine Türen. Die Wagen der zweiten Wagenklasse waren demgegenüber mit einem Segeltuchdach ausgestattet und hatten Türen, vor den unverglasten Fenstern waren Vorhänge aus Seide, später aus Leder angebracht. Bei gleicher Breite der Wagen war die Anzahl der Sitzplätze bei den teureren Klassen pro Reihe jeweils um einen reduziert. Die Wagen der ersten Wagenklasse waren mit einem kostbaren blauen Tuch ausgeschlagen, mit Fensterscheiben aus Glas versehen, die Türgriffe waren vergoldet und alle Beschläge aus Messing gefertigt. Der heute noch erhaltene Wagen Nr. 8 der 2. Wagenklasse ist im Verkehrsmuseum Nürnberg ausgestellt. Betrieb und Ausmusterung Am 7. Dezember 1835 fuhr der Adler erstmals offiziell die Strecke von 6,05 Kilometern in neun Minuten – mit 200 Ehrengästen sowie dem 26-jährigen Engländer William Wilson auf dem Führerstand. Im Abstand von jeweils zwei Stunden wurden zwei weitere Probefahrten durchgeführt. Die Lokomotive verkehrte mit bis zu neun Wagen mit maximal 192 Fahrgästen. Im normalen Betrieb wurden die Fahrten mit maximal 28 km/h durchgeführt, um die Lok zu schonen. Die normale Fahrzeit betrug etwa 14 Minuten. Demonstrationsfahrten ohne Wagen durften mit bis zu 65 km/h durchgeführt werden. In den meisten Fällen ersetzten allerdings noch Pferde als Zugtiere die Dampfmaschine. Wegen des noch hohen Preises der Kohle wurde der überwiegende Teil der Fahrten auf der Ludwigsbahn mit Pferdebahnen durchgeführt. Gütertransporte wurden zusätzlich zum Personenverkehr erst ab 1839 durchgeführt. Zu den ersten Transportgütern zählten Bierfässer und Vieh. 1845 fand bereits ein reger Güterverkehr statt. Der Adler musste nach elf Betriebsjahren grundlegend überholt und instand gesetzt werden, ebenso wurde der Pfeil saniert. Wie im Bericht des Direktoriums vermerkt, legten diese Maschinen in 11 resp. 10 Jahren 32.168 Fahrten mit mehr als 2½ Millionen Personen zurück, folglich eine Strecke von ca. 64.000 Meilen (103.000 km), ohne einen Nachlass ihrer Kräfte zu zeigen. Nach 22 Betriebsjahren wurde die Lokomotive ausgemustert. Sie war mit der Schwesterlokomotive Pfeil (er wurde schon 1853 verkauft) inzwischen die kleinste und schwächste Lokomotive auf dem europäischen Kontinent. Darüber hinaus war der Kohleverbrauch neuerer Dampflokomotiven inzwischen deutlich geringer geworden. Die Lokomotive wurde anschließend in Nürnberg als stationäre Dampfmaschine genutzt. 1857 verkaufte die Bahngesellschaft die Lokomotive mit dem Tender, aber ohne Räder und andere Anbauteile, an den Augsburger Ludwig August Riedinger. Die Überreste vom Adler gelten seither als verschollen. Der Geschäftsbericht der Ludwigseisenbahn-Gesellschaft (LEG) im Jahr 1857 vermeldet hierzu: Die vermutlich einzige Fotografie, die den Adler im Jahr 1851 oder 1856 zeigt, befindet sich im Besitz des Nürnberger Stadtarchivs. Allerdings ist weder das Alter der Fotografie eindeutig belegt, noch ob das Bild die Original-Lokomotive oder nur ein Modell zeigt. Nachbauten Betriebsfähiger Nachbau von 1935 Im Zusammenhang mit der Errichtung des Verkehrsmuseums Nürnberg wurde 1925 geplant, den Adler zu rekonstruieren. Exakte Pläne existierten jedoch nicht mehr. Lediglich ein Stich aus der Zeit der Original-Lokomotive gab Informationen. 1929 beendete die Weltwirtschaftskrise dieses Vorhaben. Zum 100-Jahr-Jubiläum der Eisenbahn in Deutschland 1935 wurde ab 1933 von der Deutschen Reichsbahn im Ausbesserungswerk Kaiserslautern ein weitgehend originalgetreuer Nachbau erstellt. Die ursprüngliche Überlegung des Generaldirektors der Reichsbahn Dorpmüller und seines Stabs war, den Adler als Propagandainstrument der so genannten „neuen Zeit“ in der Stadt der Reichsparteitage (Nürnberg) zu benutzen. Geplant wurde, den Adler den Lokomotivgiganten wie der Baureihe 05 gegenüberzustellen. Für die Verwirklichung des Nachbaus konnte auf die Planungen von 1925 zurückgegriffen werden. Neben abweichenden technischen Daten unterschied sich der Nachbau vom Original vor allem durch dickere Kesselwände, zusätzliche Querverstrebungen und Speichenräder aus Stahl. Der Nachbau erreichte bei Probefahrten auf einer 81 Kilometer langen Strecke eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 33,7 km/h. Die Strecke wies Neigungen zwischen 1:110 und 1:140 auf. Vom 14. Juli bis zum 13. Oktober 1935 konnten Besucher mit dem rekonstruierten Adler-Zug auf einer Strecke von 2 km um das Gelände der Jubiläumsausstellung in Nürnberg fahren. Auf dem Führerstand fuhren unter anderem der Reichsbahn-Generaldirektor Julius Dorpmüller und der Gauleiter Frankens Julius Streicher mit. Der Adler-Nachbau fuhr danach noch 1936 beim Cannstatter Wasen in Stuttgart und bei den Olympischen Spielen in Berlin. Beim 100-Jahr-Jubiläum der ersten preußischen Eisenbahn 1938 verkehrte der Adler-Zug zwischen Berlin und Potsdam. Danach kam er in das Verkehrsmuseum Nürnberg. Der Nachbau wurde genau wie das Original als Dampfwagen geführt. Durch diese Einstufung war er nicht vom Dampflokverbot betroffen (er stand zu dieser Zeit allerdings und danach nicht betriebsfähig im Adlersaal im Verkehrsmuseum Nürnberg) und seinem Einsatz zum 150-jährigen Jubiläum 1985 stand somit nichts Bürokratisches im Wege. 1950 wurde der Adler-Zug bei einem Festzug zur 900-Jahr-Feier von Nürnberg auf einem Straßenroller durch die Stadt gefahren. Zur 125-Jahr-Feier der Deutschen Eisenbahnen 1960 wurde der Zug auf der Strecke der Nürnberg-Fürther Straßenbahn zwischen dem Plärrer in Nürnberg und dem Hauptbahnhof Fürth eingesetzt. Die Innenseiten der Räder mussten für die Fahrt auf Straßenbahngleisen abgedreht werden. 1984 wurde er zur 150-Jahr-Feier der Deutschen Eisenbahnen von der Deutschen Bundesbahn im Ausbesserungswerk Offenburg instand gesetzt. Dabei mussten unter anderem die 1960 für die Fahrt auf Straßenbahngleisen abgedrehten Radinnenseiten wieder aufgeschweißt werden. Der Dampfkessel wurde nach den aktuellen Sicherheitsbestimmungen überprüft. Der Adler nahm an der großen Jubiläumsausstellung in Nürnberg und an zahlreichen Veranstaltungen im damaligen Bundesgebiet wie zum Beispiel in Hamburg, Konstanz und München teil. Am 22. Mai 1984 wurden Publikumsfahrten zwischen dem Hauptbahnhof Nürnberg und Nürnberg Ost angeboten. Die Lokomotive wurde zwischen Ende 1985 und 1999 nicht betrieben. Für die 1999 geplanten Fahrten waren mehrmonatige Restaurierungsarbeiten erforderlich. Am 16. September 1999 erteilte das Eisenbahn-Bundesamt die Betriebsgenehmigung. 1999 fuhr zur 100-Jahrfeier des ehem. Königlich Bayerischen Eisenbahnmuseums und des Verkehrsmuseums Nürnberg als dessen Nachfolger der Adler-Zug an drei Sonntagen im Oktober und nahm an der Großen Fahrzeugparade im Rangierbahnhof Nürnberg teil. In den Folgejahren wurde der Adler-Nachbau bei mehreren Nostalgiefahrten in Deutschland eingesetzt. Er stand bis 2005 im Verkehrsmuseum Nürnberg. Bei einem Brand im Depot des Verkehrsmuseums (Ringlokschuppen des Bahnbetriebswerks Nürnberg West) am 17. Oktober 2005, in dem sich 24 Lokomotiven befanden, wurde u. a. der – bis zuletzt fahrtüchtige – Nachbau des Adlers schwer beschädigt. Der Vorstand der DB beschloss, ihn wieder instand setzen zu lassen. Das Wrack wurde am 7. November in vierstündiger Arbeit von einem Bergungstrupp der Preßnitztalbahn mit einem Autokran aus den Trümmern des Lokschuppens gehoben und anschließend mit einem Spezialtieflader zum Dampflokwerk Meiningen gebracht. Es zeigte sich, dass zumindest der Kessel dank der Befüllung mit Wasser relativ unbeschädigt geblieben war, obwohl seine komplette Holzverkleidung verbrannt und viele Bleche geschmolzen waren. Er konnte daher für den Wiederaufbau von 2007 verwendet werden. Betriebsfähige Rekonstruktion von 2007 Die Rekonstruktion des 2005 beschädigten Adlers lief Mitte April 2007 an und war im Oktober 2007 abgeschlossen. Der mit Metall verkleidete Holzrahmen war so stark beschädigt, dass er komplett neu gebaut werden musste. Ein Wagen der dritten Klasse, der an einem anderen Ort ausgestellt war und dadurch den Brand unbeschadet überstand, diente als Vorlage für die neuen kutschenähnlichen Wagen, die von einer Schreinerei in Meiningen gefertigt wurden. Die Kosten beliefen sich auf etwa eine Million Euro, davon konnten 200.000 Euro aus Spenden der Bevölkerung aufgebracht werden. Der Direktor des DB-Museums Nürnberg stellte vor Beginn der Rekonstruktion klar, dass die Wiederaufarbeitung mit allen verbrannten Details ausgeführt werden würde, und erklärte, es würden keine Kompromisse gemacht. Es wurde sogar noch präziser nach historischen Zeichnungen gearbeitet, so wurde beispielsweise der ebenfalls beim Brand beschädigte Schornstein nicht in der beim Nachbau von 1935 abweichenden, sondern in der ursprünglichen Form angefertigt. Ein Problem stellte die als Kurbelwelle ausgebildete, einteilige Treibachse der Lok dar, sie konnte nicht im Dampflokwerk Meiningen geschmiedet werden. Mit dieser Arbeit wurden die Sächsischen Schmiedewerke in Gröditz beauftragt, die die Schmiedearbeiten an der Kurbelwelle und den Radreifen durchführen konnten. Das anschließende Abdrehen wurde von der Gröditzer Kurbelwelle Wildau GmbH durchgeführt. Für den Rahmen der Lokomotive wurde acht bis zwölf Jahre abgelagertes Eschen-Holz verwendet, das elastisch genug ist, die Erschütterungen durch die Kraftübertragung während der Fahrt auszuhalten. Der Unterbau des Tenders wurde aus hartem Eichenholz gefertigt. Seit dem 23. November 2007 befindet sich der wiederhergestellte „alte“ Adler mit einem alten (1935) und zwei neuen (2007) dazugehörigen Personenwagen der dritten Wagenklasse wieder im DB-Museum in Nürnberg. Im dortigen Stammhaus haben der nur rollfähige Adler von 1950 sowie der originale, 1835 gebaute und 1838 und 1846 umgebaute, Personenwagen der zweiten Wagenklasse Nr. 8 der Ludwigsbahn, der der Konservierung halber nicht mehr auf die Schienen gestellt wird, ihren Platz. Am 26. April 2008 fuhr der Nachbau erstmals wieder zwischen Nürnberg und Fürth. Im Mai folgten Sonderfahrten in Nürnberg, Koblenz und in Halle an der Saale. Im April 2010 wurden im Rahmen des 175-Jahr-Jubiläums der Eisenbahn in Deutschland auf dem Gelände des DB Museums in Koblenz-Lützel Fahrten mit Besuchern durchgeführt. Im Mai und Juni 2010 fanden Fahrten zwischen Nürnberg Hauptbahnhof und Fürth Hauptbahnhof statt. Seit 2013 ist auch der betriebsfähige Adler im Nürnberger DB-Museum zu besichtigen, er steht in der Fahrzeughalle II abgestellt. Der Schlepptender und die drei Personenwagen des Adler-Zuges gehören zu den letzten in Deutschland noch per Handkurbel gebremsten Eisenbahnfahrzeugen. Nicht betriebsfähiger Nachbau aus den 1950er Jahren Ein weiteres Exemplar, das im Gegensatz zum Nachbau von 1935 nicht betriebsfähig ist, wurde in den 1950er Jahren im Auftrag des Werbeamts der Deutschen Bundesbahn im Ausbesserungswerk München-Freimann erstellt. Dieser Nachbau diente der Öffentlichkeitsarbeit auf Ausstellungen und Messen. Er steht ebenfalls im DB Museum Nürnberg. Sonstige Nachbauten Motorbetriebener Nachbau im Tiergarten Nürnberg Seit 1964 fährt auf der Tiergartenbahn Nürnberg ein dieselbetriebener Nachbau im Maßstab 1:2. Er wurde 1963/1964 von der Lehrlingswerkstatt der MAN gefertigt. Die Bahn startete in der Nähe des Eingangs und pendelte zum Kinderzoo. Im Zuge des Neubaus der Delfinbecken musste diese Strecke 2008 stillgelegt werden. Zwischenzeitlich wurde eine Erweiterung bzw. Verlegung der Strecke realisiert. Sie führt entlang des Giraffengeheges unterhalb der Delfinlagune vorbei bis hin zum Kinderzoo und hat eine Länge von gut einem Kilometer. Nach einer gut dreijährigen Pause steht die Bahn seit 31. März 2012 wieder der Öffentlichkeit zur Verfügung. Dieselmotorbetriebener Nachbau der Görlitzer Parkeisenbahn Bei der Görlitzer Parkeisenbahn verkehrt ein Nachbau mit einer Spurweite von 600 mm. Bei diesem Nachbau handelt es sich um eine Diesellokomotive. TV-Requisit und Werbeobjekt Für die TV-Miniserie Der eiserne Weg anlässlich der 150-Jahre-Deutsche-Eisenbahnen-Feier im Jahr 1985 entstand für die Dreharbeiten ein fahrbarer Nachbau. Der Dampf wurde dabei chemisch erzeugt, für den Antrieb sorgte der im Tender verkleidete Vorderwagen eines Renault 5. Im Rahmen des Stadtjubiläums 1000 Jahre Fürth wurde ein Bus mit dem Adler verziert, er machte Werbung für eine Ausstellung, bei der Spenden für den Wiederaufbau gesammelt wurden. Lokomotive Adler auf deutschen Briefmarken und Münzen In den Briefmarken-Jahrgängen der Reichspost 1935, der Bundespost 1960 und der Deutschen Post 1960 sowie der Bundespost 1985 wurde der Adler zu den Jubiläen „100“, „125“ und „150 Jahre Deutsche Eisenbahn“ gewürdigt. Zum 175. Jahrestag erschien am 11. November 2010 erneut eine Sonderbriefmarke der Deutschen Post AG im Wert von 55 Eurocent mit diesem Motiv und auch eine 10-Euro-Silber-Gedenkmünze der Prägestätte München (D) mit der Randinschrift: Auf Vereinten Gleisen 1835 – 2010. Siehe auch Geschichte der Eisenbahn in Deutschland Arend (Lokomotive) KFNB – Adler und Pfeil Literatur Stephan Deutinger: Bayerns Weg zur Eisenbahn. Joseph von Baader und die Frühzeit der Eisenbahn in Bayern 1800 bis 1835. EOS, St. Ottilien 1997, ISBN 3-88096-885-3 (= Forschungen zur Landes- und Regionalgeschichte. Band 1, zugleich Magisterarbeit an der Universität München 1995). DB Museum Nürnberg, Jürgen Franzke (Hrsg.): Der Adler – Deutschlands berühmteste Lokomotive (Objektgeschichten aus dem DB Museum, Band 2). Tümmel, Nürnberg 2011, ISBN 978-3-940594-23-5. Colin Garratt, Max Wade-Matthews: Dampf. Die große Enzyklopädie der schönsten Dampfeisenbahnen der Welt. Eurobooks Cyprus Limited, Limassol 2000, ISBN 3-89815-076-3. Markus Hehl: Der „Adler“ – Deutschlands erste Dampflokomotive. Weltbild, Augsburg 2008. Peter Heigl: Adler – Stationen einer Lokomotive im Laufe dreier Jahrhunderte. Buch & Kunstverlag Oberpfalz, Amberg 2009, ISBN 978-3-935719-55-1. Peter Herring: Die Geschichte der Eisenbahn. Coventgarden bei Doring Kindersley, München 2001, ISBN 3-8310-9001-7. Brian Hollingsworth, Arthur Cook: Das Handbuch der Lokomotiven. Bechtermünz/Weltbild, Augsburg 1996, ISBN 3-86047-138-4. Wolfgang Mück: Deutschlands erste Eisenbahn mit Dampfkraft. Die kgl. priv. Ludwigseisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth. 2. neubearbeitete Auflage, Fürth 1985, S. 115–126. In: Fürther Beiträge zur Geschichts- und Heimatkunde. Heft 3, zugleich Dissertation an der Universität Würzburg 1968. Georg Rebenstein: Stephenson’s Locomotive auf der Ludwigs-Eisenbahn von Nuernberg nach Fuerth. Nürnberg 1836. Eberhard Urban: 175 Jahre Deutsche Eisenbahn. Vom Adler 1835 zum ICE heute. Podszun, Brilon 2010, ISBN 978-3-86133-556-6. Weblinks Die erste Lok in Deutschland – der Adler. deutschebahn.com Video „Große Fahrzeugparade Nürnberg Oktober 1999“ auf youtube.com Szenenbild von der Eröffnung der ersten deutschen Eisenbahn auf der Strecke Nürnberg - Fürth, Original im Verkehrsmuseum Nürnberg auf deutsche-digitale-bibliothek.de Nürnberg-Fürther Eisenbahn. In: H. Reuße: Die deutschen Eisenbahnen, in Beziehung auf Geschichte, Technik und Betrieb, Cassel 1844; auf digitale-sammlungen.de Der Adler vom 7. Dezember 1835. Grafik auf deutsche-digitale-bibliothek.de. Zwischen Nürnberg und Fürth 1960: 125 Jahre Deutsche Eisenbahn Fernsehreportage des Bayerischen Rundfunks (BR) von 1960 Einzelnachweise Dampflokomotive Achsfolge 1A1 Triebfahrzeug (Ludwigseisenbahn) Schienenverkehr (Fürth) Schienenverkehr (Nürnberg) Schienenfahrzeug (Robert Stephenson) Einzellokomotive Verkehrsmuseum Nürnberg
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https://de.wikipedia.org/wiki/Agatha%20Christie
Agatha Christie
Dame Agatha Mary Clarissa Christie, Lady Mallowan, DBE [] (* 15. September 1890 in Torquay, Grafschaft Devon; † 12. Januar 1976 in Wallingford, gebürtig Agatha Mary Clarissa Miller) war eine britische Schriftstellerin. Die verkaufte Weltauflage ihrer Bücher soll über zwei Milliarden betragen, womit sie zu den erfolgreichsten Autoren der Literaturgeschichte zählt. Bekannt wurde sie vor allem durch eine große Anzahl von Kriminalromanen und Kurzgeschichten, die auch mehrfach mit großem Erfolg für Kino und Fernsehen verfilmt sowie für die Bühne adaptiert wurden. Ihre berühmtesten Schöpfungen sind der belgische Detektiv Hercule Poirot mit seinem Freund Arthur Hastings sowie die altjüngferliche Miss Marple. Daneben gibt es andere wiederkehrende Figuren wie das Ehepaar Tommy und Tuppence Beresford oder Inspektor Battle, Sir Henry Clithering oder die Krimi-Autorin Mrs. Ariadne Oliver. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit unterstützte Christie ihren zweiten Ehemann, den Archäologen Max Mallowan, bei seinen Ausgrabungen im Nordirak und in Syrien, insbesondere bei der Restaurierung prähistorischer Keramiken und der Fotodokumentation der Funde. Sie trug maßgeblich zur Finanzierung dieser Expeditionen bei. Leben Kindheit und Jugend Agatha Mary Clarissa Miller kam als jüngstes Kind des Amerikaners Frederick Alvah Miller und dessen englischer Ehefrau Clarissa Boehmer zur Welt und wuchs in der viktorianischen Villa Ashfield in Torquay auf. Sie hatte zwei Geschwister, Margaret Watts und Louis Montant Miller. Agatha wurde bis zu ihrem 16. Lebensjahr nicht in einer Schule, sondern von ihrer Mutter unterrichtet, die früh ihr schriftstellerisches Talent erkannte. Mit elf Jahren veröffentlichte sie ein erstes Gedicht in einem Lokalblatt. Ihr Vater erzielte sein Einkommen aus Geschäften in Übersee, über die nichts Näheres bekannt ist, die der Familie aber ein Leben in Wohlstand ermöglichten. Agatha Christie selber erwähnt in ihrer Autobiografie andeutungsweise Immobilien in New York und in Trusts angelegtes Vermögen, aus dessen Zinseinkünften die Familie Miller lebte. Dabei kam es jedoch zu Veruntreuungen durch die amerikanischen Vermögensverwalter, wodurch die Familie Miller in finanzielle Schieflage geriet. Wie damals allgemein üblich, wurde das eigene Haus für den Sommer an Gäste vermietet, während die Familie Miller die Zeit in Pau und Cauterets bzw. auf den Kanalinseln verbrachte. Frederick Alvah Miller starb 1901, Agatha war damals elf Jahre alt. Clarissa Margaret Miller zog ihre Kinder nun allein groß und bemühte sich, sie die durch den Tod des Vaters noch weiter verschärfte finanzielle Situation so wenig wie möglich spüren zu lassen. Ihr zunächst begonnenes Musikstudium in Paris gab Agatha Miller mit Beginn des Ersten Weltkriegs auf und arbeitete als Krankenschwester (Voluntary Aid Detachment) beim Britischen Roten Kreuz im örtlichen Krankenhaus, später in einer Apotheke. In dieser Zeit sammelte sie viele Erfahrungen über giftige Mittel und Stoffe, die später in ihren Werken eine Rolle spielten. 1914 heiratete sie Oberst Archibald Christie, einen Flieger der königlichen Luftwaffe. Mit ihm hatte sie eine Tochter, Rosalind Margaret Clarissa Christie, die am 5. August 1919 geboren wurde. 1920er Jahre 1920 erschien ihr erster Kriminalroman: Das fehlende Glied in der Kette () mit dem belgischen Detektiv Hercule Poirot zunächst in den USA, dann in England. Schlagartig berühmt wurde Christie mit dem 1926 veröffentlichten Werk Alibi (englisch The Murder of Roger Ackroyd). Privat verliefen die 1920er Jahre eher unglücklich: Ihr Mann ließ sie berufsbedingt häufig allein, 1926 starb ihre Mutter – ein Ereignis, das sie stark mitnahm; außerdem musste Ashfield geräumt werden. Christie erschöpfte diese Situation. Im August 1926 gestand ihr Mann ihr die Affäre mit seiner Golfpartnerin Nancy Neele. Trotz mehrerer Versöhnungsversuche entzweite sich das Ehepaar danach immer mehr. Nach einem heftigen Streit am 3. Dezember 1926 verließ Agatha Christie das Haus. Ihr Auto wurde wenige Tage später verlassen an einem See gefunden. Die Suchmeldung der Polizei von Berkshire vom 9. Dezember 1926 zeigte ein Foto der Vermissten und lautete (aus dem Englischen übersetzt): Nach einer spektakulären Suchaktion, über die auch die New York Times berichtete und an der sich auch Arthur Conan Doyle beteiligte, fand man die Schriftstellerin zehn Tage nach ihrem Verschwinden in einem Hotel in Harrogate, wo sie unter dem Namen der Geliebten ihres Mannes als Mrs. Neele abgestiegen war. In der Folge beschäftigte die Frage der Kosten der Suchaktion auch das britische Parlament. Ihre Familie verbreitete die Darstellung, dass sie einen fast vollständigen Gedächtnisverlust für diese Tage erlitten habe. Agatha Christie selbst äußerte sich nie über ihre Beweggründe, auch nicht in ihren Memoiren. 1928 wurde ihre Ehe mit Archibald Christie geschieden. Die Geschichte um das Verschwinden von Agatha Christie wurde 1979 von Regisseur Michael Apted filmisch umgesetzt in Das Geheimnis der Agatha Christie (englisch Agatha), mit Vanessa Redgrave in der Hauptrolle. Ein weiterer Film, der das Verschwinden fiktiv darstellt, ist Agatha und die Wahrheit des Verbrechens (2018). 1930er Jahre Um sich von den Strapazen der vergangenen Jahre zu erholen, entschied sie sich relativ spontan im Herbst des Jahres 1928 zu einer ausgedehnten Reise in den Nahen Osten und reiste mit dem Orient-Express nach Bagdad. Diese Spontanentscheidung (eigentlich hatte sie an die Karibik als Reiseziel gedacht) sollte das Leben Agatha Christies maßgeblich verändern und großen Einfluss auf ihr schriftstellerisches Werk ausüben. Es war nicht ihre erste Begegnung mit dem Nahen Osten, denn bereits als junge Frau war sie mit ihrer Mutter in Kairo gewesen. Von Bagdad aus reiste sie weiter nach Ur, wo der Archäologe Leonard Woolley mit Ausgrabungen beschäftigt war, die seinerzeit in England starkes Aufsehen erregten. Er und seine Frau Katharine Woolley empfingen die Berühmtheit Agatha Christie hocherfreut; sie blieb längere Zeit beim Grabungsteam und freundete sich mit den Woolleys an. Später widmete sie ihnen die Kurzgeschichtensammlung Der Dienstagabend-Klub. Das Ehepaar Woolley stand auch Modell für die Hauptfiguren des Romans Mord in Mesopotamien, wobei Agatha Christie den Woolleys einige sehr unsympathische Charakterzüge hinzufügte. Als sie nach London zurückkehrte, tat sie dies mit einer Einladung von Katharine Woolley im Gepäck, im Frühjahr 1930 nach Mesopotamien zurückzukehren. Während dieses zweiten Aufenthalts in Ur lernte sie auch den 14 Jahre jüngeren Archäologen Max Mallowan kennen, der als Grabungsassistent bei Woolley arbeitete und bei ihrem ersten Besuch wegen einer Blinddarmentzündung abwesend gewesen war. Mallowan wurde nunmehr von den Woolleys „abkommandiert“, Christie die Ausgrabungen und die Gegend zu zeigen. Bei dieser Gelegenheit verliebten sich die beiden. Agatha Christie musste sehr bald (noch im Frühjahr 1930) wegen einer Erkrankung ihrer Tochter nach England zurückkehren, Max Mallowan begleitete sie auf dieser Rückfahrt bereits. Zögerlich nahm Agatha schließlich den Heiratsantrag des 14 Jahre jüngeren Mallowan an und sie heirateten am 11. September 1930 in Edinburgh. 1930 hatte im Roman Mord im Pfarrhaus (englisch The Murder at the Vicarage) eine neue Detektivin ihren ersten Auftritt: Die altjüngferliche Miss Marple, die noch in zwölf weiteren Kriminalromanen und einigen Kurzgeschichten Christies die Hauptrolle übernehmen sollte. Viele der zahlreichen Romane, die in den Jahren bis 1958 entstanden, schrieb Christie während der archäologischen Expeditionen mit ihrem Mann im Nordirak und in Nordsyrien. Ihre Erlebnisse auf einer der Expeditionen schildert sie in Erinnerung an glückliche Tage (englisch Come, tell me how you live). Späte Karriere Von den existenzbedrohenden Ereignissen nach der Trennung von ihrem ersten Mann geprägt, schrieb Christie in den 1940er-Jahren zwei Kriminalromane, die sie für die spätere Veröffentlichung zurückhielt. Vorhang, Hercule Poirots letzten Fall, bereitete sie zur Veröffentlichung vor, als sich abzeichnete, dass sie keinen weiteren Roman mehr würde schreiben können. Er erschien kurz vor ihrem Tod, und es ist in der Tat Poirots letzter Fall, da er am Ende der Ermittlungen stirbt. Poirot war aber Agatha Christies Haupteinnahmequelle, und so war es nötig, dass er bis zum Erscheinen von Vorhang noch einige andere Fälle löste. Ruhe unsanft (englisch Sleeping murder), mit Miss Marple als Detektivin, war der zweite von Christie zurückgehaltene Roman und erschien erst nach ihrem Tod. Im März 1949 wurde ihr Kriminalroman Das krumme Haus veröffentlicht. 1970 erschien zu ihrem 80. Geburtstag der für Christie atypische Roman Passagier nach Frankfurt, in dem es um eine Weltverschwörung von Neonazis geht. Das umstrittene Buch wurde erst 2008 ins Deutsche übersetzt. 1971 wurde Agatha Christie von Königin Elisabeth II. als Dame Commander in den Orden des Britischen Empire aufgenommen und dadurch in den persönlichen Adelsstand erhoben. Ihren letzten Roman Alter schützt vor Scharfsinn nicht schrieb sie zwischen 1973 und 1974. Am 12. Januar 1976 starb Agatha Christie im Alter von 85 Jahren in Winterbrook House im Ort Wallingford, Grafschaft Oxfordshire, an einem Schlaganfall. Ihr Grab befindet sich auf dem nahegelegenen Friedhof St Mary’s in Cholsey. 1977 erschien postum Christies Autobiografie Meine gute alte Zeit (englisch An Autobiography), die größtenteils in den Jahren 1950 bis 1965 entstanden war, eine Erinnerung an Dinge, die Agatha Christie wichtig gewesen sind, mit Schwerpunkt auf ihrer Kindheit. Ergänzend zu ihrer Autobiografie kann die Biografie von Janet Morgan herangezogen werden. Agatha Christies Tochter Rosalind Hicks bat Morgan, eine autorisierte Biografie ihrer Mutter zu verfassen. Durch umfangreiches Quellenstudium und Befragung von Christies Freunden entstand eine detaillierte Schilderung ihres Lebens. Werk Karriere als Schriftstellerin Insgesamt schrieb Agatha Christie 66 Kriminalromane, aber auch Kurzgeschichten und Bühnenwerke. Gängige Schätzungen, nach Angaben der Erben und der Verlage, gehen von einer verkauften Gesamtauflage von über zwei Milliarden Büchern weltweit aus. Dem Index Translationum der UNESCO zufolge belegt sie mit großem Abstand Platz 1 auf der Liste der meistübersetzten Autoren. Sie gilt als die erfolgreichste Kriminalschriftstellerin der Welt. Wegen dieses Erfolges nennt man sie auch die Queen of Crime (dt. Königin des Verbrechens). Ihre berühmtesten Schöpfungen sind der belgische Detektiv Hercule Poirot und die altjüngferliche Hobbydetektivin Miss Marple. Weniger bekannt ist das Ermittlerduo Tommy und Tuppence Beresford, denen sie vier Romane und eine Kurzgeschichtensammlung widmete. Unter dem Pseudonym Mary Westmacott schrieb sie außerdem sechs romantische Erzählungen. Agatha Christie machte auch im Theater Karriere, denn aufgrund schlechter Erfahrungen beschloss sie, ihre Stücke nur noch selbst für die Bühne zu bearbeiten, und war mit Begeisterung bei der Produktion dabei. Eines ihrer Bühnenstücke ist Die Mausefalle, das am längsten ununterbrochen aufgeführte Theaterstück weltweit. Handlungsorte Agatha Christie ließ zahlreiche Geschichten an realen Schauplätzen stattfinden. Am berühmtesten innerhalb dieser Gruppe ist ihr Roman Mord im Orient-Express. Auch der Roman Der blaue Express spielt in einem historischen Zug. Tod in den Wolken spielt im ersten Teil, in dem der Mord geschieht, in einem Passagierflugzeug auf einem Flug von Paris nach London. Zwei der Romane Christies spielen in wesentlichen Passagen auf einem Passagierschiff: Der Mann im braunen Anzug auf einem Passagierdampfer von Southampton nach Südafrika, Der Tod auf dem Nil auf einem Nil-Dampfschiff für Touristen. Für gleich drei Romane diente Agatha Christies eigener Landsitz Greenway als Kulisse: Sowohl Kurz vor Mitternacht als auch Das unvollendete Bildnis und Wiedersehen mit Mrs. Oliver machen sich die besondere Geografie von Greenway mit Bootsanleger, Gewächshaus, Tennisplatz, ehemaligem Geschützstand, Nähe zum Ufer des Dart zu eigen. Für ihren Roman Alter schützt vor Scharfsinn nicht war Agatha Christies Elternhaus Ashfield die Vorlage für den Schauplatz, wobei sie auch auf Besonderheiten aus ihrer eigenen Kindheit zurückgriff, u. a. der „KK“ (gesprochen: „Kai-Kai“) genannte Geräteschuppen, die Spielzeugpferde Truelove und Mathilde sowie eine Chilenische Araukarie. Einige der Romane wie Dreizehn bei Tisch und Bertrams Hotel spielen in London. Auch die Figur Hercule Poirot lebt in London. Die Romane Und dann gabs keines mehr und Das Böse unter der Sonne spielen auf einer kleinen Insel in Devon: Burgh Island. Dagegen lebt die Amateur-Detektivin Miss Marple in dem fiktiven typisch englischen Dorf St. Mary Mead. Auch weitere zahlreiche Christie-Krimis spielen in englischen Dörfern oder Kleinstädten, zum Beispiel Der ballspielende Hund oder Das Sterben in Wychwood. Als einziger Roman in Devon, ihrer Heimat, spielt Das Geheimnis von Sittaford; die unheimliche Landschaft des Dartmoor spielt hier eine besondere Rolle, auch die Stadt Exeter. Ein Schritt ins Leere spielt teilweise in Wales und in Hampshire, Das Haus an der Düne an der Küste von Cornwall. Einige der Romane spielen im Nahen Osten, wo sich Christie häufig aufhielt, zum Beispiel Sie kamen nach Bagdad oder Mord in Mesopotamien. Der Tod wartet spielt in Jerusalem und Transjordanien. Ägypten ist in drei Geschichten Schauplatz der Ereignisse: In Der Tod auf dem Nil, der Kurzgeschichte Das Abenteuer des ägyptischen Grabes und dem Roman Rächende Geister. Letzterer nimmt eine Sonderstellung ein, da er im Alten Ägypten zur Zeit der Pharaonen spielt und nicht, wie ihre anderen Werke, zu Lebzeiten Agatha Christies. Der Roman Karibische Affäre ist auf der fiktiven Insel St. Honoré in der Karibik angesiedelt, wofür jedoch die Insel Barbados als Vorlage diente. Mord auf dem Golfplatz ist Christies einziger Roman, der komplett in Frankreich, und zwar an der französischen Kanalküste und in Paris, spielt. In anderen Romanen wird der Schauplatz teilweise für Reisen der Ermittler nach Frankreich verlegt, so in Die Memoiren des Grafen, der in einigen Kapiteln in Paris und Dinard spielt. Große Teile des Romans Der blaue Express spielen ebenfalls in Frankreich, vor allem an der Côte d’Azur. Arbeitsweise Mit Verweis auf John Currans Herausgabe der Notizbücher Agatha Christies beschreibt Zoë Beck Agatha Christie als eine Schriftstellerin, die rund um die Uhr schrieb und durch viele alltägliche Dinge zu ihren Figuren oder ganzen Handlungsabläufen inspiriert wurde. Ab dem Moment der Ideenfindung bewies sie Qualitäten als unermüdliche Arbeiterin. Ständig machte sie sich Notizen und arbeitete an und mit diesen. Sie schrieb nicht nur Ideen auf, sondern machte Listen für Figuren, Motive, Mordarten oder Schauplätze. Oft wertete sie alte Notizhefte nochmals aus und schöpfte aus ihrem reichhaltigen Fundus. Dabei versuchte sie bei aller zu kritisierenden Schemenhaftigkeit ihrer Werke, sich nicht zu wiederholen, und bewies Variationstalent. Die unterschiedliche Perspektive der Romane in der auktorialen, personalen oder Ich-Erzählsituation zeigen Experimentierfreude. Beck interpretiert dies als Verspieltheit sowie den Versuch, trotz hoher Produktivität keine Langeweile aufkommen zu lassen. Christies Romantitel waren oft Gedichten oder Kinderreimen entliehen. Einige Biografen und Interpreten erkennen darin literarische und psychologische Tiefe. Besonders bedeutsam ist der hohe Wiedererkennungswert der Werke, der sich für das Publikum schon mit einfachen, typischen Requisiten bewerkstelligen lässt. Mit ihrem Stil konnte Christie nachfolgenden Krimiautoren- und Publikumsgenerationen ihren Stempel aufdrücken und löste einen regelrechten Christie-Mythos aus. Dabei richtete Christie ihr Werk laut Beck auch kommerziell aus und zeigte neben hoher handwerklicher Qualität auch eine starke Disziplin bei ihrer Arbeit. Als sie etwa nach einer besonders intensiven Schaffensphase der Romanfigur Poirot müde geworden war, ließ sie ihn pausieren, um Abstand zu gewinnen. Sie brachte ihn aber nicht um, wie es Arthur Conan Doyle mit Sherlock Holmes betrieb, nur um ihn danach wieder auferstehen zu lassen. Sie hielt an ihrer Figur fest, weil ihre Leserschaft sie mochte und nachfragte. Interpretationen ihres Werkes In einem 1992 versteigerten Brief erklärte Christie, ihre Detektivgeschichten seien ein . Sie reagierte damit auf die Frage eines Anhängers, der befürchtet hatte, ihre Romane könnten Verbrechen begünstigen. In ihren vielen erschienenen Werken blieb Christie, deren Erzählungen zurecht als modellhaft für die sogenannte Klassische Kriminalliteratur gelten, diesem moralischen Anspruch durchaus treu. Ihre Romane sind in der Grundstruktur eng an die Kurzgeschichten von Arthur Conan Doyle angelehnt, schreibt der deutsche Literaturwissenschaftler und -didaktiker Sascha Feuchert. „Einem scheinbar perfekten Mord (oder — in wenigen Ausnahmen — einem anderen Verbrechen), dessen entscheidende Begleitumstände (Täter, Tatmodus, Motiv) unbekannt sind, folgt ein Ermittlungsteil, in dem alle wesentlichen Elemente der Lösung bereits erscheinen, jedoch durch zahlreiche weitere Rätsel und falsche Kontextualisierung dem Leser in ihrer Bedeutung verborgen bleiben. Im Lösungsteil werden alle im Zuge der Ermittlung aufgetretenen Teilrätsel und die Hauptfrage nach dem Täter gelöst.“ (Sascha Feuchert) Ihre Werke macht außergewöhnlich, dass die Autorin wie kaum eine andere „das Enträtselungsspiel mit ungeheurer Geschäftigkeit auf allen drei Ebenen betreibt, als Täterrätsel, Hergangsrätsel und Enthüllungsspiel.“ (Ulrich Suerbaum). Gleich in ihrem ersten Kriminalroman, The Mysterious Affair at Styles (Das geheimnisvolle Verbrechen in Styles, 1920, späterer Titel Das fehlende Glied in der Kette) stellt sie mit Hercule Poirot einen bisher nicht dagewesenen Ermittlertypus dar. Dieser pensionierte hohe belgische Polizeibeamte war in Aussehen und Verhalten sehr unenglisch und führte seine Untersuchungen in der Regel in der britischen Oberschicht durch. Dies war ein bewusster Kunstgriff von ihr, da eine der grundsätzlichen Problemstellungen im Kriminalroman des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts die soziale Schichtzugehörigkeit des Ermittelnden darstellte. Polizeiangestellte entstammten in der Regel den unteren sozialen Schichten, weshalb es in Großbritannien, wo bis nach Ende des Zweiten Weltkrieges noch Klassenschranken vorzufinden waren, nicht vorstellbar gewesen wäre, dass ein Angehöriger „unterer“ Schichten ohne Weiteres in „oberen“ ermitteln würde oder könnte. Zugleich trafen speziell Kriminalromane mit einem Handlungsort im Milieu der „oberen“ Schichten auf starke Nachfrage. Die US-amerikanische Schriftstellerin von viktorianischen Kriminalromanen Anna Katharine Rohlfs fand in ihrem Kriminalroman That Affair Next Door (ab 1897) eine Problemumgehung, indem dort dem ermittelnden Polizisten ein Amateurdetektiv zur Seite gestellt wurde, der der „oberen“ Schicht angehörte. Mit dem Protagonisten Poirot hat Christie eine weitere, elegante und auch originelle Problemumgehung ersonnen – wie die Autorin Martha Halley Dubose herausstellt. Denn dieser ist aufgrund seiner Herkunft ein Außenseiter, für den die hohen britischen Klassenschranken keine Geltung besaßen. Die einprägsame Detektivfigur erscheint geradezu wie geschaffen dafür, dem Leser zwar Hinweise zur Täterermittlung in den Romanen zu liefern, sie aber zugleich auf eine falsche Fährte zu locken. So ausgefeilter aber Christies Techniken im Laufe ihrer Zeit als Krimiautorin wurden, umso geringer wurde Poirots Beitrag am Verwirrspiel. Als Kunstgriff erscheint von vornherein, dass Christie ihren Rätselspaß in den meisten ihrer Erzählungen in den gesellschaftlichen Kreisen der gentry ansiedelt. Der Hintergrund dafür ist weniger die Darstellung einer „heilen Welt“, wie es von vielen frühen Kritikern ihrer Kriminalliteratur angenommen wurde. Die Gesellschaftsschicht der nicht genau abgegrenzten Schicht des gehobenen Bürgertums und niederen Adels liefert dem deutschen Anglisten Ulrich Suerbaum zufolge in erster Linie einen nutzbaren Hintergrund für Christies Ausweitung und Komplizierung der Rätselstruktur. Praktischerweise sind die sozialen Kontakte zwischen den Angehörigen dieser Schicht in der Regel aufs Formelle und Oberflächliche beschränkt. Da sie sozusagen ihr wahres Gesicht oftmals hinter einer Maske verbergen, bleibt die Plausibilität der Erzählungen in diesem Milieu, bei allem Verschleierungsspiel Christies, für die Leserschaft erhalten. Als Schriftstellerin bewies sie allgemein sensibles soziologisches Gespür für Klassenunterschiede und erzählt zum Beispiel in Tod auf dem Nil von Welten im Begriff des Zusammenstoßens, von Kolonialismus in Afrika, von der selbstbewussten amerikanischen Kultur im Konflikt mit der durch den Ersten Weltkrieg erschütterten europäischen und oft von ganz unterschiedlichen Frauenbildern. An Bord des Nildampfers Karnak prallt eine selbstbewusst agierende halbamerikanische Erbin auf eine in den Konventionen der Klassengesellschaft gefangenen Mitreisenden. Auch der politische Horizont der Zeit wird erwähnt, wenn etwa ein glühender Marxist am Ort der Handlung in Diskussionen gerät. Im Jahre 1930 erfand sie in The Murder at the Vicarage (Mord im Pfarrhaus, deutscher Titel seit 1952) mit der 74-jährigen Miss Jane Marple genau betrachtet eine, kriminaltechnisch gesehen, ganz und gar untechnische Hauptermittlerin in ihren Romanen, deren Hauptwaffe zur Verbrechensaufklärung der scheinbar unbedeutende Small Talk darstellte. Wie Poirot ist sie ein gewachsener Charakter, sie funktioniert aufgrund ihrer liebevollen Schrullen, er aber aus ganz anderen Gründen, und beide, weil sie gerade nicht stereotypen Ermittlern entsprachen. Ihre Mördercharaktere sind meist verzweifelte, gebrochene Gestalten, die sie aber mit Sympathie zeichnete. Dies hat sie in Mord im Orientexpress auf die Spitze getrieben und stellt einen essentiellen Kontrast dar. Anders als oft behauptet, brach Christie in ihren Kriminalromanen nicht mit allen bekannten Konventionen in der Geschichte der Kriminalliteratur, sondern hauptsächlich mit einigen der sogenannten Limitierungsregeln. Christie variierte die gesellschaftliche Position des Täters, aber durchbrach dabei zuweilen den aus der Gattungskenntnis resultierenden Erwartungsrahmen der Leserschaft, um diese zu überraschen. In Hercule Poirots Weihnachten ist der Täter ein vermeintlich unverdächtiger Polizeisuperintendent. Er stammt aus dem Kreis der Ermittler, die nach den Limitierungsregeln vom Verdacht ausgenommen sein sollten. Christie machte sich die Durchbrechung der Limitierung in mehreren Bereichen zur Gewohnheit und erzielte damit eine Verunsicherung der Leserschaft, welche zuvor Gattungskonventionen vertraut hatte. Besonders The Murder of Roger Ackroyd aus dem Jahr 1926 gilt als ein äußerst gelungenes Werk, das aber sogar bei Fans Christies eine umfangreiche Kontroverse auslöste. Denn am Romanende entpuppt sich – entgegen der bisherigen Konvention – ausgerechnet der Ich-Erzähler des Romans als Mörder, welcher zuvor und auch zunächst in diesem Roman so etwas wie einen Vertrauensbonus bei der Leserschaft besaß. Die besonders im Bereich der Kriminallitaratur tätige Schriftstellerin Zoë Beck schreibt zu den „viel gepriesenen Regelverletzungen“ Christies und auch zur Funktionalisierung des Erzählers, im Plot eines ihrer Romane, als Mörder: „[…] nette Varianten, aber keine Erweiterung des Genres“. Veronika Schuchter vom Institut für Germanistik an der Universität Innsbruck schreibt: „Niemand hat das Genre stärker geprägt […]. Das klaustrophobische Kammerspiel als Abbild menschlicher Abgründe hat sie perfektioniert. Exotische Schauplätze dienten dabei nur als Kulisse. Nichts ist erschreckender als der geschlossene Raum. Es sind kleine Verbrechen, die aus privaten Tragödien erwachsen, das Gewöhnliche macht den Mörder, nicht das Außergewöhnliche, das die heute im Krimi grassierenden Serienmörder antreibt.“ Rezeption Kritiker werfen Christie häufig Antisemitismus vor. Vor allem in ihrem Frühwerk ließen sich solche Tendenzen ausmachen. So galt der Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Gillian Gill das Porträt des jüdischen Finanzmanns Hermann Isaacstein in Die Memoiren des Grafen als unverzeihlich, eine „Ansammlung törichter englischer antisemitischer Vorurteile“. Dennoch sieht Gill bei Christie insgesamt eher einen gedankenlosen, reflexartigen Gebrauch von antisemitischen Stereotypen als einen bewussten und bösartigen Antisemitismus. Insbesondere in ihren Krimis der 1930er und 1940er Jahre seien jüdische Charaktere trotz ihrer stereotypen Zeichnung meist Sympathieträger; sie dienten eher dazu, den Leser auf eine falsche Spur zu lenken (Red Herring). So stelle sich in Nikotin der zunächst verdächtige Jude Oliver Manders als unschuldig heraus und im Happy End werde die Perspektive eröffnet, dass er die englisch-adlige Amateurdetektivin heiraten werde. Auch wird die Verwendung von Stereotypen wie vollbärtige, dunkle und böse Ausländer oder „Zigeuner“ kritisiert. Zwar stellten diese sich im Verlauf der Geschichten meist nicht als Täter heraus, aber schon ihre bloße Existenz sollte sie verdächtig machen und auf eine falsche Fährte locken. Allgemein spiegelt sich in Christies Werk auch die antisemitisch und rassistisch geprägte Zeit wider. Ihr Roman Und dann gabs keines mehr erschien 1939 in Großbritannien unter dem Titel Ten Little Niggers, der einem bekannten Kinderlied entlehnt war. In den USA wurde der Kriminalroman etwa gleichzeitig mit Rücksicht auf den amerikanischen Markt unter dem seit 1985 auch in Großbritannien und international verwendeten Titel And Then There Were None veröffentlicht. Die deutschsprachige, 1944 in der Schweiz veröffentlichte Übersetzung trug den Titel Letztes Weekend. Ab 1973 wurde der Titel Zehn kleine Negerlein benutzt, seit 2003 wählte man für eine Neuübersetzung durch Sabine Deitmer den Titel Und dann gabs keines mehr. Auszeichnungen für das literarische Lebenswerk 1955 Grand Master Award der Mystery Writers of America 1972 Grand Master der Schwedischen Krimiakademie (Svenska Deckarakademin) 2000 „Beste Kriminalautorin des Jahrhunderts“ (verliehen auf der Anthony Boucher Memorial World Mystery Convention) 2005 Archie Goodwin Award der amerikanischen Nero Wolfe Society Werke und deren Adaptionen Agatha Christie schrieb 66 Romane, zahlreiche Kurzgeschichten, zwei Autobiografien, mehrere Lyriksammlungen und 23 Bühnenstücke. Diese wurden in fünf Hörspielen, 22 Kinofilmen, 76 Fernsehfilmen, 19 Zeichentrickfilmen sowie in einigen Computerspielen adaptiert. Vier Dokumentationen wurden über sie gedreht. Sonstiges Nach Agatha Christie wurde eine Rose benannt (Ramira Kormeita Agatha Christie Kordes (D) 1988). Gezüchtet wurde die lachsfarbene Kletterrose von den bekannten deutschen Rosenzüchtern W. Kordes’ Söhne. 2000 erhielt Agatha Christie posthum im Rahmen der Millenniumsfeierlichkeiten den US-amerikanischen Anthony Award als beste Kriminal- und Mysteryautorin des Jahrhunderts und setzte sich gegen die nominierten Raymond Chandler, Dashiell Hammett, Dorothy L. Sayers und Rex Stout durch. Als beste Serie triumphierte Christies Hercule-Poirot-Reihe vor den nominierten Ed McBain (87. Polizeirevier), Marcia Muller (Sharon-McCone-Serie), Dorothy L. Sayers (Lord-Peter-Wimsey-Reihe) und Rex Stout (Nero-Wolfe-Serie). Der meistverkaufte Kriminalroman der Welt ist Und dann gabs keines mehr. Im März 2011 kaufte das British Museum für einen Millionenbetrag eine Sammlung kunsthandwerklicher Arbeiten aus Elfenbein, die Christies Ehemann während einer archäologischen Grabung im antiken Nimrud im heutigen Irak geborgen hatte. Christie hatte die Exponate eigenhändig mit Hilfe ihrer Gesichtscreme gereinigt und so nach Meinung von Experten maßgeblich zu deren Rettung beigetragen. Der Ankauf gilt als der teuerste in der Geschichte des Museums, die Sammlung ist seit März 2011 dauerhaft der Öffentlichkeit zugänglich. Die Episode Das Einhorn und die Wespe (engl. The Unicorn and the Wasp) (Staffel 4, Episode 7 der neuen Folgen) der britischen Sci-Fi-Serie Doctor Who handelt von Agatha Christie und behandelt unter anderem ihr Verschwinden und ihren Gedächtnisverlust. Dargestellt wurde sie von Fenella Woolgar. In der Episode Schüsse auf Javier (Staffel 2, Folge 9) der Serie Grand Hotel tritt Agatha Christie unter ihrem Geburtsnamen als Gast auf und bekommt im Beisein eines Gesprächs über den verstorbenen Hotelbesitzer erste Ideen für eine Geschichte. Weiterführende Literatur Gerd Egloff: Detektivroman und englisches Bürgertum: Konstruktionsschema und Gesellschaftsbild bei Agatha Christie. (Literatur in der Gesellschaft, Band 23). Bertelsmann Universitätsverlag, Düsseldorf 1974, ISBN 3-571-05045-2. Janet Morgan: Agatha Christie. Das Leben einer Schriftstellerin – spannend wie einer ihrer Romane. (engl. Agatha Christie. A Biography). Heyne, München 1990, ISBN 3-453-02619-5. Anne Hart: Agatha Christie’s Hercule Poirot. Sein Leben und seine Abenteuer. Scherz, Bern 1991. (Taschenbuch: 1994, ISBN 3-502-51472-0) Anne Hart: Agatha Christie’s Miss Marple. Ihr Leben und ihre Abenteuer. Scherz, Bern 1991. (Taschenbuch: 1994, ISBN 3-502-51447-X) Monika Gripenberg: Agatha Christie. Rowohlt, Reinbek 1994, ISBN 3-499-50493-6. I. I. Revzin: Zur semiotischen Analyse des Detektivromans am Beispiel der Romane Agatha Christies. In: Jochen Vogt (Hrsg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. (UTB 8147). Fink, München 1998, ISBN 3-8252-8147-7. Charlotte Trümpler (Hrsg.): Agatha Christie und der Orient – Kriminalistik und Archäologie. Ausstellungskatalog Ruhrlandmuseum Essen. Scherz, Bern 1999, ISBN 3-502-15750-2. Andrew Norman: Agatha Christie: the finished portrait. Tempus, Stroud 2006, ISBN 0-7524-3990-1. Dawn B. Sova: Das große Agatha Christie-Buch. Ihr Leben und ihre Romane von A bis Z. Scherz, Bern 2006, ISBN 3-502-15051-6. Elke Schmitter: Agatha Christie: Mord und Gemütlichkeit. In: Leidenschaften. 99 Autorinnen der Weltliteratur. München 2009, ISBN 978-3-570-01048-8, S. 114–120. Laura Thompson: Agatha Christie: Das faszinierende Leben der großen Kriminalschriftstellerin. Scherz, Bern 2010, ISBN 978-3-502-15156-2. Judith Kretzschmar, Sebastian Stoppe, Susanne Vollberg (Hrsg.): Hercule Poirot trifft Miss Marple. Agatha Christie intermedial. Büchner, Darmstadt 2016, ISBN 978-3-941310-48-3. Barbara Sichtermann: Agatha Christie. Biografie. Osburg Verlag, Hamburg 2020, ISBN 978-3-95510-215-9. Lucy Worsley: Agatha Christie: An Elusive Woman. Pegasus, 2022, ISBN 978-1-63936-252-3. Dokumentarfilme André Schäfer, Anna Steuber: Agatha Christie – The Queen of Crime, arte.tv, 2017, 52 min. Sean Davison: Agatha Christie - Ein Jahrhundert Gänsehaut, arte.tv, 2020, 67 min. Weblinks Spielfilm über das geheimnisvolle Verschwinden von Agatha Christie Website des Atlantik Verlags zum 125. Geburtstag Agatha Christies Podcast Hoaxilla: Folge 191 Mysteriöse Agatha Christie Christiane Kopka: 15.09.1890 - Geburtstag von Agatha Christie WDR ZeitZeichen (Podcast). Sophie Hannah über Christies "Westmacott-Romane" Einzelnachweise Autor Literatur (20. Jahrhundert) Literatur (Englisch) Literatur (Vereinigtes Königreich) Kriminalliteratur Roman, Epik Erzählung Drama Autobiografie Dame Commander des Order of the British Empire Person als Namensgeber für einen Venuskrater Engländer Brite Geboren 1890 Gestorben 1976 Frau
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https://de.wikipedia.org/wiki/Apollo-Programm
Apollo-Programm
Das Apollo-Programm war ein Raumfahrtprojekt der USA. Es brachte mit den Apollo-Raumschiffen zum ersten und bislang einzigen Mal Menschen auf den Mond. Das Programm wurde von der National Aeronautics and Space Administration (NASA) zwischen 1961 und 1972 betrieben. In mehreren Schritten erprobte die NASA Techniken, die für eine Mondlandung wichtig sein würden, wie z. B. das Navigieren und Koppeln von Raumschiffen im All oder das Verlassen eines Raumschiffs im Raumanzug. Viele wichtige Tests wurden in der Vorbereitung im Gemini-Programm durchgeführt. Die erste bemannte Mondlandung war am 20. Juli 1969 mit der Mission Apollo 11. Nach fünf weiteren Landungen – die letzte 1972 mit Apollo 17 – wurde das Programm (auch) aus Kostengründen eingestellt. Seitdem hat kein Mensch mehr den Mond betreten, jedoch verfolgen mehrere Länder neue bemannte Mondprogramme. Name Der Name „Apollo“ war eine Idee des NASA-Managers Abe Silverstein, damals Leiter der Abteilung für Raumfahrt-Programme (Office of Space Flight Programs). Er bezog sich dabei auf den Gott Apollon der griechischen Mythologie, dem Gott der Sonne, der Heilkunst, Weissagung, Dichtkunst, Musik und der Bogenschützen. NASA-intern wurde der Name vom NASA-Direktor Glennan am 9. Juli 1960 genehmigt. Öffentlich verkündet wurde der Name vom stellvertretenden Leiter der NASA, Hugh Latimer Dryden am 28. Juli 1960 bei der Eröffnung einer Konferenz der NASA mit Vertretern der Raumfahrt-Industrie. Konzepte Im Juli 1960, noch bevor das Mercury-Programm erste Erfolge aufzuweisen hatte, fand in Washington eine Konferenz statt, auf der die NASA und verschiedene Industriebetriebe einen Langzeitplan für die Weltraumfahrt erarbeiteten. Geplant war eine bemannte Mondumrundung, von einer Landung war zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Rede. Die Konfiguration des Mondfluges war zunächst unklar. Die ersten Planungen der 1960er Jahre sahen ein einziges Raumschiff für die Landung auf dem Mond und die Rückkehr zur Erde vor, da unklar war, ob ein Rendezvousmanöver und die Kopplung zweier Raumfahrzeuge möglich wären. Genauere Studien gingen von vier möglichen Strategien aus: Direktflug: Eine einzige Rakete startet mit dem Raumschiff, das als Ganzes auf dem Mond landet und (als Ganzes oder nur der Oberteil) wieder zur Erde zurückkehrt. Montage in der Erdumlaufbahn (EOR – Earth Orbit Rendezvous): Die Komponenten der Missionen werden einzeln gestartet und in der Erdumlaufbahn montiert, auch hier landet das gesamte Raumschiff auf dem Mond. Mondumlaufbahn-Rendezvous (LOR – Lunar Orbit Rendezvous): Das Raumfahrzeug trennt in der Mondumlaufbahn einen Landeteil ab, der zum Mond fliegt. Dafür ist nach dem Wiederaufstieg ein Rendezvous- und Umsteigemanöver erforderlich. Versorgungsschiff am Mond (LSR – Lunar Surface Rendezvous): In diesem Konzept müsste zuvor ein unbemanntes Versorgungsschiff auf den Mond gebracht werden. Die bemannte Mission hätte an dieser Stelle landen müssen, um den Treibstoff für die Rückreise aufzunehmen. Das letzte Konzept wurde als erstes verworfen. Und für einen Direktflug hätte das dafür nötige Trägersystem (Nova, Saturn C-8) deutlich größer als die Saturn V sein müssen. Auch das EOR-Konzept, das eine Vielzahl von Raketen erfordert hätte (man sprach von bis zu 15 Starts pro Mondflug), war mit mehr Aufwand und Kosten verbunden. Insbesondere auf Betreiben von John C. Houbolt, der die anfängliche Minderheitsmeinung LOR hartnäckig und ohne Rücksicht auf Hierarchien vertrat, ging man daher Ende 1961 zu einer komplexeren, aber optimierten Konfiguration aus getrennten Raumfahrzeugen über. Dies ermöglichte nicht nur, mit einer einzigen Rakete auszukommen, sondern erlaubte auch die Optimierung der einzelnen Komponenten auf ihren genauen Zweck. Planung Der eigentliche NASA-Plan sah sieben Missionen bis zur ersten bemannten Mondlandung vor. Dies waren die Missionen A bis G: Mission A: Unbemannter Test der Saturn V und des Apollo-Raumschiffs in einer Erdumlaufbahn (zweimal durchgeführt mit Apollo 4 und Apollo 6). Mission B: Unbemannter Test der Mondlandefähre (LM für Lunar Module) (durchgeführt mit Apollo 5). Mission C: Bemannter Test des Apollo-Raumschiffs im Erdorbit (durchgeführt mit Apollo 7). Mission D: Test der Kombination aus Kommandomodul und Landefähre in einem erdnahen Orbit (ursprünglich als Apollo 8 vorgesehen, als Apollo 9 neu nummeriert, weil ein Mondflug (Mission C') als Apollo 8 eingeschoben wurde). Mission E: Test der Kombination aus Kommandomodul und Landefähre in einem erdfernen Orbit (Mission wurde gestrichen, Mannschaft übernahm die Mission C'). Mission F: Test der Kombination aus Kommandomodul und Landefähre in einem Mondorbit (durchgeführt mit Apollo 10). Mission G: Erste Landung auf dem Mond (durchgeführt mit Apollo 11). Die mit Apollo 8 durchgeführte erste Mondumkreisung, Weihnachten 1968, war von der NASA eigentlich nicht vorgesehen und wurde mit der Bezeichnung Mission C' zwischen die Missionen C und D eingeschoben. Zusätzlich wurden die Missionen H, I und J geplant: Mission H: Landung auf dem Mond mit erweiterten wissenschaftlichen Experimenten (durchgeführt mit Apollo 12 und Apollo 14. Apollo 13 nicht erfolgreich; Apollo 15 war ursprünglich ebenfalls als H-Mission vorgesehen). Mission I: Bemannte Flüge in der Mondumlaufbahn zu Forschungszwecken; keine Landung beabsichtigt. Konkrete Planungen für I-Missionen hat es nicht gegeben. Mission J: Landung auf dem Mond mit erweiterten wissenschaftlichen Experimenten und dem Mondrover (durchgeführt mit Apollo 15, Apollo 16 und Apollo 17). Aufwand und Kosten Das Apollo-Mondprogramm kostete 25,4 Milliarden US$, dem entsprechen im Jahre inflationsbereinigt rund Milliarden US$. Wettlauf der Systeme Durch den Start von Sputnik 1 im Jahre 1957, die erste unbemannte harte Mondlandung 1959 durch Lunik 2 und den ersten bemannten Raumflug von Juri Gagarin mit Wostok 1 im April 1961 war die Sowjetunion zu Beginn des Zeitalters der Raumfahrt zur führenden Raumfahrtnation aufgestiegen. Die USA suchten nach einem Gebiet in der Raumfahrt, auf dem sie die Sowjetunion schlagen könnten. Die bemannte Mondlandung wurde dafür als geeignet angesehen. Das Apollo-Programm der USA Am 25. Mai 1961, eineinhalb Monate nach dem Flug von Gagarin, hielt US-Präsident John F. Kennedy vor dem Kongress eine berühmte Rede, in der er seiner Nation die Aufgabe stellte, noch im selben Jahrzehnt Menschen auf den Mond landen zu lassen und sicher wieder zur Erde zurückbringen. Mit den folgenden Worten fiel der Startschuss für das Apollo-Programm: Unter Mitarbeit des deutschstämmigen Ingenieurs Wernher von Braun, Direktor des Marshall Space Flight Centers in Huntsville (Alabama), wurde für den bemannten Mondflug die bis heute größte Rakete gebaut. Alle Starts der Saturn V waren erfolgreich, was aufgrund ihrer großen Leistung und Komplexität durchaus beachtenswert ist. Das MIT Instrumentation Laboratory entwickelte für die Apollo-Raumfahrzeuge ein spezielles Trägheitsnavigationssystem, das sogenannte Primary Guidance, Navigation and Control System (PGNCS, ausgesprochen: pings). Der darin enthaltene Apollo Guidance Computer (AGC) war das erste Gerät, in dem integrierte Schaltkreise (IC) eingesetzt wurden. Das Project FIRE sollte Technologien für den notwendigen Hitzeschild der Apollo-Kommandokapsel entwickeln und testen. Als Vorbereitung auf die Mondlandung lief parallel zum Apollo-Programm das Gemini-Programm, mit dem Erfahrungen zu Rendezvous-Manövern, Navigation und Arbeiten außerhalb eines Raumfahrzeuges im Weltall (extra-vehicular activity, EVA) gesammelt werden sollten. Am 27. Januar 1967 erlitt das Apollo-Programm einen schweren Rückschlag: Bei Bodentests brach im Apollo-Kommandomodul CM 012 ein Feuer aus, bei dem die drei Astronauten Gus Grissom, Ed White und Roger Chaffee ums Leben kamen. Die Rakete war während dieser Tests nicht betankt. Die Kommandokapsel war aber nicht mit gewöhnlicher Luft, sondern mit reinem Sauerstoff bei atmosphärischem Überdruck gefüllt. Dadurch wurde binnen weniger als einer Minute aus einem kleinen elektrischen Funken ein Feuer, in dem die Männer ums Leben kamen. Umfangreiche Änderungen an der Kommandokapsel waren die Folge. Dem Test wurde nachträglich die Bezeichnung Apollo 1 verliehen. Trotzdem konnte die Aufgabe Kennedys an die US-Nation, in den 1960er Jahren einen Menschen auf den Mond und sicher wieder zur Erde zurückzubringen, mit der erfolgreichen Mondlandung von Apollo 11 am 20. Juli 1969 erreicht werden. Obwohl ursprünglich noch weitere Starts geplant waren, wurde das Programm nach der sechsten erfolgreichen Mondlandung (Apollo 17) beendet. Das bemannte Mondprogramm der Sowjetunion Gleichzeitig zu dem Apollo-Programm arbeitete auch die sowjetische Raumfahrt daran, Menschen zum bzw. auf den Mond zu bringen. Mit den Zond-Sonden wurden modifizierte Sojus-Raumschiffe unbemannt zum Mond gestartet und nach einem Mondumlauf wieder zur Erde gebracht. Dies diente dem Test des Raumschiffs, das für einen folgenden bemannten Mondflug gedacht war. Zond-5 umkreiste im September 1968 den Mond, kam jedoch bei der Rückkehr vom Kurs ab und musste aus dem Indischen Ozean geborgen werden, die Landung war eigentlich für das sowjetische Territorium geplant. Im Oktober 1970 wurde das Testprogramm mit Zond-8 beendet. Parallel arbeitete die Sowjetunion auch an einer Rakete für eine Mondlandemission, die ähnlich wie bei Apollo mit einer einzigen Rakete gestartet werden sollte. Dafür wurde die N1-Rakete entwickelt. Diese ist jedoch bei allen vier Teststarts, die zwischen 1969 und 1972 erfolgten, vor dem Erreichen einer Erdumlaufbahn explodiert. Daraufhin und angesichts der Tatsache, dass die US-Amerikaner bereits erfolgreich auf dem Mond gelandet waren, gab die Sowjetunion ihr bemanntes Mondprogramm auf. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er-Jahre kamen detaillierte Informationen über dieses Programm und die N1-Rakete an die Öffentlichkeit. Mondlandungen Die ersten beiden Menschen landeten im Rahmen der Mission Apollo 11 am 20. Juli 1969 um 21:17 Uhr (MEZ) auf dem Mond: Neil Armstrong und Buzz Aldrin. Sechs Stunden später, am 21. Juli um 03:56:20 Uhr MEZ, betrat Neil Armstrong im Mare Tranquillitatis als erster Mensch den Mond. Dabei sprach er den berühmt gewordenen Satz: Das „a“ vor „man“ wurde in späteren Texten hinzugefügt, um den Sinn zu erhalten, obwohl es im Funkverkehr nicht zu hören war. Armstrong wurde später gefragt, ob er es tatsächlich nicht gesagt habe, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Daher bleibt ungeklärt, ob es durch Störungen im Funkverkehr verloren gegangen ist oder tatsächlich nicht gesagt wurde. Der dritte Astronaut, Michael Collins, umkreiste im Apollo-Mutterschiff den Erdtrabanten bis zur Rückkehr der Landeeinheit Eagle. Im Rahmen des Apollo-Programms wurden insgesamt sechs Mondlandungen durchgeführt. Damit haben bis heute 12 Menschen, allesamt US-Amerikaner, den Mond betreten. Harrison H. Schmitt – Mondfährenpilot von Apollo 17 – setzte als bislang letzter Mensch am 12. Dezember 1972 seinen Fuß auf den Mondboden. Eugene Cernan – Kommandant von Apollo 17 – ist bislang der letzte Mensch, der auf dem Mond war, indem er als letzter in die Mondfähre einstieg. Im Juli 2009 übermittelte die Mondsonde Lunar Reconnaissance Orbiter Aufnahmen der Landestellen von Apollo 11, 14, 15, 16 und 17. Der „erfolgreiche Fehlschlag“ von Apollo 13 Als Routineflug von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, starteten mit Apollo 13 am 11. April 1970 die Astronauten Jim Lovell, Jack Swigert und Fred Haise. Erst als auf dem Weg zum Mond ein Tank mit flüssigem Sauerstoff im Servicemodul explodierte und damit das Leben der drei Männer bedroht war, wurde die gesamte Weltöffentlichkeit auf die Mission aufmerksam. Die Astronauten konnten sich nur dadurch retten, dass sie die Mondlandefähre als „Rettungsboot“ zweckentfremdeten. An eine Mondlandung war nicht mehr zu denken. Da das Raumschiff zum Zeitpunkt des Unfalls schon die Erdumlaufbahn in Richtung Mond verlassen hatte und für eine sofortige direkte Umkehr der Treibstoff bei weitem nicht ausgereicht hätte, führte der einzige Weg zurück zur Erde um den Mond herum, wobei das Raumschiff durch ein Swing-by-Manöver mit Hilfe der Mondanziehung wieder in Richtung Erde beschleunigt wurde. Nach einer Mondumrundung und knapp 88 Stunden nach der Havarie gelang am 17. April 1970 die Landung im Pazifik. Kurioserweise waren durch ihre Mondumrundung die Mitglieder der Besatzung von Apollo 13 diejenigen Menschen, die bislang am weitesten von der Erde entfernt waren, wenngleich ungeplant. Trotz der gescheiterten Mondlandung wird Apollo 13 dennoch als Erfolg gewertet, weil es erstmals gelungen war, Astronauten in einer Notlage im Weltraum wieder lebend auf die Erde zu bringen. Kommandant Jim Lovell bezeichnete später den Verlauf der einzigen Mission des Apollo-Programms, die vorzeitig abgebrochen werden musste, als „erfolgreichen Fehlschlag“. Flugdirektor Gene Kranz nannte sie „die größte Stunde der NASA“ ("NASA's finest hour"). Von den dramatischen Ereignissen handelt der 1995 gedrehte Film Apollo 13 mit Tom Hanks in der Rolle von Jim Lovell. Typischer Apollo-Missionsverlauf Start am Kennedy Space Center Nach etwa zweieinhalb Minuten Abtrennung der 1. Stufe S-IC in ca. 56 km Höhe, d. h. in der hohen Stratosphäre (Geschwindigkeit ca. 10.000 km/h – Mach 8) Unmittelbar anschließend Zündung der 2. Stufe S-II Kurz darauf Abtrennung des Triebwerksgehäuses (engine skirt, offiziell interstage genannt) Drei Minuten und 25 Sekunden nach dem Start Abtrennung des Rettungsraketensystems (launch escape tower) Abtrennung der 2. Stufe in ca. 185 km Höhe (Geschwindigkeit ca. 24.000 km/h) inkl. des kegelförmigen Adapters zur 3. Stufe Unmittelbar danach Zündung der 3. Stufe S-IVB, Einschwenken in eine nahe Erdumlaufbahn (Geschwindigkeit ca. 28.000 km/h), Abschalten der 3. Stufe Nach einigen Erdumrundungen Neuzündung der 3. Stufe, (TLI, Trans Lunar Injection) Ausdehnung des Orbits bis zum Mond (im Gegensatz zu einer häufigen Annahme keine Überschreitung der Fluchtgeschwindigkeit und Erdflucht (Apollo 8 erreichte 10,82 km/s – ca. 39.000 km/h – auch auf dem Mond befindet man sich immer noch in einem Erdorbit)). Kritisch beim TLI war jedoch die Zeit, die nach dem ersten Brennschluss des J-2-Triebwerks und dessen erneuter Zündung verstreichen musste. Trennung des Apollo-Raumschiffs von der 3. Stufe in mehreren Schritten (TDM, transposition and docking maneuver): Trennung des Kommando-/Versorgungsmoduls (CSM, command/service module) vom auf der dritten Stufe sitzenden Stufenadapter (SLA, spacecraft lunar module adapter) Öffnung und Abwurf des Stufenadapters – er hatte bisher die Mondlandefähre (LM, lunar module) umschlossen 180°-Drehung des Kommando-/Versorgungsmoduls, so dass es mit seinem Bug an die Landefähre ankoppeln kann Herausziehen der Landefähre aus ihrer in der dritten Stufe befindlichen Parkbucht Die dritte Stufe, der letzte Teil der Saturn-V-Rakete, hat an diesem Punkt ausgedient. Vom Kontrollzentrum aus gesteuert wird sie entsorgt (d. h. in einen Sonnenorbit manövriert oder für seismische Untersuchungen auf Kollisionskurs mit dem Mond gebracht) Antriebsloser Flug zum Mond, ggfs. Korrekturmanöver Zündung des Triebwerks des Versorgungsmoduls zum Einschwenken in den Mondorbit (LOI, lunar orbit insertion) auf der Mondrückseite Umstieg von zwei Astronauten in die Landefähre, das Kommando-/Versorgungsmodul verbleibt mit einem Astronauten im Mondorbit Abkoppeln der Landefähre, Zündung des Landetriebwerks, um eine elliptische Mondumlaufbahn zu erreichen (DOI, descent orbit initiation) auf der Mondrückseite Abstieg zur Mondoberfläche und Landung Mondlandung im engeren Sinne: Astronauten führen Aktivitäten außerhalb des Raumschiffs durch (Außenbordeinsatz, extra-vehicular activity /EVA), d. h. sie erkunden die Mondoberfläche zu Fuß oder auf späteren Missionen mit dem Mondauto Währenddessen: Kommando-/Versorgungsmodul umkreist den Mond, Kameras und andere Instrumente im Versorgungsmodul untersuchen den Mond, Astronaut führt Beobachtungen durch und prüft mögliche Landeplätze für spätere Missionen Start von der Mondoberfläche. Die Abstiegsstufe dient als Startrampe und bleibt mit Flagge, Kamera, Auto und diverser anderer Ausrüstung auf der Oberfläche zurück. Die Astronauten und die Gesteinsproben fliegen in der Aufstiegsstufe in den Mondorbit. Rendezvous mit dem Kommando-/Versorgungsmodul, Ankoppeln, Umstieg der Astronauten, Abwurf der Aufstiegsstufe Zündung des Triebwerkes des Versorgungsmoduls (TEI, trans-earth injection) zum Verlassen des Mondorbits auf der Mondrückseite Antriebsloser Rückflug zur Erde, ggfs. Korrekturmanöver EVA, um die Filme aus den Kameras im Versorgungsmodul zu bergen (bei den Missionen Apollo 15 bis 17) Abwurf des Versorgungsmoduls, Ausrichten des Kommandomoduls für den Wiedereintritt Wiedereintritt in die Erdatmosphäre inklusive ca. dreiminütiger Funkstille (blackout), da die Reibungswärme das Raumschiff einen Strahl aus heißer, ionisierter Luft hinter sich herziehen lässt, der den Funkverkehr behindert Einsatz der Hochgeschwindigkeitsfallschirme (drogue parachutes) Abwurf der Hochgeschwindigkeitsfallschirme, Einsatz der Pilot- und Hauptfallschirme, die auf Bildern der Landungen als drei rot-weiße, runde Schirme klar zu erkennen sind Wasserung im Landegebiet Abwurf der Hauptfallschirme Falls das Kommandomodul mit der spitzen Seite nach unten im Wasser liegen sollte (Position „stable two“): Einsatz des Aufrichtungssystems (uprighting system), d. h. Aufblasen der an überdimensionale Fußbälle erinnernden Gassäcke, die auf Bildern ebenfalls klar zu erkennen sind Bergung durch einen Flugzeugträger; bei mehreren Missionen mit Hilfe des Helicopter 66 Bei den ersten Missionen (bis Apollo 14) verblieben die Astronauten und Gesteinsproben aus Sicherheitsgründen für mehrere Wochen in Quarantäne Apollo-Missionen Kurz nach der erfolgreichen Mondlandung von Apollo 11 veröffentlichte die NASA die weitere Planung, die bis Ende 1972 neun weitere Apolloflüge vorsah. Doch bereits im Januar 1970, noch vor der Verzögerung durch die Panne von Apollo 13, wurde Apollo 20 aus Kostengründen gestrichen. Im September 1970 wurden auch die ursprüngliche Apollo-15-Mission sowie Apollo 19 eingespart. Die nicht aus dem Programm gestrichenen Missionen Apollo 16, Apollo 17 und Apollo 18 wurden danach in Apollo 15, Apollo 16 und Apollo 17 umbenannt. Die nach dem Abschluss der Mondflüge noch vorhandenen Apollo-Raumschiffe und Saturnraketen wurden für das Skylab-Projekt 1973/74 und das Apollo-Sojus-Test-Projekt 1975 verwendet. Wissenschaft Dem Apollo-Programm wird vielfach ein zu geringer wissenschaftlicher Nutzen vorgeworfen. Das Ex-Missionsmitglied William Anders meint, Apollo sei „kein wissenschaftliches Programm“ gewesen, in Wahrheit habe es sich um eine „Schlacht im Kalten Krieg“ gehandelt. „Sicherlich, wir haben ein paar Gesteinsbrocken gesammelt und ein paar Fotos gemacht, aber wäre da nicht dieser Wettlauf mit den Russen gewesen, hätten wir niemals die Unterstützung der Steuerzahler gehabt.“ Nach dem Erfolg von Apollo 11 kündigten einige Forscher bei der NASA, darunter der damalige NASA-Chefgeologe Eugene Shoemaker. Er vertrat den Standpunkt, dass der wissenschaftliche Ertrag durch unbemannte Sonden zu einem Fünftel der Kosten und bereits drei bis vier Jahre früher hätte erbracht werden können. Der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeit der Astronauten auf dem Mond lag in der Geologie. Insgesamt 382 Kilogramm Mondgestein wurden auf den sechs Missionen zur Erde zurückgebracht. Weitere Projekte waren zum Beispiel das Solar Wind Composition Experiment der Universität Bern, das fünfmal auf den Mond mitgenommen wurde, und das Aufstellen von Reflektoren auf der Oberfläche des Mondes zu Vermessungszwecken. Diese bei Apollo 11 im Mare Tranquillitatis, nördlich des Kraters Fra Mauro und Apollo 15 an der Hadley-Rille aufgestellten Laserreflektoren (LRRR) ermöglichen bis heute präzise die Entfernung zwischen Mond und Erde bis auf wenige Zentimeter genau zu messen. Die Entwicklung des für dessen Tripelprismen verwendeten hochtemperaturfesten Quarzglases mit besonders niedrigen Brechungsindex und die Herstellung der Prismen wurde von der Firma Heraeus in Hanau unter anderem von den Ingenieuren Heinrich Mohn und Peter Hitzschke durchgeführt. Verschwörungstheorien Wie bei vielen Ereignissen von so großer politischer Tragweite wurden auch die Mondlandungen zum Objekt zahlreicher Verschwörungstheorien. Diese gehen davon aus, dass die Mondlandungen in den Jahren 1969 bis 1972 nicht stattgefunden haben (oft geht es auch nur um die erste bemannte Mondlandung), sondern von der NASA und der US-amerikanischen Regierung vorgetäuscht worden sind. Die Verschwörungstheorien haben seit den 1970ern, durch den Autor Bill Kaysing, jedoch verstärkt wieder seit 2001, Verbreitung gefunden. Keine der Verschwörungstheorien liefert einen nachvollziehbaren, wissenschaftlich haltbaren Zweifel an den erfolgten Mondlandungen. Siehe auch Wettlauf ins All Apollo-Anwendungs-Programm Bemannter Mondflug nach Apollo Liste der Menschen, die auf dem Mond waren Literatur in der Reihenfolge des Erscheinens Jesco von Puttkamer: Apollo 8, Aufbruch ins All. Der Report der ersten Mondumkreisung. Heyne, München Michael Collins: Carrying the Fire. Farrer, Straus and Giroux, New York 1974, ISBN 978-0-374-53776-0 Andrew Chaikin: A Man on the Moon. Penguin Books, London 1995, ISBN 0-14-027201-1. W. Henry Lambright: Powering Apollo. James E. Webb of NASA. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1995, ISBN 0-8018-4902-0. David M. Harland: Exploring the Moon. Springer, London 1999, ISBN 1-85233-099-6. Robert Godwin (Hrsg.): Apollo. The NASA mission reports (11 Bände für Apollo 7 bis 17). Apogee Books, Burlington 1999–2002. Eugene Cernan: The Last Man on the Moon. Astronaut Eugene Cernan and America’s race in space. St. Martin’s Griffin, New York 2000, ISBN 0-312-26351-1. Jesco von Puttkamer: Apollo 11: „Wir sehen die Erde“. Der Weg von Apollo 11 zur internationalen Raumstation. Herbig, München 2001, ISBN 3-7766-2097-8. Thomas J. Kelly: Moon Lander: How We Developed the Apollo Lunar Module. Smithsonian Books, Washington, DC 2001, ISBN 1-56098-998-X. André Hoffmann: Der lange Weg zum Mond. Athene Media, Dinslaken 2009, ISBN 978-3-86992-148-8. Edgar M. Cortright: Apollo Expeditions to the Moon. The NASA History. Dover, Mineola 2010, ISBN 978-0-486-47175-4. Zack Scott: Apollo. Der Wettlauf zum Mond. Droemer, München 2018, ISBN 978-3-426-27757-7. Douglas Brinkley: American Moonshot: John F. Kennedy and the Great Space Race. Harper, 2019, ISBN 978-0-06-265506-6. Thorsten Dambeck: Das Apollo-Projekt. Die ganze Geschichte – mit Originalaufnahmen der NASA. Kosmos Verlag, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-440-16279-8. Filme For All Mankind – Ein großer Schritt für die Menschheit (For All Mankind), USA 1989, Dokumentarfilm von Al Reinert Moon Shot, Dokumentation über das Apollo-Programm, USA 1994 (nach einem Buch der Apollo-Astronauten Alan Shepard und Deke Slayton u. a.) Apollo 13, 1995 From the Earth to the Moon, 1998 Im Schatten des Mondes, 2007, Dokumentation von David Sington mit Archivmaterial und Interviews Moonshot, Dokudrama über die erste Mondlandung 1969 mit Apollo 11, GB 2009 Moon Machines, Discovery Science Channel, 2010 Das größte Abenteuer der Menschheit – Geheimnisse des Apollo-Programms, Dokumentation von Stephan Bleek und Peter Kocyla für das ZDF, Deutschland, 2015 First Man, Aufbruch zum Mond, 2018 Apollo 11, US-Dokumentarfilm, 2019 Apollo 18, US-Horrorfilm, 2011 Weblinks NASA: Apollo (englisch) NASA: Apollo Lunar Surface Journal (englisch) NASA: Fotos der NASA zum Apollo-Programm Project Apollo Archive (Bildsammlung) Marsch zum Mond in: Der Spiegel 18/1962 vom 2. Mai 1962 Einzelnachweise NASA Raumfahrtprogramm Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/April
April
Der April (von lateinisch Aprilis) ist der vierte Monat des Jahres im gregorianischen Kalender. Er hat 30 Tage und beginnt mit demselben Wochentag wie der Juli und in Schaltjahren auch wie der Januar. Im römischen Kalender war der Aprilis ursprünglich der zweite Monat, weil mit dem Ende des Winters im März das neue landwirtschaftliche (aber auch militärische) Jahr begann. Etymologie Es gibt keine gesicherte Herleitung des Namens. Da die Namen der ersten Jahreshälfte Götter wiedergeben, könnte es von Aphrodite stammen, die als Göttin für Liebe zu April passen würde, auch wenn der römische Name Venus gewesen wäre. Der Name bezieht sich möglicherweise auch auf die sich öffnenden Knospen im Frühling und wäre dann, ebenso wie die auf Vegetation bezogene Deutung des Aprils als „der die Erde öffnende Monat“, vom Lateinischen aperire („öffnen“) herzuleiten. Eine andere Etymologie sieht apricus („sonnig“) als Ursprung des Wortes. Zur Regierungszeit Kaiser Neros wurde der Monat ihm zu Ehren in Neroneus umbenannt, was sich allerdings nicht durchsetzte. Unter Kaiser Commodus hieß der Monat dann Pius, einer der Namen des Kaisers, auch diese Umbenennung wurde nach seinem Tod wieder rückgängig gemacht. Der alte deutsche Name, der durch Karl den Großen im 8. Jahrhundert eingeführt wurde, ist Ostermond, später auch Ostermonat genannt, weil Ostern meist im April liegt. Andere, heute kaum mehr gebräuchliche Bezeichnungen sind Wandelmonat, Grasmond oder auch Launing. Der Legende nach wurde Luzifer am 1. April aus dem Himmel verstoßen. Bräuche und Redewendungen Seit dem 16. Jahrhundert ist in Europa der Brauch belegt, am 1. April einen Aprilscherz zu begehen, indem man einen Mitmenschen mit einer Lügengeschichte „in den April schickt“. Daher stammen auch die folgenden beiden Sprichwörter: Aprilwetter steht bildlich für wechselhaftes Wetter, auch wenn es in anderen Monaten stattfindet: April im Gedicht Zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben dem Monat April Gedichte gewidmet. Siehe auch Bewegliche Feiertage | Bewegliche Gedenktage Historische Jahrestage | Zeitskala Liste von Bauernregeln Weblinks Anmerkungen Monat des gregorianischen und julianischen Kalenders
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https://de.wikipedia.org/wiki/August
August
Der August (Betonung auf zweiter Silbe []; Erntemonat, Ährenmonat, Sichelmonat, Ernting; ) ist der achte Monat des Jahres im gregorianischen Kalender. Entstehung Der August hat 31 Tage und wurde im Jahre 8 v. Chr. nach dem römischen Kaiser Augustus benannt, da er in diesem Monat sein erstes Konsulat angetreten hat. Unter Kaiser Commodus (Kaiser von 180 bis 192) wurde der Name des Monats ihm zu Ehren in Commodus geändert, nach dem Tod des Kaisers erhielt der Monat seinen alten Namen zurück. Im römischen Kalender war der Augustus ursprünglich der sechste Monat und hatte vor seiner Umbenennung den Namen Sextilis (lat. ‚der sechste‘), ausgehend vom Jahresbeginn am 1. März. Durch die Julianische Kalenderreform wurden der Beginn von Amtsjahr (Amtsantritt der römischen Konsuln) und Kalenderjahr allerdings auf den 1. Januar verlegt. Der Sextil hatte ursprünglich 29 Tage und bekam durch Julius Caesars Reform 31 Tage. Die Reihenfolge der Tagesanzahl der folgenden Monate September, Oktober, November und Dezember (31 und 30 Tage) wurde umgekehrt, da andernfalls drei Monate (Juli bis September) mit je 31 Tagen unmittelbar aufeinander gefolgt wären. Unter Kaiser Augustus wurde der Monat Sextilis dann zu Ehren des Kaisers in Augustus umbenannt. Die oft zu hörende Behauptung, der Monat August wäre in Caesars ursprünglichem Reformkalender nur 30 Tage lang gewesen und wäre nur deshalb auf 31 Tage verlängert worden, um dem nach Julius Caesar benannten Monat Juli nicht nachzustehen, hat sich als Legende erwiesen. Der August beginnt in Schaltjahren mit dem gleichen Wochentag wie der Februar. In Gemeinjahren beginnt jedoch kein anderer Monat mit demselben Wochentag wie der August. Der männliche Vorname August wird im Gegensatz zum Monatsnamen auf der ersten Silbe betont. Feier- und Gedenktage Der Bundesfeiertag am 1. August ist als Schweizer Nationalfeiertag ein gesetzlicher Feiertag. Maria Himmelfahrt am 15. August ist in ganz Österreich, in einigen Kantonen der Schweiz, im Saarland und in den überwiegend katholischen Gemeinden Bayerns ein gesetzlicher Feiertag. Er ist auch als Staatsfeiertag der Nationalfeiertag von Liechtenstein. Zudem ist das Friedensfest am 8. August in der Stadt Augsburg ein gesetzlicher Feiertag. Im übrigen deutschsprachigen Raum ist der August ohne Feiertage. Siehe auch Bewegliche Feiertage Bewegliche Gedenktage Wetter- und Bauernregeln für den August Karschnatz in Luxemburg Einzelnachweise Weblinks Monat des gregorianischen und julianischen Kalenders
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https://de.wikipedia.org/wiki/Apollo
Apollo
Apollo steht für: Apollon, einen Gott in der römischen und griechischen Mythologie, nach dem verschiedenste Dinge benannt wurden. (1862) Apollo, einen Asteroiden eine Apfelsorte, siehe Apollo (Apfel) eine Freimaurerloge in Leipzig, siehe Apollo (Freimaurerloge) eine Kartoffelsorte einen Mondkrater, siehe Apollo (Mondkrater) eine Zeitschrift, siehe Apollo (Zeitschrift) Apollos, biblische Person Prix Apollo, Literaturpreis Roter Apollo oder Apollofalter (Parnassius apollo), Schmetterling Apollo Cinerama, Kino in Zürich Apollo Magazine, britische Kunstzeitschrift (gegründet 1925) Apollo radio, Hörfunksender in Sachsen Apollo (Schiff, 1970), Fährschiff, 1970 auf der Meyer-Werft gebaut Apollo (Schiff, 2018), Errichterschiff von GeoSea HMS Apollo, Schiff Raumfahrt: ein Raumschiff, siehe Apollo (Raumschiff) Apollo-Programm, NASA-Raumfahrtprogramm Technik: ein Glasfaser-Seekabelsystem im Atlantik, siehe Apollo (Kabel) ein in der Android-Distribution CyanogenMod enthaltenes Musik-Abspielprogramm für tragbare Geräte Apollo-Brücke in Bratislava Apollo-Technik, eine Lernmethode Kraftfahrzeuge: Buick Apollo, Automodellreihe von Buick Gumpert Apollo, deutscher Supersportwagen VW Apollo, brasilianisches Automodell von Volkswagen Apollo, verschiedene Modelle des Apoldaer Unternehmens Apollo-Werke (siehe unten) Unternehmen und Marken: Apollo Airlines, ehemalige griechische Fluggesellschaft (1994–1996) Apollo Computer, ehemaliger US-amerikanischer Hersteller von Workstations (1980–1989) Apollo Global Management, börsennotierte US-amerikanische Beteiligungsgesellschaft Apollo Group, US-amerikanisches Bildungsunternehmen Apollo International Corporation, ehemaliger US-amerikanischer Automobilhersteller (1964–1965) Apollo Motor Cars, ehemaliger US-amerikanischer Automobilhersteller (1982–1989) Apollo-Optik, deutsche Augenoptiker-Filialkette Apollo Tyres, indischer Reifenhersteller Apollo-Raffinerie, früherer Name der größten Erdölraffinerie der Slowakei in Bratislava, heute Slovnaft Apollo-Werke, ehemaliger deutscher Automobilhersteller (1904–1932) Chicago Recording Scale Company, ehemaliger US-amerikanischer Automobilhersteller mit dem Markennamen Apollo Erste österreichische Seifensieder-Gewerks-Gesellschaft „Apollo“, ehemaliger Seifensiederunternehmen in Wien (1833–1939) Geographische Objekte: Apollo Creek, Fließgewässer im Blaine County, Idaho Apollo Five Mine, Bergwerk im Elko County, Nevada Apollo Island, Insel der Antarktis Apollo Lake, See im Fresno County, Kalifornien Apollo Mine, Bergwerk in Alaska Apollo Ridge Park, Park im Washington County, Oregon eine Stromrichterstation der HGÜ Cahora Bassa bei Pretoria in Südafrika Orte in den Vereinigten Staaten: einen nicht mehr existenten Ort im Putnam County, siehe Apollo (Georgia) einen Ort im San Bernardino County, siehe Apollo (Kalifornien) einen Ort im Armstrong County, siehe Apollo (Pennsylvania) Apollo Shores, im Rhea County, Tennessee APOLLO steht als Abkürzung für: Apache Point Observatory Lunar Laser-ranging Operation, Projekt zur Messung des Mondabstandes Siehe auch: Apollo Kino Apollo-Theater Apollo Records Apollon (Begriffsklärung) Abkürzung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Archimedisches%20Prinzip
Archimedisches Prinzip
Das archimedische Prinzip ist nach dem vor über 2000 Jahren lebenden griechischen Gelehrten Archimedes benannt, der als erster diesen Sachverhalt formulierte, und zwar als 16. Proposition in seinem Werk Über die schwimmenden Körper Es lautet: Das archimedische Prinzip gilt in allen Fluiden, d. h. in guter Näherung in Flüssigkeiten und in Gasen. Schiffe verdrängen Wasser und erhalten dadurch Auftrieb. Da die mittlere Dichte eines Schiffes geringer als die Dichte von Wasser ist, schwimmt es an der Oberfläche. Auch Ballone und Luftschiffe machen sich diese Eigenschaft zunutze. Sie werden mit einem Gas befüllt, dessen Dichte geringer ist als die der umgebenden Luft. Diese Gase (z. B. Helium oder Wasserstoff) sind bei vielen Luftschiffen und Ballonen von Natur aus weniger dicht als Luft; in Heißluftballons und Heißluft-Luftschiffen wird die Luftfüllung mit Hilfe von Gasbrennern erwärmt, wodurch ihre Dichte abnimmt. Erklärung des Phänomens In vereinfachter Sichtweise liegt die Ursache für die Auftriebskraft darin, dass der hydrostatische Druck an der Oberseite bzw. der Unterseite eines eingetauchten Körpers unterschiedlich ist. Aus diesem Druckunterschied resultieren unterschiedlich große Kräfte auf Unter- und Oberseite des eingetauchten Körpers, auf die Unterseite wirkt eine größere Kraft als auf die weiter oben befindlichen Teile der Oberfläche. Beispielrechnung Im Beispiel (Bild 1) gehen wir von einem Würfel mit 20 cm Kantenlänge aus. Er ist 10 cm tief unter die Wasseroberfläche eingetaucht. Berechnung über Druckunterschiede Der Druck, den 1 m Wassersäule erzeugt, beträgt . An der Oberseite des Körpers mit Wassersäule herrscht also , an der Unterseite bei Wassersäule ergibt sich . Der Luftdruck addiert sich zu beiden Werten und muss in der weiteren Rechnung nicht berücksichtigt werden. Auf die untere Fläche (Bild 1) wirkt somit die Kraft nach oben. Auf die obere Fläche wirkt dagegen die Kraft nach unten. Die Differenz der beiden Kräfte, also der Auftrieb dieses Körpers berechnet sich also zu . Berechnung mit Hilfe des archimedischen Prinzips Nach Archimedes gilt Folgendes: . Bezogen auf das Beispiel (Bild 1) können wir schreiben: Dabei wurde die Dichte des Fluids, die Beziehung zur Masse und zum Volumen , und der Ortsfaktor verwendet. Wir sehen, dass beide Methoden zum selben Ergebnis führen. Gedankenexperiment Folgendes Gedankenexperiment veranschaulicht die Richtigkeit des archimedischen Prinzips. Dazu stelle man sich ein ruhendes Fluid vor. Innerhalb des Fluids sei ein beliebiger Teil des Fluids markiert. Die Markierung kann man sich wie eine Art Wasserballon in einem Behälter Wasser vorstellen, nur dass die Haut dieses Wasserballons unendlich dünn und massenlos ist und eine beliebige Form annehmen kann. Man stellt nun fest, dass der so markierte Teil des Fluids innerhalb des Fluids weder steigt noch sinkt, da sich das gesamte Fluid in Ruhe befindet – der markierte Teil schwebt sozusagen schwerelos im ihn umgebenden Fluid. Das bedeutet, dass die Auftriebskraft des markierten Fluidteils exakt sein Gewicht kompensiert. Daraus kann gefolgert werden, dass die Auftriebskraft des markierten Fluidteils genau seiner Gewichtskraft entspricht. Da die Markierung innerhalb des Fluids beliebig ist, ist somit die Richtigkeit des archimedischen Prinzips für homogene Fluide gezeigt. Steigen, sinken, schweben Damit ein Körper die in der Grafik beschriebene Position beibehält, muss seine Gewichtskraft gleich der Gewichtskraft des verdrängten Wassers (78,48 N) sein. Dann heben sich alle auf den Körper wirkenden Kräfte auf und dieser kommt zum Stillstand. Nach der Formel muss der Körper des Beispiels 8.000 g schwer sein. Des Weiteren hätte er nach eine Dichte von 1 kg/dm3, also die Dichte von Wasser. Wir können also folgende Regel formulieren: Wenn ist, dann schwebt der Körper. Wenn ist, dann steigt der Körper. Wenn ist, dann sinkt der Körper. Die Körper steigen oder sinken, bis der Gewichtskraft eine betragsmäßig gleich große Kraft entgegenwirkt. Auf einen stationären Körper, der nicht auf dem Boden des Behälters aufliegt, muss daher eine Auftriebskraft einwirken, die gleich seiner eigenen Gewichtskraft ist: Für in der Wassersäule schwebende oder auf der Wasseroberfläche aufschwimmende Körper gilt daher: Entdeckung des archimedischen Prinzips Archimedes war von König Hieron II. von Syrakus beauftragt worden, herauszufinden, ob dessen Krone wie bestellt aus reinem Gold wäre oder ob das Material durch billigeres Metall gestreckt worden sei. Diese Aufgabe stellte Archimedes zunächst vor Probleme, da die Krone natürlich nicht zerstört werden durfte. Der Überlieferung nach hatte Archimedes schließlich den rettenden Einfall, als er zum Baden in eine bis zum Rand gefüllte Wanne stieg und dabei das Wasser überlief. Er erkannte, dass die Menge Wasser, die übergelaufen war, genau seinem Körpervolumen entsprach. Angeblich lief er dann, nackt wie er war, durch die Straßen und rief „Eureka!“ („Ich habe es gefunden“). Um die gestellte Aufgabe zu lösen, tauchte er einmal die Krone und dann einen Goldbarren, der genauso viel wog wie die Krone, in einen bis zum Rand gefüllten Wasserbehälter und maß die Menge des überlaufenden Wassers. Da die Krone mehr Wasser verdrängte als der Goldbarren und somit bei gleichem Gewicht voluminöser war, musste sie aus einem Material geringerer Dichte, also nicht aus reinem Gold, gefertigt worden sein. Diese Geschichte wurde vom römischen Architekten Vitruv überliefert. Obwohl der Legende nach auf dieser Geschichte die Entdeckung des archimedischen Prinzips beruht, würde der Versuch von Archimedes auch mit jeder anderen Flüssigkeit funktionieren. Das Interessanteste am archimedischen Prinzip, nämlich die Entstehung des Auftriebs und damit die Berechnung der Dichte des Fluids, spielt in dieser Entdeckungsgeschichte gar keine Rolle. Physikalische Herleitung Ein Körper wird vom Druck belastet, welchen das umgebende Medium (Flüssigkeit oder Gas) auf seine Oberfläche ausübt. Ein betrachtetes Teilstück der Oberfläche mit dem Inhalt sei so klein gewählt, dass es praktisch eben ist und dass in seinem Bereich der Druck konstant ist. Der Einheitsvektor der äußeren Flächennormale der Teilfläche sei . Das Medium übt dann die Kraft auf das Teilstück aus. Eine Summierung dieser Kräfte über alle Teilstücke liefert die gesamte Auftriebskraft. Das archimedische Prinzip gilt nur genau dann streng, wenn das verdrängte Medium inkompressibel (nicht zusammendrückbar) ist. Für Flüssigkeiten wie z. B. Wasser ist dies gut erfüllt, daher soll im Folgenden von einem Körper ausgegangen werden, der in eine Flüssigkeit der (genau genommen von der Temperatur abhängigen) Dichte eintaucht. In der Flüssigkeit lastet auf einer waagerechten Fläche der Größe in der Tiefe das Gewicht einer Flüssigkeitssäule der Masse . Der Druck in dieser Tiefe ist deshalb . Ein entsprechender Druckverlauf gilt bei nicht zu großen Höhendifferenzen auch in der Luft oder anderen Gasen (d. h. die Kompressibilität fällt nicht ins Gewicht; bei großen Höhenunterschieden müsste eine veränderliche Dichte berücksichtigt werden). Deshalb gelten die folgenden Überlegungen auch für realistisch große Luftschiffe oder Ballone. Für einfache geometrische Formen kann man die Gültigkeit des archimedischen Prinzips mit einfachen Mitteln von Hand nachrechnen. Für einen Quader mit Grundfläche und Höhe , der senkrecht in die Flüssigkeit eintaucht, erhält man beispielsweise: Kraft auf die obere Grundfläche mit der Flächennormalen : Kraft auf die untere Grundfläche mit der Flächennormalen : Kräfte auf die Seitenflächen heben sich stets gegenseitig auf. Die gesamte Auftriebskraft ist also Dabei ist das verdrängte Volumen, also die verdrängte Masse und ihre Gewichtskraft. Das archimedische Prinzip ist also erfüllt. Das negative Vorzeichen entfällt, wenn die -Achse nach oben gewählt wird. Für einen beliebig geformten Körper erhält man die gesamte Auftriebskraft durch das Oberflächenintegral Mit dem Integralsatz und folgt daraus . Weblinks Interaktives Experiment zur Größe der Auftriebskraft auf einen Körper, der in eine Flüssigkeit taucht Einzelnachweise Klassische Mechanik Archimedes
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ergotismus
Ergotismus
Ergotismus oder Mutterkornvergiftung (früher auch Antoniusfeuer und lateinisch ; von lateinisch , auch ‚verflucht‘, ‚abscheulich‘) ist eine von dem giftigen Pilz Claviceps purpurea (dem „Mutterkorn“) ausgehende Vergiftung (Mykotoxikose) und bezeichnet die Symptomatik dieser Vergiftung mit Mutterkornalkaloiden wie zum Beispiel Ergotamin oder Ergometrin. Ursachen Im Mittelalter trat Ergotismus als Folge des Verzehrs von Getreide, insbesondere von Roggen und daraus hergestelltem Mehl auf, welches mit Mutterkorn – einer länglichen, kornähnlichen Dauerform (Sklerotium) des Mutterkornpilzes Claviceps purpurea – verunreinigt war. Die Ursache der damals unter anderem „Antoniusfeuer“ genannten Symptome des Ergotismus wurde erst im 17. Jahrhundert durch französische Ärzte gefunden. Da die Gefahr, die von Mutterkorn ausgeht, heute bekannt ist, werden verschiedene Maßnahmen ergriffen, um einer Verunreinigung von Getreideprodukten entgegenzuwirken. Der Ergotismus entsteht in der heutigen Zeit daher meist durch die Einnahme von Medikamenten, die Mutterkornalkaloide und deren Derivate enthalten. Diese Medikamente finden in der Therapie der Migräne (z. B. Ergotamin), in der Geburtsmedizin (Methyl- und Ergometrin), zum Abstillen (Bromocriptin) und in der Behandlung der Parkinson-Krankheit (z. B. Bromocriptin, Pergolid, Cabergolin oder Dihydroergocryptin) Anwendung. Eine unkontrollierte Dosissteigerung kann dabei zu Ergotismus führen. Symptomatik Durch eine Vergiftung mit Ergotamin kommt es zu einer massiven Verengung der Blutgefäße und in der Folge zu einer Durchblutungsstörung von Herzmuskel, Nieren und Gliedmaßen. Die Gliedmaßen sind kalt und blass, der Puls ist meist kaum nachweisbar. Zudem bestehen Hautkribbeln (Parästhesie), Empfindungsstörungen (Hypästhesie) und eventuell Lähmungserscheinungen (Parese). Eine häufige Folge ist das sekundäre (induzierte) Raynaud-Syndrom oder die Steigerung in Form eines schmerzhaften Absterbens von Fingern und Zehen (Gangrän und Nekrosen bei Ergotismus gangraenosus, dem „Mutterkornbrand“, benannt auch mit Ignis sacer („Heiliges Feuer“), Antoniusfeuer, Sankt-Antonius-Rauch und ähnlichen Bezeichnungen). Zusätzlich bestehen in der Regel Allgemeinsymptome wie Erbrechen, Verwirrtheit, Wahnvorstellungen, Kopfschmerzen, Ohrensausen und Durchfall. Akute Vergiftungen können durch Atem- oder Herzstillstand zum Tod führen, chronische Vergiftungen zum Verlust der mangelhaft durchbluteten Gliedmaßen, Sekundärinfektionen und zu einer darauf folgenden Sepsis. Diagnostik Wichtigstes diagnostisches Kriterium ist das Erkennen der Ergotamineinnahme. Die Anamnese und dabei insbesondere die Medikamentenanamnese ist daher meistens entscheidend. Apparative Untersuchungen können bei Bedarf ergänzend hinzugezogen werden, beispielsweise die Doppler-Sonographie der Extremitätengefäße. Therapie Auslösende Medikamente sind als Erstmaßnahme sofort abzusetzen. Ist dies allein nicht ausreichend, können die Blutgefäße durch die Gabe von Nitraten, Calciumantagonisten und/oder Prostaglandininfusionen weitgestellt werden (Vasodilatation). Synonyme Der Ergotismus besitzt eine ganze Reihe zumeist regionaler Bezeichnungen, wie Antoniusfeuer, Sankt-Antonius-Rache, (St.-)Antonius-Plage, Kriebelkrankheit, Magdalenenflechte (Spanien), Muttergottesbrand (Westfalen), Mutterkornbrand, St. Antonius-Feuer, St. Johannis-Fäule (Böhmen) oder St. Martialis-Feuer. sowie Krampfsucht, Kornstaupe, ziehende Seuche und Ziehkrankheit. Geschichte Der erste belegte, epidemieartige Fall von Ergotismus trat im Jahr 857 bei Xanten auf. 943 sollen europaweit – vorwiegend in Frankreich und Spanien – etwa 40.000 Menschen einer Mutterkornepidemie zum Opfer gefallen sein. Man bezeichnete die Erkrankung als Antoniusfeuer (benannt nach dem heiligen Antonius, in den die Erkrankten im Gebet ihre Hoffnung auf Heilung setzten) oder auch ignis sacer „heiliges Feuer“, wobei unter diesen und ähnlichen Bezeichnungen auch andere, vor allem mit geschwürigem Gewebszerfall der Extremitäten verbundene Erkrankungen oder Symptome (Phlegmone, Erysipel, Herpes zoster) verstanden wurden. Vor allem der Antoniter-Orden hatte es sich zur Aufgabe gemacht, am Antoniusfeuer Erkrankte zu behandeln und zu pflegen. Nach dem Seuchenjahr 1089 kamen viele Menschen in das in der Nähe von Grenoble liegende Dorf La-Motte-aux-Boix, in dessen Kirche von einem französischen Adligen die Gebeine des heiligen Antonius um 1070 aus Konstantinopel überführt worden waren, um zu dem Heiligen zu beten. Dort entstand bald darauf das Kloster Saint-Antoine-l’Abbaye, wo Kranke neben seelischem Beistand auch Arzneimittel wie „Antoniuswein“ und „Antoniusbalsam“ erwerben konnten. Ausgehend von dem mit einem Spital ausgestatteten Kloster Saint Antoine in La-Motte-aux-Boix waren über 300 Klöster (meist mit Spital) des Antoniter-Ordens im mittelalterlichen Europa entstanden. Die Antoniter unterhielten im 15. Jahrhundert in ganz Europa etwa 370 Spitäler, in denen rund 4000 Erkrankte versorgt wurden. Die Krankheit war derart gefürchtet, dass Prozessionen und Zeremonien zu ihrer Abwehr zelebriert wurden. Noch heute wird auf Sardinien alljährlich im Januar das „Focolare di Sant’ Antonio“ (Antoniusfeuer) zur Abwehr von Krankheiten und anderen Übeln gefeiert. Trotz des bereits in der Antike bekannten Zusammenhangs von mit Pilzen oder Fäulnis befallenem Getreide und epidemisch auftretenden Krankheiten sowie deutlicher Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der Verwendung von mutterkornhaltigem Mehl und dem Auftreten von Ergotismus im Mittelalter wurden erst nach neuerlichen Epidemien 1716–1717 in Dresden sowie in den Jahren 1770 und 1777 in ganz Europa gesetzgeberische Maßnahmen ergriffen. Nachdem um 1853 durch den Mykologen L. R. Tulasne der Entwicklungszyklus des Mutterkornpilzes Claviceps purpurea aufgeklärt und beschrieben worden war, extrahierte Charles Tanret 1875 aus Mutterkorn eine – allerdings ziemlich verunreinigte – Substanz, die er „Ergotinin“ nannte. Ebenso wie das „Ergotoxin“, das 1907 entdeckt wurde, ist es ein Gemisch verschiedener Ergotalkaloide. Erst Arthur Stoll isolierte 1918 mit Ergotamin das erste reine Mutterkornalkaloid. Im 19. Jahrhundert gehörten Mutterkorn-Massenvergiftungen größtenteils der Vergangenheit an, und seitdem in Europa nur noch hinreichend gereinigtes Getreide verzehrt wird, stellt Mutterkorn dort im Allgemeinen keine Gefahr mehr für die Gesundheit der Menschen dar. Es gab aber vereinzelt auch noch im 20. Jahrhundert Fälle von Vergiftungen. In den Jahren 1926 und 1927 kam es in der Sowjetunion zu Massenvergiftungen; offiziell gab es über 11.000 Tote durch mutterkornhaltiges Brot. Der letzte – allerdings umstrittene – Vergiftungsvorfall, mit 200 Erkrankten und sieben Toten, soll 1951 in Pont-Saint-Esprit (Frankreich) aufgetreten sein. Da heute zunehmend ungemahlenes Getreide konsumiert wird, das direkt vom Landwirt kommt, kann es z. B. bei ungereinigtem Roggen aus Direktverkäufen zu Vergiftungen kommen. In Deutschland konnte 1985 eine Vergiftung auf mutterkornhaltiges Müsli zurückgeführt werden. Die Untersuchungsämter der Bundesländer stellten auch bei Stichproben von 2004 bis 2011 bisweilen gesundheitsschädliche Alkaloidgehalte in Getreideprodukten fest. Stand der Technik in Mühlen in den 2010er-Jahren zur Vermeidung von Vergiftungen ist, mit Mutterkorn vermischtes Getreide durch Farbsortierer auf Kornebene vollautomatisch zu sortieren. Literatur Veit Harold Bauer: Das Antonius-Feuer in Kunst und Medizin (= Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse. Jg. 1973, Supplement). Springer, Heidelberg/Berlin 1973, ISBN 3-540-06593-8. Henry Chaumartin: Le mal des ardents et le feu Saint-Antoine. Étude historique, médicale, hagiographique et légendaire. Avec une préface du Prof. Laignel-Lavastine. Isère, Wien 1946. Vgl. dazu Guitard Eugène-Humbert, in: Revue d'histoire de la pharmacie. Band 35, Nr. 117, 1947, S. 159–160. Elisabeth Clementz: Die Isenheimer Antoniter. Kontinuität vom Spätmittelalter bis in die Frühneuzeit? In: Michael Matheus (Hrsg.): Funktions- und Strukturwandel spätmittelalterlicher Hospitäler im europäischen Vergleich. Alzeyer Kolloquium 1999. Stuttgart 2005 (= Geschichtliche Landeskunde. Band 56), ISBN 3-515-08233-6, S. 161–174, hier: S. 161–163 (Das Antoniusfeuer). H. Mielke: Studien über den Pilz Claviceps purpurea (Fries) Tulasne unter Berücksichtigung der Anfälligkeit verschiedener Roggensorten und der Bekämpfungsmöglichkeiten des Erregers. In: Mitteilungen aus der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft Berlin-Dahlem. Band 375, 2000. Daniel Carlo Pangerl: Antoniusfeuer. Die rätselhafte Plage. In: Medizin im Mittelalter. Zwischen Erfahrungswissen, Magie und Religion (= Spektrum der Wissenschaften. Spezial: Archäologie Geschichte Kultur. Band 2.19), 2019, S. 50–53. Irmtraut Sahmland: Ergotismus. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 367 f. Peter Schmersahl: Mutterkorn: Halluzinogen und Auslöser von Vergiftungen. Ein Streifzug durch die Medizin- und Kunstgeschichte. In: DAZ 2010, Nr. 29, S. 48, 22. Juli 2010 Weblinks Unterlinden-Museum in Colmar, wo der Isenheimer Altar besichtigt werden kann Barger, Ergotism (1931). Einzelnachweise Vergiftung Medizingeschichte Hexenverfolgung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred%20Nobel
Alfred Nobel
Alfred Bernhard Nobel [] (* 21. Oktober 1833 in Stockholm; † 10. Dezember 1896 in Sanremo, Italien) war ein schwedischer Chemiker und Erfinder. Ihm wurden insgesamt 355 Patente erteilt. Nobel ist der Erfinder des Dynamits sowie Stifter und Namensgeber des Nobelpreises. Das chemische Element Nobelium wurde nach ihm benannt. Leben Herkunft Alfred Nobel war der dritte Sohn von Karolina Andriette Nobel (geborene Ahlsell 1805–1889) und des schwedischen Ingenieurs und Industriellen Immanuel Nobel. Er hatte zwei ältere Brüder, Robert (1829–1896) und Ludvig (1831–1888), und den jüngeren Bruder Emil Oskar Nobel (1843–1864). Letzterer starb am 3. September 1864 auf dem Anwesen Heleneborg im Stockholmer Stadtteil Södermalm bei einem durch Experimentieren mit Nitroglycerin verursachten Unfall. Alfred Nobel war nicht im Unternehmen anwesend, als der Unglücksfall geschah. Einer seiner Neffen war der schwedisch-russische Ölmagnat Emanuel Nobel (1859–1932), der Erbauer des ersten Dieselmotorschiffes, der Vandal. Nobel war Ur-Ur-Urenkel des Universalgelehrten Olof Rudbeck der Ältere. Jugend und Ausbildung In den Jahren 1841 und 1842 besuchte Alfred Nobel eine Schule in Stockholm. 1842 kam er nach Sankt Petersburg, wo sein Vater mit Hilfe der norwegischen Regierung einige Hüttenwerke gegründet hatte und die russische Armee belieferte. Dank des Wohlstands des Vaters genoss Alfred eine erstklassige Ausbildung durch Privatlehrer. Bereits im Alter von 17 Jahren beherrschte er fünf Sprachen (Schwedisch, Russisch, Deutsch, Englisch und Französisch). Neben seinen Chemie- und Physikstudien interessierte er sich besonders für englische Literatur. Das missfiel seinem Vater, der ihn für introvertiert hielt, weshalb er ihn ins Ausland schickte. Nobel besuchte in rascher Folge Schweden, Deutschland, Frankreich und die Vereinigten Staaten. In Paris lernte er dabei 1850 Ascanio Sobrero kennen, der drei Jahre zuvor das Nitroglycerin entdeckt hatte, es jedoch aufgrund seiner Gefährlichkeit für nicht praxistauglich hielt. 1859 kehrte er wieder mit seinem Vater nach Stockholm zurück. Entwicklung der sicheren Zündung von Nitroglycerin Nobel zeigte sich an der Erfindung des Nitroglycerins sehr interessiert und richtete seit 1859 seine Bemühungen darauf, es als Sprengstoff in die Technik einzuführen. Zwischen 1860 und 1864 experimentierte er unter anderem im Ruhrgebiet im heutigen Dortmunder Stadtteil Dorstfeld auf der dortigen Zeche Dorstfeld mit Sprengstoffen im Bergbau. Um Nitroglycerin mit größerer Sicherheit sprengen zu können, entwickelte er 1863 die Initialzündung. Bei Nobels Experimenten mit Nitroglycerin kam es zu mehreren Unfällen; bei einer Explosion 1864, bei der sein Laboratorium zerstört wurde, kamen sein Bruder Emil und vier weitere Personen ums Leben. Nach diesem Unglück verboten die schwedischen Behörden ihm weitere Experimente mit Nitroglycerin in der Nähe von bewohnten Gebieten, so dass Nobel im Jahre 1865 ein Labor und Fabriken an den Vinterviken am Mälaren im Westen Stockholms verlegte. Ähnliche Anlagen baute er in Deutschland bei Krümmel (Schleswig-Holstein) nahe Hamburg. Noch im selben Jahr gelang ihm die Massenproduktion von Nitroglycerin, bei der es jedoch ebenfalls zu einer Reihe schwerer Unfälle kam. Entdeckung der Handhabungssicherheit von Nitroglycerin Um die Gefährlichkeit des Nitroglycerins bei gleichbleibender Sprengkraft zu verringern, experimentierte Nobel erfolglos mit verschiedenen Zusatzstoffen. Der Legende nach half schließlich der Zufall: 1866 kam es bei einem der zahlreichen Transporte von Nitroglycerin zu einem Zwischenfall, bei dem eines der Transportgefäße undicht wurde und reines Nitroglycerin auf die mit Kieselgur ausgepolsterte Ladefläche des Transportwagens tropfte. Die entstandene breiige Masse erregte die Aufmerksamkeit der Arbeiter, so dass sie diesen Vorfall später an Nobel meldeten. Diesem gelang hierdurch endlich die ersehnte Herstellung eines handhabungssichereren Detonationssprengstoffes. Nobel selbst bestritt immer, es habe sich um eine Zufallsentdeckung gehandelt. Er ließ sich das im Mischungsverhältnis von 3:1 optimierte Verfahren 1867 patentieren und nannte sein Produkt Dynamit. Da der Bedarf an einem sichereren und trotzdem wirkungsvollen Sprengstoff zu dieser Zeit auch infolge der Blütezeit des Diamantenfiebers groß war, konnte Nobel durch seine Erfindung schnell ein Vermögen aufbauen. Seine Firmen lieferten Nitroglycerin-Produkte nach Europa, Amerika und Australien. Nobel selbst reiste ständig, um seine Produkte zu verkaufen. Er besaß über 90 Dynamit-Fabriken in aller Welt. Verhältnis und Korrespondenz mit Sofie Hess Im Jahr 1876 lernte Nobel in Baden bei Wien Sofie Hess kennen, die dort in einem Blumengeschäft arbeitete. Nobel war damals 43 Jahre alt, sie 26. Nobel heiratete nicht und Hess wurde für die nächsten 15 Jahre seine Geliebte, bis sie von einem anderen Mann schwanger wurde. Nobel unterstützte Hess jedoch auch danach weiterhin finanziell und bedachte sie in seinem Testament. Nobel und Hess schrieben einander in dieser Zeit mehrere hundert Briefe. In den Briefen brachte Nobel u. a. Chauvinismus, groben Rassismus und Antisemitismus zum Ausdruck. Nach dem Tod Nobels im Jahr 1896 trachtete die Nobel-Stiftung danach, die Briefe geheim zu halten; sie kaufte Hess die Briefe um die beachtliche Summe von 12.000 Florinen (rund 300.000 US-Dollar) ab, und Hess kam im Gegenzug der Forderung der Stiftung nach, nichts über ihr Verhältnis zu Nobel zu publizieren. Erst im Jahr 1976 gewährte das Schwedische Nationalarchiv einigen Wissenschaftlern Zugang zu den Briefen; erst 2017 wurde die gesamte Korrespondenz veröffentlicht. Umzug nach Italien Neben seinen Reisen forschte Nobel auch weiterhin mit Sprengstoffen. 1875 entwickelte er die Sprenggelatine, 1887 ließ er sich das Ballistit (rauchschwaches Pulver) patentieren. Nobel bot die Erfindung erst der französischen Regierung an, die jedoch ablehnte, da sie Aussicht auf ein bereits in der Entwicklung befindliches fast rauchfreies Pulver hatte. Daraufhin bot Nobel die Erfindung den Italienern an, die diese sofort kauften. In Frankreich wurde Nobel daraufhin in der Presse mit Spionage in Verbindung gebracht, er wurde verhaftet und es wurde ihm die Erlaubnis entzogen, Experimente durchzuführen. Infolge dieser Ereignisse zog Nobel 1891 nach Sanremo, kaufte dort eine 1870 erbaute Villa und verbrachte an diesem Ort den Rest seines Lebens. Am 10. Dezember 1896 starb Alfred Nobel an einer Gehirnblutung in Sanremo. Nobels Einstellung zum Krieg Schon Nobels Vater war als Rüstungsunternehmer zu Wohlstand gekommen, unter anderem durch die Produktion von Seeminen, die das Russische Reich im Krimkrieg einsetzte. Alfred Nobels wichtigste Erfindungen, Dynamit und Sprenggelatine, waren entgegen weit verbreiteter Ansicht nicht zur Kriegsführung geeignet. Das rauchschwache Pulver Ballistit war allerdings eine Ausnahme. Es revolutionierte die gesamte Schusstechnik, von der Pistole bis zur Kanone. Als Nobels Bruder Ludvig 1888 starb, druckte eine französische Zeitung versehentlich einen Nachruf auf Alfred Nobel. Die Überschrift lautete: Le marchand de la mort est mort („Der Kaufmann des Todes ist tot“). Nobels Reichtum wurde damit erklärt, dass er das Mittel gefunden habe, „mehr Menschen schneller als jemals zuvor zu töten“. Alfred Nobel war über diese Darstellung entsetzt und begann sich obsessiv mit der Frage zu beschäftigen, wie ihn die Nachwelt sehen würde. Über Krieg und Frieden diskutierte er intensiv mit Bertha von Suttner. 1876 hatte sie auf eine Stellenanzeige in der Wiener Zeitung Neue Freie Presse geantwortet und die Stelle einer Privatsekretärin bei Nobel angenommen, sie jedoch bereits eine Woche später wieder aufgegeben. Nach einem jahrelangen Exil im heutigen Georgien wurde sie eine bedeutende Friedensaktivistin und tauschte sich mit Nobel in einem umfangreichen Briefwechsel aus. Nobel war ihrem Anliegen von vornherein gewogen und bewunderte ihr Engagement, hielt es aber für aussichtsreicher, auf Regierungen einzuwirken, statt wie die Friedensbewegung vor allem die öffentliche Meinung zu mobilisieren. Der freundschaftliche Briefwechsel beeindruckte Nobel und regte ihn zur Stiftung des Friedensnobelpreises an, mit dem 1905 auch Bertha von Suttner ausgezeichnet wurde. 1894 kaufte Nobel sogar den schwedischen Rüstungsbetrieb Bofors – obwohl er den Krieg eigentlich verabscheute. Er verband mit der Rüstungsproduktion die Hoffnung, dass die Armeen eines Tages vom Krieg Abstand nehmen würden, sobald die abschreckende Wirkung ihrer Waffenarsenale groß genug geworden sei. Stiftung des Nobelpreises Da Nobel kinderlos blieb, veranlasste er, dass mit seinem Vermögen von etwa 31,2 Millionen Kronen eine Stiftung gegründet werden sollte. Ein Jahr vor seinem Tod setzte er in Anwesenheit einiger Freunde, aber ohne Anwalt, am 27. November 1895 sein Testament auf. Den größten Teil seines Vermögens, ungefähr 94 % des Gesamtvermögens, führte er der Stiftung zu. Nobel bestimmte, dass die Zinsen aus dem Fonds jährlich als Preis an diejenigen ausgeteilt werden sollten, „die im vergangenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen erbracht haben“, und zwar zu gleichen Teilen an Preisträger auf fünf Gebieten: Physik, Chemie, Physiologie oder Medizin, Literatur und Frieden („ein Teil an denjenigen, der am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen hingewirkt hat“). Nobel betonte, dass die Nationalität keine Rolle spielen dürfe, vielmehr solle der Würdigste den Preis erhalten. Nobel legte hier auch fest, wer für die Vergabe der Preise zuständig sein sollte: Die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften (Nobel war seit 1884 deren Mitglied) vergibt die Auszeichnungen für Physik und Chemie, das Karolinska-Institut den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin und die Schwedische Akademie den Nobelpreis für Literatur. Während es sich bei diesen Institutionen um wissenschaftliche Institutionen handelt, ist für die Vergabe des Friedensnobelpreises das norwegische Nobelpreiskomitee zuständig, eine vom norwegischen Parlament bestimmte Kommission. Die Gründung der Nobel-Stiftung erfolgte 1900. Im Jahr darauf, an Nobels fünftem Todestag, wurden die Nobelpreise erstmals verliehen. Nobel als Theaterautor In seinem letzten Lebensjahr verfasste Alfred Nobel das Theaterstück Nemesis, eine Tragödie in vier Akten über Beatrice Cenci, in Anlehnung an die von Percy Bysshe Shelley in Versform verfasste Tragödie The Cenci. Es wurde gedruckt, als er bereits im Sterben lag. Der gesamte Bestand wurde jedoch gleich nach seinem Tod bis auf drei Exemplare vernichtet, da man es als skandalös und blasphemisch empfand. Erst 2003 wurde das Buch veröffentlicht, und zwar in einer zweisprachigen Ausgabe auf Schwedisch und Esperanto. Mittlerweile liegen Übersetzungen ins Slowenische (2004), Italienische (2005), Französische (2008) und Spanische (2008) vor. Museen Nobelmuseum (schwedisch: Nobelmuseet) in Stockholm Das schwedische Nobelmuseum ist dem Nobelpreis und den Nobelpreisgewinnern ab 1901 bis zur Gegenwart und dem Leben Alfred Nobels gewidmet. Das Museum befindet sich im ehemaligen Gebäude der Stockholmer Börse in der Altstadt Stockholms (Platz Stortorget). Im selben Gebäude befinden sich auch die Schwedische Akademie und die Nobelbibliothek der Schwedischen Akademie. Nobelmuseum Björkborn (schwedisch: Nobelmuseet i Karlskoga) in Karlskoga Alfred Nobel verbrachte die letzten dreieinhalb Lebensjahre auf "Björkborns herrgård" bei Karlskoga. Neben der nahezu vollständig original erhaltenen Hauseinrichtung findet sich Nobels Labor sowie eine Ausstellung von Erzeugnissen der Rüstungsfirma Bofors. Die Tatsache, dass er in Björkborn Pferde und Hausangestellte – ergo seinen Hauptwohnsitz – hatte, spielte die entscheidende Rolle bei der Erbauseinandersetzung, da seine Verwandten vor einem französischen Gericht (bei Paris besaß Nobel ein Haus, das er sehr viel länger bewohnt hatte als das in Karlskoga) gegen die Übertragung seines Vermögens in eine Stiftung klagten. Es ist Nobels Mitarbeiter Ragnar Solman zu verdanken, dass die Stiftung wie von Nobel vorgesehen überhaupt realisiert werden konnte. Ein Teil der Ausstellung ist Ragnar Solman gewidmet. Nobel-Friedenszentrum (norwegisch: Nobels Fredssenter) in Oslo Das Nobel-Friedenszentrum informiert über den Friedensnobelpreis, die Preisträger und deren Arbeit sowie über aktuelle Konfliktherde auf der Welt und den Einsatz für den Frieden. Die Stiftung wurde im Jahr 2000 anlässlich der Feiern zur 100-jährigen internationalen Souveränität Norwegens vom norwegischen Parlament gegründet und am 11. Juni 2005 eröffnet. Villa Nobel in Sanremo Die Villa Nobel war der letzte Wohnsitz und der Sterbeort von Alfred Nobel. In der Villa wurde ein Museum über Leben und Werk Alfred Nobels und das wissenschaftliche Umfeld des 19. Jahrhunderts eingerichtet. Einen breiten Raum nehmen auch die Nobelpreise ein, wobei die italienischen Nobelpreisträger speziell hervorgehoben werden. Filme Dynamite, the Story of Alfred Nobel, engl. Spielfilm von Alfred Cleary mit Wesley Addy als Nobel und Osa Massen als Bertha von Suttner, 1954 Herz der Welt, dt. Spielfilm mit Mathias Wieman als Alfred Nobel und Hilde Krahl als Bertha von Suttner, 1952 Alfred Nobel – Der Lohn des Schreckens. Doku-Drama, 45 Min., Produktion: ZDF, Erstsendung: 15. Oktober 2006 Eine Liebe für den Frieden – Bertha von Suttner und Alfred Nobel Biopic, Produktion: ORF, Erstsendung: 2014 Verschiedenes Eine Aktie der ersten Waffenfabrik Alfred Nobels im geschätzten Wert von rund 180.000 Schweizer Franken kann im ersten internationalen Wertpapiermuseum, der Wertpapierwelt in Zürich besichtigt werden. Der Asteroid (6032) Nobel wurde nach ihm benannt. Auch die Pflanzengattung Nobeliodendron aus der Familie der Lorbeergewächse (Lauraceae) ist nach ihm benannt. Literatur Erik Bergengren: Alfred Nobel. Bechtle, München/Esslingen 1965, . Edelgard Biedermann (Hrsg.): Chère Baronne et amie – Chèr monsieur et ami. Der Briefwechsel zwischen Alfred Nobel und Bertha von Suttner. Olms, Hildesheim / Zürich/New York, NY 2001, ISBN 3-487-11492-5. Kenne Fant: Alfred Nobel. Idealist zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Insel, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-458-33804-7. Karl Gruber: Alfred Nobel. Die Dynamitfabrik Krümmel – Grundstein eines Lebenswerks. Flügge, Geesthacht 2001, ISBN 3-923952-11-2. Rune Pär Olofsson: Der Dynamitkönig Alfred Nobel. Kiepenheuer, Leipzig 1993, ISBN 3-378-00523-8. Orlando de Rudder: Alfred Nobel (1833–1896). Denoël, Paris 1997, ISBN 2-207-24179-3. Fritz Vögtle: Alfred Nobel. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1983, ISBN 3-499-50319-0. Weblinks Biografisches Alfred Nobel – His Life and Work auf nobelprize.org (englisch) Das Testament mit den Bestimmungen zum Nobelpreis auf nobelprize.org (englisch) Lawrence K. Altman: Alfred Nobel and the Prize That Almost Didn’t Happen. In: New York Times, 26. September 2006 Gregor Hoppe: Alfred Nobel - Die Sprengkraft des schlechten Gewissens Bayern 2 Radiowissen. Ausstrahlung am 9. Dezember 2021. (Podcast) Erfindungen (PDF, 370 KiB) Text des US-Patents an Alfred Nobel (englisch) Museen Nobelmuseum Stockholm Nobelmuseum Karlskoga Nobel-Friedenscenter, Oslo Einzelnachweise Chemiker (19. Jahrhundert) Erfinder Unternehmer (19. Jahrhundert) Unternehmer (Chemische Industrie) Industrieller Unternehmer (Schweden) Person (Nobelpreis) Mäzen Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften Namensgeber für ein chemisches Element Person als Namensgeber für einen Mondkrater Person als Namensgeber für einen Asteroiden Schwede Geboren 1833 Gestorben 1896 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Arithmetisches%20Kodieren
Arithmetisches Kodieren
Die arithmetische Kodierung ist eine Form der Entropiekodierung, die bei der verlustfreien Datenkompression verwendet wird. Sie erzielt Kompressionsraten, die sehr nahe am theoretischen Limit der Entropie liegen. Die Grundidee der arithmetischen Kodierung ist, aus einer Folge von Eingabesymbolen und deren Auftrittswahrscheinlichkeiten eine einzelne, möglichst „kurze“ rationale Zahl zu bilden. Aus dieser Zahl kann die ursprüngliche Folge von Eingabesymbolen wiederhergestellt werden. Geschichte Als Begründer der arithmetischen Kodierung gilt Jorma Rissanen, der ab 1976 bis Anfang der 1980er Jahre wesentliche Arbeiten zu diesem Teilgebiet der Informationstheorie leistete. Grundprinzip Die meisten Kodierungen teilen die Folge von Eingabezeichen in kurze Teile auf und kodieren jeden dieser Teile einzeln in Bits. Dabei kommt es vor, dass ein solcher kurzer Teil einen Informationsgehalt hat, der sich nicht in ganzen Bits ausdrücken lässt. Dadurch müssen „unvollständig genutzte“ Bits gespeichert werden, und das sorgt dafür, dass die kodierten Daten länger werden als unbedingt nötig. Die arithmetische Kodierung unterscheidet sich von diesen Kodierungen dadurch, dass die Eingabezeichen nicht in kurze Teile unterteilt werden, sondern alle zusammen zu einer einzigen rationalen Zahl (Bruchzahl) zusammengerechnet werden. Dadurch werden die unvollständig genutzten Bits in der Ausgabe vermieden. Vorbereitung Vor dem Kodieren oder Dekodieren müssen sich der Kodierer und der Dekodierer auf diese Dinge einigen: das Alphabet, aus dem die Zeichen der Zeichenfolge stammen die Reihenfolge der Zeichen im Alphabet die Auftrittswahrscheinlichkeiten der einzelnen Zeichen (gemäß dem Modell für die Entropiekodierung) das Intervall für das Ergebnis des Kodierers, üblicherweise , siehe Kodieralgorithmus Der Kodierer bekommt als Eingabe: eine Folge von Zeichen eine Tabelle, die für jedes Zeichen die Auftrittswahrscheinlichkeit festlegt Er erzeugt daraus: eine rationale Zahl im Bereich , die die Eingabezeichenfolge repräsentiert eine natürliche Zahl , die die Länge der Eingabezeichenfolge angibt Ablauf: Das Zielintervall für geht von der unteren Grenze bis zur oberen Grenze , anfangs ist . Die Anzahl der eingelesenen Zeichen beginnt mit . Für jedes Zeichen aus der Eingabe: Erhöhe die Anzahl der eingelesenen Zeichen um 1. Bestimme die Auftrittswahrscheinlichkeit für das Zeichen anhand der Wahrscheinlichkeitstabelle. Bestimme die Auftrittswahrscheinlichkeit für alle Zeichen, die im Alphabet vor kommen, indem die einzelnen Wahrscheinlichkeiten aufsummiert werden. Schränke das Zielintervall so ein, dass nur noch das Teilintervall, das zu gehört, übrig bleibt: Wähle eine beliebige Zahl aus dem Intervall , mit möglichst kurzer Schreibweise. Beispiel Eingabe: Das Alphabet besteht aus den Zeichen A, B, C, in dieser Reihenfolge. Die Auftrittswahrscheinlichkeiten sind: . Die zu kodierende Zeichenfolge ist AAABAAAC. Dekodieralgorithmus Der Dekodierer bekommt als Eingabe: eine rationale Zahl die Länge der ursprünglichen Eingabezeichenfolge Ablauf: Wiederhole -mal: Bestimme das Zeichen , in dessen Teilintervall die Zahl liegt, sowie die Grenzen und dieses Teilintervalls. Gib das Zeichen aus. Transformiere die relative Position der Zahl aus dem Intervall ins Intervall , also . Beispiel Der Dekodierer bekommt die Zahl und die Anzahl der Zeichen zum Dekodieren. Um zu einer Position im Intervall das zugehörige Zeichen zu bestimmen, wird die Tabelle vor dem eigentlichen Dekodieren berechnet: Das Dekodieren passiert in diesen Schritten: Die Zahl gehört zum Zeichen A, mit und . Das neue ergibt sich zu . Die Zahl gehört zum Zeichen A, mit und . Das neue ergibt sich zu . Die Zahl gehört zum Zeichen A, mit und . Das neue ergibt sich zu . Die Zahl gehört zum Zeichen B, mit und . Das neue ergibt sich zu . Die Zahl gehört zum Zeichen A, mit und . … und so weiter, bis alle 8 Zeichen dekodiert sind. Varianten Statt dem Dekodierer die Anzahl der kodierten Symbole mitzuteilen, kann das Alphabet auch ein spezielles Zeichen mit der Bedeutung „Ende“ enthalten. Es gibt auch Varianten der arithmetischen Kodierung für weniger Rechenaufwand, die statt eines Bruchs nur eine einzelne, beliebig lange natürliche Zahl zur Informationsdarstellung verwenden. Generell ist die arithmetische Kodierung rechenintensiver als Kodierungen, bei denen jedes kodierte Wort eine ganzzahlige Anzahl Bits hat. Das Verfahren Context-Adaptive Binary Arithmetic Coding wird zum Komprimieren von Videodaten verwendet, das Eingabealphabet besteht aus den beiden Binärziffern 0 und 1, und die Auftrittswahrscheinlichkeit der Bits wird während der Kompression kontextabhängig angepasst. Optimalität Arithmetisches Kodieren ist asymptotisch optimal: Nachdem das letzte Symbol verarbeitet wurde, erhält man ein Intervall mit Das entspricht der Wahrscheinlichkeit, bei gegebenen Symbolwahrscheinlichkeiten , genau solch eine Sequenz zu erhalten. Um nun binär einen Wert im Intervall anzugeben, benötigt man mindestens Bits, falls höchstens jedoch Bits (um das Intervall mit einer Genauigkeit von s/2 zu beschreiben, was im Binärsystem gerade noch genügt, um unterscheiden zu können, ob der Wert innerhalb liegt). Da und lässt sich die Länge der arithmetisch kodierten Sequenz abschätzen: Das bedeutet, man benötigt mindestens so viele Bits wie die Entropie, höchstens jedoch zwei Bits mehr. Die mittlere Länge eines kodierten Symbols ist beschränkt auf Für lange Sequenzen verteilen sich diese (höchstens zwei) zusätzlichen Bits gleichmäßig auf alle Symbole, so dass die mittlere Länge eines kodierten Symbols dann asymptotisch gegen die wahre Entropie geht: Vergleich zur Huffman-Kodierung Wenn sich alle Symbolwahrscheinlichkeiten in der Form darstellen lassen, dann erzeugen arithmetische Kodierung und Huffman-Kodierung einen identisch langen Datenstrom und sind gleich (d. h. optimal) effizient. In der Praxis ist dies aber so gut wie nie der Fall. Implementierung Bei einer konkreten Umsetzung ergibt sich die Schwierigkeit, dass die Grenzen des Intervalls beliebig genaue Bruchzahlen sind. Da das Rechnen mit großen Zählern und Nennern entsprechend lange dauert, wird der Algorithmus für die praktische Umsetzung etwas abgewandelt. Um das Problem der großen Zähler und Nenner Genauigkeit abzumildern, werden zwei Schritte unternommen: In der Tabelle mit den Auftrittswahrscheinlichkeiten wird eine Mindestgenauigkeit festgelegt, auf die einzelnen Auftrittswahrscheinlichkeiten gerundet werden. Durch dieses Runden stimmen die Intervallgrößen nicht mehr exakt mit den optimalen Wahrscheinlichkeiten überein. Das führt zu einer Verschlechterung der Kompressionsrate. Das Intervall muss ab und an wieder vergrößert werden, da sonst nach einigen kodierten Zeichen die Genauigkeit der Zahlen unverhältnismäßig groß wird. Deshalb werden höherwertige Stellen, die feststehen, ausgegeben und aus den Zahlen entfernt. Im Beispiel von oben kann man also nach dem Kodieren des Zeichens B sicher sagen, dass die Ergebniszahl mit 0,3 beginnt. Man kann also bereits hier 0,3 ausgeben und von den Intervallgrenzen abziehen. Danach wird die Intervallgrenze mit 10 skaliert, und es wird mit diesem Wert weitergerechnet. Punkt 1 führt eigentlich dazu, dass der Algorithmus kein Arithmetischer Kodierer mehr ist, sondern nur ähnlich. Es gibt aber einige eigenständige Algorithmen, die vom Arithmetischen Kodierer abstammen; diese sind: Der Range-Coder Dieser Kodierer ist eine relativ direkte Umsetzung des Arithmetischen Kodierers mit ganzen Zahlen. Der Q-Coder (von IBM entwickelt und patentiert) Dieser Kodierer vereinfacht zusätzlich das Alphabet auf nur zwei Zeichen. Dieses Vorgehen erlaubt eine Annäherung der Intervallaufteilung mit Additionen anstatt Multiplikationen wie beim Range-Coder. Der ELS-Coder Dieser Kodierer arbeitet auch nur mit zwei Zeichen, ist aber effizienter bei relativ gleich wahrscheinlichen Zeichen, während beim Q-Coder beide Zeichen möglichst unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten haben sollten. Trotz dieser Verfahren bleiben verschiedene Probleme mit der Arithmetischen Kodierung: Geschwindigkeit Arithmetische Kodierer sind relativ aufwendig und langsam. Für jedes Zeichen muss beim Range-Coder eine Division ausgeführt werden. Die anderen Kodierer erfordern das mehrmalige Ausführen des Kodierprozesses für alle Bits des Zeichens. Patente Die meisten Softwarepatente im Bereich des arithmetischen Kodierens wurden in den 1980er und frühen 1990er Jahren erteilt und sind mittlerweile ausgelaufen. Der Q-Coder ist zwar neben dem Huffman Coder für JPEG zulässig, wird aber fast nie verwendet, da er von IBM patentiert war. Kleiner Gewinn Mit verschiedenen Methoden lässt sich erreichen, dass die viel schnellere Huffman-Kodierung nur unwesentlich schlechtere Ergebnisse liefert als der aufwendige Arithmetische Kodierer. Dazu gehört, dass manchmal Zeichenketten als eigenständige Zeichen behandelt werden. Somit lässt sich der „Verschnitt“ senken, der dadurch entsteht, dass jedes Zeichen mit einer ganzzahligen Bitlänge dargestellt wird. Weblinks Ausarbeitung zu Grundlagen der arithmetischen Kodierung, einschließlich Quelltext (E. Bodden et al. 2002; PDF-Datei; 568 kB) Website des Range-Coders, Quellcode zum Download Das elektronische Buch Information Theory, Inference, and Learning Algorithms von David J. C. MacKay erklärt in Kapitel 6 das arithmetische Kodieren. Einzelnachweise Datenkompression
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https://de.wikipedia.org/wiki/Abbildung
Abbildung
Abbildung steht für: Abbild, Beziehung eines Bildes zu dem abgebildeten Gegenstand optische Abbildung, Erzeugung eines Bildpunkts von einem Gegenstandspunkt Funktion (Mathematik), die Abhängigkeit einer Größe von einer anderen Siehe auch: Bild (Begriffsklärung)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Automobil
Automobil
Ein Automobil, kurz Auto (in Deutschland amtlich Kraftfahrzeug, in der Schweiz amtlich Motorwagen), ist ein mehrspuriges motorgetriebenes Straßenfahrzeug zur Beförderung von Personen oder Lasten. Umgangssprachlich nennt man „Auto“ vor allem Fahrzeuge, die zum Transport von Personen bestimmt sind; amtlich werden diese als Personenkraftwagen (kurz: Pkw) bezeichnet, oder – bei mehr Sitzplätzen – als Kraftomnibus. Soll ein Fahrzeug mehrheitlich Güter transportieren, heißt es amtlich „Lastkraftwagen“ (Lkw). Der weltweite Fahrzeugbestand lag im Jahr 2010 bei über 1,015 Milliarden Automobilen und stieg seitdem kontinuierlich an. 2011 wurden weltweit über 80 Millionen Automobile gebaut. In Deutschland waren im Jahr 2012 etwa 51,7 Millionen Kraftfahrzeuge zugelassen, davon sind knapp 43 Millionen Personenkraftwagen. Wortherkunft Automobil („Selbstbeweger“) ist ein substantiviertes Adjektiv, abgeleitet von , und . Die Wortschöpfung entstand in den 1860er-Jahren in Frankreich und diente damals – wie locomobile – zur Unterscheidung von den üblichen Landfahrzeugen, die damals von Pferden gezogen wurden. So bezeichnete französisch 1875/1876 eine mit Pressluft betriebene Straßenbahn. Die Anwendung im heutigen Sinn setzte sich in den 1890er-Jahren durch: 1893 hieß es in der Publikation Radfahrergeschichten noch mit französischem Plural: „In den Straßen von Paris wird es bald komisch aussehen. Viele Fiaker fahren bereits ohne Pferde als numerirte Automobiles umher.“ Anschließend wurde das Wort im Deutschen schnell heimisch, zunächst nach französischem Vorbild noch als Femininum, unter dem Einfluss der Kurzform Auto aber bald schon als Neutrum. Das älter deutsche Wort war hingegen Motorwagen. Die deutschen Äquivalente Kraftfahrzeug und Kraftwagen wurden 1917 amtlich eingeführt. Die Definition „selbstbewegendes Fahrzeug“ würde auch motorisierte Zweiräder und Schienenfahrzeuge einschließen. In der Regel wird unter einem Automobil jedoch ein mehrspuriges und nicht schienengebundenes Kraftfahrzeug verstanden, also ein Pkw, Bus oder Lkw. In der Alltagssprache ist meist nur der Pkw gemeint. Der Darmstädter Dozent für Kraftwagen, Freiherr Löw von und zu Steinfurth versuchte, sich in seinem Standardwerk Das Automobil – sein Bau und sein Betrieb über alle Ausgaben ab 1909 hinweg an möglichst exakten Definitionen von „Automobil“. In der 5. Auflage von 1924 schreibt er: Um diese strenge Klassifizierung zu beleuchten, lässt er beispielsweise Forderung 2 weg und kommt damit „zu den sogenannten gleislosen Bahnen, die aus elektrischen Wagen bestehen, denen durch eine Oberleitung die Energie zugeführt wird.“ Im Englischen ist mit einem automobile bzw. car nur ein Pkw gemeint. Eine Übersetzung im Sinne des zitierten von und zu Steinfurth gibt es im Englischen nicht. Das in diesem Zusammenhang oft erwähnte Wort motor vehicle schließt auch Krafträder mit ein und ist demzufolge dem deutschen Begriff Kraftfahrzeug gleichzusetzen. Geschichte Der Franzose Nicholas Cugnot erbaute 1769 einen Dampfwagen – das erste bezeugte und tatsächlich erbaute Fahrzeug, das nicht auf Muskelkraft oder einer anderen äußeren Kraft (wie z. B. Wind) basierte (und kein Spielzeug war). Im Jahr 1863 machte Étienne Lenoir mit seinem „Hippomobile“ eine 18 km lange Fahrt; es war das erste Fahrzeug mit einem Motor mit interner Verbrennung. Jedoch gilt das Jahr 1886 mit dem Motordreirad „Benz Patent-Motorwagen Nummer 1“ des deutschen Erfinders Carl Benz als das Geburtsjahr des „modernen“ Automobils mit Verbrennungsmotor, da es große mediale Aufmerksamkeit erregte und zu einer Serienproduktion führte. Zuvor bauten auch andere Erfinder motorisierte Gefährte mit ähnlichen oder gänzlich anderen Motorkonzepten. Motorisierte Wagen lösten in nahezu allen Bereichen die von Zugtieren gezogenen Fuhrwerke ab, da sie deutlich schneller und weiter fahren und eine höhere Leistung erbringen können. Durch diesen Vorteil steigerte sich seit dem Geburtsjahr des Automobils die Weite der zurückgelegten Strecken, u. a. deshalb wurde dem motorisierten Straßenverkehr immer mehr Raum zugestanden. Aufbau und Form Zu den wesentlichen Bestandteilen des Automobils gehören das Fahrwerk mit Fahrgestell und anderen Teilen, ferner Karosserie, Motor, Getriebe und Innenraum. Europäische Pkw bestehen zu über 54 Prozent aus Stahl, die Hälfte davon hochfeste Stahlgüten. Die Technik der Fahrzeuge müssen Ingenieure und Designer in eine funktionale, ergonomische und ästhetische Form bringen, die die Markenwerte des Herstellers vermittelt und Emotionen weckt. Beim Kauf eines Autos ist das Fahrzeugdesign heute eines der wichtigsten Entscheidungskriterien. Sicherheit Nach Zahlen der WHO sterben 1,25 Millionen Menschen jährlich an den direkten Folgen von Verkehrsunfällen. Die Sicherheit von Insassen und potenziellen Unfallgegnern von Kraftfahrzeugen ist unter anderem abhängig von organisatorischen und konstruktiven Maßnahmen sowie dem persönlichen Verhalten der Verkehrsteilnehmer. Zu den organisatorischen Maßnahmen zählen zum Beispiel Verkehrslenkung (Straßenverkehrsordnung mit Verkehrsschildern oder etwas moderner durch Verkehrsleitsysteme), gesetzliche Regelungen (Gurtpflicht, Telefonierverbot), Verkehrsüberwachung und straßenbauliche Maßnahmen. Die konstruktiven Sicherheitseinrichtungen moderner Automobile lassen sich grundsätzlich in zwei verschiedene Bereiche gliedern. Passive Sicherheitseinrichtungen sollen die Folgen eines Unfalls mildern. Dazu zählen beispielsweise der Sicherheitsgurt, die Sicherheitskopfstütze, der Gurtstraffer, der Airbag, der Überrollbügel, deformierbare Lenkräder mit ausklinkbaren Lenksäulen, die Knautschzone, der Seitenaufprallschutz sowie konstruktive Maßnahmen zum Unfallgegnerschutz. Aktive Sicherheitseinrichtungen sollen einen Unfall verhindern oder in seiner Schwere herabsetzen. Beispiele hierfür sind das Antiblockiersystem (ABS) sowie das elektronische Stabilitätsprogramm (ESP). Zu den persönlichen Maßnahmen zählen Verhaltensweisen wie eine defensive Fahrweise, das Einhalten der Verkehrsvorschriften oder Training der Fahrzeugbeherrschung, beispielsweise bei einem Fahrsicherheitstraining. Diese sowie die Verkehrserziehung speziell für Kinder helfen das persönliche Unfallrisiko zu vermindern. Alle Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit zusammen können dazu beitragen, dass die Zahl der bei einem Verkehrsunfall getöteten Personen reduziert wird. In den meisten Industrienationen sind die Opferzahlen seit Jahren rückläufig. In Europa spielen Verkehrsunfälle als Todesursache heute eine geringere Rolle als vor einigen Jahrzehnten, die Zahl der Todesopfer liegt unter den Zahlen der Drogentoten oder Suizidenten. So fielen in Deutschland, Österreich, den Niederlanden oder der Schweiz die Opferzahlen seit den 1970er-Jahren, trotz kaum rückläufiger Zahlen der Verkehrsunfälle, auf ein Drittel. 2011 ist in Deutschland die Zahl der Verkehrstoten zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder gestiegen, in Österreich und der Schweiz allerdings auf dem historisch tiefsten Stand. Nach längerer freiwilliger Aktion wurde das Fahren mit eingeschaltetem Licht am Tag in Österreich am 15. November 2005 verpflichtend eingeführt und 2007 auch per Strafe eingefordert. Zum 1. Januar 2008 wurde die Lichtpflicht allerdings wieder abgeschafft. Ziel dieser Kampagne war es, die menschlichen Sinneseindrücke auf die Gefahrenquellen zu fokussieren und damit die Zahl der Verkehrstoten zu verringern. Schätzungen des Bundesministeriums zufolge wurden jährlich 15 Verkehrstote weniger erwartet. Allerdings zeigte sich nicht der erwartete Effekt, da vermehrt die Aufmerksamkeit von unbeleuchteten Gefahrenquellen (Hindernisse oder andere Verkehrsteilnehmer z. B. Fußgänger) weg zu den bewegten und beleuchteten Fahrzeugen gelenkt wurde. Auch in Norwegen wurden in den Jahren nach der Einführung der Lichtpflicht 1985 deutlich mehr Verkehrstote gezählt als in den Jahren davor. Trotzdem wird in einigen Ländern (etwa Deutschland) weiterhin die Einführung einer solchen Maßnahme in Erwägung gezogen. Autonomes Fahren Sowohl Automobilbauer und Zulieferbetriebe als auch Unternehmen aus der IT-Branche (insbesondere Google und Uber) forschen und entwickeln am autonom fahrenden Kraftfahrzeug (meist Pkw). . Erfahrungen amerikanischer Autoversicherungen würden nahelegen, dass bereits die Anzeigen der Assistenz-Sensorik das Unfallrisiko senken können. Auch wird die Ansicht vertreten, dass ein gewisses Maß an Unsicherheit den Erfolg autonomer Automobile nicht verhindern wird. Das „Wiener Übereinkommen über den Straßenverkehr“ von 1968 verbot lange Zeit autonome Automobile, wurde jedoch Mitte Mai 2014 von der UN geändert, so dass Davor schrieb es unter anderem vor, dass jedes in Bewegung befindliche Fahrzeug einen Fahrer haben und dieser das Fahrzeug auch beherrschen muss. Zu klären sind insbesondere Fragen bezüglich des Haftungsrechts bei Unfällen, wenn technische Assistenzsysteme das Fahren übernehmen. Im bisher dem Fortschritt zugeneigten Kalifornien, das lange Zeit liberale Regelungen für autonome Automobile hatte, wurde 2014 die gesetzliche Situation jedoch verschärft – jetzt muss immer ein Mensch am Steuer sitzen, der „jederzeit eingreifen kann“. Einer Studie des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie zufolge rechnet man damit, dass zumindest die Automatisierung einiger Fahrfunktionen bis spätestens 2020 technisch realisierbar sein werden, während fahrerlose Fahrzeuge auf öffentlichen Straßen erst weit später zu erwarten seien. Auch Fahrzeuge ohne Lenkrad, Bremse und Gaspedal werden erprobt. In diesem Zusammenhang werden Verkehrskonzepte wie ein erweitertes Car Sharing diskutiert: Man bucht das Auto übers Internet und steigt bei Bedarf zu. Keiner der Insassen benötigt eine Fahrerlaubnis. Kosten Kosten für den Fahrzeughalter Die Gesamtbetriebskosten eines Autos setzen sich zusammen aus Fixkosten (auch „Unterhaltskosten“ genannt) und variablen Kosten (auch „Betriebskosten“ genannt), hinzu kommt der Wertverlust des Autos. Die Kosten werden von vielen Menschen unterschätzt. Fixkosten Die Fixkosten fallen unabhängig von der jährlichen Kilometerleistung an. Sie setzen sich im Wesentlichen zusammen aus der Kraftfahrzeugsteuer, den obligatorischen Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungen, in vielen Ländern eines zwangsweisen Mautbeitrags sowie sporadisch vorgeschriebenen Technischen Prüfungen. Daneben können freiwillige Zusatzversicherungen abgeschlossen werden, wie eine Kaskoversicherung sowie weitere Versicherungen oder zusätzliche versicherungsähnliche Leistungen, welche die Automobilclubs bei einer Mitgliedschaft anbieten. Betriebskosten Die Betriebskosten hängen weitgehend von der jährlichen Kilometerleistung ab. Es entstehen Aufwände für den Energieverbrauch (bei Verbrennungsmotoren ist das der Kraftstoffverbrauch), den Ersatz von Verschleißteilen (insbesondere Autoreifen), sowie für weitere Wartung und ggf. außerplanmäßige Reparaturen. Die Wartung ist je nach Zeit und Kilometern erforderlich. Typische Zeitintervalle liegen bei 1 bis 2 Jahren, typische Kilometerintervalle bei 10.000 km bis 30.000 km. Werden die Wartungsintervalle nicht eingehalten, kann das zu Schwierigkeiten mit Garantieansprüchen bei Defekten führen. Je nach individuellem Wunsch entstehen Kosten für die Fahrzeugreinigung. Nicht direkt kilometerabhängig sind Park- und Mautgebühren. Anschaffungskosten Der Kaufpreis verringert sich sofort als Wertverlust auf den jeweiligen, zeitabhängigen Verkehrswert, während beim Leasing ein ähnlicher Verlust durch Zinszahlungen entsteht. Beispielwerte Statistisches Bundesamt und ADAC veröffentlichen vierteljährlich einen Autokosten-Index. Dieser gibt an, um wie viel Prozent sich verschiedene Kostenbestandteile verteuert oder verbilligt haben. Der ADAC veröffentlicht eine Voll-Kalkulation für Neuwagen, eingeteilt in 6 Klassen (Stand: 04/2018): Kleinstwagen: Citroen C1 VTi 72 Start: 321 €/Monat Kleinwagen: Dacia Sandero SCe 75 Essential: 318 €/Monat Untere Mittelklasse: Dacia Logan MCV Sce 75 Access: 323 €/Monat Mittelklasse: Skoda Octavia 1.2 TSI Active: 502 €/Monat Obere Mittelklasse: Skoda Superb Combi 1.6 TDI Active: 614 €/Monat Oberklasse: Porsche 911 Carrera Coupé: 1357 €/Monat Angeführt ist das jeweils günstigste Modell jeder Klasse. Von der Allgemeinheit getragene Kosten Der Pkw-Verkehr bringt externe Kosten, insbesondere im Bereich Umweltverschmutzung und Unfallfolgekosten, mit sich. Viele der dabei betrachteten Größen sind kaum bzw. nur sehr ungefähr zu quantifizieren, weshalb verschiedene Publikationen zum Thema unterschiedlich hohe externe Kosten benennen. Eine Studie aus dem Jahr 2022 kommt zu dem Schluss, dass jeder Autofahrer im Jahr mit Rund 5.000 Euro von der Allgemeinheit subventioniert wird. Einbezogen wurden zehn verschiedene soziale oder externe Kostenarten, darunter Luftverschmutzung, Lärmbelastung, Schaffung und Erhalt der Straßeninfrastruktur, Parken im öffentlichen Straßenraum und Kosten des Klimawandels. Gemäß Umweltbundesamt betrugen die externen Kosten im Straßenverkehr in Deutschland im Jahr 2005 insgesamt 76,946 Mrd. Euro, wovon 61,2 Mrd. auf den Personen- und 15,8 Mrd. auf den Güterverkehr entfielen. Die Unfallkosten machten dabei 52 % (entspricht 41,7 Mrd. Euro) der externen Kosten aus. Das Umweltbundesamt berechnete 2007, dass Pkw in Deutschland durchschnittlich etwa 3 Cent pro Kilometer an Kosten für Umwelt und Gesundheit verursachen, die hauptsächlich durch Luftverschmutzung entstehen. Das ergibt rechnerisch Kosten von 3000 Euro für einen Pkw mit 100.000 Kilometern Laufleistung. Für Lkw betragen diese Kosten sogar 17 Cent pro Kilometer. Diese externen Kosten werden nicht oder nur teilweise durch den Straßenverkehr getragen, sondern u. a. durch Steuern sowie Krankenkassen- und Sozialversicherungsbeiträge finanziert. Die Kostenunterdeckung des Straßenverkehrs (also alle durch den Straßenverkehr direkt und indirekt verursachten Kosten abzüglich aller im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr geleisteten Steuern und Abgaben) beziffert das Umweltbundesamt für das Jahr 2005 auf rund 60 Mrd. Euro. Der österreichische Pkw-Verkehr trug im Jahr 2000 nur einen Teil der von ihm verursachten Kosten: Ein großer Teil der Kosten für die Errichtung und Erhaltung der Straßen sowie der Sekundärkosten wie Unfall- und Umweltkosten (Lärm, Luftschadstoffe) aller Verkehrsteilnehmer werden von der Allgemeinheit übernommen. Während der Pkw-Verkehr für 38 % der durch ihn verursachten Kosten aufkam, trugen Busse die eigenen Kosten zu 10 % und Lkw zu 21 %. Das Handbuch über die externen Kosten des Verkehrs der Europäischen Union bezifferte 2019 die wirtschaftlichen Kosten einer 20.000 km langen Autofahrt wie folgt: 900 € für Unfallkosten 142 € für die Kosten der Luftverschmutzung 236 € für die Kosten des Klimawandels 236 € für die Auswirkungen der Lärmbelästigung 76 € für die Produktionskosten 110 € für den Verlust von Lebensraum Auswirkungen der Automobilisierung Wirtschaft Der Pkw-Verkehr ist Forschungsgegenstand der Volkswirtschaft, namentlich der Verkehrswissenschaft. Das Automobil als industrielles Massenprodukt hat den Alltag der Menschheit verändert. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat es mehr als 2.500 Unternehmen gegeben, die Automobile produzierten. Viele Unternehmen, die im 19. Jahrhundert Eisenwaren oder Stahl produzierten, fingen Mitte des Jahrhunderts mit der Fertigung von Waffen oder Fahrrädern an und entwickelten so die Kenntnisse, die Jahrzehnte später im Automobilbau benötigt wurden. Heute gibt es neben den großen Herstellern viele kleine Betriebe, die als Automanufaktur zumeist exklusive Fahrzeuge produzieren, beispielsweise Morgan (GB). Verkehr Die Bedeutung des Automobils basiert neben der vergleichsweise hohen physischen Leistungsfähigkeit des Systems auch auf der hohen Freizügigkeit in den Nutzungsmöglichkeiten bezüglich der Transportaufgaben und der Erschließung räumlicher bzw. geografischer Bereiche. Bis ins 19. Jahrhundert gab es nur wenige Fortbewegungsmittel, zum Beispiel die Kutsche oder das Pferd. Die Verbreitung der Eisenbahn steigerte zwar die Reisegeschwindigkeit, aber man war an Fahrpläne und bestimmte Haltepunkte gebunden. Mit dem Fahrrad stand ab Ende des 19. Jahrhunderts erstmals ein massentaugliches Individualverkehrsmittel zur Verfügung, allerdings ermöglichte erst das Automobil individuelle motorisierte Fortbewegung sowie den flexiblen und schnellen Transport auch größerer Lasten. In den 1960er Jahren herrschte eine regelrechte Euphorie, woraus eine vorherrschende Meinung entstand, der gesamte Lebensraum müsse der Mobilität untergeordnet werden („Autogerechte Stadt“). Schon in den 1970er Jahren wurden einige solche Projekte jedoch gestoppt. Die Emissionen aus dem Verkehr steigen auch im Jahre 2011 immer noch und im Gegensatz zu den Brennstoffen können die vereinbarten Ziele zum Klimaschutz bei den Treibstoffen (in der Schweiz) nicht erfüllt werden. Zum 1. Januar 2004 waren in Deutschland 49.648.043 Automobile zugelassen. Im Vergleich mit Fußgängern und Fahrrädern, aber auch mit Bussen und Bahnen hat das Auto einen höheren Platzbedarf. Insbesondere in Ballungsgebieten führt dies zu Problemen durch Staus und Bedarf an öffentlichen Flächen, wodurch sich einige der Vorteile des Automobils auflösen. Der Güterverkehr auf der Straße ist ein elementarer Bestandteil der heutigen Wirtschaft. So erlaubt es die Flexibilität der Nutzfahrzeuge, leicht verderbliche Waren direkt zum Einzelhandel oder zum Endverbraucher zu bringen. Mobile Baumaschinen übernehmen heute einen großen Teil der Bauleistungen. Die Just-in-time-Produktion ermöglicht einen schnelleren Bauablauf. Beton wird in Betonwerken gemischt und anschließend mit Fahrmischern zur Baustelle gebracht, mobile Betonpumpen ersparen den Gerüst- oder Kranbau. Umwelt und Gesundheit Der massenhafte Betrieb von Verbrennungsmotoren in Autos führt zu Umweltproblemen, einerseits lokal durch Schadstoffemissionen, die je nach Stand der Technik vielfach vermeidbar sind, andererseits global durch den systembedingten CO2-Ausstoß, der zur Klimaerwärmung beiträgt. Die Luftverschmutzung durch die Abgase der Verbrennungsmotoren nimmt, gerade in Ballungsräumen, oft gesundheitsschädigende Ausmaße an (Smog, Feinstaub). Die Kraftstoffe der Motoren beinhalten giftige Substanzen wie Xylol, Toluol, Benzol sowie Aldehyde. Noch giftigere Bleizusätze sind zumindest in Europa und den USA nicht mehr üblich. Allein in Deutschland sterben jährlich 11.000 Menschen infolge von Luftverschmutzung durch den Straßenverkehr; Todesfälle, die potentiell vermieden werden könnten. Diese Zahl ist 3,5 Mal so hoch wie die Zahl der Todesopfer durch Unfälle. Auch der überwiegend vom Automobil verursachte Straßenlärm schädigt die Gesundheit. Hinzu kommt, dass das Autofahren, besonders über längere Zeit, teilweise mit Bewegungsmangel verbunden sein kann. Über die Folgen, welche vom massenhaften Reifenverschleiß ausgehen, ist bisher erst wenig bekannt. Ein großer Teil davon wird mit dem Regen in die Oberflächengewässer gespült. Durch das freigesetzte Ozonschutzmittel 6PPD können Fischsterben verursacht werden. Der Verbrauch von Mineralöl, einem fossilen Energieträger zum Betrieb konventioneller Automobile erzeugt einen CO2-Ausstoß und trägt damit zum Treibhauseffekt bei. Nach Planungen der EU-Kommission sollen bis zum Jahr 2050 Autos mit Verbrennungskraftmaschinenantrieb aus den Innenstädten Europas gänzlich verbannt werden. Inzwischen will das EU-Parlament den Verkauf von Neuwagen mit Verbrennungsmotor ab 2035 verbieten. Die EU-Umweltminister hingegen, wollen ab 2035 nur noch Neuwagen ohne CO2-Emissionen zuzulassen. Der Flächenverbrauch für Fahrzeuge und Verkehrswege verringert den Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen. Das Platz- und Parkplatzproblem der Ballungsgebiete zeigte sich bereits in den 1920er Jahren und schon 1929 verfolgte der deutsche Ingenieur und Erfinder Engelbert Zaschka in Berlin den Ansatz des zerlegbaren Zaschka-Threewheelers (Faltauto). Dieses Stadtauto-Konzept hatte das Ziel, kostengünstig und raumsparend zu sein, indem sich das Fahrzeug nach Gebrauch zusammenklappen ließ. Die Fertigung von Automobilen verbraucht darüber hinaus erhebliche Mengen an Rohstoffen, Wasser und Energie. Greenpeace geht von einem Wasserverbrauch von 20.000 l für einen Mittelklassewagen aus. Die Zeitschrift Der Spiegel berechnete 1998 für die Herstellung eines Pkw der oberen Mittelklasse (etwa Mercedes E-Klasse) gar 226.000 l Wasser. Die Wasserwirtschaft sieht branchenpositive 380.000 l für ein Fahrzeug als notwendig an. Das Automobil wird derzeit (2013) zu 85 Prozent recycelt und zu 95 Prozent verwertet. Bei metallischen Bestandteilen beträgt die Recyclingquote 97 Prozent. Einen Überblick zur Umweltfreundlichkeit von jeweils aktuellen Pkw-Modellen veröffentlicht der Verkehrsclub Deutschland (VCD) jährlich in der Auto-Umweltliste. Zu den Gefahren des Kraftfahrzeugverkehrs beziehungsweise zu den durch dessen Umwelteinwirkungen verursachten Kosten siehe die Kapitel Sicherheit bzw. Externe Kosten. Soziale Auswirkungen Die verbreitete Verwendung des Autos verändert die sozialen Räume – u. a. wurden folgende Auswirkungen in der Schweiz beklagt: Kinder können immer seltener unbeaufsichtigt auf der Straße spielen; Freizeit-Orte liegen weiter entfernt als früher; folglich weniger spontane körperliche Betätigung sowie zum Beispiel eine Halbierung der Nutzung des Fahrrades bei jungen Schweizern innerhalb von 20 Jahren. Die gesamte kindliche Entwicklung wird beeinflusst. Pkw-Verbrauchskennzeichnungsverordnung Seit 1. Dezember 2011 müssen in Deutschland Neuwagen mit einer Energieverbrauchskennzeichnung versehen werden. Die Klassen reichen von A+ bis G. Der Verbrauch wird auf das Fahrzeuggewicht bezogen, womit Vergleiche nur innerhalb einer Gewichtsklasse möglich sind. Dass ein leichterer Wagen bei gleicher Benotung weniger Energie für einen Transport benötigt als ein schwererer Wagen, ist an dem Label nicht erkennbar. Interessenverbände in Deutschland In Deutschland sind eine Reihe von Verbänden entstanden, die anfangs Dienstleistungen für Autofahrer auf Gegenseitigkeit organisierten, vor allem Pannenhilfe. Heute arbeiten sie zunehmend auch als Lobby-Verbände und vertreten die Interessen der Autofahrer und der Automobilindustrie gegenüber Politik, Industrie und Medien. Bereits 1899 wurde der Automobilclub von Deutschland (AvD) gegründet, der ein Jahr später die erste Internationale Automobilausstellung organisierte. 1911 war der Allgemeine Deutsche Automobil-Club, der ADAC, aus der 1903 gegründeten Deutschen Motorradfahrer-Vereinigung entstanden. Er ist heute mit 15 Millionen Mitgliedern Europas größter Club. Weitere Verbände in Deutschland sind der Auto Club Europa (ACE), der 1965 von Gewerkschaften gegründet wurde, sowie seit 1986 der ökologisch orientierte Verkehrsclub Deutschland (VCD), der zusätzlich auch die Interessen der anderen Verkehrsteilnehmer (Radfahrer, Fußgänger, ÖPNV-Benutzer) vertritt. Die Interessen der Automobilhersteller und deren Zulieferunternehmen vertritt der Verband der Automobilindustrie (VDA). Forschungseinrichtungen zum Thema Automobil Forschungsinstitut für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren Stuttgart (FKFS) Institut für Kraftfahrwesen Aachen (ika) der RWTH Aachen Statistische Wirtschaftsdaten zur Automobilproduktion Neue Entwicklungen Zu den neuen Entwicklungen gehören alternative Antriebe wie das Elektroauto (Elektrofahrzeug). Eine weitere Entwicklung ist das autonome Fahren (Autonomes Landfahrzeug). Durch Carsharing wechselt ein Auto vom Privatbesitz in einen Gemeinschaftsbesitz. Experimentell entwickelt werden zudem Prototypen von Flugautos. Siehe auch Statussymbol Verkehrsmittel Literatur Nach Erscheinungsjahr geordnet Wolfgang Sachs: Die Liebe zum Automobil: Ein Rückblick in die Geschichte unserer Wünsche. Rowohlt, Reinbek 1984, ISBN 3-498-06166-6. Peter M. Bode, Sylvia Hamberger, Wolfgang Zängl: Alptraum Auto: Eine hundertjährige Erfindung und ihre Folgen. Raben Verlag von Wittern, 1986. Hannes Krall: Das Automobil oder Die Rache des kleinen Mannes: Verborgene Bedeutungen des Internationalen Golf-GTI-Treffens. DRAVA Verlags- und Druckgesellschaft, 1991, ISBN 3-85435-138-0. Weert Canzler: Das Zauberlehrlings-Syndrom: Entstehung und Stabilität des Automobil-Leitbildes. Edition Sigma, 1996, ISBN 3-89404-162-5. Arnd Joachim Garth: Das Dialogomobil: Marketing und Werbung rund um das Automobil. Berlin, Verlag Werbweb-Berlin, 2001, ISBN 3-00-006358-7. Daniela Zenone: Das Automobil im italienischen Futurismus und Faschismus: Seine ästhetische und politische Bedeutung. WZB, Forschungsschwerpunkt Technik, Arbeit, Umwelt, Berlin 2002. Weert Canzler, Gert Schmidt (Hrsg.): Zukünfte des Automobils. Aussichten und Grenzen der autotechnischen Globalisierung. Edition Sigma, Berlin 2008, ISBN 978-3-89404-250-9. Hermann Knoflacher: Virus Auto. Die Geschichte einer Zerstörung. Ueberreuter Verlag, Wien 2009, ISBN 978-3-8000-7438-9. Larry Edsall: Automobile der Zukunft. Neue Technologien für das 21. Jahrhundert. Koehlers Verlagsgesellschaft, Hamburg 2019, ISBN 978-3-7822-1342-4. Weblinks Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Adam%20Ries
Adam Ries
Adam Ries (oft auch Adam Riese; * 1492 oder 1493 in Staffelstein, Hochstift Bamberg; † 30. März oder 2. April 1559 vermutlich in Annaberg oder Wiesa) war ein deutscher Rechenmeister. Bekannt wurde er durch sein Lehrbuch Rechnung auff der Linihen und Federn [...], das bis ins 17. Jahrhundert mindestens 120-mal aufgelegt wurde. Bemerkenswert ist, dass Adam Ries seine Werke nicht – wie damals üblich – in lateinischer, sondern in deutscher Sprache schrieb. Dadurch erreichte er einen großen Leserkreis und konnte darüber hinaus auch zur Vereinheitlichung der deutschen Sprache beitragen. Adam Ries gilt als der „Vater des modernen Rechnens“. Er hat mit seinen Werken entscheidend dazu beigetragen, dass die römische Zahlendarstellung als unhandlich erkannt und weitgehend durch die nach dem Stellenwertsystem strukturierten indisch-arabischen Zahlzeichen ersetzt wurde. Sein Name ist aus der Redewendung „nach Adam Riese“ allgemein bekannt. Leben Staffelstein Adam Ries stammte aus Staffelstein, in der Vorrede zu seiner „Coß“ gibt er darüber selbst Auskunft. Sein Vater Contz Ries war der Besitzer der dortigen Stockmühle, seine Mutter dessen zweite Frau Eva Kittler. Das Geburtsjahr ist nicht eindeutig zu bestimmen. Die Umschrift auf dem einzig bekannten zeitgenössischen Porträt des Rechenmeisters lautet: ANNO 1550 ADAM RIES SEINS ALTERS IM LVIII. Wenn er demnach im Jahr 1550 im 58. Lebensjahr war, muss er 1492 oder 1493 geboren worden sein, je nachdem, wann er das 58. Lebensjahr vollendet hat. Die ersten Jahrzehnte nach der Geburt Ries’ sind nicht dokumentiert, sodass nicht bekannt ist, welche Schule er besucht hat. Auch findet sich in den Matrikeln der damals bereits bestehenden Universitäten kein Hinweis auf ein Studium des späteren Rechenmeisters. 1509 hielt er sich mit seinem jüngeren Bruder Conrad in Zwickau auf, der dort die Lateinschule besuchte. Die älteste bekannte urkundliche Erwähnung Adam Ries’ stammt vom 22. April 1517, als er vor dem Staffelsteiner Rat wegen einer Erbstreitigkeit erschien. Erfurt 1518 ging Ries nach Erfurt, wo er eine Rechenschule leitete. In Erfurt verfasste er zwei seiner Rechenbücher und ließ sie dort bei Mathes Maler drucken. Annaberg 1522 zog es ihn in die junge, vom Silbererzbergbau geprägte Stadt Annaberg, in der er den Rest seines Lebens verbrachte. In der Johannisgasse eröffnete er eine private Rechenschule. Das Haus beherbergt heute das Adam-Ries-Museum. 1524 beendete Ries die Arbeiten am Manuskript der Coß, einem mehr als 500 Seiten umfassenden Lehrbuch der Algebra (Coß ist der im Mittelalter übliche Name für die Variable bzw. Unbekannte). Die Coß ist ein Bindeglied zwischen der mittelalterlichen und der heutigen Algebra. Das Manuskript war sowohl seinen Söhnen und Schülern als auch anderen mathematisch interessierten Personen aus seinem Umfeld zugänglich, es wurde seinerzeit aber nicht publiziert. Der Druck hätte enorme Kosten verursacht und andere deutsche Mathematiker publizierten vergleichbare Darstellungen zwischen 1520 und 1550. So wurde das vollständige Manuskript erstmals 1992 gedruckt. Im Traubuch der Annaberger St.-Annen-Kirche wurde 1525 die Vermählung mit Anna Leuber vermerkt, einer Tochter des Freiberger Schlossermeisters Andreas Leuber: „Adam Reyeß Anna Filia Anders lewbers vo Freybergk“. Im selben Jahr legte er den Bürgereid ab. Sein Brot verdiente er zunächst als Rezessschreiber mit Abrechnungen für die einzelnen Erzgruben, später prüfte er als Berggegenschreiber diese Abrechnungen und sorgte als Zehntner dafür, dass der Landesherr seinen Anteil am Gewinn erhielt. Ries übernahm verantwortliche Tätigkeiten in der sächsischen Bergverwaltung. Besondere Bedeutung hatte in der Zeit des aufblühenden Bergbaus die Versorgung der rasch zunehmenden Bevölkerung mit Lebensmitteln, insbesondere mit Brot. Brot hatte Festpreise: Es wurden Groschenbrote, Zweigroschenbrote und Pfennigsemmeln verkauft. Die Schwankungen der Getreidepreise wurden mit unterschiedlich großen Brotlaiben berücksichtigt. Im Auftrag der Stadt Annaberg erarbeitete Ries die sogenannte „Annaberger Brotordnung“ zum Schutz der Bevölkerung. 1539 erwarb er die nach ihm benannte „Riesenburg“, ein Vorwerk außerhalb der Stadt, dessen Gebäude den Namen noch heute tragen. Im Jahr 1550 erschien sein letztes Werk im Druck. Adam Ries starb 1559, die überlieferten Angaben differieren zwischen dem 30. März und 2. April. Auch der genaue Sterbeort ist nicht bekannt, Annaberg oder Wiesa. Namensvarianten Zeitgenössische Schreibweisen Da die Schreibweise von Namen damals nicht so festgelegt war wie heute, sind als zeitgenössische Schreibweisen neben Ries auch Ris, Rise, Ryse und sogar Reyeß bekannt. „Nach Adam Riese“ Im heutigen Sprachgebrauch finden sich die beiden Namensformen Ries und Riese. Die Form Riese wird auch in der Redewendung „nach Adam Riese“ verwendet. Die Redewendung „das macht nach Adam Riese“ wird heute noch gebraucht, um die Richtigkeit eines Rechenergebnisses zu unterstreichen. Bereits im 18. Jahrhundert war sie geläufig. Abraham Gotthelf Kästner etwa schreibt in seiner Geschichte der Mathematik 1796: Eine 1785 erschienene Schrift erklärt: Werk Adam Ries verfasste drei Rechenbücher für den Unterricht in Rechenschulen und für die Ausbildung von Kaufleuten und Handwerkern: Rechnung auff der linihen (1518): Ries beschreibt darin das Rechnen auf den Linien eines Rechenbretts. Es ist laut dem Vorwort der zweiten Auflage ausdrücklich für Kinder bestimmt. Rechenung auff der linihen und federn … (1522): Neben dem Rechnen auf dem Rechenbrett beschreibt er in diesem Buch das Ziffernrechnen mit indischen/arabischen Ziffern. Es wurde zu seinen Lebzeiten über hundertmal, bislang mindestens 120-mal aufgelegt und begründete seinen Ruf als deutscher Rechenmeister. Rechenung nach der lenge/ auff den Linihen vnd Feder/.../Mit grüntlichem unterricht des visierens. (1550): Oft zitiert unter dem Kurztitel „Practica“, da in den einzelnen Kapiteln gleiche praktische Beispiele mit unterschiedlichen Methoden gerechnet werden. Ergänzend zu seinen früheren Büchern hat Ries hier auch das „Visieren“ behandelt, die zu seiner Zeit sehr wichtige Berechnung des Inhalts von Fässern. Das Buch zeigt erstmals auch ein Porträt des Autors, das als einziges zeitgenössisches Bild Ries’ überhaupt auch einen Hinweis auf sein Geburtsjahr gibt. Ries schrieb seine Bücher in deutscher Sprache. Das förderte ihre Verbreitung im deutschsprachigen Raum und lieferte einen Beitrag zur Vereinheitlichung der deutschen Sprache. Ries entwarf die Annaberger Brotordnung, diese regelte mit einer Sammlung von Tabellen die zulässigen Gewichtsabweichungen. Später erstellte Adam Ries ähnliche Brotordnungen auch für Joachimsthal, Zwickau, Hof und Leipzig.: Ein Gerechent Büchlein/ auff den Schöffel/ Eimer/ vnd Pfundtgewicht... (Manuskript 1533, Druck 1536): Ein Buch mit Tabellen für die Berechnung alltäglicher Preise; eine Art Ratgeber, der – so Ries im Vorwort – hilft, „daß der arme gemeine man ym Brotkauff nicht vbersezt würde“. 1524 beendete Ries die Arbeiten am Manuskript der Coß, einem mehr als 500 Seiten umfassenden Lehrbuch der Algebra. Nachkommen Mit seiner Frau Anna zeugte er mindestens acht Kinder. Drei der fünf Söhne, Adam, Abraham und Jacob, waren zeitweilig als Rechenmeister in Annaberg tätig. Während Abraham und Jacob 1604 in ihrer Heimat starben, soll Adam sich im Harz niedergelassen haben. Den vierten Sohn, Isaac, zog es nach Leipzig, wo er unter anderem als Visierer (Eichmeister) tätig war. Paul, der fünfte Sohn, wurde Gutsbesitzer und Richter in Wiesa. Die drei Töchter Eva, Anna und Sybilla heirateten jeweils in Annaberg. Die Nachkommen von Adam Ries sind Gegenstand ständiger, ausführlicher genealogischer Forschung. Noch heute lebt eine Vielzahl von Adam-Ries-Nachfahren im Obererzgebirge. Der Adam-Ries-Bund hat es sich zur Aufgabe gemacht, sämtliche Nachkommen von Adam Ries zu ermitteln, und weist in seiner ständig aktualisierten Datenbank bislang mehr als 24.000 direkte Nachkommen auf. Ehrungen Denkmale Annaberg 1893: Büste von Robert Henze. Anlässlich des 400. Geburtstages von Adam Ries beschloss der Annaberger Geschichtsverein 1891, dem Rechenmeister ein Denkmal zu setzen. Die vom Dresdner Bildhauer Henze angefertigte Skulptur konnte wegen finanzieller Schwierigkeiten erst am 5. November 1893 geweiht werden. 1943 wurde die Bronzebüste zu Rüstungszwecken eingeschmolzen und erst zehn Jahre später durch eine Sandsteinkopie ersetzt. Ende der 1970er Jahre entfernte man diese zunächst ganz aus dem Stadtbild, da wegen des Materials eine fortwährende Verschlechterung ihres Zustands zu befürchten war. Erst 1991 wurde eine neue Sandsteinbüste vor der Trinitatiskirche aufgestellt. Nach einer schweren Beschädigung durch Vandalismus 1992 konnte sie durch die Initiative des Adam-Ries-Bundes ein weiteres Mal rekonstruiert werden und wurde am 100. Jahrestag der Erstweihe erneut vor der Kirche platziert. Seit dem Jahr 2010 hat das Denkmal seinen Platz vor dem Adam-Ries-Museum und Sitz des Adam-Ries-Bundes in der Annaberger Johannisgasse gefunden. Bad Staffelstein 1874: Gedenktafel am Rathaus 1959: Sandsteinrelief von Karl Potzler am Rathaus 1980: Bronzerelief von Hubert Weber in der Bamberger Straße 1990: Bronzerelief von Hubert Weber in der Bahnhofstraße 1992: Bronzetafel von Bildhauer Kerner am Eingang des vermuteten früheren Standorts des Geburtshauses von Adam Ries 2009: Bronzestatue von Bildhauer Andreas Krämmer in der Bahnhofstraße anlässlich des 450. Todestages Erfurt 1992: Dreiteiliges Ensemble mit Bronzebüste, Texttafel und in das Straßenpflaster eingelassener Rechentafel in der Michaelisstraße 48 Briefmarken Sonstige Am 18. August 1997 wurde der Asteroid (7655) Adamries nach ihm benannt. Zahlreiche Schulen führen den Namen Adam Ries. Von 2008 bis 2013 trug mit der Adam-Ries-Fachhochschule in Erfurt eine Hochschule seinen Namen. Das Stadtmuseum Bad Staffelstein hat Adam Ries eine Abteilung gewidmet. Ausgestellt sind unter anderem Ausgaben seiner Rechenbücher sowie ein Rechenbrett. Literatur Neuausgaben von Schriften von Ries Wolfgang Kaunzner, Hans Wußing (Hrsg.): Coß. Teubner 1992 (Teubner-Archiv zur Mathematik, Supplement 3). Eine ältere Ausgabe erschien in: Bruno Berlet Adam Riese, sein Leben, seine Rechenbücher. Die Coß von Adam Riese, Leipzig, Frankfurt 1892. Rainer Gebhardt (Hrsg.): Einblicke in die Coß von Adam Ries: eine Auswahl aus dem Original mit aktuellen Anmerkungen und Kommentaren (= Schriften des Adam-Ries-Bundes Annaberg-Buchholzd. Band ??). Teubner 1994. Rainer Gebhardt (Hrsg.): Die Annaberger Brotordnung von Adam Ries (= Schriften des Adam-Ries-Bundes Annaberg-Buchholz. Band 16). Kommentierte und bearbeitete Faksimile-Ausgabe der 1533 erstellten und 1536 gedruckten Brotordnung. Adam-Ries-Bund, Annaberg-Buchholz 2004, ISBN 3-930430-66-5. Stefan Deschauer (Hrsg.): Rechnung auff der linihen … in massen man es pflegt tzu lern in allen rechenschulen gruntlich begriffen anno 1518 (= Algorismus. Band 6). München, Institut für Geschichte der Naturwissenschaften 1992. Stefan Deschauer (Hrsg.): Rechenung auff der linihen und federn in zal, maß und gewicht auff allerley handierung gemacht und zusamen gelesen durch Adam Riesen von Staffelstein Rechenmeyster zu Erffurdt im 1522 Jar (= Algorismus. Band 5). Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, München 1991. Stefan Deschauer, Erich Wittmann (Herausgeber) Das zweite Rechenbuch von Adam Ries: eine moderne Textfassung mit Kommentar und metrologischem Anhang und einer Einführung in Leben und Werk des Rechenmeisters. Vieweg, Braunschweig 1992 (das Rechenbuch von 1522 in neuhochdeutscher Übertragung). Rechenbuch auff Linien und Ziphren in allerley Handthierung, Geschäfften unnd Kauffmanschafft […]. Neudruck der Ausgabe Frankfurt am Main 1574 von 1954. Ein Faksimilenachdruck der Practica (1550) von Ries erschien 1976 bei Gerstenberg in Hildesheim Christiane Brodersen, Kai Brodersen (Hrsg.): Adam Ries: Das erste Rechenbuch (Erfurt 1525), Faksimile, Transkription und Übertragung. Speyer 2018, ISBN 978-3-939526-38-4, Magistrat der Stadt Erfurt (Hrsg.), Manfred Weidauer, Erfurt (Bearbeitung): Rechnung auff der Linihen und Federn / Auff allerley handthierung gemacht / durch Adam Risen. zum andern mal ubersehen und gemehret. Wissenschaftliche Allgemeinbibliothek Erfurt, Erfurt 1991 (Faksimile). Sekundärliteratur Fritz Deubner: … nach Adam Ries. Leben und Wirken des großen Rechenmeisters. 1. Auflage, 1.–6. Tausend. Urania-Verlag, Leipzig u. a. 1959. Willy Roch: Adam Ries. Des deutschen Volkes Rechenlehrer. Sein Leben, sein Werk und seine Bedeutung. Herfurth, Frankfurt am Main 1959. Adam Rieß vom Staffelstein. Rechenmeister und Cossist (= Staffelsteiner Schriften. Bd. 1). Verlag für Staffelsteiner Schriften, Staffelstein 1992, ISBN 3-9802943-0-7. Rainer Gebhardt (Hrsg.): Adam Ries – Humanist, Rechenmeister, Bergbeamter (= Schriften des Adam-Ries-Bundes Annaberg-Buchholz. Bd. 1). Adam-Ries-Bund, Annaberg-Buchholz 1992, ISBN 3-930430-00-2. Georg Gehler, Wolfgang Lorenz: Das Neue Adam-Ries-Nachfahrenbuch (= Schriften des Adam-Ries-Bundes Annaberg-Buchholz. Bd. 8). Adam-Ries-Bund, Annaberg-Buchholz 1997, ISBN 3-930430-06-1. Wolfgang Kauzner: Adam Ries im Spiegel seiner algebraischen Handschriften. Im Anhang Abdruck von Buch II und III der „Algebra des Initius Algebras“ aus der Feder von Adam Ries in Kodex Dresden C 349 (= Staffelsteiner Schriften. Bd. 8 = Schriften des Adam-Ries-Bundes Annaberg-Buchholz. Bd. 10). Adam-Ries-Bund, Annaberg-Buchholz 1998, ISBN 3-930430-23-1. Hans Burkhardt: Annaberger Adam-Ries-Büchlein. Geschichte um den Rechenmeister in Bild und Wort. Projekte-Verlag, Halle 2003, ISBN 3-931950-93-X. Joachim Mehnert: Wahre Geschichten um Adam Ries (= Wahre Geschichten. Nr. 36). Tauchaer Verlag, Taucha 2003, ISBN 3-89772-066-3. Bernd Luderer (Hrsg.): Adam Ries and his „Coss“. A Contribution to the Development of Algebra in 16th Century Germany (= Eagle 11 Eagle-Einblicke). With contributions by Wolfgang Kaunzner and Hans Wußing. Edition am Gutenbergplatz Leipzig, Leipzig 2004, ISBN 3-937219-11-0. Peter Rochhaus: Adam Ries. Vater des modernen Rechnens. Sutton, Erfurt 2008, ISBN 978-3-86680-407-4. Wolfgang Blum: 450. Todestag von Adam Ries - Riesiger Fehler. In: Süddeutsche Zeitung, 28./29. März 2009. Bernd Rüdiger, Wolfgang Lorenz: Quellen zu Adam Ries (= Quellen zum Leben und Wirken Adam Ries’ und seiner Söhne. Bd. 1). Adam-Ries-Bund, Annaberg-Buchholz 2009, ISBN 978-3-930430-87-1. Jürgen Weiß: B. G. Teubner zum 225. Geburtstag. Adam Ries, Völkerschlacht, F. A. Brockhaus, Augustusplatz, Leipziger Zeitung, Börsenblatt (= Eagle 35 Eagle-Essay). Edition am Gutenbergplatz Leipzig, Leipzig 2009, ISBN 978-3-937219-35-6. Hans Wußing: Adam Ries. 3., bearbeitete und erweiterte Auflage. (= Eagle 33 Eagle-Essay). Edition am Gutenbergplatz Leipzig, Leipzig 2009, ISBN 978-3-937219-33-2. Friedrich Naumann: Die historische Entwicklung des erzgebirgischen Bergbaus und Adam Ries als „Bergmann von der Feder“. In: Gemeinnützige Mathematik – Adam Ries und seine Folgen. Acta Academiae Scientiarum 8 (2003), Hrsg.: J. Kiefer u. K. Reich, Erfurt 2003, S. 55–87. ISBN 3-932295-56-0, . Friedrich Naumann: Adam Ries als „Bergmann von der Feder“. In: Hans Wußing: Adam Ries. Leipzig 2009, S. 151–158, ISBN 978-3-937219-33-2. Bernd Rüdiger: Adam Ries. Leben und Wirken des bedeutendsten deutschen Rechenmeisters. Adam-Ries-Bund, Annaberg-Buchholz 2017. ISBN 978-3-944217-25-3 Weblinks Digitalisierte Rechenbücher von Adam Ries aus den Beständen der Staatsbibliothek Bamberg Adam Ries im Galileo Project Einzelnachweise Mathematiker (16. Jahrhundert) Rechenmeister Person (Annaberg-Buchholz) Literatur (16. Jahrhundert) Literatur (Deutsch) Person als Namensgeber für einen Asteroiden Deutscher Geboren im 15. Jahrhundert Gestorben 1559 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Archaeopteryx
Archaeopteryx
Archaeopteryx (aus „uralt“ und „Flügel, Schwingen, Feder“) ist eine Gattung der Archosaurier, deren Fossilien in der Fränkischen Alb in den Solnhofener Plattenkalken aus dem Oberjura entdeckt wurden. Archaeopteryx gilt als Übergangsform, die zwischen theropoden Dinosauriern und den Vögeln vermittelt. Da der etwa rabengroße Archaeopteryx in der Regel den Vögeln als ursprungsnahe Form zugerechnet wird, bezeichnet man die Gattungsmitglieder auch als Urvögel. Archaeopteryx wurde im Jahr 1861 von Hermann von Meyer auf der Grundlage eines isolierten Federabdrucks erstmals beschrieben. Das erste Skelettexemplar (das sogenannte Londoner Exemplar) wurde schon im selben Jahr entdeckt und ist in der Erstveröffentlichung erwähnt. Bis heute folgten mindestens 11 weitere, unterschiedlich vollständige Skelettfunde. Merkmale Die Gattung Archaeopteryx zeigt ein Mosaik aus (für Vögel) urtümlichen, das heißt reptilienhaften Merkmalen, die später von den modernen Vögeln (Neornithes) abgelegt wurden, und abgeleiteten, das heißt vogeltypischen Merkmalen (die jedoch nach gegenwärtigem Kenntnisstand nur noch zum Teil als allein charakteristisch für Vögel gelten). Urtümlich sind unter anderem das Vorhandensein von Zähnen und Bauchrippen (Gastralia), eine lange Schwanzwirbelsäule, eine relativ geringe Zahl unverschmolzener Beckenwirbel (Sakralia), unverschmolzene Mittelhand-, Mittelfuß- und Fußwurzel- und Beckenknochen, die drei Fingerklauen sowie das Fehlen eines knöchernen Brustbeins. Zu den vogeltypischen Merkmalen kann man die modern anmutenden asymmetrischen Schwungfedern zählen, außerdem die zu einem Gabelbein verschmolzenen Schlüsselbeine und die rückwärts oder seitlich-rückwärts orientierte erste Zehe (Hallux) des Fußes (anisodactyler Vogelfuß). Archaeopteryx erreichte etwa die Größe von Raben (ca. 50 cm Körperlänge) und ein Gewicht von 0,8 bis 1 kg. Bedeutung Die Vogel-Charakteristika des Urvogels sind auch für manche gefiederten Dinosaurier belegt oder, wie im Fall der revertierten ersten Zehe des Archaeopteryx, nicht unangefochten. Deshalb sehen manche Paläontologen den Urvogel nicht als wesentlich vogelähnlicher an als manche theropoden Dinosaurier, die nicht den Vögeln zugerechnet werden (z. B. Microraptor). Innerhalb der letzten 20 Jahre sind eine Vielzahl von Fossilien urtümlicher Vögel und vogelähnlicher Dinosaurier entdeckt worden, besonders in Sedimentgesteinen der Unterkreide von Nordostchina (der Jehol-Gruppe). Somit steht Archaeopteryx als Mosaikform nicht allein, sondern lässt sich in eine (morphologische, nicht zeitliche) Abfolge von Dinosauriern einordnen, die den Vögeln sukzessive ähnlicher werden. Vertreter der Hypothese, der Schlagflug der Vögel sei aus dem Gleitflug von einem erhöhten Punkt herab entstanden, interpretieren die Krallen des Archaeopteryx als die eines Baumkletterers, der von den Ästen herabglitt. Bei palökologischen Untersuchungen der Fundhorizonte kamen manche Forscher jedoch zu dem Schluss, dass am Bildungsort der Solnhofener Plattenkalke ein heißes und trockenes Klima geherrscht haben muss und wahrscheinlich keine Bäume vorkamen. Im Gegenzug wiesen sie aber auf hohe Klippen an der Küste des Jurameeres hin, die als Startpunkt für erste Flugversuche in Frage kommen. Burgers und Chiappe zeigten, dass Archaeopteryx möglicherweise auch vom Boden starten konnte. Forschungen, die das elfte bisher bekannte Fossil mit dem bislang besterhaltenen Federkleid untersuchten, zeigen, dass Archaeopteryx vermutlich am ganzen Körper befiedert war. Lange Federn an den Beinen waren reihig angeordnet, sie hatten ihrer Gestalt nach vermutlich keine Funktion beim Fliegen (wie beim entfernt verwandten Microraptor vermutet), sie könnten aber, ähnlich wie die Federhosen der rezenten Greifvögel, beim Landen hilfreich gewesen sein. Das Federkleid diente wohl, ähnlich wie bei den verwandten Gruppen, nicht nur zum Fliegen, sondern auch zur Wärmeisolation, vermutlich hatte es auch Funktionen als Signalgeber an Artgenossen oder zur Tarnung. Besonderheit der zum Fliegen eingesetzten Schwungfedern ist ihre asymmetrische Fahne. Bedeutung für die Durchsetzung der Evolutionstheorie Charles Darwin hatte in der von ihm entwickelten Evolutionstheorie 1859 vorhergesagt, dass es bei der Entwicklung neuer Arten Übergangsformen geben sollte, die noch Merkmale der alten, aber auch schon Merkmale der neuen Gruppe besitzen müssten. Als Darwin seine Theorie veröffentlichte, waren noch keine solchen Fossilien bekannt, sie wurden deshalb als fehlende Glieder (missing links) bezeichnet. Nur zwei Jahre später wurde das erste Skelettexemplar des Archaeopteryx gefunden. Die Archaeopteryx-Funde waren der erdgeschichtlich früheste Beleg für Federn eines Wirbeltiers. Dass sie bereits deutliche Merkmale von Vögeln, aber auch noch solche von Reptilien bzw. Sauriern besaßen, machte Archaeopteryx zu einem wichtigen Indiz für die Richtigkeit der Darwinschen Evolutionstheorie. Der Streit über die Evolutionstheorie wurde damit auch zu einer Auseinandersetzung um Archaeopteryx. Richard Owen verfasste die erste Beschreibung des Londoner Exemplars (siehe Abbildung oben). Er lehnte aufgrund seiner religiösen Überzeugung die Evolutionstheorie ab und vermied peinlich genau jeden Hinweis auf die mögliche Deutung als vermittelndes Bindeglied zwischen Reptilien und Vögeln. Fossilfunde Bisher wurden zwölf mehr oder weniger gut erhaltene Skelette der Gattung Archaeopteryx sowie eine einzelne Feder gefunden. Sämtliche Exemplare stammten aus den Schichten des oberen weißen Jura in den Steinbrüchen bei Eichstätt, Solnhofen, Langenaltheim, Jachenhausen bei Riedenburg und Schamhaupten. Der Abdruck der einzelnen Feder wurde 1860 entdeckt, das erste Skelett 1855 („Haarlemer Exemplar“) und das bisher letzte Exemplar 2011. Dabei handelt es sich um folgende Stücke (geordnet nach dem Zeitpunkt, an dem der jeweilige Fund erstmals als Archaeopteryx erkannt wurde): 1. „Die Feder“, entdeckt 1860 im Gemeindesteinbruch Solnhofen und 1861 beschrieben von dem Frankfurter Wirbeltier-Paläontologen Hermann von Meyer (1801–1869), der den heute noch gültigen Gattungsnamen Archaeopteryx prägte, war der erste bekannt gewordene Fund. Der eine Teil des Abdrucks befindet sich im Museum für Naturkunde in Berlin, die andere Seite im Paläontologischen Museum in München. Es ist umstritten, ob die isolierte Feder tatsächlich von Archaeopteryx stammt. Da es sich bei dem Federabdruck um den Holotypus von Archaeopteryx litographica handelt, war die Stabilität dieses bekannten Namen gefährdet. Um dieses Problem zu lösen und die Art Archaeopteryx litographica eindeutig zu definieren, hat die Internationale Kommission für Zoologische Nomenklatur 2011 das sogenannte Londoner Exemplar zum neuen Typus erklärt. Eine Anfang 2019 publizierte Neuuntersuchung der Feder ergab, dass sie nicht von Archaeopteryx stammt, sondern von einem anderen Urvogel oder von einem kleinen, befiederten Nichtvogel-Dinosaurier. Dem wurde im September 2020 widersprochen. Forscher verglichen die Feder mit den entsprechenden Federn von drei der weitgehend kompletten Fossilien und wiesen nach, dass die Feder vom rechten Flügel eines Archaeopteryx stammt. Dunkle Pigmente in der Feder sind zudem ein Hinweis darauf, dass sie ursprünglich schwarz war. 2. Das „Londoner Exemplar“, gefunden 1861 auf der Langenaltheimer Haardt bei Solnhofen, gehört zu den drei bedeutendsten Exemplaren. Es war der erste vollständige Fund eines Skeletts und ist das Typus-Exemplar der Art Archaeopteryx lithographica. Wenige Monate nach dem Fund erwarb das Londoner Natural History Museum (damals noch zum British Museum gehörend) das Exemplar von seinem Besitzer, dem Pappenheimer Kreisarzt Carl Friedrich Häberlein (1787–1871). Treibende Kraft des Ankaufs war dabei der britische Naturforscher Richard Owen, damals Leiter der naturhistorischen Sammlung des Britischen Museums und erklärter Gegner von Darwins Theorien. 3. Das „Berliner Exemplar“ (gefunden zwischen 1874 und 1876 auf dem Blumenberg bei Eichstätt), gilt mit seinen deutlichen Federabdrücken und einem erhaltenen Schädel als das wahrscheinlich schönste und vollständigste Stück. Der Finder Jakob Niemeyer tauschte den Fund für eine Kuh im Wert von 150 bis 180 Mark ein. Der neue Besitzer Johann Dörr, ein Steinbruchbesitzer, veräußerte es für 2.000 Mark an Ernst Otto Häberlein (1819–1886) aus Pappenheim, den Sohn des Verkäufers des Londoner Exemplars, der den Fund auch präparierte. Zunächst interessierten sich die Bayrische Staatssammlung und die Yale-Universität für das Fundstück, doch konnten beide den hohen Kaufpreis nicht aufbringen. Selbst eine Bitte deutscher Zoologen an Kaiser Wilhelm I. war erfolglos. Schließlich und auf Anfrage durch Wilhelm Dames erwarb Werner von Siemens das Exemplar 1879 für 20.000 Mark und übergab es als Dauerleihgabe dem Mineralogischen Museum der Humboldt-Universität zu Berlin. Zwei Jahre später erstattete die Universität dem Leihgeber Siemens den Kaufpreis. Das Exemplar gehört seitdem dem Museum für Naturkunde in Berlin und ist dort seit 2007 dauerhaft ausgestellt. 4. Das „Maxberger Exemplar“ (1956 auf der Langenaltheimer Haardt bei Solnhofen), ist ein Torso mit einigen Federabdrücken. Es befand sich bis zum Tod seines Entdeckers Eduard Opitsch 1991 in dessen Privatbesitz und gilt seitdem als verschollen. 5. Das „Haarlemer Exemplar“ (1855 in Jachenhausen bei Riedenburg) wurde schon 1855, also fünf Jahre vor der Feder gefunden, aber erst 1970 durch John Ostrom Archaeopteryx zugeordnet. Dieses Exemplar war durch Hermann von Meyer 1860 als Pterodactylus crassipes klassifiziert worden, daher hätte sein Artname crassipes gemäß den Prioritätsregeln der Benennung von Fossilien den Namen lithographica ersetzen müssen. Dies wurde durch energischen Einsatz von Ostrom verhindert. Das Fragment ist in Besitz des Teylers Museum, Haarlem. Eine Ende 2017 publizierte Neuuntersuchung des Fossils ergab, dass es sich nicht um Archaeopteryx handelt, sondern um einen Theropoden, der nah mit Anchiornis verwandt ist, einem kleinen, vogelähnlichen, aber nicht flugfähigen Dinosaurier. Er wurde unter dem wissenschaftlichen Namen Ostromia beschrieben. 6. Das „Eichstätter Exemplar“ (1951 in Workerszell bei Eichstätt) galt zunächst als kleiner Raubdinosaurier Compsognathus, wurde 1973 wiederentdeckt und 1974 von Peter Wellnhofer beschrieben. Das Stück befindet sich im Besitz des Jura-Museums in Eichstätt. 7. Das „Solnhofener Exemplar“ wurde in den 1960er-Jahren von einem türkischen Gastarbeiter in der Nähe von Eichstätt entdeckt und zunächst ebenfalls als Compsognathus fehlbestimmt, 1988 aber durch Peter Wellnhofer beschrieben. Es befindet sich im Bürgermeister-Müller-Museum zu Solnhofen. Dazu entschied 2001 das Oberlandesgericht Nürnberg, dass das Fossil nicht an einen Steinbruchbesitzer herausgegeben werden muss, der behauptet hatte, es sei 1985 aus seinem Besitz entwendet worden. Die Abweisung der Klage ist zwar mittlerweile rechtskräftig, doch ist die tatsächliche Herkunft immer noch nicht restlos geklärt. 8. Das „Exemplar des Solnhofener Aktienvereins“ (gefunden im Sommer 1992 in einem Steinbruch der Solnhofer Aktien-Verein AG auf der Langenaltheimer Haardt bei Solnhofen) kann im Paläontologischen Museum in München besichtigt werden. 1993 wurde der Fund von Peter Wellnhofer als neue Art Archaeopteryx bavarica in die Wissenschaft eingeführt. Die schönen Federabdrücke und das sehr gut erhaltene Skelett ermöglichten zahlreiche neue Erkenntnisse. Die von Wellnhofer als Brustbein beschriebene Struktur hat sich allerdings nach neueren Untersuchungen als Teil des Rabenbeins erwiesen. Die möglicherweise doch recht guten Flugfähigkeiten bleiben dabei allerdings erhalten, da das Brustbein wohl als verknorpelte Struktur vorhanden war. Auch zahlreiche Details des Schädels, des Kiefers und des Schwanzes des elstergroßen Urvogels öffneten neue Blickwinkel auf die Evolution der Vögel. Durch diese Besonderheiten gehört dieser letzte große Fund zweifellos zu den drei bedeutendsten, manche halten ihn sogar für schöner als das Berliner Exemplar. 9. Ein sehr fragmentarischer, neunter Fund (Exemplar Nr. 8) war seit 1997 nur durch einen Abguss dokumentiert, und lange Zeit waren Besitzer und Aufbewahrungsort unbekannt. 2009 präsentierte der Fossilienhändler Raimund Albersdörfer das von ihm erworbene Exemplar auf den Münchner Mineralientagen erstmals der Öffentlichkeit. Das Fossil wurde Ende der 1980er Jahre auf dem Gemeindegebiet von Daiting gefunden. 10. Im Jahr 2004 wurde über einen weiteren, ebenfalls fragmentarischen Fund berichtet, der sich jetzt im Bürgermeister-Müller-Museum Solnhofen befindet. 11. Das „Thermopolis-Exemplar“ wurde 2005 vom Besitzer des Wyoming Dinosaur Center in Thermopolis gekauft und unter anderem von Gerald Mayr untersucht, die Ergebnisse wurden in der Science-Ausgabe vom Dezember 2005 veröffentlicht. Herausragend an dem neuen Exemplar ist neben seinem äußerst guten Erhaltungszustand die Tatsache, dass erstmals der Kopf von oben zu sehen ist und der Mittelfußknochen einen nach oben gerichteten Fortsatz aufweist. 12. Im Jahr 2011 wurde erstmals das 11. Exemplar der Öffentlichkeit präsentiert, das bereits vor mehreren Jahrzehnten im Raum Eichstätt entdeckt worden war. Es zeichnet sich durch eine besonders gute Federerhaltung – ähnlich dem „Berliner Exemplar“ – aus. Ein Münchner Paläontologen-Team der Ludwig-Maximilians-Universität/Bayer. Staatssammlung für Paläontologie und Geologie stellte die weitreichenden Ergebnisse in der Nature-Ausgabe vom Juli 2014 vor (mit Archaeopteryx als Titelbild). 13. Das bislang letzte (12.) Exemplar wurde 2010 von einem Finder, dessen Name geheim gehalten wird, in einem Erlebnissteinbruch in Schamhaupten im Landkreis Eichstätt am Ostrand des Köschinger Forstes entdeckt. Mit einem Alter von 153 Millionen Jahren ist es vermutlich das bisher älteste Archaeopteryx-Exemplar. Noch im Besitz des Finders, wird das Fossil von den Eigentümern des Steinbruchs beansprucht, um es musealen Zwecken zuzuführen. Es wird im Museum des im August 2016 eröffneten Dinosaurier-Park Altmühltal, etwa 10 km vom Fundort entfernt, ausgestellt. Die meisten der Archaeopteryx-Exemplare zeigen eine verkrümmte Halswirbelsäule. Diese typische Rückwärtskrümmung bildete sich erst nach dem Tode der Tiere im Wassergrab heraus. Äußere Systematik Archaeopteryx wird in der Regel als der urtümlichste Vogel definiert, das heißt, alle Arten, die mit den Modernen Vögeln (Neornithes) entfernter verwandt sind als Archaeopteryx, gelten als den Vögeln nicht zugehörig. Unter den mesozoischen Vögeln gibt es manche, die nur wenig näher mit den heutigen Vögeln verwandt sind als Archaeopteryx: Rahonavis und Jeholornis haben mit Archaeopteryx unter anderem den langen knöchernen Schwanz gemein, den höher entwickelte Vögel (Pygostylia) abgelegt haben. Innerhalb der theropoden Dinosaurier gelten die Deinonychosaurier als nahe Verwandte der Vögel – beide Gruppen werden in der übergeordneten Gruppe Paraves (Eumaniraptora) zusammengefasst. Ein Merkmal, das die Deinonychosaurier mit Archaeopteryx und Rahonavis verbindet, ist die überdehnbare („hyperextensible“) zweite Klaue des Fußes. Federn mit einer geschlossenen Federfahne waren vermutlich bereits bei den Vorfahren der Paraves ausgeprägt. Es gibt eine Anzahl stammesgeschichtlicher Analysen, die zu abweichenden Ergebnissen bezüglich der Verwandtschaftsverhältnisse vogelähnlicher Deinonychosaurier und urtümlicher Vögel gelangen. Nach der Hypothese von Mayr u. a. waren manche gefiederten Dromaeosauriden wie Microraptor näher mit den Pygostylia verwandt als Archaeopteryx; in der Gruppe der Vögel wäre demnach der Vogelflug womöglich mehrfach unabhängig voneinander entstanden. Kritiker der Dinosaurier-Abstammung der Vögel meinen, die Ähnlichkeit der Urvögel zu theropoden Dinosauriern sei auf massive konvergente Evolution zurückzuführen. Nach Feduccia u. a. (2005) seien die Vögel aus einer noch zu bestimmenden Gruppe urtümlicher Archosaurier hervorgegangen, während Microraptor und andere gefiederte Dinosaurier in Wirklichkeit keine Dinosaurier, sondern frühe Formen flugunfähiger Vögel darstellten. Archaeopteryx und Xiaotingia Der Einbezug eines 2011 aufgrund neuer Fossilfunde benannten Archaeopteryx-ähnlichen Dinosauriers der spätjurazeitlichen Tiaojishan-Formation (Liaoning, China) in eine stammesgeschichtliche Analyse führte dazu, dass die bisher angenommenen Verwandtschaftsverhältnisse von Archaeopteryx angezweifelt wurden. Die Analyse ergab, dass Archaeopteryx zusammen mit der neuen Gattung Xiaotingia, die in manchen Merkmalen Deinonychosauriern gleicht, näher mit den Deinonychosauriern als mit späteren Vögeln verwandt gewesen sein könnte. Dieser Hypothese zufolge wäre Archaeopteryx, je nach Definition der Gruppe der Vögel, entweder nicht den Vögeln zugehörig, oder die Vögel schlössen auch die Deinonychosaurier mit ein. Innere Systematik Ob die Archaeopteryx-Funde einer oder mehreren Arten angehören, ist seit der Erstbeschreibung des Berliner Exemplars kontrovers diskutiert worden, was sich in der Häufung synonymer Gattungs- und Artnamen, die für dieselben Exemplare vergeben und wieder revidiert wurden, widerspiegelt. Elzanowski ordnete in seinen Revisionen die damals bekannten Exemplare vier verschiedenen Arten zu, wobei er für das Solnhofener Exemplar, das seiner Ansicht nach anatomisch besonders deutlich von den anderen abweicht, die Zugehörigkeit zu einer eigenen Gattung vorschlug: Archaeopteryx lithographica, Neotypus: Londoner Exemplar; Archaeopteryx siemensii, Holotypus: Berliner Exemplar; Archaeopteryx bavarica, Holotypus: Münchener Exemplar; Wellnhoferia grandis, Holotypus: Solnhofener Exemplar. Der Befund, dass die bisher bekannten Archaeopteryx-Exemplare nicht einer einzigen Art angehören, wird von Mayr u. a. (2007) bestätigt. In ihrer Beschreibung des Thermopolis-Exemplars vergleichen sie den bislang letzten Fund mit vormals bekanntem Fossilmaterial von Archaeopteryx. Entgegen der Analyse von Elzanowski kommen sie zu der Schlussfolgerung, dass die bestehenden Unterschiede der zehn Skelettfunde nicht mehr als zwei Arten rechtfertigen: Archaeopteryx lithographica, Neotypus: Londoner Exemplar, ebenfalls zugehörig: Solnhofener Exemplar; Archaeopteryx siemensii, Holotypus: Berliner Exemplar, ebenfalls zugehörig: Münchener Exemplar, Thermopolis-Exemplar. 2018 wurde auf Grundlage des Daitinger Exemplars, des geologisch jüngsten Archaeopteryx-Exemplars, die neue Art Archaeopteryx albersdoerferi errichtet. Literatur Patricio Domínguez Alonso, Angela C. Milner, Richard A. Ketcham, M. John Cookson, Timothy B. Rowe: The avian nature of the brain and inner ear of Archaeopteryx. In: Nature. Band 430, Nr. 7000, 2004, S. 666–669, doi:10.1038/nature02706. Gerold Bielohlawek-Hübel: Wer fand den Urvogel? (Die Geschichte des Archaeopteryx aus dem Altmühljura). Forumverlag, Riedstadt 2004, ISBN 3-937316-08-6. Ludger Bollen: Der Flug des Archaeopteryx. Auf der Suche nach dem Ursprung der Vögel. Quelle & Meyer, Wiebelsheim 2008, ISBN 978-3-494-01421-0. Paul Chambers: Die Archaeopteryx-Saga. Das Rätsel des Urvogels. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-8077-0139-7. Eva Gebauer: 10 × Archaeopteryx. Was uns die einzelnen Funde erzählen! (= Museumspädagogische Reihe der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft. Band 1). Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-929907-77-3. Manfred Meckl: Archaeopteryx. Ein befiederter Dinosaurier wird als Stammvater der Vögel entlarvt. (Eine paläontologische Detektivgeschichte). Braun, Fürstenfeldbruck 1995, ISBN 3-00-000444-0. Lawrence M. Witmer: Palaeontology: Inside the oldest bird brain. In: Nature. Band 430, Nr. 7000, 2004, S. 619–620, doi:10.1038/430619a. Peter Wellnhofer: Archaeopteryx. Der Urvogel von Solnhofen. Pfeil, München 2008, ISBN 978-3-89937-076-8. Ernst Probst: Archaeopteryx. Die Urvögel aus Bayern. GRIN-Verlag, München 2012, ISBN 978-3-656-24237-6. Weblinks Der Archaeopteryx – Funde – Wissenschaftler – Vogelevolution… Das Hirn zum Fliegen Mathias Orgeldinger: Akte „Alte Feder“ In: Die Zeit. 26/1997. Archaeopteryx bei der Encyclopædia Britannica Chris Nedin: All About Archaeopteryx 1999 (englisch) Archaeopteryx – Vogel oder Reptil – oder beides? fossilien-solnhofen.de, abgerufen am 22. Oktober 2014. Einzelnachweise Theropoda Theropoden Tier als Namensgeber für einen Asteroiden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Absoluter%20Nullpunkt
Absoluter Nullpunkt
Der absolute Nullpunkt bezeichnet den unteren Grenzwert für die Temperatur, also die tiefstmögliche Temperatur, die nur theoretisch erreicht und nicht unterschritten werden kann. Dieser absolute Nullpunkt definiert den Ursprung der absoluten Temperaturskala und wird als 0 Kelvin festgelegt, das ist gleich −273,15 Grad Celsius. Die Existenz und der Wert des absoluten Nullpunkts können aus verschiedenen Zusammenhängen extrapoliert bzw. plausibilisiert werden. Das erste Gesetz von Gay-Lussac beschreibt den Zusammenhang zwischen der Temperatur und dem Volumen eines Gases – beim absoluten Nullpunkt wäre dieses Gasvolumen Null. Wenn man die thermische Energie, die sich auf die ungeordnete Bewegung der Teilchen in makroskopischer Materie bezieht, auf den niedrigsten möglichen Wert bringt, wo, anschaulich gesprochen, die Bewegung der Teilchen nicht mehr reduziert werden kann, ist man ebenfalls am absoluten Nullpunkt angelangt. Nach dem Nernst-Theorem oder äquivalent dazu dem dritten Hauptsatz der Thermodynamik ist der absolute Nullpunkt nicht erreichbar; jedoch können reale Temperaturen unbegrenzt nahe dem absoluten Nullpunkt realisiert werden. Mit Laserkühlung konnten Proben schon bis auf wenige Milliardstel Kelvin abgekühlt werden. Die Kelvin-Skala stellt eine Verhältnisskala dar. Andere Temperaturskalen beziehen sich auf einen willkürlich festgelegten Nullpunkt, wie die Celsius-Skala, deren Nullpunkt ursprünglich der Gefrierpunkt von Wasser war. Geschichte Guillaume Amontons fand 1699 heraus, dass sich das Volumen einer Gasmenge linear mit ihrer Temperatur verändert. Da das Volumen eines Gases aber nicht negativ werden sollte, folgerte er, dass es einen absoluten Nullpunkt geben müsse, bei dem das Volumen der Gasmenge gleich null wäre. Durch Extrapolation seiner Messwerte schätzte er die Lage dieses Nullpunkts ab und kam auf einen Wert von minus 248 Grad Celsius. William Thomson, 1. Baron Kelvin, entdeckte 1848, dass nicht die Volumenverkleinerung für diese Frage entscheidend ist, sondern der Energieverlust. Hierbei ist es unerheblich, ob es sich um Gase oder feste Stoffe handelt. Thomson schlug daraufhin vor, eine neue, absolute Temperaturskala zu definieren, zu der die Volumenänderung proportional ist. Diese neue Temperaturskala hat keine negativen Werte mehr, beginnt bei null (dies entspricht minus 273,15 Grad Celsius, siehe dazu Eigenschaften der Kelvinskala) und steigt so an, dass ein Temperaturunterschied von einem Kelvin jeweils einem Temperaturunterschied von einem Grad Celsius entspricht. Die Einheit für diese Temperaturskala wurde zunächst Grad A (A für absolut) genannt, später zunächst Grad Kelvin (°K) und dann Kelvin (K). Eigenschaften Physikalische Systeme mit Temperaturen nahe am absoluten Nullpunkt weisen einige besondere Verhaltensweisen wie Suprafluidität und Bose-Einstein-Kondensation auf. Diese Temperaturgebiete der Tieftemperaturphysik können nur noch mit besonderen Methoden erreicht werden. Bei Normaldruck sind am Nullpunkt alle Elemente fest, abgesehen von Helium, das sich dort in einer flüssigen bzw. suprafluiden Phase befindet. Thermodynamische Aussagen über den Nullpunkt im Zusammenhang mit der Entropie macht das Theorem von Nernst. Perfekte Kristalle erreichen beim Nullpunkt für die Entropie einen konstanten Wert , da die Entropie gemäß der statistischen Definition als der mit der Boltzmannkonstanten multiplizierte Logarithmus der Anzahl der möglichen Mikrozustände definiert ist und es nur eine mögliche Realisierung des beobachteten Makrozustands gibt. Bei (amorphen) Gläsern gibt es mehrere gleichenergetische Realisierungen eines Zustands mit , so dass die Entropie von null verschieden ist. Werte unterhalb des absoluten Nullpunkts Thermodynamische Systeme mit unbegrenztem Phasenraum können keine negativen Temperaturen erreichen. Wenn man allerdings den Zustand einer Besetzungsinversion beschreibt, der kein Zustand im thermodynamischen Gleichgewicht ist, treten negative absolute Temperaturen in der Rechnung auf, welche die Wahrscheinlichkeitsverteilung beschreibt. Solche negativen Temperaturen entsprechen dann energiereicheren (also in gewisser Weise heißeren) Zuständen. Experimentell gelangen solche negativen Werte Münchner Forschern bei einem atomaren Gas. Ihnen ist es gelungen, den absoluten Nullpunkt um Milliardstel K zu unterschreiten. Um eine Inversion der Boltzmann-Verteilung zu erreichen, erhielten die Atome eines spezifischen Gases eine obere Grenze für ihre Energie. Literatur Tom Shachtman: Minusgrade. Auf der Suche nach dem absoluten Nullpunkt (= rororo 6118 rororo Science. Sachbuch). Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001, ISBN 3-499-61118-X. Kurt Mendelssohn: Die Suche nach dem absoluten Nullpunkt. Kindler, München 1966. Weblinks Einzelnachweise Schwellenwert (Temperatur)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Antonym
Antonym
Antonyme (von , und ), Gegensatzwörter, Gegenwörter und Oppositionswörter sind in der Sprachwissenschaft Wörter mit gegensätzlicher Bedeutung. Zwei Wörter, die füreinander Gegensatzwörter sind, heißen Gegensatzpaar. Die zwischen ihnen bestehende Relation heißt Antonymie, insbesondere von Wörtern, aber auch von Sätzen und Phrasen. Der Begriff der Antonymie kann dabei nach der Ebene und Art des Gegensatzes unterschiedliche Ausprägungen erfahren. Die Art der Antonymie hängt inhaltlich davon ab, wie der Gegensatz im logischen Sinn zu verstehen ist, ob er etwa innerhalb eines Oberbegriffes gesucht wird oder ob ein konträres oder kontradiktorisches Verhältnis der mit dem Gegensatzpaar bezeichneten Begriffe vorliegt. Ein Ausdruck, der für beide Begriffe eines Gegensatzpaares stehen kann, heißt Oppositionswort. Antonymbildung In der deutschen Sprache werden in vielen Fällen Antonyme auch durch das Voranstellen der Vorsilbe un- gebildet: etwa Ruhe – Unruhe; klar – unklar usw. Jedoch gibt es nicht automatisch derartige Antonympaare, beispielsweise hat ungefähr kein Gegenüber gefähr; ebenso ist für unausbleiblich kein ausbleiblich in Benutzung. Darüber hinaus gibt es Wörter mit un-, die aber zum Stammwort kein Antonym bilden, zum Beispiel Mut und Unmut; ziemlich und unziemlich. Ein weiterer Aspekt ist, dass verschiedene Oppositionen von Wortpaaren nicht automatisch auf andere übertragbar sind. So sind zwar Überführung und Unterführung (Verkehrswege) Antonyme, aber Übergang und Untergang haben keinen vergleichbaren Sinn und Gegensinn, sondern bedeuten etwas völlig anderes, nichts direkt Gegensätzliches. Arten von Antonymien Es lassen sich verschiedene Arten von Antonymie unterscheiden: Antonymie im engeren und im weiteren Sinn Ursprünglich sprach man von Antonymie nur im Sinne von gradueller oder auch konträrer Antonymie und bezeichnete damit Adjektivpaare wie beispielsweise schön/hässlich. Teilweise spricht man auch heute noch von Antonymie nur dann, um einen „Bedeutungsgegensatz(.) zwischen skalierbaren lexikalischen Ausdrücke(n)“ zu bezeichnen. In logischer Perspektive ist die graduelle Antonymie bei einem konträren Gegensatz gegeben (Beispiel: kalt/heiß). Ein Sonderfall der graduellen oder konträren Antonymie ist der polar-konträre Gegensatz, bei dem die gegensätzlichen Bedeutungen am Ende einer Skala sind (Beispiel: neu/alt). „Nicht-polare Antonyme bezeichnen den gleichen Ausprägungsgrad auf entgegengesetzten Skalen; die Bildung konverser Komparative ist ausgeschlossen“. Der Ausdruck der Antonymie wird häufig auch in einem weiteren Sinn verwandt, bezeichnet dann allgemein einen Oberbegriff für „semantische Gegensatzrelationen“ und erfasst dann auch den Fall des kontradiktorischen Gegensatzes, der in der Semantik auch als komplementärer Gegensatz (siehe unten) bezeichnet wird (Beispiel: tot/lebendig; sinnvoll/sinnlos). Man bezeichnet die kontradiktorische Antonymie auch als „Antonymie im strengen Sinne“, während die konträre Antonymie auch als „Antonymie im eigentlichen Sinn“ oder „gelegentlich“ auch als Antonymie im engeren Sinn bezeichnet wird. Die Terminologie ist also alles andere als klar. Konträre Antonymie als Inkompatibilität Antonymie als Fall (konträrer oder kontradiktorischer) gegensätzlicher Bedeutung ist ein „Sonderfall“ unvereinbarer Bedeutung, das heißt einer Inkompatibilität (von Wörtern etc.). Wird wie hier auch die Unvereinbarkeit im Fall der Kohyponymie als Antonymie angesehen, wird die Antonymie – losgelöst von der Wortbedeutung – mit jedweder Inkompatibilität gleichgesetzt und gleichzeitig der Ausdruck Inkompatibilität in einem engeren als üblichen Sinn verwendet. Auto-Antonyme Auto-Antonyme (Antagonyme, Januswörter) sind Wörter, die mehrere Bedeutungen haben (Homonymie, Polysemie oder Homophonie), wobei diese Bedeutungen zueinander eine antonymische Opposition bilden. Im Deutschen tritt dies beispielsweise bei dem Ausdruck Untiefe auf, das als sehr geringe Tiefe oder in der Umgangssprache auch als sehr große Tiefe gedeutet werden kann. Das Englische overlook kann sowohl ‚überwachen‘ als auch ‚nicht beachten‘ bedeuten. (Vergleiche: übersehen hat die beiden Bedeutungen überblicken und nicht beachten: Ich übersehe die Lage noch nicht. Ich habe den Brief übersehen.) Homonymie und Antonymie Viele Wörter sind Homonyme, d. h., sie haben mehrere Bedeutungen. Homonyme Wörter stellen keine Bedeutungsbeziehung dar. Lediglich die Ausdrucksseite ist identisch, die Inhaltsseite hat nichts miteinander zu tun, auch nicht historisch. Da die Antonymierelation von der Bedeutung abhängt, gibt es in diesen Fällen auch mehrere Gruppen von Antonymen. Zum Beispiel hat das Wort abnehmen Antonyme in den Bedeutungsgruppen übergeben (Ware), aufhängen (Bild), aufdecken (Tischtuch), auflegen (Telefonhörer), anlegen (Schmuck), aufhängen (Gardine), aufsetzen (Hut), wachsen bzw. stehen lassen (Bart), zunehmen (Mond), zunehmen (Gewicht) und weiteren. Man spricht auch von Antonymengabel. Deren Auftreten kann auch helfen, verdeckte Mehrdeutigkeiten festzustellen. Nicht alle Wörter, die mehrere Bedeutungen haben, haben auch ebenso viele Antonyme. Beispiele: Zug im Sinne von Sog bzw. Anziehen – Antonyme: Schub oder Druck; Zug im Sinne von Eisenbahnzug – kein eindeutiges Antonym vorhanden; Zug im Sinne von Schach- bzw. Spielzug – kein eindeutiges Antonym vorhanden; Zug im Sinne von Geste – kein eindeutiges Antonym vorhanden. Siehe auch Lexikalische Semantik Gegenteil Dualismus Polytomie (Vielteilung) Dichotomie Falsches Dilemma („falsche Dichotomie“) Literatur Dietrich Busse: Semantik. Fink, Paderborn 2009. Christiane Agricola, Erhard Agricola: Wörter und Gegenwörter. Antonyme der deutschen Sprache. Bibliografisches Institut, Leipzig 1984 (besonders die Einführung). Erhard Agricola (Hrsg.): Wörter und Wendungen: Wörterbuch zum deutschen Sprachgebrauch. 14., unveränderte Auflage. Bibliografisches Institut, Leipzig 1990, ISBN 978-3-323-00200-5. Erich Bulitta, Hildegard Bulitta: Wörterbuch der Synonyme und Antonyme. Fischer, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-596-15155-4. George A. Miller: Wörter. Streifzüge durch die Psycholinguistik. Herausgegeben und aus dem Amerikanischen übersetzt von Joachim Grabowski und Christiane Fellbaum. Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 1993; Lizenzausgabe: Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1995; 2. Auflage ebenda 1996, ISBN 3-86150-115-5, S. 229–239. Wolfgang Müller, Jakob Ebner: Das Gegenwort-Wörterbuch. Ein Kontrastwörterbuch mit Gebrauchshinweisen. De Gruyter, Berlin 1998, ISBN 3-11-014640-1; 2., erweiterte Auflage ebenda 2020, ISBN 978-3-110-61164-9. Horst Geckeler: Antonymie und Wortart. In: Edeltraud Bülow, Peter Schmitter (Hrsg.): Integrale Linguistik. Festschrift für Helmut Gipper. Amsterdam 1979, S. 455–482. Peter Rolf Lutzeier: Lexikologie. Stauffenburg, Tübingen 1995, ISBN 3-86057-270-9. John Lyons: Semantik. Band 1. Beck, München 1980, ISBN 3-406-05272-X (Antonyme: S. 281–300). Věra Kloudová: Synonymie und Antonymie. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2016, ISBN 978-3-8253-7534-8. Weblinks Einzelnachweise Semantik Rhetorischer Begriff
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https://de.wikipedia.org/wiki/Akkumulator
Akkumulator
Ein Akkumulator (kurz Akku; auch Sekundärbatterie genannt) ist ein als elektrochemischer Energiespeicher nutzbares wiederaufladbares galvanisches Element, bestehend aus zwei Elektroden und einem Elektrolyten, das elektrische Energie auf elektrochemischer Basis speichert. Ein einzelnes wiederaufladbares Speicherelement wird Sekundärelement oder Sekundärzelle genannt, im Gegensatz zur nicht (oder nur sehr begrenzt) wiederaufladbaren Primärzelle. Der Ladevorgang basiert auf der elektrolytischen Umkehrung der bei der Entladung ablaufenden chemischen Reaktionen durch Anlegen einer elektrischen Spannung. Sekundärzellen lassen sich – wie Primärzellen und alle elektrische Energiequellen – zu Batterien zusammenschalten, entweder in Reihenschaltung (zur Steigerung der nutzbaren elektrischen Spannung) oder aber in Parallelschaltung (zur Steigerung der nutzbaren Kapazität beziehungsweise wegen der Eignung für höhere Stromstärken). Beide Schaltungsvarianten führen zur entsprechenden Erhöhung des Gesamt-Energiegehalts [Produkt aus Kapazität und Spannung, angegeben in Wattstunden (Wh)] der Anordnung. Bei jedem Akkumulatortyp ist die Nennspannung der Akkumulatorzelle durch die verwendeten Materialien festgelegt; da jene für die meisten Anwendungen zu gering ist, wird häufig die Reihenschaltung angewandt, um die Spannung zu erhöhen (siehe Bild Starterbatterie). Die Kapazität und die mögliche Stromstärke hängen dagegen von der Baugröße ab. Deshalb ist eine Parallelschaltung mehrerer Zellen in der Regel nicht nötig; stattdessen verwendet man einen Akku mit entsprechend groß dimensionierten Zellen. Begriffsklärung Akkumulator Das lateinische Wort bedeutet (, ). Bleiakkumulatoren wurden früher dementsprechend auch Bleisammler genannt. Ursprünglich war mit Akkumulator ein einzelnes wiederaufladbares Speicherelement gemeint (Sekundärzelle). Heute bezeichnet der Begriff – zumindest in der Allgemeinsprache – auch wiederaufladbare Speicher, die aus zusammengeschalteten Sekundärzellen bestehen. Wenn es auf den Unterschied ankommt, sollte man genauere Bezeichnungen verwenden: einzelnes Speicherelement: Sekundärzelle, Sekundärelement, Akkumulatorzelle, Akkuzelle zusammengeschaltete Speicherelemente: Z. B. Akkupack, Batterie aus Sekundärzellen Batterie Eine Batterie ist eine Kombination mehrerer gleichartiger technischer Teile. Hier handelt es sich im engeren Sinn um elektrisch und mechanisch miteinander verbundene Galvanische Zellen bzw. Elemente. Es gibt Batterien aus Primärzellen (nicht wiederaufladbar) und solche aus Sekundärzellen (wiederaufladbar). Ursprünglich waren mit Batterien nur solche aus Primärzellen gemeint. In der Umgangssprache dient Batterie als Oberbegriff für einzelne oder zusammengeschaltete Primärzellen und Sekundärzellen. Beide Zellentypen sind in gleichen Baugrößen auf dem Markt, und beide werden im Englischen genannt. Akkuzellen heißen im Englischen (dt. „wiederaufladbare Batterien“) oder . Elektrische Verbraucher, die mit Primär- oder Sekundärzellen betrieben werden, nennt man oft einfach batteriebetrieben (Batteriebetrieb). Wenn im täglichen Umgang mit dem Gerät die Wiederaufladbarkeit eine Rolle spielt, spricht man vom Akkubetrieb. Kondensator Kondensatoren und auch Elektrolytkondensatoren sind ebenfalls Speicher für elektrische Energie, allerdings speichern sie diese nicht in chemischer Form, sondern als elektrisches Feld zwischen ihren Platten. Sie und auch die chemisch ähnlicheren Doppelschichtkondensatoren sind keine Akkumulatoren und werden auch nicht so bezeichnet. Geschichte Die erste Vorform eines Akkumulators, der – im Gegensatz zu den Zellen von Alessandro Volta – nach der Entladung wiederaufladbar war, wurde 1803 von Johann Wilhelm Ritter gebaut. Den bekanntesten Akkutyp, den Bleiakkumulator, konstruierte 1854 der Mediziner und Physiker Wilhelm Josef Sinsteden. 1859 entwickelte Gaston Planté Sinstedens Erfindung durch eine spiralförmige Anordnung der Bleiplatten erheblich weiter. Um die Wende zum 20. Jahrhundert speisten von Holz umfasste Bleiakkumulatoren in Glasgefäßen Elektroantriebe für Automobile. Die Akkutechnik nahm in der Zeit eine rasante Entwicklung. Folgender vom Telegraphentechnischen Reichsamt 1924 veröffentlichter Text zeigt das am Beispiel der damals etablierten Telegrafie und der noch jungen Telefonie. Akkumulatoren werden hier „Sammler“ genannt, und „Batterien“ waren Ansammlungen galvanischer Elemente: Technik Funktionsweise In einem Akkumulator wird beim Aufladen elektrische Energie in chemische Energie umgewandelt. Wird ein Verbraucher angeschlossen, so wird die chemische Energie wieder zurück in elektrische Energie umgewandelt (siehe dazu: Galvanische Zelle). Die für eine elektrochemische Zelle typische elektrische Nennspannung, der Wirkungsgrad und die Energiedichte hängen von der Art der verwendeten Materialien ab. Akkumulatortypen Die Akkumulatortypen werden nach den verwendeten Materialien bezeichnet: Energiedichte und Wirkungsgrad Für viele Anwendungen, insbesondere für mobile Geräte im Bereich der Unterhaltungselektronik, Hörgeräte oder auch Fahrzeuge, ist die Energiedichte von Bedeutung. Je höher diese ist, desto mehr Energie kann in einem Akku je Volumen- bzw. Masseneinheit gespeichert werden. Die auf die Masse bezogene Energiedichte wird oft auch als spezifische Energie bezeichnet. Bezogen auf marktübliche Typen, haben Akkumulatoren (Sekundärzellen) meist eine (oftmals deutlich) geringere Energiedichte als Primärzellen. Oft sind Akkus mit besonders hoher Energiedichte überproportional teuer oder haben andere Nachteile, insbesondere eine beschränkte Lebensdauer. So kosten Bleiakkumulatoren typischerweise 100 €/kWh; Li-Ion-Akkus hingegen derzeit (2012) typischerweise 350 €/kWh (200 €/kWh 2013), Tendenz fallend. Ursachen sind die anlaufende Massenproduktion, welche die Stückkosten durch bessere Technik und Skaleneffekte deutlich verringern. Allerdings werden die sinkenden Produktionskosten nur verzögert an die Kunden weitergegeben, da auf diesem Markt, speziell in Deutschland, durch die wenigen Angebote nur ein geringer Preisdruck besteht. Beim Aufladen und Entladen von Akkumulatoren wird durch den inneren Widerstand der Zellen Wärme freigesetzt, wodurch ein Teil der zum Aufladen aufgewandten Energie verloren geht. Das Verhältnis der entnehmbaren zu der beim Laden aufzuwendenden Energie wird als Ladewirkungsgrad bezeichnet. Generell sinkt der Ladewirkungsgrad sowohl durch Schnellladung mit sehr hohen Strömen als auch durch schnelle Entladung (Peukert-Effekt), da die Verluste am Innenwiderstand zunehmen. Das optimale Nutzungsfenster ist dabei je nach Zellchemie stark unterschiedlich. Im Zuge der stetigen Weiterentwicklung werden von Jahr zu Jahr höhere Energiedichten möglich. So erreichten viele Antriebsbatterien mit Produktionsstart in 2019 etwa die doppelte Energiedichte wie die in 2010. Ein Vergleich zur Speicherung elektrischer Energie zeigt die Vor- und Nachteile von Akkus gegenüber anderen Speicherverfahren. Ladungsmenge (Kapazität) Die Ladungsmenge, die ein Akkumulator speichern kann, wird in Amperestunden (Ah) angegeben und als Kapazität (Nennkapazität) bezeichnet. Diese darf nicht verwechselt werden mit der Kapazität eines Kondensators, die als von der Spannung abhängige Ladungsmenge definiert ist und in Farad (F) angegeben wird. Die angegebene Nennkapazität beim Akku bezieht sich immer auf einen bestimmten Entladestrom und nimmt – je nach Akkutyp – unterschiedlich stark mit höheren Entladeströmen ab. Bei Primärzellen und Akkumulatoren ist die Angabe der Nennkapazität in Amperestunden (Ah), bei kleineren Einheiten auch Milliamperestunden üblich. Der Vorsatz für Maßeinheiten Milli steht für ein Tausendstel. Dabei sagt die Angabe, ein Akkumulator liefert zum Beispiel 1000 Milliamperestunden, also eine Amperestunde nicht viel über die Leistungsfähigkeit des Akkus aus, wenn die Spannung nicht bekannt ist. Die Spannung ist stark von der Belastung der Zelle abhängig, da sie einen inneren Widerstand hat. Ihre maximale Leistung gibt sie theoretisch bei halber Nennspannung ab. Dann sind innerer und Lastwiderstand gleich groß und der Entladewirkungsgrad erreicht 50 Prozent. Da sich die Zelle dabei stark erwärmt, sind derart hohe Belastungen nur kurzzeitig möglich. Ein Beispiel hierfür sind Starterbatterien von Autos, die beim Anlassen für ein paar Sekunden einige hundert Ampere abgeben. Einige Zellentypen können nicht so hoch belastet werden und haben Schutzschaltungen, die das verhindern. Angaben in Wh oder kWh (oft bei Antriebsbatterien zu finden) beziehen sich immer auf ein bestimmtes Lastprofil. Um die Leistungsfähigkeit von Akkus zu vergleichen, muss man also wissen, welches Lastprofil bei der Messung der Kapazität verwendet wurde. Ladezustand Ein wichtiger Kennwert von mit Sekundärbatterien betriebenen Geräten ist der Ladezustand von Akkumulatoren (, SoC bzw. SOC). Er wird üblicherweise in Prozentwerten angegeben, wobei 100 % einen vollständig geladenen Akkumulator repräsentieren. 100 % minus den Wert des Ladezustands ergibt den Entladungsgrad (, DoD bzw. DOD). Zur Bestimmung sind verschiedene Methoden gebräuchlich: chemische, spannungsabhängige, Strom-integrative (Ladungsbilanzierung) und druckabhängige Verfahren sowie die Messung der Akkumulator-Impedanz. Selbstentladung – empfohlene Lagerung Wird ein Akku nicht verwendet, so verliert er über die Zeit einen Teil seiner gespeicherten Energie. Diesen Vorgang nennt man Selbstentladung. Das Maß der Selbstentladung hängt von Typ und Alter des Akkumulators sowie von der Lagertemperatur ab. Für die Lagerung von Akkus wird meistens Folgendes empfohlen: (Hinweis: Der Ladezustand ist relativ gesehen zur Entladeschlussspannung. Das heißt, wenn ein Akku einen Ladezustand von 0 % aufweist, dann ist damit gemeint, dass er seine Entladeschlussspannung erreicht hat; bei NiCd- und NiMH-Akkus liegt diese z. B. bei 0,9 V bzw. 1,0 V.) Li-Ion: Ladezustand 60 %, 20 °C; Selbstentladung monatlich < 2 % Bleiakkumulator: Ladezustand 100 %, möglichst kühl lagern; Selbstentladung monatlich 5–10 % (Blei-Säure) bzw. 2–5 % (Blei-Gel), ein über längere Zeit entladener Akku ist zerstört NiMH: Ladezustand 40 %; Selbstentladung monatlich um 15–25 %, neuere Typen als NiMH mit geringer Selbstentladung mit nur etwa 15 % im Jahr NiCd: Ladezustand 40 %; Selbstentladung monatlich um 10 % Alkali-Mangan RAM-Zellen: Ladezustand 100 %; Zellspannung sollte nicht unter 1,2 V sinken Sanyo hat 2005 (Markteinführung in Europa August 2006) einen modifizierten NiMH-Akku namens Eneloop auf den Markt gebracht, der einer Selbstentladung von lediglich 15 % pro Jahr unterliegt. Es handelt sich hierbei um sogenannte LSD-Akkus (Low Self Discharge), die aufgrund ihrer geringen Selbstentladung als bereits vorgeladene Akkus verkauft werden und daher im Gegensatz zu herkömmlichen Akkus vor der ersten Benutzung durch den Käufer nicht aufgeladen werden müssen. Alle Angaben zur Selbstentladung beziehen sich auf eine Raumtemperatur von ca. 20 °C. Lebensdauer und Zyklenfestigkeit Lithium-Eisenphosphat-Akkumulatoren erreichen nach Herstellerangaben mehr als 5000 Zyklen bei jeweiliger Entladetiefe von 80 %, nach 7000 Zyklen noch 70 %. Als weltgrößter Hersteller von Lithium-Eisenphosphat-Akkumulatoren gilt BYD, der durch präzise Fertigung eine große Auswahl an Zellen für zyklenfeste Anwendungen, wie zum Beispiel im Einsatz bei stationären Speichersystemen entwickelt hat. Nach 6000 Zyklen Laufleistung mit 100 % Be- und Entladung bei einer Rate von 1 C (Laderate, C-Faktor) haben diese noch eine Restkapazität von mindestens 80 %. Das entspricht bei einem Vollzyklus pro Tag einer Lebensdauer von mind. 20 Jahren. Der Lithium-Eisenphosphat-Akkumulator Sony Fortelion hat nach 10.000 Zyklen mit 100 % Entladungsgrad noch eine Restkapazität von 71 %. Dieser Akkumulator ist seit 2009 auf dem Markt. In Batteriespeichern eingesetzte Lithium-Ionen-Akkumulatoren weisen teilweise eine sehr hohe Zyklenfestigkeit von mehr als 10.000 Lade- und Entladezyklen und eine lange Lebensdauer von bis zu 20 Jahren auf. Varta Storage gibt auf seine Produktfamilie Engion Family und engion home eine Garantie von 14.000 Vollzyklen und einer Lebensdauer von 10 Jahren. Die Lebensdauer von stationären Batterien bei konstanter Raumtemperatur von 10–25 °C kann bei Antriebsbatterien nur durch Thermomanagement erreicht werden. Ungleiche Temperaturschwankungen der Zellen innerhalb der Antriebsbatterie führen zu Kapazitätsunterschieden und zu unterschiedlicher Alterung der Zellen. Die verfügbare Kapazität eines Lithium-Akkus sinkt mit fallender Betriebstemperatur, besonders unterhalb der 25 °C Betriebstemperatur, bei der die Nennkapazität bestimmt wird, und sollte den Gefrierpunkt des Elektrolyten wegen Eisbildung nicht unterschreiten. Andererseits altert eine Zelle umso schneller, je höher die Betriebstemperatur ist, mit stark steigender Tendenz oberhalb von ca. 40 °C. Ziel des Thermomanagements ist, dass zur selben Zeit alle Zellen im Volumen die gleiche Temperatur haben, die eine möglichst hohe Leistung bei geringer Alterung bereitstellt. Weiterhin beeinflusst das BMS wesentlich die Kapazität der in Reihe geschalteten Zellen, die beim passiven Balancieren durch die schwächste Zelle bestimmt wird. In der Folge wird sowohl die Gesamtkapazität verringert als auch die schwächste Zelle am meisten beansprucht, wodurch diese am schnellsten altert. Demgegenüber kann das aufwändige aktive Balancieren einen Ladungsausgleich von den Zellen hoher Kapazität zu denen geringer Kapazität durchführen und die Lebensdauer und die Kapazität aller Zellen auch einer nicht mehr homogenen, älteren Batterie verfügbar halten. Die Hersteller gewähren entsprechend ihrer Technik stark unterschiedliche Garantien auf die Laufleistung von Antriebsbatterien. Die Organisation Plug in America führte unter Fahrern des Tesla Roadster eine Umfrage bezüglich der Lebensdauer der verbauten Akkus durch. Dabei ergab sich, dass nach 100.000 Meilen bzw. ca. 160.000 km für die Akkus noch eine Restkapazität von 80 bis 85 Prozent angegeben wurde (keine Angaben über die Messung in der Quelle). Dies war unabhängig davon, in welcher Klimazone das Fahrzeug bewegt wurde. Der Tesla Roadster wurde zwischen 2008 und 2012 gebaut und verkauft. Für seine 85-kWh-Akkus im Tesla Model S gibt Tesla 8 Jahre Garantie mit unbegrenzter Laufleistung. Der Nissan Leaf war bis 2020 das meistverkaufte Elektroauto. Es wird seit 2010 produziert. Nissan gab 2015 an, dass bis dahin nur 0,01 Prozent der Antriebsbatterien wegen Defekts oder Problemen ausgetauscht werden mussten, und das auch nur aufgrund extern zugefügter Schäden. Dabei gibt es vereinzelt Fahrzeuge, die bereits mehr als 200.000 km gefahren sind. Auch diese hätten keine Probleme mit dem Akku. Ein auf 60 Grad Betriebstemperatur erwärmter Lithium-Eisenphosphat-Akkumulator soll nach Berechnungen von Wissenschaftlern bei einer täglichen Nutzung von 50 Kilometern 3,2 Millionen Kilometer halten. Ladezeiten Die Ladezeit eines Akkus bzw. einer Batterie aus Akkumulatorzellen ist abhängig von verschiedenen Faktoren. Dazu zählen Parameter wie der Innenwiderstand, der direkten Einfluss auf den Ladestrom hat und wiederum von der Temperatur beeinflusst wird. Kürzere Ladezeiten bedeuten höhere Strombelastung und höheren Verschleiß, stehen also im Zielkonflikt zur Lebensdauer des Akkumulators. Je nach Anwendung, Zellchemie und technischer Umsetzung (Klimatisierung, Überwachung) sind daher die praktisch erreichbaren Ladezeiten sehr unterschiedlich. Der vom Hersteller empfohlene /zulässige Ladestrom wird dabei über den C-Faktor beschrieben und ist u. a. auch abhängig vom Ladezustand. Die Ladespannung ist durch die Zellchemie und den Batterieaufbau bestimmt. Aus diesen beiden Parametern ergibt sich eine obere Grenze der maximalen Ladeleistung, die zugunsten einer höheren Lebensdauer oft noch reduziert wird. Die praktisch erreichbaren Ladezeiten sind daher meist höher als die technisch möglichen Ladezeiten. Als äußere Faktoren sind neben der Temperatur die zur Verfügung stehende Spannungs- und Stromquelle und das angewendete Ladeverfahren zu nennen. Die Akkuzellhersteller geben die einzuhaltenden Parameter und Nutzungsfenster in ihren Datenblättern vor, die von den Herstellern der Endprodukte beachtet werden müssen. Für klassische Akkus, wie Blei, NiCd und NiMH sind Laderaten bei Normalladung von 0,1 C bis 0,2 C üblich. Das entspricht Ladezeiten von 5–10 Stunden. Bei modernen Lithiumakkus ist in den Datenblättern der Hersteller meist mit 0,5 C die Normalladung spezifiziert, was 2 Stunden Ladedauer entspricht. Zusätzlich wird ein maximal erlaubter, höherer Ladestrom angegeben, beispielsweise 3 C, was eine Aufladung in 20 Minuten ermöglichen würde. Praktisch sind Ladezeiten von 1,5 bis 4 Stunden im Mobilgerätebereich üblich. Elektroautos wie Tesla Model S, Renault Zoe, BMW i3, Nissan Leaf usw. können ihre Akkus an derzeitigen (2017) Schnellladestationen innerhalb von etwa 30 Minuten zu 80 Prozent aufladen. Allerdings können heutige Lithium-Akkus oft auch deutlich schneller geladen werden. Im Modellbaubereich sind Ladezeiten von 10 bis 15 Minuten bei Schnellladung üblich. Die Obergrenze der Ladeleistung wird gerade bei größeren Batterien von Elektrofahrzeugen in der Praxis nicht mehr von den Akkumulatorzellen, sondern vom Aufbau der Traktionsbatterie (Klimatisierung) und von der verfügbaren Ladetechnik bestimmt. So können neue Schnellladesysteme Elektroautos mit entsprechend konstruierten Traktionsbatterien innerhalb von etwa 15 min zu 80 Prozent aufladen. Akkuforschung Forscher der Justus-Liebig-Universität Gießen haben zusammen mit Wissenschaftlern der BASF SE eine neue reversibel arbeitende Zelle auf Basis von Natrium und Sauerstoff entwickelt. Als Reaktionsprodukt tritt hierbei Natriumsuperoxid auf. Wissenschaftler der Universität Oslo aus Norwegen haben einen Akkumulator entwickelt, der unterhalb einer Sekunde wieder aufgeladen werden kann. Nach Meinung der Wissenschaftler wäre dieser Akkumulator interessant u. a. für Stadtbusse, die so an jeder Haltestelle geladen werden könnten und somit nur eine relativ kleine Batterie benötigen würden. Ein Nachteil ist, so die Forscher, dass je größer die Batterie ist, je größer muss auch der Ladestrom sein. Somit kann der Akku nicht sehr groß sein. Nach Angaben der Forscher könnte der neuartige Akku auch als Puffer in Sportwagen eingesetzt werden, um kurzfristig Leistung bereitzustellen. Vorerst denken die Forscher aber an Einsatzbereiche in Klein- und Kleinstgeräten. In Laboratorien des Unternehmens StoreDot aus Israel können Berichten zufolge erste Labormuster von nicht näher spezifizierten Akkus in Mobiltelefonen (Akkukapazität im Bereich um 1 Ah) mit Stand April 2014 in 30 Sekunden geladen werden. Das gleiche Unternehmen entwickelte auch einen Akkumulator für E-Autos, der in 5 Minuten voll aufgeladen ist und dann 160 Kilometer Reichweite bietet. Er besitzt anstatt einer üblichen Graphitelektrode eine Elektrode aus Germaniumnanopartikeln, langfristig soll dafür aber Silizium verwendet werden. Der Akku soll schon industriell gefertigt werden können, aber es gibt noch keine geeigneten Ladesäulen. Forscher aus Singapur haben 2014 einen Akku entwickelt, der nach 2 Minuten zu 70 Prozent aufgeladen werden kann. Die Akkus setzen auf die Lithium-Ionen-Technik. Jedoch besteht die Anode, der negative Pol in der Batterie, nicht mehr aus Graphit, sondern einem Titandioxid-Gel. Das Gel beschleunigt die chemische Reaktion deutlich und sorgt so für ein schnelleres Aufladen. Insbesondere sollen diese Akkus in Elektroautos verwendet werden. Bereits im Jahr 2012 haben Forscher der Ludwig-Maximilian-Universität in München das Grundprinzip entdeckt. Festkörperakkumulatoren sind eine spezielle Bauform, bei welchem beide Elektroden und auch der Elektrolyt aus verschiedenen, festen Materialien bestehen. Da keine Flüssigkeiten vorhanden sind, gibt es kein Problem mit Undichtigkeiten, sollte der Akkumulator beschädigt werden. An der Universität Linköping ist es Forschern gelungen, einen Akkumulator aus organischen Materialien herzustellen. Diese basieren auf Redox-Flow-Batterien und enthalten als Elektroden den Kunststoff PEDOT, der dotiert wurde, und als Elektrolyt eine Lösung aus Wasser und Chinonen. Der Akku ist vollständig recycelbar und sehr billig, allerdings hat er immer noch eine geringere Energiedichte als vergleichbare Redox-Flow-Batterien mit dem teuren Metall Vanadium. Wissenschaftler der Stanford-Universität in Kalifornien haben einen neuartigen Akku mit sehr günstigen Eigenschaften entwickelt. Bei dem Aluminium-Ionen-Akkumulator besteht die Anode aus Aluminium und die Kathode aus Grafit. Der Akku schafft mehr als 7500 Ladezyklen ohne Qualitätseinbußen. Die zur Fertigung des Akkus notwendigen Materialien sind sehr kostengünstig und zudem sehr leicht. Der Akku kann nicht in Brand geraten, selbst wenn man den Akku durchbohrt. Der Ladevorgang beträgt eine Minute. Zudem ist der Akku biegsam und kann somit in eine gewünschte Form gebogen und gefaltet werden. Der Akku ist noch nicht marktreif, da die Spannung und die Energiedichte noch zu gering sind. Nach Schätzungen werden bis 2025 bzw. spätestens 2030 die Lithium-Schwefel wie auch die Lithium-Luft-Akkutechnologie im Automobilbereich einsetzbar sein. Beide haben eine höhere Energiedichte als die im Jahr 2015 eingesetzte Lithium-Ion-Technologie und versprechen höhere Reichweiten in der Elektromobilität. In Deutschland unterstützt das BMBF seit 2013 die Forschung an einem Magnesium-Luft-Akkumulator, der ohne Lithium auskommt. Solche Akkumulatoren haben eine hohe Kapazität und der Rohstoff ist in ausreichenden Mengen vorhanden, doch ist die Lebensdauer bislang gering. Ein Team, angeführt von Yan Yu, an der Chinesische Universität für Wissenschaft und Technik in Hefei haben einen Akku entwickelt, der eine hohe Kapazität und Spannung aufweist, auch wenn er 2.000 Mal ge- und entladen wurde (96 % Kapazität blieben erhalten). Er basiert auf Tri-Natrium-Di-Vanadium-Triphosphat (Na3V2(PO4)3) im Innern eines Graphenemischmaterials. Wissenschaftler am japanischen Nagoya Institute of Technology untersuchten ebenfalls Natrium als Akkumaterial und identifizierten die Natrium-Vanadium-Verbindung Na2V3O7 als geeignetes Kathodenmaterial. Wegen niedriger Energiedichte wird dabei zunächst an einen stationären Einsatz gedacht. Preisentwicklung Bleiakkumulatoren kosteten 2014 typischerweise 355 €/kWh. Die Preise für Li-Ion-Akkus sind in den letzten Jahren deutlich gefallen: 2007 lagen die Kosten noch bei mehr als 1000 US-Dollar/kWh, 2014 noch bei 300 Dollar/kWh, 2019 bei 156 Dollar/kWh, Tendenz weiter fallend. So gab z. B. die Chefin von General Motors, Mary Barra 2016 bekannt, dass die Akkukosten des Chevrolet Bolt bei ca. 145 Dollar/kWh liegen würden, für 2022 rechnete sie mit Akkukosten von 100 Dollar/kWh. Eric Feunteun, Leiter der Sparte Elektromobile bei Renault, teilte im Juli 2017 mit, dass Renault pro kWh Akku 80 Dollar bezahle. Auch die Marktpreise für Li-Ion-Akkus einschließlich Gewinnmarge sollen bis 2030 unter 100 $/kWh sinken. Für 2015 gab das Energieministerium der Vereinigten Staaten die Kosten von Lithium-Ionen-Akkumulatoren für Elektroautos mit ca. 250 $/kWh an; angestrebt wurde ein Wert von 125 $/kWh im Jahr 2022. Ursachen für den Preisrückgang sind die zunehmende Massenproduktion, welche die Stückkosten durch bessere Technologien und Skaleneffekte verringert. Nach einer Studie von McKinsey sind die Akkupreise zwischen 2010 und 2016 um 80 Prozent gefallen. Für 2021 wurden mittlere Kosten für Batteriezellen von 121 US$/kW angegeben. Allerdings sind zahlreiche Rohmaterialien im Laufe des Jahres 2021 deutlich teurer geworden. Die Kosten eines kompletten Speichersystems sind durch zusätzliche Kosten u. a. für Einkapselung, Kühlung, Stromanschlüsse, Steuerung und ggf. Umrichter wesentlich höher. An der Pennsylvania State University wurde ein LEP-Akku entwickelt, der ohne das seltene Kobalt auskommt und daher günstiger zu produzieren sein sollte. Herstellungsländer 2022 befanden sich 77 % der Herstellkapazitäten für Lithium-Ionen-Akkumulatoren von 1163 GWh jährlich in China, gefolgt von je 6 % in Polen und den USA. Sechs der zehn größten Hersteller im Jahr 2022 hatten ihren Hauptsitz in China. Verwendung Einsatzgebiete Akkumulatoren werden oft verwendet, wenn ein elektrisches oder elektronisches Gerät oder Fahrzeug ohne dauerhafte Verbindung zum festen Stromnetz oder zu einem Generator betrieben werden soll. Da sie teurer sind als nicht wiederaufladbare Primärbatterien, kommen sie vor allem in solchen Geräten zum Einsatz, die regelmäßig benutzt werden und einen nicht vernachlässigbaren Strombedarf haben, wie Mobiltelefone, Laptops oder Akkuwerkzeuge. In Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor dient ein Akku in Form der Starterbatterie dazu, Strom für Licht, Bordelektronik und vor allem den Anlasser zum Starten des Verbrennungsmotors zu liefern. Läuft der Motor, wird der Akkumulator über den als Lichtmaschine bezeichneten Generator wieder aufgeladen. Ähnliches gilt für Schiffe und Flugzeuge. Fahrzeuge mit batterieelektrischem Antrieb beziehen die Energie zum Fahren aus Akkuzellen, diese werden in ihrer Gesamtheit zur Unterscheidung von Starterbatterien als Antriebsbatterie bezeichnet. Auch Schiffe und Flugzeuge gibt es mit batterieelektrischem Antrieb. Akkus kommen auch in Form von Batteriespeichern zum Einsatz, um Schwankungen bei der regenerativen Erzeugung von Strom mit Wind und/oder Sonne auszugleichen. Batterie-Speicherkraftwerke werden u. a. eingesetzt zur Abdeckung von Spitzenlasten im Stromnetz und auch zur Netzstabilisierung in Stromnetzen. Möglich ist auch der Betrieb als Inselanlage in einem Inselnetz, wenn sich eine abgelegene Verbrauchsstelle nicht oder nur zu unverhältnismäßig hohen Kosten an das Stromnetz anschließen lässt. Oft sind solche Verbrauchsstellen zusätzlich noch mit einem Notstromaggregat ausgerüstet, das einspringt, bevor die Ladung der Akkus z. B. nach mehrtägiger Windstille nicht mehr ausreicht. Beispiele für solche Installationen sind nicht nur abgelegene Hütten, Mobilfunk-Basisstationen in wenig erschlossenen Regionen oder Weltraumsatelliten, sondern auch viele Parkscheinautomaten, bei denen ein Anschluss an das Stromnetz teurer wäre als die Installation einer Solarzelle und eines Akkumulators. Akkuspeicher werden von Besitzern von privaten Solaranlagen genutzt, um den selbst erzeugten Strom zu anderen Zeiten nutzen zu können, und damit v. a. Preisunterschiede, Abgaben und Umlagen gegenüber einer Netzeinspeisung mit Bezug aus dem Netz zu anderen Zeiten zu vermeiden. Konventionelle U-Boot-Antriebe bestehen aus Dieselmotoren mit Generatoren (Fahren und Laden der Akkumulatoren bei nicht getauchter Fahrt/Schnorcheln) und mit Akkumulatoren betriebenen Elektromotoren (Tauchfahrten). Akkumulatoren dienen in Systemen zur unterbrechungsfreien Stromversorgung (USV) auch zur kurz- bis mittelfristigen Überbrückung von Ausfällen der stationären Energieversorgung. Wichtige Bereiche, die es mit einer Notstromversorgung abzusichern gilt, sind z. B. Rechenzentren, Alarmsysteme und lebenserhaltende Systeme in Krankenhäusern. Werden hohe Leistungen benötigt oder sind längere Zeiträume zu überbrücken, wird noch ein Dieselgenerator zusätzlich installiert; die Akkus übernehmen dann die Versorgung nur so lange, wie der Dieselgenerator zum Anspringen und Erreichen der Nenndrehzahl benötigt. Falls die so zu überbrückende Zeit nur kurz ist, können dafür auch andere Systeme als Akkumulatoren eingesetzt werden, insbesondere auf der Basis von Schwungmassen oder gar Kondensatoren. Auswahlkriterien Kriterien für die Auswahl eines Akkumulatortyps für eine bestimmte Anwendung sind unter anderem: Die gravimetrische Energiedichte, auch als spezifische Energie bezeichnet. Sie sagt aus, wie viel elektrische Energie ein Akkumulator pro Masseneinheit (zum Beispiel Kilogramm) liefern kann. Dieser Wert ist besonders interessant für elektrisch angetriebene Fahrzeuge. Herkömmliche Bleiakkumulatoren erreichen hier rund 30 Wh/kg, Lithium-Ionen-Akkus (Li-Ion-Akkus) bis zu 140 Wh/kg. Die volumetrische Energiedichte. Sie sagt aus, wie viel Wh elektrischer Energie ein Akkumulator pro Volumen (zum Beispiel pro Liter Rauminhalt) liefern kann. Hier liegt der Wert für herkömmliche Bleiakkumulatoren bei ca. 50 Wh/l, bei Li-Ion-Akkus etwa 500 Wh/l. Der maximal mögliche Entladestrom. Er ist wichtig für alle Anwendungen, bei denen kurzzeitig sehr hoher Leistungsbedarf besteht. Dieses ist zum Beispiel beim Starten von Fahrzeugmotoren der Fall, aber auch bei Elektrowerkzeugen und Autofokus-Kameras, insbesondere solchen mit integrierten Blitzgeräten. Die möglichen Dimensionen (Abmessungen und Gewicht) und Bauformen der Akkuzelle. Sie sind entscheidend, wenn der Akkumulator auf möglichst kleinem Raum in elektronischen Geräten integriert werden soll. Ein gasdichter Aufbau etwa eines Gel-Bleiakkumulators ermöglicht den lageunabhängigen Einsatz ohne Gefahr durch auslaufenden Elektrolyt oder korrosive Gase Der Memory-Effekt bei NiCd oder Batterieträgheitseffekt bei NiMH tritt abhängig vom Lade- und Entladeverfahren auf und führt unter Umständen zu erheblichen Verringerungen der Kapazität (NiCd) oder der Spannung (NiMH). In Anwendungen, bei denen der Akkumulator nicht regelmäßig vollständig entladen und wieder voll aufgeladen wird, sollten deshalb Akku-Arten verwendet werden, die für diese Effekte nicht anfällig sind, zum Beispiel Blei-Akkus oder Li-Ion-Akkus. Aus der Anwendung der oben genannten Kriterien ergeben sich für jeden Akkutyp einige typische Anwendungsgebiete, wobei insbesondere bei NiCd-, NiMH- und Li-Ion-Akkus die Übergänge fließend sind: Bleiakkumulator: Starter-Batterien für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren, Antriebsbatterien für Flurfördergeräte, Stationärbetrieb in Notbeleuchtungsanlagen und Insel-Fotovoltaik-Anlagen NiCd-Akku: Elektrowerkzeuge, Antriebe im Modellbau, portable elektronische Geräte mit kurzzeitig hoher Stromaufnahme (Foto-Blitzgeräte), Antriebsbatterien für Elektroautos, Bsp.: Citroën AX electrique NiMH-Akku: portable elektronische Geräte mit konstanter Stromaufnahme, Modellbau, Elektroautos, Bsp.: General Motors EV1, Toyota Prius Li-Ion-Akku: portable elektronische Geräte mit kleinen Abmessungen und langer Betriebszeit (Mobiltelefone, Notebooks, Kameras) Li-Po-Akku (auch Lipo, Lithium-Polymer): Antriebe im Modellbau, Mobiltelefon, Antriebsbatterie für extreme Reichweiten, Bsp.: Kruspan-Hotzenblitz Li-Mn-Akku: Antriebe im Modellbau, neue Profiklasse von Elektrowerkzeugen, Pedelecs, Fahrzeugakku für hohe Reichweiten Li-Fe-Akku: Antriebe im Modellbau, neue Profiklasse von Elektrowerkzeugen, Fahrzeugakku für hohe Reichweiten Lithium-(Nano)-Titanat-Akku: Antrieb von Elektrokraftwagen mit großen Reichweiten kein Akku, sondern Alkali-Mangan-Zellen: bei Anwendungen mit so geringem Energieverbrauch, dass sie damit länger als ein Jahr laufen, wie Uhren, Fernbedienungen, Thermometer, Feuermelder, selten benutzte Waagen. Weiterentwicklung Als Weiterentwicklung der herkömmlichen Akkumulatoren werden Brennstoffzellen-Systeme verwendet, die elektrische Energie ohne exotherme Verbrennung aus chemischer Energie in Wasserstoff oder Methanol umwandeln und diesen Prozess teilweise auch umkehren können (Reversible Brennstoffzelle). Da die Brennzelle selbst keine Energie speichern kann, muss deshalb immer zusätzlich auch ein Speichersystem verwendet werden, dessen Raumbedarf und Gewicht zu berücksichtigen sind. Dabei erfordern die Speichermedien Wasserstoff, Methanol und ähnliche Gase bzw. leichtflüchtige Flüssigkeiten andere technische Anforderungen als Akkumulatoren. Die Begriffe elektrochemische Zelle und Redox-Flow-Zelle sind parallel entstanden. Konkurrierende Energiespeicher sind Hydraulikspeicher, bei denen die Energie mechanisch gespeichert wird. Entsorgung Das Batteriegesetz besagt, dass Batterien und Akkumulatoren nicht in den Hausmüll geworfen werden dürfen. Mit der Zeit wird die Außenhülle einer Batterie oder eines Akkumulators durch Korrosion zersetzt, sodass umweltschädliche und giftige Chemikalien auslaufen. Passiert dies auf einer Mülldeponie, gelangen die giftigen Schadstoffe in unser Ökosystem, die Schadstoffe der Batterie versickern in unser Grundwasser und können so möglicherweise ins Trinkwasser gelangen oder Pflanzen schaden. Damit dies nicht geschehen kann, müssen Batterien und Akkus zum Sondermüll gegeben werden, wo sie umweltgerecht entsorgt werden. Literatur Fritz Paul Beck, Karl-Joachim Euler: Elektrochemische Energiespeicher. 2 Bände. 1984. Edmund Hoppe: Die Akkumulatoren für Elektricität. Julius Springer, Berlin 1892. Thomas B. Reddy (Hrsg.): Linden’s Handbook of Batteries. 4. Auflage. McGraw-Hill, New York 2011, ISBN 978-0-07-162421-3. Lucien F. Trueb, Paul Rüetschi: Batterien und Akkumulatoren. Mobile Energiequellen für heute und morgen. Springer, Berlin 1998, ISBN 3-540-62997-1. Martin Winter, Jürgen O. Besenhard: Wiederaufladbare Batterien. Teil 1: Akkumulatoren mit wäßriger Elektrolytlösung. In: Chemie in unserer Zeit, 1999, 33, Nr. 5, S. 252–266; doi:10.1002/ciuz.19990330503 oder chemie.uni-mainz.de (PDF). Martin Winter, Jürgen O. Besenhard: Wiederaufladbare Batterien. Teil 2: Akkumulatoren mit nichtwäßriger Elektrolytlösung. In: Chemie in unserer Zeit, 1999, 33, Nr. 6, S. 320–332; doi:10.1002/ciuz.19990330603 oder chemie.uni-mainz.de (PDF). DIN 40 729 Akkumulatoren – Galvanische Sekundärelemente – Grundbegriffe. Bekanntmachung, betreffend die Einrichtung und den Betrieb von Anlagen zur Herstellung elektrischer Akkumulatoren aus Blei oder Bleiverbindungen. 11. Mai 1898. In: Deutsches Reichsgesetzblatt, 1898, Nr. 19, S. 176–180. Volltext (Wikisource) Weblinks Ratgeber Batterien und Akkus. (PDF 3,7 MB) Umweltbundesamt. Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Andr%C3%A9-Marie%20Amp%C3%A8re
André-Marie Ampère
André-Marie Ampère (* 20. Januar 1775 in Lyon, Frankreich; † 10. Juni 1836 in Marseille) war ein französischer Physiker und Mathematiker. Er war der herausragende Experimentator und Theoretiker der frühen Elektrodynamik. Ampère erklärte den Begriff der elektrischen Spannung und des elektrischen Stromes und legte die Stromrichtung fest. Nach ihm wurde 1893 die SI-Einheit der elektrischen Stromstärke und zugleich die SI-Einheit der magnetischen Durchflutung benannt. Leben Ampère war der Sohn von Jean-Jacques Ampère und dessen Ehefrau Jeanne-Antoinette de Sarcey. Er fiel schon früh als wissbegieriger Knabe und durch sein gutes Gedächtnis auf. Sein Vater war ein Verehrer von Jean-Jacques Rousseau und erzog Ampère nach dessen Emile, seine Mutter sorgte für seine religiöse Verwurzelung im Katholizismus. Ampère las als Jugendlicher Buffons Naturgeschichte und systematisch die 35 Bände der Enzyklopädie von Denis Diderot und Jean d'Alembert und lernte Griechisch, Latein und Italienisch. Sein Vater wurde 1793 nach dem Fall von Lyon (während der Französischen Revolution) als Girondist hingerichtet (als Friedensrichter hatte er zuvor einen führenden Jakobiner in Lyon, Joseph Chalier, verhaften und hinrichten lassen), was bei Ampère eine tiefe Krise auslöste. Als Achtzehnjähriger befasste er sich mit den Lehrbüchern des Schweizer Mathematikers Leonhard Euler und der klassischen Mechanik von Joseph-Louis Lagrange. Im gleichen Alter entwickelte er eine Plansprache, die er als friedensförderndes Werkzeug ansah. Er wandte sich ebenfalls der Botanik, der Metaphysik und der Psychologie zu, ehe er Mathematik und Physik studierte. Nachdem das elterliche Vermögen zusammengeschmolzen war, gab er Privatunterricht, besonders in Mathematik. Seine Kontakte zur Außenwelt waren aber gering. Im Jahre 1796 lernte er Julie Carron kennen, die er 1799 heiratete. Sie war etwas älter und stammte aus einer angesehenen bürgerlichen Familie in einem Nachbarort von Ampère. Obwohl sie aus ähnlichem sozialem Hintergrund kamen, war Ampère keine gute Partie und er warb lange und hartnäckig um sie, was in seinem Tagebuch dokumentiert ist. 1800 wurde ihr Sohn Jean-Jacques Ampère geboren, der ein bekannter Historiker, Philologe und Schriftsteller wurde. 1802 wurde er Lehrer für Physik und Chemie an der École centrale in Bourg-en-Bresse. Im selben Jahr verfasste Ampère ein mathematisches Werk zu einem wahrscheinlichkeitstheoretischen Aspekt von Glücksspielen, und zwar der Frage der Wahrscheinlichkeit des Ruins des Spielers bei stetigem Einsatz eines festen Bruchteils seines Kapitals. Die Arbeit machte ihn unter Wissenschaftlern in Paris bekannt. Bald darauf verfasste er eine Arbeit zur theoretischen Mechanik und eine Abhandlung über partielle Differentialgleichungen, die ihm 1814 die Mitgliedschaft in der französischen Akademie der Wissenschaften (damals Institut Impèrial) einbrachte. Die vier Jahre seiner ersten Ehe waren die glücklichsten seines Lebens. Im Jahr 1803 starb nach vierjähriger Ehe seine Frau, die sich von der Geburt des Sohnes nie völlig erholt hatte. Ampère war tief getroffen und zog im Jahr 1804 nach Paris. Sein Interesse für Mathematik erlahmte, und er befasste sich zunehmend mit den Schriften von Kant, allgemeiner Wissenschaftstheorie und mit der Chemie. Ampère war Repetitor für Mathematik an der Pariser École polytechnique, was ihn aber bald langweilte. Im Jahre 1808 wurde er Generalinspektor der Universitäten, was er bis auf ein paar Jahre in den 1820er Jahren bis zu seinem Tod blieb. Ab 1819 lehrte er außerdem Philosophie an der Historisch-Philosophischen Fakultät der Sorbonne und 1820 wurde er Assistenzprofessor in Astronomie. 1824 erhielt er den Lehrstuhl für Experimentalphysik am Collège de France. Im August 1806 heiratete er in Paris Jeanne-Françoise Potot (1778–1866), die Ehe war aber unglücklich und wurde bald geschieden. Aus dieser Ehe stammt die Tochter Albine (1807–1842). Er musste nun allein für die zwei Kinder aus den beiden Ehen sorgen. Beide bereiteten ihm später Sorgen, seine Tochter war mit einem jähzornigen und oft betrunkenen Armeeoffizier verheiratet und sein Sohn verfiel dem Einfluss von Madame Recamier. 1836 starb Ampère in Marseille auf einer Inspektionstour im Alter von 61 Jahren an einer Lungenentzündung. Er ist in Paris auf dem Cimetière de Montmartre beigesetzt. Werk Ampère stellte drei Jahre nach Amedeo Avogadro unabhängig von diesem das Avogadrosche Gesetz auf. Er war auch offen für die Arbeiten von Humphry Davy, die die Grundfesten der französischen Schule der Chemie (Antoine Laurent de Lavoisier) erschütterten: für Lavoisier war Sauerstoff der Träger des Säureprinzips, nach Davys Entdeckung von Natrium und Kalium fand sich dieser aber in starken Basen. Damit löste sich auch das Rätsel des grünen Gases (Chlorgas) bei der Zersetzung von Salzsäure; Ampère wie Davy vermuteten, dass es ein neues Element (Chlor) sein könnte (während man nach der Lavoisier-Theorie Sauerstoff als Bestandteil vermutete). Da Ampère aber weder Zeit noch Mittel hatte, dem weiter nachzugehen, gilt Davy als dessen Entdecker. Später (1813) erkannte Ampère die Verwandtschaft des gerade in Seetang entdeckten Jods mit Chlor, in der öffentlichen Anerkennung als Entdeckung eines neuen Elements kamen ihm aber wieder andere zuvor. Er versuchte die chemische Affinität von Molekülen, die aus punktförmigen Atomen bestehen, aus der Geometrie von geometrischen Körpern (zum Beispiel Tetraeder, Oktaeder oder Würfel) abzuleiten. Beispielsweise bildeten bei Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff vier Moleküle ein Tetraeder, bei Chlor acht Moleküle ein Oktaeder (nach Ampère); Verbindungen aus Elementen konnten nur bestehen, falls sie reguläre Polyeder bildeten (was bei Tetraeder und Oktaeder nicht möglich war, wohl aber zwei Tetraeder mit einem Oktaeder zu einem Dodekaeder). Ampères spekulativere Arbeiten zur Chemie fanden jedoch bei anderen Gelehrten seiner Zeit kaum Interesse. Seine bedeutendsten Arbeiten entstanden ab 1820 und machten ihn zum Begründer der Elektrodynamik. Im Jahr 1827 verschlechterte sich Ampères Gesundheitszustand und er wandte sich von der Elektrodynamik anderen Gebieten zu (Philosophie, Logik, Anatomie, Kristalloptik, Botanik). In der Philosophie war er von Kant beeinflusst und war sogar einer der Ersten in Frankreich, die dessen Werk ernsthaft rezipierten. Für Ampère war dies eine Alternative zu der damals in Frankreich vorherrschenden sensualistischen Erkenntnistheorie von Étienne Bonnot de Condillac. Ampère lehnte aber gleichzeitig die Lehre von Raum und Zeit als A-priori-Anschauungen nach Kant ab, behielt aber dessen Unterscheidung von Phänomenen und Noumenon. Er folgte teilweise der Lehre seines Freundes Maine de Biran im Nachweis der Existenz einer unabhängigen materiellen Welt, von Gott und Seele. Ampère vertrat ein hypothetisch-deduktives Verfahren des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns: Der Naturforscher stellt eine Hypothese auf und fragt sich, welche Experimente unternommen werden müssen, um die Theorie zu stützen oder zu falsifizieren. Dabei ging er pragmatisch vor: Hypothesen konnten frei eingeführt werden, wichtig war nur, wie erfolgreich sie in der Naturerklärung waren. Später beschäftigte er sich mit der Naturphilosophie und der prästabilierten Harmonie von Gottfried Wilhelm Leibniz. Da das Denken des Menschen ein Bild des Denkens Gottes sei und Gott das Universum geschaffen habe, sollte nach Leibniz des Menschen Geist imstande sein, das Universum in reinen Denkakten zu verstehen: Sein und Denkgesetze sollten also einander entsprechen. Einheit der Wissenschaft sollte die Widerspiegelung des göttlichen Geistes sein. Ampère strebte danach, alle Wissenschaften zu klassifizieren, und veröffentlichte darüber 1834 ein Buch. Unter den 64 Disziplinen waren auch einige neu von ihm eingeführt worden, wie die technische Kinematik und Kybernetik. In der Mathematik ist die Monge-Ampèresche Gleichung nach ihm benannt, eine nichtlineare partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung, die in der Differentialgeometrie und bei Transportproblemen Anwendung findet und mit der sich Ampère um 1820 befasste (und davor Gaspard Monge). Arbeiten zur Elektrodynamik Im Frühherbst 1820 wurde Ampère, der nun schon 45 Jahre alt war und dessen bisherige wissenschaftliche Arbeiten höchstens als Fußnoten in Lehrbüchern erschienen wären, durch François Arago auf die Versuche Hans Christian Ørsteds zur Ablenkung einer Magnetnadel durch den elektrischen Strom aufmerksam. Ampère wiederholte den Versuch und erkannte, dass Ørsted die Ablenkung des Magneten durch das Erdmagnetfeld nicht beachtet hatte. Mit einer verbesserten Versuchsanordnung konnte Ampère nun feststellen, dass sich die Magnetnadel immer senkrecht zum stromdurchflossenen Leiter stellte. Ampère nahm nun als Modellhypothese an, dass jeder Magnetismus seine Ursache in elektrischen Strömen habe und Ströme Magnetfelder erzeugen. Er überprüfte seine Hypothese – hypothetisch-deduktiv – zwischen dem 18. September und dem 2. November 1820 und konnte in aufeinanderfolgenden Versuchen nachweisen, dass zwei stromdurchflossene Leiter eine Anziehungskraft aufeinander ausüben, wenn in beiden Leitern die Elektrische Stromrichtung gleich ist, und dass sie eine Abstoßungskraft aufeinander ausüben, wenn die Stromrichtung entgegengesetzt ist. Ampère konstruierte ein Gerät zur Messung des Stroms, das er Galvanometer nannte (unabhängig von Ampère tat dies Johann Schweigger in Deutschland). Ampère verfeinerte seine Hypothese, indem er annahm, dass jeder Magnet viele Moleküle enthält, die jeweils einen kleinen Kreisstrom erzeugen (sog. Ampèresche Molekularströme zur Erklärung des Magnetismus). Er erkannte, dass die fließende Elektrizität die eigentliche Ursache des Magnetismus ist. Im Jahr 1822 beschäftigte sich Ampère mit der Kraft zwischen zwei nahe beieinander liegenden stromdurchflossenen Leitern. Er konnte zeigen, dass diese Kraft zu dem Kehrwert des Abstands proportional ist. Bei der mathematischen Behandlung dieser Phänomene nahm er sich das Gravitationsgesetz (als Punkt-Kraft-Gesetz) von Isaac Newton zum Vorbild. Da der Strom jedoch als gerichtete Größe behandelt werden muss und die Stromstärke die Zeit als neue Größe enthält, hat das ampèresche Modell nur eine beschränkte Gültigkeit. Ampère erklärte den Begriff der elektrischen Spannung und des elektrischen Stromes und setzte die Stromrichtung fest. Neben der Begründung der Elektrodynamik erkannte Ampère das Prinzip der elektrischen Telegrafie (Vorschlag eines elektromagnetischen Telegraphen mit Jacques Babinet 1822), der aber über größere Entfernungen wenig praktikabel war. Erstmals realisiert wurde ein elektrischer Telegraph 1833 von Carl Friedrich Gauß und Wilhelm Eduard Weber in Göttingen. Ampère glaubte, dass das Erdmagnetfeld durch starke elektrische Ströme ausgelöst wird, die in der Erdrinde von Osten nach Westen fließen. James Clerk Maxwell zählte Ampères Arbeiten über Elektrodynamik in seinem Treatise on electricity and magnetism zu den glänzendsten Taten, die je in der Wissenschaft vollbracht worden sind. Seine Schrift ist in der Form vollendet, in der Präcision des Ausdrucks unerreichbar und ihre Bilance besteht aus einer Formel, aus der man alle Phänomene, die die Electricität bietet, abzuleiten vermag, und die in allen Zeiten als Cardinal-Formel der Electrodynamik bestehen bleiben wird. Gleichzeitig vermutete Maxwell, dass der Newton der Electricität, wie ihn Maxwell nennt, seine Theorie nicht allein aus induktiven Schlussfolgerungen (aus dem Experiment) erhalten habe, sondern einem anderen Weg folgte und dann vom Gerüst, das ihm zur Aufrichtung seines Gebäudes diente, alle Spuren entfernt hat. Charakterzüge Ampères Charakter war von großer Liebenswürdigkeit und Sensibilität geprägt. Er neigte aber auch zu Überschwang und zur Melancholie, verstärkt durch mehrere Schicksalsschläge, zur Unentschlossenheit und einer gewissen Hilflosigkeit in Alltagsdingen und seine Zerstreutheit war sprichwörtlich. In seiner wissenschaftlichen Arbeit war er von großer Beharrlichkeit, folgte aber im Allgemeinen keinem systematischen Plan, sondern folgte einem Geistesblitz fieberhaft bis zu dessen Ausarbeitung. Ampère hatte eine Neigung zu metaphysischen Spekulationen und war tief religiös. Ehrungen Zu Ehren Ampères ist die SI-Einheit des elektrischen Stromes „Ampere“ (Einheitenzeichen A) benannt worden. Er wurde durch Namensnennung auf dem Eiffelturm geehrt. Nach ihm ist seit 1935 ein Mondberg, der Mons Ampère, benannt. 1814 wurde er Mitglied der Académie des sciences in Paris und 1822 Fellow der Royal Society of Edinburgh. Ab 1825 war er korrespondierendes Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften und Schönen Künste von Belgien, ab 1827 der Preußischen Akademie der Wissenschaften sowie auswärtiges Mitglied der Royal Society. Im Dezember 1830 wurde er zum Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg gewählt. Nach ihm ist die Pflanzengattung Amperea aus der Familie der Wolfsmilchgewächse (Euphorbiaceae) benannt. Schriften Considerations sur la théorie mathématique du jeu, Perisse, Lyon Paris 1802, online lesen im Internet-Archiv Briefe: Henriette Cheuvreux (Hrsg.): Journal et correspondance de André-Marie Ampère. Recueillis par Mme H. C. J. Hetzel, Paris 1872, online lesen im Internet-Archiv André-Marie Ampère. Correspondance et souvenirs (de 1793 a 1805). Recueillis par Madame H. C. J. Hetzel, Paris 1877 (7. Auflage), online lesen im Internet-Archiv André-Marie Ampère. Journal et correspondance (1793 à 1805). Recueillis par Madame H. C. Paul Ollendorff, Paris 1893 (9. Auflage), online lesen im Internet-Archiv Henriette Cheuvreux (Hrsg.): André-Marie Ampère et Jean-Jacques Ampère. Correspondance et souvenirs (de 1805 a 1864). Recueillis par Madame H. C. J. Hetzel, Paris 1875 (im Internet-Archiv: Band 1, 2) Correspondance du Grand Ampère, 3 Bände, Paris 1936 bis 1943 Literatur François Arago: Ampère. In: Franz Aragos Sämtliche Werke, Band 2, Leipzig 1854, S. 3–94. James R. Hofmann: André-Marie Ampère. Cambridge University Press 1996 Christine Blondel: A.-M. Ampere et la creation de l'electrodynamique 1820–1827, Paris, Bibliotheque Nationale 1982 Louis de Broglie: André Marie Ampère. In: Louis de Broglie, Elementarteilchen, Hamburg 1954, S. 245–269. Adolphe Quételet: Notice sur M. Ampère, né à Lyon en 1775, mort à Marseille, le 10 juin 1836, Annuaire de l’Académie royale des sciences et belles-lettres de Bruxelles 3, 1837, S. 134–136 (Nachruf; französisch; ) Charles-Augustin Sainte-Beuve: Ampère. Sa jeunesse, ses études diverses, ses idées métaphysiques, etc. (Nachruf; französisch), Revue des deux mondes 9, 1837, S. 389–422 (); Revue du Lyonnais 5, 1837, S. 332–372 () Célébration à Lyon du Centenaire de la mort d'André-Marie Ampère 1836–1936, 2 Bände, Lyon 1936 Jules Barthélemy-Saint-Hilaire: Philosophie des deux Ampère, Didier, Paris 1866 () Claude-Alphonse Valson: La vie et les travaux d’André-Marie Ampère. Vitte et Perrussel, Lyon 1886 (französisch), online lesen im Internet-Archiv Tomáš Borec: Guten Tag, Herr Ampère. Wissenswertes und Unterhaltsames über berühmte Wissenschaftler und nach ihnen benannte Maßeinheiten. Harri Deutsch, Thun Frankfurt am Main 1979, ISBN 3-87144-372-7 (Übersetzung aus dem Slowakischen, Originaltitel Dobrý deň, pán Ampère) L. Pearce Williams: André-Marie Ampère als Physiker und Naturphilosoph. Spektrum der Wissenschaft, März 1989, S. 114–124. Ernst Schwenk: Maßmenschen. Von Ampère und Becquerel bis Watt und Weber. Wer den internationalen Maßeinheiten den Namen gab. Oesch, Zürich 2003, ISBN 3-0350-2005-1. Friedrich Steinle: Explorative Experimente. Ampère, Faraday und die Ursprünge der Elektrodynamik, Franz Steiner, Berlin 2005, ISBN 3-515-08185-2. K. Jäger, F. Heilbronner (Hrsg.): Lexikon der Elektrotechniker. VDE Verlag, 2. Auflage von 2010, Berlin/Offenbach, ISBN 978-3-8007-2903-6, S. 20–21. P. Volkmann: Technikpioniere: Namensgeber von Einheiten physikalischer Einheiten. VDE Verlag, Berlin/Offenbach 1990, ISBN 3-8007-1563-5, S. 19–22. Isaac Asimov: Biographische Enzyklopädie der Naturwissenschaften und der Technik. Herder, Freiburg/Basel/Wien 1974, ISBN 3-451-16718-2, S. 203–204. Weblinks Ampère-Museum (französisch und englisch), in der Nähe von Lyon. @.Ampère et l’histoire de l’électricité beim Centre national de la recherche scientifique (französisch) Einzelnachweise Mathematiker (19. Jahrhundert) Physiker (19. Jahrhundert) Chemiker (19. Jahrhundert) Persönlichkeit der Elektrotechnik Hochschullehrer (Collège de France) Hochschullehrer (École polytechnique) Mitglied der Société philomathique de Paris Mitglied der Académie des sciences Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften Auswärtiges Mitglied der Royal Society Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Royal Society of Edinburgh Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften und Schönen Künste von Belgien Person (Lyon) Franzose Geboren 1775 Gestorben 1836 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Astronomische%20Einheit
Astronomische Einheit
Die Astronomische Einheit (abgekürzt AE, international au für ) ist ein Längenmaß in der Astronomie: Laut Definition misst eine AE exakt 149 597 870 700 Meter. Das ist ungefähr der mittlere Abstand zwischen Erde und Sonne. Die Astronomische Einheit ist neben dem Lichtjahr und dem Parsec die wichtigste Einheit unter den astronomischen Maßeinheiten. Sie gehört nicht zum Internationalen Einheitensystem (SI), ist aber zum Gebrauch mit dem SI zugelassen. Sie ist keine gesetzliche Maßeinheit. Die Astronomische Einheit war historisch von großer Bedeutung für die Astronomie, da die meisten Entfernungsbestimmungen aufgrund der verwendeten Methoden das Ergebnis unmittelbar in AE und nicht in Metern lieferten. Mittlerweile ist jedoch der Umrechenfaktor zwischen AE und Metern so genau bekannt, dass die Verwendung der AE keine Genauigkeitsvorteile mehr bietet. Im Jahre 2012 wurde daher die frühere, von der Gravitationskonstante der Sonne abgeleitete Definition aufgegeben und die AE einfach als eine bestimmte Anzahl von Metern neu definiert. Damit hat die AE ihre ursprüngliche astrophysikalische Bedeutung verloren und ist nur noch eine konventionelle Längeneinheit. Entfernungen innerhalb des Sonnensystems werden jedoch immer noch meist in AE angegeben, da sich so bequeme Zahlenwerte ergeben. Das Internationale Büro für Maß und Gewicht empfiehlt seit 2014 für die Astronomische Einheit ebenso wie die Internationale Astronomische Union (IAU) das Einheitenzeichen au. Im Gegensatz dazu hat sich in der deutschsprachigen Literatur die Verwendung von AE und AU durchgesetzt. Ausgedrückt in anderen interstellaren Längenmaßen ergibt sich für die Astronomische Einheit folgende Größenrelation: 1 AE  =  499,004 784 Lichtsekunden    =  1,581 250 74 · 10−5 Lichtjahre    =  4,848 136 81 · 10−6 Parsec    =  2π / (360·60·60) Parsec    =  149 597 870 700 Meter. Definition Die AE war ursprünglich als die Länge der großen Halbachse der Erdbahn definiert, später als Radius einer Kreisbahn, auf der ein hypothetischer masseloser Körper die Sonne in einem vorgegebenen Zeitraum umrundete (nähere Details werden im Abschnitt Geschichte erläutert). Am 30. August 2012 beschloss die in Peking tagende 28. Generalversammlung der Internationalen Astronomischen Union in „Resolution B2“, {| style="border: 1px solid black; padding: 5px;" |- |“… that the astronomical unit be re-defined to be a conventional unit of length equal to 149 597 870 700 m exactly, […]” |- |„… dass die Astronomische Einheit neu definiert werde als eine konventionelle Längeneinheit, welche exakt 149 597 870 700 m entspricht, […]“ |} Gemäß dieser Neudefinition ist die AE nun keine durch Messung zu ermittelnde Eigenschaft des Sonnensystems mehr, sondern sie ist eine Strecke mit einer per Definition exakt festgelegten Länge in Metern. Der gewählte Zahlenwert entspricht dem bis dahin besten Messwert von 149 597 870 700 m ± 3 m. Die vorherige Definition der AE beruhte auf der Gaußschen Gravitationskonstanten, welche, wenn sie unter Verwendung der Längeneinheit „1 AE“, der Zeiteinheit „1 Tag“ und der Masseneinheit „1 Sonnenmasse“ ausgedrückt wurde, einen per Konvention fix vorgegebenen Zahlenwert hatte (siehe →Abschnitt Definition von 1976). Welchen Zahlenwert die so definierte Längeneinheit „1 AE“ annahm, wenn sie in SI-Einheiten (also in Metern) ausgedrückt werden sollte, musste durch Beobachtung der Planetenbewegungen ermittelt werden. Infolge der Neudefinition ist die Länge der AE in Metern nun festgelegt; die Gaußsche Gravitationskonstante wird nicht mehr benötigt und ist künftig nicht mehr Bestandteil der astronomischen Konstantensysteme. Der Zahlenwert der in astronomischen Maßeinheiten ausgedrückten Heliozentrischen Gravitationskonstanten war gemäß der vorherigen Definition als Konstante festgelegt. In die Berechnung ihres Zahlenwertes in SI-Einheiten ging jedoch der jeweils aktuelle durch Beobachtung bestimmte Zahlenwert für die Länge der Astronomischen Einheit ein, so dass eine Neuvermessung der AE ein verändertes nach sich ziehen konnte. Die aufgrund moderner Messungen möglich gewordene direkte Bestimmung von in SI-Einheiten macht diesen Umweg über die AE überflüssig. Außerdem ist denkbar, dass eine mögliche zeitliche Änderung von in absehbarer Zeit in den Bereich der Messbarkeit rücken könnte. Dies hätte nach der vorherigen Definition die Einführung einer zeitlich veränderlichen AE erfordert, was sich nach der neuen Definition aber erübrigt. Neuere Messungen (2011) deuten bereits eine geringfügige Abnahme von an. Die Genauigkeit moderner Positionsmessungen im Sonnensystem ist so hoch, dass relativistische Korrekturen berücksichtigt werden müssen. Die Übertragung der vorherigen Definition in einen relativistischen Begriffsrahmen hätte zusätzliche Konventionen erfordert und eine vom Bezugssystem abhängige Länge der AE ergeben. Die neu definierte AE hingegen hat in allen relativistischen Bezugssystemen dieselbe Länge. Die Resolution legt explizit fest, dass dieselbe Definition für alle relativistischen Zeitskalen (z. B. TCB, TDB, TCG, TT usw.) verwendet werden soll. Geschichte AE als Längeneinheit Die Umlaufzeiten der Planeten sind leicht zu beobachten und waren schon frühen Astronomen sehr genau bekannt. Mit Hilfe des Dritten Keplerschen Gesetzes ließ sich aus dem Verhältnis der Umlaufzeiten zweier Planeten mit praktisch derselben Genauigkeit auf das Verhältnis ihrer Bahnradien schließen. Die damaligen Ephemeriden konnten daher mit hoher Genauigkeit berechnen, wievielmal z. B. Mars zu einem gegebenen Zeitpunkt weiter von der Sonne entfernt war als die Erde. Man wählte die große Halbachse der Erdbahn als Längenmaß, nannte sie „Astronomische Einheit“ und konnte anstelle der umständlichen Ausdrucksweise „Mars ist heute 1,438 mal so weit von der Sonne entfernt wie die große Halbachse der Erdbahn lang ist“ gleichbedeutend einfach sagen „Mars ist heute 1,438 AE von der Sonne entfernt“. Die in dieser Form als AE ausgedrückten Entfernungen (eigentlich die Verhältnisse zweier Entfernungen zueinander) waren recht genau bestimmbar, in irdischen Längenmaßen wie z. B. Meilen oder Metern waren die Entfernungen jedoch nur recht ungenau bekannt. Für wissenschaftliche Zwecke bot sich daher die Verwendung der AE als Längeneinheit an, wofür sie jedoch einer hinreichend genauen Definition bedurfte. Erste Definition Gemäß dem Dritten Keplerschen Gesetz gilt für die Umlaufdauer eines Planeten der Masse , welcher die Sonne (Masse ) auf einer Bahn mit der großen Halbachse umläuft: Für zwei Planeten P1 und P2 folgt daraus: Dieses Gesetz enthält nur Verhältnisse der Umlaufzeiten, der Massen und der großen Halbachsen. Das Zweite Keplersche Gesetz enthält in ähnlicher Weise nur eine Aussage über die Verhältnisse der vom Fahrstrahl in bestimmten Zeitintervallen überstrichenen Flächen. Diese Gesetze liefern die Positionen der Planeten daher zunächst in einem noch unbestimmten Maßstab. Man kann deshalb die Einheiten der vorkommenden Längen, Zeitintervalle und Massen so wählen, dass sie die Rechnungen möglichst einfach gestalten. In der klassischen Astronomie wählte man üblicherweise als astronomische Längeneinheit die Länge der großen Halbachse der Erdbahn (1 AE), als astronomische Masseneinheit die Masse der Sonne 1 M☉ und als astronomische Zeiteinheit den Tag 1 d. Da die Positionen der Himmelskörper an der scheinbaren Himmelskugel (also die Richtungswinkel, unter denen sie dem Beobachter erscheinen) von absoluten Maßstäben unabhängig sind, konnten die Astronomen mit diesen relativen Maßstäben bereits hochpräzise Positionsastronomie betreiben. Die Entfernung eines Planeten konnte außerdem für einen gewünschten Zeitpunkt mit hoher Genauigkeit in Astronomischen Einheiten angegeben werden, die Entfernung in Metern hingegen weit weniger genau, da die Länge der Astronomischen Einheit in Metern nur mäßig genau bekannt war. Ähnlich konnten die Massen der Planeten recht genau in Sonnenmassen angegeben werden, deutlich weniger genau in Kilogramm. Erst in den letzten Jahrzehnten wurde es möglich, Entfernungen mit hoher Genauigkeit zu messen (z. B. mittels Laser-Entfernungsmessung zum Mond, mittels Radar-Entfernungsmessung zu Merkur, Venus und Mars, oder mittels Messung der Signallaufzeiten zu Raumsonden). Gaußsche Gravitationskonstante Der Zahlenwert der Gravitationskonstanten in der Gleichung hängt von der Wahl der Einheiten für die vorkommenden physikalischen Größen ab. Für die Umlaufdauer des Planeten folgt aus jener Gleichung durch Umstellen: Mit den Abkürzungen ergibt sich: C. F. Gauß bestimmte 1809 den Wert der Gravitationskonstanten in astronomischen Maßeinheiten (große Halbachse der Erdbahn als Längeneinheit AE, mittlerer Sonnentag als Zeiteinheit d, Sonnenmasse als Masseneinheit ), indem er die Formel auf die Erde als Planet anwandte und die damals besten Zahlenwerte für und einsetzte: Dieser Zahlenwert der Gravitationskonstanten in astronomischen Maßeinheiten wurde in der Folge als Standardwert für zahlreiche astronomische Berechnungen verwendet. Definition von 1976 Mit stets verbesserter Kenntnis von und hätte der Zahlenwert von ständig verbessert werden können. Der gaußsche Wert lag jedoch bald zahlreichen fundamentalen Tabellen zugrunde, welche bei jeder Veränderung von hätten neu berechnet werden müssen. Eine Alternative bestand darin, in der Gleichung den Zahlenwert von beizubehalten und stattdessen die Längeneinheit, in der gemessen wird, so anzupassen, dass der in der neuen Längeneinheit gemessene neue Zahlenwert von die Gleichung für die neuen Werte von und wieder erfüllt (ein Beispiel folgt im nächsten Abschnitt). Die große Halbachse der Erdbahn verlor damit ihren definierenden Status: Sie hatte in astronomischen Maßeinheiten nicht mehr strikt die Länge 1 AE. Die Längeneinheit, bezüglich welcher den die Gleichung erfüllenden Zahlenwert annahm, war die neue AE. Damit lautete die Definition von 1976: „Die astronomische Längeneinheit ist jene Länge (A), für welche die gaußsche Gravitationskonstante () den Wert 0,017 202 098 95 annimmt, wenn die Maßeinheiten die Astronomischen Einheiten der Länge, der Masse und der Zeit sind. […]“ Da die Definition der AE damit aber ohnehin nicht mehr unmittelbar durch die Erdbahn gegeben war, lösten sich die Astronomen von der Erdmasse und bezogen die neue Definition auf einen fiktiven Körper mit vernachlässigbar kleiner Masse: Denkt man sich einen solchen fiktiven Körper auf einer ungestörten Bahn, welche dem Gesetz gehorcht und deren große Halbachse gleich der zu bestimmenden neuen Längeneinheit ist so gilt für ihn Dieser definierende Körper hat also eine Umlaufdauer von Die fiktive Bahn lässt sich ohne Beschränkung der Allgemeingültigkeit als kreisförmig annehmen. Die Definition der AE lässt sich daher gleichbedeutend formulieren als Die Astronomische Einheit AE ist der Radius einer kreisförmigen Umlaufbahn, auf welcher ein Körper mit vernachlässigbarer Masse und frei von Störungen in Tagen ein Zentralgestirn umläuft, wobei die gaußsche Gravitationskonstante ist. Die Praxis, den Zahlenwert von festzuhalten und durch ihn die AE zu definieren, war inoffiziell seit dem 19. Jahrhundert üblich. Sie wurde 1938 offiziell von der IAU übernommen, als sie auf der 6. Generalversammlung den gaußschen Zahlenwert für per Resolution festschrieb. 1976 erfolgte auf der 28. Generalversammlung erstmals eine explizite textliche Definition. Erdbahn und AE Für die Umlaufzeiten der Erde und des definierenden fiktiven Körpers liefert das Dritte Keplergesetz : Auflösen nach und Einsetzen der aktuellen Zahlenwerte und ergibt Aus dem Verhältnis der Umlaufzeiten beider Körper folgt also das Verhältnis ihrer großen Halbachsen . Die eine davon definiert aber gerade die Astronomische Einheit; das Ergebnis ist also die in AE ausgedrückte große Halbachse der Erdbahn, welche nun etwas größer ist als 1 AE. Setzt man diese neuen Zahlenwerte für , und anstelle der alten gaußschen Werte in die gaußsche Formel ein, so erhält man nach wie vor den gaußschen Zahlenwert für . Wenn der in Tagen gemessenen Umlaufzeit der genannte Zahlenwert und der in Sonnenmassen gemessenen Erdmasse der genannte Zahlenwert beigelegt werden, dann sind die Voraussetzungen der IAU-Definition also erfüllt, wenn die in AE gemessene große Halbachse der Erdbahn den Zahlenwert 1,000 000 036 erhält. Jene Längeneinheit, in der die große Halbachse gemessen werden muss, um diesen Zahlenwert anzunehmen, ist die mit den aktuellen Werten von und kompatible aktuelle AE. Gelingt es, die Länge der großen Halbachse in Metern zu ermitteln, so ist über diesen Zusammenhang die Länge der AE in Metern bekannt. Heliozentrische Gravitationskonstante Rechnet man Umlaufzeit und große Halbachse des fiktiven masselosen Körpers von astronomischen Maßeinheiten wieder nach SI-Einheiten um und setzt das Ergebnis in Gleichung ein, so ergibt sich: wobei der noch zu bestimmende Umrechnungsfaktor von Astronomischen Einheiten in Meter ist. Einsetzen von und Auflösen nach liefert: (Die heliozentrische Gravitationskonstante GM☉ ist das Produkt aus der newtonschen Gravitationskonstanten G und der Sonnenmasse M☉. Sie lässt sich aus der Vermessung der Planetenbahnen ableiten und ist mit wesentlich höherer Genauigkeit bekannt als ihre beiden Einzelfaktoren.) Die eben genannte Formel stellt nichts anderes dar als die Umrechnung von k2 (in astronomischen Maßeinheiten) nach G bzw. GM☉ (in SI-Einheiten). In astronomischen Maßeinheiten hat k stets denselben von der Definition der AE festgelegten Zahlenwert. In SI-Einheiten hängt der Zahlenwert von GM☉ ab von dem jeweils aktuellen durch Beobachtung bestimmten Zahlenwert für die Länge L der Astronomischen Einheit. Nicht vorgesehen ist in der 1976er Definition eine eventuelle physikalisch reale Veränderlichkeit von GM☉, etwa durch eine kosmologische Veränderlichkeit von G oder den Masseverlust der Sonne. Sollte es infolge gesteigerter Messgenauigkeit notwendig werden, ein zeitlich veränderliches GM☉ zu beschreiben, so könnte dies (da k ja laut Definition auf seinem gegebenen Zahlenwert fixiert ist) nur durch die sehr unbefriedigende Verwendung einer zeitlich veränderlichen AE geschehen. Die Neudefinition der AE von 2012 entkoppelt GM☉ und AE und eröffnet so den Weg zur direkten Messung von GM☉ (und seiner eventuellen Veränderlichkeit) in SI-Einheiten. Der Umweg über die AE ist nicht mehr nötig. Eine Änderung des Zahlenwertes L der AE infolge einer Neubestimmung hat keine Änderung des Zahlenwertes von GM☉ mehr zur Folge. Messung Um die Länge der AE in Metern zu ermitteln, war es notwendig, die in AE bekannten Entfernungen zu den Planeten oder zur Sonne in Metern zu messen. Dies konnte bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts nur durch Triangulationen mit optischen Mitteln geschehen. Die AE wurde hauptsächlich aus hochgenauen Winkelmessungen (Parallaxen) abgeleitet, die von möglichst weit voneinander entfernten Sternwarten aus zu den Planeten Venus und Mars sowie zu erdnahen Asteroiden durchgeführt wurden. Ein kurzer Überblick über diese Bestimmungen der AE bis ins frühe 20. Jahrhundert findet sich im →Artikel Venustransit. Seit einigen Jahrzehnten können Entfernungen im Sonnensystem direkt gemessen werden. Der moderne Wert der AE wurde mittels Radar- und anderen Distanzmessungen von der Erde zu den Nachbarplaneten und zu Raumsonden bestimmt. Aus der Vermessung der „mittleren Bewegungen“ (d. h. der mittleren Geschwindigkeiten) oder der Umlaufperioden der Planeten, welche sich sehr genau bestimmen lassen, folgen über das Dritte Keplergesetz (in der newtonschen Fassung inklusive relativistischer Korrekturen) mit derselben Genauigkeit die großen Halbachsen der Planeten in AE. Die Abstandsmessungen zu den Planeten mittels Radar bestimmen deren Bahngeometrie und damit die großen Halbachsen ihrer Bahnen in Metern; das Verhältnis zur Länge der großen Halbachsen in AE liefert die Länge der AE in Metern sowie den Zahlenwert von GM☉ in m3/s2. Die folgende Tabelle listet unter anderem einige moderne Ephemeriden auf, die durch Anpassung der physikalischen Bewegungsgleichungen an umfangreiches Beobachtungsmaterial gewonnen wurden. Jede solche Anpassung liefert unter anderem wie eben beschrieben einen Zahlenwert für den Skalenfaktor des Sonnensystems, welcher die Länge der AE in Metern angibt (die jeweils genannten Unsicherheiten sind in der Regel formale Unsicherheiten, die im Zuge der Anpassung aus der Konsistenz der Messdaten untereinander abgeschätzt werden und die meist zu optimistisch ausfallen. Ein realistischeres Bild der Unsicherheiten gewinnt man durch Vergleich der Ergebnisse untereinander): Die Ephemeride DE405 des JPL liegt derzeit zahlreichen Jahrbüchern und sonstigen Ephemeridenwerken zugrunde. Der aus ihr abgeleitete Zahlenwert von 149 597 870 691 m für die AE war daher für mehrere Jahre der gebräuchlichste Standardwert. Er wurde vom IERS empfohlen. Streng genommen ist der genannte Zahlenwert nicht der SI-Wert, da den Berechnungen der Planetenbewegungen die auf den Schwerpunkt des Sonnensystems bezogene Zeitskala TDB zugrunde gelegt wird, während die SI-Sekunde sich definitionsgemäß auf die Erdoberfläche (genauer: das Geoid) bezieht und aus relativistischen Gründen etwas schneller läuft. Rechnet man den TDB-Wert auf strikte SI-Einheiten um, so ergibt sich: Die 27. Generalversammlung der Internationalen Astronomischen Union beschloss im Jahre 2009, im Rahmen des „IAU 2009 System of Astronomical Constants“ den aus damaligen besten Messungen abgeleiteten Mittelwert von 149 597 870 700 m ± 3 m zur allgemeinen Verwendung zu empfehlen. Die 28. Generalversammlung der Internationalen Astronomischen Union beschloss im Jahre 2012, von der bisherigen Definition abzugehen (nach welcher die Länge der Astronomischen Einheit in Metern stets das Ergebnis einer Messung gewesen war) und die Astronomische Einheit einfach als eine Strecke der Länge 149 597 870 700 m (exakt) neu zu definieren. Veränderlichkeit der gaußschen AE Die im Jahre 2012 neu definierte AE ist durch einen festen Zahlenwert festgelegt und damit per Definition unveränderlich. Die über die Gaußsche Konstante definierte frühere AE jedoch ist ein durch Messung zu bestimmender Skalenfaktor des Sonnensystems, der möglicherweise Veränderungen des Sonnensystems widerspiegelt. Messungen zur Bestimmung der AE im früheren Sinne können daher durchaus zur Aufdeckung solcher eventueller Veränderungen noch nützlich sein. Auswertungen von Radarmessungen scheinen anzudeuten, dass der Skalenfaktor des Sonnensystems langsam zunimmt. Es werden Änderungsraten von 15 ± 4 Meter/Jahrhundert, 7 ± 2 Meter/Jahrhundert und 1,2 ± 1,1 Meter/Jahrhundert genannt; die Ursache ist bislang unbekannt. Die naheliegende Vermutung, der beobachtete Effekt werde durch die Expansion des Universums verursacht, erweist sich als unzutreffend. Theoretische Untersuchungen anhand gängiger kosmologischer Modelle zeigen, dass die kosmische Expansion keine messbaren Auswirkungen auf die Bewegung der Planeten hat. Der durch den Sonnenwind und die Energieabstrahlung verursachte Massenverlust der Sonne führt zu einer langfristigen Vergrößerung der Planetenbahnradien um etwa 0,3 Meter/Jahrhundert. Dieser Effekt verursacht zwar aufgrund der Abnahme der von der Sonne ausgeübten Gravitationskraft eine Vergrößerung der Abstände der Planeten von der Sonne und untereinander, aufgrund der Abnahme der Sonnenmasse M☉ jedoch gleichzeitig wegen Gleichung eine Verringerung der über die Gaußsche Konstante definierten AE. Eine Abnahme der Gravitationskonstanten G um etwa 2 · 10−10 Prozent pro Jahr könnte den Effekt erklären, jedoch kann nach neueren Messungen eine eventuelle Veränderlichkeit von G nicht größer als etwa 0,06 · 10−10 Prozent pro Jahr sein. Bislang lässt sich nicht ausschließen, dass es sich lediglich um systematische Fehler in den Beobachtungen handelt. Bei der Berechnung der Planetenbahnen oder der Signalausbreitung unberücksichtigt gebliebene Effekte werden für weniger wahrscheinlich gehalten. Erklärungsversuche im Rahmen exotischerer Gravitationstheorien wie zum Beispiel der Stringtheorie werden derzeit als „hoch spekulativ“ angesehen. Literatur E. Myles Standish: The Astronomical Unit now. Proceedings IAU Colloquium No. 196, 2004, S. 163–179 (online, PDF, 1,5 MB). Einzelnachweise Astronomische Maßeinheit Längeneinheit
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AE
Ae steht für: einen schottischen Fluss, siehe Water of Ae Ae (Schottland), Ort in Schottland mehrere Schweizer Elektrolokomotiven, siehe Liste der Lokomotiven und Triebwagen der SBB #Elektrolokomotiven Abkürzung von Autechre, britische Electronica-Musikgruppe Abkürzung von KDStV Aenania München, katholische Studentenverbindung ae steht als Abkürzung für: avestische Sprache, altiranisch, nach ISO 639-1 .ae, länderspezifische Top-Level-Domain der Vereinigten Arabischen Emirate Ae ist der Familienname folgender Personen: Kōichi Ae (* 1976), japanischer Fußballspieler Æ steht für: George William Russell (1867–1935), Pseudonym des irischen Schriftstellers AE steht für: Ä, Umlaut des Buchstabens A Transliteration des Buchstabens Æ Amerikanisches Englisch, die englischen Dialekte in den Vereinigten Staaten L’Année épigraphique, Publikation zur lateinischen Epigraphik Automatic Exposure, Belichtungsautomatik Fahrzeugmodelle: Chevrolet AE, Automodell von 1931 Renault AE, Lastwagenmodell Fluggesellschaften: Air Ceylon (IATA-Code, ICAO-Code), sri-lankische Fluggesellschaft Air Europe (Großbritannien) (IATA-Code), britische Fluggesellschaft Iceland Express (IATA-Code), isländische Fluggesellschaft Mandarin Airlines (IATA-Code), taiwanesische Fluggesellschaft Informatik, Software: Adobe After Effects, Animations- und Compositingsoftware Anwendungsentwicklung, Softwaretechnik Authenticated Encryption, Betriebsmodus von Blockchiffren Kraftfahrzeugkennzeichen: Deutschland: Vogtlandkreis (für Auerbach) Griechenland: Lasithi, freigehalten Großbritannien: Peterborough Niederlande: Oldtimer-Pkw vor 1973 (schwarze Schilder mit weißer Schrift) Norwegen: Fredrikstad Ukraine: Oblast Dnipropetrowsk Länder, Regionen: Amerikanische Exklave in der Britischen Besatzungszone (Niedersachsen), siehe Liste der deutschen Kfz-Kennzeichen (historisch)#Deutschland 1945–1956 Vereinigte Arabische Emirate, als Landescode ISO 3166 Naturwissenschaften, Medizin Alkoholembryopathie, fetales Alkoholsyndrom, vorgeburtliche Schädigung eines Kindes Appendektomie, Operation am Blinddarm Astronomische Einheit, Längenmaß elektrophile Addition, AE, chemischer Reaktionsmechanismus Recht, Polizei, Verwaltung Allerhöchster Erlass, Allerhöchste Entscheidung, eine Entsprechung zur Kabinettsorder Aufenthaltsermittlung, deutsche Personenfahndung verwaltungsgerichtliches Aktenzeichen für Eilverfahren in Asylsachen, siehe vorläufiger Rechtsschutz Unternehmen Aeneon, ehemalige DRAM-Sparte der Qimonda Austria Email, österreichischer Hersteller von Warmwasserbereitern Wirtschaft AE-Provision, Agenturprovision Auftragseingang, wirtschaftliche Messgröße Aufwandsentschädigung, Vergütung Ausfuhrerklärung, Dokument im Speditionssektor æ steht als Transliteration des Buchstabens ä, siehe Æ Siehe auch: A&E (Begriffsklärung) AE
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Anders Celsius
Anders Celsius (, * 27. Novemberschwed. / 7. Dezember 1701greg. in Uppsala; † ebenda) war ein schwedischer Astronom, Mathematiker und Physiker, der vor allem durch das von ihm 1742 eingeführte Thermometersystem bekannt ist. Leben Anders Celsius wurde 1701 in Uppsala als Sohn des Astronomen Nils Celsius geboren und entstammt einer Familie vom Gut Doma in Ovanåker. Sein Onkel war Olof Celsius der Ältere. Er studierte an der Universität Uppsala und wurde dort 1730 Professor. Am 25. August 1733 wurde er mit dem akademischen Beinamen Marcus Manilius II. zum Mitglied (Matrikel-Nr. 441) der Leopoldina gewählt. Ab 1734 war er auswärtiges Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1739 und 1743 amtierte er als Rektor der Universität Uppsala. 1736 nahm Celsius an einer Expedition zur Vermessung der Form der Erde teil. 1741 stellte er das erste schwedische Observatorium in Uppsala fertig. Er war außerdem auch Poet und Autor populärwissenschaftlicher Literatur. Celsius vermaß als erster die Helligkeit von Sternen. Er fand heraus, dass Polarlichter das Magnetfeld der Erde stören. Und er stellte als einer der ersten fest, dass sich ein Großteil Skandinaviens langsam über den Meeresspiegel erhebt, ein kontinuierlicher Prozess seit dem Abschmelzen des Eises der letzten Eiszeit. Celsius starb am 6. Mai 1744 im Alter von 42 Jahren an Tuberkulose und wurde in der Kirche von Gamla Uppsala begraben. Die Grabplatte befindet sich unter dem roten Teppich des Mittelgangs auf der linken Seite. Celsius-Temperaturskala Anders Celsius definierte 1742 die nach ihm benannte Temperatureinteilung Grad Celsius. Im Gegensatz zur heute verwendeten Celsius-Skala legte er den Siedepunkt von Wasser mit 0° und den Gefrierpunkt mit 100° fest. Durch Carl von Linné wurden 1745, ein Jahr nach Celsius’ Tod, die Fixpunkte der Skala vertauscht; heutzutage wird sie ausschließlich in letzterer Form verwendet. Das Revolutionäre war, dass Celsius vorgeschlagen hatte, sie als universelle Skala zu benutzen, um Temperaturen in der ganzen Welt zu vergleichen: Im Gegensatz zu anderen Forschern notierte er bei der genauen Bestimmung der Fixpunkte auch den herrschenden Luftdruck (760 mm auf der Quecksilbersäule) und legte so genaue Messbedingungen fest. 1948, ca. 200 Jahre nach der Einführung der Skala, wurde zu Ehren Celsius’ der Skalenabstand bei einem Celsius-Thermometer von einem Zentigrad bzw. Zentesimalgrad durch die 9. internationale Generalkonferenz für Maß und Gewicht offiziell in die Temperatureinheit Grad Celsius umbenannt. Das Originalthermometer kann heute im Museum der Universität Uppsala, dem Gustavianum, besichtigt werden. Es besteht, genau wie ein heutiges Thermometer, aus einem auf ein Holzbrett mit Skala montierten Quecksilberreservoir mit angesetzter Kapillare. Ehrungen Nach ihm sind der Asteroid (4169) Celsius und der Mondkrater Celsius benannt. Literatur Olof Beckman: Anders Celsius. Universität Uppsala 2003, ISBN 91-554-5661-8. Horst Kant: Gabriel Daniel Fahrenheit, René-Antoine Ferchault de Réaumur, Anders Celsius. Teubner, Leipzig 1984, ISBN 3-322-00622-0. N.V.E. Nordenmark: Anders Celsius. Uppsala 1936. P. Volkmann: Technikpioniere: Namensgeber von Einheiten physikalischer Einheiten. VDE Verlag, Berlin/Offenbach 1990, ISBN 3-8007-1563-5, S. 37–39. Isaac Asimov: Biographische Enzyklopädie der Naturwissenschaften und der Technik. Herder, Freiburg/Basel/Wien 1974, ISBN 3-451-16718-2, S. 137. Weblinks Anne Preger: 25.04.1744 - Todestag des Astronomen Anders Celsius WDR ZeitZeichen vom 25. April 2014 (Podcast) Einzelnachweise Astronom (18. Jahrhundert) Physiker (18. Jahrhundert) Hochschullehrer (Universität Uppsala) Rektor (Universität Uppsala) Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Leopoldina (18. Jahrhundert) Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften in Uppsala Mitglied der Royal Society Absolvent der Universität Uppsala Schwede Geboren 1701 Gestorben 1744 Mann
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Analysis
Die Analysis [] ( análysis ‚Auflösung‘, analýein ‚auflösen‘) ist ein Teilgebiet der Mathematik. Als eigenständiges Teilgebiet der Mathematik existiert die Analysis seit Leonhard Euler (18. Jahrhundert). Seither ist sie die Mathematik der Natur- und Ingenieurwissenschaften. Ihre Grundlagen wurden im 17. Jahrhundert von Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton als Infinitesimalrechnung unabhängig voneinander entwickelt. Infinitesimalrechnung ist die mathematische Untersuchung kontinuierlicher Veränderungen, so wie Geometrie die Untersuchung der Form und Algebra die Untersuchung der Verallgemeinerung arithmetischer Operationen ist. Zentrale Begriffe der Analysis sind die des Grenzwerts, der Folge, der Reihe sowie in besonderem Maße der Begriff der Funktion. Die Untersuchung von reellen und komplexen Funktionen hinsichtlich Stetigkeit, Differenzierbarkeit und Integrierbarkeit zählt zu den Hauptgegenständen der Analysis. Grundlegend für die gesamte Analysis sind die beiden Körper (der Körper der reellen Zahlen) und (der Körper der komplexen Zahlen) mitsamt deren geometrischen, arithmetischen, algebraischen und topologischen Eigenschaften. Teilgebiete der Analysis Die Analysis hat sich zu einem sehr allgemeinen, nicht klar abgrenzbaren Oberbegriff für vielfältige Gebiete entwickelt. Neben der Differential- und Integralrechnung umfasst die Analysis weitere Gebiete, welche darauf aufbauen. Dazu gehören die Theorie der gewöhnlichen und partiellen Differentialgleichungen, die Variationsrechnung, die Vektoranalysis, die Maß- und Integrationstheorie und die Funktionalanalysis. Eine ihrer Wurzeln hat auch die Funktionentheorie in der Analysis. So kann die Frage, welche Funktionen die Cauchy-Riemannschen-Differentialgleichungen erfüllen, als Frage der Theorie partieller Differentialgleichungen verstanden werden. Je nach Auffassung können auch die Gebiete der harmonischen Analysis, der Differentialgeometrie mit den Teilgebieten Differentialtopologie und Globale Analysis, der analytischen Zahlentheorie, der Nichtstandardanalysis, der Distributionentheorie und der mikrolokalen Analysis ganz oder in Teilen dazu gezählt werden. Eindimensionale reelle Analysis Differentialrechnung Bei einer linearen Funktion bzw. einer Geraden heißt m die Steigung und c der y-Achsen-Abschnitt oder Ordinatenabschnitt der Geraden. Hat man nur 2 Punkte und auf einer Geraden, so kann die Steigung berechnet werden durch Bei nicht linearen Funktionen wie z. B. kann die Steigung so nicht mehr berechnet werden, da diese Kurven beschreiben und somit keine Geraden sind. Jedoch kann man an einen Punkt eine Tangente legen, die wieder eine Gerade darstellt. Die Frage ist nun, wie man die Steigung einer solchen Tangente an einer Stelle berechnen kann. Wählt man eine Stelle ganz nahe bei und legt eine Gerade durch die Punkte und , so ist die Steigung dieser Sekante nahezu die Steigung der Tangente. Die Steigung der Sekante ist (s. o.) Diesen Quotienten nennt man den Differenzenquotienten oder mittlere Änderungsrate. Wenn wir nun die Stelle immer weiter an annähern, so erhalten wir per Differenzenquotient die Steigung der Tangente. Wir schreiben und nennen dies die Ableitung oder den Differentialquotienten von f in . Der Ausdruck bedeutet, dass x immer weiter an angenähert wird, bzw. dass der Abstand zwischen x und beliebig klein wird. Wir sagen auch: „x geht gegen “. Die Bezeichnung steht für Limes. ist der Grenzwert des Differenzenquotienten. Es gibt auch Fälle, in denen dieser Grenzwert nicht existiert. Deswegen hat man den Begriff Differenzierbarkeit eingeführt. Eine Funktion f heißt differenzierbar an der Stelle , wenn der Grenzwert existiert. Integralrechnung Die Integralrechnung befasst sich anschaulich mit der Berechnung von Flächen unter Funktionsgraphen. Diese Fläche kann durch eine Summe von Teilflächen approximiert werden und geht im Grenzwert in das Integral über. Die obige Folge konvergiert, falls f gewisse Bedingungen (wie z. B. Stetigkeit) erfüllt. Diese anschauliche Darstellung (Approximation mittels Ober- und Untersummen) entspricht dem sogenannten Riemann-Integral, das in der Schule gelehrt wird. In der sogenannten Höheren Analysis werden darüber hinaus weitere Integralbegriffe, wie z. B. das Lebesgue-Integral betrachtet. Hauptsatz der Integral- und Differentialrechnung Differentialrechnung und Integralrechnung verhalten sich nach dem Hauptsatz der Analysis in folgender Weise „invers“ zueinander. Wenn eine auf einem kompakten Intervall stetige reelle Funktion ist, so gilt für : und, falls zusätzlich auf gleichmäßig stetig differenzierbar ist, Deshalb wird die Menge aller Stammfunktionen einer Funktion auch als unbestimmtes Integral bezeichnet und durch symbolisiert. Mehrdimensionale reelle Analysis Viele Lehrbücher unterscheiden zwischen Analysis in einer und Analysis in mehreren Dimensionen. Diese Differenzierung berührt die grundlegenden Konzepte nicht, allerdings gibt es in mehreren Dimensionen eine größere mathematische Vielfalt. Die mehrdimensionale Analysis betrachtet Funktionen mehrerer reeller Variablen, die oft als ein Vektor beziehungsweise n-Tupel dargestellt werden. Die Begriffe der Norm (als Verallgemeinerung des Betrags), der Konvergenz, der Stetigkeit und der Grenzwerte lassen sich einfach von einer in mehrere Dimensionen verallgemeinern. Die Differentiation von Funktionen mehrerer Variablen unterscheidet sich von der eindimensionalen Differentiation. Wichtige Konzepte sind die Richtungs- und die partielle Ableitung, die Ableitungen in einer Richtung beziehungsweise in einer Variable sind. Der Satz von Schwarz stellt fest, wann partielle beziehungsweise Richtungsableitungen unterschiedlicher Richtungen vertauscht werden dürfen. Außerdem ist der Begriff der totalen Differentiation von Bedeutung. Dieser kann interpretiert werden als die lokale Anpassung einer linearen Abbildung an den Verlauf der mehrdimensionalen Funktion und ist das mehrdimensionale Analogon der (ein-dimensionalen) Ableitung. Der Satz von der impliziten Funktion über die lokale, eindeutige Auflösung impliziter Gleichungen ist eine wichtige Aussage der mehrdimensionalen Analysis und kann als eine Grundlage der Differentialgeometrie verstanden werden. In der mehrdimensionalen Analysis gibt es unterschiedliche Integralbegriffe wie das Kurvenintegral, das Oberflächenintegral und das Raumintegral. Jedoch von einem abstrakteren Standpunkt aus der Vektoranalysis unterscheiden sich diese Begriffe nicht. Zum Lösen dieser Integrale sind der Transformationssatz als Verallgemeinerung der Substitutionsregel und der Satz von Fubini, welcher es erlaubt, Integrale über n-dimensionale Mengen in iterierte Integrale umzuwandeln, von besonderer Bedeutung. Auch die Integralsätze aus der Vektoranalysis von Gauß, Green und Stokes sind in der mehrdimensionalen Analysis von Bedeutung. Sie können als Verallgemeinerung des Hauptsatzes der Integral- und Differentialrechnung verstanden werden. Funktionalanalysis Die Funktionalanalysis ist eines der wichtigsten Teilgebiete der Analysis. Die entscheidende Idee in der Entwicklung der Funktionalanalysis war die Entwicklung einer koordinaten- und dimensionsfreien Theorie. Dies brachte nicht nur einen formalen Gewinn, sondern ermöglichte auch die Untersuchung von Funktionen auf unendlichdimensionalen topologischen Vektorräumen. Hierbei werden nicht nur die reelle Analysis und die Topologie miteinander verknüpft, sondern auch Methoden der Algebra spielen eine wichtige Rolle. Aus wichtigen Resultaten der Funktionalanalysis wie es beispielsweise der Satz von Fréchet-Riesz ist, lassen sich zentrale Methoden für die Theorie partieller Differentialgleichungen ableiten. Zudem ist die Funktionalanalysis, insbesondere mit der Spektraltheorie, der geeignete Rahmen zur mathematischen Formulierung der Quantenmechanik und auf ihr aufbauender Theorien. Theorie der Differentialgleichungen Eine Differentialgleichung ist eine Gleichung, die eine unbekannte Funktion und Ableitungen von dieser enthält. Treten in der Gleichung nur gewöhnliche Ableitungen auf, so heißt die Differentialgleichung gewöhnlich. Ein Beispiel ist die Differentialgleichung des harmonischen Oszillators. Von einer partiellen Differentialgleichung spricht man, wenn in der Differentialgleichung partielle Ableitungen auftreten. Ein Beispiel dieser Klasse ist die Laplace-Gleichung . Ziel der Theorie der Differentialgleichungen ist es, Lösungen, Lösungsmethoden und andere Eigenschaften solcher Gleichungen zu finden. Für gewöhnliche Differentialgleichungen wurde eine umfassende Theorie entwickelt, mit der es möglich ist, zu gegebenen Gleichungen Lösungen anzugeben, insofern diese existieren. Da partielle Differentialgleichungen in ihrer Struktur komplizierter sind, gibt es weniger Theorie, die auf eine große Klasse von partiellen Differentialgleichungen angewandt werden kann. Daher untersucht man im Bereich der partiellen Differentialgleichungen meist nur einzelne oder kleinere Klassen von Gleichungen. Um Lösungen und Eigenschaften solcher Gleichungen zu finden, werden vor allem Methoden aus der Funktionalanalysis und auch aus der Distributionentheorie und der mikrolokalen Analysis eingesetzt. Allerdings gibt es viele partielle Differentialgleichungen, bei denen mit Hilfe dieser analytischen Methoden erst wenige Informationen über die Lösungsstruktur in Erfahrung gebracht werden konnten. Ein in der Physik wichtiges Beispiel einer solch komplexen partiellen Differentialgleichung ist das System der Navier-Stokes-Gleichungen. Für diese und für andere partielle Differentialgleichungen versucht man in der numerischen Mathematik näherungsweise Lösungen zu finden. Funktionentheorie Im Gegensatz zur reellen Analysis, die sich nur mit Funktionen reeller Variablen befasst, werden in der Funktionentheorie (auch komplexe Analysis genannt) Funktionen komplexer Variablen untersucht. Die Funktionentheorie hat sich von der reellen Analysis mit eigenständigen Methoden und andersartigen Fragen abgesetzt. Jedoch werden einige Phänomene der reellen Analysis erst mit Hilfe der Funktionentheorie richtig verständlich. Das Übertragen von Fragen der reellen Analysis in die Funktionentheorie kann daher zu Vereinfachungen führen. Siehe auch Formelsammlung Analysis Literatur Herbert Amann, Joachim Escher: Analysis I. Birkhäuser, Basel 2006, ISBN 3-7643-7755-0. Richard Courant: Vorlesungen über Differential- und Integralrechnung. 2 Bände. Springer 1928, ISBN 3-540-02956-7. Jean Dieudonné: Foundations of Modern Analysis. Academic Press, U.S. 1968, ISBN 0-12-215530-0. Otto Forster: Analysis 1. Vieweg, Wiesbaden 2004, ISBN 3-528-67224-2. Harro Heuser: Lehrbuch der Analysis. Teubner, Wiesbaden 2003, ISBN 3-519-62233-5. Stefan Hildebrandt: Analysis. Springer, Berlin 2002, ISBN 3-540-42838-0. Konrad Königsberger: Analysis. Band 1. Springer, Berlin 2004, ISBN 3-540-41282-4. Wladimir Smirnow: Lehrgang der höheren Mathematik. Harri Deutsch Verlag, ISBN 3-8171-1419-2. Thomas Sonar: 3000 Jahre Analysis. Geschichte – Kulturen – Menschen. 2. Auflage. Springer, Berlin 2016. ISBN 978-3-662-48917-8. Wolfgang Walter: Analysis. Springer, Berlin 2004, ISBN 3-540-20388-5. Weblinks The Calculus page Calculus.org, bei University of California, Davis – Ressourcen und enthält Links zu anderen Websites Einzelnachweise Teilgebiet der Mathematik
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https://de.wikipedia.org/wiki/Annette%20von%20Droste-H%C3%BClshoff
Annette von Droste-Hülshoff
Annette von Droste-Hülshoff (* 12. Januar 1797, nach anderen Quellen 10. Januar 1797, auf Burg Hülshoff bei Münster als Anna Elisabeth Franzisca Adolphina Wilhelmina Ludovica Freiin von Droste zu Hülshoff; † 24. Mai 1848 auf der Burg Meersburg in Meersburg) war eine deutsche Schriftstellerin und Komponistin. Sie gehört zu den bedeutendsten deutschsprachigen Dichtern des 19. Jahrhunderts. Leben Herkunft und Bildung Annette von Droste-Hülshoff stammte aus einem der ältesten Adelsgeschlechter Westfalens und gehörte der 20. Generation ihrer Familie an. Sie wurde als zweites von vier Kindern von Clemens-August II. von Droste zu Hülshoff (1760–1826) und Therese von Haxthausen (1772–1853) am 12. Januar 1797 auf der westfälischen Wasserburg Hülshoff zwischen Havixbeck und Roxel bei Münster geboren. Ihren Eltern hat die Dichterin in ihrem Fragment Bei uns zulande auf dem Lande ein literarisches Denkmal gesetzt. Ihre ältere Schwester Jenny war ihre engste Vertraute und malte mehrere Porträts der Dichterin. Ihr jüngerer Bruder Werner-Constantin wurde der Nachfolger des Vaters auf dem Gutsbesitz und der jüngste Bruder Ferdinand, gerade Forstmeister geworden, starb jung, nachdem Annette ihn hingebungsvoll gepflegt hatte. Die Dichterin und ihr Werk wurden durch ihre Herkunft geprägt. Die schon im 11. Jahrhundert als von Deckenbrock urkundlichen Droste zu Hülshoffs waren als ursprünglich edelfreies Geschlecht im Mittelalter mit dem Hochadel verwandt. Schon der erste, 1147 urkundlich erwähnte Namensträger Everwinus hatte als Droste das vornehmste Hofamt des Domkapitels im Fürstbistum Münster inne, der erste 1209 urkundlich erwähnte direkte Vorfahr der Dichterin war Ritter und Vasall des Fürstbischofs von Münster. Als solcher ist auch der Vorfahr Heinrich I. von Droste zu Hülshoff an einem Burgturm des Elternhauses der Dichterin auf einem Reiterrelief abgebildet. Später mussten ihre Verwandten nur selten Militärdienst leisten; ihr Großonkel, General Heinrich-Johann von Droste zu Hülshoff, ist heute hauptsächlich durch seinen Umbau des Elternhauses der Dichterin bekannt. Stattdessen dominierte in der väterlichen Familie eine zivile, kirchliche und – trotz umfangreichen Gutsbesitzes – städtische Prägung: Als Erbmännerfamilie hatten viele Vorfahren schon im Mittelalter das Drostenamt des Domkapitels von Münster sowie Ämter als Bürgermeister und Ratsherren der Stadt Münster bekleidet, einige hatten Westfalen auf den Hansetagen vertreten. Zugleich war die Familie – auch die Dichterin selbst – durch Gutsbesitz und die Übernahme von Patenschaften für Bauernfamilien mit der Landbevölkerung verbunden und nutzte im Alltag Münsterländer Platt. Als Herren von Hülshoff und anderen Gütern hatte sie auch die niedere Gerichtsbarkeit und das Patronat über die Pfarrkirche von St. Pantaleon (Roxel) inne; in der Jugend der Dichterin übte der Vater der Dichterin zusätzlich – unter Napoleon – von Hülshoff aus sein Amt als maire (Bürgermeister) dieses nahegelegenen Dorfes und des Nachbardorfs Albachten aus, der u. a. für Polizeiaufgaben zuständig war. Zahlreiche Verwandte aus beiden elterlichen Familien waren katholische Dom- und Stiftsherren bzw. -damen; ihr Großonkel, Ernst Konstantin von Droste zu Hülshoff, war als Domdechant an der Regierung des Fürstbistums Münster beteiligt, ihr Onkel Heinrich Johannes war der letzte adelige Dompropst im Bistum Münster und ihre Groß- und Patentante, Anna-Elisabeth Droste zu Hülshoff (1733–1805), eine der letzten Äbtissinnen des Damenstifts Metelen. Die Dichterin stammte über die Frau ihres Urgroßvaters Heinrich Wilhelm Droste zu Hülshoff auch vom Adelsgeschlecht Droste zu Vischering ab. Musisch begabt war vor allem ihre Großmutter Maria Bernhardine von Droste zu Hülshoff, geborene von der Recke-Steinfurt. Während die männlichen Familienmitglieder meist Universitätsbildung besaßen, erfuhr die weibliche Verwandtschaft ihre Bildung meist in Kanonissenstiften. So hatte auch Annettes Mutter seit ihrem dreizehnten Lebensjahr im Kanonissenstift St. Bonifatius (Freckenhorst) gelebt und unter der Äbtissin Francisca Lucia von Korff zu Harkotten und Störmede eine hervorragende Erziehung erfahren. Während ihre Schwester Jenny noch Stiftsdame im Kloster Hohenholte werden konnte, war diese Art der Erziehung und materiellen Absicherung wegen der Aufhebung dieser Einrichtungen infolge der Säkularisation für Annette nicht mehr möglich. Annettes Eltern ragten aus dem Stiftsadel durch ihre literarische und musikalische Bildung heraus – sie hatten vor ihrer Geburt in der Stadt Münster gelebt, wo sie dem Münsterschen Kreis im Kontext der Katholischen Aufklärung angehört hatten. Zu diesem Kreis gehörte auch Bernhard Overberg; seiner – für die damalige Zeit „modernen“ – Pädagogik, die auch die Bildung von Frauen förderte, folgte die Erziehung der Geschwister Droste-Hülshoff. Die Verbindung ihrer Familie zur Literatur war bereits im 16./17. Jahrhundert durch den Humanisten Everwin Droste und das Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft, Everwin von Droste zu Möllenbeck, entstanden. Auch gab es in ihrer Familie bereits seit Generationen eine Musiktradition. Annette selbst hatte, wie sich aus dem Tagebuch ihrer Schwester Jenny ergibt, eine glückliche Kindheit. Sie wurde – zusammen mit ihren Geschwistern – zunächst von ihren gebildeten Eltern, dann von einem Hauskaplan, der später Professor am Gymnasium Paulinum (Münster) wurde, und von einer französischen Kinderfrau unterrichtet. Auf diese Weise erwarb das sehr wissbegierige Kind eine Bildung, die für die damalige Mädchenerziehung außergewöhnlich war und z. B. Literatur in lateinischer, griechischer, französischer und englischer Sprache sowie geschichtliche, geografische und naturkundliche Kenntnisse umfasste. Lebensstationen Die Lebensspanne von Annette von Droste-Hülshoff fiel in eine Zeit der politischen Umbrüche und wirtschaftlicher Einschränkungen, die als Biedermeier in die Geschichte einging. Auf die Säkularisation des Hochstifts Münster (1803) folgten in ihrer Heimat die politischen Herrschaftswechsel zu Preußen (1803–1806 und ab 1815) – unterbrochen durch das Intermezzo des napoleonischen Großherzogtums Berg (1806–1815). Ihr weiteres Leben verbrachte sie in den preußischen Provinzen Westfalen und Rheinland sowie dem Großherzogtum Baden, wo sie im Revolutionsjahr 1848 starb. Hülshoff und Münster Seit ihrer Kindheit und Jugend war Annette kränklich, bedingt durch ihre verfrühte Geburt als kaum lebensfähiges Siebenmonatskind. Sie war angeblich nur ca. 1,50 m groß und zierlich gewachsen. Außerdem war sie extrem kurzsichtig, hatte auffällig wirkende Augen und litt oft unter rasenden Kopfschmerzen. Anders als ihre Schwester Jenny konnte sie daher nur mäßig zeichnen, förderte aber Maler, stickte gemeinsam mit ihrer Schwester die künstlerisch wertvolle Fahne der Schützenbruderschaft zu Roxel und machte selbst Scherenschnitte in beachtlicher Qualität. Ihre Kurzsichtigkeit befähigte sie andererseits zu einer mikroskopisch-exakten Nahbetrachtung und -beschreibung der Natur, die sie oft auf eigene Faust mit dem Geologenhammer durchstreifte. Schon seit ihrer Kindheit standen die gesundheitlichen und auch gesellschaftlichen Einschränkungen und ihre geistigen Tätigkeiten in großer Spannung zu ihrer lebhaften Vorstellungskraft und Unternehmungslust, der „Sehnsucht in die Ferne“. Schon früh sah Annette von Droste-Hülshoff ihre Berufung als Dichterin und ließ sich darin nicht beirren. Auch ihr Umfeld, besonders ihre pädagogisch interessierte Mutter und deren Halbbruder Werner von Haxthausen, der in Münster bei Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg aufgenommen worden war, erkannten die außerordentliche Begabung; bereits die 11-Jährige wurde zur Mitarbeit an einem poetischen Sammelwerk aufgefordert. Um ihre Berufung rang sie schon als Jugendliche in ihren Gedichten Schicksal, Der Dichter, Der Philosoph sowie Unruhe und ihrem Romanfragment Ledwina. Auf Initiative ihrer gebildeten Eltern wurde sie in den Jahren 1812 bis 1819 von Anton Matthias Sprickmann unterrichtet und gefördert, der in Münster gegenüber dem Stadthaus der Droste zu Hülshoff wohnte. Schon in Burg Hülshoff lernte die jugendliche Dichterin 1813 ihr Dichteridol Katharina Sibylla Schücking, die Mutter von Levin Schücking, kennen, ebenfalls 1817 Wilhelmine von Thielmann, die Frau des ab 1815 in Münster stationierten preußischen Generals Johann Adolf von Thielmann, die als Tochter von Johann Friedrich Wilhelm von Charpentier und Schwester der Verlobten des Dichters Novalis hochgebildet war. Die Freundschaft mit dieser gebildeten Protestantin sah ihre Mutter weniger gern, unterstützte ihre Tochter aber später, indem sie beispielsweise versuchte, 1829 in Münster den Kontakt mit dem etwas jüngeren Philosophie- und Philologieprofessor Christoph Bernhard Schlüter, einem tieffrommen erblindeten Familienvater, herzustellen, was aber zunächst misslang, da dieser die zugesandten Manuskripte für nicht ausreichend erachtete. Schlüter wurde Annette von Droste-Hülshoffs lebenslanger Mentor und Freund. Ostwestfalen und Kassel Mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Jenny besuchte Annette mehrfach für längere Zeit die mütterliche Familie von Haxthausen auf ihren Stammsitzen Haus Bökerhof und Abbenburg bei Bellersen. Die jüngsten ihrer dortigen (Stief-)Onkel und Tanten und deren Freunde gehörten ihrer Generation an. Sie besuchte von dort aus u. a. Freifrau Dorothea von Wolff-Metternich auf Schloss Wehrden an der Weser und Franziska Gräfin von Bocholtz-Asseburg auf Schloss Hinnenburg bei Brakel. Ihre damals in Göttingen studierenden Stiefonkel, Werner von Haxthausen und sein Bruder August von Haxthausen, bildeten u. a. mit den Brüdern Grimm den Mittelpunkt des Bökendorfer Romantikerkreises. In der Familie Haxthausen erzählte man gerne Gruselgeschichten – eine davon verarbeitete die Dichterin später zu ihrer berühmten Novelle Die Judenbuche. Auch Annette liebte das Erzählen von Schauergeschichten, denen sie später in ihren Balladen eine meisterhafte Form gab. Der Kasseler Architekt Heinrich Wolff, der die 23-jährige Dichterin 1820 in Bökendorf kennenlernte, beschrieb sie als „äußerst geistvolles und schönes Mädchen, die etwas ungemein Liebenswürdiges und Anziehendes in ihrem Wesen hatte“, der Hamburger Kaufmannssohn Friedrich Beneke hielt über seine Gespräche mit ihr in seinem Tagebuch fest: „Eine solche scharfe Klarheit des Verstandes, so unbefangen und tief ist mir selten vorgekommen, und das neben einer so zarten, rührenden Unschuld und Gemütstiefe, neben so vieler Liebe. Das ganze gehalten von bedeutender Geisteskultur und Bildung.“ Bereits mit 23 Jahren hatte sie, zunächst für die fromme zweite Frau ihres Großvaters Werner Adolph von Haxthausen, u. a. den ersten Teil ihres bedeutenden Gedicht-Zyklus Das geistliche Jahr vollendet. Aber weder von ihren mütterlichen Verwandten noch von deren Freunden bekam die junge Dichterin Anerkennung für ihre Schriftstellerei. Zwar faszinierte sie, doch schreckten ihre – als männlich empfundene – geistige Überlegenheit und ihr Zugang zum Übersinnlichen auch ab, so dass sie kein gutes Haar an ihrer Dichtung ließen. Annette erlitt dort ihre sogenannte Jugendkatastrophe, eine Liebesintrige: weil sie den von ihren Verwandten vorgeschickten August von Arnswaldt nicht zurückgewiesen hatte, gab ihr die Familie die Schuld am Zerwürfnis mit Heinrich Straube. Dies erschütterte sie tief, ließ aber zugleich ihre geistliche Dichtung reifen. Die Jahre danach verbrachte sie zurückgezogen in ihrem Elternhaus Hülshoff und wandte sich stark der Musik zu. Im Umfeld von Bökendorf hatte sie schon 1818 in Kassel Amalie Hassenpflug kennengelernt, mit der sie ab 1837 eine tiefe Freundschaft bis zu ihrem Tode verband. Besonders in den Jahren 1838 bis 1839 hatte Amalie großen Einfluss auf die Droste, und mehrere Gedichte sind ihr gewidmet. Rheinland Annette von Droste-Hülshoff war eine geistreiche, humorvolle und unterhaltende Gesprächs- und Korrespondenzpartnerin, führte jedoch meist gezwungenermaßen ein zurückgezogenes und eingeengtes Leben. Wegen ihrer gesundheitlichen Einschränkungen und der nötigen Ruhe für ihre Arbeit wich sie zunehmend Reiseplänen ihrer Mutter aus, die hauptsächlich ausgedehnte Familienbesuche zum Ziel hatten. Zwar konnte die Dichterin bei ihren Reisen entlang des Rheins schon die ersten Dampfschiffe und Eisenbahnen benutzen, doch mussten die übrigen Strecken auf teilweise schlechten Straßen mühsam mit der Kutsche zurückgelegt werden. Eine erste größere und längere Reise allein führte sie 1825, ein Jahr vor dem Tod ihres Vaters, an den Rhein nach Köln, wo sie die Bibliothek ihres Stiefonkels Werner von Haxthausen ordnete und von wo aus sie Tanzbälle besuchte – ihre Familie hoffte nach der Schließung der Damenstifte, sie durch eine Verheiratung materiell abzusichern, doch ergab sich das nicht. Durch Werner von Haxthausen und seine Frau Betty (geb. von Harff-Dreiborn) befreundete sie sich dort u. a. mit Sibylle Mertens-Schaaffhausen. In Köln lernte sie 1826 auch Guido Görres kennen, der später auch Gast in Rüschhaus und Meersburg war. Von Köln aus besuchte sie erstmals 1825 – länger, als mit ihrer Familie vereinbart war – Bonn und Koblenz. In Bonn, wo ihr Lieblingsvetter Clemens-August von Droste zu Hülshoff lebte, lernte sie auch seine Universitäts-Kollegen Georg Hermes, Johann Wilhelm Joseph Braun und Johann Heinrich Achterfeld kennen, die sie wenig interessant fand. Sie lernte auch August Wilhelm Schlegel kennen, dessen sprichwörtliche Eitelkeit sie jedoch abstieß. Dort freundete sie sich auch mit Adele Schopenhauer an, die ihrerseits befreundet war mit Goethes Schwiegertochter Ottilie. Sie bezeichnete Annette als „das geistreichste Wesen, das ich unter Frauen kenne“. In Bonn, das sie bis 1842 mehrfach besuchte, begegnete Annette von Droste-Hülshoff außerdem der jungen Johanna Kinkel. In Koblenz besuchte sie ihre Freundin aus Münsteraner Jugendtagen Wilhelmine von Thielmann. Rüschhaus Nach dem Tod ihres Vaters 1826 wurde der Familienbesitz von ihrem Bruder Werner-Constantin übernommen, so dass sie und ihre ältere Schwester Jenny mit ihrer Mutter auf deren Witwensitz übersiedelten, das Haus Rüschhaus bei Gievenbeck, nicht weit von der Stadt Münster. Dort bewohnte Annette eine kleine Wohnung, die sie ihr „Schneckenhaus“ nannte. Auf engstem Raume pflegte die Dichterin jahrelang ihre Amme, der sie ihr Leben verdankte; sie war stolz, dass sie – trotz oder wegen ihrer eigenen Krankheiten – Kranke, darunter 1831 ihre Freundin Sibylle Mertens-Schaaffhausen, gut pflegen und ihren Bruder Ferdinand und ihren Stief-Onkel Fritz v. Haxthausen im Sterben begleiten konnte, auch wenn sie dadurch so manchen guten Einfall nicht mehr zu Papier bringen konnte. Annette bezog eine Apanage von ihrem Bruder Werner-Constantin, von der sie allerdings ein Kostgeld an ihre Mutter sowie Reisekosten bezahlen musste. Ihre Versorgung, die – übertragen auf heutige Verhältnisse – ungefähr dem Gehalt eines Volksschullehrers entsprach, reichte bei sparsamer Lebensweise zu ihrem Unterhalt und auch zu einer gewissen Wohltätigkeit aus, über deren Ausnutzung sie gelegentlich klagte. Andererseits musste sie sich in Vertretung ihrer reiselustigen Mutter, insbesondere nach dem Auszug ihrer Schwester Jenny, um die Verwaltung des kleinen Gutes und familiäre Angelegenheiten kümmern. Gleichwohl konnte Annette ihrer Liebhaberei nachgehen, dem Sammeln von Fossilien, Münzen und Antiquitäten, die in der Verwandtschaft getauscht wurden. In Rüschhaus war sie auch Gastgeberin ihres Freundeskreises. In dem damals abgelegenen, noch von Heide umgebenen Gehöft entstand z. B. ihre berühmte Judenbuche. Annette von Droste-Hülshoff besuchte von Rüschhaus aus den Literatursalon der 1831 nach Münster gezogenen Elise Rüdiger, dem sich ab 1837 auch Levin Schücking anschloss. Er beschrieb die außergewöhnliche Ausstrahlung der Dichterin rückblickend wie folgt: „Diese wie ganz durchgeistigte, leicht dahinschwebende, bis zur Unkörperlichkeit zarte Gestalt hatte etwas Fremdartiges, Elfen-haftes; sie war fast wie ein Gebilde aus einem Märchen. Die auffallend breite, hohe und ausgebildete Stirn war umgeben mit einer ungewöhnlich reichen Fülle hellblonden Haares, das zu einer hohen Krone aufgewunden auf dem Scheitel befestigt war. Die Nase war lang, fein und scharf geschnitten. Auffallend schön war der zierliche, kleine Mund mit den beim Sprechen von Anmut umlagerten Lippen und feinen Perlenzähnen. Der ganze Kopf aber war zumeist etwas vorgebeugt, als ob es der zarten Gestalt schwer werde, ihn zu tragen; oder wegen der Gewohnheit, ihr kurzsichtiges Auge ganz dicht auf die Gegenstände zu senken. Zuweilen aber hob sie den Kopf, um ganz aufrecht den zu fixieren, der vor ihr stand; und namentlich dann, wenn sie irgendeine humoristische Bemerkung oder einen Scherz machte dann hob sich lächelnd ihr Haupt, und wenn sie neckte, lag dabei auf ihrem Gesichte etwas von einem vergnügten Selbstbewußtsein, von einem harmlosen Übermut, der aus dem ganz außergewöhnlich großen, trotz seiner Gutmütigkeit so scharf blickenden Auge leuchtete.“ Eppishausen (Thurgau)/Schweiz Bedeutend für ihr literarisches Wirken waren die Reisen der Dichterin an den Bodensee. Dort lebte, zunächst auf Schloss Eppishausen im Schweizer Thurgau, ihr späterer Schwager, Freiherr Joseph von Laßberg („Sepp von Eppishusen“), ein Sammler und Erforscher mittelalterlicher Literatur und Freund zahlreicher Philologen und Dichter. Schon vor seiner Hochzeit mit Annettes Schwester Jenny hatte er durch seine Informationen zum Entstehen des Epos Hospiz auf dem großen Sankt Bernhard der Dichterin, die nie auf dem Großen St. Bernhard gewesen ist, beigetragen. Erst 1835/36, während der schwierigen Schwangerschaft ihrer Schwester, reiste die Dichterin in Begleitung ihrer Mutter erstmals in die Schweiz, lebte fast ein Jahr lang auf diesem Besitz ihres Schwagers und unternahm von dort aus gelegentlich Ausflüge bis in die Appenzeller Alpen und zur Familie Thurn-Valsassina auf Schloss Berg TG, die in Gedichten und Briefen ihren literarischen Niederschlag fanden. Sie befasste sich dort mit mittelalterlicher Literatur, insbesondere dem Lochamer Liederbuch und wurde u. a. bekannt mit den Schweizer Geschichtsforschern Johann Adam Pupikofer und Johann Caspar Zellweger. Altes Schloss Meersburg Ab 1841 wohnte die Dichterin vorwiegend bei ihrer Schwester und ihrem Schwager auf Schloss Meersburg am Bodensee. Im Winter 1841/42 wurde durch ihre Vermittlung ihr literarischer „Ziehsohn“ Levin Schücking dort Bibliothekar. Die sog. „Dichterwette“ mit ihm inspirierte sie zu einer großen Fülle lyrischer Gedichte. Wie auch viele ihrer dortigen Gedichte zeigen, sah Annette ihr Zuhause aber bis 1846 im Rüschhaus bei Nienberge, wo sie bei ihrer Mutter wohnte, diese auch gelegentlich in der Haushaltung unterstützte und immer wieder ihre Neffen und Nichten in Burg Hülshoff und Haus Stapel unterrichtete. Auf Schloss Meersburg hatte die Dichterin eine abgetrennte Wohnung, zu der auch ein Turm gehörte, von dem aus sie einen weiten Blick über den Bodensee genoss. Dort hielt ihr ihre Schwester den Rücken frei von gesellschaftlichen Verpflichtungen, andererseits war sie in deren Familie geborgen, zu der auch zwei Zwillingskinder gehörten. Sie und ihr Schwager Joseph von Laßberg schätzten sich zwar, er und die bei ihm verkehrenden Germanisten und Historiker, zu denen auch die Dichter Ludwig Uhland, Karl Simrock und Justinus Kerner zählten, lebten allerdings geistig „in einer anderen Welt“. Auch der damals schon betagte Ignaz Heinrich von Wessenberg, der sie zum Kennenlernen aufsuchte, blieb ihr fremd. Freundschaft fand sie jedoch ab 1842 bis zu ihrem Tode mit Charlotte Fürstin zu Salm-Reifferscheidt, die auf dem benachbarten Schloss Hersberg lebte. Ab 1844 erfreute sie dort die Anhänglichkeit der jungen, hochbegabten Philippa Pearsall, die mit ihrem Vater auf Schloss Wartensee am anderen Seeufer lebte und der sie ein Gedicht An Philippa widmete. In Meersburg fand die Dichterin die Balance zwischen Gesellschaft und Einsamkeit. Unter den dortigen Bürgern, „Leuten aus der alten Schule, die so ehrerbietig und doch würdig ihre Stellung auszufüllen wissen“, erholte sie sich. Durch die geschickte Verhandlung ihres jüngeren Freundes und Förderers Levin Schücking mit der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung erhielt Annette von Droste-Hülshoff erstmals ein ansehnliches Honorar für den Abdruck der Judenbuche im Morgenblatt für gebildete Stände. Hiervon konnte sie bei einer Versteigerung am 17. November 1843 ein Haus, das Fürstenhäusle, erwerben, in Aussichtslage oberhalb der Stadt Meersburg gelegen mit einem kleinen dazugehörigen Weinberg. Sie freute sich sehr darüber, konnte es aber wegen ihrer abnehmenden Gesundheit kaum mehr richtig genießen. Am Nachmittag des 24. Mai 1848 starb Annette von Droste-Hülshoff in ihrer Wohnung auf Schloss Meersburg am Bodensee, umsorgt von der Familie ihrer Schwester und ärztlich betreut von Laßbergs Sohn Hermann von Liebenau, vermutlich an einer schweren Lungenentzündung. Ihre letzten, von ihrer Schwester Jenny berichteten Worte sollen gewesen sein: „Ja! der liebe Gott meint es gut mit mir!“ Ihr Grab befindet sich in der Familiengrabstätte Laßberg-Droste zu Hülshoff auf dem Friedhof Meersburg in Meersburg nahe der alten Friedhofskapelle; neben ihr fanden ihre Freundin Amalie Hassenpflug und in der Nähe mehrere ihrer Verwandten ihre letzte Ruhe. Droste-Hülshoff als Schriftstellerin Annette von Droste-Hülshoff las seit früher Jugend viel und war gut über die deutsch-, englisch- und französischsprachige Literatur und die aktuellen literarischen Diskurse informiert. Schon ab ihrer Jugend stand sie über Anton Mathias Sprickmann, Wilhelmine von Thielemann und Adele Schopenhauer in Verbindung mit nahen Bekannten von Goethe und Schiller. Sie nutzte nicht nur ausgiebig die Hausbibliotheken an den Familiensitzen, sondern war eine eifrige Kundin der Bücherverleiher und Mitglied eines literarischen Salons in Münster, der sogenannten Heckenschriftsteller-Gesellschaft, den ihre enge Freundin Elise Rüdiger gegründet hatte und dem auch ihr literarischer Ziehsohn Levin Schücking angehörte. Zwar stand sie in brieflichem Kontakt mit zahlreichen intellektuellen Zeitgenossen innerhalb und außerhalb ihrer Familie; ihr Briefwechsel enthält viele literarische Kostbarkeiten und zeigt ihr klares Urteil über jüngere Schriftsteller, wie z. B. Ferdinand Freiligrath und den von ihr geförderten Wilhelm Junkmann. Jedoch lehnte sie die Anpassung an Modeströmungen und Bemühungen um Bekanntheit ab und war selbstbewusst genug, ihren Nachruhm vorauszusehen. Als die bereits 41-jährige Annette von Droste-Hülshoff 1838 bei Aschendorff ihren ersten Gedichtband – aus Angst vor der Reaktion noch halb anonym – veröffentlichte, war dies ein Misserfolg. Sie blieb jedoch ihrer Berufung treu, nahm ihre literarische Arbeit sehr ernst und war sich bewusst, große Kunst zu schaffen. Ihre Balladen wurden berühmt (u. a. Die Vergeltung und Der Knabe im Moor) wie auch ihre Novelle Die Judenbuche, die in viele Weltsprachen übersetzt und verfilmt wurde. Noch heute bedeutend ist auch ihre Lyrik. Die Natur des Münsterlandes, der Bodensee mit den Alpen und die geschichtsträchtigen Orte, an denen ihr Schaffen stattfand, wirkten inspirierend auf die Dichterin und wurden oft von ihr literarisch verarbeitet. Durch ihre eindringlichen Naturschilderungen wird sie noch heute als „die“ Dichterin Westfalens und auch des Bodensees wahrgenommen. Droste-Hülshoff gilt zwar seit dem Kulturkampf als katholische Dichterin, jedoch war ihr konfessionelle Enge ein Gräuel – viele ihrer nahen Bekannten und auch Verwandten waren evangelisch. Sie setzte sich auch mit religionskritischen Schriften, z. B. von Ludwig Feuerbach, auseinander und äußerte sich kritisch über Konversionen zum Katholizismus, wenn sie modisch-romantische Motive vermutete. Die Entrüstung ihrer Verwandten über das Kölner Ereignis beschrieb sie distanziert, vielmehr stand sie kirchlichen Reformbewegungen nahe – ihr Lieblingsvetter Clemens-August von Droste zu Hülshoff war Hermesianer und ihr Briefwechsel mit Bischof Melchior Diepenbrock zeigt Sympathie zum geistlichen Reformer Johann Michael Sailer. Ein wichtiges Dokument tiefer Religiosität ist ihr Gedichtzyklus Das geistliche Jahr, in dem aber – typisch für die Zeit – auch die Zerrissenheit des Menschen zwischen aufgeklärtem Bewusstsein und religiöser Gläubigkeit gestaltet wird. Annette von Droste-Hülshoff legt dort für jeden Tag des Kirchenjahres ein Gedicht vor, was sie als eine ernsthaft um ihren Glauben ringende praktizierende Katholikin zeigt. Sie widmete den ersten Teil dieses Werkes ihrer Mutter mit einer Widmung, die vorhersah, dass ihre inneren Kämpfe von dieser nicht voll verstanden werden würden. Manche Andeutungen in diesem Werk werden heute auch als autobiographisch erachtet, da sie über 20 Jahre lang an dem gesamten Zyklus arbeitete. Mit dem o. g. 17 Jahre jüngeren Literaten und Literaturkritiker Levin Schücking verband sie seit 1837 eine Dichterfreundschaft. Er war der Sohn der Dichterin und Freundin ihrer Eltern Katharina Sibylla Schücking, die starb, als Schücking ca. 17 Jahre alt war. Annette verhalf dem jungen Juristen zum Durchbruch, indem sie ihm anonym ihre Texte für das von ihm mit Freiligrath verfasste Werk Das malerische und romantische Westphalen überließ. Durch Annette von Droste-Hülshoffs Vermittlung wurde er 1841 bei ihrem Schwager auf Burg Meersburg Bibliothekar. Insbesondere unter der Inspiration ihrer mütterlichen Liebe und seiner literarischen Kenntnisse, die zu der sog. „Dichterwette“ führten, entstand in Meersburg ein Großteil der „weltlichen“ Gedichte. Die Abreise Schückings 1842, der weitere berufliche Entwicklung suchte und die Dichterin Louise von Gall heiratete, traf sie ebenso empfindlich, wie Indiskretionen über den Adel, die er, der sich der jungdeutschen Bewegung zuwandte, in seinem Werk Die Ritterbürtigen verarbeitete. So kam es – auch auf Druck ihrer Familie – zum Bruch der Beziehung mit ihrem Freund und Förderer. Das Werk der Annette von Droste-Hülshoff gehört literaturgeschichtlich anfangs noch der Romantik, z. B. mit der Judenbuche aber schon dem Realismus an. Die große Dichterin wollte nicht zu ihren Lebzeiten berühmt, sondern „nach hundert Jahren noch gelesen“ werden. In ihrer – fast modern zu nennenden – Seelenschau, in ihrer Opferbereitschaft, in ihrem Selbstbewusstsein und in ihrer gestalterischen Kraft übertraf sie viele Zeitgenossen und -genossinnen und wurde so bis heute zum Vorbild vieler Frauen. Bis in die heutige Zeit wird sie nicht nur im Schulunterricht gelesen, sondern ihr Leben und Werk inspiriert zeitgenössische Autoren und besonders Autorinnen. Die Vielschichtigkeit ihrer Persönlichkeit und ihres Werkes bietet Ansatzpunkte für psychologische und parapsychologische Interpretationen, aber auch für Fehldeutungen im Licht zeitgenössischer Ideologien. Die Droste bleibt letztlich ein nie ganz ausschöpfbares geniales Dichterphänomen. Droste-Hülshoff als Musikerin und Komponistin Annettes Werdegang zu einer der bedeutendsten Schriftstellerinnen ging zunächst mit dem einer Musikerin und Komponistin einher. Ihr Wirken als Komponistin wurde lange Zeit verdrängt oder vergessen. Dabei standen ihre Musik und ihr Dichten zunächst miteinander in Wechselwirkung. Annettes Eltern waren offen für Musik, ihr Vater war selbst passionierter Violinist. Im Stammsitz der Droste-Hülshoffs auf Burg Hülshoff befindet sich noch heute eine ansehnliche Noten- und Musikmaterialien-Sammlung, die für das häusliche Musizieren im Familienkreis unerlässlich war. Die Kinder der Familie wurden oft in Konzert- und Musiktheaterveranstaltungen mitgenommen und mit der zeitgenössischen Musik vertraut gemacht. Annettes Onkel Maximilian-Friedrich von Droste zu Hülshoff war selbst Komponist und Freund Joseph Haydns. Ab 1809 erhielt Annette Klavier- und Orgelunterricht, u. a. beim Organisten der Stiftskirche Hohenholte. Sie wurde oft gebeten, vorzuspielen oder andere am Klavier zu begleiten – so perfektionierte sie nach und nach ihr Können. 1812 schrieb ihre Mutter Therese begeistert, dass sich die Tochter „mit aller Heftigkeit ihres Charakters auf’s Componieren geworfen“ habe. Im Jahre 1820 gab Annette ihr erstes öffentliches Konzert in Höxter, bei dem sie unvorbereitet sowohl beim Gesang wie der Klavierbegleitung den Part anderer Mitwirkender übernahm. Erst spät, zwischen 1824 und 1831, erhielt Annette auch Gesangsunterricht. Über ihre Stimme wurde berichtet, sie sei „voll, aber oft zu stark u. grell, geht aber sehr tief, u. ist dann am angenehmsten“. Aus Köln wird berichtet, dass sie eine bessere Stimme als Angelica Catalani (1780–1849) gehabt habe, die als eine der besten Sopranistinnen ihrer Zeit galt. Annette gab auch anderen Familienmitgliedern Unterricht in Gesang und am Klavier. 1821 bekam Annette von ihrem Onkel Maximilian eine Ausgabe seiner Kompositionslehre Einige Erklärungen über den General=Baß und die Tonsetzkunst überhaupt geschenkt, worüber sie freudig schreibt: „Was folgt daraus? Dass ich aus Dankbarkeit das ganze Werk von Anfang bis zu Ende durchstudiere und auswendig lerne!“ Optimal vorbereitet – auch durch das Studium zeitgenössischer Musikschriften und Kompositionen – begann Annette zu komponieren. Zu vier Opernprojekten entstanden mehr oder weniger ausgeführte Libretti und Musik. 1836 wurde sie während eines Aufenthaltes im Schweizerischen Eppishausen auf das Lochamer Liederbuch aufmerksam gemacht und angeregt, die darin enthaltenen Lieder für Singstimme und Klavier zu bearbeiten. So haben sich rund 74 Lieder aus ihrer Feder erhalten, die sich ganz auf die Gebote der damaligen Liederschulen berufen und sich durch ihre leichte und eingängige Singbarkeit auszeichnen. Mit Clara Schumann und Robert Schumann stand Annette in brieflichem Kontakt: 1845 bat die berühmte Pianistin und Komponistin Annette – vergeblich – um ein Libretto, damit ihr Mann es vertone. Robert selbst hatte bereits ein Gedicht von Annette (Das Hirtenfeuer, op. 59,5) in Musik gesetzt, das 1844 in einer Gedichtsammlung erschienen war, die er sehr schätzte. Annette spielte ihre eigenen Werke nie öffentlich. Erst 1877 kam ihr Wirken als Komponistin ans Licht, als Christoph Bernhard Schlüter (1801–1884) einige Werke aus dem Nachlass der Dichterin veröffentlichen ließ (Lieder mit Pianoforte-Begleitung. Componirt von Annette von Droste-Hülshoff). Er setzte ihr auch im Nekrolog von 1848 ein Denkmal, indem er „ihr großes Talent für Gesang und Musik“ hervorhob und auch, dass sie die „seltenste Gabe“ besaß, „Poesie in Musik und Musik in Poesie zu übersetzen“. Erst im 20. Jahrhundert wurde ihr Nachlass komplett gesichtet und somit auch ihre Musik eingehender untersucht. Annette von Droste-Hülshoff verknüpfte ihre musikalische Begabung mit einem hohen Anspruch, was aber auch zu einem Konflikt mit ihren literarischen Ambitionen führte: „… das Operntextschreiben ist etwas gar zu Klägliches und Handwerksmäßiges.“ Letztlich hat sich Annette für die Poesie entschieden – die Musik trat in den Hintergrund. Ihr (musikalischer) Nachlass befindet sich heute als Dauerleihgabe in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster. Porträts und Fotografien Ihre Schwester Jenny malte mehrere Porträts der Dichterin. Eine Miniatur, die 1820 von Jenny geschaffen worden war, diente später als Vorlage für die Gestaltung der vierten Serie der 20-DM-Banknote mit ihrer berühmten Schwester. Als Jugendliche war Annette von Droste-Hülshoff um 1818 auch von C. H. N. Oppermann gemalt worden. Neben einer Zeichnung von Adele Schopenhauer aus dem Jahr 1840 existieren viele Gemälde von Johann Joseph Sprick (1808–1842), den sie oft finanziell unterstützte. Fotografisch porträtiert wurde sie von Friedrich Hundt, durch den Daguerreotypien von Annette von Droste-Hülshoff der Nachwelt erhalten blieben. Ehrungen Neben der bereits erwähnten 20-DM-Banknote war Annette von Droste-Hülshoff auch als Motiv auf zwei deutschen Briefmarken-Dauerserien zu sehen: ab 1961 im Rahmen der Serie Bedeutende Deutsche und ab 2002 im Rahmen der Serie Frauen der deutschen Geschichte. Anlässlich des 225. Geburtstages wurden im Januar 2022 eine Sonderbriefmarke und eine 20-Euro-Silbermünze herausgegeben. Der Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis, der Asteroid (12240) Droste-Hülshoff und der Droste-Preis der Stadt Meersburg wurden nach ihr benannt. Mehrere Schulen und Straßen in zahlreichen Städten führen ihren Namen. Im Schlosspark von Burg Hülshoff befindet sich ein Denkmal von Anton Rüller und Heinrich Fleige aus dem Jahr 1896. Das Denkmal diente als Vorlage für eine Büste, die sich heute in der Nähe der Burg Meersburg befindet. Sie wurde kurz danach von Emil Stadelhofer gefertigt. Auch für das Brustbild auf einen Teil der Notmünzen der Provinz Westfalen und der dazugehörigen Zwittermedaille wurde dieses Denkmal als Vorlage verwendet. Der Droste-Stein im Königslau, einem Wald in der Nähe von Bökendorf, wurde im Jahr 1964 zur Erinnerung an Annette von Droste-Hülshoff errichtet. Der Hinweis auf den Standort der Judenbuche beruht auf einem Irrtum. Der Mord an dem Juden Soistmann Berend aus Ovenhausen am 10. Februar 1783, der die Droste zu ihrer Novelle Die Judenbuche anregte, geschah am Südhang des Berges auf dem Waldweg von Bökendorf nach Ovenhausen. Im Münsteraner Tatort bringen die Autoren immer wieder eine Hommage an Droste-Hülshoff unter, etwa in Folge 511 (Der dunkle Fleck, 2002), an deren Anfang die Ballade Der Knabe im Moor gebracht wird, oder in Folge 659 (Ruhe sanft!, 2007), in der in einer nächtlichen Friedhofsszene Die tote Lerche rezitiert wird. Der Konstanzer Tatort widmete 2015 die 935. Folge Château Mort einem – frei erfundenen – „Hochzeitswein“ der (unverheirateten) Annette von Droste-Hülshoff. Tatsächlich produziert das Staatsweingut Meersburg, das auch die der Dichterin ehemals gehörenden Reben bewirtschaftet, seit 1998 ihr zu Ehren einen Wein Cuvée Annette. In vielen Städten wurde eine Straße nach Annette von Droste-Hülshoff benannt, auch in ihrem Heimatort Roxel. Zudem wird der Stadtteil Münsters am Ortseingangsschild als Geburtsort der Dichterin beworben. Im Juni 2012 wurde bekannt, dass die Gemeinde Havixbeck, der nach der kommunalen Neuordnung im Jahre 1975 die Burg Hülshoff zugeschlagen wurde, plane, ihre Ortseingangsschilder mit dem Zusatz „Havixbeck – Geburtsort der Annette von Droste-Hülshoff“ zu versehen, was in Roxel als „Geschichtsverfälschung“ kritisiert wurde. Literarische Rezeption „Die Droste“ war und ist Gegenstand zahlreicher literaturwissenschaftlicher Studien, die insbesondere durch die Annette-von-Droste-Gesellschaft und die Droste-Forschungsstelle des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe gefördert werden. Ihr literarisches und musikalisches Werk sowie ihre Korrespondenz sind durch eine historisch-kritische Werkausgabe und die Droste-Jahrbücher gut erschlossen. Ihr Andenken als bedeutendste Dichterin des 19. Jahrhunderts und eine der frühesten und wichtigsten deutschsprachigen Dichterinnen wird auch durch die Droste-Museen an ihren Wirkungsstätten, durch Droste-Literaturpreise, durch die Annette von Droste zu Hülshoff-Stiftung mit ihrem center for literature auf Burg Hülshoff, durch zahlreiche Schulen mit ihrem Namen und durch Romane und Filme mit Bezug zu ihrem Leben und Schaffen aktuell gehalten. Schriftsteller wie z. B. Gertrud von le Fort, Reinhold Schneider und Werner Bergengruen schätzten Annette von Droste-Hülshoff. Sarah Kirsch drückt in ihrem Gedicht Der Droste würde ich gerne Wasser reichen ihre Bewunderung für die Kollegin aus, mit der sie, die „Spätgeborene“, „glucksend übers Moor“ geht, und interpretiert die Beziehung Droste-Hülshoffs zu Levin Schücking (Ihr Lewin, Beide lieben wir den Kühnen). Mit dem Leben der Droste befassen sich mehrere Biografien und biografische Romane. Karen Duve z. B. erzählt mit Fräulein Nettes kurzer Sommer, erschienen 2018, in Romanform mit detailreichem Blick auf das familiäre Umfeld und das Milieu der jungen Spätromantiker von einer kurzen Phase im Leben der 20-jährigen Droste-Hülshoff, die sich als tiefgreifende Zäsur prägend auf ihr weiteres Leben und Werk auswirkte. Annette von Droste-Hülshoff regte auch das schriftstellerische Talent späterer Mitglieder ihrer Familie an: Ihr Neffe Ferdinand von Droste zu Hülshoff, ihr Patenkind Elisabeth von Droste zu Hülshoff, ihre Nichte Therese Dahn und ihr Ur-Urgroßneffe Wilderich von Droste zu Hülshoff (u. a. Verfasser des Buches Annette v. Droste-Hülshoff im Spannungsfeld ihrer Familie) publizierten bzw. publizieren belletristisch. Ein Brief von Annette von Droste-Hülshoff an Anton Matthias Sprickmann aus dem Jahr 1819 wurde von Walter Benjamin in die Briefsammlung Deutsche Menschen aufgenommen. Droste-Museen Burg Hülshoff bei Havixbeck Haus Rüschhaus, Münster Fürstenhäusle, Meersburg Burg Meersburg, Meersburg Schloss Bökerhof, Bökendorf Archive und Stiftungen Im Westfälischen Literaturarchiv des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) werden Arbeitsmanuskripte und Reinschriften aus dem „Meersburger Nachlass“ der Annette von Droste-Hülshoff aufbewahrt und digitalisiert. Am 28. September 2012 wurde die Annette von Droste zu Hülshoff-Stiftung offiziell anerkannt. Sie will das Geburtshaus der Dichterin auf Burg Hülshoff bei Havixbeck dauerhaft für die öffentliche Nutzung erhalten. Darüber hinaus werden literarische Veranstaltungen, Ausstellungen und Forschungsvorhaben gefördert. Lyrik-Wanderweg Seit dem Frühjahr 2021 gibt es zwischen den westfälischen Erinnerungsorten der Dichterin einen Lyrik-Wanderweg für Wanderer und Radfahrer mit zahlreichen Stationen und lehrreichen Hinweisen zu ihrem Werk. Werke Dichtungen Gedichte. Aschendorffsche Buchhandlung, Münster 1838. Hospiz auf dem großen Sankt Bernhard (Epos, 1828–1833) Des Arztes Vermächtnis (Epos, 1834) Die Schlacht vom Loener Bruch A. 1623 (Epos, 1837/38) Der Säntis Am Weiher Der Graf von Thal Fragment Die Judenbuche (Novelle erschienen in der Zeitschrift Morgenblatt für gebildete Leser), 1842. Gedichte. Cotta, Stuttgart/Tübingen 1844 (; Volltext nach der Ausgabe Liechtensteinverlag, Vaduz 1948 auf Gutenberg-DE) Zeitbilder (1841–1843) Haidebilder (1842) Der Knabe im Moor (Ballade, 1842) Fels, Wald und See (1841–1843) Am Thurme Das öde Haus Im Moose Gedichte verschiedenen Inhalts Die Taxuswand (1841) Das Spiegelbild (1842) Alten Pfarrers Woche Das Eselein Die beste Politik Scherz und Ernst Balladen (1840–1842) Die Vergeltung Die Vendetta Der Fundator Die Schwestern Der Tod des Erzbischofs Engelbert von Köln Das Fegefeuer des westfälischen Adels Die Stiftung Cappenbergs Kurt von Spiegel Das Fräulein von Rodenschild Der Spiritus des Roßtäuschers Mondesaufgang (Gedicht, 1844) Im Grase (Gedicht, 1844) Westfälische Schilderungen. (1845) Das geistliche Jahr (Gedicht-Zyklus), 1818–1820/1839–1840 (projekt-gutenberg.org). Am letzten Tag des Jahres (Silvester) Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Rümpler; Grimpe, Hannover 1860 (; Volltext nach der Ausgabe Liechtensteinverlag, Vaduz 1948 auf Gutenberg-DE) Joseph. Eine Kriminalgeschichte. Fragment, geschrieben 1845, veröffentlicht 1886. Bei uns zu Lande auf dem Lande (Fragment, Nachlass), 1862. Briefe von Annette von Droste-Hülshoff und Philipp W.. Winfried Woesler (Hrsg.): Historisch-kritische Ausgabe. Werke, Briefwechsel. 13 Bände in 25 Teilbänden. Niemeyer, Tübingen 1978–2000 Annette von Droste-Hülshoff: Gedichte und Prosa. Manesse, Zürich 1998, ISBN 3-7175-1100-9 (Auswahl und Nachwort von Emil Staiger). (Irmgard Elfriede) I. E. Walter (Hrsg.): Droste-Hülshoffs Werke in einem Band. Bearbeitet und gedeutet für die Gegenwart. Reihe: Die Bergland-Buch-Klassiker. Das Bergland-Buch, Salzburg 1954; wieder: Deutscher Bücherbund, o. J. (1954) Musikwerke (Auswahl) 15 Lieder für Singstimme und Klavier (etwa bis Herbst 1838), in Reinschrift zusammengefasst Minnelieder, 5 Lieder für dasselbe (vor 1834) 8 Einzellieder für dass 4 Liedfragmente für dass 4 mehrstimmige Lieder Lochamer Liederbuch für Singstimme und Klavier (1836, Bearbeitung) Musikalische Bühnenwerke Babilon (nach Babylon von Friedrich de la Motte Fouqué), 3 Idyllen aus dem Frauentaschenbuch für das Jahr 1820, S. 1–38 (zwischen 1820 und 1837), Vorspiel und Musik für 6 Textpassagen als Orchester- und/oder Klavierfassung Der blaue Cherub (nach Der blaue Cherub, Singspiel von Adam Oehlenschläger, Kassel 1823, 1828) (zwischen 1823 und 1837), Anmerkungen für die geplante Komposition, Verzeichnis der Stimmlagen für die handelnden Personen erhalten; Arie für Singst. und Kl. Einst zogs mich nach Südlands Auen Der Galeerensklave (nach Der Galeeren-Sklav von M. Fernouillot de Falbaire, dt. Münster 1777) (1820er Jahre), Libretto als Prosa-Entwurf, keine Musik erhalten Die Wiedertäufer (etwa zwischen 1837 und 1839), nur musikalische Motive erhalten Literatur Einer der bekanntesten Autoren zu und Herausgeber von Werken von Annette von Droste-Hülshoff war Clemens Heselhaus. Er gab Ausgewählte Werke, Werke. In einem Band und Sämtliche Werke heraus, die in mehreren Auflagen erschienen. Wilderich von Droste zu Hülshoff: Annette von Droste-Hülshoff im Spannungsfeld ihrer Familie. Band XI. der Reihe Aus dem deutschen Adelsarchiv. C. A. Starke Verlag, Limburg (Lahn) 1997, ISBN 3-7980-0683-0. Ottmar Fuchs: Subkutane Revolte. Annette von Droste-Hülshoffs »Geistliches Jahr«. Eine theologische Entdeckung. Grünewald, Ostfildern 2021, ISBN 978-3-7867-3261-7. Wilderich von Droste zu Hülshoff: 900 Jahre Droste zu Hülshoff. 2. erweiterte Auflage, Verlag LPV Hortense von Gelmini, Horben 2022, ISBN 978-3-936509-19-9. Franz Josef Kosel: Die wilde hartbezähmte Glut. Das Leben der Annette von Droste-Hülshoff in Bildern. Anno-Verlag, Ahlen 2019, ISBN 978-3-939256-86-1. Cornelia Blasberg, Jochen Grywatsch (Hrsg.): Annette von Droste-Hülshoff Handbuch. de Gruyter, Berlin 2018, ISBN 978-3-11-035194-1. Peter Berglar: Annette von Droste-Hülshoff in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt, Reinbek 1967, ISBN 3-499-50130-9 (ISBN der 16. Auflage 1992). Angelika Jakob: Muss wandeln ohne Leuchte. Annette von Droste-Hülshoff – eine poetische Biographie. Siegen 1997 (Paderborn 1994), ISBN 3-927104-66-3. Barbara Beuys: Blamieren mag ich mich nicht. Das Leben der Annette von Droste-Hülshoff. München 1999, ISBN 3-446-19751-6. Clemens Heselhaus: Annette von Droste-Hülshoff. Bagel, Düsseldorf 1971, ISBN 978-3-513-02119-9. Wilhelm Kreiten: Anna Elisabeth Freiin von Droste-Hülshoff. Ein Charakterbild als Einleitung in ihre Werke. Paderborn 1886, 2. Auflage 1900. Herbert Kraft: Annette von Droste-Hülshoff. 5., neubearb. Auflage, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1998, ISBN 3-499-50517-7. Ronald Schneider: Annette von Droste-Hülshoff. 2., vollständig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart 1995. Walter Gödden: „Sehnsucht in die Ferne“ – Reisen durch die Biedermeierzeit. Drosten, Düsseldorf 1996, ISBN 3-7700-1071-X. Herbert Kraft: Annette von Droste-Hülshoff. Ein Gesellschaftsbild. Aschendorff, Münster 1996, ISBN 3-402-03214-7. Doris Maurer: Annette von Droste-Hülshoff. Turm-Verlag, Meersburg 1996, ISBN 3-929874-01-6. Ursula Koch: Nur ein Leuchten dann und wann. Brunnen Verlag, Gießen 2001, ISBN 3-7655-1685-6. Ortrun Niethammer (Hrsg.): Transformationen. Texte und Kontexte zum Abschluss der Historisch-kritischen Droste-Ausgabe. Festakt und Tagung in Münster am 6. Juli und am 13./14. Juli 2001. Aisthesis-Verlag, Bielefeld 2002, ISBN 3-89528-381-9 (= Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen. 6). Gert Oberempt: Die Dichter und die Droste. Produktive Lektüre in der klassischen Moderne. (= Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen. Band 7) Aisthesis-Verlag, Bielefeld 2003, ISBN 3-89528-408-4. Dieter Borchmeyer: Des Grauens Süße. Annette von Droste-Hülshoff. Hanser, München 1997. Überarb. Neuaufl.: Annette von Droste-Hülshoff. Darf nur heimlich lösen mein Haar. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2003. Winfried Woesler, Ulrich Wollheim (Hrsg.): Droste-Jahrbuch 5 (1999–2004). Münster 2004. Ilse Pohl: Miniaturen – Über Cornelia Goethe, Adele Schopenhauer, Clara Schumann und Annette von Droste-Hülshoff. Verlag der Cornelia Goethe Akademie, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-933800-06-4. Monika Ditz, Doris Maurer: Annette von Droste-Hülshoff und ihre Freundinnen. Turm-Verlag, Meersburg 2006, ISBN 3-929874-05-9. Heiko Postma: „Und darf nur heimlich lösen mein Haar …“ Über die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. jmb-Verlag, Hannover 2008, ISBN 978-3-940970-08-4. Jochen Grywatsch, Winfried Woesler (Hrsg.): Droste-Jahrbuch 6, 2005/2006. 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Droste-Rezeption im 19. Jahrhundert. Dokumentation, Analysen, Bibliographie. Erstellt in Zusammenarbeit mit A. Haverbush, L. Jordan, 2 Bde., Frankfurt am Main/Bern/Cirencester 1980. Bodo Plachta, Winfried Woesler (Hrsg.): Annette von Droste-Hülshoff. Sämtliche Werke in zwei Bänden. Deutscher Klassiker-Verlag, Frankfurt am Main 1994 (in Bd. 2 die Libretti). ISBN 3-618-62000-4. Bodo Plachta (Hrsg.): Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848). „aber nach hundert Jahren möchte ich gelesen werden“. Ausstellungskatalog, Wiesbaden 1997. ISBN 978-3-88226-898-0. Vanessa Höving: Projektion und Übertragung. Medialitätsverhandlungen bei Droste-Hülshoff. Rombach Druck- und Verlagshaus, Freiburg 2018, ISBN 978-3-7930-9903-1. 268 S. Juliane Prade-Weiss: For Want of a Respondent: Climate Guilt, Solastalgia, and Responsiveness [Zum Gedicht „An einem Tag wo feucht der Wind“]. In: The Germanic Review, 96.2, 2021, special issue Schuld im Anthropozän. Ed. Benjamin Lewis Robinson and Juliane Prade-Weiss, S. 195–213. Kindlers Literatur Lexikon. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. 3., völlig neu bearbeitete Auflage, 18 Bde., Metzler, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-476-04000-8. Bd. 3, S. 781–786. Gedichte und Interpretationen. Bd. 4: Vom Biedermeier zum Bürgerlichen Realismus. Hrsg. von Günter Häntzschel. Reclam, Stuttgart 2000 [zuerst 1983]. S. 145–167 [Interpretation zu Am letzten Tage des Jahres (Silvester) von Winfried Woesler und Im Grase von Heinz Rölleke]. ISBN 978-3-15-007893-8. Ludwig Bäte: Annette am Bodensee. Versuch einer Deutung. Verlag Deutsche Volksbücherei, Goslar 1947, . Belletristik Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer. Roman. Galiani, Berlin 2018, ISBN 978-3-86971-138-6. Maria Regina Kaiser: Annette von Droste-Hülshoff. Dichterin zwischen den Feuern. Romanbiografie. Südverlag, Konstanz 2021, ISBN 978-3-87800-144-7. Hochschulschriften Wilhelm Gössmann: Das Schuldproblem im Werk Annettes von Droste-Hülshoff. Tokio 1956, (Dissertation Universität München, Philosophische Fakultät, 11. Juni 1956, 164 gezählte Blätter, 4, Maschinenschrift). Rüdiger Nutt-Kofoth: Letzte Gaben von Annette von Droste-Hülshoff: (1860); zum editionsphilologischen Umgang mit einer frühen Nachlaßedition; eine exemplarische Untersuchung (= Arbeiten zur Editionswissenschaft, Band 5), Lang, Bern u. a. 1996, ISBN 3-906763-46-3 (Dissertation Universität Osnabrück 1996, Band 1: Untersuchungen. 602 Seiten, 23 cm; Band 2: Beigabe: Faksimiliendruck der Ausgabe, Droste, Münster 1860, 292 Seiten, 22 cm). Medien Audio-Book: Annette von Droste-Hülshoff. HörVerlag, München 1997 (Inhalt: Walter Gödden, Nachtwandlungen. Hörspiel – Penny S. Michel liest Gedichte der Droste). „Levin, lieber Junge“. Annette von Droste-Hülshoffs Briefwechsel mit Levin Schücking. Ardey, Köln/Münster 2000, ISBN 3-87023-119-X [Edition Nyland. zwei Audio CDs]. Annette von Droste-Hülshoff: Ledwina. Ein Hörfeature von Walter Gödden. Gelesen von Sabine Negulescu. Aschendorff, Münster 2007, ISBN 978-3-402-00435-7. Allein mit meinem Zauberwort, Annette von Droste-Hülshoff am Bodensee. VHS-Video, SWR Landesschau 2000, SWR Media, Baden-Baden. Annette Droste. Gedichte – Prosa – Briefe – Musik. 3 CDs mit vollständigem Text. Lutz Görner. Am Flügel: Annekatrin Sonn, Naxos Hörbücher – Putzbrunn/München/Kirchheim bei München 2002, ISBN 978-3-89816-110-7. „Wenn ich träume …“ Droste-Musik aus dem Fürstenhäusle in Meersburg. Annette und Maximilian von Droste-Hülshoff. WETO-Verlag, CD 98029, 1998. Allein mit meinem Zauberwort. Annette von Droste-Hülshoff. Ihr Leben in Briefen, Gedichten, Prosa und Musik. Von Georg Brintrup. Soirée des SWR mit Marianne Kehlau, Ludwig Thiesen, Armas Sten Fühler, Friedrich von Bülow, Gisela Zoch-Westphal, Gert Westphal u. a. Erstsendung am 10. Juni 1978 (160 Minuten). Weblinks Droste-Portal der LWL-Literaturkommission Annette von Droste-Hülshoff im Internet Archive Annette von Droste-Hülshoff bei der Ausstellung Archivierte Tiere der Literaturkommission für Westfalen und des Westfälisches Literaturarchiv Ulrich Goerdten: . . Droste-Handschriften in deutschsprachigen Bibliotheken und Archiven. Gedichte bei Wortblume Nach100jahren.de – literarisches Web-Projekt über Annette von Droste-Hülshoff Sammlung Annette von Droste-Hülshoff in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster Website der Burg Hülshoff – Informationen zur Annette von Droste zu Hülshoff-Stiftung Christiane Kopka: 10. Januar 1797 - Die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff wird geboren WDR ZeitZeichen vom 10. Januar 2022. (Podcast) SWR 2 Musikstunde 17. April 2023: Annette von Droste-Hülshoff – Literatur, Musik und ganz viel Verwandtschaft (Teil 1 bis 5, je 60 Minuten) Anmerkungen Autor Literatur des Biedermeier Literatur (19. Jahrhundert) Literatur (Deutsch) Lyrik Novelle Brief (Literatur) Komponist (Romantik) Komponist (Deutschland) Westfälische Kunst Schriftsteller (Münster) Person (Meersburg) Person als Namensgeber für einen Asteroiden Annette Annette Deutscher Geboren 1797 Gestorben 1848 Frau
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https://de.wikipedia.org/wiki/Aktualismus%20%28Geologie%29
Aktualismus (Geologie)
Der Aktualismus (lat. „wirklich“), auch Aktualitätsprinzip, Uniformitäts- oder Gleichförmigkeitsprinzip, englisch Uniformitarianism, ist die grundlegende wissenschaftliche Methode in der Geologie. Allgemeines Das Prinzip der Gleichförmigkeit der Prozesse besagt, dass die geologischen Vorgänge der Gegenwart sich nicht von denen der erdgeschichtlichen Vergangenheit unterscheiden. Diese Annahme bildet die theoretische Grundlage, um mithilfe vergleichender Ontologie von aktuellen geologischen Bildungsprozessen direkte Rückschlüsse auf solche in der Vergangenheit ziehen zu können. Finden sich beispielsweise in Sedimentgestein Strukturen, die denen in Sedimenten von heute gleichen (z. B. Rippelmarken), lässt sich daraus ableiten, dass sich die fossilen Strukturen im Gestein auf dieselbe Weise gebildet haben wie die rezenten im Sediment und es sich somit um dieselbe Art von Sedimentstruktur handelt. Damit stellt der Aktualismus einen Sonderfall einer allgemeinen wissenschaftlichen Regel dar, des Einfachheitsprinzips. Es besagt, dass man keine zusätzlichen oder unbekannten Ursachen zur Erklärung eines Phänomens heranziehen soll, solange bekannte Ursachen dafür ausreichen. Das Gegenteil der aktualistischen Methode ist der Exzeptionalismus. Noch allgemeiner gefasst ist das Axiom der Gleichförmigkeit der Gesetze. Hierbei nimmt man an, dass überall und zu jeder Zeit dieselben Naturgesetze herrschen und geherrscht haben. Wie jedes Axiom ist es prinzipiell nicht beweisbar, aber ohne diese Grundannahme wäre wissenschaftliches Arbeiten von vornherein unmöglich. Der Aktualismus wurde als Hypothese mehrfach angefochten, zuletzt durch die Vertreter der Historizität. Dieser Begriff besagt, dass die Naturgesetze sich mit den Bedingungen in geologischen Zeiträumen geändert haben können. Wir würden also heute mit einem Maßstab messen, der sich zeitabhängig geändert hätte. Die theoretische Physik geht hingegen von einer Permanenz und Konstanz der Naturgesetze aus. Die Veränderlichkeit von Anfangs- und Randbedingungen geologischer Prozesse im Verlauf der Erdgeschichte reicht demnach aus, um die in der geologischen Überlieferung auftretenden Phänomene, die kein gegenwärtiges Pendant haben, zu erklären. Lyells Gegenmodell zum Katastrophismus Von einigen Vorläufern abgesehen (Georg Christian Füchsel, Georges-Louis Leclerc de Buffon) wurde der Aktualismus zuerst 1788 von James Hutton (1726–1797) in seinem Werk Theory of the Earth formuliert und danach von Charles Lyell in seinem Hauptwerk Principles of Geology (1830) weiterentwickelt. Allerdings vermengte Lyell diese methodologischen Ansätze, die selbst von seinen Gegnern nie bezweifelt wurden, in geschickter (aber unzulässiger) Weise mit seiner Theorie von der Gleichförmigkeit der Veränderungen (Gradualismus). Im Gegensatz zum damals noch herrschenden Erklärungsmodell des Katastrophismus glaubte Lyell, dass es in der Erdgeschichte niemals zu Phasen erhöhter geologischer Aktivität gekommen sei, wie etwa verstärkter Vulkanismus, besondere Gebirgsbildungsphasen oder eine schubweise beschleunigte Entwicklung der Lebewesen. Selbst umfassende Umwälzungen der Erde seien ausschließlich durch die langsame Summierung von unzähligen kleinen Ereignissen zu erklären, die sich nach und nach, im Laufe riesiger Zeiträume, akkumuliert hätten. Ebenso vertrat Lyell die Gleichförmigkeit der Zustände. Zum Beispiel widersprach er der damals (und heute) gängigen Ansicht, die Erde müsse aus einem einstmals glutflüssigen Zustand erstarrt sein, und behauptete ein immer gleichbleibendes Verhältnis zwischen kontinentaler Kruste und Ozeanbecken. Auf Grund von Lyells rhetorischem Geschick wurden seine gradualistischen Ansichten rasch von breiten Kreisen übernommen, und besonders Georges Cuviers katastrophistische Kataklysmentheorie wurde schon um 1850 fast vollständig zurückgedrängt. Obwohl Charles Darwin in seiner Evolutionstheorie ebenfalls eine sehr langsame Entwicklung der Lebewesen in unmerklich kleinen Schritten annahm und damit ganz erheblich zur allgemeinen Akzeptanz des Gradualismus beitrug, kostete es Lyell große Mühe, Darwins Theorie zu akzeptieren. Seiner Meinung nach implizierte die Entstehung völlig neuer biologischer Arten eine viel zu große (weil unumkehrbare) Veränderung im Laufe der Erdgeschichte. Erst gegen Ende seines Lebens gab Lyell unter der erdrückenden Last der Belege nach und schloss sich Darwins Theorie an. Ebenso sah sich Lyell später gezwungen, die Eiszeittheorie von Louis Agassiz anzuerkennen. Dieser wandte bei seiner Erforschung der Gletscher zwar ebenfalls klare aktualistische Methoden an, blieb aber als Schüler Cuviers Anhänger einer Katastrophenlehre. Weitere frühe Vertreter des Aktualismus waren Constant Prévost und Karl Ernst Adolf von Hoff. Grenzen des Aktualismus Schon eben jener Karl Ernst Adolf von Hoff, ein Zeitgenosse Lyells, erkannte in seinem Werk Geschichte der durch Überlieferung nachgewiesenen natürlichen Veränderungen der Erdoberfläche (1822–1834), dass der Aktualismus als wissenschaftliche Methode zwar unumgänglich ist, dass er aber als Theorie gelegentlich an seine Grenzen stößt. Hoff war der Meinung, dass zuweilen besondere Hypothesen zur Erklärung früherer Vorgänge herangezogen werden dürften, jedoch nur, wenn die Beobachtungen gegenwärtiger Vorgänge und Kräfte dazu nicht ausreichten. Wegen des Erfolges des Lyell’schen Gradualismus gerieten solche Ansätze jedoch weitgehend in Vergessenheit. Erst im Laufe der 1960er und 70er Jahre setzten sich verschiedene Autoren, wie Reijer Hooykaas, Stephen Jay Gould, Martin Rudwick und Roy Porter, wieder kritisch mit dem mehrdeutigen Gleichförmigkeitsbegriff auseinander, wobei sie besonders die Trennung der (axiomatischen) Methode von der (widerlegbaren) Theorie herausarbeiteten. Dies erleichterte in der Folge die „Renaissance“ von katastrophistischen Theorien über den Verlauf der Erdgeschichte, wie zum Beispiel die Deutung der weltweiten Iridium-Anomalie als Resultat eines Meteoriteneinschlags an der Grenze Kreide-Tertiär. Ein Beispiel für die Grenzen der eigentlichen aktualistischen Methode liefert die Interpretation archaischer Tektonik. Hierfür ist es nötig, auf Laborexperimente zurückzugreifen, denn im Archaikum hatte sich das Gestein der Erdkruste noch nicht in die heute zu beobachtenden kontinentalen und ozeanischen Krusten getrennt, konnte sich somit auch noch nicht nach den Gesetzen der heute wirkenden Tektonik verhalten. Ebenso war der Sauerstoffgehalt in der archaischen Atmosphäre so gering, dass sich als Folge riesige Lagerstätten von Eisenmineralen formen konnten, die Bändereisenerze (engl. Banded Iron Formation), deren Bildung heute völlig ausgeschlossen wäre. Generell gilt, dass mit zunehmendem Abstand von der Gegenwart eine aktualistische Deutung geowissenschaftlicher Befunde immer unsicherer wird. Siehe auch: Geschichte der Geologie Literatur Marcia Bjornerud: Zeitbewusstheit. Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten. 2. Auflage. MSB Matthes & Seitz Berlin, 2020, ISBN 978-3-95757-923-2. Stephen Jay Gould: Time’s Arrow, Time’s Cycle. Myth and Metaphor in the Discovery of Geological Time. Harvard University Press, 1987. Reprint in Penguin Books 1990. ISBN 0-14-013572-3. (dt. Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil und Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde. ISBN 0-674-89199-6) Stephen Jay Gould: Is uniformitarianism necessary? In: American Journal of Science. Band 263, 1965. S. 223–228. Reijer Hooykaas: The Principle of Uniformity in Geology, Biology, and Theology. E. J. Brill, Leiden 1963. Roy Porter: Charles Lyell and the principles of the history of geology. In: British Journal for the History of Science. Band 9, 1976. S. 91–103. Martin J. S. Rudwick: The Meaning of Fossils. Macdonald, London 1972. Dierk Henningsen: Aktualismus in den Geowissenschaften – Die Gegenwart als Schlüssel zur Vergangenheit. In: Naturwissenschaftliche Rundschau. Band 62, Nr. 5, 2009, , S. 229–232. Weblinks Aktualismus als Forschungsprinzip (auf der Seite der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft im Internet Archive) Einzelnachweise Historische Geologie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Albrecht%20%28Preu%C3%9Fen%29
Albrecht (Preußen)
Albrecht von Preußen (* 17. Mai 1490 in Ansbach; † 20. März 1568 auf Burg Tapiau) war ein Prinz von Ansbach aus der fränkischen Linie der Hohenzollern und ab 1511 der letzte Hochmeister des Deutschen Ordens in Preußen. Er trat 1525 zur Reformation über, säkularisierte den Deutschen Orden in Preußen in seiner Eigenschaft als eine Ordensgemeinschaft und verwandelte als erster Herzog in Preußen die katholisch dominierte weltliche Herrschaft des Deutschordensstaates in Preußen in das erbliche lutherische Herzogtum Preußen, das er bis zu seinem Tod als Herzog regierte. Herkunft Geboren wurde Albrecht am 17. Mai 1490 in Ansbach. Sein Vater war Friedrich V., Markgraf von Brandenburg-Ansbach. Seine Mutter Sofia Jagiellonka war eine Tochter des polnischen Königs Kasimir IV. Jagiello und Elisabeth von Habsburg, einer Tochter des deutschen Königs Albrecht II. und Enkelin Kaiser Sigismunds. Seine Eltern bestimmten Albrecht im Sinne der Dispositio Achillea zur geistlichen Laufbahn. Leben In seinem 21. Lebensjahr wählte ihn der Deutsche Orden 1511 zum 37. Hochmeister. Der Orden beabsichtigte, die 1466 im Zweiten Frieden von Thorn gegenüber dem König von Polen eingegangene Heeresfolge abzuschütteln. Voraussetzung war, dass der neu gewählte Hochmeister den Lehnseid gegenüber dem König Sigismund I. verweigert. Daher erschien Albrecht, der Sohn eines regierenden Fürsten des Heiligen Römischen Reichs und Neffe Sigismunds, dem Ordenskapitel für das Hochmeisteramt als besonders geeignet. Im Vertrauen auf die Beistandspflicht des Deutschmeisters und des Landmeisters von Livland verweigerte Albrecht dem polnischen König den Lehnseid. Sigismund erreichte jedoch 1513 eine Mahnung des Papstes an Albrecht und 1515 von Kaiser Maximilian die Anerkennung des Friedens von 1466, wofür er im Gegenzug dessen Königtum in Böhmen und Ungarn unterstützte. Nachdem Maximilians Nachfolger Karl V. bei seiner Thronbesteigung 1519 Albrecht zum Lehnseid aufgefordert hatte und klar geworden war, dass weder aus dem Reich noch aus Livland Unterstützung für Albrecht zu erwarten war, fielen polnische Truppen im Verlauf des Reiterkriegs im Winter 1519/1520 in den Ordensstaat ein, um den Orden zu unterwerfen. Wider Erwarten kam es zu keiner Entscheidung. Dänische Unterstützung, ein Söldnerheer aus dem Reich und vor allem die Angst vor dem mit Albrecht verbündeten Russland veranlassten Sigismund, mit Albrecht, dessen Söldner immer aufsässiger wurden, im April 1521 durch Vermittlung des Papstes und des Kaisers einen vierjährigen Waffenstillstand zu schließen. In den folgenden zwei Jahren verlief Albrechts Suche nach Unterstützung im Reich unglücklich, während sich Sigismund mit Moskau arrangierte. 1522 wurde Albrecht während der Religionskämpfe in Nürnberg von Andreas Osiander für die Reformation gewonnen. Auf Luthers Rat entschloss er sich im November 1523, bestätigt durch Sigismunds Gesandten Achatius von Zehmen, das Amt des Hochmeisters niederzulegen, den Deutschordensstaat in ein weltliches Herzogtum umzuwandeln und dort, nachdem bereits reformatorische Ideen ins Land gekommen waren und Bischof Georg von Polentz an Weihnachten 1523 die erste evangelische Predigt im Königsberger Dom gehalten hatte, die Reformation offiziell einzuführen. Am 8. April 1525 unterstellte sich Albrecht im Vertrag von Krakau lehnsrechtlich dem polnischen König Sigismund und legte in Krakau vor Sigismund den Huldigungseid ab, in dem er Preußen als ein in gerader, männlicher Linie forterbendes Herzogtum zu Lehen nahm. Mitbelehnt wurden seine Brüder Kasimir und Georg. Auf dem Landtag, der kurz darauf in Königsberg gehalten wurde, erklärten sich alle Stände mit dem Bischof von Samland, Georg von Polentz, an der Spitze für die Anerkennung des Herzogtums und für die Annahme der Reformation. Albrecht setzte an die Durchführung seines Werkes alle Kraft. Sofort erschien eine neue Kirchenordnung, und die Versuche des Deutschen Ordens, Albrecht wieder zu verdrängen, sowie die beim Reichskammergericht in Deutschland 1531 gegen den Herzog erwirkte und am 18. Januar 1532 verhängte Reichsacht hatten keine andere Wirkung, als dass dieser die Einführung der evangelischen Lehre und die Befestigung seiner Herrschaft umso eifriger betrieb. Das bedeutete das Ende des Ordensstaates in Preußen. Ganz besonders förderte Albrecht das Schulwesen: In den Städten legte er Lateinschulen an, gründete 1540 das Gymnasium in Königsberg und 1544 die Albertus-Universität Königsberg, zu deren Theologieprofessor er 1549 Andreas Osiander berief. Deutsche Schulbücher (Katechismen etc.) ließ er auf eigene Kosten drucken, und Leibeigenen, welche sich dem Lehrgeschäft widmen wollten, gab er die Freiheit. Von ihm stammt der Text der ersten drei Strophen des Kirchenliedes Was mein Gott will, gescheh allzeit (Evangelisches Gesangbuch Nr. 364). Albrecht legte auch den Grundstock zur königlichen Bibliothek, dessen 20 prächtigste Bände er für seine zweite Gattin Anna Maria von Braunschweig in reinem Silber beschlagen ließ. Sie erhielt daher den Namen Silberbibliothek. Seine letzten Regierungsjahre wurden ihm durch kirchliche und politische Zerwürfnisse vielfach verbittert. Der Streit des Königsberger Professors Andreas Osiander, der Melanchthon heftig anfeindete, mit seinen Kollegen, namentlich mit Joachim Mörlin, gab Anlass zu ernsten Verwicklungen. Der Herzog stand auf Seiten Osianders, der größte Teil der Geistlichkeit, auf das Volk gestützt, hielt es mit dem des Landes verwiesenen Mörlin, ebenso die Städte und der Adel, weil jene so die Anerkennung ihrer ehemaligen Vorrechte, dieser dagegen die Beschränkung der herzoglichen Gewalt auf das Verhältnis des ehemaligen Hochmeisters zu seinem Orden zu erreichen hofften. Fast das ganze Land stand dem Fürsten feindselig gegenüber, der angeklagt wurde, die Ausländer zu sehr zu begünstigen, sich in der Tat viele Jahre vom kroatischen Abenteurer und Universalgelehrten Stanislav Pavao Skalić hatte beherrschen lassen und überdies sehr verschuldet war. Die Stände suchten Hilfe in Polen. Daraufhin sandte Polen 1566 eine Kommission nach Königsberg, die gegen den Herzog entschied. Des Herzogs Beichtvater Johann Funck, der Schwiegersohn Osianders, und zwei Verbündete wurden als Hochverräter zum Tode verurteilt, Mörlin wurde zurückberufen und zum Bischof von Samland ernannt. Als solcher schrieb er zur Verdammung der Osianderschen Lehren das symbolische Buch Preußens: Repetitio corporis doctrinae Prutenicae. Neue Räte wurden dem Herzog von der polnischen Kommission und den Ständen aufgenötigt. Von ihnen abhängig, verlebte Albrecht seine letzten Tage in tiefem Kummer. Albrecht starb am 20. März 1568 auf der Burg Tapiau an der Pest, 16 Stunden nach ihm auch seine zweite Gemahlin Anna Maria. Herzog Albrecht als Osiandrist und Laientheologe Wenn Walther Hubatsch in seiner Biografie hervorhebt, dass Albrecht ein Fürst war, „der an theologischen Kenntnissen und Einsichten seinen Standesgenossen weit überlegen war“, so wird dieses Urteil, das den Überblick über die damalige Fürstengesellschaft voraussetzt, begründet sein. Verfolgt man seinen Lebensweg unter dem Gesichtspunkt seiner theologischen Interessen, so bestätigt sich, dass der Herzog nicht nur für die religiösen, hier auch speziell theologischen Fragen seiner Zeit anhaltendes Interesse zeigte – bis zu seinem Tode 1568. Seine fachlichen Kenntnisse gewannen im Laufe der Jahre an Tiefe und Breite. „Eine Geschichte des Osiandrismus nach Osianders Tod (1552) hätte es ohne Herzog Albrecht in dem bedeutenden Umfang nicht gegeben.“ … „Der Herzog war Motor und Rückgrat dieser theologischen Richtung.“ Der junge Albrecht empfing früh die niederen Weihen und erhielt in Köln eine „weltmännische und religiöse Erziehung“. Er eignete sich dort wahrscheinlich auch selber – schon vor seiner Begegnung mit dem Nürnberger Reformator Andreas Osiander – bei den Dominikanern scholastisches Gedankengut an, das sich später in seinem Denken widerspiegelte. Er wurde 1511 zum jüngsten Hochmeister des Deutschen Ordens erwählt und war mit diesem Amt mit weltlich-politischen wie geistlichen Angelegenheiten befasst und blieb es ab 1525 als Herzog und Landesherr seiner evangelischen preußischen Landeskirche. Hinzu trat etwa 1522 seine Begegnung mit Andreas Osiander in Nürnberg, dessen reformatorische Predigt ihn beeindruckte. Luthers Schriften und letztlich seine Begegnung mit dem Reformator und Melanchthon in Wittenberg 1523 gewannen ihn für die Reformation, aus der sich dann die Umwandlung des Ordensstaates in Preußen in ein weltliches Herzogtum ergab. Zu den reformatorischen Gedanken, nicht zuletzt in der Ausprägung von Osiander, hat sich der Herzog Kenntnisse von dem Kirchenvater Augustin und anderen antiken Theologen angeeignet. Von diesen war ihm später bis ins hohe Alter eine lange Liste von Namen geläufig. Die Theologie dieser Kirchenväter wurde ihm wohl durch sogenannte Florilegien vermittelt, Zitate-Sammlungen und Textauszüge, die ihm seine Hoftheologen anfertigten. Er drang in diese theologischen Denkmodelle so tief ein, dass er mit ihnen argumentieren und auch andere in diese Gedanken einführen konnte. Letztlich konnte er nach Osianders Tod, 1552, dessen Theologie (einschließlich wichtiger Quellen) im Detail vertreten, so dass der Osiandrismus im Herzogtum noch bis etwa 1566 weiter existierte, bis er mit der Repetitio corporis doctrinae, 1567, endgültig gescheitert war, während Albrecht persönlich an seinen Auffassungen festhielt. Wer in die Gedankenwelt Albrechts eindringen will, muss, da es im Gegensatz zur fertiggestellten Osiander-Werkeausgabe, kaum (modernes) Gedrucktes gibt, in die Archivalen des noch vorhandenen ehemaligen Staatsarchivs Königsberg, heute in Berlin (Dahlem), einsteigen, vor allem in das Herzogliche Briefarchiv. Zu diesen Quellen gehören Liedertexte aus Albrechts Feder, Gebete, Bekenntnisse, Aufsätze, viele ausführliche Erörterungen in seinem Briefwechsel. – In der neueren Forschung weist Henning P. Jürgens darauf hin, dass sich das Buch von Timothy J. Wengert nur auf gedruckte Quellen stütze und Osianders Lehre fast ausschließlich im Hinblick auf die evangelisch-orthodoxe Konfessionsbildung, im Wesentlichen nach Melanchthons Position, bewerte. Auch die umfangreiche zeitgenössische Streitschriftenliteratur der Osiandergegner werde in dieser Weise ins Feld geführt. Es seien auch die früheren Arbeiten von Martin Stupperich und Jörg Rainer Fligge heranzuziehen, die auf den archivalischen Quellen aufbauten. Die Rolle Herzog Albrechts werde unterschätzt. Es werde nicht deutlich, warum es so viele Unterstützer von Osianders Anliegen in Preußen und Nürnberg gegeben habe. Die damalige Diskussion ist für Heutige kaum nachvollziehbar. Aber wenn man das historische Phänomen „Osiandrischer Streit“ in etwa verstehen will, muss man sich – hier aus der Sicht Herzog Albrechts – einige zentrale theologische Kernpunkte vergegenwärtigen. Seit Augustin wird Gott als die höchste Wesenheit betrachtet, das Sein selbst. Gott sei das höchste Gut und nach den Osiandristen auch wesentlich die höchste Gerechtigkeit. Der Mittler Christus überbringe diese wesentliche Gerechtigkeit und habe seine Menschheit „an sich genommen“. Obgleich göttlichen Ursprungs (im Rahmen der Trinitätslehre) geht es nun um den Heiland und zugleich den historischen Menschen Jesus, der in Golgatha gekreuzigt wurde. Der Kreuzestod sei für die sündigen Menschen zu deren Erlösung erfolgt. Durch seine Tat, das stellvertretende Strafleiden am Kreuz, sein Blut, das „für uns alle“ vergossen wurde, habe Jesus Christus die Gerecht-Sprechung der Sünder ermöglicht. Man nennt das die „forensische Rechtfertigung“(-slehre), bei der man sich bildlich vor Gottes Gericht befindet. Melanchthons Anhänger sprachen dann von „Imputation“, der Anrechnung von Christi Leiden, um gerecht (gerechtfertigt) zu werden. Für Luther spielte die dialektische Formulierung „gerecht und Sünder zugleich“ eine Rolle, denn der gerechtfertigte Sünder (der Gläubige) wandelt nun nicht für den Rest seiner Lebenszeit wie ein Heiliger durch das Leben. Luther, auf Paulus gestützt, wollte verdeutlichen, dass sich der Mensch nicht durch gute Werke (allein) das ewige Leben (das Gerecht-Sein) erarbeiten könne, sondern, dass es durch das Eintreten Christi den Gläubigen gnädig (durch Gnade) geschenkt werde. Die Osiandristen, auch der Herzog, betrachteten dieses Heilsgeschehen aber von der bei Gott angesiedelten „wesentlichen Gerechtigkeit“ her, die den Gläubigen, wenn sie Christus im Glauben „ergreifen“, „einwohnt“. Letztlich spielt da eine angedachte mystische Substanzeinheit des Gläubigen mit der Gottheit eine Rolle, erhielt Vorrang vor der Imputation. Wenn Johannes Brenz (1499–1570), der angesehene württembergische Reformator, der so oft vermittelnd tätig war, auf dem Wormser Religionsgespräch, 1557, eine Verurteilung Osianders verhinderte, so muss man sich fragen: „Warum?“. Was sprach ihn in Osianders Theologie an und gehörte für ihn unverzichtbar zur evangelischen Lehrauffassung dazu? Die Brücke bildet – und auch der Herzog weist unaufhörlich darauf hin – die Sakramentslehre. Bekanntlich stritt Luther hartnäckig für seine Auffassung, dass Christus im Abendmahl gegenwärtig sei, und der Gläubige nehme Blut und Leib Christi in sich auf. Dieses Einssein mit Christus gehört zur evangelischen Abendmahlsauffassung (kein bloßes Erinnerungsmahl, keine Transsubstantiation wie beim katholischen Messopfer), und die Osiandristen fanden hier ihren Glauben, dass Christus den Gläubigen einwohne, bestätigt. In der Taufe vollziehe sich ähnliches, und die Verbindung zu Tod und Auferstehung Jesu Christi war ihnen in diesem Zusammenhang stets gegenwärtig. Vielleicht war es das Nachvollziehen einer bestimmten Frömmigkeit, dass man zu spüren glaubte, dass sich im Gläubigen etwas verändere. Da war das spröde forensisch-juristische Bekräftigen eines gnadenreichen Urteils (vor Gottes Gericht) zu wenig. Die Osiandristen zielten auf ein erneuertes, frohes Bewusstsein des Christseins, sprachen von einer erlebbaren Einheit mit ihrem Erlöser. Kirchenordnungen, Widerrufe, Lehrbekräftigungen konnten diese Lücke nicht schließen. In Wirklichkeit hatte sich die Orthodoxie mit ihrer Rechthaberei von Luther zwar nicht nach dem Buchstaben, aber nach dem Geist ein Stück entfernt, auch wenn die traditionsgesättigten Substanzspekulationen der Osiandristen eher für akademische Diskussionen geeignet waren, aber nicht als Fundament für eine Landeskirche taugten. Werke (Auswahl) Vertrau Gott allein. Gebete Herzog Albrechts von Preußen. Hrsg. von Erich Roth. Holzner, Würzburg 1956. „Was mein Gott will, gescheh allzeit.“ Kirchenlied Nr. 364 im Evangelischen Gesangbuch, Verse 1–3 von Herzog Albrecht, 1547 und um 1554; Vers 4: Nürnberg um 1555. 16 zeitgenössische kirchenpolitische Drucke von Herzog Albrecht (nachfolgend mit vereinfachten Kurztiteln. Nachgewiesen mit Zeilenumbrüchen, Abbreviaturen, in damaliger Schreibweise, einschließlich von Druckvarianten bei: Jörg Rainer Fligge: Herzog Albrecht und der Osiandrismus 1522–1568. Diss. phi. Bonn 1972, S. 858–864). Christliche verantwortung des … herren Albrechten … Außgangen in vnser Stat Koenigsberg in Preussen … (Gedruckt: J. Gutknecht, Nürnberg, 1526. Nr. 1.a). Jllustris. Principis … Alberti … responsio contra insimulationem … Theoderici de Clee … (Gedruckt: H. Weinreich, Königsberg, 1526. Nr. 2). Vermanung an die Christliche Gemeine …(Gedruckt: o. O. und o. J., Einblattdruck, Folioformat. Nr. 3). Bekentnus: einer Christlichen person … (Gedruckt: Königsberg in Preussen, 1551. Nr. 4.a). VON Gottes Gnaden Vnser Albrechten … Ausschreiben … (Gedruckt: Hans Lufft, Königsberg, 1553. Nr. 5a). Abschied Des … Herrn Albrechten des Eltern … darnach sich alle … halten sollen.(Gedruckt: Johann Daubmann, Königsberg, 1554. Nr. 6a). Des Durchleüchtigsten … Herrn Albrechten des Eltern … Mandat … (Gedruckt: Johann Daubmann, Königsberg, 1554. Nr. 7). Der 71. Psalm in ein Gebet gestellet von einer hohen Person des Ampts halben … (abgedruckt von Friedrich Spitta in: Archiv für Reformationsgeschichte 6. 1908/09, S. 140–146. Nr. 8). Vorwort zu: Enchiridion. Der kleine Katechismus Doctor Martini Luthers … (Gedruckt: Johann Daubmann, Königsberg, 1561. Nr. 9). Vermanung Zur Buß. Des … Herrn Albrechten des Eltern … (in Anwesenheit des Fürsten und seiner Gemahlin, Hofräten etc.) … offentlich in der Thumkirchen daselbs den 23. Decemb. Anno 63. Durch M. Johann Funck abgelesen … (Gedruckt: Johann Daubmann, Königsberg, 1564. Nr. 10). Kirchengebet im Herzogtum Preußen (1563) (Einblattdruck. abgedruckt bei: Walther Hubatsch, Geschichte der Evangelischen Kirche Ostpreußens. Bd. 3, S. 32f. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1968. – Nr. 11). Illustrissimi Principis ac domini, domini Alberti … Ducis Prußiae etc. … Responsio & Confessio. (Gedruckt: nur mit Jahresangabe: 1564. Nr. 12). Vnser von Gottes Genaden Albrechten des Eltern … Kurtze vnd einfeltige Antwort vnd Bekentnis … (Gedruckt: Johann Daubmann, Königsberg, 1564. Nr. 13). (Scalich.Mandat: betreffend Stanislav Pavao Skalić) Von Gottes genaden Wir Albrecht der Elter … Gegeben in vnserm Schlos Königsperg an Sonabent den 2. Junij Anno 65. (Einblattdruck in Folio. Nr. 14). Fürstlicher Durchleuchtigkeit Marggraff Albrechten deß ersten Hertzogen in Preussen etc. … Offentliches Außschreiben wegen wolgemelter Vniversitet durchs gantze Herzogthumb anno 1558 publiciret. (Erneuert publiziert: 11. Dezember 1618. Nr. 15). Fürsten Spiegel Das ist: Schriften vnd Sendschreiben Des … Herrn Albrecht … erster Hertzogen in Preussen etc. … (Hrsg. von Holger Rosenkrantz. Gedruckt: Hans Hanssen, Aarhus, 1636. Nr. 16). Der kroatische Humanist, Priester, Universalgelehrter und Verfasser des ersten Werkes, in dessen Titel das Wort „Enzyklopädie“ in der heutigen Bedeutung vorkommt, Pavao Skalić, war Albrechts Berater. Ehen und Nachkommen Herzog Albrecht heiratete in Königsberg am 1. Juli 1526 in erster Ehe Dorothea, Tochter von Friedrich I. (Dänemark und Norwegen). Aus dieser Ehe stammen sechs Kinder: Anna Sophie (* 11. Juni 1527; † 6. Februar 1591) ⚭ 1555 Herzog Johann Albrecht I. von Mecklenburg (1525–1576) Katharina (*/† 24. Februar 1528) Friedrich Albrecht (* 5. Dezember 1529; † 1. Januar 1530) Lucia Dorothea (* 8. April 1531; † 1. Februar 1532) Lucia (* Februar 1537; † Mai 1539) Albrecht (*/† März 1539) In zweiter Ehe heiratete er in Königsberg am 16. Februar 1550 Anna Maria von Braunschweig, Tochter von Herzog Erich I. (Braunschweig-Calenberg-Göttingen). Aus dieser Ehe stammen zwei Kinder: Elisabeth (* 20. Mai 1551; † 19. Februar 1596) Albrecht Friedrich (* 29. April 1553; † 27. August 1618), 2. Herzog in Preußen ⚭ 1573 Prinzessin Marie Eleonore von Jülich-Kleve-Berg (1550–1608) Gedenken Ein Bildnisrelief Herzog Albrechts befand sich seit 1553 am Collegium Albertinum (Königsberg). Im Evangelischen Namenkalender wird seiner am 20. März gedacht. Die 1913 in Königsberg errichtete Herzog-Albrecht-Gedächtniskirche wurde 1972 im nunmehr sowjetischen Kaliningrad abgerissen. In Ansbach errichtete 2016 die Gesellschaft der Freunde des Albrecht von Brandenburg-Ansbach, unterstützt von zahlreichen Spendern, „für den großen Sohn der Stadt“ ein Denkmal des Bildhauers Friedrich Schelle und schenkte es der Stadt. Die Immanuel-Kant-Universität Kaliningrad ehrte, unterstützt von der russischen Administration, Herzog Albrecht als Gründer der Universität (1544) mit einem kunstvoll gefertigten Denkmal. Auf einem hell getönten Sockel befindet sich die Statue des Herzogs, in etwa lebensgroß, schwarz gehalten, in damaliger Landestracht. Zwei Inschriften, in Gold, in russischer und deutscher Sprache, teilen mit: „Herzog Albrecht//Gründer//der Königsberger//Universität“. Das Denkmal steht nicht weit entfernt vom Grabe Immanuel Kants (gest. 1804) am Dom. Siehe auch Stammliste der Hohenzollern Albertus (Anstecknadel) Literatur Stephan Herbert Dolezel: Das preußisch-polnische Lehnsverhältnis unter Herzog Albrecht von Preußen (1525–1568) (= Studien zur Geschichte Preussens. Hrsg. von Walther Hubatsch. Band 14). Grote, Köln/ Berlin 1967. Erich Joachim: Die Politik des letzten Hochmeisters in Preußen Albrecht von Brandenburg. 3 Teile. Hirzel, Leipzig 1892–1895 (kpbc.umk.pl, Digitalisat) Europäische Briefe im Reformationszeitalter. 200 Briefe an Markgraf Albrecht von Brandenburg-Ansbach, Herzog in Preusse, hg. von Walther Hubatsch, Kitzingen/Main 1949 Kurt Forstreuter: Zu den Kriegsstudien des Herzogs Albrecht von Preußen. In: Altpreußische Forschungen. Band 19, 1942, S. 234–249; ND in: Ders: Beiträge zur preußischen Geschichte im 15. und 16. Jahrhundert. (= Studien zur Geschichte Preußens. 7). Heidelberg 1960, S. 56–72. Walther Hubatsch: Albrecht von Brandenburg-Ansbach. Deutschordens-Hochmeister und Herzog in Preußen 1490–1568. Grote, Köln/ Berlin 1965 [Neuausg.] Jörg Rainer Fligge: Herzog Albrecht von Preußen und der Osiandrismus 1522–1568. Diss. phil. Bonn 1972, . Oliver Volckart: Die Münzpolitik im Ordensland und Herzogtum Preußen von 1370 bis 1550. Wiesbaden 1996. (daten.digitale-sammlungen.de, Digitalisat) Almut Bues, Igor Kąkolewski (Hrsg.): Die Testamente Herzog Albrechts von Preußen aus den sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts (= Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien. Bd. 9). Wiesbaden 1999. Jürgen Manthey: Die Geburt weltlicher Herrschaft (Herzog Albrecht). In: Jürgen Manthey: Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik. München 2005, ISBN 3-423-34318-4, S. 37–47. Die Kriegsordnung des Markgrafen zu Brandenburg Ansbach und Herzogs zu Preussen Albrecht des Älteren, Königsberg 1555. 2 Bände. [Faksimile und Kommentar] im Auftrag des MGFA und in Zusammenarbeit mit dem DHI Warschau hg. von Hans-Jürgen Bömelburg, Bernhard Chiari und Michael Thomae, Braunschweig 2006 Almut Bues (Hrsg.): Die Apologien Herzog Albrechts (= Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien. Bd. 20). Wiesbaden 2009. Stefan Hartmann: Äußerungen Herzog Albrechts zum Militärwesen in bisher kaum bekannten Quellen – Kriegsbuch und Briefwechsel. In: Bernhart Jähnig (Hrsg.): Beiträge zur Militärgeschichte des Preußenlandes von der Ordenszeit bis zum Zeitalter der Weltkriege. Sven Ekdahl anläßlich seines 75. Geburtstages am 4. Juni 2010 gewidmet. (= Veröffentlichungen der Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung. 25). Marburg 2010, S. 191–232. Albrecht von Brandenburg-Ansbach und die Kultur seiner Zeit. Ausstellungskatalog des Rheinischen Landesmuseums Bonn. Rheinland Verlag, Düsseldorf 1968, . Weblinks K. P. Faber: Briefe Luthers an Herzog Albrecht (1811) Einzelnachweise Bibliophiler Herzog (Preußen) Hochmeister des Deutschen Ordens Person in der Grafenfehde Person des evangelischen Namenkalenders Reformator Autor Literatur (16. Jahrhundert) Herrscher (16. Jahrhundert) Literatur (Deutsch) Kirchenlieddichter Hohenzoller (Linie Brandenburg-Ansbach-Kulmbach) Geboren 1490 Gestorben 1568 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Amarant%20%28Begriffskl%C3%A4rung%29
Amarant (Begriffsklärung)
Amarant steht für: Amarant (auch Amaranth), Pflanzengattung innerhalb der Familie der Fuchsschwanzgewächse Amarant (Farbe), rote Farbe Amarant, Vertreter der Amaranten, Vogelgattung innerhalb der Familie der Prachtfinken Amarant (Film), deutscher Stummfilm von Martin Haras (1916) Siehe auch: Amarante, Stadt in der Region Norte, Portugal Amaranten-Orden, schwedischer Ritterorden Amaranth
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Ammoniak
Ammoniak (von ; Aussprache: Betonung in den nördlichen Varianten des Standarddeutschen auf der letzten Silbe: []; in den südlichen Varianten hingegen meist auf der ersten: [], in Österreich allerdings auf der zweiten: [], auch [], [] und []) ist eine chemische Verbindung von Stickstoff und Wasserstoff mit der Summenformel NH3. Es ist ein stark stechend riechendes, farbloses, wasserlösliches giftiges Gas, das zu Tränen reizt und erstickend wirkt. Ammoniak ist ein amphoterer Stoff: Unter wässrigen Bedingungen wirkt es als Base. Es bildet mehrere Reihen von Salzen: die kationischen Ammoniumsalze sowie die anionischen Amide, Imide und Nitride, bei denen ein (Amide), zwei (Imide) oder alle (Nitride) Protonen (Wasserstoffionen) durch Metallionen ersetzt sind. Ammoniak ist eine der meistproduzierten Chemikalien und Grundstoff für die Produktion aller weiteren Stickstoffverbindungen. Der größte Teil des Ammoniaks wird zu Düngemitteln, insbesondere Harnstoff und Ammoniumsalzen, weiterverarbeitet. Die Herstellung erfolgt bislang (2022) fast ausschließlich über das Haber-Bosch-Verfahren aus den Elementen Wasserstoff und Stickstoff. Biologisch hat Ammoniak eine wichtige Funktion als Zwischenprodukt beim Auf- und Abbau von Aminosäuren. Aufgrund der Giftigkeit größerer Ammoniakmengen wird es zur Ausscheidung im Körper in den ungiftigen Harnstoff oder, beispielsweise bei Vögeln, in Harnsäure umgewandelt. Bei Hyperammonämie ist der Ammoniakgehalt im Blut stark gesteigert, da es nicht mehr im ausreichenden Ausmaß im Körper zu Harnstoff metabolisiert (verstoffwechselt) werden kann. Ursache dafür sind oft ein Enzymdefekt im Harnstoffzyklus oder einer Beeinträchtigung der Leber. Dies kann bspw. zu Enzephaolopathie-Schüben (kurzzeitige Beeinträchtigung "Rausch-Zustand" des Gehirns) bis hin zu bleibenden Beeinträchtigungen des Körpers führen. Ammoniak kann laut Forschung des Fraunhofer-Instituts für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik zukünftig eine Schlüsselrolle als grünem Treibstoff zukommen, da niedrigere Herstellungs- und Transportkosten als bei Flüssig-Wasserstoff, Methanol und anderen Energieträgern erwartet werden. Geschichte Natürlich vorkommende Ammoniumverbindungen sind schon seit langer Zeit bekannt. So wurde Ammoniumchlorid (Salmiak) schon in der Antike in Ägypten durch Erhitzen von Kamelmist gewonnen. Beim Erhitzen bildet sich Ammoniak, das durch Reaktion mit Chlorwasserstoff Ammoniumchlorid als weißen Rauch bildet. Sowohl Salmiak als auch Ammoniak leiten sich vom lateinischen sal ammoniacum ab, das wiederum auf den antiken Namen der Oase Siwa (Oase des Ammon oder Amun) zurückgeht. In der Nähe der Oase befanden sich große Salzvorkommen, allerdings handelte es sich dabei wohl um Natriumchlorid und nicht um natürlich vorkommendes Ammoniumchlorid. Gasförmiges Ammoniak wurde erstmals 1716 von Johannes Kunckel erwähnt, der Gärvorgänge beobachtete. Isoliert wurde das Gas erstmals 1774 von Joseph Priestley. Weitere Forschungen erfolgten durch Carl Wilhelm Scheele und Claude-Louis Berthollet, die die Zusammensetzung des Ammoniaks aus Stickstoff und Wasserstoff erkannten, sowie William Henry, der das exakte Verhältnis der beiden Elemente von 1:3 und damit die chemische Formel NH3 bestimmte. Erste, jedoch erfolglose Versuche zur Synthese des Ammoniaks aus den Elementen führte Georg Friedrich Hildebrandt um 1795 durch, indem er Stickstoff und Wasserstoff in verschiedenen Mischungsverhältnissen über Wasser stehen ließ. In größerer Menge wurde Ammoniak ab 1840 benötigt, nachdem Justus von Liebig die Stickstoffdüngung zur Verbesserung der Erträge in der Landwirtschaft entwickelt hatte. Zunächst wurde Ammoniak als Nebenprodukt bei der Destillation von Kohle gewonnen, dies war jedoch nach kurzer Zeit nicht mehr ausreichend, um die Nachfrage nach Düngemittel zu decken. Ein erstes technisches Verfahren, um größere Mengen Ammoniak zu gewinnen, war 1898 das Frank-Caro-Verfahren, bei dem Calciumcarbid und Stickstoff zu Calciumcyanamid und dieses anschließend mit Wasser zu Ammoniak umgesetzt wurden. Ab etwa 1900 begann Fritz Haber, aber auch Walther Nernst, mit der Erforschung der direkten Reaktion von Stickstoff und Wasserstoff zu Ammoniak. Sie erkannten bald, dass diese Reaktion bei Normalbedingungen nur in sehr geringem Umfang stattfindet und dass für hohe Ausbeuten hohe Temperaturen, ein hoher Druck sowie ein geeigneter Katalysator nötig sind. 1909 gelang es Haber erstmals, mit Hilfe eines Osmiumkatalysators Ammoniak im Labormaßstab durch Direktsynthese herzustellen. Daraufhin versuchte er mit Hilfe von Carl Bosch dieses Verfahren, das spätere Haber-Bosch-Verfahren, auch im industriellen Maß anzuwenden. Dies gelang nach Überwindung der durch das Arbeiten unter hohem Druck verursachten technischen Probleme 1910 im Versuchsbetrieb. 1913 wurde bei der BASF in Ludwigshafen die erste kommerzielle Fabrik zur Ammoniaksynthese in Betrieb genommen. Dabei wurde ein inzwischen von Alwin Mittasch entwickelter Eisen-Mischkatalysator anstatt des teuren Osmiums genutzt. Dieses Verfahren wurde schon nach kurzer Zeit in großem Maßstab angewendet und wird bis heute zur Ammoniakproduktion genutzt. 1918 erhielt Fritz Haber für die Entwicklung der Ammoniaksynthese den Chemie-Nobelpreis, 1931 zusammen mit Friedrich Bergius auch Carl Bosch für die Entwicklung von Hochdruckverfahren in der Chemie. Über die genauen Abläufe der Reaktion am Katalysator war dagegen lange Zeit nichts Genaues bekannt. Da es sich hierbei um Oberflächenreaktionen handelt, konnten sie erst nach der Entwicklung geeigneter Techniken wie dem Ultrahochvakuum oder dem Rastertunnelmikroskop untersucht werden. Die einzelnen Teilreaktionen der Ammoniaksynthese wurden dabei von Gerhard Ertl entdeckt, der hierfür auch den Nobelpreis für Chemie 2007 erhielt. Die Reaktion von Ammoniak zu Salpetersäure wurde erstmals ab 1825 von Frédéric Kuhlmann untersucht. Ein technisch anwendbares Verfahren für die Salpetersäuresynthese aus Ammoniak wurde mit dem heutigen Ostwald-Verfahren Anfang des 20. Jahrhunderts von Wilhelm Ostwald entwickelt. Dieses wurde nach Entwicklung des Haber-Bosch-Verfahrens auch technisch wichtig und löste bald weitgehend das bisherige Produktionsverfahren aus teurem Chilesalpeter ab. Vorkommen Da Ammoniak leicht mit sauren Verbindungen reagiert, kommt freies Ammoniakgas nur in geringen Mengen auf der Erde vor. Es entsteht z. B. bei der Zersetzung von abgestorbenen Pflanzen und tierischen Exkrementen. Bei der sogenannten Humifizierung werden stickstoffhaltige Bestandteile der Biomasse durch Mikroorganismen so abgebaut, dass unter anderem Ammoniak entsteht. Dieses gelangt als Gas in die Luft, reagiert dort jedoch mit Säuren wie Schwefel- oder Salpetersäure und bildet die entsprechenden Salze. Diese können auch über größere Strecken transportiert werden und gelangen leicht in den Boden. Fast die komplette Emission von Ammoniak fällt dabei auf die Nutztierhaltung. In geringerem Umfang können auch vulkanische Gase einen Beitrag zur Umweltbelastung leisten, ebenso wie der Straßenverkehr. Ammoniumsalze sind dagegen auf der Erde weit verbreitet. Das häufigste Ammoniumsalz ist Salmiak (Ammoniumchlorid), aber auch Diammoniumhydrogenphosphat (Phosphammit), Ammoniumsulfat (Mascagnin) und eine Anzahl komplizierter aufgebauter Ammoniumsalze mit weiteren Kationen sind aus der Natur bekannt. Diese findet man vor allem in der Umgebung von Vulkanen oder brennenden Kohleflözen, in denen organische Substanzen unter anderem zu Ammoniak zersetzt werden. So wird Salmiak vorwiegend als Sublimationsprodukt um Fumarolen gefunden, wo sich die im heißen Dampf enthaltenen Chlorwasserstoff- und Ammoniak-Gase als Ammoniumchlorid niederschlagen. Auch viele Gesteine und Sedimente, vor allem Muskovit, Biotit und Feldspat-Minerale, enthalten Ammonium. Dagegen enthalten Quarzgesteine nur geringe Mengen Ammonium. Für die Verteilung spielt neben dem Ursprung des Ammoniums auch das Entweichen von Ammoniak bei der Metamorphose eine Rolle. Ammoniak kommt auch im Weltall vor. Es war 1968 das erste Molekül, das durch sein Mikrowellenspektrum im interstellaren Raum gefunden wurde. Auch auf den Gasplaneten des Sonnensystems kommt Ammoniak vor. Globale Produktion Ammoniak ist eine Grundchemikalie und wird in großem Maßstab produziert. Im Jahr 2020 wurden weltweit 147 Millionen Tonnen hergestellt. Die Hauptproduzenten sind die Volksrepublik China, Indien, Russland und die Vereinigten Staaten. Für die Ammoniakproduktion werden zurzeit noch große Mengen fossiler Energieträger benötigt. Der Anteil der Ammoniakproduktion am weltweiten Verbrauch fossiler Energieträger beträgt etwa 1,4 %. Einen Überblick über die globale Verteilung der Produktionsmengen und die historische Entwicklung der globalen Ammoniakproduktion geben folgende Tabelle und Grafik: Über 90 % des produzierten Ammoniaks wird in der Direktsynthese über das Haber-Bosch-Verfahren produziert. Bei dieser Reaktion reagieren die Gase Stickstoff und Wasserstoff in einer heterogen katalysierten Redoxreaktion in großen Reaktoren miteinander. Bei der Reaktion wird formal betrachtet Stickstoff zu Ammoniak reduziert mit Wasserstoff als Reduktionsmittel, der dabei oxidiert wird und seine Oxidationszahl erhöht. Die Reaktion ist exotherm, hat aber eine hohe Aktivierungsenergie, weshalb man einen Katalysator braucht, um eine nennenswerte Umsetzungsrate zu erreichen. Vor der eigentlichen Reaktion müssen zunächst die Ausgangsstoffe gewonnen werden. Während Stickstoff als Luftbestandteil in großen Mengen zu Verfügung steht und durch Luftverflüssigung gewonnen wird, muss Wasserstoff zunächst aus geeigneten Quellen hergestellt werden. Das zurzeit noch (2020) wichtigste Verfahren stellt dabei die Dampfreformierung dar, bei dem vor allem Erdgas, aber auch Kohle und Naphtha in zwei Schritten mit Wasser und Sauerstoff zu Wasserstoff und Kohlenstoffdioxid umgesetzt werden. Nach Abtrennung des Kohlenstoffdioxides wird der Wasserstoff im richtigen Verhältnis mit Stickstoff gemischt und je nach Verfahren auf 80–400 bar, typischerweise auf 150–250 bar, verdichtet. In Zukunft ist zu erwarten, dass der Wasserstoff mehr und mehr auf elektrolytischem Weg aus Wasser unter Verwendung von regenerativ erzeugtem Strom erzeugt wird. Das Gasgemisch wird in den Reaktionskreislauf eingespeist. Dort wird es zunächst zur Entfernung von Wasserspuren gekühlt und anschließend an Wärmetauschern auf 400–500 °C erhitzt. Das heiße Gasgemisch kann nun im eigentlichen Reaktor an Eisenkatalysatoren, die mit verschiedenen Promotoren wie Aluminiumoxid oder Calciumoxid vermischt sind, zu Ammoniak reagieren. Aus wirtschaftlichen Gründen werden die Gase im technischen Betrieb nur eine kurze Zeit den Katalysatoren ausgesetzt, so dass sich das Gleichgewicht nicht einstellen kann und die Reaktion nur unvollständig abläuft. Das Gasgemisch, das nun einen Ammoniakgehalt von etwa 16,4 % hat, wird in mehreren Stufen abgekühlt, so dass das Ammoniak flüssig wird und abgetrennt werden kann. Das verbleibende Gemisch aus Stickstoff, Wasserstoff und einem kleinen Restanteil Ammoniak wird zusammen mit frischem Gas wieder in den Kreislauf eingespeist. Eine mögliche Katalysator-Alternative wäre Ruthenium, das eine deutlich höhere Katalysatoraktivität besitzt und damit höhere Ausbeuten bei niedrigen Drücken ermöglicht. Aufgrund des hohen Preises für das seltene Edelmetall Ruthenium findet die industrielle Anwendung eines solchen Katalysators aber bislang nur in geringem Umfang statt. Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Ammoniak ist bei Raumtemperatur ein farbloses, diamagnetisches, stechend riechendes Gas. Unterhalb von −33 °C wird es flüssig. Die Flüssigkeit ist farblos und stark lichtbrechend und hat am Siedepunkt eine Dichte von 0,6819 kg/l. Auch durch Druckerhöhung lässt sich das Gas leicht verflüssigen; bei 20 °C ist schon ein Druck von 900 kPa oder 9 bar ausreichend. Die kritische Temperatur ist 132,4 °C, der kritische Druck beträgt 113 bar, die kritische Dichte ist 0,236 g/cm3. Innerhalb des Bereichs von 15,4 bis 33,6 Vol-% (108–240 g/m3) ist Ammoniak explosionsgefährlich. Seine Zündtemperatur liegt bei 630 °C. In der flüssigen Phase bildet Ammoniak Wasserstoffbrückenbindungen aus, was den verhältnismäßig hohen Siedepunkt und eine hohe Verdampfungsenthalpie von 23,35 kJ/mol begründet. Um diese Bindungen beim Verdampfen aufzubrechen, wird viel Energie gebraucht, die aus der Umgebung zugeführt werden muss. Deshalb eignet sich flüssiges Ammoniak zur Kühlung. Vor der Verwendung der Halogenkohlenwasserstoffe war Ammoniak ein häufig benutztes Kältemittel in Kühlschränken. Unterhalb von −77,7 °C erstarrt Ammoniak in Form von farblosen Kristallen. Es kristallisiert dabei im kubischen Kristallsystem mit einem Gitterparameter a = 508,4 pm (−196 °C). Bei −102 °C beträgt der Gitterparameter a = 513,8 pm. Die Struktur lässt sich von einem kubisch-flächenzentrierten Gitter ableiten, wobei sechs der zwölf Nachbarmoleküle näher zum Zentralmolekül gelegen sind, als die übrigen sechs. Jedes freie Elektronenpaar ist dabei mit jeweils drei Wasserstoffatomen koordiniert. Dichte- und Ausdehnungsanomalie von flüssigem Ammoniak Bei jeder Temperatur hat das Flüssiggas einen anderen Dampfdruck, entsprechend seiner Dampfdruckfunktion. Daher erfolgt hier die temperaturbedingte Ausdehnung oder Kontraktion des Volumens nicht isobar. Hinweis: Dichtewerte und Ausdehnungskoeffizienten des flüssigen Ammoniaks weisen im betrachteten Temperaturbereich zwei Dichteanomalien auf. Die mittleren Ausdehnungskoeffizienten wurden aus den Dichtewerten berechnet: Die Dichtequotienten sind den Volumenquotienten oder den Quotienten der spezifischen Volumina (massenspezifisch oder molares Volumen) jeweils indirekt proportional. Molekulare Eigenschaften Ammoniak besteht aus einem Stickstoff- und drei Wasserstoffatomen. Diese sind dabei nicht in einer Ebene, sondern in Form einer dreiseitigen Pyramide (trigonal-pyramidal) angeordnet. Das Stickstoffatom bildet die Spitze, die Wasserstoffatome die Grundfläche der Pyramide. Für diese Form verantwortlich ist ein freies Elektronenpaar des Stickstoffs. Wird dieses berücksichtigt, entspricht die Struktur der eines verzerrten Tetraeders. Gemäß dem VSEPR-Modell ergibt sich durch das freie Elektronenpaar eine Abweichung vom idealen Tetraederwinkel (109,5°) zu einem Wasserstoff-Stickstoff-Wasserstoff-Winkel von 107,3°. Dieser liegt damit zwischen den Bindungswinkeln im Methan (idealer Tetraederwinkel von 109,5°) und Wasser (größere Verzerrung durch zwei freie Elektronenpaare, Winkel 104,5°). Die Bindungslänge der Stickstoff-Wasserstoff-Bindung im Ammoniak liegt bei 101,4 pm, was wiederum zwischen den Bindungslängen im Methan von 108,7 pm und Wasser (95,7 pm) liegt. Dies lässt sich durch die zunehmende Elektronegativitätsdifferenz von Kohlenstoff über Stickstoff zu Sauerstoff und damit einer stärkeren polaren Bindung erklären. Als Molekülsymmetrie besitzt das Ammoniakmolekül die Punktgruppe C3v. Das Ammoniakmolekül ist nicht starr, die Wasserstoffatome können über einen planaren Übergangszustand auf die andere Seite der Pyramide klappen. Die Energiebarriere für die pyramidale Inversion ist mit 24,2 kJ/mol so klein, dass sich bei Raumtemperatur von Ammoniak und davon ableitbaren Aminen NR3 (R: organische Reste) keine Enantiomere isolieren lassen. Ammoniakmoleküle besitzen eine sehr exakte und konstante Schwingungsfrequenz von 23,786 GHz, die zur Zeitmessung verwendet werden kann. Unter anderem wurde 1949 die erste Atomuhr mit Hilfe der Ammoniak-Schwingungsfrequenz konstruiert. Chemische Eigenschaften Flüssiges Ammoniak Flüssiges Ammoniak ist ein gutes Lösungsmittel und zeigt ähnliche Eigenschaften wie Wasser. Es löst viele organische Verbindungen, wie Alkohole, Phenole, Aldehyde und Ester und viele Salze unter Solvatisierung der sich bildenden Ionen. In Analogie zu Wasser unterliegt flüssiges Ammoniak auch der Autoprotolyse mit dem Ionenprodukt von nur 10−29 mol2/l2 und einem Neutralpunkt von 14,5: Flüssiges Ammoniak ist auch ein Lösungsmittel für elementare Alkalimetalle und für die Erdalkalimetalle Calcium, Strontium und Barium. Es bilden sich tiefblaue Lösungen, in denen solvatisierte Metallionen und solvatisierte Elektronen vorliegen. Die Farbe wird durch solvatisierte Elektronen verursacht, die ohne Bindung zu einem bestimmten Atom in der Lösung vorhanden sind und auch eine gute elektrische Leitfähigkeit der Lösungen verursachen. Solche Lösungen werden zur Reduktion von Aromaten verwendet, siehe Birch-Reduktion. Die Lösung ist über längere Zeit stabil; in einer Redoxreaktion bildet sich unter Freisetzung von elementarem Wasserstoff langsam ein Metallamid M'NH2 in Gegenwart eines Katalysators wie Eisen(II)-chlorid rasch: Wässrige Lösungen In Wasser ist Ammoniak sehr gut löslich. Bei 0 °C lösen sich 1176 Liter Ammoniak in einem Liter Wasser. Die Lösungen werden Ammoniumhydroxid, Salmiakgeist oder Ammoniakwasser genannt und reagieren basisch. Als Base mit einer Basenkonstante pKb von 4,76 reagiert Ammoniak mit Wasser unter Bildung von Hydroxidionen (OH−): Das Gleichgewicht der Reaktion liegt jedoch weitgehend auf der Seite von Ammoniak und Wasser. Ammoniak liegt daher weitgehend als molekular gelöste Verbindung vor. In wässrigen Lösungen bilden sich keine Amid-Ionen (NH2−), da diese in Wasser eine sehr starke Base mit pKb = −9 wären und Ammoniak somit hier nicht als Säure (Protonendonator) reagiert. Mit einer starken Säure setzt sich Ammoniak zu Ammoniumionen (NH4+) um: Wird Ammoniak im klassischen Sinne neutralisiert, bildet sich eine Lösung von Ammoniumsalz. Mit Salzsäure bildet sich Ammoniumchlorid: Redoxreaktionen Ammoniak kann mit Sauerstoff reagieren und zu Stickstoff und Wasser verbrennen. An der Luft lässt sich Ammoniak zwar entzünden, die freiwerdende Energie reicht aber nicht für eine kontinuierliche Verbrennung aus; die Flamme erlischt. In reinem Sauerstoff verbrennt Ammoniak dagegen gut, bei höherem Druck kann diese Reaktion auch explosionsartig erfolgen. Eine entsprechende Reaktion erfolgt auch mit starken Oxidationsmitteln wie Halogenen, Wasserstoffperoxid oder Kaliumpermanganat. Ammoniak hat nach DIN 51850 einen Brennwert von 22,5 MJ/kg oder einen Heizwert von 5,2 kWh/kg. In Gegenwart von Platin- oder Rhodium-Katalysatoren reagiert Ammoniak und Sauerstoff nicht zu Stickstoff und Wasser, sondern zu Stickoxiden, wie etwa Stickstoffmonoxid. Diese Reaktion wird bei der Produktion von Salpetersäure im Ostwald-Verfahren genutzt. Mit besonders reaktionsfähigen Metallen wie Alkali- oder Erdalkalimetallen und in Abwesenheit von Wasser bilden sich in einer Redoxreaktion Amide der allgemeinen Form MINH2 (MI: einwertiges Metallatom), wie z. B. Natriumamid. Verbindungen der Form M2NH, bei denen zwei der drei Wasserstoffatome ersetzt sind, heißen Imide und sind keine Wasserstoffatome vorhanden, spricht man von Nitriden. Sie lassen sich durch Erhitzen von Amiden gewinnen. {| |- | Imide: || || z. B. Magnesiumimid |- | Nitride: || || z. B. Magnesiumnitrid |} Die Alkali- und Erdalkalisalze setzen sich mit Wasser zu Metallhydroxiden und Ammoniak um. Amminkomplexe Ammoniak neigt zur Komplexbildung mit vielen Übergangsmetallen. Beständige Komplexe sind besonders von Cr3+, Co3+, Pd2+, Pt4+, Ni2+, Cu2+ bekannt. Bei einem reinen Amminkomplex liegt ein Kation vor, das die Ladung des Metalls trägt und die Ammoniakmoleküle als einzähnige Liganden um ein zentrales Metallatom herum gruppiert sind. Der Ligand bindet sich über sein freies Elektronenpaar an das Zentralatom. Die Bildungsreaktionen der Komplexe lassen sich mit dem Lewis-Säure-Base-Konzept beschreiben. Die Amminkomplexe haben die allgemeine Struktur mit Mn+ als Metall-Kation mit n Ladungen und m Liganden. Ein bekannter Amminkomplex ist der Kupfertetramminkomplex [Cu(NH3)4]2+, der eine typische blaue Farbe besitzt und als Nachweis für Kupfer genutzt werden kann. Stabile Komplexe lassen sich in Form von Salzen, z. B. als Sulfate gewinnen und werden Ammin-Salze oder Ammoniakate genannt. Amminkomplexe können neben Ammoniak auch andere Liganden tragen. Neben dem reinen Chromhexamminkomplex sind auch Komplexe mit der allgemeinen Struktur mit n gleich 0 bis 6 und mit dem Ligand L, wie z. B. F−, Cl−, CN− bekannt. Die Komplexe können durch die Ladungskompensation durch die ionischen Liganden daher auch Anionen oder eine molekulare (ungeladene) Struktur aufweisen. Ein Beispiel dafür ist Cisplatin, [Pt(Cl)2(NH3)2], ein quadratisch-planarer Platin(II)-Komplex mit zwei Amminliganden und zwei Chlorid-Ionen, der ein wichtiges Zytostatikum darstellt. An Ammoniak-Chlor-Komplexen des Cobalts wurde 1893 von Alfred Werner erstmals eine Theorie zur Beschreibung von Komplexen aufgestellt. Verwendung Herstellung stickstoffhaltiger Verbindungen Mit einem Anteil von 40 % im Jahr 1995 ist Harnstoff die wichtigste aus Ammoniak hergestellte Verbindung, die vorwiegend als Düngemittel und für die Produktion von Harnstoffharzen eingesetzt wird. Gewonnen wird Harnstoff durch Reaktion von Ammoniak mit Kohlenstoffdioxid. Daneben werden auch weitere Stickstoffdünger aus Ammoniak hergestellt. Zu den wichtigsten zählen die Ammoniumsalze Ammoniumnitrat, -phosphat und -sulfat. Insgesamt lag der Anteil von Düngemitteln am Gesamtammoniakverbrauch im Jahr 2003 bei 83 %. Ein weiterer wichtiger aus Ammoniak hergestellter Stoff ist die Salpetersäure, die wiederum Ausgangsmaterial für eine Vielzahl weiterer Verbindungen ist. Im Ostwald-Verfahren reagiert Ammoniak an Platinnetzen mit Sauerstoff und bildet so Stickoxide, die mit Wasser weiter zu Salpetersäure reagieren. Zu den aus Salpetersäure hergestellten Verbindungen zählen unter anderem Sprengstoffe wie Nitroglycerin oder TNT. Weitere aus Ammoniak synthetisierte Stoffe sind Amine, Amide, Cyanide, Nitrate und Hydrazin. Rolle in verschiedenen organischen Synthesen Primäre Carbonsäureamide können aus Ammoniak und geeigneten Carbonsäurederivaten wie Carbonsäurechloriden oder -estern gewonnen werden. Die direkte Reaktion von Carbonsäure und Ammoniak zum entsprechenden Amid erfolgt dagegen nur bei erhöhten Temperaturen, wenn sich das zuvor gebildete Ammoniumsalz zersetzt. Eine technisch wichtige Reaktion ist die von Adipinsäure und Ammoniak zu Adipinsäuredinitril. Dieses wird weiter zu Hexamethylendiamin hydriert und ist damit ein Zwischenprodukt für die Herstellung von Nylon. Es ist möglich, Anilin durch die Reaktion von Phenol und Ammoniak an einem Aluminium-Silikat-Katalysator herzustellen. Diese Syntheseroute erfordert jedoch mehr Energie und ergibt eine geringere Ausbeute als die Synthese und Reduktion von Nitrobenzol und wird daher nur in geringem Maß angewendet, wenn Phenol preiswert zur Verfügung steht. Besondere Anwendungen Rauchgasreinigung Die Reaktion von Ammoniak als Base mit Säuren zu Ammoniumsalzen wird in der Rauchgasreinigung ausgenutzt. Dabei reagiert Ammoniak mit Schwefel- und Salpetersäure zu den entsprechenden Ammoniumsalzen und kann deshalb in Anwesenheit von Wasserdampf die eventuell in Rauchgasen enthaltenen unerwünschten und umweltschädlichen Schwefel- und Stickoxide als Ammoniumsalze aus den Rauchgasen entfernen. Kältemittel Aufgrund seiner großen spezifischen Verdampfungsenthalpie von 1368 kJ/kg wird Ammoniak unter der Bezeichnung R-717 auch als Kältemittel eingesetzt. Vorteile sind eine geringe Entflammbarkeit, der nicht vorhandene Beitrag zum Treibhauseffekt oder zur Zerstörung der Ozonschicht sowie der Verwendungsbereich von −60 bis +100 °C. Nachteilig ist die potentielle Toxizität von Ammoniak und die damit einhergehenden Sicherheitsanforderungen. Färbungen Ammoniak reagiert mit der in Hölzern vorkommenden Gerbsäure und färbt das Holz je nach Konzentration der Gerbsäure dunkelbraun. So wird beispielsweise Eichenholz mit Ammoniak oder Salmiak zu der dunkelbraun erscheinenden Räuchereiche verwandelt. Auch bei der Herstellung von Lichtpausen (Diazotypien) wird Ammoniak zur Färbung verwendet. Ammoniak als Treibstoff Neuere Studien, unter anderem des Fraunhoferinstituts, legen eine Verwendung von Ammoniak als Treibstoff nahe. Er gilt als leichter zu gewinnen sowie sicherer und einfacher zu lagern und transportieren als Wasserstoff. Der Klimawandel macht eine Veränderung globaler Energiespeicherung und Bereitstellung notwendig, folglich suchen wirtschaftliche Akteure nach Alternativen zur klassischen kohlenstoffbasierten Energiewirtschaft. Ammoniak kann in großen Mengen „grün“, also ohne CO2-Ausstoß, erzeugt werden. Grünes Ammoniak Mehrere Arbeitsgruppen arbeiten an einer CO2-neutralen Ammoniakproduktion auf der Basis von elektrochemischen Verfahren („elektrochemische Ammoniaksynthese“). Der durch Elektrolyse von Wasser erzeugte Wasserstoff soll dabei in Gegenwart von Katalysatoren und Membranen direkt mit Stickstoff zu Ammoniak reagieren. Der Strom soll dabei künftig im Wesentlichen aus regenerativen Quellen stammen. Eines der Verfahren, das keine hohen Drücke und Temperaturen benötigt, nutzt ein heißes Plasma aus einer Wasser-Stickstoff-Atmosphäre. Dabei entsteht eine Wolke aus elektrisch geladenen Ionen, aus der sich Wasserstoff und Stickstoff-Sauerstoff-Verbindungen, mit einem Anteil von 99 Prozent Stickstoffmonoxid, bilden. Das Stickstoffmonoxid reagierte mit dem Wasserstoff zu Ammoniak und Wasser. Treibstoff für Verbrennungsmotoren Bereits 1943 wurden mangels Diesels mehrere belgische Busse mit einem Ammoniak-Stadtgasgemisch in einem Verbrennungsmotor betrieben. In den 1960er Jahren wurde u. a. Ammoniak als Treibstoff für das raketenangetriebene Experimentalflugzeug North American X-15 eingesetzt. MAN entwickelt einen Schiffsmotor zur Verbrennung von Ammoniak, um den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Dazu wird grünes Ammoniak benötigt, das demnächst im großen Stil von der saudischen Neugründung NEOM Green Hydrogen Company produziert werden soll. Elektrische Energie in Treibstoffzellen Seit ein paar Jahren wächst das Interesse an der möglichen Nutzung von Ammoniak als potenziell klimaneutralen Energieträger. Ammoniak kann u. a. in Brennstoffzellen wiederverstromt werden. Diese weisen hierfür unterschiedliche technische Eignungen auf. Beispielsweise darf eine PEM-Brennstoffzelle nur mit einem maximalen Ammoniakgehalt von 0,5 ppm im Brenngas beaufschlagt werden, wohingegen alkalische Brennstoffzellen diesbezüglich toleranter sind. Hierfür ist also ein vorgeschalteter Ammoniak-Cracker, der Ammoniak in ein Wasserstoff-Stickstoff-Gas konvertiert, und ggf. eine Gasreinigung nötig. Solche Brennstoffzellensysteme können Wirkungsgrade von 51,5–57 % erreichen. Außerdem sind Direktammoniakbrennstoffzellen (Ammoniak-Brennstoffzelle) Stand der Entwicklung und Forschung. Weiterhin können modifizierte Verbrennungsmotoren und thermische Kraftwerke Ammoniak wiederverstromen. Ammoniak und Wasserstoff Ammoniak bietet sich als Speichermedium für Wasserstoff an, denn der Massenanteil von Wasserstoff im Ammoniak ist mit 17,8 % so groß, dass Ammoniak als Wasserstoffträger bezeichnet werden kann. Es offeriert in flüssiger Form eine Energiedichte von 3,3 kWh/l (zum Vergleich: Flüssigwasserstoff bei −253 °C: 2,4 kWh/l, Druckwasserstoff bei 1000 bar: 1,7 kWh/l). Die Einbeziehung von Tanksystemen in den Vergleich führt zu einer signifikanten Verringerung der volumen- und auch massebezogenen Energiedichte des Wasserstoffs, während die Energiedichte des Ammoniaks deutlich weniger stark abnimmt. Das liegt an der vorteilhaften und LPG-ähnlichen Dampfdruckkurve des Ammoniaks. Bei 20 °C kann Ammoniak mit einem Druck von 8,58 bar flüssig gespeichert werden. Eine drucklose Speicherung ist bei einer Kühlung auf −33 °C möglich. Diese Eigenschaften ermöglichen es, relativ einfach große Mengen Ammoniak (bei Tanks ohne Kühlung verlustfrei) beliebig lange zu speichern. Tanks mit 20.000 t Ammoniak sind Stand der Technik. Biologische Bedeutung Nur wenige Mikroorganismen sind in der Lage, Ammoniak in der sogenannten Stickstofffixierung direkt aus dem Stickstoff der Luft zu gewinnen. Beispiele hierfür sind Cyanobakterien oder Proteobacterien wie Azotobacter. Aus diesem über das Enzym Nitrogenase gewonnenen Ammoniak werden von den Bakterien Aminosäuren synthetisiert, die von allen Lebewesen benötigt werden. Die meisten Hülsenfrüchtler, wie Bohnen, Klee und Lupinen sind für eine bessere Versorgung mit Aminosäuren auch Symbiosen mit bestimmten Bakterienarten eingegangen. Im Stoffwechsel beim Auf- und Abbau von Aminosäuren spielt Ammoniak, das unter biochemischen Bedingungen als Ammonium vorliegt, eine wichtige Rolle. Aus Ammonium und α-Ketoglutarat entsteht durch reduktive Aminierung Glutamat, aus dem wiederum durch Transaminierung weitere Aminosäuren synthetisiert werden können. Während Mikroorganismen und Pflanzen auf diese Art alle Aminosäuren synthetisieren, beschränkt sich dies bei Mensch und Tieren auf die nicht-essentiellen Aminosäuren. Ebenso erfolgt der Abbau von Aminosäuren zunächst über eine Transaminierung zu Glutamat, das durch das Enzym Glutamatdehydrogenase wieder in α-Ketoglutarat und Ammoniak gespalten wird. Da größere Mengen Ammoniak toxisch wirken und auch nicht vollständig für den Aufbau neuer Aminosäuren verwendet werden können, muss es eine Abbaumöglichkeit geben. Der Weg, das überschüssige Ammoniak aus dem Körper zu entfernen, entscheidet sich je nach Tierart und Lebensraum. Wasserbewohnende Lebewesen können Ammonium direkt an das umgebende Wasser abgeben und benötigen keinen ungiftigen Zwischenspeicher. Lebewesen, die auf dem Land leben, müssen das Ammoniak hingegen vor dem Ausscheiden in ungiftige Zwischenprodukte umwandeln. Dabei gibt es im Wesentlichen zwei Stoffe, die genutzt werden. Insekten, Reptilien und Vögel verwenden die wasserunlösliche Harnsäure, die als Feststoff ausgeschieden wird (Uricotelie). Dies ist in wasserarmen Gebieten und bei der Einsparung von Gewicht bei Vögeln vorteilhaft. Säugetiere sind dagegen in der Lage, Ammonium in der Leber über den Harnstoffzyklus in ungiftigen und wasserlöslichen Harnstoff umzuwandeln (Ureotelie). Dieser kann dann über den Urin ausgeschieden werden. Harnstoff kann durch das Enzym Urease, das in manchen Pflanzen wie der Sojabohne oder der Schwertbohne, in bestimmten Bakterien und wirbellosen Tieren vorkommt, in Ammoniak und Kohlenstoffdioxid gespalten werden. Diese Bakterien finden sich unter anderem im Pansen von Wiederkäuern und bewirken, dass auch Jauche und Mist dieser Tiere ammoniakhaltig ist. Dies stellt auch die größte anthropogene Ammoniak-Quelle in der Umwelt dar. Eine besondere Bedeutung hat Ammoniak in der Ökologie der Gewässer. Abhängig von pH-Wert verschiebt sich hier das Verhältnis der gelösten Ammonium-Ionen und dem ungelösten Ammoniak im Wasser, wobei die Konzentration des Ammoniaks bei zunehmenden pH-Werten zunimmt, während die der Ammonium-Ionen entsprechend abnimmt. Bei Werten bis etwa pH 8 liegen fast ausschließlich Ammonium-Ionen vor, bei einer Überschreitung eines pH-Wertes von 10,5 fast ausschließlich Ammoniak. Eine Steigerung des pH-Werts kann vor allem durch starke Steigerung der Photosyntheseaktivität, etwa bei Algenblüten, in schwach abgepufferten und abwasserbelasteten Gewässern auftreten. Da Ammoniak für die meisten Organismen der Gewässer toxisch ist, kann bei einer Überschreitung des kritischen pH-Wertes plötzliches Fischsterben auftreten. Toxikologie Durch den unangenehmen Geruch, der schon bei niedrigen Konzentrationen wahrnehmbar ist, existiert eine Warnung, so dass Vergiftungsfälle mit Ammoniak selten sind. Gasförmiges Ammoniak kann vor allem über die Lungen aufgenommen werden. Dabei wirkt es durch Reaktion mit Feuchtigkeit stark ätzend auf die Schleimhäute. Auch die Augen werden durch die Einwirkung von Ammoniak stark geschädigt. Beim Einatmen hoher Konzentrationen ab etwa 1700 ppm besteht Lebensgefahr durch Schäden in den Atemwegen (Kehlkopfödem, Stimmritzenkrampf, Lungenödeme, Pneumonitis) und Atemstillstand. Beim Übergang substantieller Ammoniakmengen ins Blut steigt der Blutspiegel von NH4+ über 35 µmol/l, was zentralnervöse Erscheinungen wie Tremor der Hände, Sprach- und Sehstörungen und Verwirrung bis hin zum Koma und Tod verursachen kann. Die pathophysiologischen Mechanismen sind noch nicht eindeutig geklärt, Ammoniak scheint vor allem die Astrozyten im Gehirn zu schädigen. Akute Ammoniakvergiftungen können außer durch Einatmung auch infolge von Leberversagen (→ Hepatische Enzephalopathie) oder bei Enzymdefekten auftreten, da dann im Stoffwechsel anfallende N-Verbindungen nicht zu Harnstoff umgebaut und ausgeschieden werden können („endogene Ammoniakvergiftung“). Eine mögliche Erklärung für die nerventoxische Wirkung von Ammoniak ist die Ähnlichkeit von Ammonium mit Kalium. Durch den Austausch von Kalium durch Ammonium kommt es zu Störungen der Aktivität des NMDA-Rezeptors und in Folge davon zu einem erhöhten Calcium-Zufluss in die Nervenzellen, was deren Zelltod bewirkt. Das Zellgift Ammoniak wirkt vorwiegend auf Nerven- und Muskelzellen. Nahezu alle biologischen Membranen sind aufgrund der geringen Größe des Moleküls sowie seiner Lipidlöslichkeit für Ammoniak durchlässig. Die Cytotoxizität beruht dabei auch auf der Störung des Citratzyklus, indem der wichtige Metabolit α-Ketoglutarsäure zu Glutaminsäure aminiert wird, sowie auf der Störung des pH-Werts der Zellen. Die enzephalotoxische Wirkung wird auch mit einem erhöhten Glutaminspiegel im Gehirn sowie der Bildung von reaktiven Sauerstoffspezies in Verbindung gebracht. Auch chronische Auswirkungen bei längerer Einwirkung von Ammoniak sind vorhanden. Durch Schädigung der Atemwege kann es zu Bronchialasthma, Husten oder Atemnot kommen. Wässrige Ammoniaklösungen können auch über Haut und Magen aufgenommen werden und diese verätzen. Ammoniak kommt durch Düngung und Massentierhaltung in die Atemluft. Dort wandelt er sich in Ammoniumsulfat und -nitrat um, was maßgeblich dazu beiträgt, dass Feinstaubpartikel entstehen. Zudem fördert Ammoniak zusammen mit Stickstoffoxiden die Bildung von gesundheitsschädlichem, bodennahem Ozon. Es wird geschätzt, dass die Landwirtschaft dadurch im Jahr 2010 die Ursache für etwa 45 % aller Todesfälle durch Luftverschmutzung in Deutschland war. Die Landwirtschaft ist mit einem Anteil von etwa 95 % Hauptemittent des Luftschadstoffs Ammoniak in Deutschland. Dabei stammten im Jahr 2020 über 70 % der gesamten Ammoniakemissionen aus der Tierhaltung. Ammoniak ist außerdem der einzige Luftschadstoff, bei dem es seit 1990 bis 2020 nur zu einer Reduktion von ca. 25 % gekommen ist. Mit einer Reduzierung der Ammoniakemissionen um 50 % könnten weltweit etwa 250.000 Todesfälle durch Luftverschmutzung vermieden werden, bei einer kompletten Abschaffung dieser Emissionen sogar 800.000 Todesfälle. Bei Hausrindern kommen akute Ammoniakvergiftungen vor allem bei Fütterung von Nicht-Protein-Stickstoffverbindungen (NPN) vor. Bei einem Harnstoffanteil von über 1,5 % im Futter treten zentralnervöse Vergiftungserscheinungen auf, da der Harnstoff nicht mehr vollständig von der Pansenflora zur Proteinsynthese verarbeitet werden kann. Die chronische Exposition mit Ammoniak in der Stallhaltung bei Nutz- und Labortieren, vor allem bei strohlosen Haltungsformen und höheren Temperaturen bei unzureichender Belüftung, führt zu Schädigungen der Atemwege und damit zu vermehrtem Auftreten von Atemwegsinfektionen, zu verminderter Futteraufnahme und Leistungseinbußen. Von der Gefahr einer Vergiftung durch Ammoniak sind wegen der guten Wasserlöslichkeit des Ammoniaks insbesondere Fische und andere Wasserlebewesen betroffen. Während viele Fischarten nur geringe Ammoniakkonzentrationen vertragen, haben einige Arten spezielle Strategien entwickelt, auch höhere Konzentrationen zu tolerieren. Dazu zählt die Umwandlung des Ammoniak in ungiftigere Verbindungen wie Harnstoff, oder sogar Pumpen, um Ammoniak aus dem Körper aktiv zu entfernen, die bei Schlammspringern beobachtet wurden. Ammoniakvergiftungen kommen in der Teichwirtschaft und Aquaristik vor. Ursachen können die Verunreinigung des Wassers mit Gülle oder Düngemitteln sowie der Anstieg des pH-Wertes mit Verschiebung des Dissoziationsgleichgewichts in Richtung Ammoniak sein. Betroffene Fische zeigen eine vermehrte Blutfülle (Hyperämie) und Blutungen in den Kiemen und inneren Organen sowie eine vermehrte Schleimproduktion der Haut. Bei höheren Konzentrationen kann es zum Absterben von Flossenteilen, Hautarealen oder Kiemen, zu zentralnervösen Erscheinungen oder zum Tod kommen. Geruchsreizstoff Ammoniaklösung wird auch in Riechampullen verwendet. Der extreme Geruchsreiz dient als antidissoziative Strategie, etwa im Rahmen einer Dialektisch-Behavioralen Therapie. Chemische Nachweise Es gibt mehrere Möglichkeiten, gasförmiges Ammoniak in der Luft nachzuweisen. Einfache Nachweise, die bei wenig Ammoniak nicht immer eindeutig sind, sind der typische Geruch, die Verfärbung von feuchtem Säure-Base-Indikatorpapier durch das basische Ammoniakgas, oder der typische weiße Rauch von Ammoniumchlorid, der entsteht, wenn gasförmiges Ammoniak auf gasförmigen Chlorwasserstoff trifft, der probeweise aus einer geöffneten Flasche mit konzentrierter Salzsäure entweicht. Charakteristisch ist auch die Bildung stark blau gefärbter Kupfertetramminkomplexe bei der Reaktion von Ammoniaklösungen mit Kupfersalzlösungen. Dabei entstehen dunkelblaue [Cu(NH3)4]2+-Kristalle. Eine genaue – in der Spurenanalytik durch die Störung mit Schwefelwasserstoff jedoch häufig nicht einsetzbare – Reaktion zur Ammoniak-Bestimmung ist die Neßler-Reaktion, bei der Kaliumtetraiodomercurat(II) mit Ammoniak zu einem typischen braunen Niederschlag von (Hg2N)I reagiert. Ein weiterer Nachteil ist auch die Verwendung des giftigen Quecksilbers. Stattdessen wird die Berthelot-Reaktion genutzt, bei der Ammoniak mit Hypochlorit Chloramine bildet. Diese sind in der Lage mit Phenolen zu Indophenolen zu reagieren, die an ihrer tiefblauen Farbe erkannt werden können. Für geringe Mengen kann auch die Kjeldahlsche Stickstoffbestimmung genutzt werden. Mit dieser Methode sind auch quantitative Bestimmungen möglich. Messen von Ammoniak in der Luft Aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften ist eine optische Erfassung von Ammoniak in der Luft problematisch. Es werden fast ausschließlich nasschemische Verfahren eingesetzt, um eine gleichzeitige Erfassung von Ammonium in Feinstäuben zu verhindern. Belastungen der Außenluft mit Ammoniak können mit beschichteten Diffusionsabscheidern, sogenannten Denudern, quantitativ erfasst werden. Als sorbierende Beschichtung dient eine Säure (z. B. Oxalsäure), die nach Abschluss der Probenahme analysiert wird. Alternativ können Passivsammler eingesetzt werden. Im Gegensatz zu den aktiv sammelnden Denudern wird bei diesen Geräten auf eine gezielte Strömungsführung verzichtet. Das zu detektierende Ammoniak gelangt ausschließlich durch Diffusion zum Sorbens. Weitere Verfahren sind das Indophenol-Verfahren und das Neßler-Verfahren. Beim Indophenol-Verfahren wird die Luft durch eine mit verdünnter Schwefelsäure befüllten Waschflasche geleitet und als Ammoniumsulfat gebunden. Nach Umsetzung zu Indophenol wird dessen Konzentration photometrisch bestimmt. Beim Nessler-Verfahren wird das gewonnene Ammoniumsulfat mit Neßlers Reagenz umgesetzt und die Färbungsintensität des gewonnenen Kolloids photometrisch bestimmt. Beiden Verfahren ist gemein, dass sie nicht selektiv gegenüber Ammoniak sind. Literatur Max Appl: Ammonia. In: Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Chemistry, Wiley-VCH, Weinheim 2006 (). Robert Schlögl: Katalytische Ammoniaksynthese – eine „unendliche Geschichte“? In: Angewandte Chemie. Band 115, Nr. 18, 2003, S. 2050–2055. doi:10.1002/ange.200301553 Weblinks Einzelnachweise Stickstoffverbindung Wasserstoffverbindung Kältemittel Aromastoff (EU)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Liste%20der%20Minerale
Liste der Minerale
Die Liste der Minerale ist eine alphabetisch geordnete Übersicht von anerkannten Mineralen, Synonymen und bergmännischen Bezeichnungen. Ebenfalls aufgeführt werden hier Mineral-Varietäten, Mineralgruppen und Mischkristallreihen, zu denen teilweise bereits eigene Artikel bestehen. Systematische Listen nur der anerkannten Mineralarten und deren Klassifikationen finden sich dagegen auf der Seite Systematik der Minerale. Davon unabhängig existiert eine ebenfalls alphabetisch geordnete Liste der Gesteine. Für fiktive Minerale siehe Liste erfundener Elemente, Materialien, Isotope und Elementarteilchen. Siehe auch Literatur Weblinks Mineralienatlas:Kapitel/Mineralkunde (Wiki) Einzelnachweise Minerale Minerale
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https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander%20Fleming
Alexander Fleming
Sir Alexander Fleming (* 6. August 1881 in Darvel, East Ayrshire, Schottland; † 11. März 1955 in London) war ein britischer Mediziner und Bakteriologe. Er erhielt 1945 als einer der Entdecker des Antibiotikums Penicillin den Nobelpreis. Außerdem entdeckte er das Lysozym, ein Enzym, das starke antibakterielle Eigenschaften aufweist und in verschiedenen Körpersekreten wie Tränen und Speichel vorkommt. Leben Alexander Fleming wurde 1881 auf dem Bauernhof Lochfield (Gemeinde Darvel) geboren. Er studierte ab 1902 Medizin an der St Mary’s Hospital Medical School in Paddington. 1906 schloss er sein Studium ab, blieb aber weiterhin am Institut. Ab 1921 war er stellvertretender Leiter und ab 1946 Direktor des Instituts, das 1948 in Wright-Fleming-Institut umbenannt wurde. Von 1928 bis 1948 hatte er an der Londoner Universität den Lehrstuhl für Bakteriologie inne. In seinen jungen Jahren beschäftigte sich Fleming mit Autovaccinen. 1921 isolierte er das Enzym Lysozym, das im Eiweiß des Hühnereis sowie in zahlreichen menschlichen Körpersekreten vorkommt und in der Lage ist, Bakterien zu zerstören. Er bemerkte zufällig am 28. September 1928 im Labor, wie Schimmelpilze der Gattung Penicillium, die in eine seiner Staphylokokken-Kulturen hineingeraten waren, eine wachstumshemmende Wirkung auf diese Bakterien hatten. Weitere Untersuchungen führten später zum Antibiotikum Penicillin. Für seine Entdeckung wurde Fleming vielfach geehrt. Am 4. Juli 1944 wurde er als Knight Bachelor geadelt, und 1945 bekam er zusammen mit Howard Walter Florey und Ernst Boris Chain, die seine Untersuchungen weitergeführt hatten, „für die Entdeckung des Penicillins und seiner heilenden Wirkung bei verschiedenen Infektionskrankheiten“ den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Weiterhin war er Ehrendoktor von zwölf amerikanischen und europäischen Universitäten, Kommandeur der französischen Ehrenlegion und Ehrendirektor der Universität Edinburgh. Fleming war in erster Ehe von 1915 bis zu ihrem Tod mit Sarah Marion McElroy (1881–1949) verheiratet. Ihr einziges Kind war Robert Fleming (1924–2015), der Arzt wurde. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Fleming 1953 in zweiter Ehe die griechische Ärztin Amalia Koutsouri-Vourekas (1912–1986). Alexander Fleming starb am 11. März 1955 in London an einem Herzinfarkt und wurde in der Londoner St Paul’s Cathedral begraben. Es existieren unterschiedliche Legenden, nach denen Alexander Fleming das Leben von Winston Churchill gerettet haben soll oder die Ausbildung Flemings von Churchills Vater finanziert worden sei. Diese Anekdoten sind allerdings nicht durch historische Quellen verifizierbar und wurden von verschiedenen Autoren widerlegt und als Mythos nachgewiesen. Fleming selbst bezeichnete zum Beispiel die Geschichte, nach der sein Vater dem jungen Churchill das Leben gerettet hätte und dessen Vater wiederum dafür Flemings Studium finanziert haben soll, in einem Brief als „A wondrous fable“. Der Fleming Point, ein Kap auf der antarktischen Brabant-Insel, trägt seinen Namen. Nach ihm wurde 1970 auch der Mondkrater Fleming (zusammen mit Williamina Fleming) und 2007 der Asteroid (91006) Fleming benannt. Im Jahr 2013 wurde in Stuttgart die neu gegründete „Berufliche Schule für Gesundheit und Pflege“ nach ihm benannt. Der Alexander Fleming Award der Infectious Diseases Society of America ist nach ihm benannt. In Leitring wurde die Dr.-Alexander-Fleming-Gasse nach ihm benannt. Zwischen 1954 und 1957 wurde in Wien-Ottakring der Fleming-Hof gebaut, der ein keramisches Mosaik von Günther Baszel trägt, das den Namensgeber des Gemeindebaues zeigt. Freimaurerei Fleming war Freimaurer, ab 1925 mehrfach Meister vom Stuhl der Santa Maria Freimaurer Nummer 2692 und ab 1936 der Misericordia Lodge No. 3286. 1942 wurde er Erster Großschaffner der Vereinigten Großloge von England und ab 1948 deren Großaufseher. Ebenso war er Mitglied der London Scottish Rifles Lodge No. 2319 und erreichte den 30. Grad des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus. Literatur Beverly Birch: Alexander Fleming (Augenblicke, die die Welt veränderten). Aus dem Englischen übersetzt von Michael Steinbacher. Bitter, Recklinghausen 1993, ISBN 3-7903-0479-4 . Alexander Fleming: Penicillin: Its practical application. London 1946. Christof Goddemeier: Alexander Fleming (1881–1955): Penicillin. In: Deutsches Ärzteblatt, Bd. 103 (2006), H. 36, S. A2286. Heinz Graupner: Alexander Fleming: Der Entdecker des Penicillins. In: Hans Ernst Schneider und Wilhelm Spengler (Hrsg.): Forscher und Wissenschaftler im heutigen Europa. 2. Mediziner, Biologen, Anthropologen. (= Gestalter unserer Zeit. Band 4). Hrsg. von . Stalling, Oldenburg 1955, S. 151–157 (die Herausgeber waren ehemalige SS-Kader). Gwyn MacFarlane: Alexander Fleming. The Man and the Myth. Harvard University Press, Cambridge 1984. André Maurois: Alexander Fleming. Arzt und Forscher. List, München 1960. Fred Rihner: Sir Alexander Fleming. Gedenkschrift zum 100. Geburtstag. Selbstverlag, Zürich 1981. Weblinks Penicillin - Eine Erfolgsgeschichte mit Nebenwirkungen von Schweizer Radio und Fernsehen vom 27. Februar 2016 (Audio) A. Fleming Eintrag bei der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften Einzelnachweise Bakteriologe Mediziner (20. Jahrhundert) Erfinder Pharmakologe Freimaurer (Vereinigtes Königreich) Freimaurer (19. Jahrhundert) Freimaurer (20. Jahrhundert) Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin Knight Bachelor Mitglied der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Royal Society Mitglied der Ehrenlegion (Kommandeur) Mitglied der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Académie des sciences Mitglied der Royal Society of Edinburgh Ehrendoktor der Universität Graz Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Schotte Brite Geboren 1881 Gestorben 1955 Mann Entwickler eines Medikaments
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Adzukibohne
Die Adzukibohne (Vigna angularis) ist eine Pflanzenart aus der Gattung Vigna in der Unterfamilie der Schmetterlingsblütler (Faboideae) innerhalb der Familie der Hülsenfrüchtler (Fabaceae, Leguminosae). Diese Nutzpflanze ist nahe verwandt mit einer Reihe anderer „Bohnen“ genannter Feldfrüchte wie der Mungbohne, aus der die sogenannten Sojasprossen hergestellt werden. Wildformen der Adzukibohne stammen aus Mittelchina, Taiwan, Korea und Japan. Die Adzukibohne wird seit 2000 Jahren in China, Korea und Japan angebaut. Sie wächst am besten in den Subtropen. Beschreibung Die Beschreibungen in den Quellen unterscheiden sich teilweise etwas, das liegt auch daran, dass Autoren die Wildformen oder die Kulturformen beschreiben. Erscheinungsbild und Wurzel Die Adzukibohne ist eine einjährige, selten zweijährige krautige Pflanze und erreicht Wuchshöhen von selten 20, meist 30 bis 90 Zentimetern; sie kann auch bis zu 3 Meter hochklettern. Sie wächst aufrecht oder sich gegen den Uhrzeigersinn emporwindend; es gibt auch kriechende Formen. Die meist grünen, bei manchen Sorten auch purpurfarbigen, kantigen Stängel sind fein behaart. An den Knoten (Nodi) werden Wurzeln gebildet. Die Pfahlwurzeln sind 40 bis 50 Zentimeter lang. Blatt Die ersten Blätter des Sämlings sind gegenständig, lang gestielt, einfach und herzförmig. Die wechselständig am Stängel angeordneten, einfachen Laubblätter sind in Blattstiel und Blattspreite gegliedert. Der Blattstiel ist relativ lang und leicht haarig. Die Blattspreite ist dreizählig. Die meist ganzrandigen Fiederblättchen sind bei einer Länge von 5 bis 10 Zentimetern sowie einer Breite von 5 bis 8 Zentimetern eiförmig bis rhombisch und meist spitz bis zugespitzt. Die Blättchen sind ungleichseitig, meist einfach oder leicht zwei- bis dreilappig. Beide Seiten der Blättchen sind spärlich fein behaart. Die zwei mit etwa 8 Millimetern relativ kleinen Nebenblätter sind schildförmig, oft leicht zweispaltig mit Anhängseln an ihrer Basis, untereinander frei und nicht mit dem Blattstiel verwachsen. Die Nebenblättchen der Fiederblättchen sind lanzettlich. Die Laubblätter sind meist bis zur Fruchtreife haltbar. Blütenstand und Blüte Die Blütezeit reicht in China von Juni bis Juli. In den Blattachseln stehen, auf im unteren Stängelbereich langen und im oberen relativ kurzen Blütenstandsschäften, die traubigen Blütenstände mit je fünf bis sechs bis zehn (zwei bis zwanzig) Blüten. Es sind Tragblätter vorhanden. Die Deckblätter sind länger als der Blütenkelch. Der relativ kurze Blütenstiel besitzt an seiner Basis ein extraflorales Nektarium. Die zwittrigen, kurz gestielten Blüten sind zygomorph mit doppelter Blütenhülle. Die ungleichen, 3 bis 4 Millimeter großen Kelchblätter sind glockenförmig verwachsen mit zwei Kelchlippen und fünf relativ kurzen Kelchzähnen. Die obere Kelchlippe besteht aus zwei vollkommen oder teilweise verwachsenen Kelchzähnen; die untere Kelchlippe besteht aus drei Kelchlappen. Die Blütenkronblätter sind meist leuchtend gelb oder seltener lilafarben. Die 15 bis 18 Millimeter langen Blütenkronen besitzen den typischen Aufbau der Schmetterlingsblüten. Die normal entwickelte Fahne ist kreisförmig mit ausgerandetem oberen Ende. Die länglichen Flügel sind nicht gespornt, aber kurz genagelt und geöhrt. Die Flügel sind breiter als das Schiffchen. Das etwas nach rechts gebogene Schiffchen ist im vorderen Teil fast halbkreisförmig gebogen und besitzt einen hornförmigen Sporn an seiner linken Seite, es ist an der Basis genagelt. Die zehn fertilen Staubblätter sind nicht mit den Kronblättern verwachsen. Neun Staubfäden sind zu einer Röhre verwachsen. Es sind Nektardrüsen auf dem Diskus vorhanden. Das einzige längliche, oberständige Fruchtblatt ist kurz behaart. Der gekrümmte, Griffel ist behaart und oben an einer Seite bärtig, die etwas seitliche Narbe ist scheibenförmig. Frucht und Samen An jedem Fruchtstand hängen zwei bis sechs Hülsenfrüchte und je Pflanzenexemplar sind es 5 bis 40. Die hängende, fast kahle, relativ dünnwandige Hülsenfrucht ist bei einer Länge von 5 bis 8, seltener bis zu 13 Zentimetern sowie einem Durchmesser von 0,5 bis 0,6 Zentimetern schlank, zylindrisch und zwischen den 2 bis 14 (5 bis 12) Samen etwas eingeschnürt, also sind die Samen als deutliche Wölbungen sichtbar. Die Hülsenfrucht ist bei Reife strohfarben gelb, schwärzlich oder braun. Die Früchte reifen in China von September bis Oktober. Bei Reife zerbrechen die Hülsenfrüchte. Die mit einer Länge von 5 bis 7,5, selten bis zu 9,1 Millimetern sowie einem Durchmesser von 4 bis 5,5, seltener 6,3 Millimetern relativ kleinen, harten Samen sind länglich und rund, selten abgeflacht, mehr oder weniger zylindrisch mit gerundeten oberen Enden. Die glatten Samenschalen sind meist weinrot oder kastanienrot, manchmal strohgelb, leder-, cremefarben bis schwarz oder gefleckt. Das weiße Hilum ist bei einer Länge von 2,4 bis 3,3 Millimetern sowie einer Breite von 0,6 bis 0,8 Millimetern lang und schmal. Die Samen wiegen jeweils 50 bis 250 mg. Der Embryo ist fast weiß. Die Tausendkornmasse beträgt 50 bis 200 g, bei den meisten japanischen Sorten liegt es bei 130 bis 150 g und bei den Dainagon-Adzukibohnen bei 180 bis 200 g. Chromosomensatz Die Chromosomengrundzahl beträgt x = 11; es liegt Diploidie vor mit einer Chromosomenzahl von 2n = 22. Ökologie Bei der Adzukibohne handelt es sich um einen Therophyten. Das Wurzelsystem, das von der Pfahlwurzel ausgeht, breitet sich auf einer Fläche mit einem Durchmesser von 40 bis 50 Zentimetern aus. Der Luftstickstoff wird durch die Symbiose der Wurzelknöllchen der Adzukibohne mit den Knöllchenbakterien Bradyrhizobium bacteria genutzt (Stickstofffixierung). Die Wurzelknöllchen weisen einen Durchmesser von 4 bis 10 Millimetern auf und beginnen ihre Entwicklung, wenn die ersten Laubblätter sich entfalten. Die Anthese beginnt meist morgens und kann bis zu 40 Tage dauern. Die Blüten beginnen im unteren Bereich des Stängels zu blühen und das Aufblühen setzt sich dann nach oben hin fort. Es erfolgt meist Selbstbefruchtung oder manchmal Fremdbefruchtung. Die Ausbreitungseinheit (Diaspore) ist der Same. Die Keimung erfolgt hypogäisch. Verbreitung Über die ursprüngliche Verbreitung der Wildform liegen sehr unterschiedliche Einschätzungen vor. Einig ist man sich nur bei Japan, Korea und der Mandschurei. Systematik Die Erstveröffentlichung erfolgte 1802 unter dem Namen (Basionym) Dolichos angularis durch Carl Ludwig Willdenow in Species Plantarum. 4. Auflage. Band 3, 2, S. 1051. Die Neukombination zu Vigna angularis wurde 1969 durch Jisaburō Ōi und Hiroyoshi Ōhashi in Azuki beans of Asia in Journal of Japanese Botany, Band 44, Nr. 1, S. 29 veröffentlicht. Weitere Synonyme für Vigna angularis sind: Azukia angularis , Phaseolus angularis , Phaseolus nipponensis und je nach Autor auch Vigna angularis var. nipponensis . Vigna angularis gehört zur Untergattung Ceratotropis aus der Gattung Vigna. Manche Autoren unterscheiden zwei Varietäten. In der Flora of China 2010 gilt die Varietät Vigna angularis var. nipponensis als Synonym. Kang et al. 2015 gehen davon aus, dass Vigna angularis var. nipponensis die Wildform darstellt und unter Vigna angularis var. angularis die Kulturformen zusammengefasst werden. Archäologische Befunde lassen vermuten, dass die Wildformen im nordöstlichen Asien an verschiedenen Orten in Kultur genommen wurden, Kulturformen als mehrmals unabhängig voneinander entstanden sind. Früher vermutete man, dass das Gebiet der Entstehung der Kulturformen auf Teile Chinas (Mandschurei), Japan und Korea beschränkt ist, die archäologischen Befunde zeigen, dass auch im Himalaja (Tibet, Bhutan, Nepal) Kulturformen entstanden sind. Nutzung Die Bohnen (Samen) und das daraus gewonnene Mehl sind bedeutende Handelsgüter in ostasiatischen Märkten. Die meisten Sorten dienen der Kornnutzung. Anbau Die ältesten schriftlichen Belege für die Kultur der Adzukibohne in Japan stammen aus dem 8. Jahrhundert. Auch im nördlichen Korea und China ist die Adzukibohne eine alte Kulturpflanze. Sie wird in Ostasien seit 2000 Jahren angebaut. In Japan, Korea, Taiwan und China existieren Samenbanken. Allein in Japan sind über 300 Sorten, Landrassen und Zuchtlinien registriert. Hauptsächlich durch die Anbauintensität bedingt liegen Erträge der Bohnen (Samen) im weiten Bereich von 4 bis 8 dt/ha; für Japan und China gibt es sogar Ertragsangaben von 20 und 30 dt/ha. Das jährliche Anbaugebiet der Adzukibohne wurde 1997 in China, Japan, der Koreanischen Halbinsel sowie Taiwan auf 670.000, 120.000, 30.000 sowie 20.000 ha geschätzt. Die Adzukibohne wird in über 30 Ländern angebaut, außerhalb Asiens gibt es Anbaugebiete in Südamerika, in den Südstaaten der USA, Neuseeland sowie in Afrika, beispielsweise im Kongo sowie in Angola. Die Adzukibohne kann bis zu 48°N angebaut werden, aber die Hauptanbaugebiete liegen zwischen 40 und 45°N. Sie wird in tropischen, subtropischen bis gemäßigten Gebieten angebaut; die Temperaturansprüche liegen nicht sehr hoch. Die Jahresdurchschnittstemperaturen für optimales Wachstum liegen bei 15 bis 30 °C. Sie tolerieren hohe Temperaturen, sind aber frostempfindlich. In den Tropen sind größere Höhenlagen für den Anbau besser. Abhängig von der Temperatur und Bodenart sollten am besten Jahresniederschlagsmengen von 1000 bis 1500 mm zur Verfügung stehen; bei Wassermangel im Anbaugebiet erfolgt manchmal eine Bewässerung, die Anbaugrenzen liegen bei 500 bis 1750 mm. Für die Keimung im Frühjahr sowie die Jugendentwicklung sind mittlere und sich gut erwärmende Böden am besten geeignet. Schlechte Kulturbedingungen ergeben sich besonders durch hohen Grundwasserstand. Boden-pH-Werte von 5 bis 7,5 sind geeignet, das Optimum liegt bei 5,5 bis 6,5. Der Anbau erfolgt fast nur in Reinkultur; die Adzukibohne ist allerdings auch konkurrenzstark genug im Mischanbau. Die Samen bleiben mindestens fünf Jahre keimfähig, wenn sie bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von etwa 15 % gelagert werden. Zwischen 8 und 30 kg Saatgut pro Hektar sind erforderlich. Meist beträgt der Reihenabstand 60 bis 90 Zentimeter bei einem Abstand von 30 Zentimeter in der Reihe. Zur Keimung sind Bodentemperaturen oberhalb von 6 bis 10 °C erforderlich und die besten Keimtemperaturen liegen bei 30 bis 34 °C. Die Keimdauer beträgt 7 bis 20 Tage. Das Wachstum ist vergleichsweise langsam. Von der Aussaat bis zur Kornreife dauert es je nach Sorte und Klima meist 80 bis 120 (60 bis 190) Tage, nach Angaben aus dem Kongo kann es je nach Anbauzeit auch bis zu 9 Monate dauern. Die Adzukibohne ist eine quantitative Kurztagspflanze, aber es existieren tagneutrale Sorten. Eine Düngung erfolgt in Japan und Korea vergleichbar zu Sojabohnen. Die Blütezeit dauert 30 bis 40 Tage, kann allerdings bis zu dreimal so lang dauern, bei sehr frühen Aussaaten. Verwendung in der Küche Man kann die frischen Hülsenfrüchte, die frischen Bohnen (Samen) oder die getrockneten Bohnen verwenden. Reife Samen und grüne Hülsenfrüchte werden als Gemüse und in Suppen oder in Salaten gegessen. Getrocknete Bohnen können gemahlen werden und aus diesem Mehl können Suppen, Gebäck oder süße Getränke hergestellt werden. Der süße, nussige Geschmack der Adzukibohne führt dazu, dass sie in Asien zur Herstellung traditioneller Süßspeisen dient. Beispielsweise werden Süßigkeiten und Eiscreme hergestellt. Aus Adzukibohnen wird Rote Bohnenpaste hergestellt. Ursprünglich aus Japan stammt die Erzeugung von Adzukibohnen-Sprossen, also einem Sprossengemüse. Die Bohnen werden gepoppt, wie Popcorn. Die Bohnen werden kandiert. Die Adzukibohne ist ein Kaffeesurrogat. In der japanischen Küche wird die Adzukibohne vielseitig verwendet. In Japan ist die Adzukibohne zusammen mit Reisbrei wichtiger Bestandteil von „azuki-gayu“, bei traditionalen Zeremonien und Feiern. Adzukibohnen werden gekocht in Japan zu „An“, einer Adzukibohnen-Marmelade, oder „Shiruko“, einer süßen Suppe mit Klebreiskuchen. Aus Adzukibohnenmehl wird in Japan beispielsweise Yōkan hergestellt. Die Adzukibohne soll leichter verdaulich als viele andere „Bohnen“-Arten sein. Verwendung als Heilpflanze Die Adzukibohne wird in der traditionellen chinesischen Medizin seit der Tang-Dynastie als Heilpflanze verwendet. Adzukibohnen haben dort Bedeutung in Bezug auf das Yin und Yang, da sie den Yang-Charakter stärken. Ihnen wird eine Wirkung bei Nierenproblemen, Abszessen, bestimmten Tumoren, in der Geburtshilfe und anderen Beschwerden sowie bei der Erhöhung des Milchflusses zugeschrieben. Die Yin der Laubblätter der Adzukibohne sollen fiebersenkend wirken. Bei der Behandlung nach Aborten werden Keimlinge angewendet. Die postulierten gesundheitsfördernden Eigenschaften wurden in einzelnen Studien wissenschaftlich untersucht. In einer in vitro-Studie wurden antiproliferative Eigenschaften gefunden, die gegen verschiedene Krebszellen wirksam waren. Eine Studie an Mäusen ergab eine Senkung der Serumwerte für Triglyceride, Cholesterin und LDL. Bei Patienten mit Zuckerkrankheit ergab sich eine Senkung des Blutzuckerspiegels. Die bisherigen wissenschaftlichen Evidenzen reichen jedoch bei weitem nicht aus, um der Adzukibohne eine gesicherte, über den bekannten Nährstoffgehalt hinausgehende positive medizinische Wirkung zuzuschreiben. Sonstige Nutzung Adzukibohnenmehl wird auch zur Kosmetikherstellung verwendet. Die Samen werden auch als Viehfutter verwendet. Besonders die spätreifenden Sorten dienen zur Erzeugung von Grünfutter und zur Gründüngung. Damit wird beispielsweise die Bodenerosion verringert. Es wurden Werte der Stickstofffixierung von bis zu 100 kg N/ha beobachtet, die Mengen sind von der Bodenfeuchtigkeit und dem Boden-pH-Wert abhängig. Inhaltsstoffe Die Adzukibohne hat einen niedrigen physiologischen Brennwert und einen geringen Gehalt an Fetten. Sie ist eine exzellente Quelle für Proteine, Faserstoffe, Vitamin B, Folsäure, Eisen sowie Kalium. Neben den Kohlehydraten ist der Rohproteingehalt ziemlich hoch. Bei den Adzukibohnen werden die Inhaltsstoffe der Samen mit 20 bis 21 % Rohprotein, 1,4 % Rohfett, 56 bis 64 % Kohlehydraten, 7 bis 8 % Rohfasern und 2 bis 4 % Asche angegeben. Die Aminosäurezusammensetzung des Proteins der Adzukibohne beträgt je 16 g N: Alanin 4,0 g, Histidin 3,3 g, Prolin 4,7 g, Arginin 6,3 g, Isoleucin 3,9 g, Serin 4,2 g, Asparaginsäure 9,8 g, Leucin 7,2 g, Threonin 3,4 g, Cystin 0,9 g, Lysin 7,3 g, Tryptophan 1,7 g, Glutaminsäure 17,2 g, Methionin 1,3 g, Tyrosin 3,4 g, Glycin 3,4 g, Phenylalanin 5,4 g, Valin 4,4 g. Trivialnamen Trivialnamen in anderen Sprachen sind beispielsweise: Englische Sprache: Adzuki bean, azuki bean Französische Sprache: Haricot adzuki Haricot anguleux, Haricot à feuilles angulaires, Haricot du Japon, Haricots petits rouges, Soja rouge. Portugiesische Sprache: Feijão adzuki (in Angola, Brasilien) Chinesische Sprache: , 紅豆 Hung dou, Hong dou, Hung tou, 小豆 Xiao dou, 小紅豆 Xiao hong dou, Síu hùhng dáu (kantonesisch), 赤小豆 Chi xiao dou, Zhi xiao dou (medizinischer Name), 真紅豆 Jin hong dou, 真紅小豆 Jin hong xiao dou, 紅小豆 Hong xiao dou, 紅赤豆 Hong chi dou, Xiao hong lu dou, Mi dou, Ao ye chi dou, Zhu dou, Zhu dou, Mi chi dou, Shi mu dou, Du chi dou Japanische Sprache: azuki (), Akamame, Ankomame, Shoumame, Omame, Gururimame, Konaremame, Anmame, Antoki, Irakuri, Narazu, Kannome. Koreanische Sprache: pat Spanische Sprache: Judía adzuki (Mexiko), Frijol adzuki, Frijol diablito (Chile, Kuba), Poroto arroz (Argentinien) Vietnamesische Sprache: Đậu đỏ Dänische Sprache: Adzukibønne, Adsukibønne Niederländische Sprache: Azuki-boon Hindi: Guruns, Rains. Malaiische Sprache: Kacang merah kecil Italienische Sprache: Fagiolo adzuki Russische Sprache: , Quellen Walter H. Schuster: Leguminosen zur Kornnutzung. 1998: Joachim Alkämper: Informationen zur Gattung Vigna: Adzukibohne (Vigna angularis (Willd.) Ohwi & H.Ohashi) – Datenblatt der Uni-Gießen. Delin Wu, Mats Thulin: Vigna. Vigna angularis (Willdenow) Ohwi & H. Ohashi. In: Wu Zheng-yi, Peter H. Raven, Deyuan Hong (Hrsg.): Flora of China. Volume 10: Fabaceae, Science Press und Missouri Botanical Garden Press, Beijing und St. Louis 2010, ISBN 978-1-930723-91-7, S. 259. P. C. M. Jansen, 2006: Vigna angularis (Willd.) Ohwi & H.Ohashi. In: M. Brink, G. Belay (Hrsg.): Plant Resources of Tropical Africa / Ressources végétales de l’Afrique tropicale = PROTA, Wageningen, Netherlands Datenblatt. Einzelnachweise Weblinks Vigna (Pflanze) Fruchtgemüse Bohne
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Augenbohne
Die Augenbohne (Vigna unguiculata), auch Kuhbohne, Schwarzaugenbohne oder Schlangenbohne genannt, ist eine Nutzpflanze aus der Familie der Hülsenfrüchtler (Fabaceae). Vier Unterarten sind anerkannt: Vigna unguiculata subsp. dekindtiana, die den Nutzpflanzen verwandte Wildform Vigna unguiculata subsp. unguiculata, cultivated, dieser Artikel (Engl. black-eyed pea) Vigna unguiculata subsp. cylindrica, cultivated, Catjangbohne Vigna unguiculata subsp. sesquipedalis, cultivated, Spargelbohne Merkmale Die Augenbohne ist eine einjährige Pflanze. Ihr Habitus ist recht variabel und reicht von aufrecht über halb-aufrecht über niederliegend bis kletternd. Der Wuchstyp reicht von undeterminiert bis determiniert, wobei vor allem die nicht-rankenden Formen determiniertes Wachstum zeigen. Sie haben eine ausgeprägte Pfahlwurzel, die 8 Wochen nach der Aussaat 2,4 m tief reichen kann. Die Blätter sind dreiteilig. Sie sind glatt, stumpf bis glänzend und selten behaart. Das endständige Blättchen ist häufig länger und größer als die beiden seitlichen. Blattgröße und -form sind sehr variabel. Ab Mittag richten sich die Blätter parallel zur einfallenden Sonnenstrahlung aus und entgehen so dem größten Teil der einfallenden Strahlungsintensität. Die Blüten stehen in mehrfachen Rispen an 20 bis 50 cm langen Blütenstandsstielen, die in den Blattachseln entspringen. Pro Blütenstand werden zwei bis drei Hülsen gebildet, auch vier oder mehr kommen vor. Die Blüten stehen deutlich über den Blättern und enthalten auch Nektarien, um Insekten anzulocken. Dennoch herrscht Selbstbestäubung vor. Die Hülsen sind glatt und 15 bis 25 cm lang. Sie sind zylindrisch und etwas gekrümmt. Zur Nutzungsreife als Gemüse sind die Hülsen grün, gelb oder purpurn, zur Trockenreife werden die zunächst grünen und gelben Formen braun. Die Samen sind nierenförmig. Die Samenoberfläche ist glatt oder runzelig, die Farbe kann weiß, cremefarben, grün, rot, braun oder schwarz sein. Häufig haben sie ein „Auge“, das heißt, der weiße Nabel (Hilum) ist von einer anderen Farbe umrandet. Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 22 und zwar für die Unterarten Vigna unguiculata subsp. unguiculata, Vigna unguiculata subsp. cylindrica und Vigna unguiculata subsp. sesquipedalis. Inhaltsstoffe 100 g reife Samen enthalten im Durchschnitt 24,8 g Protein, 1,9 g Fett, 6,3 g Fasern und 63,6 g Kohlenhydrate. An Vitaminen sind 0,74 mg Thiamin, 0,42 mg Riboflavin und 2,8 mg Niacin enthalten. Das Protein ist relativ reich an den Aminosäuren Lysin und Tryptophan, aber relativ arm an Methionin und Cystein. Geschichte Die Augenbohne ist in Afrika und Indien beheimatet. Wildformen stammen aus Namibia, Botswana, Sambia, Zimbabwe, Mozambique, Swaziland und Südafrika. Der Anbau in Westafrika begann zwischen 1700 und 1500 BCE, vermutlich wurde sie aber viel früher eingeführt, da sich in Südasien zahlreiche lokale Sorten entwickelt haben. Ca. 1675 wurde die Augenbohne als billige Nahrung für Sklaven von Westafrika nach Jamaika eingeführt, von wo sie ca. 1700 nach Florida und dann in die weiteren Südstaaten Nordamerikas gelangte. Die erste Schriftquelle für die Bezeichnung "cow pea" stammt von 1798 aus Nordamerika. Dort waren auch die Bezeichnungen “pease”, “corn-field pease” “southern pea,” “crowder pea” und “black-eyed pea” üblich. Angeblich im amerikanischen Bürgerkrieg wurde die Augenbohne in den Südstaaten auch als Nahrungsmittel für Weiße bedeutsam, da die Felder nicht von feindlichen Soldaten abgebrannt werden konnten bzw. von den Nordstaatlern nicht als Nahrungsmittel erkannt wurden. Anbau Die Augenbohne wird heute in Afrika, Lateinamerika, Südostasien sowie im Süden der USA angebaut. Sie ist vor allem in den feuchten Tropen, aber auch in temperierten Gebieten verbreitet. Hitze und Trockenheit werden gut vertragen, Frost dagegen wird nicht toleriert, kühle Temperaturen verlangsamen das Wachstum deutlich. Der Ertrag steigt deutlich mit der Wasserversorgung, etwa Bewässerung. Auch unter trockenen Bedingungen liefert die Augenbohne noch gute Erträge, worauf ihre große Bedeutung in vielen Gebieten zurückgeht. An den Boden stellt die Augenbohne keine besonderen Anforderungen, am besten gedeiht sie auf gut drainierten sandigen bis sandig-lehmigen Böden bei pH-Werten zwischen 5,5 und 6,5. Nutzung Die Augenbohne wird in allen Wachstumsstadien als Gemüsepflanze genutzt. Junge grüne Blätter werden in Afrika wie Spinat als Blattgemüse zubereitet. Unreife Hülsen werden ebenfalls als Gemüse zubereitet. Grüne Samen werden gekocht als Frischgemüse genutzt oder in Konserven verpackt oder tiefgefroren. Reife, trockene Samen werden gekocht oder konserviert. Gekeimte Samen können ähnlich wie Mungbohnensprossen roh verzehrt werden. Das Laub wird an Nutztiere verfüttert und ist vielfach das einzige verfügbare hochwertige Tierfutter. In der Qualität kommt es der Luzerne gleich. Es wird frisch oder trocken verfüttert. In der bahianischen Küche werden die schwarzen Augen der Bohne entfernt, die Haut der Bohne abgelöst, gemahlen und so zu Acarajé verarbeitet. Systematik Innerhalb der Art Vigna unguiculata (veraltet Vigna sinensis) werden drei Taxa unterschieden, die entweder als Unterarten oder als Sortengruppen eingestuft werden: Augenbohne: Vigna unguiculata subsp. unguiculata oder Vigna unguiculata Sortengruppe 'Unguiculata' Catjangbohne: Vigna unguiculata subsp. catjang oder Vigna unguiculata subsp. cylindrica oder Vigna unguiculata Sortengruppe 'Biflora' Spargelbohne: Vigna unguiculata subsp. sesquipedalis oder Vigna unguiculata Sortengruppe 'Sesquipedalis' Rosch ha-Schana Seder Die Augenbohne wird auf Hebräisch Rubiya (arabisch: lubiya) genannt und ist, wie Honig und Apfel, ein Bestandteil des Seders zu Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahr. Belege D. W. Davis, E. A. Oelke, E. S. Oplinger, J. D. Doll, C. V. Hanson, D. H. Putnam: Cowpea, in: Alternative Field Crops Manual, University of Wisconsin Cooperative or Extension Service, 1991. abgerufen 18. Juli 2009. Einzelnachweise Weblinks Carly Cassella: Saliva From Hungry Caterpillars Alerts Cowpea Plants to Turn on Their Defenses (de: Speichel von hungrigen Raupen alarmiert Kuhbohnenpflanzen, ihre Abwehrkräfte einzuschalten), auf sciencealert.com, vom 5. Dezember 2020. Consensus Document on Compositional Considerations for New Varieties of COWPEA (Vigna unguiculata): Key Food and Feed Nutrients, Anti-nutrients and Other Constituents. (PDF), OECD Series on the Safety of Novel Foods and Feeds No. 30, 2018. Vigna (Pflanze) Fruchtgemüse Bohne
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Admiral
Admiral (Plural: Admirale, auch Admiräle) ist ein Dienstgrad der Marinestreitkräfte in den meisten Staaten und zugleich die Sammelbezeichnung für die Dienstgradgruppe der Flaggoffiziere, also aller Admiralsdienstgrade. Etymologie Die Bezeichnung leitet sich ab vom arabischen . Im 10. und 11. Jahrhundert führten Flottenführer in Griechenland (Byzantinisches Reich) die Bezeichnung Amiralios (entsprach etwa dem Grad des Admirals), während die Heeresführer Amiras (etwa General) hießen; beide Begriffe sind von derselben arabischen Wortwurzel amir abgeleitet. Im 12. Jahrhundert erhielten zunächst die Befehlshaber der Flotten von Genua und Sizilien die Bezeichnung, im 13. Jahrhundert dann auch die von England und Frankreich, denen die anderen europäischen Staaten später folgten. Im Deutschen ist das Wort zunächst ab dem 12. Jahrhundert in Formvarianten wie amiral, ammiralt, admirat u. ä. belegt, zunächst noch in der Bedeutung ‚muslimischer Befehlshaber‘, ‚Kalif‘. Ab dem 14. Jahrhundert wurde es dann in der neuen Bedeutung ‚Flottenbefehlshaber‘ aus dem Französischen neu entlehnt. Dabei war die Bezeichnung „Admiral“, als letzte Instanz in einer Flotte, nicht nur auf militärische Verbände beschränkt. Bis ins 17. Jahrhundert konnte in Konvois aus Handelsschiffen in einer Kapitäns- oder Schifferversammlung eines der Mitglieder zum Admiral gekürt werden. Dieser Verband segelte dann in einer Admiralschaft. Ebenso konnte auch der Befehlshaber eines Konvoischiffes zum Admiral werden. Dieser Kapitän konnte der Befehlshaber eines städtischen, eines landesherrlichen oder auch privaten Kriegsschiffes sein. Wurde er von den Handelskapitänen zu ihrem Schutz angestellt oder angenommen, zahlten sie also entsprechende Abgaben – das so genannte „Convoigeld“ –, wurde er zum Admiral dieses geschützten Konvois. Auch hier segelte man dann in einer Admiralschaft. Streitkräfte der deutschen Staaten Kaiserreich In der Kaiserlichen Marine wurden von 1872 bis 1918 die Dienstgrade Konteradmiral (bis 1898 Contreadmiral), Vizeadmiral und Admiral sowie Großadmiral (Hans von Koester (1905), Heinrich von Preußen (1909), Alfred von Tirpitz (1911) und Henning von Holtzendorff (1918)) vergeben. Der Großadmiral entsprach dem Generalfeldmarschall im Heer. Reichswehr In der Reichsmarine von 1922 bis 1935 wurden die Ränge Konteradmiral, Vizeadmiral und Admiral vergeben. Wehrmacht In der deutschen Kriegsmarine wurden von 1935 bis 1945 die Ränge Kommodore, Konteradmiral, Vizeadmiral, Admiral und Generaladmiral sowie Großadmiral Erich Raeder (1939), Karl Dönitz (1943) für die Oberbefehlshaber vergeben. Zum Dienstgrad Admiral der Kriegsmarine war das Äquivalent der General der Waffengattung bei Heer und Luftwaffe. Nationale Volksarmee In den Seestreitkräften bzw. der Volksmarine (ab 1960) der DDR gab es bis 1982 die drei Admiralsdienstgrade Konteradmiral, Vizeadmiral und Admiral. Mit Beschluss des Staatsrates der DDR vom 25. März 1982 wurde zudem der Dienstgrad des Flottenadmirals, äquivalent zum Armeegeneral, geschaffen, jedoch nie verliehen. Der Admiral war in der Volksmarine der DDR der zweithöchste Dienstgrad im Admiralsrang. Er entsprach dem Generaloberst der NVA. Das Dienstgradabzeichen bestand aus Schulterstücken mit marineblauem Untergrund und darauf einer geflochtenen gold-silbernen Schnur, auf der drei fünfeckige silberfarbene Generalssterne („Pickel“) angebracht waren. Schulterstücke wurden zu allen Uniformteilen getragen. Das Ärmelabzeichen bestand aus einem breiten gelbfarbigen Streifen und drei weiteren einfachen Streifen. Darüber war ein fünfzackiger Stern angebracht, in dessen Innerem sich das Wappen der DDR befand. Im Unterschied zu allen übrigen deutschen Marinestreitkräften bedeckten die Ärmelabzeichen nur zu ca. 40 % den Ärmelumfang. Die Admiralskragenspiegel zeigten eine goldfarbene Ranke, die am unteren Ende einen Winkel von 90° aufwies. Waldemar Verner, Wilhelm Ehm und Theodor Hoffmann waren die einzigen Admirale in der Volksmarine. In diesen Dienstgrad wurde man nur in Verbindung der Dienststellung des Ministers für Nationale Verteidigung oder seines Stellvertreters befördert. Bis 1989 war der Chef der Volksmarine gleichzeitig stellvertretender Minister. Theodor Hoffmann wurde anlässlich seiner Berufung zum Minister für Nationale Verteidigung zum Admiral befördert und behielt den Dienstgrad auch als Chef der Nationalen Volksarmee unter dem Minister für Abrüstung und Verteidigung Rainer Eppelmann. Waldemar Verner wurde während seiner Zeit als Chef der Politischen Hauptverwaltung, ebenfalls Stellvertreter des Ministers, zum Admiral befördert. Bundeswehr Der Admiral ist der höchste Dienstgrad der Bundeswehr für Marineuniformträger. Gesetzliche Grundlage ist die Anordnung des Bundespräsidenten über die Dienstgradbezeichnungen und die Uniform der Soldaten und das Soldatengesetz. Dienststellungen Innerhalb der Kommandostruktur der Teilstreitkraft Marine sind keine Dienststellungen für Admirale ausgeplant. Beispielsweise kann aber der Generalinspekteur der Bundeswehr ein Admiral sein. Denkbar ist auch eine Verwendung in höheren Stäben der NATO. Bisher gab es erst sechs Offiziere im Dienstgrad Admiral. Dienstgradabzeichen Die Dienstgradabzeichen des Admirals zeigen einen handbreiten, darüber drei mittelbreite Ärmelstreifen auf beiden Unterärmeln. Sonstiges Die Dienstgradbezeichnung ranggleicher Luftwaffen- und Heeresuniformträger lautet General. Hinsichtlich Befehlsbefugnis, Ernennung, Sold, Dienststellungen, den nach- und übergeordneten Dienstgraden sind Admirale und Generale gleichgestellt. Beide Dienstgrade wurden durch die Anordnung des Bundespräsidenten über die Dienstgradbezeichnungen und die Uniform der Soldaten vom 7. Mai 1956 neu geschaffen. Verwendung als Sammelbezeichnung Gemäß Duden lautet der Plural Admirale oder Admiräle, wobei in der Umgangssprache (meist auch im Sprachgebrauch der Bundeswehr) die Pluralform „Admirale“ vorherrscht. Gemäß der Zentralen Dienstvorschrift (ZDv) A-1420/24 „Dienstgrade und Dienstgradgruppen“ existiert keine Dienstgradgruppe „Admirale“ oder „Admiräle“. Vielmehr zählen die höheren Marineuniformträger zur Dienstgradgruppe der Generale. Dennoch wird der Plural neben einer Zusammenfassung mehrerer Soldaten im Dienstgrad Admiral auch als Sammelbezeichnung für mehrere Dienstgrade verwendet. Aufgrund des inoffiziellen Charakters ist nicht immer klar, ob Admirale nur alle Soldaten meint, die mit Herr Admiral angeredet werden (also nur die Dienstgrade Flottillenadmiral, Konteradmiral, Vizeadmiral und Admiral) oder darüber hinaus alle weiteren Marineuniformträger (also einschließlich entsprechender Sanitätsoffiziere) der Dienstgradgruppe der Generale mit einschließt. Streitkräfte des Vereinigten Königreichs Der erste englische Admiral der Royal Navy war William of Leybourne, der 1297 von König Edward I. zum Admiral of the sea of the King of England ernannt wurde. Der Admiral als Marineoffizier darf nicht verwechselt werden mit dem Amt des Admiral of England oder Lord High Admiral, dessen Inhaber die Verantwortung für die gesamte Marine hatte, also ein Marineminister im heutigen Sinne war. In der Royal Navy gab es seit dem 16. Jahrhundert die Funktion der Vize- und Konteradmirale (Vice- beziehungsweise Rear-Admirals), die ursprünglich Stellvertreter des kommandierenden Admirals waren. Ein kommandierender Admiral konnte seine Flotte von der Spitze oder von der Mitte aus führen. Befand er sich auf einem Schiff in der Mitte der Flotte, hatte er in der Spitze einen Stellvertreter, den Vizeadmiral. Einen weiteren Stellvertreter hatte er im hinteren, der Spitze entgegengesetzten Bereich, den Konter- oder Rear-Admiral (von lateinisch contra, gegen, beziehungsweise englisch rear für hinten). Im elisabethanischen Zeitalter wurde die Flotte so groß, dass sie in Geschwader (squadrons) unterteilt werden musste. Das Geschwader des Admirals führte einen roten Stander, das des Vizeadmirals einen weißen und das des Konteradmirals einen blauen. Nachdem auch diese Geschwader immer mehr angewachsen waren, wurde jedes davon von einem Admiral mit jeweils einem Vize- und Konteradmiral geführt. Die Bezeichnung für die Befehlshaber lautete dann Admiral of the White, Admiral of the Blue usw. Die Rangfolge der Flotten und damit auch ihrer Admirale war in absteigender Folge: Rot, Weiß, Blau. Die Beförderung zum Admiral erfolgte in Abhängigkeit vom Dienstalter als Kapitän und galt auf Lebenszeit. Man konnte demnach erst dann weiterbefördert werden, wenn der Inhaber des höheren Ranges gestorben war oder seinen Abschied genommen hatte. Eine andere Möglichkeit war, einen unfähigen Admiral oder einen, der den Unwillen der Lords der Admiralität erregt hatte, ohne Kommando zu befördern. Man bezeichnete diese Praxis als Yellowing und den auf diese Weise aus dem Weg Geräumten als Yellow Admiral. Die Rangfolge der Flaggoffiziere / Admirale (absteigend) Admiral of the Fleet Admiral of the Red (ab 1805) Admiral of the White Admiral of the Blue Vice Admiral of the Red Vice Admiral of the White Vice Admiral of the Blue Rear Admiral of the Red Rear Admiral of the White Rear Admiral of the Blue Als Lord Nelson starb, war er Vice Admiral of the White. Im 18. Jahrhundert begann man damit, die ursprünglich neun Dienststellungen mit mehreren Inhabern zu besetzen. 1864 wurde die Unterteilung der Flotte in verschiedenfarbige Divisions ganz aufgegeben. Die rote Flagge wurde der Handelsmarine zugewiesen, die weiße der Kriegsmarine und die blaue der Reserve und den Hilfsschiffen. Heute sind die Dienstgrade der Flaggoffiziere der Royal Navy der Rear Admiral, Vice Admiral, Admiral und Admiral of the Fleet. Seit 1996 wird der Dienstgrad Admiral of the Fleet in Friedenszeiten nicht mehr vergeben. Ausnahmen von dieser Regel werden nur für Mitglieder der königlichen Familie gemacht. Die vor diesem Termin ernannten Flottenadmirale behalten aber ihren Rang auf Lebenszeit. Der Rang des Commodore (deutsch bis 1945 Kommodore, heute in etwa Flottillenadmiral) war bis 1996 in der Royal Navy kein Admiralsdienstgrad, sondern eine an den Dienstposten gebundene Bezeichnung für einen dienstälteren Captain, die nach Verlassen des Dienstpostens wieder entfiel. Seit 1996 ist der Dienstgrad “Commodore” ein offizieller Dienstgrad in der Royal Navy. Er ist dem Captain übergeordnet und dem Rear Admiral untergeordnet (NATO-Code: OF 6). Russische Streitkräfte Die Russische Seekriegsflotte hat seit 1992 folgende Admiralsränge. Französische Streitkräfte In der Marine Nationale werden die vier Admiralsränge Contre-amiral (zwei Sterne), Vice-amiral (drei Sterne), Vice-amiral d’escadre (vier Sterne) und Amiral (fünf Sterne) vergeben. Der Titel Amiral de France (Admiral von Frankreich) – manchmal auch Amiral de la flotte – wurde von 1302 bis 1870 an 28 Marineoffiziere verliehen. Er entsprach dem Rang eines Maréchal de France (Marschall von Frankreich). Nur einmal wurde dann wieder der Titel Amiral de la flotte (Admiral der Flotte) 1939 an François Darlan verliehen. Heute (Gesetz von 1972) ist der Titel Admiral von Frankreich eine staatliche Würde, die bisher nicht verliehen wurde. Streitkräfte und Behörden der Vereinigten Staaten Flaggoffiziere Die United States Navy hatte bis 1862 überhaupt keine Admiräle, obwohl die Einrichtung dieses Dienstgrades immer wieder gefordert wurde, unter anderem auch von John Paul Jones, der die Meinung vertrat, dass die kommandierenden Marineoffiziere mit den Armeegeneralen auf einer Stufe stehen sollten. Außerdem hielt er höherrangige Offiziere für nötig, um Streitigkeiten zwischen den rangälteren Kapitänen zu vermeiden oder zu schlichten. Statt des Dienstgrades Admiral waren der Ehrentitel eines Commodore und zwischen 1857 und 1862 der Dienstgrad Flag Officer in Benutzung. Die verschiedenen Marineminister schlugen dem Kongress wiederholt vor, den Rang eines Admirals zu schaffen, um eine Gleichstellung mit den Marinen anderer Staaten herzustellen, weil die höheren Offiziere der US Navy immer wieder in protokollarische Schwierigkeiten mit Offizieren anderer Nationen gerieten. Schließlich stimmte der Kongress am 16. Juli 1862 zu, neun Rear Admirals zu ernennen, was aber wohl weniger mit der Anpassung an internationale Erfordernisse zu tun hatte, als vielmehr mit der schnell anwachsenden Stärke der Marine im Amerikanischen Bürgerkrieg. Zwei Jahre später erlaubte der Kongress, einen der neuen Rear Admirals, David Farragut, zum Vice Admiral zu ernennen. Im Juli 1866 autorisierte er US-Präsident Johnson, Farragut zum Admiral und David Dixon Porter zum Vice Admiral zu ernennen. Als Farragut 1870 starb, wurden Porter Admiral und Stephen C. Rowan Vice Admiral. Nach dem Tod der beiden ranghöchsten Admirale wurden keine weiteren Beförderungen mehr bewilligt, so dass es bis 1915 keinen Admiral oder Vizeadmiral mehr gab, bis der Kongress zustimmte, je einen Admiral und Vizeadmiral für die Atlantikflotte, die Pazifikflotte und die Asiatische Flotte zu ernennen. Trotzdem gab es in der Zwischenzeit einen höherrangigen Admiral. 1899 würdigte der Kongress George Deweys Verdienste im Spanisch-Amerikanischen Krieg, indem er Präsident McKinley ermächtigte, ihn zum Admiral of the Navy zu ernennen, was er bis zu seinem Tode 1917 blieb. Dewey war bis heute der einzige US-amerikanische Marineoffizier mit diesem Rang. 1944 genehmigte der Kongress den Rang des Flottenadmirals (Admiral of the Fleet). Die ersten und bisher einzigen Inhaber dieses Dienstgrads waren Ernest J. King, William D. Leahy, Chester W. Nimitz (alle im Dezember 1944) und William F. Halsey, der seinen fünften Stern im Dezember 1945 erhielt. Das Commissioned Officer Corps der National Oceanic and Atmospheric Administration und das Commissioned Corps des United States Public Health Service sind Uniformed Services innerhalb ziviler Bundesbehörden, also außerhalb der Streitkräfte. Die Commissioned Corps beider Bundesbehörden bestehen – wie die Bezeichnung Commissioned bereits nahelegt – nur aus Offizieren ohne Mannschafts- oder Unteroffiziersdienstgrade. Mit Ausnahme der Militärgerichtsbarkeit, der sie nicht unterliegen, gelten für sie alle Rechte und Pflichten eines Offiziers gemäß Title 10. Im Dienst werden Uniformen getragen, die an die Uniform der US-Navy angelehnt, jedoch mit anderen Insignien bestückt sind. Dienstgrad In der United States Navy und der United States Coast Guard ist der Dienstgrad Admiral ein Rang, der in der Hierarchie über dem Vice Admiral und unter den Fleet Admiral rangiert. Die US-Soldstufe ist O-10. Der NATO-Rangcode ist OF-9. Der Dienstgrad des Admirals ist mit bestimmten Dienststellungen verbunden und wird nicht dauerhaft verliehen, so können bspw. der Vorsitzende und die Mitglieder der Joint Chiefs of Staff Admirale (alternativ: Generale) sein. Operativ kann der Admiral auch ein höheres Kommando führen oder den Oberbefehl über ein regionales Einsatzgebiet innehaben. Der Commandant of the Coast Guard und dessen Stellvertreter sind ebenfalls im Dienstgrad Admiral. Für eine solche Dienststellung, und damit für eine Beförderung über den Dienstgrad eines Konteradmiral () hinaus, muss der Soldat für den bestimmten Dienstposten vom Präsidenten nominiert und vom Senat mit einfacher Mehrheit bestätigt werden. Die Verwendung auf dem Dienstposten beträgt im Regelfall drei Jahre. Gesetzliche Voraussetzung ist mindestens der Dienstgrad Rear Admiral (lower half), jedoch wird in der Praxis entweder ein Vice Admiral oder Admiral nominiert. Nach der vorgesehenen Dienstzeit auf dem Dienstposten wird für den Offizier entweder die Nominierung verlängert, er wird für einen neuen Dienstposten vorgeschlagen oder er geht in den Ruhestand. Die früher durchaus übliche Praxis in den Dienstgrad eines Rear Admiral zurückzukehren, wird heutzutage nicht mehr durchgeführt. Beim United States Public Health Service Commissioned Corps gibt es nur einen Admiral. Es ist der Assistant Secretary for Health des US-Ministerium für Gesundheitspflege und Soziale Dienste. Das Commissioned Corps selbst wird durch einen Vizeadmiral, dem Surgeon General of the United States geführt. Das NOAA Commissioned Officer Corps hat keinen Dienstgrad Admiral. Streitkräfte Österreich-Ungarns In der Österreichischen (k. k.) Kriegsmarine (ab 1868 k. u. k. Kriegsmarine) wurden von 1849 bis 1918 die Ränge Kontreadmiral (im 20. Jh. auch Konteradmiral), Viceadmiral, und Admiral sowie Großadmiral vergeben. Bekannte österreichische bzw. österreichisch-ungarische Admirale waren: Hans Birch Freiherr von Dahlerup 1849 Viceadmiral, Marinekommandant (1849–1851) Erzherzog Ferdinand Max 1854 Viceadmiral, Marinekommandant (1854–1860), Chef der Marinesektion (1860–1864) Ludwig Ritter von Fautz 1860 Viceadmiral, Marinekommandant (1860–1865), Chef der Marinesektion (1865–1868) Wilhelm von Tegetthoff 1865 Viceadmiral, Marinekommandant (1865–1871), Chef der Marinesektion ab 1868 in Personalunion Friedrich Freiherr von Pöck 1872 Admiral, Marinekommandant (1871–1883) Maximilian Freiherr Daublebsky von Sterneck 1888 Admiral, Marinekommandant (1883–1897) Hermann Freiherr von Spaun 1899 Admiral, Marinekommandant (1897–1904) Rudolf Graf Montecuccoli 1904 Admiral, Marinekommandant (1904–1913) Anton Haus 1916 Großadmiral, Marinekommandant (1913–1917), Flottenkommandant Maximilian Njegovan 1917 Admiral, Marinekommandant, Flottenkommandant Karl Kailer von Kaltenfels 1917 Viceadmiral, Chef der Marinesektion d. Reichskriegsministeriums Alfred von Koudelka 1917 Viceadmiral, Seebezirkskmdt. von Triest Paul Fiedler 1914 Viceadmiral, Kommandant der Kreuzerflottille Miklós Horthy 1918 Viceadmiral, Flottenkommandant Siehe auch Liste deutscher Admirale Reichsadmiral, Holmadmiral Weblinks Anmerkungen Einzelnachweise Admiralsdienstgrad Dienstgrad der Marine (Bundeswehr) Dienstgrad (Nationale Volksarmee)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Andine%20Knollenbohne
Andine Knollenbohne
Die Andine Knollenbohne, Ahipa (Pachyrhizus ahipa, Syn.: Dolichos ahipa ) ist eine Pflanzenart aus der Gattung der Yambohnen (Pachyrhizus) in der Familie der Hülsenfrüchtler (Fabaceae). Die Andine Knollenbohne hat ihren Ursprung im gebirgigen Südamerika (von den Anden stammt der deutsche Trivialname ab), wo sie von den Inka genutzt wurde. Sie gedeiht in Höhenlagen von 1000 bis über 2500 Meter und damit bei gemäßigten Temperaturen. Es werden hauptsächlich die Knollen gegessen, aber auch, obwohl sie giftig sind, werden die Hülsen und Samen genutzt. Heute wird sie nur noch selten angebaut. Beschreibung Pachyrhizus ahipa ist eine ausdauernde, aufrechte bis halbaufrechte und krautige Pflanze, die Wuchshöhen von 40 bis 60 Zentimeter erreicht, windende Formen werden bis etwa 0,6–2 Meter lang oder hoch. Sie ist, anders als die restlichen Arten der Gattung keine Kletterpflanze. Sie bilden bis 15 Zentimeter lange, rettichförmige Knollen als Überdauerungsorgane und als Wasserspeicher. Sie wird aber als einjährige Pflanze angebaut, weil die ganze Pflanze wegen der Knollen abgeerntet wird und im Folgejahr eine Neuaussaat erforderlich ist. Die kleine, regelmäßig geformte Knolle besitzt eine gelbliche Schale, weißes, faserdurchzogenes „Fleisch“ und wiegt zwischen 500 und 800 g. Die gestielten Laubblätter sind dreizählig. Die meist ganzrandigen, meist spitzen Blättchen sind eiförmig bis breit-dreieckig, sowie mit teils ungleicher Spreite. Es sind Nebenblätter und -blättchen ausgebildet. Der kurze, achselständige und traubige Blütenstand weist eine Länge von etwa 4–9 cm auf und enthält nur wenige Blüten. Die zwittrigen, kurz gestielten Schmetterlingsblüten sind zygomorph. Der Kelch ist zweilippig und die Krone ist weiß oder violett. Es wird eine etwa 8 bis 17 cm lange, an den Samen etwas eingeschnürte und kurz bespitzte Hülsenfrucht gebildet, die rotbraune bis schwarze oder weiß-schwarze, rundliche bis leicht nierenförmige, etwas abgeflachte und glatte Samen mit etwa 1 cm Durchmesser enthält. Nutzung Die Knollen werden sehr vielseitig zubereitet: roh in Salaten, gekocht und frittiert. Die Hülsenfrüchte können nur gegart gegessen werden, weil dadurch das giftige Rotenon entfernt wird. Aus den Samen kann Öl gewonnen werden. Auf Grund ihrer Rotenon-Gehalte finden Hülsenfrüchte und Samen Verwendung als Insektizid, Akarizid und ihre Saponine wirken als Fischgift. Literatur T. K. Lim: Edible Medicinal and Non-Medicinal Plants. Volume 10: Modified Stems, Roots, Bulbs. Springer, 2016, ISBN 978-94-017-7275-4, S. 458–464. Eduardo O. Leidi, D. N. Rodriguez-Navarro, M. Fernandes, R. Sarmiento, J. Semedo, N. Marques, A. Matos, A. P. Machado, B. Ørting, M. Sorensen, M. C. Matos: Factors affecting root and seed yield in ahipa (Pachyrhizus ahipa (Wedd.) Parodi), a multipurpose legume crop. In: European journal of agronomy. Vol. 20(4), 2004, S. 395–403, . Marten Sørensen: Yam bean. IPGRI, 1996, ISBN 92-9043-282-9, PDF. Weblinks Walter H. Schuster, Joachim Alkämper, Richard Marquard & Adolf Stählin: Leguminosen zur Kornnutzung : Kornleguminosen der Welt, Justus-Liebig-Universität Gießen, 1998.: Joachim Alkämper: Informationen zur Andine Knollenbohne (Pachyrrhizus ahipa). Pachyrhizus ahipa bei Useful Tropical Plants. Ahipa bei Cultivariable, abgerufen am 6. Oktober 2019. Phaseoleae (Tribus) Fruchtgemüse Wurzelgemüse Bohne Nutzpflanze
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https://de.wikipedia.org/wiki/Apollo%2011
Apollo 11
Apollo 11 war die erste bemannte Raumfahrtmission mit einer Mondlandung. Sie war der fünfte bemannte Flug des Apollo-Programms der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA. Die Mission verlief erfolgreich und erreichte das 1961 von US-Präsident John F. Kennedy vorgegebene nationale Ziel, noch vor Ende des Jahrzehnts einen Menschen zum Mond und wieder sicher zurück zur Erde zu bringen. Die drei Astronauten Neil Armstrong, Edwin „Buzz“ Aldrin und Michael Collins starteten am 16. Juli 1969 mit einer Saturn-V-Rakete von Launch Complex 39A des Kennedy Space Center in Florida und erreichten am 19. Juli die Mondumlaufbahn. Während Collins im Kommandomodul des Raumschiffs Columbia zurückblieb, setzten Armstrong und Aldrin am nächsten Tag mit der Mondlandefähre Eagle auf dem Erdtrabanten auf. Wenige Stunden später betrat Armstrong als erster Mensch den Mond, kurz danach auch Aldrin. Nach einem knapp 22-stündigen Aufenthalt startete die Landefähre wieder von der Mondoberfläche und kehrte zum Kommandoschiff zurück (Mondumlaufbahn-Rendezvous). Nach Rückkehr zur Erde wasserte die Columbia am 24. Juli rund 25 km vom Bergungsschiff USS Hornet entfernt im Pazifik. Mit Apollo 11 wurden auch das erste Mal Gesteinsproben von einem anderen Himmelskörper zur Erde geholt. Weltweit verfolgten rund 600 Millionen Menschen die Fernsehübertragung der Mondlandung 1969. Mit dem Apollo Guidance Computer kam auch bei dieser Apollo-Mission das erste eingebettete Computersystem zum Einsatz. Entwickelt wurde dieses am MIT Instrumentation Laboratory (später nach dessen Gründer und Leiter umbenannt zu The Charles Stark Draper Laboratory), dessen Softwareentwicklungs-Abteilung zu dieser Zeit von der Informatikerin Margaret Hamilton geleitet wurde. Hintergrund In den späten 1950er und frühen 1960er Jahren herrschte zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion der Kalte Krieg. Am 4. Oktober 1957 startete die Sowjetunion Sputnik 1, den ersten künstlichen Satelliten. Dieser Überraschungserfolg löste in der ganzen Welt Ängste und Fantasien aus. Er zeigte, dass die Sowjetunion in der Lage war, Atomwaffen über interkontinentale Entfernungen zu transportieren, und stellte die militärische, wirtschaftliche und technologische Überlegenheit der USA in Frage. Dies führte zur Sputnik-Krise und löste das Wettrennen im Weltraum aus, bei dem es darum ging, welche Supermacht die überlegenen Fähigkeiten in der Raumfahrt erlangen würde. Präsident Dwight D. Eisenhower reagierte auf die Sputnik-Herausforderung, indem er die NASA gründete und das Projekt Mercury ins Leben rief, mit dem ein Mensch in die Erdumlaufbahn gebracht werden sollte. Doch am 12. April 1961 war der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin der erste Mensch im All und der erste, der die Erde umkreiste. Knapp einen Monat später, am 5. Mai 1961, war Alan Shepard der erste Amerikaner im Weltraum, der eine 15-minütige suborbitale Reise absolvierte. Nachdem er aus dem Atlantik geborgen worden war, erhielt er einen Glückwunschanruf von Eisenhowers Nachfolger John F. Kennedy. Da die Sowjetunion über Trägerraketen mit höherer Tragfähigkeit verfügte, wählte Kennedy unter den von der NASA vorgestellten Optionen eine Herausforderung, die über die Kapazität der bestehenden Raketengeneration hinausging, so dass die USA und die Sowjetunion von einer gleichberechtigten Position aus starten würden. Eine Mission mit Besatzung zum Mond würde diesem Zweck dienen. Am 25. Mai 1961 sprach Kennedy vor dem Kongress der Vereinigten Staaten über "dringende nationale Bedürfnisse" und erklärte: Am 12. September 1962 hielt Kennedy im Football-Stadion der Rice University in Houston, Texas, eine weitere Rede vor etwa 40.000 Zuhörern. Eine viel zitierte Passage aus dem Mittelteil der Rede lautet wie folgt: Trotzdem stieß das geplante Programm auf den Widerstand vieler Amerikaner und wurde von Norbert Wiener, einem Mathematiker am Massachusetts Institute of Technology, als „Schwindel“ bezeichnet. Das Vorhaben, einen Menschen auf dem Mond zu landen, hatte bereits einen Namen: Projekt Apollo. Als Kennedy im Juni 1961 mit Nikita Chruschtschow, dem Ministerpräsidenten der Sowjetunion, zusammentraf, schlug er vor, die Mondlandung zu einem gemeinsamen Projekt zu machen, doch Chruschtschow ging nicht auf das Angebot ein. In einer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. September 1963 schlug Kennedy erneut eine gemeinsame Expedition zum Mond vor. Die Idee einer gemeinsamen Mondmission wurde nach Kennedys Tod aufgegeben. Eine frühe und wichtige Entscheidung war die Entscheidung für ein Rendezvous in der Mondumlaufbahn anstelle eines direkten Aufstiegs oder eines Rendezvous in der Erdumlaufbahn. Ein Weltraum-Rendezvous ist ein orbitales Manöver, bei dem zwei Raumfahrzeuge durch den Weltraum navigieren und sich treffen. Im Juli 1962 kündigte NASA-Chef James Webb an, dass das Rendezvous in der Mondumlaufbahn stattfinden würde und dass das Apollo-Raumschiff aus drei Hauptteilen bestehen würde: ein Kommandomodul (CM) mit einer Kabine für die drei Astronauten und dem einzigen Teil, der zur Erde zurückkehrte; ein Servicemodul (SM), das das Kommandomodul mit Antrieb, elektrischer Energie, Sauerstoff und Wasser versorgte; und eine Mondlandefähre (LM) mit zwei Stufen - einer Abstiegsstufe für die Landung auf dem Mond und einer Aufstiegsstufe, um die Astronauten wieder in die Mondumlaufbahn zu bringen. Dank dieser Konstruktion konnte das Raumschiff mit einer einzigen Saturn-V-Rakete gestartet werden, die sich damals in der Entwicklung befand. Die für Apollo erforderlichen Technologien und Techniken wurden im Rahmen des Projekts Gemini entwickelt. Das Apollo-Projekt wurde durch die Einführung neuer Fortschritte in der elektronischen Halbleitertechnologie durch die NASA ermöglicht, darunter Metalloxid-Halbleiter-Feldeffekttransistoren (MOSFETs) in der Interplanetaren Überwachungsplattform (IMP) und integrierte Siliziumschaltungen (ICs) im Apollo-Lenkungscomputer (AGC). Das Projekt Apollo wurde durch den Brand von Apollo 1 am 27. Januar 1967, bei dem die Astronauten Gus Grissom, Ed White und Roger B. Chaffee ums Leben kamen, und die anschließende Untersuchung abrupt unterbrochen. Im Oktober 1968 testete Apollo 7 das Kommandomodul in der Erdumlaufbahn, und im Dezember testete Apollo 8 es in der Mondumlaufbahn. Im März 1969 prüfte Apollo 9 die Mondlandefähre in der Erdumlaufbahn auf Herz und Nieren, und im Mai führte Apollo 10 eine "Generalprobe" in der Mondumlaufbahn durch. Im Juli 1969 war alles für Apollo 11 bereit, um den letzten Schritt auf den Mond zu tun. Die Sowjetunion schien das Weltraumrennen zu gewinnen, indem sie die USA bei den ersten Versuchen schlug, aber ihr früher Vorsprung wurde durch das amerikanische Gemini-Programm und das Versäumnis der Sowjets, die Trägerrakete N1 zu entwickeln, die mit der Saturn V vergleichbar gewesen wäre, wieder eingebüßt. Die Sowjets versuchten, die USA bei der Rückkehr von Mondmaterial zur Erde mit unbemannten Sonden zu schlagen. Am 13. Juli, drei Tage vor dem Start von Apollo 11, startete die Sowjetunion Luna 15, die noch vor Apollo 11 die Mondumlaufbahn erreichte. Während des Abstiegs stürzte Luna 15 aufgrund einer Fehlfunktion in das Mare Crisium, etwa zwei Stunden bevor Armstrong und Aldrin von der Mondoberfläche abhoben, um ihre Heimreise anzutreten. Das Radioteleskop der Nuffield Radio Astronomy Laboratories in England zeichnete während des Abstiegs Übertragungen von Luna 15 auf, die im Juli 2009 anlässlich des 40-jährigen Jubiläums von Apollo 11 veröffentlicht wurden. Besatzung Kommandant (CDR) der Apollo-11-Mission war Neil Armstrong. Er war zunächst Kampfpilot der US Navy, bevor er bei der NASA als Testpilot zahlreicher Hochgeschwindigkeits-Flugzeuge wie der X-15 tätig war. Als er 1962 in die 2. NASA-Astronautengruppe aufgenommen wurde, waren er und Elliot See die ersten Zivilisten unter den US-Astronauten. Seinen ersten Weltraumflug absolvierte Armstrong als Kommandant von Gemini 8 im März 1966, bei dem die erste Kopplung zwischen zwei Raumfahrzeugen durchgeführt wurde. Pilot der Mondlandefähre (LMP) war Edwin „Buzz“ Aldrin, ein Oberst der US Air Force. Er wurde 1963 in die 3. NASA-Astronautengruppe aufgenommen, nachdem er zuvor mit der Air Force am Koreakrieg teilgenommen und 1963 am Massachusetts Institute of Technology eine Promotion zum Problem der Rendezvoustechnik erhalten hatte. Im November 1966 war Aldrin mit Gemini 12 erstmals zu einem Raumflug gestartet, in dessen Verlauf er drei Raumausstiege absolvierte. Pilot des Kommandomoduls (CMP) war Michael Collins, ein Oberstleutnant und früherer Kampfpilot der US Air Force. Wie Aldrin gehörte er der 3. NASA-Astronautengruppe von 1963 an. Erste Weltraumerfahrung sammelte Collins im Juli 1966 als Pilot von Gemini 10. Während dieser Mission verließ er das Raumschiff für zwei Außenbordeinsätze. Armstrong und Aldrin hatten zusammen mit Fred Haise bereits die Ersatzmannschaft des Fluges Apollo 8 gebildet. Collins war ursprünglich für die dritte bemannte Apollo-Mission (die später auf Apollo 8 vorverlegt wurde) vorgesehen gewesen, aufgrund von Bandscheibenproblemen, die eine Operation erforderlich machten, aber aus dem Team ausgeschieden. Nach seiner Genesung wurde er direkt für die Hauptmannschaft von Apollo 11 nominiert, wodurch Fred Haise in die Ersatzmannschaft rückte. Ursprünglich war Jim Lovell in Armstrongs Mannschaft als Pilot des Kommandomoduls vorgesehen. Als er Collins in der Besatzung von Apollo 8 vertreten musste, rückte Aldrin vom Posten des Mondfährenpiloten in seine Position und absolvierte einen großen Teil der Missionsvorbereitung in der Rolle des CMP. Als Haise zugunsten von Collins aus der Mannschaft abgezogen wurde, wechselte Aldrin wieder auf die Position des LMP. Den Start von Apollo 11 absolvierte er jedoch in der mittleren Couch der Kommandokapsel, die normalerweise für den CMP vorgesehen war, während Collins in der rechten Couch des LMP lag. Dies war die einzige derartige Ausnahme im gesamten Apollo-Programm. Ersatz- und Unterstützungsmannschaft Für die Ersatzmannschaft, die ein ausgefallenes Mitglied der Hauptbesatzung im Bedarfsfall ersetzt hätte, waren Jim Lovell als Kommandant, William Anders als Pilot des Kommandomoduls und Fred Haise als Pilot der Mondfähre eingeteilt. Die Unterstützungsmannschaft (Support Crew), die der eigentlichen Besatzung beim Training assistierte, bestand aus Ken Mattingly, Ron Evans, Bill Pogue und Jack Swigert. Die Mitglieder der Ersatzmannschaft sowie Mattingly und Evans aus der Unterstützungscrew waren außerdem zusammen mit Charles Duke, Bruce McCandless, Don Lind, Owen Garriott und Harrison Schmitt als Verbindungssprecher (CAPCOM) tätig. In dieser Funktion waren sie normalerweise die Einzigen, die mit den Astronauten im Weltraum sprachen. Flugleiter Flugleiter (Flight Director) im Kontrollzentrum in Houston waren Cliff Charlesworth (während des Starts und des Mondspaziergangs), Gene Kranz (bei der Mondlandung), Glynn S. Lunney (für den Rückstart zur Erde) und Gerald D. Griffin. Sie trafen die für den Erfolg der Mission relevanten Entscheidungen und waren für die Sicherheit der Besatzung verantwortlich. Missionsemblem und Rufzeichen der Raumschiffe Das Abzeichen von Apollo 11 zeigt das Wappentier der Vereinigten Staaten, den Weißkopfseeadler, kurz vor der Landung auf dem Mond. In seinen Krallen trägt er einen Olivenzweig, der die friedvollen Absichten der ersten Mondlandung unterstreichen soll. Die Erde – Start- und Endpunkt der Mission – ist vor einem schwarzen Hintergrund, der das Unbekannte des Weltraums symbolisieren soll, zu erkennen. Auf die Aufnahme der Namen der Astronauten wurde bewusst verzichtet, um den Beitrag jedes Einzelnen, der für das Apollo-Programm gearbeitet hat, hervorzuheben. Stattdessen trägt das Abzeichen den Schriftzug „APOLLO 11“ an der Spitze. Bei Auswahl der Rufnamen der Raumschiffe wurde der Besatzung vom NASA-Management wegen der historischen Bedeutung der Mission dazu geraten, ehrwürdige Bezeichnungen zu verwenden – beim vorangegangenen Flug Apollo 10 hießen die beiden Raumfahrzeuge nach Figuren aus der Comicserie Die Peanuts Charlie Brown und Snoopy. Bei Apollo 9 waren die Rufzeichen in Anspielung auf die Formgebung der Raumfahrzeuge Gumdrop und Spider. Die Apollo-11-Astronauten entschieden sich schließlich dazu, die Mondlandefähre – vom im Abzeichen verwendeten Motiv herrührend – Eagle (Adler) zu nennen, während die Kommandokapsel das Rufzeichen Columbia erhielt. Die Wahl von Columbia wurde mit der großen Bedeutung des Wortes in der US-amerikanischen Geschichte begründet. Planungen Missionsprofil Apollo 11 war in der Flugsequenz des Apollo-Programms die sogenannte G-Mission, deren Ziel die erste bemannte Landung auf dem Mond war. Die Planungsphase für Apollo 11 begann im Jahr 1965, nachdem die Entwicklung der beiden Raumfahrzeuge abgeschlossen war, und stand unter der Leitung von Christopher Kraft, dem Flugbetriebsleiter am Manned Spacecraft Center in Houston. Seinem Team oblag die Ausarbeitung der Checklisten für die Besatzung sowie des Flugplans, dessen endgültige Version zwei Wochen vor dem Start am 1. Juli 1969 erschien. Für den Fall einer Verschiebung der Mission erarbeitete Krafts Abteilung darüber hinaus Flugszenarien für Startfenster im August und September 1969. Die Pläne für den Mondausstieg wurden im Lauf der Vorbereitungen mehrfach überarbeitet. Das ursprüngliche Konzept aus dem Jahr 1964 sah vor, dass nur der Pilot der Landefähre für zwei Stunden die Mondoberfläche betritt, während der Kommandant der Mission zur Überwachung der Systeme in der Mondfähre bleibt. Eine Studie der Grumman Aerospace Corporation aus demselben Jahr deutete jedoch darauf hin, dass die Teilnahme beider Astronauten am Mondspaziergang technisch möglich sei. Anfang Januar 1967 schlug Flugbetriebsleiter Christopher Kraft vor, die Zeit nach der Landung auf der Mondoberfläche für zwei Ausstiege zu verwenden. Der erste Mondspaziergang sollte demnach nur zur Eingewöhnung der Astronauten an die Umgebung dienen, während der zweite Ausstieg zum Aufstellen von wissenschaftlichen Experimenten und der Entnahme von Mondgestein-Proben genutzt werden sollte. Im September 1968 entschied sich die NASA jedoch, dass Apollo 11 nur eine 2,5-stündige Mondexkursion der beiden Raumfahrer beinhalten und die wissenschaftlichen Instrumente wegen des hohen Gewichts nicht zum Mond mitgeführt werden sollten. Wilmot N. Hess, der Leiter der wissenschaftlichen Abteilung der NASA in Houston, drängte indessen darauf, dennoch ein kleines Paket von wissenschaftlichen Messgeräten zum Mond mitzuführen. Der Planungsstab bewilligte daraufhin am 9. Oktober 1968 die Entwicklung von drei vergleichsweise leichten Experimenten für Apollo 11, dem Early Apollo Surface Experiments Package (EASEP). Auswahl der Mannschaft Für die Zusammenstellung der Besatzungsmitglieder für Apollo 11 war Deke Slayton, der Chef des NASA-Astronautenbüros, verantwortlich. Bei der Auswahl der einzelnen Crews ging er nach dem Rotationsprinzip vor, wonach eine Ersatzmannschaft zwei Flüge aussetzt, bevor sie selbst für einen Flug nominiert wird. Demnach sollte die Reservemannschaft für Apollo 8, die aus den Astronauten Neil Armstrong, Buzz Aldrin und Fred Haise bestand, die Besatzung für Apollo 11 bilden. Armstrong setzte sich allerdings dafür ein, dass Michael Collins, der wegen einer Operation seinen Platz in der Crew von Apollo 8 verloren hatte, in seine Mannschaft aufrückt, um den Platz von Haise einzunehmen. Das obere NASA-Management hatte keine Einwände gegen diese Besetzung, so dass Armstrong, Aldrin und Collins der Öffentlichkeit am 10. Januar 1969 als Besatzung für Apollo 11 vorgestellt wurden. Zum Zeitpunkt ihrer Auswahl war die Mannschaft noch nicht davon überzeugt, die erste bemannte Mondlandung zu absolvieren, da die Mondlandefähre bis dahin noch nicht bemannt im Weltraum getestet worden war. Auswahl der Landestelle Bei der Auswahl des Landeplatzes für die Mondlandefähre war die Sicherheit der Astronauten der Hauptgesichtspunkt. Die Mondlandung musste beispielsweise bei direkter Sonneneinstrahlung und optimalen Sichtverhältnissen durchgeführt werden; der Rückstart zur Erde musste ebenfalls bei Tageslicht erfolgen. Die Vorgabe, möglichst wenig Treibstoff zu verbrauchen, um entsprechend möglichst hohe Treibstoffreserven mitführen zu können, begrenzte den Landeplatz für Apollo 11 zudem auf Gebiete in Nähe des Mondäquators. Eine ebenso wichtige Rolle bei der Auswahl spielte schließlich die Beschaffenheit der Mondoberfläche im Landegebiet. So bestimmten die Kriterien etwa, dass das Gewicht der Landefähre ausreichend getragen werden müsse und die Zahl der Krater und Felsbrocken so klein wie möglich sein sollte. Zur Bereitstellung von Bildern und anderen Daten von möglichen Landestellen schickte die NASA im Laufe der 1960er Jahre mehrere Raumsonden aus den Ranger- und Surveyor-Programmen zum Mond. Während Ranger zur Übermittlung von hochauflösenden Bildern diente, absolvierten die Surveyor-Sonden eine weiche Landung auf der Mondoberfläche, um wissenschaftliche Daten und Fernsehbilder zur Erde zu senden. Die Qualität der Aufnahmen reichte allerdings für eine detaillierte Analyse der denkbaren Landeplätze nicht aus, weshalb die NASA mit Lunar Orbiter eine weitere Reihe von Raumsonden entwickelte. Diese mit zwei Kameras ausgestatteten Mondsatelliten dokumentierten 99 Prozent der Mondoberfläche und übermittelten Bilder von 20 potenziellen Landestellen für das Apollo-Programm. Mitte 1965 gründete die NASA das Apollo Site Selection Board, dessen Aufgabe es war, nach der Abwägung von wissenschaftlichen und flugbetrieblichen Aspekten Vorschläge für mögliche Landeplätze zu machen. Alle Kandidaten befanden sich in Äquatornähe und erschienen auf den Bildern der Mondsonden relativ eben. Darüber hinaus achteten die Missionsplaner bei der Wahl der Landestelle darauf, dass das umliegende Terrain keine Hänge und sonstige Unregelmäßigkeiten aufwies, da sonst das Radar der Mondlandefähre beim Anflug gestört werden könnte. Am 15. Dezember 1968 einigte sich das Auswahlgremium auf eine Liste von fünf denkbaren Landeplätzen, den Apollo Landing Sites (ALS). Für den Flug mit Apollo 11 wählte die NASA mit ALS-2 schließlich die westliche der beiden Landestellen im Meer der Ruhe. Dort war etwa 20 Stunden vor der Landung die Sonne aufgegangen. Da ein vollständiger Mondtag 29,53 Erdtage dauert, stand die Sonne bei der Landung etwa 10° über dem östlichen Horizont. In dem flach einfallenden Morgenlicht waren Unebenheiten der Mondoberfläche durch den Schattenwurf gut zu erkennen. Die elliptische Landezone entsprach mit 18,5 km ungefähr der Insel von Manhattan. Zwei andere, weiter westlich liegende Landeplätze (ALS-3 und ALS-5) dienten im Fall einer Startverschiebung als Ausweichstandorte, um eine bestmögliche Beleuchtung beim Endanflug der Landefähre zu gewährleisten. Vorbereitungen Die Startvorbereitungen für Apollo 11 begannen Anfang Januar 1969 mit der Ankunft der Mondlandefähre (Lunar Module, LM) im Kennedy Space Center (KSC) in Florida. Das Apollo-Raumschiff, in dem sich die Besatzung für den Großteil des Flugs aufhielt, traf am 23. Januar an Bord eines Super-Guppy-Transportflugzeugs im Raumfahrtzentrum ein. Beide Raumfahrzeuge wurden in das Manned Spacecraft Operations Building gebracht, wo die einzelnen Komponenten der Raumschiffe integriert und umfangreichen Funktionstests unterzogen wurden. Darüber hinaus absolvierten sowohl die Mondlandefähre als auch das Apollo-Raumschiff mehrere Probeläufe in einer Höhenkammer, um die Belastungen der Systeme im Vakuum des Weltalls zu simulieren. Nach dem Ende der Abschlusskontrollen wurde die Mondlandefähre schließlich von einem 8,5 m hohen Kegelstumpf umgeben, der zum Schutz während der Startphase diente. Das Apollo-Raumschiff wurde auf die Spitze dieser Verschalung gesetzt. Parallel zu den Arbeiten an den beiden Raumfahrzeugen erfolgte im 7 km entfernten Vehicle Assembly Building (VAB) die Montage der Trägerrakete Saturn V. Nach der Anlieferung aus den Herstellerwerken wurden die drei Stufen der Rakete auf der 5.715 Tonnen schweren Startplattform miteinander verbunden. Die eingekapselte Mondlandefähre und das Apollo-Raumschiff wurden am 14. April hinzugefügt, womit der Aufbau der 110 m hohen Trägerrakete abgeschlossen war. Am 14. Mai durchlief die als space vehicle bezeichnete Startkonfiguration der Rakete einen simulierten Countdown, der die Kompatibilität der einzelnen Systeme testete. Am 20. Mai 1969 brachte der sogenannte Crawler-Transporter, ein von zwei Dieselmotoren angetriebenes Raupenfahrzeug, die Saturn V zur Startrampe 39A, die nach Apollo 8 und 9 zum dritten Mal für einen bemannten Start benutzt wurde (Apollo 10 war von Rampe 39B gestartet, Apollo 7 vom Startkomplex 34). Die 5,5 km lange Fahrt auf einer speziell präparierten Piste dauerte 6 Stunden. Nach dem Erreichen der Rampe wurde unter der Startplattform ein Flammenlenkblech in Stellung gebracht, das die beim Abheben der Rakete entstehenden Triebwerksgase ableiten sollte. Des Weiteren wurde eine Wartungsplattform vor der Saturn V platziert, um die Arbeiten an der Rakete zu erleichtern. Der Flugbereitschaftstest der Trägerrakete, bei dem auch die Besatzung von Apollo 11 teilnahm, wurde am 6. Juni abgeschlossen. Am 27. Juni begann mit dem Countdown Demonstration Test die letzte wichtige Erprobung der Trägerrakete. Während des mehrtägigen Tests wurden die Tanks der Saturn V mit Treibstoff befüllt und der Countdown bis zum Start der Zündungssequenz simuliert. In einer anschließenden zweiten Phase entleerte man die Brennstofftanks wieder und der Versuchscountdown wurde mit der Besatzung an Bord wiederholt. Flugverlauf Hinflug Apollo 11 startete am 16. Juli 1969 um 13:32:00 UTC (09:32:00 Uhr Ostküstenzeit) an der Spitze der 2940 Tonnen schweren Saturn V von Cape Canaveral, Florida und erreichte 12 Minuten später planmäßig die Erdumlaufbahn. Nach anderthalb Erdumkreisungen wurde um 16:22:13 UTC die dritte Raketenstufe erneut gezündet (Trans Lunar Injection). Sie brannte etwa 6 Minuten lang und brachte das Apollo-Raumschiff auf eine freie Rückkehrbahn Richtung Mond. Gut eine halbe Stunde später wurde das Kommando/Servicemodul (CSM) an die Landefähre angekoppelt (transposition, docking, and extraction). Der gesamte Hinflug zum rund 380.000 km entfernten Mond verlief ohne besondere Vorkommnisse und dauerte 76 Stunden. Die Astronauten schwenkten am 19. Juli 1969 um 17:22:00 UTC durch ein Bremsmanöver über der Rückseite des Mondes in eine Mondumlaufbahn ein. Mondlandung Im Mondorbit stiegen erst Aldrin und eine Stunde später (nach Hochfahren der Systeme) Armstrong in die Mondlandefähre um. Nach Prüfung der Systeme und der anschließenden Trennung der Landefähre vom Mutterschiff klappten die Landebeine der Fähre aus. Armstrong drehte die Landefähre einmal um die eigene Achse, damit Collins sie vom Mutterschiff aus auf Schäden untersuchen und sich vergewissern konnte, dass die Beine wie vorgesehen ausgeklappt sind. Daraufhin wurde die Abstiegssequenz eingeleitet. Heikel war dann der Anflug auf das Zielgebiet im Mare Tranquillitatis. Durch geringe unbeabsichtigte Bahnänderungen beim Abkoppeln zielte der Bordcomputer auf eine Stelle etwa 4,5 km hinter dem geplanten Landegebiet. Während des Anfluges wurde die Aufmerksamkeit der Besatzung außerdem etwa 1,5 km über dem Boden mehrfach durch Alarmmeldungen des Navigationscomputers in Anspruch genommen, so dass Armstrong nicht in dem Maße auf charakteristische Merkmale der Mondlandschaft achten konnte, wie es vom Flugplan vorgesehen war. Zu diesen Alarmmeldungen kam es, da entgegen dem Flugplan das Rendezvousradar zusätzlich zum Landeradar eingeschaltet worden war. Die zusätzlichen für diese Phase der Mission nicht vorgesehenen Daten des Rendezvousradars überlasteten den Computer (Apollo Guidance Computer (AGC)). Dank dem von Hal Laning vom M.I.T. Instrumentation Laboratory entwickelten Betriebssystem mit einer Priorisierung der einzelnen Aufgaben (die Aktualisierung eines Displays hat eine niedrige Priorität, die Lage-Steuerung der Landefähre die höchste Priorität) wurde den Daten vom Rendezvousradar eine etwas niedrigere Priorität zugewiesen und der Computer meldete diese Probleme als Fehler 1201 und 1202. Das Problem erwies sich jedoch als unkritisch und konnte ignoriert werden. Beim Endanflug führte der Autopilot die Fähre auf ein Geröllfeld zu, das einen großen Krater umgab und mit großen Felsen übersät war. Wie sich später herausstellte, handelte es sich dabei um den sogenannten „West“-Krater. Armstrong übernahm daraufhin die Handsteuerung der Eagle, überflog den Krater und landete auf einer ebenen Stelle ca. 500 m weiter westlich (knapp 60 m jenseits des „Little West“-Kraters). Das Kontaktlicht signalisierte den unmittelbar bevorstehenden Bodenkontakt (bei circa 75 cm Höhe) am 20. Juli um 20:17:39 UTC. Der Mondlandepilot Aldrin meldete das („Contact light“) um 20:17:40 UTC. Unmittelbar darauf erfolgte der Kontakt aller vier Landefüße mit dem Mondboden. 3 bis 4 Sekunden nach den Kontaktsignalen schaltete Armstrong das Triebwerk ab. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Fähre „Eagle“ bereits sehr sanft (mit etwa 0,52 m/s) auf dem Mond aufgesetzt. Die zusätzlichen Manöver hatten das ohnehin knapp kalkulierte Treibstoffbudget so strapaziert, dass die Astronauten nur noch etwa 20 Sekunden Zeit für das Treffen der Entscheidung gehabt hätten: entweder innerhalb dieser Zeit zu landen oder den Anflug abzubrechen. Spätere Analysen zeigten, dass der in den Tanks schwappende Treibstoff zu ungenauen Anzeigen geführt hatte und noch mehr Reserve vorhanden war. Armstrong und Aldrin bereiteten sofort einen möglichen Alarmstart vor, für den Fall, dass ein Leck im Tank der Aufstiegsstufe oder ein Einsinken eines der Landebeine einen längeren Aufenthalt unmöglich machen würde. Die Landung war zeitlich so geplant, dass nach dem ursprünglich vorgesehenen Bodenkontakt (geplant bei circa 20:17:00 UTC) ein Zeitfenster von etwa einer Minute für einen sofortigen Rückstart verblieb. Andernfalls hätte man die Umlaufbahn des Mutterschiffs verfehlt, und Collins hätte das Annäherungsmanöver durchführen müssen. Etwa 30 bis 40 Sekunden davon waren durch die zusätzlichen Manöver beim Endanflug verflossen. Letztlich blieb damit nach dem Abschluss dieser Prozeduren eine Zeitreserve von fünf bis zehn Sekunden. Die Verantwortlichen im Missionskontrollzentrum entschieden, die Mission wie geplant fortzusetzen. Auf dem Mond Am 20. Juli 1969 um 20:17:58 Uhr UTC vermeldete Armstrong: Das primäre Ziel war erreicht. Ab diesem Moment benutzten Armstrong und Aldrin das Rufzeichen Tranquility Base. In den folgenden zwei Stunden waren die Astronauten damit beschäftigt, Vorbereitungen für den Rückflug zu treffen, der alle zwei Stunden erfolgen konnte. Unter anderem musste der Bordcomputer mit der genauen Ausrichtung der Mondfähre programmiert werden. Die genaue Position war zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht bekannt, weil Armstrong beim Anflug keine bekannten Geländeformationen identifiziert hatte. Bei seinen fünf Überflügen mit der Columbia versuchte Collins die Mondfähre zu sichten. Da aber auch ihm keine genaue Position zur Verfügung stand, blieb das erfolglos. Weiterhin fotografierten Armstrong und Aldrin die Mondoberfläche aus ihren Fenstern. Die ursprünglich geplante Ruhepause von 5 Stunden und 40 Minuten wurde auf Anregung der Astronauten auf 45 Minuten verkürzt und der Ausstieg vorgezogen. Die Vorbereitungen hierzu benötigten etwa 3 Stunden. Am 21. Juli 1969 um 02:56:20 Uhr UTC (03:56:20 Uhr MEZ – In den USA war es noch der 20. Juli) betrat Neil Armstrong als erster Mensch den Mond und sprach die berühmten Worte: Dieses Ereignis wurde sowohl von Aldrin aus dem Fenster der Mondfähre als auch von einer Fernsehkamera am Fuß der Landefähre gefilmt. Etwa 600 Millionen Fernsehzuschauer auf der Erde erlebten die Live-Übertragung. 20 Minuten später verließ auch Buzz Aldrin die Mondfähre. Um das zeitkritische Sonnenwindexperiment nicht zu gefährden, wurde dieses noch vor der US-Flagge aufgestellt. Anschließend bauten die beiden Astronauten weitere kleine Forschungsgeräte des EASEP (Early Apollo Scientific Experiment Package), des Vorläufers des ALSEP (Apollo Lunar Surface Experiments Package), auf dem Mond auf. So sollten mittels eines Seismometers (PSEP) Daten über die seismischen Aktivitäten des Mondes erfasst werden. Das Gerät überstand die erste Mondnacht jedoch nicht. Außerdem wurde wie bei Apollo 14 und Apollo 15 ein Laserreflektor (LRRR) auf der Oberfläche des Mondes aufgestellt. Dieser ermöglicht bis heute präzise die Entfernung zwischen Mond und Erde bis auf wenige Zentimeter genau zu messen. Die Entwicklung des für dessen Tripelprismen verwendeten hochtemperaturfesten Quarzglases mit besonders niedrigem Brechungsindex und die Herstellung der Prismen wurde von der Firma Heraeus in Hanau unter anderem von den Ingenieuren Heinrich Mohn und Peter Hitzschke durchgeführt. Außerdem wurden Bodenproben entnommen und 21,6 kg Gestein gesammelt. Der erste Aufenthalt auf der Mondoberfläche endete nach 2 Stunden und 31 Minuten. Rückflug Noch vor der Ruhephase stellte Aldrin fest, dass der Hebel eines Schalters abgebrochen war, ein anderer war nicht in der vorgesehenen Position. Offenbar hatte Aldrin bei der Vorbereitung der EVA mit dem Rucksack die Schalter berührt. Diese Schalter wurden erst eine Stunde vor dem Start benötigt. Aldrin verwendete später einen Filzstift, um den Schalter zu betätigen. Der Start der Landefähre gelang problemlos, die Fähre schwenkte in eine Mondumlaufbahn ein und koppelte knapp vier Stunden später wieder an der Kommandokapsel an. Nachdem Armstrong und Aldrin zu Collins umgestiegen waren, wurde die Mondfähre abgestoßen und das Apollo-Raumschiff wieder auf Erdkurs gebracht. Am 24. Juli 1969 um 16:50 UTC wasserte die Kapsel im Pazifik südlich des Johnston-Atolls und wurde mit Hilfe des Helicopter 66 vom Bergungsschiff USS Hornet an Bord genommen. Wieder auf der Erde Aus Furcht vor unbekannten Mikroorganismen mussten die drei Astronauten beim Verlassen der Apollo-Landekapsel nach außen vollkommen geschlossene Anzüge zur Isolierung tragen und sich in eine 17-tägige Quarantäne begeben, bis alle Bedenken ausgeräumt waren. Das mobile Quarantänemodul, welches eine Rückwärts-Kontamination verhindern sollte, kann heute an Bord der USS Hornet in Alameda besichtigt werden. Das Kommandomodul Columbia von Apollo 11 ist nun im National Air and Space Museum in Washington, D.C. ausgestellt. Rezeption Die Mondlandung von Apollo 11 ist ein wesentlicher Meilenstein der menschlichen Zivilisation des Weltraums. Weltweit rund 600 Millionen Menschen verfolgten 1969 die Mondlandung im Fernsehen. In der Kapsel von Apollo 11 machte die Urgravur zum Druck einer Sonderbriefmarke des United States Postal Service die Reise zum Mond mit. Von dieser Druckplatten-Vorlage wurden nach der Rückkehr 120 Millionen Briefmarken hergestellt. Diese 10-US-Cent-Marken haben die außergewöhnlich große Größe von 45,72 × 26,67 mm. Es wurden 9.614.685 Ersttagesbriefe produziert und ausgeliefert. Lewis Epstein von der Astronomischen Fakultät der Louisiana State University wies darauf hin, dass auf der Marke der Schattenwurf des Landers und der Erde astronomisch gesehen falsch kombiniert war. Verschwörungstheorie Wie bei vielen Ereignissen von solch großer Tragweite wurden auch die Mondlandungen zum Objekt zahlreicher Verschwörungstheorien. Diese Theorien gehen davon aus, dass die Landungen in den Jahren 1969 bis 1972 nicht stattgefunden haben (oft geht es auch nur um die erste bemannte Mondlandung), sondern von der NASA und der US-amerikanischen Regierung vorgetäuscht worden seien. Die Verschwörungstheorien haben seit den 1970ern durch den Autor und ehemaligen Mitarbeiter der NASA-Zulieferfirma Rocketdyne Bill Kaysing Verbreitung gefunden. Die NASA veröffentlichte im Jahr 2012 hochauflösende Bilder des Lunar Reconnaissance Orbiter (LRO) von der Apollo-11-Landestelle. In Kultur, Kunst und Literatur Der Maler Peter Hecker verewigte das Ereignis 1969 in einem Kirchenfenster der St.-Martinus-Kirche in Solingen-Burg. Bei der Behauptung, Armstrong habe vor Verlassen des Mondes noch den Satz Good Luck, Mr. Gorsky gesprochen, handelt es sich lediglich um eine populäre moderne Sage. Die Apollo-11-Höhle im Süden Namibias wurde zu Ehren der ersten bemannten Mondmission benannt. Die Sonette an Apollo (2015) des deutsch-amerikanischen Dichters Paul-Henri Campbell betten Apollo 11 in die gesamte Apollo-Mission ein. Ein in den Gesteinsproben von Apollo 11 festgestelltes, auf der Erde damals noch nicht bekanntes Mineral wurde nach den drei Astronauten „Armalcolit“ getauft. Aldrin feierte vor dem Ausstieg auf dem Mond das Abendmahl. Da dies sein privater Akt war, schaltete er während der Zeremonie das Mikrofon ab. In der Mockumentary Kubrick, Nixon und der Mann im Mond (2002) werden in einer Scheindokumentation vorgebliche Beweise präsentiert, dass Stanley Kubrick im Auftrag der Nixon-Regierung die Fernsehberichte der Mondlandung von Apollo 11 gefälscht habe. 2014 übergab die Witwe von Neil Armstrong dem National Air and Space Museum eine Tasche mit Apollo-11-Ausrüstungsgegenständen. Darunter eine 16-mm-Datenerfassungskamera (data acquisition camera, DAC) der Firma J. A Maurer, Inc., die auf dem Mond verwendet wurde. Der deutsche Maler Sigmar Polke verewigte das Ereignis der ersten bemannten Mondlandung in seinem 1969 konzeptionierten und bis 1972 fertiggestellten Gemälde Propellerfrau. Über die Entstehung der Propellerfrau wurde eine Reportage veröffentlicht. Die Mission wurde 2018 mit Ryan Gosling als Neil Armstrong, Lukas Haas als Mike Collins und Corey Stoll als Buzz Aldrin unter dem Titel Aufbruch zum Mond verfilmt. 2019 erschien der Kino-Dokumentarfilm Apollo 11 des Regisseurs Todd Douglas Miller unter ausschließlicher Verwendung von digitalisiertem historischen Bild- und Tonmaterial. Mit dem Erstausgabetag 1. Juli 2019 gab die Deutsche Post AG aus Anlass des 50. Jahrestages der Mondlandung von Armstrong und Aldrin ein Sonderpostwertzeichen im Nennwert von 370 Eurocent heraus. Der Entwurf stammt vom Grafiker Thomas Steinacker aus Bonn. Auf einer Gedenkbriefmarke der irischen Post zum selben Anlass wurde das Wort „Gealach“ (Mond) versehentlich als „Gaelach“ (das Gälische oder Irische oder die Highlands Betreffende) geschrieben, womit die Aufschrift lautet: „Der 50. Jahrestag der ersten Landung auf dem Irischen.“ Zur Mondlandung erschienen verschiedene Gedenkmedaillen, darunter eine vom italienisch-armenischen Künstler Gregorio Sciltian (1900–1985) für den Mailänder Verlag Rizzoli geprägte mit den Porträts von Aldrin, Armstrong und Collins. 1971 brachte die US-amerikanische Münzprägeanstalt eine 1-Dollar-Münze heraus, die als Eisenhower-Dollar und auch „Moon-Dollar“ bezeichnet wurde. Zur Erinnerung an die Mondlandung von Apollo 11 war auf der Rückseite, das von Michael Collins entworfene Missionsemblem abgebildet. Die, schon vorher von der NASA für Weltraumeinsätze zertifizierte, Omega Speedmaster Professional etablierte sich durch ihre Verwendung bei der Apollo-11-Mission weltweit in Sammlerkreisen als „The Moonwatch“. Neil Armstrong hatte während der Mission zwei Originalteile (ein Holzstück des linken Propellers und ein Stoffteil der Bespannung) des Wright Flyers dabei, mit dem die Brüder Wright 1903 den historischen ersten Motorflug durchführten. Im Juli 2022 wurde die Jacke, die Buzz Aldrin bei der Mission Apollo 11 trug, in New York City für umgerechnet 2,7 Mio. Euro versteigert. Siehe auch Liste von künstlichen Objekten auf dem Mond Literatur Jesco von Puttkamer: Apollo 11, „Wir sehen die Erde‘“ – Der Weg von Apollo 11 zur internationalen Raumstation. 2. Auflage. Herbig, München 2001, ISBN 978-3-7766-7056-1. James Donovan: Apollo 11 – Der Wettlauf zum Mond und der Erfolg einer fast unmöglichen Mission. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019, ISBN 978-3-421-04715-1 Weblinks Textdokumente NASA: Apollo 11 Info (englisch) NASA: Apollo 11 Lunar Surface Journal (englisch) NASA: Apollo 11 Mission Report (326 und 109 Seiten, englisch) NASA: (englisch) Apollo 11 CSM, SIVB, LM im NSSDCA Master Catalog (englisch) The First Lunar Landing As Told By The Astronauts: Armstrong, Aldrin und Collins kommentieren die Mondlandung (englisch) Sekundärquellen Die erste Mondlandung. In: Scinexx.de, 16. Juli 2013 Vincent Kutz: Die Mondlandung 1969 im Rundfunk der DDR (Deutsches Rundfunkarchiv) Die Eroberung des Mondes Dokumentation von Robert Stone (3 Teile, Gesamtlänge: 311 Minuten) Veröffentlicht: 2019 Video, Audio, multimedial Apollo 11 in Real Time – Multimediale Echtzeit-Wiedergabe der Apollo-11-Mission anhand umfangreicher historischer Aufzeichnungen (englisch) Apollo 11: The Complete Descent - Echtzeitwiedergabe des Funkverkehrs des LM von Apollo 11 mit dem Kontrollzentrum in Houston und den Bildern während des Abstiegs der LM Eagle auf den Mond am 20. Juli 1969 (Quelle: Apollo Flight Journal 2019) Mitschnitt von Armstrongs Funkspruch beim Ausstieg (Audiodatei im WAV-Format; 266 kB) – Video des zweiten Teils der Fernseh-Übertragung von ABC von 1969 Original NASA EVA Mission Video - Walking on the Moon. (Neil Armstrong; Länge: 3:02:30) NASA Einzelnachweise Apollo-Mission NASA Raumfahrtmission 1969 Wikipedia:Artikel mit Video Neil Armstrong
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Afrikanische Yambohne
Die Afrikanische Yambohne (Sphenostylis stenocarpa) ist eine Pflanzenart in Unterfamilie Schmetterlingsblütler (Faboideae) innerhalb der Familie der Hülsenfrüchtler (Fabaceae oder Leguminosae). Sie ist im tropischen Afrika beheimatet. Diese Nutzpflanze ist nahe verwandt zu einer Reihe anderer „Bohnen“ genannter Feldfrüchte. Im deutschen Sprachraum sind auch die Bezeichnungen Rübenbohne und 'Knollenbohne' gebräuchlich. Die hier beschriebene Art gehört jedoch nicht zur Gattung der Yambohnen (Pachyrhizus) und sollte auch nicht mit der Knollenbohne (Pachyrhizus tuberosus) verwechselt werden. Ihre genaue Abstammung ist nicht geklärt. Beschreibung Die Afrikanische Yambohne ist eine rankende, niederliegende bis aufrechte krautige Pflanze. Die Sprossachsen erreichen Längen von 1,5 bis 2,5 Meter. Die gestielten Laubblätter sind dreizählig mit eiförmigen, etwa 7–14 Zentimeter langen Blättchen. Es sind Nebenblätter vorhanden. Die rosafarbenen, violetten oder grünlich-weißen Schmetterlingsblüten sind zygomorph. Die 20 bis 30 Zentimeter lange, leicht holzige, kahle und schmale, flache Hülsenfrucht enthält 20 bis 30 Samen. Die Samen sind bei einer Länge von etwa 3,2–8 Millimeter rundlich oder ellipsoid bis linsenförmig. Sie sind cremeweiß, beige oder orange-, dunkel- oder rotbraun bis schwarz und manchmal mit dunkler Marmorierung. Vorkommen Die Afrikanische Yambohne wächst im gesamten tropischen Afrika wild und wird in Zentral- und Westafrika (Elfenbeinküste, Ghana, Togo, Gabun, Demokratische Republik und Republik Kongo) sowie Teilen Ostafrikas (etwa Äthiopien oder Simbabwe) kultiviert, insbesondere aber im südlichen Nigeria, wo sie Girigiri heißt. Sie verträgt saure und sandige Böden und kommt in Höhenlagen von 0 bis 1800 Meter vor. Die Afrikanische Yambohne ist auf feuchtwarmes Klima und nichtstauende Böden angewiesen. Verwendung und Inhaltsstoffe Sowohl Samen als auch Wurzelknollen dienen als Nahrungsmittel. Die Afrikanische Yambohne entwickelt an den Wurzeln 5 bis 7,5 Zentimeter lange und 50 bis 300 Gramm schwere Knollen, die wie längliche Süßkartoffeln aussehen, aber doppelt so viel Protein wie diese enthalten. Die Wurzelknollen haben einen Proteingehalt von 11 bis 19 % und einen Kohlenhydratanteil von 63 bis 73 %, mit 3 % Faserstoffen. Pro Pflanze ist eine Ernte von einem halben Kilogramm Wurzeln möglich. Die Samen sind wohlschmeckend und werden in Westafrika oft allen anderen verfügbaren Samen und Gemüse vorgezogen. Sie enthalten 21 bis 29 % Protein, welches im Vergleich zu dem der Sojabohne ähnliche oder höhere Gehalte an Lysin und Methionin aufweist. Die Samen enthalten weiterhin etwa 50 % Kohlenhydrate und 5 bis 6 % Ballaststoffe. Bis zu 2000 kg Bohnen können pro Hektar geerntet werden. Die getrockneten Bohnen werden üblicherweise in Wasser eingeweicht und mehrere Stunden gekocht, und dann ohne Beilage oder mit Yams, Reis, Mais oder in Suppen gegessen. Das „Fleisch“ der Wurzelknollen verwendet man roh oder wie Kartoffeln gekocht, auch der Geschmack ist ähnlich. Die jungen Blätter und Hülsenfrüchte werden als Gemüse gegessen. Mit ihren großen, je nach „Varietät“ verschiedenfarbigen Blüten eignet sich die Afrikanische Yambohne auch als Zierpflanze. Literatur National Academy of Sciences: Tropical Legumes: Resources for the Future. 1979, Books for Business, 2002, ISBN 0-89499-192-2 (Reprint), S. 27–32. Siehe auch Liste der Gemüse Weblinks Sphenostylis stenocarpa bei Useful Tropical Plants. Sphenostylis stenocarpa In: Daisy E. Kay: Root Crops. 2nd Rev. Edition, 1987, ISBN 0-85954-200-9, bei New Zealand Digital Library, abgerufen am 9. Oktober 2019. Walter H. Schuster, Joachim Alkämper, Richard Marquard, Adolf Stählin: Leguminosen zur Kornnutzung : Kornleguminosen der Welt. Justus-Liebig-Universität, Gießen 1998. Walter H. Schuster: Informationen zu Sphenostylis stenocarpa (Abschnitte Beschreibung, Verbreitung, Inhaltsstoffe und Nutzung). Daniel B. Adewale & Dominique J. Dumet: Descriptors for African yam bean, Sphenostylis stenocarpa (Hochst ex. A.Rich.) Harms - (PDF). Yambohne, Afrikanische Yambohne, Afrikanische Yambohne, Afrikanische Bohne Wurzelgemüse Fruchtgemüse
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Allergie
Als Allergie (seit 1905 von ‚Fremdreaktion‘, aus állos ‚fremd‘ und érgon ‚Reaktion‘) bezeichnet man eine überschießende, krankhafte Abwehrreaktion des Immunsystems auf körperfremde, aber harmlose Umweltstoffe, die dann als Allergene oder Antigene bezeichnet werden. Die allergische Reaktion richtet sich gegen von außen, beispielsweise über die Lunge, den Verdauungstrakt, die Haut, die Schleimhaut oder mit dem Blut kommende Stoffe. Dagegen werden Autoimmunreaktionen, also überschießende, krankhafte Reaktionen des Immunsystems gegen Bestandteile des eigenen Körpers, nur dann zu den Allergien gezählt, wenn sie durch von außen in den Körper gelangte Stoffe ausgelöst werden. Neben der Allergie gibt es weitere Unverträglichkeitsreaktionen (Intoleranzen), z. B. die Pseudoallergie oder die Intoleranz, die mit einem ähnlichen Krankheitsbild wie eine Allergie einhergehen. Aufgrund der ähnlichen Symptome werden diese Begriffe im allgemeinen Sprachgebrauch fälschlicherweise oft synonym verwendet. Geschichte und Begriffsentstehung Schon aus dem alten Ägypten und aus dem alten Rom sind Krankheitsbeschreibungen bekannt, die man heute als Allergie bezeichnen würde. Seine Beobachtung, dass manche Menschen Schnupfen und Atemwegsverengungen zeigen, wenn sie sich in der Nähe blühender Rosen aufhalten, bezeichnete der italienische Chirurg Leonardo Botallo 1565 als „Rosenerkältung“. Eine von der Jahreszeit abhängige Nasenerkrankung beschrieb 1819 der Londoner Arzt John Bostock. Dass Gräserpollen die auslösende Ursache für diesen „Heuschnupfen“ sind, erkannten 1870 Charles Blackley in England und unabhängig von diesem Morrill Wyman an der Harvard University. 1903 löste der Deutsche Wilhelm P. Dunbar bei Versuchspersonen Heuschnupfensymptome durch mit Pollen versetzte Salzlösungen aus. Der Begriff Allergie (griechische Übersetzung von „Anders-Reaktion“, welche auch von Robert Koch bei Anwendung von Tuberkulin beschrieben wurde) wurde 1906 von Clemens von Pirquet, einem Wiener Kinderarzt, der Erscheinungen nach Erst- und Reinjektion von Diphterieseren untersuchte, in Analogie zu Energie geprägt in der Hinsicht, dass . Pirquet definierte Allergie weit gefasst als . In dieser Definition sind sowohl verstärkte (Hyperergie), verminderte (Hypoergie) wie auch fehlende (Anergie) Reaktivitäten einbezogen. Pirquet erkannte als erster, dass Antikörper nicht nur schützende Immunantworten vermitteln, sondern auch Überempfindlichkeitsreaktionen auslösen können. Er gilt als Begründer der klinischen Allergielehre. Bereits 1902 hatten Charles Richet und Paul Portier (1866–1962) bei Hunden eine veränderte Reaktion auf eine niedrigdosierte Toxingabe beobachtet, nachdem die Versuchstiere eine Vergiftung mit diesen intravenös und hochdosiert verabreichten Toxinen überstanden hatten. Diese nach zwei bis drei Wochen aufgetretene Überempfindlichkeit, welche trotz ungefährlicher Toxindosis zum Tod der Tiere führte, nannte Richet Anaphylaxie. Der französische Physiologe Maurice Arthus konnte 1903 beobachten, dass auch nichttoxische Stoffe, nämlich „artfremde Eiweiße“, nach Vorbehandlung damit eine Überempfindlichkeit nach erneutem Einspritzen (Reinjektion) verursachen können. Im Jahr 1914 beschrieb der Pathologe Robert Rössle die allergische Entzündung. Verbreitung Allergien sind häufige Erkrankungen. Hierbei nehmen die Inhalationsallergien wie Heuschnupfen eine besonders prominente Stellung ein. In Deutschland, zu Beginn der 1990er-Jahre, gaben 9,6 % der Befragten beim Bundes-Gesundheitssurvey an, dass sie schon einmal Heuschnupfen hatten. Es gab in den alten Bundesländern einen deutlich höheren Anteil Betroffener (10,6 %) als in den neuen Bundesländern (5,8 %). Zwischen Männern und Frauen war jeweils kaum ein Unterschied zu verzeichnen. Ende der 1990er-Jahre waren beim BGS98 14,5 % der Bevölkerung (15,4 % der Frauen und 13,5 % der Männer) betroffen. Die Verbreitung war sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern deutlich gewachsen. Bei den Frauen fiel diese Zunahme jeweils größer aus, sodass sich bis 1998 ein geschlechtsspezifischer Unterschied herausgebildet hatte. Weitere 10 Jahre später, beim DEGS1, der von 2008 bis 2011 durchgeführt wurde, hatten sich die Zahlen auf diesem hohen Niveau stabilisiert (14,8 % gesamt, 16,5 % der Frauen und 13,0 % der Männer). Dass sich zwischen Anfang und Ende der 1990er-Jahre nicht lediglich das Antwortverhalten der Befragten verändert hat, sondern es sich um einen tatsächlichen Anstieg der Heuschnupfenhäufigkeit handelte, konnte durch vergleichende Analysen und durch Laboruntersuchungen herausgefunden werden. Auf der Basis von allergenspezifischen IgE-Tests wurde stichprobenartig bei den Gesundheitssurveys die Sensibilisierung auf Inhalationsallergene überprüft. Im Nationalen Untersuchungssurvey 1990–1992 lag die Rate der Sensibilisierungen auf Inhalationsallergene – genau wie die Heuschnupfenprävalenz – in den alten Bundesländern (27,4 %) höher als in den neuen Bundesländern (24,1 %). Die Gesamtrate betrug 26,7 %. Bis zum Ende der 1990er Jahre kam es gemäß BGS98 zu einem deutschlandweiten Anstieg der Sensibilisierungsrate auf 31,2 %. Diese Zunahme war etwas weniger ausgeprägt als die beim selbst berichteten Heuschnupfen. Der Anstieg in West (auf 31,9 %) und Ost (auf 28,5 %) verlief ähnlich. Thesen über die Ursachen der Zunahme allergischer Erkrankungen Eine befriedigende Erklärung für die Zunahme allergischer Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten gibt es – wie auch für die Zunahme der Autoimmunerkrankungen – bisher nicht, wohl aber einige Thesen: Hygienehypothese Einige Forscher führen den beobachteten Anstieg allergischer Erkrankungen in westlichen Industrieländern auf die sogenannte „Dreck- und Urwaldhypothese“ zurück. Diese geht von einer mangelnden Aktivierung („Unterforderung“) des Immunsystems – vor allem in der Kindheit und frühen Jugend – durch übertriebene Hygienemaßnahmen aus. Es wird vermutet, dass der Kontakt mit bestimmten Bakterien insbesondere in den ersten Lebensmonaten wichtig ist, um das Immunsystem, das während der Schwangerschaft eher Typ2-T-Helferzellen-lastig ist, wieder in Richtung einer Typ1-T-Helferzellen-Antwort zu lenken, die weniger mit allergischen Reaktionen assoziiert ist. Eine prominente Studie zum Thema ist die ALEX-Studie. Rückgang parasitärer Erkrankungen Die physiologische Funktion von IgE-Antikörpern, die bei Allergien eine wesentliche Rolle spielen, ist die Abwehr von Wurm- und anderem Parasitenbefall. Der Rückgang parasitärer Erkrankungen könnte zu einer Umlenkung des Immunsystems auf andere, harmlose Strukturen führen. Hierfür spricht das geringere Aufkommen von Allergien in Ländern mit geringeren Hygienestandards. Da in den westlichen Industrienationen Parasitenbefall so gut wie nicht mehr vorkommt, bei allergischen Reaktionen aber eine verstärkte IgE-Antikörper-Bildung vorliegt, wird geprüft, ob hier ein Zusammenhang bestehen könnte. Eine Studie an 1600 Kindern in Vietnam zeigte, dass Kinder mit intestinalem Wurmbefall im Vergleich zu Kindern ohne Wurmbefall eine um sechzig Prozent verringerte Chance einer Allergie gegen Hausstaubmilben hatten. Jedoch gibt es derzeit widersprüchliche Forschungsergebnisse, so dass diese Hypothese noch nicht abschließend beurteilt werden kann. Umweltverschmutzung Umweltfaktoren wird eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Allergien zugesprochen. Es konnte bewiesen werden, dass Kinder seltener an Allergien litten, je mehr Endotoxin im täglichen Umfeld dieser nachgewiesen werden konnte. Allergene wie das Hauptallergen der Birke, Bet v 1, können sich an Dieselrußpartikel (auch Feinstaub) anheften und so beim Einatmen unter Umständen in tiefere Lungenabschnitte gelangen. Es ist möglich, dass die Dieselrußpartikel als „Träger“ der Allergene auch eine adjuvante (unterstützende) Wirkung haben und somit eine Sensibilisierung fördern. Die Umweltverschmutzung sorgt auch bei Haselsträuchern für Stress und verändert die Eiweißbildung derart, dass die betroffenen Menschen immer heftiger darauf reagieren. Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums in München haben herausgefunden, dass sich die allergischen Reaktionen des Beifußblättrigen Traubenkrauts (Ambrosia artemisiifolia) verstärken, wenn sie mit Stickstoffdioxid in Verbindung treten. Dadurch erhöht sich die Anzahl der Allergene und macht sie aggressiver. Die Pollen der Ambrosia zählen zu den stärksten Allergieauslösern. Kindliche Allergien durch Medikamente Ein Zusammenhang zwischen Allergien und Impfungen besteht nicht. Im Gegenteil war in der DDR die Durchimpfungsrate deutlich höher (nahe 100 %) und zugleich die Allergierate niedriger als in der BRD (bis 1989) und es gibt Hinweise, dass Impfungen das Allergierisiko senken können. Neu in der Diskussion sind Studien zur kindlichen Vitamin-D-Prophylaxe, zu Paracetamol und zur Antibiotikatherapie. Erhöhte Allergenexposition Diese Überlegung bezieht sich darauf, dass aufgrund einer erhöhten Allergenexposition vermehrt Sensibilisierungen stattfinden könnten. Ursachen für eine erhöhte Exposition könnten sein: die Zunahme des Pollenflugs infolge einer Stressreaktion von Bäumen auf die Erderwärmung oder Schadstoffbelastung, die Zunahme der Milbenexposition durch verbesserte Isolierung der Häuser, der vermehrte Konsum exotischer Lebensmittel wie Kiwi. Veränderungen in der kommensalen Flora Veränderungen in der kommensalen Flora könnten ebenfalls das Immunsystem beeinflussen und im Zusammenhang mit dem vermehrten Auftreten von Allergien stehen. Veränderungen in der Darmflora können durch den Einsatz von Antibiotika und durch moderne Ernährungsgewohnheiten ausgelöst werden. Die Bakterienflora der Haut könnte durch die Einführung von Windeln verändert worden sein. Es wird diskutiert, ob Probiotika einen günstigen Effekt auf die Entwicklung von Allergien haben könnten. Veränderte Lebensgewohnheiten Es gibt etliche weitere Faktoren, von denen ebenfalls vermutet wird, dass sie die Entstehung allergischer Erkrankungen begünstigen können. Dies sind Rauchen, Autoabgase, Stress, kleinere Familien, veränderte Ernährung, aber auch ein veränderter individueller Lebensstil, der sich auf die Entwicklung von Atopie und Allergien auswirken könnte, wie die kürzere Stillzeit junger Mütter und ein dadurch bedingtes höheres Allergierisiko des Kindes. Kinder von Frauen, die während der Schwangerschaft Kontakt zu Tieren, Getreide oder Heu hatten, bekommen im späteren Leben seltener allergische Atemwegs- und Hauterkrankungen. Für einen optimalen Schutz ist aber ein anhaltender Kontakt zu Nutztieren oder Getreide nötig. Ursachen allergischer Erkrankungen Die Ursachen von Allergien kann man in genetische und nicht genetische Faktoren unterteilen. Genetische Faktoren Zu den genetischen Faktoren gehören: Disposition zur überschießenden Bildung von Gesamt-IgE und allergenspezifischen IgE-Antikörpern, sowie deren Fixierung besonders an Mastzellen und basophilen Granulozyten von Haut und Schleimhäuten (Atopie). Zu den genetischen Faktoren gehört auch eine verminderte Aktivität von Regulatorischen T-Zellen, deren Aufgabe es ist, die Aktivierung des Immunsystems zu begrenzen und dadurch die Selbsttoleranz des Immunsystems zu regulieren. Die allergische Reaktionsbereitschaft ist mit den HLA-Genen assoziiert. Eindeutig belegt ist ein erhöhtes Allergierisiko für Kinder, bei denen entweder ein oder beide Elternteile Allergiker sind. Offensichtlich spielen aber mehrere genetische Faktoren zusammen, es gibt also nicht das eine „Allergie-Gen“. Es gibt eine Vielzahl von Kandidatengenen, die möglicherweise oder wahrscheinlich an der Entstehung allergischer Erkrankungen beteiligt sind. Auch scheinen unterschiedliche allergische Veranlagungen (z. B. Allergisches Asthma, Atopische Dermatitis) unterschiedlich genetisch determiniert zu sein. Nicht genetische Faktoren Gestörte Barrierefunktion der Haut Ursache einer Allergie kann auch eine gestörte Barrierefunktion und eine damit verbundene erhöhte Durchlässigkeit von Haut und Schleimhaut sein, z. B. durch bakterielle oder virale Infekte oder durch chemische Irritation. Intensive Allergenexposition Auch eine verstärkte Allergenexposition kann bei entsprechender Veranlagung zu Allergien führen. Diese Form der Allergie spielt besonders bei berufsbedingten Allergien eine Rolle. Stress Körperlicher oder psycho-sozialer Stress ist nicht Ursache einer Allergie. Stress beeinflusst aber das Immunsystem. Körperlicher und/oder psycho-sozialer Stress kann deshalb eine bestehende Allergie verstärken oder aber bei einer bestehenden Sensibilisierung Auslöser für die allergische Erkrankung sein. Auslöser Allergene Auslöser von Allergien sind Allergene. Hier reagiert das Immunsystem in überempfindlicher Weise (Sensibilisierung) auf bestimmte Allergene. Allergene sind Antigene, also Substanzen, die vom Körper als fremd erkannt werden und eine spezifische Immunantwort auslösen. Diese normale körperliche Reaktion ist bei der Allergie fehlgeleitet, sodass eigentlich harmlose Antigene zu allergieauslösenden Allergenen werden. Es gibt eine Vielzahl von Allergenen. Meistens sind Allergene Polypeptide oder Proteine. Allergene können nach unterschiedlichen Gesichtspunkten eingeteilt werden: nach der Allergenquelle (z. B. Tierallergene, siehe insbesondere Allergie gegen Katzenepithelien, Pollenallergene, Hausstaubmilbenallergene) nach der Art des Kontakts mit den Allergenen (z. B. Inhalationsallergene, Nahrungsmittelallergene) nach dem Pathomechanismus, durch den die Allergene eine allergische Reaktion auslösen (z. B. IgE-reaktive Allergene, Kontaktallergene) nach ihrer allergenen Potenz in Haupt- und Nebenallergene nach ihrer Aminosäuresequenz in bestimmte Allergengruppen (z. B. Gruppe-5-Graspollenallergene) oder in bestimmte Proteinfamilien (z. B. Lipocaline, Profiline). Allergene können vom Körper durch Inhalation, durch Ingestion, durch Hautkontakt oder durch Injektion (darunter fallen auch Insektenstiche), aufgenommen werden. Nicht immunogene Substanzen Allergien gegen Wasser und Zucker sind per Definition nicht möglich, da einer Allergie eine unangemessene Immunantwort auf ein Allergen zu Grunde liegt. Wasser und Zucker sind aber nicht immunogen und daher auch nicht „allergisierend“. Eine Erkrankung, die gelegentlich als Wasserallergie bezeichnet wird, ist die extrem seltene aquagene Urtikaria (Wassernesselsucht). Als Wasserallergie wird hin und wieder auch eine Immunantwort auf im Leitungswasser gelöste Stoffe bezeichnet. Sensibilisierung Eine Allergie setzt eine Sensibilisierung voraus. Unter Sensibilisierung versteht man den 1. Kontakt mit dem Allergen und der für dieses Allergen spezifischen Immunantwort des Körpers. Diese Sensibilisierung verursacht keine Krankheitssymptome, kann aber im Blut nachgewiesen werden. Erst bei einem erneuten Kontakt mit dem Allergen nach Abschluss der Sensibilisierungsphase (5 Tage bis mehrere Jahre) treten bei Allergikern die allergischen Krankheitssymptome auf. Prophylaxe einer Sensibilisierung Die beste Prophylaxe gegen eine Allergie ist die Vermeidung der Sensibilisierung. Das vollständige Vermeiden von sämtlichen Allergenen ist unmöglich. Jedoch ist in bestimmten Fällen die Vermeidung bzw. Verringerung der Belastung mit potentiellen Allergenen möglich und sinnvoll: Vermeidung von Latex Kinder, die mit offenem Rücken (Spina bifida) geboren werden, haben ein sehr hohes Risiko einer Sensibilisierung gegen Latex. Es ist daher heute klinischer Standard, diese Kinder von Geburt an vor jedem Kontakt mit Latex (beispielsweise bei Latex-OP-Handschuhen) zu schützen. Stillen Die optimale Ernährung für Neugeborene ist das ausschließliche Stillen während mindestens der ersten 4 Lebensmonate. Es gibt retrospektive Studien, die beobachtet haben, dass gestillte Kinder seltener an Allergien leiden als nicht gestillte. Hunde und Katzen Es gibt auch Studien dazu, dass Haushunde und auch Hauskatzen vor Allergien schützen können. Diese sammeln im Freien Allergene ein, die dann später zu Hause an das Kind abgegeben werden. Dessen Immunsystem wird dann dazu trainiert, die Fremdkörper zwar zu erkennen, diese aber als harmlos einzustufen. Zumindest in einer tierexperimentellen Studie an Mäusen hat dies funktioniert. Arbeitsschutz Die exogen-allergische Alveolitis ist meist eine Berufskrankheit, die durch die Inhalation von bestimmten Stäuben (z. B. Mehl bei der Bäcker-Lunge) verursacht wird. Durch entsprechende Arbeitsschutz-Maßnahmen, wie das Tragen von Feinstaubmasken oder auch die Verwendung von Abzugshauben, kann der Allergenkontakt vermindert und die Mitarbeiter somit vor einer Sensibilisierung geschützt werden. Symptome Das Risiko, an einer Allergie zu erkranken, wird durch genetisch fixierte Prädisposition, durch die aktuelle Abwehrlage der Körpergrenzflächen, durch Häufigkeit und Intensität der Allergenexposition und durch die allergene Potenz der betreffenden Substanz bestimmt. Die Symptome einer Allergie können mild bis schwerwiegend und in einigen Fällen sogar akut lebensbedrohlich sein. Expositionsbedingt kann es sein, dass die Symptome nur saisonal auftreten, etwa zur Zeit des entsprechenden Pollenflugs, oder dass die Symptome ganzjährig auftreten, wie bei einer Allergie gegen Hausstaubmilbenkot. Je nachdem, mit welchem Organ Allergene durch den Körper aufgenommen werden, entstehen bei der Allergie unterschiedliche Krankheitssymptome. Allergiker können an einer Krankheitsform leiden, aber auch an Mischformen. Organmanifestationen können Respirationstrakt, Verdauungstrakt, Herz und Kreislauf, blutbildende Organe, Haut, Nieren, Gelenke und das Nervensystem betreffen. Symptome durch Inhalationsallergene Inhalationsallergien gehören zu den Typ-1-Allergien vom Soforttyp. Inhalationsallergene werden über die Atmungsorgane aufgenommen und/oder gelangen über die Schleimhäute von Nase und Augen in den Körper. Zu den Inhalationsallergenen gehören z. B. Allergene aus Pollen, Pilzsporen, tierischen Epithelien, Federstaub, Speichel, Schweiß, Urin und Kot, Milbenkot, Insektenschüppchen, Holz- und Mehlstaub, Formaldehyd und Harzen. Inhalationsallergene lösen primär Atemwegssymptome aus, können sekundär aber auch Haut- und Darmsymptome sowie Kreislauf- und Nervenreaktionen auslösen. Typische allergische Erkrankungen durch Inhalationsallergene sind Allergische Rhinitis (Heuschnupfen), Konjunktivitis (Bindehautentzündung), Hustenreiz, bronchiale Hyperreaktivität, Asthma bronchiale. Symptome durch Ingestionsallergene Ingestionsallergene werden durch den Mund bzw. den Verdauungstrakt aufgenommen. Manche Ingestionsallergene werden erst im Laufe des Verdauungsprozesses freigesetzt und vom Körper aufgenommen. Die Symptome einer Allergie gegen Nahrungsmittel oder gegen oral aufgenommene Medikamente können deshalb innerhalb weniger Minuten oder auch erst mehrere Stunden nach der Nahrungsaufnahme/ Medikamenteneinnahme auftreten, obwohl es sich bei der Nahrungsmittelallergie um eine Typ-I-Soforttyp-Allergie handelt. Die Arzneimittelallergie kann in Form eines Arzneimittelexanthems auch als Typ-IV-Spätreaktion auftreten. Ingestionsallergene können bei entsprechend veranlagten und sensibilisierten Menschen primär Verstopfung, Brechdurchfall oder abdominale Koliken verursachen, über die Aufnahme der Allergene durch das Blut auch Haut- und/oder Atemwegssymptome. Symptome durch Kontaktallergene Kontaktallergene werden über die Haut aufgenommen. Sie überwinden die Barrierefunktion der Haut. Kontaktallergene können sowohl eine Sofortreaktion der Haut auslösen z. B. Kontakturtikaria oder auch eine Spätreaktion (Typ-IV-Spättyp-Allergie), die erst nach 12 bis 72 Stunden eintritt, z. B. das allergische Kontaktekzem. Symptome durch Injektionsallergene Injektionsallergene werden durch Injektion oder Infusion in den Körper eingebracht. Die Barrierefunktion von Haut und Schleimhaut wird dadurch umgangen. Zu den Injektionsallergenen gehören tierische Gifte (z. B. von Bienen, Wespen, Feuerameisen, Quallen, Seeanemonen, Feuerkorallen) und Medikamente (z. B. Penicillin). Zu den typischen allergischen Reaktionen durch Injektionsallergene gehören eine gesteigerte örtliche Reaktion und/oder anaphylaktische Reaktionen. Systemische Reaktionen Unabhängig davon, mit welchem Organ Allergene vom Körper aufgenommen werden, kann eine Allergie auch systemische Reaktionen verursachen, die den gesamten Körper betreffen, z. B. Urtikaria und anaphylaktische Reaktionen. Kreuzallergie Unter einer Kreuzallergie versteht man eine Sensibilisierung gegenüber biologisch oder chemisch verwandten Substanzen. Die Struktur dieser Substanzen ist teilweise identisch, so dass vom Immunsystem mehrere unterschiedliche Substanzen als Allergen erkannt werden können, obwohl eine Sensibilisierung nur gegen eine der Substanzen vorliegt. Beispielsweise können Allergiker gegen Birkenpollen auch auf Äpfel allergisch reagieren. Die allergische Reaktion kann bei der Kreuzallergie bereits beim Erstkontakt erfolgen, wenn es vorher eine Sensibilisierung mit einer ähnlichen Substanz gab. Systematik von Allergien nach Pathomechanismus Coombs und Gell haben 1963 als erste Menschen Allergien nach ihren pathophysiologischen Mechanismen in vier Typen eingeteilt, die sich überlappen können: Frühtypen Die Frühtypen (Typ-I- bis Typ-III-Allergien), genannt auch allergische Sofortreaktionen, werden durch Antikörper vermittelt (humorale Allergie). Typ-I-Allergie (Soforttyp, anaphylaktischer Typ) Die Typ-I-Allergie ist die häufigste Allergieform. Bei der Typ-I-Allergie liegt eine Fehlfunktion der Regelung der IgE-Antikörper vor. IgE-Antikörper bewirken durch mehrere Mediatoren schon in geringen Mengen eine Erweiterung der Blutgefäße und steigern deren Durchlässigkeit für weiße Blutkörperchen. T-Zellen, die normalerweise die IgE-Aktivität auf ein vernünftiges Maß einschränken, fehlen bei der Typ-I-Allergie oder sind zu wenig aktiv. Bei der Typ-I-Allergie werden durch die Vermittlung von IgE-Antikörpern Entzündungsmediatoren, z. B. Histamin, Leukotriene, Prostaglandine, Kallikrein, aus Basophilen Granulozyten und Mastzellen freigesetzt. Dadurch wird eine Entzündung von Haut, Schleimhaut oder eine systemische Entzündung hervorgerufen. Die allergische Reaktion bei der Typ-I-Allergie erfolgt innerhalb von Sekunden bis Minuten. Eventuell ist eine zweite Reaktion nach 4 bis 6 Stunden möglich (verzögerte Sofortreaktion). Diese zweite Reaktion darf nicht mit der Spättypreaktion der Typ-IV-Allergie verwechselt werden. Typische Krankheiten der Typ-I-Allergie: Allergisches Asthma allergische Bindehautentzündung Heuschnupfen Nesselsucht Angioödem Anaphylaxie (anaphylaktischer Schock) Arzneimittelallergien Jones-Mote-Reaktion Nahrungsmittelallergien Typ-II-Allergie (zytotoxischer Typ) Bei der Typ-II-Allergie kommt es zur Bildung von Immunkomplexen aus membranständigen Antigenen (z. B. Medikamenten, Blutgruppenantigenen) mit zirkulierenden IgG- oder IgM-Antikörpern. Dadurch werden das Komplementsystem oder zytotoxische Killerzellen aktiviert und es kommt zur Zytolyse (Zerstörung) körpereigener Zellen. Die allergische Reaktion bei der Typ-II-Allergie erfolgt nach 6 bis 12 Stunden. Typische Krankheiten für die Typ-II-Allergie: allergisch bedingte Hämolytische Anämie Thrombopenie Agranulozytose Transfusionszwischenfälle Goodpasture-Syndrom Typ-III-Allergie (Immunkomplextyp, Arthus-Typ) Bei der Typ-III-Allergie werden Immunkomplexe aus präzipitierenden IgG- und IgM-Antikörpern und Allergenen gebildet. Dadurch werden Komplementfaktoren aktiviert, insbesondere C3a und C5a. Diese speziellen Teile des Komplementsystems führen zur Phagozytose (aktiven Aufnahme) der Immunkomplexe durch Granulozyten unter Freisetzung gewebeschädigender Enzyme, z. B. Elastase, Kollagenase, Myeloperoxidase. Die allergische Reaktion bei der Typ-III-Allergie erfolgt nach 6 bis 12 Stunden. Typische Krankheiten für die Typ-III-Allergie: Serumkrankheit allergische Vaskulitis exogen-allergische Alveolitis Allergische bronchopulmonale Aspergillose Spättyp Der Spättyp (die Typ-IV-Allergie), genannt auch verzögerte allergische Reaktion, wird durch spezifisch sensibilisierte T-Zellen vermittelt (zellvermittelte Allergie). Typ-IV-Allergie (verzögerter Typ) Die Typ-IV-Allergie ist nach der Typ-I-Allergie die häufigste Allergieform. Bei der Typ-IV-Allergie werden Lymphokine aus spezifisch sensibilisierten T-Lymphozyten freigesetzt. Diese Lymphokine bewirken die Aktivierung bzw. Vermehrung von Makrophagen und mononukleären Zellen sowie deren Wanderung an den Ort der Allergenbelastung. Dadurch erfolgt eine lokale Infiltration und Entzündung. Die allergische Reaktion bei der Typ-IV-Allergie erfolgt nach 12 bis 72 Stunden. Typische Krankheiten der Typ-IV-Allergie: Allergisches Kontaktekzem (Kontaktallergie bei längerem Kontakt der Haut mit einem Antigen) Tuberkulinreaktion und andere Infektionsallergien (bei Gegenwart von Bakterien oder Viren) Arzneimittelexanthem Transplantatabstoßung persistierende granulomatöse Reaktion Allergietests Auch ein positiver Allergietest ist allein kein Nachweis für eine Allergie. Die Diagnose Allergie kann nur im Zusammenhang mit dem Allergietest und den klinischen Beschwerden gestellt werden. Durch den Hauttest und den Bluttest wird lediglich die Sensibilisierung gegen eine bestimmte Substanz nachgewiesen. Diese Testungen sagen wenig darüber aus, ob überhaupt Beschwerden bestehen oder über die Art oder Schwere der Beschwerden. Mit den Provokationstests werden eine Unverträglichkeit und das Beschwerdebild dieser Unverträglichkeit nachgewiesen, aber nicht, ob es sich bei dieser Unverträglichkeit tatsächlich um eine Allergie handelt. Hauttests Hauttests werden als Standarduntersuchungen vorgenommen, wenn der Verdacht besteht, dass ein Patient allergisch auf eine Substanz reagiert. Beim Hauttest werden Allergenextrakte bzw. allergenhaltiges Material auf verschiedene Weisen mit der Haut in Kontakt gebracht. Sensibilisierte Betroffene zeigen nach definierten Zeiten lokale Reaktionen vom Sofort-Typ oder Spät-Typ. An ihnen kann abgelesen werden, gegen welche Allergene oder Allergenquellen der Patient sensibilisiert ist. Dieser Test kann unter Umständen auch Hinweise auf den Schweregrad der allergischen Reaktion geben. Pricktest: Die am häufigsten angewendete Methode ist der Pricktest (auch skin prick test (SPT)), bei dem einzelne Tropfen von glyzerinisierten Allergenextrakten sowie Histamin und isotonische Kochsalzlösung (als Referenzen) auf den Unterarm oder den Rücken aufgebracht werden. Bei dem Test werden mögliche Allergene in kleinen Abständen voneinander aufgetragen. Durch die Tropfen hindurch wird mit einer Spezialnadel (Lanzette) etwa 1 mm in die Haut gestochen, damit die Allergene in die gelangen. Nach ca. 15 Minuten kann die Sofortreaktion abgelesen werden. Wenn die Haut an den betreffenden Stellen rot ist und anschwillt, dann handelt es sich um eine allergische Reaktion Prick-to-prick-Test: Beim Prick-to-prick-Test wird erst mit der Lanzette in die vermutete Allergenquelle gestochen (Früchte) und dann in die Haut des Patienten. Intrakutantest: Beim Intrakutantest werden ca. 20 Mikroliter von wässrigen Allergenextrakten mit einer Tuberkulinspritze oberflächlich in die Haut injiziert. Reibetest: Der Reibetest wird bei besonders empfindlichen Menschen angewandt. Der Arzt reibt den vermuteten Allergieauslöser an der Innenseite des Unterarms. Bei positiver Reaktion zeigen sich großflächige Rötungen oder Quaddeln. Scratchtest: Beim Scratchtest werden Allergenextrakte auf die Beugeseite des Unterarms gegeben und die Haut mit einer Lanzette 5 mm lang oberflächlich angeritzt. Dieser Test wird aber wegen seiner Ungenauigkeit selten angewendet. Epikutantest: Unter anderem bei der Kontaktdermatitis wird ein Pflastertest angewendet, der Epikutantest oder Atopie-Patch-Test. Dabei werden die vermuteten Allergene in Vaseline eingearbeitet eingesetzt. Die Allergen-Vaseline-Mischungen werden auf zirka 1,5 Zentimeter im Durchmesser große und zirka zwei Millimeter tiefe Aluminiumscheiben gebracht. Mit einem Pflaster werden diese Aluminiumkammern dann so auf die Haut am Rücken oder an den Oberarmen des Patienten geklebt, dass die Allergen-Vaseline-Mischungen auf der Haut fixiert werden. Weil Kontaktdermatitiden Spät-Typ-Reaktionen sind, muss das Pflaster zwei bis drei Tage auf der Haut bleiben, bevor ein Ergebnis abgelesen werden kann. Problematisch bei diesem Test sind die geringe Sensitivität und die schlechte Reproduzierbarkeit. Der Atopie-Patch-Test wird daher derzeit bei Nahrungsmitteln nicht mehr empfohlen. Provokationstests Bei Provokationstests wird das vermutete Allergen dem Patienten nicht über die Haut, sondern in anderer Form zugeführt. Der wesentliche Vorteil der Provokationstests liegt darin, dass eine Beschwerde-Auslösung nachgewiesen werden kann und nicht nur wie beim Bluttest mittels Nachweis von IgE-Antikörpern eine Sensibilisierung. Da bei Provokationstests unerwartet heftige Krankheitszeichen bis zum lebensbedrohlichen anaphylaktischen Schock auftreten können, sollten sie nur von einem allergologisch erfahrenen Arzt durchgeführt werden, der erforderlichenfalls auch die entsprechenden Notfallmaßnahmen durchführen kann. Rhinomanometrie Bei allergischer Rhinoconjunctivitis (Heuschnupfen) kann zur Provokation ein Allergenextrakt in die Nase gesprüht werden und anschließend die allergische Reaktion gemessen werden, indem die Schwellung der Nasenschleimhaut mittels einer sogenannten Rhinomanometrie oder der Tryptase-Spiegel im Blut gemessen wird. Lungenfunktionsprüfung Bei allergischem Asthma erfolgt die Provokation durch die Inhalation eines Allergenextrakts mit anschließender Erfassung der allergischen Reaktion mit einer Lungenfunktionsprüfung. Da Asthma meist mit einer bronchialen Hyperregibilität einhergeht, kann auch unspezifisch mit ansteigenden Konzentrationen einer Methacholin-Lösung provoziert werden (Methacholintest). Doppelblinde plazebokontrollierte orale Nahrungsmittelprovokation Bei schweren Nahrungsmittelallergien kann die double blind placebo controlled food challenge (Doppelblinde plazebokontrollierte orale Nahrungsmittelprovokation (DBPCFC)) angewendet werden. Dabei werden einer hypoallergenen Grundnahrung nach und nach verschiedene Nahrungsmittel so zugefügt, dass weder der Patient noch der Arzt das Nahrungsmittel erkennen kann. Dabei wird die Verträglichkeit beobachtet. So kann festgestellt werden, welche Nahrungsmittel allergische Reaktionen auslösen, und es können andersherum auch Nahrungsmittel identifiziert werden, die gefahrlos konsumiert werden können. Dieses Verfahren ist allerdings sehr zeitaufwändig und kann i. d. R. nur stationär durchgeführt werden. Blutuntersuchungen IgE Antikörper In Blutproben können IgE-Antikörper gemessen werden. Zum einen kann der Gesamt-IgE-Spiegel gemessen werden, der alle freien IgE-Antikörper erfasst. Dieser Wert ermöglicht eine Aussage darüber, ob generell vermehrt IgE-Antikörper gebildet werden. Erhöhte Gesamt-IgE-Werte kommen aber nicht nur bei allergischen Erkrankungen vor, sondern auch bei Parasitenbefall und bestimmten hämatologischen Erkrankungen. Zum anderen können auch allergenspezifische IgE-Antikörper nachgewiesen werden. Hierbei werden also die IgE-Spiegel ermittelt, die sich konkret gegen eine Allergenquelle richten. Die quantitative Messung von IgE-Antikörpern im Blut korreliert jedoch nur schlecht mit dem klinischen Bild. Das heißt, die Messung von IgE-Antikörpern im Blut erlaubt eine Aussage über die Sensibilisierungen eines Allergikers, aber nur bedingt eine Einschätzung der Schwere der Symptome und gar keine Aussage über die Art der Symptome. Es kann auch sein, dass allergenspezifische IgE-Antikörper trotz Sensibilisierung nicht nachgewiesen werden können. ECP Ein weiterer Parameter, der in Blutproben gemessen werden kann, ist das eosinophile kationische Protein (ECP). ECP wird von aktivierten Eosinophilen ausgeschüttet. ECP ist ein Entzündungsparameter und wird zur Verlaufskontrolle bei allergischem Asthma oder bei atopischer Dermatitis bestimmt. Tryptase Tryptase kann ebenfalls in Blutproben nachgewiesen werden. Tryptase wird von aktivierten Mastzellen ausgeschüttet und ist ein für aktivierte Mastzellen hochspezifischer Parameter. Der Tryptase-Spiegel wird auch bestimmt zur Diagnostik beim anaphylaktischen Schock, zur postmortalen Diagnose beim Asthmatod, zur Diagnostik der Mastozytose und bei der Provokationstestung bei allergischer Rhinitis. LTT Durch einen Lymphozytentransformationstest (LTT) kann die Bestimmung sensibilisierter Lymphozyten nachgewiesen und quantifiziert werden. Dies kann bei bestimmten Typ-IV-(Spät-)Allergien sinnvoll sein. Therapie Allergenkarenz Die Allergenkarenz, d. h. die Allergenvermeidung, ist bei sensibilisierten Personen die optimale Therapie, um eine Allergie zu vermeiden, da eine Allergie nur bei einem Kontakt mit dem entsprechenden Allergen auftreten kann. Eine fortgesetzte Allergenbelastung steigert die Immunantwort auf das Allergen, während eine dauerhafte Allergenkarenz die Sensibilisierung zwar nicht aufhebt, die spezifische Immunantwort aber abschwächt. Wenn die strikte Vermeidung eines Allergens nicht möglich ist, sollte eine möglichst weitgehende Verringerung der Allergenbelastung erfolgen, da eine Allergie auch von der Intensität der Allergenbelastung abhängt. Bestimmte Produkte, wie milbendichte Matratzenbezüge bei der Hausstaubmilbenallergie oder Pollenfilter in Klimaanlagen bei der Pollenallergie, helfen, den Allergenkontakt zu reduzieren. Auch wenn bei der Tierhaarallergie ein Verzicht auf Haustiere den Allergenkontakt stark reduziert, so sind Tierhaarallergene sehr stabil, werden verschleppt und können auch an Orten wie Schulen nachgewiesen werden, an denen normalerweise keine Tiere gehalten werden. Nahrungsmittelallergene hingegen können meistens sehr gut vermieden werden. Im Jahr 1925 begründete Willem Storm van Leeuwen (1882–1933) „antiallergische Kammern“. Medikamentöse Therapie Die meisten Allergien werden mit Medikamenten behandelt, die das Auftreten von allergischen Symptomen mildern oder verhindern, aber keine Heilung von der allergischen Erkrankung bewirken können. Diese Antiallergika werden je nach Krankheitsform und Schwere der Erkrankung in unterschiedlichen Darreichungsformen (Tabletten, Nasensprays, Asthmasprays, Augentropfen, Cremes, Salben und Injektionen) und in unterschiedlichen Intervallen (bei akutem Bedarf, prophylaktisch, dauerhaft) angewendet. Eingesetzte Wirkstoffe zur Allergiebehandlung sind Antihistaminika (zum Beispiel Loratadin) Adrenalin (bei schweren Reaktionen) Glukokortikoide (zum Beispiel Prednison) Mastzellstabilisatoren (zum Beispiel Cromoglicinsäure) pflanzliche Wirkstoffe (z. B. Extrakte aus der Wurzel der Tragant) Bei Asthma β2-Sympathomimetika (zum Beispiel Salbutamol) Leukotrienrezeptor-Antagonisten (zum Beispiel Montelukast) Theophyllin, der humanisierte monoklonale Antikörper Omalizumab (Xolair) bei schwerem allergischen Asthma Schwere akute Fälle mit anaphylaktischem Schock sind lebensbedrohlich und erfordern ärztliche Notfallmaßnahmen. Antihistaminika intravenös Adrenalin intramuskulär und intravenös Glukokortikoide Infusionen zum Volumenersatz Patienten, bei denen bekannt ist, dass sie Gefahr laufen, einen anaphylaktischen Schock zu erleiden (z. B. bei Insektengiftallergien), wird ein Notfallset mit Antihistaminikum, Glukokortikoid, eventuell einem Inhalationspräparat und einem Autoinjektor mit Adrenalin verschrieben (Adrenalin-Pen), welches sie stets bei sich tragen sollten. Ausblicke Verschiedene Wirkstoffe vor allem zur Dämpfung der Immunreaktion werden derzeit auf ihre Eignung als Medikament getestet. Hyposensibilisierung Die Hyposensibilisierung, auch Spezifische Immuntherapie (SIT), ist bislang die einzige verfügbare kausale Therapie bei Typ-I-Allergien. Bei der Hyposensibilisierung wird die allergenspezifische IgE-vermittelte Reaktionsbereitschaft des Immunsystems (Allergie vom Soforttyp, Typ-I-Allergie) herabgesetzt durch regelmäßige Zufuhr des Allergens über einen längeren Zeitraum in unterschwelligen, langsam ansteigenden Konzentrationen. Das Allergen oder das modifizierte Allergen (Allergoid) werden entweder unter die Haut gespritzt (subkutane Immuntherapie (SCIT)) oder als Tropfen oder Tabletten sublingual (sublinguale Immuntherapie (SLIT)) aufgenommen. Voraussetzung für eine erfolgreiche Hyposensibilisierung ist die Bereitschaft und Fähigkeit des Allergikers, die Therapie über einen Zeitraum von drei Jahren, sowie die anschließende Erhaltungstherapie, regelmäßig durchzuführen. Die Indikation für eine Hyposensibilisierung besteht für Menschen ab 5 Jahre, wenn das verursachende Allergen nicht gemieden werden kann, die Wirkung der Hyposensibilisierung für die behandelnde Erkrankung belegt ist und ein geeigneter Allergenextrakt verfügbar ist. Die Wirksamkeit der Hyposensibilisierung ist durch mehrere Studien für Rhinokonjunktivitis bei Pollenallergie, für das allergische Asthma bronchiale, für die Hausstaubmilbenallergie, für die Schimmelpilzallergie, für die Tierhaarallergie und für die Insektengiftallergie belegt. Auch konnte durch entsprechende Studien für einige Produkte nachgewiesen werden, dass durch die Hyposensibilisierung das Asthmarisiko verringert und die Neusensibilisierung auf weitere Allergene reduziert wird. Aus diesem Grund sollte die Hyposensibilisierung bei Kindern und Jugendlichen frühzeitig erfolgen und solche Produkte gewählt werden, für die dieser Effekt nachgewiesen wurde. Prognose Nahrungsmittelallergien bei Kindern Das Immunsystem von Kindern ist noch nicht voll ausgereift. Kinder haben deshalb eine erhöhte Allergieneigung. Auch und gerade bei Kindern kann deshalb im Verlauf der Erkrankung eine Allergieform durch eine andere ersetzt werden oder zu einer Allergie eine weitere hinzutreten. Bei konsequenter Meidung des auslösenden Allergens verschwindet eine Nahrungsmittelallergie mit Reifung des Immunsystems meistens bis zum 5. Lebensjahr, vor allem die Kuhmilch- und die Hühnereiallergie. Andere Nahrungsmittelallergien, z. B. die Erdnussallergie, haben allerdings nur eine geringe Besserungstendenz. Veränderte Reaktionsbereitschaft von Zellen Besonders bei chronischem Verlauf der Typ-I-Allergie erhöht sich die Reaktionsbereitschaft von Mastzellen, Monozyten, sowie von basophilen und eosinophilen Granulozyten. Dadurch können die Symptome einer bestehenden Allergie verstärkt werden und/oder neue Allergien hinzutreten. Etagenwechsel Unter einem Etagenwechsel versteht man bei der Inhalationsallergie das Übergreifen IgE-vermittelter Allergiesymptome (Typ-1-Sofort-Allergie) von den Konjunktiven (Bindehaut des Auges) auf die Nasen- und Bronchialschleimhaut oder von den oberen Atemwegen auf die unteren Atemwege, ein Heuschnupfen wird zum allergischen Asthma. Auch das Hinzutreten weiterer Inhalationsallergien und/oder das Auftreten von Kreuzallergien wird als Etagenwechsel bezeichnet. Unbehandelt führen 30–40 % aller Allergien gegen Inhalationsallergene zu einem Etagenwechsel. Pseudoallergien und Intoleranzen Es gibt Krankheiten, deren Symptome einer Allergie gleichen, die jedoch nicht immunologisch bedingt sind. Diese Krankheiten werden als Pseudoallergie oder Intoleranz bezeichnet. Bei der Pseudoallergie werden die allergieähnlichen Symptome ausgelöst, indem Mastzellen unspezifisch aktiviert werden. Wenn Mastzellen aktiviert werden und degranulieren, dann setzen sie eine Reihe von Entzündungsmediatoren (z. B. Histamin) frei. Es entsteht eine Entzündungsreaktion, die sich in allergieähnlichen Symptomen äußert. Während bei Allergien die Aktivierung der Mastzellen spezifisch erfolgt, nämlich dadurch, dass bestimmte Allergene an oberflächlich gebundene Antikörper binden können, so erfolgt die Mastzell-Aktivierung bei Pseudoallergien unspezifisch, also ohne Beteiligung der oberflächlich gebundenen Antikörper. Abzugrenzen von der Pseudoallergie und der Allergie ist die Intoleranz, die ebenfalls allergieähnliche Symptome verursachen kann. Bei der Intoleranz handelt es sich um eine Stoffwechselstörung. Der Körper kann bestimmte Substanzen nicht oder nicht ausreichend verstoffwechseln, meistens aufgrund eines Enzymdefektes. Arzt für Allergologie Die Ausbildung zum Allergologen ist eine Zusatzausbildung für Fachärzte. Dieser Facharzt ist also nur für Allergien in seinem Fachbereich zuständig. Für die Hauttestungen ist der Dermatologe mit der Zusatzausbildung Allergologie zuständig. Für die mit ähnlichen Symptomen auftretenden Pseudoallergien und Intoleranzen gibt es keine speziellen Fachärzte. Da sich beim Allergiker aber die Symptome nur in den seltensten Fällen auf ein Organ beschränken, der Kranke selbst gar nicht erkennen kann, ob seine Symptome von einer Allergie, einer Pseudoallergie oder einer Intoleranz herrühren und welche spezielle Diagnostik er benötigt, ist die Diagnose von Unverträglichkeiten oft langwierig und schwierig, da man für die Diagnose oft mehrere Ärzte aufsuchen muss. Siehe auch Allergiekarriere Pathergie Literatur Clemens von Pirquet: Allergie. In: Münchener Medizinische Wochenschrift. Band 30, 1906, S. 1457–1458 (erste Erwähnung des Begriffs „Allergie“). Björn M. Hausen, Ines K. Vieluf: Allergiepflanzen – Handbuch und Atlas. Kontaktallergene – Allergische Frühreaktionen. 2., erweiterte Auflage. Nikol Verlagsgesellschaft, Hamburg 1997, ISBN 3-933203-48-1. Claus Bachert, Bernd Kardorff: Allergische Erkrankungen in der Praxis. 2. Auflage.Uni-Med Verlag, Bremen 2001, ISBN 3-89599-505-3. Bärbel Häcker: Allergie. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 40 f. Weblinks Einzelnachweise Immunologie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Aminos%C3%A4uren
Aminosäuren
Aminosäuren (AS), unüblich aber genauer auch Aminocarbonsäuren, veraltet Amidosäuren genannt, sind chemische Verbindungen mit einer Stickstoff (N) enthaltenden Aminogruppe und einer Kohlenstoff (C) und Sauerstoff (O) enthaltenden Carbonsäuregruppe. Aminosäuren kommen in allen bekannten Lebewesen vor. Sie sind die Bausteine von Proteinen (Eiweiß) und werden frei bei der Zerlegung von Proteinen (Proteolyse). Essentielle Aminosäuren kann ein Organismus nicht selbst herstellen, sie müssen daher mit der Nahrung aufgenommen werden. Zur Klasse der Aminosäuren zählen organische Verbindungen, die zumindest eine Aminogruppe (–NH2 bzw. substituiert –NR2) und eine Carboxygruppe (–COOH) als funktionelle Gruppen enthalten, also Strukturmerkmale der Amine und der Carbonsäuren aufweisen. Chemisch lassen sie sich nach der Stellung ihrer Aminogruppe zur Carboxylgruppe unterscheiden – steht die Aminogruppe am Cα-Atom unmittelbar benachbart zur endständigen Carboxygruppe, nennt man dies α-ständig und spricht von α-Aminosäuren. Ausgewählte α-Aminosäuren sind die natürlichen Bausteine von Proteinen. Sie werden miteinander zu Ketten verknüpft, indem die Carboxygruppe der einen Aminosäure mit der Aminogruppe der nächsten eine Peptidbindung eingeht. Die auf diese Weise zu einem Polymer verketteten Aminosäuren unterscheiden sich in ihren Seitenketten und bestimmen zusammen die Form, mit der das Polypeptid im wässrigen Milieu dann zum nativen Protein auffaltet. Diese Biosynthese von Proteinen findet in allen Zellen an den Ribosomen nach Vorgabe genetischer Information statt, die in Form von mRNA vorliegt. Die Basensequenz der mRNA codiert in Tripletts die Aminosäurensequenz, wobei jeweils ein Basentriplett ein Codon darstellt, das für eine bestimmte proteinogene Aminosäure steht. Die hiermit als Bausteine für die Bildung von Proteinen in einer bestimmten Reihenfolge angegebenen Aminosäuren formen die Proteine. Beim Menschen sind es 21 verschiedene proteinogene Aminosäuren, neben den standardmäßig 20 (kanonischen) Aminosäuren auch Selenocystein. Nach der Translation können die Seitenketten einiger im Protein eingebauter Aminosäuren noch modifiziert werden. Das Spektrum der Aminosäuren geht allerdings über diese rund zwanzig proteinogenen weit hinaus. So sind bisher über 400 nichtproteinogene natürlich vorkommende Aminosäuren bekannt, die biologische Funktionen haben. Die vergleichsweise seltenen D-Aminosäuren stellen hierbei eine spezielle Gruppe dar. Die Vielfalt der synthetisch erzeugten und die der theoretisch möglichen Aminosäuren ist noch erheblich größer. Einige Aminosäuren spielen als Neurotransmitter eine besondere Rolle, ebenso verschiedene Abbauprodukte von Aminosäuren; biogene Amine treten nicht nur als Botenstoffe im Nervensystem auf, sondern entfalten auch als Hormone und Gewebsmediatoren vielfältige physiologische Wirkungen im Organismus. Die einfachste Aminosäure, Glycin, konnte nicht nur auf der Erde, sondern auch auf Kometen, Meteoriten und in Gaswolken im interstellaren Raum nachgewiesen werden. Geschichte Die erste Aminosäure wurde 1805 im Pariser Labor von Louis-Nicolas Vauquelin und dessen Schüler Pierre Jean Robiquet aus dem Saft von Spargel (Asparagus officinalis) isoliert und danach Asparagin genannt. Als letzte der üblichen proteinaufbauenden Aminosäuren wurde das Threonin 1931 im Fibrin entdeckt sowie 1935 seiner Struktur nach geklärt von William Rose. Rose hatte durch Experimente mit verschiedenen Futtermitteln herausgefunden, dass die bis dato entdeckten 19 Aminosäuren als Zusatz nicht ausreichten. Er stellte auch die Essentialität anderer Aminosäuren fest und ermittelte je die für ein optimales Wachstum mindestens erforderliche Tagesdosis. In der Zeit zwischen 1805 und 1935 waren viele der damals bekannten Chemiker und Pharmazeuten daran beteiligt, Aminosäuren erstmals zu isolieren sowie deren Struktur aufzuklären. So gelang Emil Fischer, auf den auch die Fischer-Projektion zurückgeht, die finale Aufklärung der Struktur von Serin (1901), Lysin (1902), Valin (1906) und Cystein (1908). Auch Albrecht Kossel (1896 Histidin aus Störsperma), Richard Willstätter (1900 Prolin via Synthese) und Frederick Hopkins (1901 Tryptophan aus Casein) wurden später Nobelpreisträger. Der deutsche Chemiker Ernst Schulze isolierte drei Aminosäuren erstmals – 1877 Glutamin aus Rüben, 1881 Phenylalanin und 1886 Arginin aus Lupinen – und war an der Strukturaufklärung weiterer Aminosäuren beteiligt. Zuvor hatte Heinrich Ritthausen 1866 Glutaminsäure aus Getreideeiweiß, dem Gluten, kristallin gewonnen. Wilhelm Dittmar klärte 1872 die Struktur von Glutamin und Glutaminsäure, deren Salze Glutamate sind, auf. Bereits 1810 entdeckte William Hyde Wollaston das schwefelhaltige Cystin als „cystic oxide“ in Blasensteinen, doch erst 1884 Eugen Baumann das monomere Cystein. 1819 trennte Henri Braconnot das Glycin aus Leim ab und Joseph Louis Proust das Leucin aus Getreide. Eugen von Gorup-Besánez isolierte 1856 das Valin aus Pankreassaft. Schon 1846 hatte Justus von Liebig aus Casein erstmals das Tyrosin abtrennen können, dessen Struktur 1869 Ludwig von Barth klärte. Im Hydrolysat des Casein entdeckte Edmund Drechsel 1889 auch das Lysin und später John Howard Mueller 1922 das schwefelhaltige Methionin als 19. Aminosäure, deren Strukturformel George Barger und Philip Coine 1928 angaben. In Melasse hatte Felix Ehrlich schon 1903 als 18. das Isoleucin gefunden, ein Strukturisomer des Leucin. Friedrich Wöhler, dessen Synthesen in den 1820er Jahren das Gebiet der Biochemie eröffneten, entdeckte keine Aminosäure, doch waren drei seiner Schüler daran beteiligt, neben den erwähnten Gorup-Besánez und Schulze auch Georg Städeler (1863 Serin aus Rohseide). 18 der 20 entdeckten Aminosäuren wurden aus pflanzlichem oder tierischem Material isoliert, nur die beiden Aminosäuren Alanin (1850 Adolph Strecker) und Prolin (Willstätter) durch organische Synthese erhalten. Während die Analyse der stofflichen Zusammensetzung bis hin zur Summenformel mit den damaligen Methoden gut zu bewerkstelligen war, konnte die Strukturformel vieler Aminosäuren oftmals nur durch Teilschritte der Synthese endgültig aufgeklärt werden, was manchmal erst Jahre später gelang. Die Struktur des Asparagins und die von Asparaginsäure klärte Hermann Kolbe erst 1862 auf, 57 Jahre nach der ersten Beschreibung. Den Gattungsnamen verdanken Aminosäuren zwei funktionellen Gruppen, ihre Einzelnamen mal einem hellen Aussehen (z. B. Arginin, Leucin), einem süßen Geschmack (z. B. Glycin) oder dem Material, in dem sie gefunden wurden (z. B. Asparagin, Cystein, Serin, Tyrosin), Merkmalen der chemischen Struktur (z. B. Prolin, Valin, Isoleucin) bzw. beidem (z. B. Glutamin, Glutaminsäure) und mal auch den Edukten ihrer Synthese (z. B. Alanin). Dass Proteine als Ketten aus Aminosäuren, verbunden durch Peptidbindungen, aufgebaut sind, schlugen zuerst 1902 auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Karlsbad gleichzeitig und unabhängig voneinander sowohl Emil Fischer als auch Franz Hofmeister vor (Hofmeister-Fischer-Theorie). Struktur Aminosäuren bestehen aus mindestens zwei Kohlenstoffatomen. Die instabile Carbamidsäure besitzt lediglich ein Kohlenstoffatom und ist damit keine Aminosäure, sondern ein Kohlensäureamid. Aminosäuren lassen sich in Klassen einteilen je nach dem Kohlenstoffatom, an dem sich die Aminogruppe relativ zur Carboxygruppe befindet. Sind im Molekül mehrere Aminogruppen vertreten, so bestimmt das Kohlenstoffatom, dessen Aminogruppe dem Carboxy-Kohlenstoff am nächsten steht, um welche Klasse von Aminosäuren es sich handelt. α-Aminosäuren: Die Aminogruppe der α-Aminosäuren befindet sich am zweiten Kohlenstoffatom, einschließlich des Carboxy-Kohlenstoffatoms. Die Zählung beginnt immer mit dem Carboxy-Kohlenstoff. Die IUPAC-Bezeichnung lautet daher 2-Aminocarbonsäuren. Der einfachste Vertreter der α-Aminosäuren ist die proteinogene Aminosäure Glycin. Alle proteinogenen Aminosäuren sind α-Aminosäuren. Mit dem Ausdruck Aminosäuren ist oft eine bestimmte Gruppe von α-Aminosäuren gemeint, die hauptsächlich aus L-α-Aminosäuren besteht: die proteinogenen Aminosäuren. Diese sind die Bausteine sämtlicher Proteine allen Lebens auf der Erde und neben den Nukleinsäuren Grundbausteine des Lebens. β-Aminosäuren: Die Aminogruppe der β-Aminosäuren befindet sich am dritten Kohlenstoffatom (das Carboxy-Kohlenstoffatom mitgezählt). Die IUPAC-Bezeichnung lautet 3-Aminocarbonsäuren. Der einfachste Vertreter ist β-Alanin. γ-Aminosäuren: Die Aminogruppe der γ-Aminosäuren befindet sich am vierten Kohlenstoffatom (das Carboxy-Kohlenstoffatom mitgezählt). Die IUPAC-Bezeichnung lautet 4-Aminocarbonsäuren. Der einfachste Vertreter ist γ-Aminobuttersäure (GABA). Die Bezeichnung weiterer Klassen der Aminosäuren ergibt sich nach dem gleichen Schema. Die Aminosäuren einer Klasse unterscheiden sich durch ihre Seitenkette R. Ist die Seitenkette R verschieden von den anderen Substituenten, die sich am Kohlenstoff mit der Amino-Gruppe befinden, so befindet sich hier ein Stereozentrum und es existieren von der entsprechenden Aminosäure zwei Enantiomere. Enthält die Seitenkette R selbst weitere Stereozentren, so ergeben sich auch Diastereomere und die Zahl möglicher Stereoisomerer nimmt entsprechend zur Anzahl der weiteren Stereozentren zu. Von Aminosäuren mit zwei verschieden substituierten Stereozentren gibt es vier Stereoisomere. Aminoacyl-Gruppe Aminoacyl-Gruppe bezeichnet die einwertige Gruppe, die aus einer Aminosäure durch Entfernen der Hydroxygruppe (–OH) aus der Carboxygruppe (–COOH) entsteht, also das univalente Radikal. Aus einer α-Aminosäure wird so eine α-Aminoacyl-Gruppe gebildet; aus der Aminosäure Tyrosin beispielsweise entsteht so die Tyrosylgruppe als eine spezielle α-Aminoacyl-Gruppe. Proteinogene Aminosäuren Als proteinogene Aminosäuren werden Aminosäuren bezeichnet, die in Lebewesen als Bausteine der Proteine während der Translation nach Vorgabe genetischer Information verwendet werden. Bei der Biosynthese von Proteinen, die an den Ribosomen einer Zelle stattfindet, werden im Zuge der Proteinbiosynthese ausgewählte Aminosäuren durch Peptidbindungen in bestimmter Reihenfolge zur Polypeptidkette eines Proteins verknüpft. Die Aminosäurensequenz des ribosomal gebildeten Peptids wird dabei vorgegeben durch die in der Basensequenz einer Nukleinsäure enthaltene genetische Information, wobei nach dem genetischen Code eine Aminosäure durch ein Basentriplett codiert wird. Die proteinogenen Aminosäuren sind stets α-Aminosäuren. Bis auf die kleinste, Glycin, sind sie chiral und treten mit besonderer räumlicher Anordnung auf. Eine Besonderheit weist die Aminosäure Prolin auf, deren Aminogruppe ein sekundäres Amin besitzt und die sich daher nicht so flexibel in eine Proteinfaltung einfügt wie andere proteinogene Aminosäuren – Prolin gilt beispielsweise als Helixbrecher bei α-helikalen Strukturen in Proteinen. Aufgrund der sekundären Aminogruppe wird Prolin auch als sekundäre Aminosäure – öfters fälschlicherweise bzw. veraltet auch als Iminosäure – bezeichnet. Von den spiegelbildlich verschiedenen Enantiomeren sind jeweils nur die L-Aminosäuren proteinogen (zur D / L-Nomenklatur siehe Fischer-Projektion; in Fällen wie Hydroxyprolin gibt es weitere Stereoisomere). Die molekularen Komponenten des zum Aufbau der Proteine notwendigen zellulären Apparats – neben Ribosomen noch tRNAs und diese mit Aminosäuren beladende Aminoacyl-tRNA-Synthetasen – sind selber auch chiral und erkennen allein die L-Variante. Dennoch kommen in Lebewesen vereinzelt auch D-Aminosäuren vor. Diese werden jedoch unabhängig von proteinogenen Stoffwechselwegen synthetisiert und dienen nicht dem ribosomalen Aufbau von Proteinen. So wird zum Beispiel D-Alanin in Peptidoglycane der bakteriellen Zellwand eingebaut oder D-Valin in bakterielle Cyclo-Depsipeptide wie Valinomycin. Verschiedene Arten von Archaeen, Bakterien, Pilzen und Nacktkiemern verfügen über nichtribosomale Peptidsynthetasen genannte Multienzymkomplexe, mit denen solche (nichtproteinogenen) Aminosäuren in ein nichtribosomales Peptid eingebaut werden können. Kanonische Aminosäuren Für 20 der proteinogenen Aminosäuren finden sich Codons in der (am häufigsten gebrauchten) Standardversion des genetischen Codes. Diese werden daher als Standardaminosäuren oder auch kanonische Aminosäuren bezeichnet. In Aminosäuresequenzen werden die Aminosäuren meist mit einem Namenskürzel im Dreibuchstabencode angegeben oder im Einbuchstabencode durch ein Symbol dargestellt. Neben den oben angegebenen Codes werden zusätzliche Zeichen als Platzhalter benutzt, wenn aus der Proteinsequenzierung oder Röntgenstrukturanalyse nicht auf die genaue Aminosäure geschlossen werden kann. Nichtkanonische Aminosäuren Zu den natürlich vorkommenden Aminosäuren gehören außer den kanonischen die übrigen als nichtkanonische Aminosäuren bezeichneten Aminosäuren, wozu proteinogene und nicht-proteinogene zählen. Hierbei lassen sich mehrere Gruppen unterscheiden: Zur ersten Gruppe gehören jene proteinogenen Aminosäuren, die durch eine Recodierung des genetischen Materials in Proteine eingebaut werden. Die 21. und die 22. proteinogene Aminosäure gehören hierzu: Selenocystein (bei Eukaryoten und manchen Bakterien und Archaeen) und Pyrrolysin (bei manchen Bakterien und Archaeen). Für beide Aminosäuren wurden spezifische tRNAs – tRNASec bzw. tRNAPyl – gefunden, die während der Translation einen Einbau am Ribosom möglich machen. Deren Anticodon paart, abhängig von Strukturelementen im Kontext der mRNA (siehe Secis), mit dem Codon UGA bzw. UAG; im Standardcode stellen diese ein Stopcodon dar. Doch nicht alle Organismen verwenden die nichtkanonischen proteinogenen Aminosäuren dieser Gruppe. {| class="wikitable" |- class="hintergrundfarbe6" ! Aminosäure ! Abk. ! Symbol |- style="text-align:center;" | Pyrrolysin | Pyl | O |- style="text-align:center;" | Selenocystein | Sec | U |} Das übliche Startcodon AUG codiert für die Aminosäure Methionin. Bakterien verfügen neben der tRNAMet über eine besondere tRNAfMet, die ebenfalls mit Methionin beladen wird und als Initiator-tRNA dient. Die an tRNAifMet gebundene Aminosäure aber wird in Bakterien am N-Terminus formyliert zu N-Formylmethionin (fMet), noch bevor sie bei der Initiation am Ribosom zur ersten Aminosäure einer Peptidkette werden kann. Dieses Aminosäurederivat Formylmethionin wird daher gelegentlich auch als (23.) proteinogene Aminosäure gezählt. Auch Mitochondrien und Chloroplasten nutzen fMet initial. Dagegen wird es im Cytosol eukaryotischer Zellen und in Archaeen nicht bei der Translation verwendet. Eine zweite Gruppe bilden die im engen Sinn nicht proteinogenen Aminosäuren, die aus kanonischen Aminosäuren entstehen, wenn der Aminosäurerest R nach dem Einbau in Proteine verändert wird, d. h. durch eine der vielfältigen posttranslationale Modifikationen. So kann Prolin zu Hydroxyprolin, Serin zu O-Phosphoserin, Tyrosin zu O-Phosphotyrosin und Glutamat zu γ-Carboxyglutamat umgewandelt werden. Eine wichtige Änderung des Aminosäurerestes stellt auch die Glykosylierung dar: Hier werden Kohlenhydratreste auf die Aminosäurereste übertragen, wodurch Glykoproteine entstehen. Als dritte Gruppe lassen sich die strenggenommen nicht proteinogenen Aminosäuren fassen, die der Organismus nicht von den kanonischen Aminosäuren unterscheiden kann und die er so anstelle dieser in Proteine unspezifisch einbaut. Dazu gehört Selenomethionin, das anstelle des Methionins eingebaut werden kann, oder das Canavanin, das der Organismus nicht vom Arginin unterscheiden kann oder auch die Azetidin-2-carbonsäure, die als giftiges Prolin-Analogon wirkt. Viele der Aminosäuren dieser Gruppe sind toxisch, da sie oft zu einer Fehlfaltung des Proteins führen, wodurch die Form und somit die Funktionsfähigkeit des Proteins beeinträchtigt werden kann. So ist Azetidin-2-carbonsäure ein toxischer Bestandteil des Maiglöckchens, wobei sich das Maiglöckchen selber mit einer hochspezifischen Prolyl-tRNA-Synthetase vor dem unkontrollierten Einbau dieser Aminosäure in ihre Proteine schützt. Der Mensch nutzt neben den 20 kanonischen auch Selenocystein als proteinogene Aminosäure. Von den 20 kanonischen Aminosäuren werden 12 vom menschlichen Organismus beziehungsweise durch im menschlichen Verdauungstrakt lebende Mikroorganismen synthetisiert. Die restlichen 8 Aminosäuren sind für den Menschen essentiell, das heißt, er muss sie über die Nahrung aufnehmen. Der Einbau künstlicher, nahezu beliebig gebauter Aminosäuren im Zuge eines Proteindesigns ist unter anderem über die Ersetzung des Liganden in der entsprechenden Aminoacyl-tRNA-Synthetase möglich. Diese Verfahren sind teilweise so weit fortgeschritten, dass damit gezielt bestimmte Proteine eine Markierung erhalten können, die beispielsweise das Protein nach Behandlung mit spezifischen Reagenzien zur Fluoreszenz anregen (Beispiel: Einbau von Norbornen-Aminosäure via Pyrrolysyl-tRNA-Synthetase/Codon CUA). Damit ist eine genaue Lokalisierung des Proteins auch ohne Produktion und Reaktion mit Antikörpern möglich. Biochemische Bedeutung Aminosäuren als Bausteine von Proteinen L-Aminosäuren sind in der Biochemie von großer Bedeutung, da sie die Bausteine von Peptiden und Proteinen (Eiweißen) sind. Bisher sind über zwanzig sogenannte proteinogene Aminosäuren bekannt. Dies sind zunächst jene 20 L-α-Aminosäuren, die als Standard-Aminosäuren durch Codons von je drei Nukleinbasen in der DNA nach dem Standard-Code codiert werden. Zu diesen kanonisch genannten Aminosäuren sind inzwischen zwei weitere hinzugekommen, Selenocystein und Pyrrolysin. Beide nicht-kanonischen sind ebenfalls α-Aminosäuren, bezogen auf die endständige Carboxygruppe ist die Aminogruppe am unmittelbar benachbarten Kohlenstoffatom gebunden (Cα). Darüber hinaus gibt es noch weitere Aminosäuren, die als Bestandteil von Proteinen oder Peptiden auftreten, jedoch nicht codiert werden. Aminosäureketten mit einer Kettenlänge unter zirka 100 Aminosäuren werden meist als Peptide bezeichnet, bei den größeren ribosomal gebildeten spricht man von Makropeptiden oder Proteinen. Die einzelnen Aminosäuren sind dabei innerhalb der Kette je über Peptidbindungen (Säureamid) verknüpft. Ein automatisiertes Verfahren zur Synthese von Peptiden liefert die Merrifield-Synthese. In Form von Nahrung aufgenommene Proteine werden bei der Verdauung in L-Aminosäuren zerlegt. In der Leber werden sie weiter verwertet. Entweder werden sie zur Proteinbiosynthese verwendet oder abgebaut (siehe auch: Aminosäureindex). Die wichtigsten Mechanismen des Aminosäurenabbaus sind: Transaminierung Desaminierung Decarboxylierung Essentielle Aminosäuren Aminosäuren, die ein Organismus benötigt, jedoch nicht selbst herstellen kann, heißen essentielle Aminosäuren und müssen mit der Nahrung aufgenommen werden. Alle diese essentiellen Aminosäuren sind L-α-Aminosäuren. Für Menschen sind Valin, Methionin, Leucin, Isoleucin, Phenylalanin, Tryptophan, Threonin und Lysin essentielle Aminosäuren. Seit 1985 wird von der WHO auch die Aminosäure Histidin als essenzielle Aminosäure eingestuft. Es gibt somit neun essenzielle Aminosäuren. Bedingt essentielle oder semi-essentielle Aminosäuren müssen nur in bestimmten Situationen mit der Nahrung aufgenommen werden, zum Beispiel während des Wachstums oder nach schweren Verletzungen. Die übrigen Aminosäuren werden entweder direkt synthetisiert oder aus anderen Aminosäuren durch Modifikation gewonnen. So kann Cystein aus der essentiellen Aminosäure Methionin synthetisiert werden. Solange das Vermögen, aus Phenylalanin die Aminosäure Tyrosin herzustellen, noch nicht ausgereift ist, zählt auch diese neben den anderen zu den essentiellen Aminosäuren im Kindesalter. Aus ähnlichem Grund muss auch bei einer Phenylketonurie Tyrosin zugeführt werden. Daneben gibt es andere Erkrankungen, die den Aminosäurestoffwechsel beeinträchtigen und die Aufnahme einer eigentlich nicht-essentiellen Aminosäure unter Umständen erfordern. Pflanzen und Mikroorganismen können alle für sie notwendigen Aminosäuren selbst synthetisieren. Daher gibt es für sie keine essentiellen Aminosäuren. Chemisch-physikalische Eigenschaften Die proteinogenen Aminosäuren lassen sich nach ihren Resten in Gruppen aufteilen (siehe Tabellenübersicht der Eigenschaften). Dabei kann eine Aminosäure in verschiedenen Gruppen gleichzeitig auftauchen. In einem Mengendiagramm lassen sich die Überlappungen der Gruppen grafisch darstellen. Die Eigenschaften der Seitenkette von Cystein betreffend haben die Autoren unterschiedliche Ansichten: Löffler hält sie für polar, während Alberts sie für unpolar hält. Richtigerweise handelt es sich bei Schwefel um ein Heteroatom, folglich gilt: Die Seitenkette von Cystein hat schwach polare Eigenschaften. Säure- und Basen-Verhalten Aufgrund der basischen Aminogruppe und der sauren Carbonsäuregruppe sind Aminosäuren zugleich Basen und Säuren. Als Feststoffe und in neutralen wässrigen Lösungen liegen Aminosäuren als Zwitterionen vor, das heißt, die Aminogruppe ist protoniert und die Carboxygruppe ist deprotoniert. Verallgemeinert lässt sich das Zwitterion so darstellen: Als Zwitterion kann die protonierte Aminogruppe als Säure (Protonendonator) und die Carboxylatgruppe kann als Base (Protonenakzeptor) reagieren. In sauren Lösungen liegen Aminosäuren als Kationen und in basischen Lösungen als Anionen vor: Die Ladung eines Aminosäuremoleküls hängt vom pH-Wert der Lösung ab. Bei einem Zwitterion mit einer sauren und einer basischen Gruppe ist bei neutralem pH-Wert die Gesamtladung des Moleküls null. Daneben besitzen die Seitenketten der Aminosäuren teilweise saure oder basische geladene Gruppen. Der pH-Wert mit einer Nettoladung von Null ist der isoelektrische Punkt (pHI, pI) einer Aminosäure. Am isoelektrischen Punkt ist die Wasserlöslichkeit einer Aminosäure am geringsten. Für das Säure-Base-Verhalten proteinogener Aminosäuren ist vor allem das Verhalten ihrer Seitenkette (fortan mit R bezeichnet) interessant. In Proteinen sind die NH2- und COOH-Gruppen bei physiologischem pH-Wert (um pH 7) wegen der Peptidbindung nicht protonierbar und damit auch nicht titrierbar. Ausnahmen sind der Amino- und der Carboxy-Terminus des Proteins. Daher ist für das Säure-Base-Verhalten von Proteinen und Peptiden der Seitenkettenrest R maßgeblich. Das Verhalten der Seitenkette R hängt von ihrer Konstitution ab, das heißt, ob die Seitenkette selbst wieder als Protonenakzeptor oder als Protonendonator wirken kann. Die proteinogenen Aminosäuren werden nach den funktionellen Gruppen eingeteilt in solche mit unpolarer oder polarer Aminosäureseitenkette und weiter unterteilt in nach Polarität sortierte Untergruppen: aliphatische, aromatische, amidierte, Schwefel-enthaltende, hydroxylierte, basische und saure Aminosäuren. Die Seitenketten von Tyrosin und Cystein sind zwar im Vergleich zu den anderen unpolaren Seitenketten relativ sauer, neigen aber erst bei unphysiologisch hohen pH-Werten zum Deprotonieren. Prolin ist eine sekundäre Aminosäure, da der N-Terminus mit der Seitenkette einen fünfatomigen Ring schließt. Innerhalb eines Proteins bindet der Carboxy-Terminus einer vorhergehenden Aminosäure an den Stickstoff des Prolins, welcher aufgrund der bereits erwähnten Peptidbindung nicht protonierbar ist. Histidin, Tyrosin und Methionin kommen jeweils in zwei Untergruppen vor. Aliphatische Aminosäureseitenketten Alanin Glycin Isoleucin Leucin Methionin Prolin Valin Aromatische Aminosäureseitenketten Phenylalanin Tryptophan Tyrosin Amidierte Aminosäureseitenketten Asparagin Glutamin Schwefel-enthaltende Aminosäureseitenketten Cystein Methionin Hydroxylierte Aminosäureseitenketten Serin Threonin Tyrosin Basische Aminosäureseitenketten Lysin Arginin Histidin Saure Aminosäureseitenketten Asparaginsäure (dissoziiert zu Aspartat) Glutaminsäure (dissoziiert zu Glutamat) Der pK-Wert ist der pH-Wert, bei dem die titrierbaren Gruppen zu gleichen Teilen protoniert und deprotoniert vorliegen; die titrierbare Gruppe liegt dann zu gleichen Teilen in ihrer basischen wie in ihrer sauren Form vor (siehe auch: Henderson-Hasselbalch-Gleichung). Es ist meist üblich, anstatt vom pKS vom pK zu sprechen, so vom pK der Säure. In diesem Sinne müsste allerdings vom pK des Lysins als pKB, vom pK der Base gesprochen werden. Aus Gründen der Vereinfachung wird diese Notation aber allgemein weggelassen, da sich auch aus dem Sinnzusammenhang ergibt, ob die Gruppe als Base oder Säure wirkt. Der pK ist keine Konstante, sondern hängt von der Temperatur, der Aktivität, der Ionenstärke und der unmittelbaren Umgebung der titrierbaren Gruppe ab und kann daher stark schwanken. Ist der pH höher als der pK einer titrierbaren Gruppe, so liegt die titrierbare Gruppe in ihrer basischen (deprotonierten) Form vor. Ist der pH niedriger als der pK der titrierbaren Gruppe, so liegt die titrierbare Gruppe in ihrer sauren (protonierten) Form vor: Für Asp (pK = 3,86) bei pH 7: Die Seitenkette ist nahezu vollständig deprotoniert. Für Lys (pK = 10,53) bei pH 7: Die Seitenkette ist nahezu vollständig protoniert. Die Seitenketten basischer Aminosäuren sind in ihrer protonierten (sauren) Form einfach positiv geladen und in ihrer deprotonierten (basischen) Form ungeladen. Die Seitenketten der sauren Aminosäuren (einschließlich Cystein und Tyrosin) sind in ihrer protonierten (sauren) Form ungeladen und in ihrer deprotonierten (basischen) Form einfach negativ geladen. Da das Verhalten der Seitenkette ein ganz anderes ist, wenn sie geladen bzw. ungeladen ist, spielt der pH-Wert für die Eigenschaften der Seitenkette eine so wichtige Rolle. Die titrierbaren Seitenketten beeinflussen zum Beispiel das Löslichkeitsverhalten der entsprechenden Aminosäure. In polaren Lösungsmitteln gilt: Geladene Seitenketten machen die Aminosäure löslicher, ungeladene Seitenketten machen die Aminosäure unlöslicher. In Proteinen kann das dazu führen, dass bestimmte Abschnitte hydrophiler oder hydrophober werden, wodurch die Faltung und damit auch die Aktivität von Enzymen vom pH-Wert abhängt. Durch stark saure oder basische Lösungen können Proteine daher denaturiert werden. Tabellenübersicht der Eigenschaften Stereochemie 18 der 20 proteinogenen Aminosäuren haben gemäß der Cahn-Ingold-Prelog-Konvention am α-Kohlenstoff-Atom die (S)-Konfiguration, lediglich Cystein besitzt die (R)-Konfiguration, da hier der Kohlenstoff mit der Thiolgruppe eine höhere Priorität als die Carbonsäuregruppe hat. Glycin ist achiral, daher kann keine absolute Konfiguration bestimmt werden. Zusätzlich zum Stereozentrum am α-C-Atom besitzen Isoleucin und Threonin in ihrem Rest R je ein weiteres stereogenes Zentrum. Proteinogenes Isoleucin [R = –C*H(CH3)CH2CH3] ist dort (S)-konfiguriert, Threonin [R = –C*H(OH)CH3] (R)-konfiguriert. Nichtproteinogene Aminosäuren Es sind bislang über 400 nichtproteinogene (d. h. nicht während der Translation in Proteine eingebaute) Aminosäuren, die in Organismen vorkommen, bekannt. Dazu gehört etwa das L-Thyroxin, ein Hormon der Schilddrüse, L-DOPA, L-Ornithin oder das in fast allen Arten von Cyanobakterien nachgewiesene Neurotoxin β-Methylaminoalanin (BMAA). Die meisten nichtproteinogenen Aminosäuren leiten sich von den proteinogenen ab, die L-α-Aminosäuren sind. Dennoch können dabei auch β-Aminosäuren (β-Alanin) oder γ-Aminosäuren (GABA) entstehen. Zu den nichtproteinogenen Aminosäuren zählen auch alle D-Enantiomere der proteinogenen L-Aminosäuren. D-Serin wird im Hirn durch die Serin-Racemase aus L-Serin (seinem Enantiomer) erzeugt. Es dient sowohl als Neurotransmitter als auch als Gliotransmitter durch die Aktivierung des NMDA-Rezeptors, was zusammen mit Glutamat die Öffnung des Kanals erlaubt. Zum Öffnen des Ionenkanals muss Glutamat und entweder Glycin oder D-Serin binden. D-Serin ist an der Glycin-Bindungsstelle des Glutamatrezeptors vom NMDA-Typ ein stärkerer Agonist als Glycin selbst, war aber zum Zeitpunkt der Erstbeschreibung der Glycin-Bindungsstelle noch unbekannt. D-Serin ist nach D-Aspartat die zweite D-Aminosäure, die in Menschen gefunden wurde. Zu den synthetischen Aminosäuren gehört die 2-Amino-5-phosphonovaleriansäure (APV), ein Antagonist des NMDA-Rezeptors und das ökonomisch wichtige D-Phenylglycin [Synonym: (R)-Phenylglycin], das in der Seitenkette vieler semisynthetischer β-Lactamantibiotica als Teilstruktur enthalten ist. (S)- und (R)-tert-Leucin [Synonym: (S)- und (R)-β-Methylvalin] sind synthetische Strukturisomere der proteinogenen Aminosäure (S)-Leucin und werden als Edukt in stereoselektiven Synthesen eingesetzt. Es gibt auch Aminosulfonsäuren [Beispiel: 2-Aminoethansulfonsäure (Synonym: Taurin)], α-Aminophosphonsäuren und α-Aminophosphinsäuren. Das sind auch α-Aminosäuren, jedoch keine α-Aminocarbonsäuren. Statt einer Carboxygruppe (–COOH) ist eine Sulfonsäure-, Phosphonsäure- bzw. Phosphinsäuregruppe in diesen α-Aminosäuren enthalten. Nachweis Ein quantitativer photometrischer Nachweis von Aminosäuren kann unter anderem per Kaiser-Test mit Ninhydrin oder mit dem Folin-Reagenz erfolgen, wodurch primäre Amine nachgewiesen werden. Für sekundäre Amine werden der Isatin-Test oder der Chloranil-Test verwendet. Ebenso können Trennung und Nachweis von Aminosäuren per Kapillarelektrophorese oder per HPLC erfolgen, teilweise als Flüssigchromatographie mit Massenspektrometrie-Kopplung. Während die meisten Aminosäuren kein UV-Licht mit Wellenlängen über 220 nm absorbieren, sind die Aminosäuren Phenylalanin, Tyrosin, Histidin und Tryptophan aromatisch und absorbieren UV-Licht mit einem Maximum zwischen 260 nm und 280 nm. Die Aminosäurezusammensetzung eines Proteins kann durch Hydrolyse des Proteins untersucht werden. Die langsam eintretende Racemisierung der Aminosäuren in den ursprünglich ausschließlich aus L-Aminosäuren aufgebauten Proteinen wird bei der Aminosäuredatierung untersucht. Gewinnung und Produktion Aminosäuren werden entweder aus Naturstoffen durch Auftrennung eines hydrolysierten Proteins oder auf synthetischem Wege gewonnen. Ursprünglich diente die Entwicklung einer Synthese für die diversen Aminosäuren hauptsächlich der Strukturaufklärung. Inzwischen sind diese Strukturfragen gelöst und mit den verschiedenen Synthesen, soweit sie noch aktuell sind, werden gezielt die gewünschten Aminosäuren dargestellt. Bei den Synthesen entstehen zunächst racemische Gemische, die getrennt werden können. Eine Methode hierfür ist eine selektive enzymatische Hydrolyse, die zur Racematspaltung eingesetzt wird. Nachfolgend ein Überblick über diverse Synthesen, die von Chemikern bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden. Einige dieser älteren Synthesen sind wegen geringer Ausbeuten oder sonstiger Probleme nur von historischem Interesse. Allerdings wurden diese alten Verfahren teilweise weiterentwickelt und einige sind auch noch heute zur Darstellung von Aminosäuren aktuell. Weitergehende Einzelheiten zu diesen Synthesen einschließlich der Gleichungen für die Synthesen sind unter den Links zu den Synthesen und den angegebenen Aminosäuren angeführt. Mit der Cyanhydrinsynthese des Chemikers Adolph Strecker 1850 wurde Alanin erstmals aus Acetaldehyd synthetisiert (siehe Strecker-Synthese). Eine Synthese für die Darstellung von Glycin über die α-Fettsäuren, die durch Reaktion von Brom- oder Chlorfettsäuren mit Ammoniak hergestellt werden, wurde von William H. Perkin sen. und Baldwin F. Duppa bereits 1859 entwickelt. Josef Pöchl entdeckte 1883 die Azlactonsynthese zur Darstellung von Aminosäuren. Deren genauer Ablauf wurde aber erst 1893 von Emil Erlenmeyer jun. aufgeklärt. Diese Methode wird deshalb auch Erlenmeyer-Synthese genannt. Mit diesem Verfahren wurden 1911 Histidin sowie Phenylalanin und Tyrosin hergestellt. Durch Reduktion von einer α-Oximinosäure wurde erstmals 1887 Asparaginsäure synthetisiert. Nach der gleichen Methode wurde 1906 von Louis Bouveault Isoleucin aus dem Oxim des Methyläthyl-brenztraubensäureesters dargestellt. Nach der von Siegmund Gabriel entwickelten Gabriel-Synthese, wurde 1889 Glycinhydrochlorid über Phthalimidkalium als Ausgangschemikalie synthetisiert. Obwohl diese Synthese für die Darstellung von Glycin überholt ist, eignet sie sich wegen ihrer hohen Ausbeuten für die Gewinnung anderer Aminosäuren. Mit der Cyanhydrinsynthese stellte Emil Fischer 1902 erstmals Serin über Glykolaldehyd her. 1906 wurde mit der von ihm entwickelten Malonestersynthese Leucin synthetisiert. Isoleucin, Norleucin, Methionin und Phenylalanin sind weitere Aminosäuren, die mit dieser Synthese leicht darstellbar sind. Theodor Curtius benutzte den von ihm entwickelten Curtiusschen Abbau für die Darstellung von α-Aminosäuren durch die Verwendung von Malonesterderivaten zur Synthese von Glycin, Alanin, Valin und Phenylalanin. 1911 wurde Tyrosin, Phenylalanin und Tryptophan über eine Kondensation aromatischer Aldehyde mit Hydantoin gewonnen. Mit einer kombinierten Phthalimid-Malonester-Synthese wurde 1931 von George Barger Methionin synthetisiert. Nach der gleichen Methode können auch Phenylalanin, Prolin, Tyrosin, Asparaginsäure und Serin hergestellt werden. Vincent du Vigneaud stellte 1939 DL-Cystin mit dieser Methode her. Industriell werden Aminosäuren heute nach folgenden Verfahren hergestellt: Extraktionsmethode: Hierzu werden Proteine zunächst mit Säuren hydrolysiert. Nach Fällung des Aminosäuregemischs aus dem Hydrolysat erfolgt eine chromatographische Trennung per Ionenaustauschchromatographie. Bei der Elution werden die unterschiedlichen Polaritäten der Aminosäuren ausgenutzt. Chemische Synthese: Es gibt eine Vielzahl von Synthesemethoden. Beispiele sind die Strecker-Synthese von D,L-Valin, die Degussa-Synthese von D,L-Cystein und die Synthese von D,L-Methionin aus Methylmercaptan, Acrolein und Blausäure. Da die hergestellten Aminosäuren dabei als Racemat erhalten werden, müssen anschließend noch Verfahren zur Enantiomerentrennung erfolgen, wenn reine L- oder D-Aminosäuren benötigt werden. Enzymatische Verfahren: Dieses Verfahren hat den Vorteil enantiomerenreine L- oder D-Aminosäuren mit geeigneten Enzymen als Biokatalysatoren zu liefern. Beispiele sind die Herstellung von L-Asparaginsäure aus Fumarsäure mit L-Aspartase und die Herstellung von L-Tryptophan aus Indol und Brenztraubensäure mit Tryptopharase. Fermentationsverfahren: Bei der Fermentation werden die Aminosäuren mit Hilfe geeigneter Mikroorganismen hergestellt. Der Syntheseprozess läuft dabei über sehr komplexe Zwischenschritte innerhalb der Zellen ab. Ein Beispiel ist die Herstellung von L-Glutaminsäure aus Glucose. Hierbei kann man aus 2 Gramm Glucose 1 Gramm Glutaminsäure gewinnen. Die meisten Aminosäuren werden heute durch Fermentation hergestellt. Jährlich werden so weltweit 6 Millionen Tonnen an Glutaminsäure und Lysin produziert, teilweise aus hydrolysierter Stärke oder Melasse unter Verwendung der Bakterien Escherichia coli oder Corynebacterium glutamicum. Verwendung Aminosäuren haben für die Ernährung des Menschen eine fundamentale Bedeutung, insbesondere weil die essentiellen Aminosäuren nicht selbst erzeugt werden können. In der Regel wird im Zuge einer ausgewogenen Ernährung der Bedarf an essentiellen Aminosäuren durch tierische oder eine geeignete Kombination verschiedener pflanzlicher Proteine (etwa aus Getreide und Hülsenfrüchten) vollkommen gedeckt. Pflanzliche Proteine haben meist eine geringere biologische Wertigkeit. Futtermittel in der Nutztierhaltung werden zusätzlich mit Aminosäuren angereichert, z. B. DL-Methionin und L-Lysin, aber auch verzweigte Aminosäuren (Leucin, Isoleucin, Valin), wodurch deren Nährwert erhöht wird. Verschiedene Aminosäuren werden als Nahrungsergänzungsmittel verkauft. Aminosäuren bzw. ihre Derivate finden Verwendung als Zusatz für Lebensmittel. Die menschliche Zunge besitzt einen Glutamatrezeptor, dessen Aktivierung allgemein mit einem gesteigerten Geschmack assoziiert ist. Daher wird als Geschmacksverstärker Natriumglutamat verwendet. Der Süßstoff Aspartam enthält eine Aminosäure. Aminosäuren sind Vorstufen für bestimmte Aromastoffe, die beim trockenen Garen von Speisen über die Maillard-Reaktion entstehen. Aminosäuren werden in der Zellbiologie und Mikrobiologie als Bestandteile von Zellkulturmedien verwendet. In der Biochemie werden Derivate von Aminosäuren wie Photo-Leucin oder Photo-Methionin zur Strukturaufklärung von Proteinen und andere zur Molekülmarkierung verwendet. Daneben werden Aminosäuren auch als Hilfsstoffe eingesetzt, z. B. als Salzbildner, Puffer. In der Pharmazie bzw. Medizin werden L-Aminosäuren als Infusionslösungen für die parenterale Ernährung und als Stabilisatoren bei bestimmten Lebererkrankungen angewendet. Bei Krankheiten mit einem Mangel von Neurotransmittern verwendet man L-Dopa. Für synthetische Peptidhormone und für die Biosynthese von Antibiotika sind Aminosäuren notwendige Ausgangsstoffe. Magnesium- und Kalium-Aspartate spielen bei der Behandlung von Herz- und Kreislauferkrankungen eine Rolle. Cystein, beziehungsweise die Derivate Acetylcystein und Carbocystein, finden zudem eine Anwendung bei infektiösen Bronchialerkrankungen mit erhöhtem Bronchialsekret. Zudem wird L-Cystein als Reduktionsmittel in der Dauerwelle eingesetzt. Aminosäuren werden in der Kosmetik Hautpflegemitteln und Shampoos zugesetzt. Metabolismus Aminosäuren können nach ihren Abbauwegen in ketogene, glucogene und gemischt keto- und glucogene Aminosäuren eingeteilt werden. Ketogene Aminosäuren werden beim Abbau dem Citrat-Zyklus zugeführt, glucogene Aminosäuren der Gluconeogenese. Weiterhin werden im Stoffwechsel aus Aminosäuren verschiedene Abbauprodukte mit biologischer Aktivität (z. B. Neurotransmitter) gebildet. Tryptophan ist der Vorläufer von Serotonin. Tyrosin und sein Vorläufer Phenylalanin sind Vorläufer der Catecholamine Dopamin, Epinephrin (synonym Adrenalin) und Norepinephrin (synonym Noradrenalin). Phenylalanin ist der Vorläufer von Phenethylamin in Menschen. In Pflanzen ist Phenylalanin der Vorläufer der Phenylpropanoide. Glycin ist der Ausgangsstoff der Porphyrinsynthese (Häm). Aus Arginin wird der sekundäre Botenstoff Stickstoffmonoxid gebildet. Ornithin und S-Adenosylmethionin sind Vorläufer der Polyamine. Aspartat, Glycin und Glutamin sind Ausgangsstoffe der Biosynthese von Nukleotiden. Bei verschiedenen Infektionen des Menschen mit Pathogenen wurde eine Konkurrenz mit dem Wirt um die Aminosäuren Asparagin, Arginin und Tryptophan beschrieben. Literatur Bücher Harold Hart: Organische Chemie: Ein kurzes Lehrbuch. VCH, 1989, ISBN 3-527-26480-9. Jeremy M. Berg, Lubert Stryer, John L. Tymoczko, Gregory J. Gatto: Biochemistry. Macmillan Learning, 2015, ISBN 978-1-4641-2610-9. G. C. Barrett: Amino Acids and Peptides. Cambridge University Press, 1998, ISBN 0-521-46827-2. Uwe Meierhenrich: Amino Acids and the Asymmetry of Life. Springer-Verlag, Heidelberg/ Berlin 2008, ISBN 978-3-540-76885-2. Hubert Rehm, Thomas Letzel: Der Experimentator: Proteinbiochemie / Proteomics. 6. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2009, ISBN 978-3-8274-2312-2. Zeitschriftenartikel Lei Wang, Peter G. Schultz: Die Erweiterung des genetischen Codes. In: Angewandte Chemie. Band 117, Nr. 1, 2005, S. 34–68. H. Uneyama, H. Kobayashi, N. Tonouchi: New Functions and Potential Applications of Amino Acids. In: Advances in Biochemical Engineering/Biotechnology. Band 159, 2017, S. 273–287, . PMID 27872968. Bernd Hoppe, Jürgen Martens: Aminosäuren – Bausteine des Lebens. In: Chemie in unserer Zeit. 17. Jahrg., Nr. 2, 1983, S. 41–53. Bernd Hoppe, Jürgen Martens: Aminosäuren – Herstellung und Gewinnung. In: Chemie in unserer Zeit. 18. Jahrg., Nr. 3, 1984, S. 73–86. Weblinks Lerne die 20 proteinogenen Aminosäuren Tabelle mit Eigenschaften und Häufigkeit von Aminosäuren (engl.) Einzelnachweise Biomonomer Stoffgruppe Proteinstruktur
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https://de.wikipedia.org/wiki/Germania%20%28Tacitus%29
Germania (Tacitus)
Die Germania ist eine kurze ethnographische Schrift des römischen Historikers Tacitus (ca. 58–120 n. Chr.) über die Germanen. Sie wurde seit der Frühen Neuzeit verstärkt gelesen und entfaltete auf diese Weise eine erhebliche Breitenwirkung. In der neueren Forschung wird das Werk durchaus kritischer betrachtet und auf die problematische Rezeptionsgeschichte hingewiesen. Datierung Die Germania wird in aller Regel in das Jahr 98 n. Chr. datiert, auf der Grundlage der Formulierung: Das zweite Konsulat Trajans fiel in das Jahr 98 n. Chr. Jedoch handelt es sich bei dieser Zeitangabe lediglich um einen terminus post quem, an dem das Werk frühestens verfasst worden sein kann; ein absolutes Datum liegt somit nicht vor. Ein neuerer Vorschlag von Roland Schuhmann, der von der Forschung noch nicht diskutiert worden ist, nimmt an, dass die Abfassung der Germania nach 103–106 n. Chr. anzusetzen ist, weil der Name Pannoniis im ersten Satz des Textes die Existenz zweier pannonischer Provinzen (Pannonia superior und inferior, entstanden durch Teilung der Provinz Pannonien) voraussetzt, wenn er als Ländername verstanden wird; die traditionelle Auffassung sieht ihn als Völkernamen. Titel Die Schrift Germania ist ohne einen einheitlichen Titel überliefert. Die erste Erwähnung der Schrift findet sich in einem Brief des Humanisten Antonio Beccadelli an Guarino da Verona von April 1426: Compertus est Cor. Tacitus de origine et situ Germanorum („Cornelius Tacitus de origine et situ Germanorum ist in Erfahrung gebracht“). In einem Inventar von Niccolò Niccoli aus dem Jahre 1431 steht: Cornelii taciti de origine & situ germanorum liber incipit sic („de origine et situ Germanorum liber des Cornelius Tacitus fängt so an“). Pier Candido Decembrio, der den Codex Hersfeldensis (nach 1455, s. u. Rezeption) in Rom einsah, gibt den Titel als: Cornelii taciti liber … de Origine et situ Germaniae („von Cornelius Tacitus das Buch de Origine et situ Germaniae“). Beide Titelvarianten gehen auf den Hersfelder Codex zurück; die zweite Variante ist semantisch inkonsistent. Aus der Antike ist kein Titel des Werks überliefert. Es gibt nur zwei Titel, die einigermaßen plausibel erscheinen: De origine et situ Germanorum („Über Ursprung und geographische Lage der Germanen“) und De origine et moribus Germanorum („Über Ursprung und Sitten der Germanen“). Für einen Werktitel De origine et situ Germanorum könnten zwei parallele Titelformulierungen Senecas sprechen: De situ Indiae („Die geographische Lage Indiens“) und De situ et sacris Aegyptiorum („Über die geographische Lage und die Heiligtümer der Ägypter“). Beide Titel bilden jedoch keine genauen Entsprechungen zur Germania. India ist anders als der Völkername Germani ein Ländername, während in Senecas zweitem Buch nicht vom Ursprung, sondern von den Heiligtümern der Ägypter die Rede ist. Der aus der Renaissance überlieferte Titel De origine et situ Germanorum erscheint gewissermaßen als Kombination aus den beiden Titeln Senecas. Für De origine et moribus Germanorum würde eine Passage im Text selbst sprechen, denn in Germania c. 27,2 heißt es: Haec in commune de omnium Germanorum origine ac moribus accepimus („Dies haben wir im Allgemeinen über Ursprung und Sitten aller Germanen vernommen“). Der Titel erweckt allerdings den Eindruck, dass er aus diesem Kapitel übernommen ist. Da keiner der beiden Titel über jeden Zweifel erhaben ist, hat man der Schrift den Arbeitstitel Germania gegeben. Zeitgeschichtliche Einordnung Zu Tacitus’ Lebzeiten befand sich das römische Reich auf seinem Höhepunkt. Geographisch hatte es fast seine größte Ausdehnung erreicht und erlebte auch kulturell eine Blüte. Die Grenzen zu Germanien waren gezogen und weitgehend gesichert worden. Nach der Varusschlacht im Jahre 9 n. Chr. waren die römischen Offensiven schließlich 16 n. Chr. eingestellt worden (siehe Germanicus); erst im späten 1. Jahrhundert hatten die Römer die Grenze unter Domitian leicht vorverschoben (siehe Agri decumates) und die beiden Rheinprovinzen (Germania inferior, Germania superior) eingerichtet. Einige germanische Stämme hatten sich mit dem neuen mächtigen Nachbarn durchaus arrangiert, andere standen Rom allerdings weiterhin feindlich gegenüber. Diese Situation erforderte lange Zeit eine hohe und kostspielige Truppenpräsenz an der Grenze des römischen Reiches zu den Germanen. Das Besondere an den germanisch-römischen Beziehungen ergibt sich daraus, dass im Unterschied zur anderen großen Grenzzone […] im Norden keine organisierte Großmacht Rom gegenüberstand. Inhalt der Germania In der Germania, die sich in einen allgemeinen und einen besonderen Teil gliedert, beschreibt Tacitus Germanien, ansatzweise auch dessen Geographie und benennt verschiedene germanische Stämme vom Rhein bis zur Weichsel. Er stellt Sitten und Gebräuche der Germanen dar und hebt dabei ihre ihm zufolge sittliche Lebensweise hervor, wie ihr streng geregeltes Familienleben, ihren treuen und aufrichtigen Charakter, ihre Tapferkeit im Krieg und ihren Freiheitswillen. Er weist aber auch auf Schwächen hin, wie ihre Trägheit, ihren Hang zu Würfelspiel und übermäßigem Alkoholkonsum. Allgemeiner Teil Kapitel 1–5: Allgemeine Beschreibung Tacitus beginnt mit den Grenzen Germaniens, seinem Volk, der Beschaffenheit des Landes und den Bodenschätzen. Dabei betrachtet er die Germanen als abgehärtet, ursprünglich und unvermischt mit anderen Völkern, als Urbevölkerung ihrer Heimat, da sie phänotypisch seinen Schilderungen nach keiner Ethnie der bekannten damaligen Welt ähnlich seien, und er sich auch nicht vorstellen könne, dass jemand freiwillig in solch eine Region, die seiner Ansicht nach sehr rau, unwirtlich und nur schwer überhaupt zu erreichen sei, einwandern könne. Er beschreibt Land und Klima als unfreundlich und trostlos, arm an fruchtbarem Boden und ohne wertvolle Bodenschätze. Kapitel 6–15: Das öffentliche Leben Er fährt fort mit der Beschreibung der Kriegsführung, der Religion und Volksversammlungen, spricht dann über die germanische Rechtsprechung und die Rolle der Fürsten im Krieg. Dabei beschreibt er die Germanen als wilde Barbaren, schwach bewaffnet, aber tapfer im Kampf und voller Wertschätzung für ihre Frauen, als fromme Menschen, die auf Vorzeichen und Orakel vertrauen. Entscheidungen fielen, so Tacitus, in Versammlungen, die abhängig vom Stand des Mondes abgehalten würden. Hier kritisiert er aber eine gewisse Disziplinlosigkeit. Der Kampf, meint Tacitus, sei bei den Germanen höher bewertet als die Mühe täglicher Arbeit. Er zeichnet sogar das Bild eines faulen, dem Müßiggang verfallenen Volkes, das lieber seine Frauen und Alten arbeiten lasse als sich selber um Haus, Hof und Feld zu kümmern. Kapitel 16–27: Das private Leben Die nächsten Abschnitte beschäftigen sich mit den Behausungen der Germanen, ihrer Wohnweise und Kleidung; es folgen Exkurse über Ehe, Erziehung und Erbrecht, bis die Rede auf Gastfreundschaft, Feiern und Spiele kommt. Der allgemeine Teil endet schließlich in einer Beschreibung des Ackerbaus und der Totenbestattung. Tacitus zeichnet auch hier wieder das Bild eines wilden, nachlässig bekleideten Volkes, das sich allerdings, und dafür lobt er die Germanen ausdrücklich, durch hohe Sittsamkeit auszeichne. Die Germanen seien monogam und dem Ehepartner gegenüber treu ergeben. Besonders diese Bemerkung führte zur Annahme, die Germania stelle einen Sittenspiegel dar, der an die Adresse der römischen Gesellschaft gerichtet sei. An kaum einer anderen Stelle betont Tacitus eine Eigenart germanischen Lebens so nachdrücklich. Die Gastfreundschaft der Germanen wird lobend hervorgehoben, die dabei auftretenden Ausschweifungen aber auch dargestellt. Ihre Feiern, so Tacitus, dauerten oft tagelang und endeten nicht selten in Schlägereien der Betrunkenen und Totschlag. Hier erwähnt der Autor auch ihr einfaches Essen und das ihm unbekannte alkoholische Getränk (Bier), das die Germanen im Übermaß konsumierten. Es überrascht, dass fast im selben Atemzug ihre absolute Ehrlichkeit gerühmt wird. Verwundert stellt Tacitus dann fest, dass so ziemlich das Einzige, was die Germanen nüchtern und ernsthaft betrieben, das Würfelspiel sei. Hier setzten sie sogar ihre persönliche Freiheit als letzten Einsatz ein und ließen sich als Sklaven verkaufen. Landwirtschaft betrieben sie zwar gemeinschaftlich, aber stets auf niedrigem Niveau. Letzter Punkt dieses Teils ist die Darstellung der Totenbestattung, die als einfach und prunklos beschrieben wird, jedoch in würdevoller Verehrung der Verstorbenen. Besonderer Teil In den letzten elf Kapiteln beschreibt Tacitus Bräuche und Besonderheiten einzelner Stämme und kommt auch auf diejenigen zu sprechen, die Germanien verlassen und sich in Gallien angesiedelt haben. Kapitel 28–29: Stämme im Westen und Süden Erwähnt werden hier anfangs gallische Stämme, Helvetier und Bojer (Boier), die nach Germanien gezogen seien. Dem stellt er Treverer und Nervier gegenüber, die, seiner Darstellung nach, als Germanen in Gallien leben. Diese Zuordnung ist allerdings nicht ganz unproblematisch, wenngleich schon Gaius Iulius Caesar vermerkte, dass ein großer Teil der Belger sich germanischer Abstammung rühmte. Tacitus erwähnt Vangionen, Triboker und Nemeter am Rhein, besonders hebt er die Ubier hervor, die dem römischen Reich treu ergeben seien. Als besonders tapfer werden die Bataver am Niederrhein beschrieben, die Rom ebenso treu zur Seite stünden wie die Mattiaker in der Gegend um das heutige Wiesbaden. Kapitel 30–31: Die Chatten Den kräftigen und militärisch gut organisierten Chatten sagt Tacitus nach, sie schnitten Haupthaar und Bart erst nach der Tötung eines Feindes. Dies sei die Bestimmung ihres Daseins. Kapitel 32–34: Weitere Stämme im Westen Die Tenkterer seien geschulte Reiter, deren Nachbarn, die Brukterer, von anderen Germanen vernichtet worden seien. Er erwähnt hier die Angrivarier und Chamaver, die Dulgubnier und Chasuarier, schließlich die Friesen am Rand des Weltmeeres. Kapitel 35–37: Stämme im Norden Als Nachbarn der Friesen erwähnt Tacitus die Chauken, die von der Nordseeküste bis an das Gebiet der Chatten siedeln. Sie seien, frei von Habgier und Herrschsucht, bei den übrigen Germanen sehr angesehen. Er kommt auf die Cherusker zu sprechen, nennt sie Tölpel und Toren – vielleicht in einem Reflex auf die verlorene Schlacht im Teutoburger Wald gegen den Arminius – und endet mit der Erwähnung der ruhmreichen Kimbern und der für die Römer ebenfalls verlustreichen Kimbernkriege. Kapitel 38–45: Die Sueben Den vorletzten und größten Abschnitt des besonderen Teils widmet Tacitus den Sueben. Diese bewohnten einen großen Teil Germaniens. Sie seien, anders als andere Stämme, keine einheitliche Volksgruppe und unterschieden sich von den übrigen durch ihre Haartracht (Suebenknoten). Bis in das hohe Alter hinein knoteten sie ihr Haar zu einer kunstvollen Frisur, allerdings nicht aus Schönheitsgründen, sondern um groß und furchterregend zu erscheinen. Er erwähnt öffentliche Menschenopfer bei der Untergruppe der Semnonen, nennt weiter Langobarden und andere Stämme. Ihre Verehrung gelte der Mutter Erde (Nerthus), der sie in einem Heiligtum auf einer Insel des Weltmeeres huldigen. Der suebische Stamm der Hermunduren sei den Römern hingegen treu ergeben, sie dürften als einziger germanischer Stamm ohne Beaufsichtigung über die römische Grenze ziehen und Handel treiben. Neben vielen anderen erwähnt Tacitus Narister, Markomannen und Quaden, auch die rechts des suebischen Meeres (an der Ostküste der Ostsee) lebenden Aesti, die in Lebensweise und Religion den Sueben ähnelten, ihre Sprache aber gleiche der britannischen Sprache (also einer Form des Keltischen). Sie sammelten Bernstein (Glesum) und verkaufen ihn an die Römer, ohne zu wissen, wie er entstehe oder wo er herkomme. Tacitus endet mit den Sithonen, die so tief in die Knechtschaft gesunken seien, dass sie von einer Frau regiert würden. Kapitel 46: Grenzvölker im Osten Im letzten Kapitel der Germania bespricht Tacitus Peukiner, Veneter und Fenni, Stämme jenseits des Gebietes der Sueben, von denen er nicht weiß, ob er sie den Germanen zuordnen soll. Diskussion Quellen Tacitus selbst war nie in Germanien gewesen. Wahrscheinlich ist, dass er sein Wissen größtenteils aus literarischen Quellen bezog, wie aus Gaius Iulius Caesars Werk über den Gallischen Krieg (De bello Gallico) und dem darin enthaltenen Germanenexkurs. Womöglich zog er auch andere schriftliche Quellen zu Rate, in Frage kommen unter anderem der Germanenexkurs im Geschichtswerk des Titus Livius und die bella Germaniae („Germanenkriege“) des älteren Plinius. Beide Werke sind nicht oder nicht vollständig erhalten. Erwähnung in der Germania findet jedoch allein Caesar. Es gilt als wahrscheinlich, dass auch mündliche Berichte von zeitgenössischen Germanien-Reisenden in sein Werk eingeflossen sind. Die Beschreibung des Sueben-Knotens, der Opferriten und die Bestrafung der treulosen Ehefrau werden auf tatsächliche Beobachtung zurückgeführt. Tacitus’ Germanenbild Tacitus beschreibt seiner Leserschaft ein Volk, das sich anscheinend grundlegend von dem eigenen unterscheidet. Es ist anzunehmen, dass das Objekt seiner Beschreibung, die Germanen, dem römischen Volk äußerst fremd vorgekommen sein müsste, hätte er sich dabei nicht der Methode bedient, das Fremde „begrifflich und inhaltlich in die eigene Welt zu integrieren“. Diese römische Interpretation (Interpretatio Romana) fällt besonders bei der Beschreibung der germanischen Götter auf. So spricht Tacitus von Merkur (für Odin) als dem höchsten Gott und erwähnt Herkules (für Thor) und Mars (für Tyr). Auch bei der Beschreibung des Heerwesens (hier die Truppeneinteilung in Hundertschaften/Centurien) sowie der Trennung von Öffentlicher Sache (res publica) und Privatangelegenheiten (res privatae) ist dies erkennbar. Tacitus sieht alle Germanen als ursprünglich an, d. h. alle haben dieselbe Herkunft und sind nicht mit anderen Völkern vermischt und seien auch nicht nach Germanien eingewandert. Charakterzüge, die er im allgemeinen Teil dem gesamten Volk zuschreibt, führt er auf diese gemeinsame Herkunft zurück. Das kann Tacitus allerdings nicht belegen, er geht schlicht davon aus, dass kein Volk freiwillig in dieses karge Land gezogen sein könnte, um sich mit den Germanen zu vermischen. In der ganzen Germania ist erkennbar, dass er das Bekannte seiner Welt in der Welt der Germanen sucht, um es für sein römisches Publikum zu beschreiben und zu vergleichen. Das durchaus polarisierende Bild, das Tacitus dabei gibt (ehrenwerte Sitten, Freiheitsliebe und Moral versus primitive, lasterhafte und faule Lebensweise), lässt den heutigen Leser auch einen Eindruck der römischen Gesellschaft zu Zeiten Tacitus’ erahnen. Insofern kann die Germania nicht nur als Ethnographie der Germanen gesehen werden, sondern auch als Anhaltspunkt für das Verständnis von Tacitus’ eigener, römischen Gesellschaft. Tacitus’ Absichten Um die Germania richtig verstehen zu können, ist es unumgänglich, Tacitus’ Beweggründe zu kennen. Will er an seiner Zeit und Gesellschaft Kritik üben oder Überlegenheit beweisen? Will er lediglich ein fremdes Volk beschreiben und seinen römischen Zeitgenossen näher bringen, was ihnen selbst fremd und barbarisch erscheint? Dies zu verstehen ist Grundlage für die Bewertung seiner Arbeit. Tacitus selbst äußert sich dazu jedoch nicht. Auch existiert zur Germania keine Einleitung oder ein Nachwort des Autors, in denen mögliche Absichten erläutert oder zumindest angedeutet werden. Die Forschung kann also nur vergleichbare Werke heranziehen (auch heutige Ethnographien) und/oder die Schrift im Kontext ihrer damaligen Zeit sehen. Tacitus’ Germania ist leider einzigartig für ihre Zeit. Antike ethnographische Schriften, die keine weitere Erläuterung (Exkurs) enthalten, sind uns nicht bekannt, was die Klärung dieser zentralen Frage erschwert. Die Wissenschaft zieht deswegen auch Tacitus’ andere Werke, hauptsächlich den Agricola, heran. Das Werk im Kontext seiner Zeit zu sehen wird dadurch erschwert, dass wir nicht viel über die damalige öffentliche Meinung wissen. In der Forschung ist die Frage nach den Absichten Tacitus’ ein zentraler Punkt und stark umstritten. Einige Theorien dominieren diese Diskussion, können aber vermutlich nie vollständig veri- oder falsifiziert werden. Möglich ist, dass alle zu einem gewissen Teil ihre Berechtigung haben. Sittenspiegel-Theorie Möglicherweise wollte Tacitus der Dekadenz der römischen Sitten ein positives Gegenbeispiel (Sittenspiegel) entgegenhalten; dafür spricht, dass er die Germanen an einigen Stellen stark idealisierte. Beispielsweise stellt er der Sittsamkeit germanischer Frauen lüsterne Schauspiele und Verführung durch aufreizende Gelage in Rom gegenüber. Es findet sich sogar explizite Kritik an den römischen Verhältnissen: Tacitus macht eigene Zwietracht und Bürgerkrieg für germanische Erfolge verantwortlich. Ethnographie-Theorie Andere Forscher halten das Werk nicht für eine sittliche Mahnung zur Aufrichtung der römischen Moral, sondern für eine objektive Ethnographie. Diese stellenweise stark polarisierenden negativen und positiven Gegensätze zu Tacitus’ eigener Kultur dienten demnach lediglich dem Verständnis des Andersartigen. Dafür spricht, dass sich viele seiner Beschreibungen als richtig herausgestellt haben und durch die moderne Archäologie bestätigt wurden. Allerdings sei die römische Ethnographie stets zweckgebunden gewesen, so Ernst Baltrusch: Tacitus’ Werk sei „Ausdruck eines [...] römischen Interesses an den Charaktereigenschaften der Untertanen“, ihren Stärken und Schwächen, ihrer Bekämpfbarkeit oder ihrem Integrationspotenzial, ihrer Tauglichkeit als Untertanen oder ihrer Rolle als Kriegsgegner. Auch „Charakter-Kataloge“ wie der des Tacitus über die Undiszipliniertheit und Trunksucht der Germanen, ihre Vorliebe für das Nichtstun und ihre Abneigung gegen den Ackerbau, schließlich über ihre Selbstsicht und ihre Handlungsunfähigkeit als Großgruppe waren in diesem Sinne römisches Herrschaftswissen. Baltrusch hält Tacitus’ differenzierende Sicht auf einzelne Stammesgruppen für ansatzweise realistisch: Er „dünnt die Germanen sowohl nach Osten als auch nach Westen hin aus: hier zivilisierter, dort wilder als die ‚Durchschnittsgermanen‘. Von einer festen Grenze ist keine Rede; Migrationen werden durchaus berücksichtigt.“ Weitere Ansätze Diskutiert wird auch, dass Tacitus womöglich aufzeigen wollte, warum Rom in jahrzehntelangen Versuchen Germanien nie vollständig erobern konnte. Der Grund sei demnach die Gesellschaftsform und der freiheitsliebende Charakter der Germanen. Neuere Deutungen gehen sogar noch weiter: Tacitus wolle nicht nur erklären, warum Germanien nicht besiegt werden konnte, sondern sogar vor weiteren Eroberungsversuchen warnen. Rezeption Die Schrift hat, zusammen mit den anderen „Kleinen Schriften“ des Tacitus, nur in einem einzigen Exemplar die Zeit des Humanismus erreicht. Es wurde von Enoch von Ascoli in der Abtei Hersfeld aufgefunden und ca. 1455 nach Italien gebracht. Als Erster hat sich Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., mit der Schrift befasst. Im mittelalterlichen Deutschland spielte der Begriff Germanen als Selbstbezeichnung für „die Deutschen“ kaum eine Rolle, versuchte man sich doch historisch in die Nähe der Römer zu stellen. Um Begeisterung für einen Kreuzzug gegen die Türken zu entfachen, wurde die Germania auf dem Regensburger Reichstag 1471 benutzt, indem die kriegerischen Eigenschaften der Germanen hervorgehoben wurden. Es waren aber erst die deutschen Humanisten, die auf Tacitus aufmerksam wurden (Conrad Celtis, Aventinus, vor allem Ulrich von Hutten). Von da an hielt das Interesse der Deutschen an dem, was sie als „ihre Urgeschichte“ betrachteten, lange Zeit an, wenngleich jede Epoche ihre eigene, jeweils unterschiedliche Auslegung hatte. Die Humanisten schwärmten für die angebliche „germanische Reinheit“ und die Ursprünglichkeit ihrer Vorfahren, in diesem Sinne diente die Germania einer anachronistischen Identitätsstiftung. Erst mit Jacob Grimm (und Karl Müllenhoff) kam eine wissenschaftliche Betrachtungsweise hinzu. Bereits im 19. Jahrhundert begann aber auch die wissenschaftliche Konstruktion eines Germanenmythos durch die Altertumswissenschaften. Über Gustaf Kossinna trug diese Entwicklung mit zur Entstehung der pseudo-wissenschaftlichen Rassenlehre des Nationalsozialismus bei. Nationalsozialistische Rassenpolitiker, allen voran Heinrich Himmler und die von ihm mitgegründete „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe“, entstellten und missbrauchten die Aussagen bei Tacitus als Argumente für eine angebliche „rassische Überlegenheit“ der Deutschen und ihren millionenfachen Massenmord in den NS-Konzentrations- und Vernichtungslagern. In der neueren Forschung wird hingegen auf die problematische Rezeptionsgeschichte und die Instrumentalisierung des Inhalts der Schrift kritisch hingewiesen, zumal die Gleichsetzung Germanen/Deutsche längst nicht mehr haltbar ist. Die Behandlung durch Eduard Norden, der das Werk 1920 in das Umfeld der antiken Ethnographie gestellt hat, auch und gerade im Vergleich zu der weithin herrschenden Germanenideologie, ist immer noch grundlegend. Die moderne Forschung betrachtet die Germania (etwa bezüglich Intention und Quellenkritik) kritischer als die ältere und ist teilweise auch zu neuen Bewertungen gelangt. Die Germania wurde in die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher aufgenommen. Ausgaben, Übersetzungen und Kommentare Einsprachig lateinische Ausgaben Erich Koestermann (Hrsg.): Cornelius Tacitus. Germania, Agricola, Dialogus de oratoribus. Teubner, Stuttgart 1970 [Reprint 3. Auflage 2011], ISBN 978-3-11-095884-3 (P. Cornelii Taciti libri qui supersunt, T. 2,2) Alf Önnerfors (Hrsg.): De origine et situ Germanorum liber. Teubner, Stuttgart 1983 [Reprint 2011], ISBN 978-3-11-096377-9 (P. Cornelii Taciti libri qui supersunt, T. 2,2) Rodney P. Robinson: The Germania of Tacitus. A critical edition. (= Philological Monographs published by the American Philological Association, no. 5). Middletown, Connecticut 1935. Reprint: Olms Verlag, Hildesheim u. a. 1991, ISBN 3-487-09523-8. Übersetzungen, teils mit Kommentar Maurice Hutton (Hrsg.): Agricola and Germania. In: Tacitus, Agricola. Germania. Dialogus (Loeb Classical Library). William Heinemann/Macmillan, London/New York 1914, S. 147–354, hier S. 255–333. Neuausgabe, Harvard University Press/W. Heinemann, Cambridge (Mass.)/London 1970 (die Germania überarbeitet von Eric Herbert Warmington). Curt Woyte (Hrsg.): Tacitus, Germania. Ins Deutsche übertragen und mit Einleitung und Anmerkungen versehen. Reclam, Leipzig 1925 (mehrere Neuauflagen). Wilhelm Reeb (Hrsg.): Tacitus, Germania. Kommentar W. Reeb unter Mitarbeit von H. Klenk mit Beiträgen von A. Dopsch, H. Reis, K. Schumacher. B. G. Teubner, Berlin/Leipzig 1930 (Digitalisat SLUB Dresden). Arno Mauersberger: Tacitus, Germania. Lateinisch und Deutsch. Übertragen und erläutert (= Sammlung Dieterich. Band 100). Dieterich, Leipzig 1942. Karl Büchner (Hrsg.): Publius Cornelius Tacitus, Die historischen Versuche. Agricola, Germania, Dialogus (= Kröners Taschenausgabe. Band 225). Alfred Kröner, Stuttgart 1955, S. 125–148 (Einführung) und S. 149–179 (deutsche Übersetzung). Manfred Fuhrmann (Hrsg.): Tacitus, Germania. Lateinisch/Deutsch. Reclam, Stuttgart 1972, ISBN 3-15-009391-0 (mehrere Neuauflagen). Gerhard Perl: Tacitus. Germania – Lateinisch und Deutsch. In: Joachim Hermann (Hrsg.): Griechische und Lateinische Quellen zur Geschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u.Z. (= Schriften und Quellen der Alten Welt. Band 37,2). Akademie-Verlag, Berlin 1990, ISBN 3-05-000349-9. Allan A. Lund (Hrsg.): P. Cornelius Tacitus, Germania. Interpretiert, herausgegeben, übertragen, kommentiert und mit einer Bibliographie versehen. Universitätsverlag Carl Winter, Heidelberg 1988, ISBN 3-533-03875-0. Alfons Städele (Hrsg.): Cornelius Tacitus, Agricola. Germania (Sammlung Tusculum). Artemis und Winkler, München 1991, ISBN 3-7608-1664-9. Anthony R. Birley (Hrsg.): Tacitus. Agricola and Germany. Oxford University Press, Oxford 1999, ISBN 0-19-283300-6. James B. Rives (Hrsg.): Tacitus, Germania. Clarendon Press, Oxford 1999, ISBN 0198150504 (englische Übersetzung mit ausführlicher Einleitung und umfangreichem Kommentar). Wissenschaftliche Kommentare Rudolf Much: Die Germania des Tacitus. Winter, Heidelberg 1937 (3. Auflage unter Bearbeitung durch Wolfgang Lange und Herbert Jankuhn, 1967, ). Roland Schuhmann: Geographischer Raum und Lebensform der Germanen: Kommentar zu Tacitus’ „Germania“, c. 1–20. Dissertation Uni Jena 2006, (Volltext PDF; 4,3 MB). Literatur Über die Germanen allgemein Bruno Bleckmann: Die Germanen. C.H.Beck, München 2009, ISBN 3-406-58476-4. Ulrike Peters: Die Germanen. Marix Verlag, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-86539-989-2. Walter Pohl: Die Germanen. 2. Auflage. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2004, ISBN 3-486-56755-1. Über Tacitus und die Germania Jan-Wilhelm Beck: 'Germania' – 'Agricola': Zwei Kapitel zu Tacitus' zwei kleinen Schriften. Untersuchungen zu ihrer Intention und Datierung sowie zur Entwicklung ihres Verfassers. Hildesheim 1998, ISBN 3-12-645000-8 (Spudasmata 68). Herbert Jankuhn, Dieter Timpe (Hrsg.): Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus, Teil 1. Bericht über die Kolloquien der Kommission für die Altertumskunde Nord- und Mitteleuropas im Jahr 1986. Göttingen 1989, ISBN 3-525-82459-9 (AbhGöttingen 175). Christopher B. Krebs: Negotiatio Germaniae. Tacitus’ Germania und Enea Silvio Piccolomini, Giannantonio Campano, Conrad Celtis und Heinrich Bebel. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, ISBN 3-525-25257-9 (Hypomnemata 158). Allan A. Lund: Zur Gesamtinterpretation der Germania des Tacitus. In: Hildegard Temporini, Wolfgang Haase (Hrsg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Teil II, Bd. 33.3. 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Teubner, Stuttgart 1974, ISBN 3-519-07224-6. Stephan Schmal: Tacitus. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2005, ISBN 3-487-12884-5. Dieter Timpe: Romano-Germanica: gesammelte Studien zur Germania des Tacitus. Teubner, Stuttgart und Leipzig 1995, ISBN 3-519-07428-1. Zur Rezeption der Germania Gerhard Binder: Vom Schicksal einer Schicksalsschrift der Deutschen im 19. Jahrhundert. Zur Germania des Tacitus. In: Manfred Jakubowski-Tiessen (Hrsg.): Religion zwischen Kunst und Politik. Aspekte der Sãkularisierung im 19. Jahrhundert. Gõttingen 2004, S. 26–47. Christopher B. Krebs: „… jhre alte Muttersprache … unvermengt und unverdorben“: Zur Rezeption der taciteischen Germania im 17. Jahrhundert, in: Philologus 154 (2010) 119–139. (academia.edu) Christopher B. Krebs: Ein gefährliches Buch – Die „Germania“ des Tacitus und die Erfindung der Deutschen. DVA, München 2012. Allan A. Lund: Germanenideologie im Nationalsozialismus. Zur Rezeption der „Germania“ des Tacitus im „Dritten Reich“. Universitätsverlag C. Winter Heidelberg GmbH, Heidelberg 1995. Dieter Mertens: Die Instrumentalisierung der „Germania“ des Tacitus durch die deutschen Humanisten. In: Heinrich Beck (Hrsg.): Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. De Gruyter, Berlin/New York 2004, S. 37–101 (online; PDF; 6,2 MB). Ingo Wiwjorra: Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006, ISBN 3-534-19016-5. Weblinks Germania, lateinisch und deutsch mit weiterführenden Angaben Lateinische Germania Germania, lateinisch und deutsch mit Kommentar Digitalisat der ersten deutschen Ausgabe der Germania, Nürnberg 1473/74. (abgerufen am 12. April 2015) Anmerkungen Literarisches Werk der Antike Literatur (Latein) Literatur (1. Jahrhundert) Antikes Geschichtswerk Quellen (Germanen)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Albany%20%28New%20York%29
Albany (New York)
Albany [] ist die Hauptstadt des US-Bundesstaates New York und Verwaltungssitz des Albany County. Laut der letzten Volkszählung im Jahr 2020 hatte die Stadt 99.224 Einwohner. Geographie Albany liegt im Nordosten der Vereinigten Staaten nahe der Mündung des Mohawk River in den Hudson River und 240 Kilometer nördlich der Metropole New York City. Nachbargemeinden Albany bildet zusammen mit den nahegelegenen Städten Cohoes, Troy, Watervliet und Schenectady den Capital District. Klima Einwohnerentwicklung Geschichte Die europäische Besiedlung des Gebiets begann 1614 mit dem Bau des niederländischen Forts Nassau, das nach vier Jahren aufgegeben wurde. 1624 wurde es durch Fort Oranje ersetzt, das westlich der heutigen Dunn Memorial Bridge lag und die Aufgabe hatte, den Pelzhandel zu sichern. Fort Oranje war die erste dauerhafte Siedlung der Kolonie Neu-Niederlande. Mit der Zeit entwickelte sich Fort Oranje zu einem Handelsposten für Pelze, und so gründete Pieter Stuyvesant im Jahr 1652 die Siedlung Beverwyck. Als die Engländer 1664 die Kolonie Neu-Niederlande eroberten, änderten sie die Namen der Siedlungen. Zu Ehren des Herzogs von York und Albany wurde aus Nieuw Amsterdam New York und aus Beverwyck Albany. Ab 1685 gehörte die Siedlung zur britischen Kronkolonie New York. Mit der Dongan Charta erhielt Albany im Jahr 1686 das Stadtrecht. Im Jahr 1754 wurde der Albany-Kongress abgehalten, aus dem eine Notstandsregierung hervorging, um die Stadt gegen die Franzosen verteidigen zu können. Als sich die britischen Kolonien im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 1775 vom Mutterland losgesagt hatten, wurde das Gebiet der Kolonie New York zunächst von britischen Truppen besetzt. Die Hauptstadt der Kolonie, Kingston, wurde niedergebrannt. 1786, fünf Jahre nach Ende des Krieges, trat die Kolonie den Vereinigten Staaten bei. Albany wurde anstelle des zerstörten Kingston 1797 Hauptstadt des Staates New York. 1807 begann die Dampfschifffahrt auf dem Hudson zwischen Albany und New York City. Ab 1819 war die Stadt über den Eriekanal mit den Großen Seen Nordamerikas verbunden. Mit der Eröffnung der ersten Eisenbahnstrecke im New York State, die Albany und Schenectady verband, begann 1831 in Albany das Eisenbahnzeitalter. Die ebenfalls 1831 in New York gebaute Lokomotive DeWitt Clinton, die erste Dampflokomotive des Bundesstaates, benötigte damals für die Strecke von Albany nach Schenectady 46 Minuten. Kultur und Sehenswürdigkeiten 600 Broadway In diesem Gebäude waren die Büros der United Traction Company, der Betreiberin der Straßenbahnen von Albany, untergebracht. Das Gebäude wurde 1900 fertiggestellt. Der Architekt Marcus T. Reynolds entwarf es im Beaux-Arts-Stil. Academy Park Der Academy Park ist nach der Albany Academy benannt, der Schule, die ursprünglich das Gebäude im Zentrum des Parks nutzte. Das Gebäude ist heute offiziell als Joseph Henry Memorial bekannt. Benannt ist es nach dem bekanntesten Professor der Akademie, der hier mit der Entdeckung der magnetischen Selbstinduktion Pionierarbeit für die Entwicklung von Telegraph, Elektromotor und Telefon leistete. Jetzt befindet sich die Verwaltung des City School District of Albany in diesem Gebäude. Rathaus Albany City Hall Albanys Rathaus wurde zwischen 1880 und 1883 nach einem Entwurf von Henry Hobson Richardson gebaut. The Carillon (Glockenspiel) von 1927 ist das erste kommunale Glockenspiel in den Vereinigten Staaten und enthält 60 Glocken. Es wird noch heute gespielt. Die Statue vor dem Rathaus stellt den General Philip Schuyler dar, dessen Villa (Mansion) sich in Albany befindet. Schuyler war Generalquartiermeister des Northern Department der Continental Army während der Amerikanischen Revolution. Albany County Courthouse Das 1916 fertiggestellte Gerichtsgebäude ist ein neoklassizistischer Bau aus Granit und Kalkstein. Errichtet an einem Hang, hat es vier Etagen an der Vorderseite des Gebäudes und sechs auf der Rückseite. Albany Heritage Area Visitors Center Das Besucherzentrum besteht aus zwei historischen Gebäuden: der ehemaligen Albany Pumpstation, die in den 1870er Jahren, sowie einem ehemaligen Stadthaus, das im Jahre 1852 erbaut wurde. Das Wasser wurde aus dem Hudson River ins Pumpwerk gepumpt, wo es gefiltert und in das Bleecker Reservoir weitergepumpt wurde. In den 1980er Jahren wurde dieses historische Viertel und die Gegend, die als Quackenbush Square bekannt ist, saniert. Das ehemalige Stadthaus und ein Teil der Pumpstation wurden die Heimat des Albany Visitor Center. Clinton Square Der Clinton Square wurde nach Gouverneur DeWitt Clinton, dem Geldgeber des Eriekanals, benannt. Der Kanal verband die Gewässer des Eriesees im Westen mit dem Hudson River im Osten und hierdurch weiter mit dem Atlantik. Heute besteht das New Yorker Kanalsystem aus dem Erie-, dem Champlain-, dem Oswego- und dem Cayuga-Seneca-Kanal. Im Osten des Clinton Square befindet sich eine Häuserzeile, die 1832 in Federal-Style-Architektur erbaut wurde. Im rechten Haus dieser Zeile hat Herman Melville, Autor des Klassikers „Moby-Dick“, zwischen 1830 und 1838 einen Teil seiner Jugend verbracht. Hudson River Way Der Hudson River Way ist ein Fußgängerweg, der Albanys historische Innenstadt mit den Ufern des Hudson River verbindet. Eines der wichtigsten Merkmale auf der Brücke ist die Darstellung von Albanys Geschichte durch eine Reihe von Gemälden. James T. Foley US Courthouse Das James-T.-Foley-Gerichtsgebäude wurde im Jahre 1934 eröffnet und diente ursprünglich als Postamt, Gerichtsgebäude und Zollhaus. Die Räumlichkeiten werden noch heute durch Behörden sowie als Gerichtsgebäude genutzt. Das Gebäude ist ein hervorragendes Beispiel für Art-déco-Design, das modernes Design mit kunstvollen dekorativen Details enthält. Fast 2,5 Meter große Adler, aus einem 17 Tonnen schweren Vermont-Marmorblock gehauen, stehen hoch oberhalb der beiden Haupteingänge. Ein Fries umgibt das Gebäude, welcher die Aktivitäten von Post, Zoll und Gerichten zeigt. Kenmore Hotel Das Kenmore Hotel wurde zwischen 1876 und 1878 gebaut und war eines der feinsten in Albany. Der Nachtclub des Hotels, The Rainbow Room, präsentierte Big Bands auf deren Vorstellungstouren und war ein beliebter Aufenthaltsort des Gangsters und Schmugglers Legs Diamond. Das Kenmore wurde renoviert und in den 1980er Jahren in Büros umgebaut. New York State Capitol Das zwischen 1867 und 1899 errichtete Gebäude ist Sitz des Parlaments des Staates New York. Quackenbush House Das Quackenbush-Haus ist nach der Familie benannt, deren Heim es fast 150 Jahre lang war. Peter Quackenbush, ein erfolgreicher Ziegelhersteller, war das erste Familienmitglied, das aus Holland in diese Gegend kam. Das Quackenbush-Haus ist das zweitälteste Gebäude in niederländischem Architekturstil, das noch heute in Albany steht. Der in den 1730er Jahren gebaute ursprüngliche Teil des Gebäudes, der zur Broadway Street zeigt, kann aus Ziegeln einer Ziegelei gebaut worden sein, die sich auf dieser Seite des Gebäudes befindet. Der hintere Teil des Gebäudes ist Federal-Style-Architektur aus dem späten 18. Jahrhundert. St. Mary’s Church Der heutige Bau ist die dritte St.-Marys-Kirche. Sie wurde im Jahr 1869 geweiht. Als die St.-Marys-Gemeinde im Jahre 1796 gegründet wurde, war sie nach der St. Peter’s Church in Lower Manhattan die zweitälteste römisch-katholische Pfarrei im Staat New York. Die Wetterfahne an der Spitze des Glockenturms zeigt den Erzengel Gabriel. Im Inneren der Kirche befinden sich Fresken von italienischen Künstlern aus der Zeit von 1891 bis 1895. St. Peter’s Church Anglikanische Gottesdienste fanden in Albany seit dem Jahr 1708 statt, zunächst vor allem für britische Soldaten. Der Bau der heutigen St.-Peter’s-Kirche wurde 1860 abgeschlossen. Besonders bemerkenswert sind drei Wasserspeier an der Außenseite des Glockenturms, jeder mit einem Gewicht von drei Tonnen, die jeweils 2,4 Meter über die Mauern des Turms hinausragen. Das Innere der Kirche ist mit Werken von führenden Künstlern der Zeit dekoriert, einschließlich der von der Firma Tiffany entworfenen Rosette über dem Eingang von der State Street. State Street Banks Das Wachstum der Banken in Albany im frühen 19. Jahrhundert beruhte auf dem Aufschwung der Stadt in Handel und Transport und dem Standort der Landesregierung. Banken säumten beidseitig die State Street in ihrer prächtigen Architektur. Albany ist immer noch ein wichtiges regionales Finanzzentrum. Besonders erwähnenswert ist 69 State Street, der ursprüngliche Sitz der New York State Bank. Die Fassade des ursprünglichen Gebäudes wurde 1803 errichtet. Dieses Gebäude ist das älteste Bankgebäude in der Stadt Albany und das älteste Gebäude in den Vereinigten Staaten, das als Bankhaus errichtet und kontinuierlich als solches genutzt wurde. State University of New York (SUNY) Die ehemaligen Büros der Verwaltung der Delaware und Hudson Railroad werden nun von der State University of New York genutzt. Das neogotische Gebäude wurde zwischen 1914 und 1918 zu einer Zeit gebaut, als Albany ein geschäftiger Binnenhafen sowie ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt war. Die kupferne Wetterfahne an der Spitze des zentralen Turms ist eine Replik von Henry Hudsons Schiff Half Moon. Rechts im SUNY-Gebäude befindet sich der ehemalige Fahrkartenschalter der Hudson River Day Line, einer der erfolgreichsten Passagierdampfer-Linien Amerikas, die im Linienverkehr zwischen Albany und New York City verkehrte. Steuben Street Die Straße wurde nach dem deutsch-amerikanischen General Friedrich Wilhelm von Steuben benannt. An der Ecke der Steubenstraße/North Pearl Street steht der Steuben Athletic Club, ehemals Sitz des YMCA. Die Architekten dieses Gebäudes, Fuller und Wheeler aus Albany, wurden national als Spezialisten für Bauwerke diese Art bekannt und wurden beim Bau der YMCA-Zentrale in der französischen Hauptstadt Paris um Beratung gebeten. Die weiße Linie am Anfang der Steubenstraße kennzeichnet den Verlauf des schützenden Palisadenrings, der einst Albany umgab. Das Kopfsteinpflaster der Steubenstraße besteht aus Steinen, die im 19. Jahrhundert auf Schiffen als Ballast in den Hafen von Albany gebracht wurde. The Court of Appeals Das Berufungsgericht ist das höchste Gericht im Staat New York und wurde 1842 im Stil der griechischen Renaissance fertiggestellt. Der Gerichtssaal, von dem Architekten Henry Hobson Richardson konzipiert, ist aus geschnitztem Eichenholz und wurde von seinem ursprünglichen Standort im New York State Capitol in das Gebäude verlegt. The Empire State Plaza Die Empire Plaza war die Vision des Gouverneurs Nelson A. Rockefeller. Sie ersetzte 40 frühere Blocks. Im Außenbereich befinden sich drei Parkplatzebenen und ein Treffpunkt mit Geschäften und Cafeterias. Alle Gebäude auf der Plaza, außer dem runden in der Mitte des Platzes stehenden Zentrum für darstellende Künste, auch als The Egg bezeichnet, sind mit Marmor verkleidet. Corning Tower ist ein 42 Stockwerke hohes Gebäude und das höchste auf dem Platz. Es ist nach Albanys langjährigem Bürgermeister Erastus Corning benannt. Auf der 42. Etage befindet sich ein Aussichtsbereich. Eine Sammlung moderner Kunst, das New York State Museum, Bibliothek und Archiv sowie ein Kongresszentrum sind auch an der Empire State Plaza untergebracht. The First Church Die Gemeinde der First Church in Albany, Teil der Reformierten Kirche in Amerika, wurde 1642 gegründet. Es ist die zweitälteste Gemeinde im Staat New York. Das heutige Gebäude, das vierte an diesem Platz, wurde 1798 nach dem Entwurf des renommierten New Yorker Architekten Philip Hooker errichtet. Die Sanduhr-Kanzel im Inneren des Altarraums der Kirche ist die älteste Kanzel in den Vereinigten Staaten und wurde im Jahre 1656 aus Holland importiert. Zu sehen sind auch die Gründungsurkunde Charter of Incorporation aus dem Jahr 1720, der Wetterhahn der vorherigen „Blockhaus“-Kirche und das Sarah-Faye-Sumners-Memorial-Fenster, das das Werk von Louis Comfort Tiffany ist. The Palace Theatre Das Palace Theater eröffnete 1931 als eines der Juwelen der RKO Kinokette, mit einer Bühne für Live-Bühnenshows zwischen den Spielfilmen. Nachdem es das Aufkommen des Tonfilms überlebt hatte, wurde es bis nach dem Zweiten Weltkrieg das führende Kino der Stadt. Das Theater ist heute ein Veranstaltungsort der darstellenden Künste und ist die Heimat des Albany Symphony Orchestra. Tricentennial Park Der Tricentennial Park wurde 1986 zum dreihundertjährige Bestehen der Stadt eingeweiht. Die Statue in der Mitte des Parks stellt das Stadtsiegel von Albany und die Geschichte von Handel und Gewerbe dar. Das Wort „Assiduity“ im Mittelpunkt der Statue bedeutet „Fleiß“ und „Sorgfalt“ und soll die Eigenschaften der ursprünglichen Kolonisten der Stadt im Laufe der fast 400-jährigen Geschichte von Albany charakterisierten. Der Tricentennial Park beherbergt auch eine Gedenkstätte für den ehemaligen Bürgermeister von Albany, Thomas M. Whalen III. Union Station Die Union Station diente ursprünglich als Bahnhof für die New York Central and Hudson River Railroad, die Boston and Albany Railroad, und die Delaware and Hudson Railway. In dem Bahnhof kamen im Jahr 1900 96 Züge pro Tag an, während des Zweiten Weltkriegs waren es bis zu 121 pro Tag. Mit der Einstellung des Personenverkehrs wurde der Bahnhof 1968 geschlossen. National Register of Historic Places Mehrere Bauwerke und historische Distrikte in Albany sind in das National Register of Historic Places eingetragen: Der National Park Service weist für Albany sieben National Historic Landmarks aus, darunter das New York State Capitol, den Eriekanal, der Geleitzerstörer USS Slater und die Schuyler Mansion. 63 Bauwerke und Stätten der Stadt sind im National Register of Historic Places (NRHP) eingetragen (Stand 8. November 2018). Demographie Nach dem Zensus 2010 hatte Albany rund 98.000 Einwohner. Die Bevölkerung setzte sich zusammen aus 63 Prozent Weißen, 28 Prozent Schwarzen, 5,6 Prozent Latinos und 3,3 Prozent Asiaten. Von den Einwohnern stammten 17 Prozent von Iren ab, 12 Prozent von Italienern und 11 Prozent von Deutschen. Wirtschaft und Infrastruktur Verkehr Die Autobahn I-87 verbindet Albany nach Süden mit New York City und nach Norden mit Montreal in Kanada. Die Autobahn I-90 verbindet die Stadt nach Osten mit Springfield in Massachusetts und nach Westen mit Syracuse. Nordwestlich der Stadt liegt der Albany International Airport. Es gibt Zugverbindungen mit Amtrak nach Süden (New York City), nach Norden (Montreal), nach Rutland in Vermont, nach Westen zu den Niagara-Fällen, Toronto und Chicago, und östlich nach Boston. Bildung In Albany befinden sich die State University of New York at Albany (auch SUNY Albany oder University at Albany genannt) und im Vorort Loudonville das Siena College. Sport Seit 1979 findet in Albany der Freihofer’s Run for Women statt, einer der bedeutendsten Frauen-Straßenläufe weltweit. Religion Albany ist Sitz des 1847 errichteten römisch-katholischen Bistums Albany. Die Kathedrale Immaculate Conception wurde 1852 fertiggestellt. Persönlichkeiten Söhne und Töchter der Stadt Philip Livingston (1716–1778), Händler, Politiker und Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten William Livingston (1723–1790), erster Gouverneur von New Jersey und einer der Unterzeichner der Verfassung der Vereinigten Staaten Philip Schuyler (1733–1804), General der Kontinentalarmee im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und Vertreter New Yorks im US-Senat Peter Gansevoort (1749–1812), Oberst der Kontinentalarmee im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 1775–1781 Henry S. Thibodaux (1769–1827), Politiker Joseph Henry (1797–1878), Physiker, namensgebend für die physikalische Einheit „Henry“ Jane Stanford (1828–1905), Philanthropin, Mitgründerin der Stanford University Daniel Manning (1831–1887), Journalist, Geschäftsmann und Politiker Philip Sheridan (1831–1888), General der Unionsarmee im Sezessionskrieg 1861–1865 Bret Harte (1836–1902), Schriftsteller Charles Dwight Sigsbee (1845–1923), Marineoffizier der US Navy, Kommandant der USS Maine Jonathan Scott Hartley (1845–1912), US-amerikanischer Bildhauer Charles Warren Eaton (1857–1937), bildender Künstler William C. Redfield (1858–1932), Handelsminister der Vereinigten Staaten Learned Hand (1872–1961), Richter und Rechtsphilosoph John Rathbone Oliver (1872–1943), Psychiater, Medizinhistoriker und Geistlicher Charles Fort (1874–1932), Autor Sanford A. Moeller (1879–1961), Schlagzeuger und Musikpädagoge Alice Morgan Wright (1881–1975), Bildhauerin, Frauen- und Tierrechtlerin Lemuel Whittington Gorham (1885–1968), Internist Leslie R. Groves (1896–1970), Generalleutnant der US Army und militärischer Leiter für die Entwicklung der ersten Atombombe Kay Sage (1898–1963), surrealistische Künstlerin und Schriftstellerin Donald Prentice Booth (1902–1993), Generalleutnant der United States Army Mort Stulmaker (1906–1988), Jazzmusiker John Joseph Thomas Ryan (1913–2000), Erzbischof von Anchorage und Militärbischof John Rodgers (1914–2004), Geologe Andy Rooney (1919–2011), Radio- und TV-Journalist und Autor Allen Mandelbaum (1926–2011), Professor der italienischen Literatur William Joseph Kennedy (* 1928), Schriftsteller Marion Zimmer Bradley (1930–1999), Schriftstellerin John Furlong (1933–2008), Schauspieler Stanley Falkow (1934–2018), Mikrobiologe Pete Turner (1934–2017), Fotograf Thomas Michael Whalen III (1934–2002), Politiker Robert Chazan (* 1936), Historiker Stephen A. Geller (* 1938), jüdischer Theologe William Devane (* 1939), Schauspieler Kent Mitchell (* 1939), Ruderer Joseph E. DeFrancisco (* 1942), Generalleutnant der United States Army John Hilton (1942–2017), Footballspieler Martin Seligman (* 1942), Psychologe Robert Langer (* 1948), Chemieingenieur und Professor am MIT Bert Sommer (1949–1990), Musiker, Songschreiber und Schauspieler Larry Connor (* 1950), Unternehmer, Pilot, Rennfahrer, Philanthrop und Raumfahrer John McTiernan (* 1951), Filmregisseur und Produzent von Actionfilmen Paul Krugman (* 1953), Volkswirt und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Jan Kerouac (1952–1996), Schriftstellerin Gregory Maguire (* 1954), Schriftsteller Carolee Carmello (* 1962), Schauspielerin Scott Pladel (* 1962), Bobsportler Nicole Passonno Stott (* 1962), Astronautin Kirsten Gillibrand (* 1966), Politikerin und Senatorin Curt Schreiner (* 1967), Biathlet Ralph Tortorici (ca. 1968–1999), Geiselnehmer Stefon Harris (* 1973), Jazz-Vibraphonist Clancy Newman (* 1977), Cellist und Komponist Ashton Holmes (* 1978), Schauspieler Chad Michael Collins (* 1979), Schauspieler, Filmproduzent und Synchronsprecher Shane Jones (* 1980), Autor und Poet Marc Cavosie (* 1981), Eishockeyspieler Christopher Beckmann (* 1986), Skirennläufer Dion Lewis (* 1990), American-Football-Spieler Rudy Winkler (* 1994), Hammerwerfer Kevin Huerter (* 1998), Basketballspieler Persönlichkeiten, die vor Ort gewirkt haben Christian Heinrich Friedrich Peters (1813–1890), deutsch-amerikanischer Astronom, entdeckte insgesamt 48 Asteroiden, arbeitete zeitweise am Observatorium von Albany. Herman Melville (1819–1891), Schriftsteller (Moby-Dick), lebte zwischen 1830 und 1838 in Albany. Isaac Mayer Wise (1819–1900), tschechisch-amerikanischer Rabbiner, war als Rabbiner in der jüdischen Gemeinde Albanys tätig. Albert Uffenheimer (1876–1941), deutscher Arzt, 1938 aus Deutschland vertrieben, war ab 1940 Dozent am Siena College. Nick Brignola (1936–2002), Musiker, verstarb in Albany. Israel Tsvaygenbaum (* 1961), russisch-amerikanischer Künstler, lebt in der Stadt. Partnerstädte Albany hat als Partnerstädte: Marskrater Nach Albany ist ein Marskrater benannt. Weblinks Webpräsenz der Stadtverwaltung Webpräsenz der Tourismusauskunft Einzelnachweise Hauptstadt in den Vereinigten Staaten County Seat in New York Namensgeber für einen Marskrater Hochschul- oder Universitätsstadt in den Vereinigten Staaten Ort am Hudson River Jakob II. (England) als Namensgeber
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https://de.wikipedia.org/wiki/Aja
Aja
Aja steht für: Aja (Mythologie), eine Göttin aus der mesopotamischen Mythologie ein historisches Königreich in Afrika, siehe Klein-Adra ein afrikanisches Volk, siehe Adja Aja (Sprache), die Sprache der Adja Aja (Lied), Single der Band Steely Dan Aja (Album), Studioalbum der Band Steely Dan eine Hofmeisterin, Erzieherin fürstlicher (adeliger) Kinder Personen: Aja I. (17. Jh. v. Chr.), ägyptischer Pharao Aja II. (14. Jh. v. Chr.), ägyptischer Pharao, siehe Eje II. Frau Aja, Kosename der Mutter Johann Wolfgang von Goethes, siehe Catharina Elisabeth Goethe Aja (Pornodarstellerin) (1963–2006), US-amerikanische Pornodarstellerin Aja Brown (* 1982), US-amerikanische Politikerin Alexandre Aja (* 1977; als Alexandre Jouan Arcady), französischer Regisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent Enrique Aja (* 1960), spanischer Radrennfahrer Felipe Aja Espil (1887–1972), argentinischer Jurist und Diplomat Igwe Aja-Nwachukwu († 2015), nigerianischer Politiker José Aja (* 1993), uruguayischer Fußballspieler AJA steht als Abkürzung für: Afghan Jet International, afghanische Fluggesellschaft (ICAO-Code) Flughafen Ajaccio, IATA-Code des französischen Flughafens auf Korsika American Journal of Archaeology Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren, ein DDR-Schriftstellerverband Arbeitskreis gemeinnütziger Jugendaustauschorganisationen in Deutschland Siehe auch: AIA Aya Abkürzung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeiner%20Deutscher%20Tanzlehrerverband
Allgemeiner Deutscher Tanzlehrerverband
Allgemeiner Deutscher Tanzlehrerverband e. V. (ADTV) ist eine der weltweit größten Dachorganisationen von Tanzschulen und Tanzlehrenden. Er wurde 1922 in Halle (Saale) gegründet und hat seinen Sitz heute in Hamburg. Dem ADTV gehören rund 800 Tanzschulen und 3100 Tanzlehrende in Deutschland an. Nach eigenen Angaben ist nur noch die Imperial Society Of Teachers Of Dancing mit über 7000 Mitgliedern weltweit deutlich größer. Präsidium Präsident: Jürgen Ball, Friedrichsdorf im Taunus Vizepräsidentin: Martina Trautz, Augsburg Schatzmeister: Roland Kruhl, Brühl Leiterin der Tanzlehrer-Akademie (TLA): Sarah Steinbauer, München Präsident des Wirtschaftsverband Deutscher Tanzschulunternehmen e.V. (WDTU): Christoph Möller, München Sprecherin der Angestellten Tanzlehrer (AT): Andrea Sieck, Diepholz Präsidentin des Deutschen Professional Tanzsportverbandes e. V. (DPV): Evelyn Hädrich-Hörmann, Harburg Das Geschäftsführende Präsidium besteht aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten, dem Leiter der Tanzlehrer-Akademie und dem Schatzmeister. Regionale Gliederung Regional gliedert sich der ADTV in sieben Regionalverbände, die teilweise mehrere Bundesländer umfassen: Nord: Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, Niedersachsen, Bremen Nordost: Berlin, Brandenburg West: Nordrhein-Westfalen Mitte: Hessen Ost: Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen Südwest: Saarland, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg Südost: Bayern Verbandsstruktur Neben dem ADTV befasst sich der Wirtschaftsverband Deutscher Tanzschulunternehm (früher Swinging World e.V.) als Vereinigung der Tanzschulinhaber um die Belange der Tanzschulen. So sind insgesamt folgende Unternehmungen um die Belange der Mitglieder bemüht: Allgemeiner Deutscher Tanzlehrerverband e. V. (ADTV): Der ADTV vertritt die gemeinsamen Interessen seiner Mitglieder national und international gegenüber Gesetzgebern, Behörden, anderen Verbänden und Organisationen sowie den Medien und repräsentiert seine eigene Fachkompetenz sowie die seiner Mitglieder auf nationalen und internationalen Veranstaltungen. Er fördert die beruflichen und fachlichen Kenntnisse seiner Mitglieder und achtet auf einen lauteren Wettbewerb. Swinging World GmbH: Marketing-Gesellschaft für ADTV-Tanzschulen. Betreuung und Abwicklung der Marken des Verbandes sowie Entwicklung neuer Ideen und Strategien für Tanzschulen. Wirtschaftsverband Deutscher Tanzschulunternehmen e.V. (früher: Swinging World e.V.): Die Vereinigung der Tanzschulinhaber nimmt als Interessenverband die allgemeinen, aus der unternehmerischen Tätigkeit erwachsenden ideellen und wirtschaftlichen Interessen aller Tanzschulen im ADTV wahr. Der rechtlich selbständige Verein mit Sitz in Hamburg vertritt die gemeinsamen und allgemeinen Interessen der Tanzschulinhaber im ADTV als Unternehmer und Arbeitgeber national und international gegenüber Gesetzgebern, Behörden, anderen Verbänden, Organisationen, Medien und urheberrechtlichen Verwertungsgesellschaften. Tanzlehrer-Akademie TLA: zuständig für alle Themen rund um Aus- und Weiterbildung Tanz des Jahres Der Allgemeine Deutsche Tanzlehrerverband e. V. stellt im Rahmen des Internationalen Tanzlehrerkongresses INTAKO alljährlich einen Tanz des Jahres vor. Siehe auch Deutsches Tanzabzeichen Deutsches Tanzsportabzeichen Neben dem ADTV gibt es noch den Berufsverband Deutscher Tanzlehrer sowie eine große Anzahl freier Tanzschulen. Weblinks Offizielle Website Einzelnachweise Tanzorganisation Verein (Hamburg) Tanzsport (Deutschland) Gegründet 1922 Organisation (Halle (Saale)) Künstlerische Organisation (Deutschland) Tanzpädagogik Tanzen (Hamburg)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Almaty
Almaty
Almaty ( und , bis 1998 Alma-Ata) ist mit rund zwei Millionen Einwohnern die größte Stadt Kasachstans. Sie liegt im Südosten des zentralasiatischen Staates unweit der Grenze zu Kirgisistan, war von 1936 bis 1991 Hauptstadt der Kasachischen SSR und nach dem Zerfall der Sowjetunion bis 1997 von Kasachstan. Almaty ist neben der Hauptstadt Astana noch immer das kulturelle, wissenschaftliche und wirtschaftliche Zentrum des Landes mit Universitäten und zahlreichen Sakralbauten, Museen und Theatern. Zu den bekanntesten Sakralbauten gehören die Christi-Himmelfahrt- und die Nikolaus-Kathedrale. Der 1983 fertiggestellte 371,5 Meter hohe Fernsehturm Almaty auf dem Berg Kök-Töbe gehört zu den höchsten Bauwerken der Welt. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts sind auch einige Wolkenkratzer in der Stadt entstanden. Die Stadt verfügt über zwei Bahnhöfe und zwei Flughäfen. Die am 1. Dezember 2011 eröffnete Metro Almaty sowie Oberleitungsbusse sorgen für den innerstädtischen Personentransport. Geographie Geographische Lage Almaty befindet sich im Südosten von Kasachstan; nach Süden sind es vom Stadtzentrum etwa 25 km bis zur Grenze mit Kirgisistan und nach Osten etwa 300 km zur Grenze mit China (jeweils Luftlinie). Die Stadt liegt am Nordfuß des nördlichsten Gebirgszugs des Tian Shan, des Transili-Alatau (; ), dessen nur schwer überwindliche Bergketten mit Gletschern vom Pik Talgar (), der in der Stadt von fast überall zu sehen ist, gekrönt werden. Der größte Berg innerhalb des Stadtterritoriums heißt Kök-Töbe und ist hoch. Zudem befinden sich in der Umgebung von Almaty etwa 300 Gletscher, von denen der Korschenewski- und Tujuksu-Gletscher die größten sind. Nördlich von Almaty liegt ein Gebiet mit Steppen und Halbwüsten, das in die Wüste Mujunkum (; ) übergeht. Seismische Aktivitäten Durch die Lage nördlich des Tian-Shan-Gebirges, eines Intraplatten-Orogens mit hoher Topografie, starken Horizontalverschiebungen und einer starken Seismizität ist die Region um Almaty häufig von Erdbeben betroffen, wodurch die Stadt in den letzten 250 Jahren mehrfach zerstört wurde (1770, 1807, 1865, 1887, 1889 und 1911). 1887 wurde die Stadt Werny komplett zerstört, und wieder an derselben Stelle aufgebaut. Das Kebin-Erdbeben von 1911 forderte mehr als 700 Menschenleben, die Stadt wurde auch schnell wieder aufgebaut. 1974 wurden zur Verbesserung der Analyse der seismischen Gefährdung vier Erdbebenwarten aufgebaut. Der Fernsehturm Almaty auf dem Berg Kök-Töbe ist erdbebensicher aus einer Stahlrohrkonstruktion hergestellt; auf Beton wurde verzichtet. Stadtgliederung Die Stadt ist heute in acht autonome Bezirke (Awtonomnyj(-e) Okrug(-a)) unterteilt: Alatau, Almaly, Äuesow, Bostandyq, Schetyssu, Medeu, Nauryzbai und Türksib. Der bevölkerungsreichste Bezirk ist Bostandyk mit rund 350.000 Einwohnern, Nauryzbai ist mit 150.000 der bevölkerungsärmste der Bezirke. Die ersten Verwaltungsbezirke der Stadt wurden 1936 gebildet. Damals unterteilte man das Stadtgebiet in die vier Stadtteile Proletarski (russ. Пролетарский), Leninski (russ. Ленинский), Stalinski (russ. Сталинский) und Frunsenski (russ. Фрунзенский). Im Jahr 1966 kam mit dem Bezirk Kalininski (russ. Калининский) ein Weiterer und 1972 mit dem Bezirk Auesowski (russ. Ауэзовский) nochmals ein Stadtteil hinzu. Nachdem die Bevölkerung Almatys Anfang der 1980er Jahre bereits auf mehr als eine Million angewachsen war, kamen auf Beschluss der sowjetischen Behörden am 17. Oktober 1980 zwei weitere Stadtbezirke hinzu: Alatauski (russ. Алатауский) und Moskowski (russ. Московский). 2014 kam mit Nauryzbaiski (russ. Наурызбайский) der bisher letzte Stadtbezirk hinzu. Wasserressourcen Südlich von Almaty, in Kirgisistan, liegt in den Tian-Shan-Bergen der große Yssykköl. Dieser See ist das beliebteste Ausflugsziel der Stadtbewohner. 70 km nördlich der Stadt befindet sich die Qapschaghai-Talsperre, die 1970 am Fluss Ili errichtet wurde. Mit einer Stauseefläche von 1847 km² dient sie als Hauptreservoir für die Versorgung der Metropole mit Trinkwasser. In den nahen Bergen des Transili-Alataus entspringen zahlreiche Flüsschen, die das Stadtgebiet durchqueren, darunter Ülken Almaty und Kitschi Almaty. Flora und Fauna Die Stadt umgeben zahlreiche blühende Gärten (vor allem natürliche Apfelbaumgärten), Obst-, Getreide-, Tabak- und Melonenplantagen sowie Weinberge. Im Gebirgsvorland finden sich Haine mit Aprikosen, Weißdorn und Wildapfel. Etwas höher beginnen stammdichte Nadelwälder, Alpenwiesen und schließlich die schneebedeckten Eisgipfel. In den Parks und Gärten der Stadt wurden von Beginn an Pflanzen und Bäume aus allen Ecken der Welt angepflanzt und so gedeihen in Almaty und Umgebung bis heute Arten aus Nordamerika, der Krim, dem Kaukasus und aus Fernost. Auch das Tierreich um Almaty ist artenreich. Außer den üblichen Nagetieren leben in den Bergwäldern Bären und große Katzen wie Luchse sowie das Wappentier der Stadt, der Schneeleopard. Den Tian-Shan bewohnen zudem Bergziegen und -schafe (Arhare). In den Steppenregionen trifft man auf Wölfe, Rot- und Steppenfüchse. Wechselkröten (Bufotes viridis, wiss. nicht mehr gültig Bufo viridis) besiedeln hier sowohl die Steppe als auch Gärten und Parkbezirke um Almaty. Um die außergewöhnliche Flora und Fauna des Transili-Alataus (Zalij-Alatau) zu bewahren, wurde 1935 das „Naturschutzgebiet von Almaty“ gegründet. Klima Almaty hat ein ausgeprägtes Kontinentalklima mit großen Tagestemperaturschwankungen. Da die einzelnen Bezirke sich hinsichtlich ihrer Höhenlage erheblich unterscheiden, liegen sie in verschiedenen Klimazonen. So kann an verschiedenen Enden der Stadt am selben Tag ein völlig anderes Wetter herrschen. Trotz des Kontinentalklimas ist das Klima von Almaty wesentlich milder als das in Nord- oder Zentralkasachstan. Die sommerliche Hitze wird durch die recht hohe Lage der Stadt (650–950 m über NN) gedämpft. Auch in Sommernächten kann es daher ziemlich kühl werden. Die Winter sind in der Regel schneereich, wobei die Kälte wiederum aufgrund von warmen Luftströmungen aus den Wüsten Zentralasiens gedämpft wird. Die in der Stadt ständig sichtbaren Berge sind – auch in den Sommermonaten – stets mit Eis und Schnee bedeckt. Wenn im Frühjahr das Tauwetter einsetzt, fließen große Mengen Schmelzwasser von den Bergen in die Stadt, weswegen Almaty für seine vielen kleinen Flüsse und Bäche bekannt ist. Das Wasser wird in zahlreichen Gräben entlang beinahe jeder Straße abgeleitet, wodurch das Stadtklima im Sommer angenehm beeinflusst wird. Die mittlere jährliche Niederschlagsmenge beträgt 656 mm; der Temperaturdurchschnitt im Juli liegt bei 23,7 °C, im Januar bei −5,4 °C; der Jahresdurchschnitt beträgt 9,4 °C. Die höchste je gemessene Temperatur betrug 41,7 °C (im Juli 1997), die niedrigste −37,7 °C (im Februar 1951). Geschichte Almatu Schon im 10. Jahrhundert v. Chr. gab es auf dem Territorium von Almaty Siedlungen von Menschen, wie die Funde diverser Bronzen von Ausgrabungsgebieten nördlich des Orts belegen. Seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. finden sich kulturelle Spuren von Saken und Wusun. Das bekannteste und interessanteste Zeugnis der sakischen Kultur ist der sogenannte „Altyn Adam“, „Goldener Mensch“ von Issyk-Kurgan bei der Stadt Issyk, 48 km von Almaty entfernt. Hierbei handelt es sich um eine vollständig erhaltene, reich verzierte Rüstung aus Gold, die einem jungen sakischen Fürsten gehörte. Die Ausgrabungen belegen, dass es auf dem Territorium von Almaty spätestens seit dem 10. Jahrhundert n. Chr. vier größere Siedlungen gab, von denen drei nach etwa zwei Jahrhunderten zur Stadt Almatu zusammenwuchsen. Dieser Name wird zum ersten Mal auf einem silbernen Dirham aus dem Jahr 684 (nach unserer Zeitrechnung 1285/86) erwähnt. Solche Münzen wurden in der Vorgängerstadt des heutigen Almaty während der mongolischen Herrschaft (Khanat Tschagatai) geprägt. Der Name Almatu erscheint außerdem in einigen arabischen Quellen und in Reisenotizen eines chinesischen Mönchs. Im 14. Jahrhundert wurde die Stadt durch Mongolen (wahrscheinlich im Zuge der Unterdrückung einer Rebellion) fast vollständig zerstört. Da der Handel an der Seidenstraße – die Existenzgrundlage der Stadt – ebenfalls zum Erliegen kam, verkümmerten die Reste von Almatu im 16. Jahrhundert. Ihre Ruinen waren noch Mitte des 19. Jahrhunderts zu sehen, die Russen benutzten sie als Steingrube für die Stadt Werny. Werny Bei der Erschließung Zentralasiens errichtete das Russische Reich mehrere Vorposten in der Region, um das Territorium zu sichern. Es war außerdem vertraglich zum Schutz der Kasachen gegen die Dschungaren verpflichtet. Am 4. Februar 1854 gründete die Truppe unter dem Kommando von Major Michail Peremyschelski (russ. Михаил Дмитриевич Перемышельский) die Festung Wernoje („Die Treue“) als militärische Befestigungsanlage am Fuße des Transili-Alatau. Die Konstruktion der Anlage wurde bereits im Herbst des Jahres abgeschlossen; sie bestand aus einem fünfeckigen Bereich, der mit einem Holzzaun umgrenzt war und an dessen zentralem Platz sich die Trainingseinrichtungen befanden. Die Besatzung umfasste zu dieser Zeit 470 Offiziere und Soldaten. Am 1. Juli 1855 trafen in Wernoje die ersten vertriebenen Kasachen ein und wenig später wurde auch russischen Bauern gestattet, sich im Ort niederzulassen. Dies führte dazu, dass sich auch im nahen Umland der Festung Menschen niederließen: Die russischen Zuwanderer gründeten unweit der Festung die Staniza (Kosakensiedlung) Bolschaja Almatinskaja und unter dem Zuzug von tatarischen Handwerkern und Kaufleuten wurden die Siedlungen Malaja Almatinskaja and Tatarskaja (Taschkentskaja) sloboda errichtet. Im Mai 1859 erreichte die Einwohnerzahl bereits eine Größenordnung von 5000 Personen. Am 11. April 1867 wurde der Festung und der umliegenden Bebauung das Stadtrecht verliehen. Gleichzeitig wurde sie in Almatinsk umbenannt, was in der Bevölkerung auf Ablehnung stieß und kurze Zeit später wieder rückgängig gemacht wurde. Die Stadt Werny (die Endung wurde entsprechend der russischen Grammatik geändert), deren Bevölkerung mittlerweile die Zahl von 10.000 übertraf, wurde zur Hauptstadt des Gebietes von Semiretschje (Siebenstromland), das das heutige Nordost-Kasachstan und Teile Kirgisistans umfasste. Man teilte die Stadt in verschiedene Wohnbereiche auf, die wiederum den zwei neu geschaffenen Stadtbezirken zugeordnet wurden. Im Stadtzentrum befanden sich ein- und zweistöckige Gebäude, am Stadtpark (heute der Park der 28 Panfilowzy) wurden Verwaltungsgebäude und öffentliche Einrichtungen errichtet. Am 1. Juni 1887 wurde Werny von einem Erdbeben innerhalb von rund zehn Minuten fast vollständig zerstört. Von 1700 Gebäuden hielt nur eines dem Beben stand. Unter Berücksichtigung der seismischen Gefahr wurde die Stadt innerhalb kurzer Zeit wieder aufgebaut, wobei durch den Gouverneur des Oblasts Semiretschje der Bau von Gebäuden nur aus Holz vorgeschrieben wurde, da diese einem Erdbeben eher standhalten könnten als jene aus Ziegelsteinen. Das nächste große Beben ereignete sich am 3. Januar 1911. Das Kemin-Erdbeben hatte eine Stärke von 7,8 Mw auf der Momenten-Magnitude und zerstörte in der Stadt rund 700 Gebäude. Eine Beschreibung von Werny für das Jahr 1909 gibt folgenden Überblick über die Stadt: Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war Werny bereits eine prosperierende Stadt mit 62 Lehranstalten, Fabriken, Banken, einem Telegraphen und einem kleinen Telefonnetz. 1907 wurde die Heilige Auferstehungskathedrale fertiggestellt, das mit einer Höhe von 45 Metern lange Zeit größte Gebäude der Stadt. Die Bevölkerung zählte 1909 ungefähr 37.000 Menschen. Alma-Ata In den 1920er und 1930er Jahren Wie zahlreiche Städte im einstigen russischen Zarenreich wurde auch Werny von den Kommunisten umbenannt. Die Stadt bekam aber nicht den Namen eines bolschewistischen Führers, wie etwa die kirgisische Hauptstadt (Frunse, heute Bischkek). Werny gab man eine slawisierte Form seines früheren Namens. Es wurde nach den zwei Flüssen, an denen die Festung erbaut wurde, in Alma-Ata () umbenannt. Man hat die kasachische Endung -tu bzw. -ty (Attributendung) irrtümlich als Wort „Ata“ – Vater, Opa verstanden. So wurde aus der „Äpfelstadt“ der „Vater der Äpfel“. Die Entscheidung wurde am 5. Februar 1921 getroffen. Die Bezeichnung ist jedoch im Kasachischen grammatisch falsch: „Alma-Ata“ ist nur eine Aneinanderreihung zweier Wörter, ohne sie in Beziehung zueinander zu setzen. Bereits am 2. März 1927 beschlossen das Zentrale Exekutivkomitee und der Rat der Volkskommissare, die Hauptstadt der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik von Ksyl-Orda nach Alma-Ata zu verlegen. Gleichzeitig mit der Anbindung von Alma-Ata an die Turkestan-Sibirische Eisenbahn zogen die Regierungsbehörden im Mai 1929 in die neue Hauptstadt um. Mit der Verlagerung der Hauptstadt nach Alma-Ata trieben die kommunistischen Führer weitere große Infrastrukturprojekte in der Stadt voran, so wurde bereits 1935 der Flughafen Alma-Ata eröffnet und nur zwei Jahre später nahm die Straßenbahn ihren Betrieb auf. Die Regierung der Kasachischen SSR erstellte für Alma-Ata für die Jahre 1929 und 1930 einen Aktionsplan, in dem Investitionen in Höhe von 6,5 Millionen Rubel in das Wohnungswesen, 2,9 Millionen Rubel für die Errichtung von Verwaltungsgebäuden und 2,2 Millionen Rubel für Versorgungseinrichtungen vorgesehen waren. Das enorme Wachstum der Stadt, das sie seit ihrer Ernennung zur Hauptstadt zu verzeichnen hatte, richtete sich vor allem in nördliche Richtung hin zum Bahnhof Almaty-1 und nach Westen. Am 17. Januar 1928 wurde Leo Trotzki nach Alma-Ata verbannt. Von dort wurde er 1929 in die Türkei ausgewiesen. Während des Zweiten Weltkriegs 1941 wurde der Stadtname im Kasachischen von Alma-Ata zu Almaty geändert, russisch blieb die Bezeichnung weiterhin Alma-Ata. In den Kriegsjahren 1941–1945 wurden viele Fabriken, Behörden und Institute aus dem von der deutschen Wehrmacht besetzten Westen der Sowjetunion nach Zentralasien verlegt. Allein nach Alma-Ata wurden über 30 Industriebetriebe, 15 Hochschulen, 20 Forschungsinstitute und die Filmstudios von Moskau, Leningrad und Kiew verlegt. So kam es, dass fast alle sowjetischen Propagandafilme der Kriegszeit in Alma-Ata gedreht wurden. Währenddessen kämpften viele Stadtbewohner an der Front. 48 von ihnen wurden mit dem Abzeichen „Held der Sowjetunion“ geehrt. In Alma-Ata bestand das Kriegsgefangenenlager 40 für deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs. Nachkriegsjahre und Perestroika Nach dem Krieg wuchs Alma-Ata in jeder Hinsicht schneller als je zuvor. Ein Jahr lang lebte hier Leonid Breschnew als Erster Sekretär des ZK Kasachstans, bevor er zum Generalsekretär der Partei aufstieg, und diese Bekanntschaft kam der Stadt während seiner Regierungszeit zugute. Am meisten wurde die kasachische Hauptstadt vom Republikoberhaupt Dinmuchamed Kunajew begünstigt, der von 1960 bis 1986 mit einer kurzen Unterbrechung regierte. Unter ihm bekam die Stadt im Wesentlichen ihr heutiges Aussehen und sie wurde zur Millionenmetropole. Der Name Kunajew weckt in Kasachstan selbst heute noch positive Assoziationen. 1978 trafen sich hier Delegationen von 123 Regierungen und 67 regierungsunabhängigen Organisationen zu einer WHO-Konferenz, die mit der Erklärung von Alma-Ata zu Basisgesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung endete und den Grundstein für die Ottawa-Charta von 1986 legte. Die Perestroika fing für Alma-Ata unter keinem guten Vorzeichen an. Im Dezember 1986 hatte das Plenum der ZK der Kasachischen SSR kurzerhand entschieden, Kunajew gegen Gennadi Kolbin auszutauschen, der das Land, die Leute und die Sprache nicht kannte. Daraufhin demonstrierten junge Leute auf einer Kundgebung gegen die Willkür des Zentralkomitees, die jedoch in einen Krawall ausartete (Scheltoksan-Unruhen). Es war die erste große Demonstration in der Sowjetunion seit zwei Jahrzehnten. Die kommunistische Führung reagierte erst verspätet mit einer militärischen Aktion zur Niederwerfung der Demonstration – „Metel’ 86“ („der Schneesturm 86“). Hunderte von Menschen wurden verhaftet, zwei Jugendliche später als Anstifter erschossen. Das Zentralkomitee beschrieb die Proteste als einen nationalistischen Aufstand. Kunajew verstarb 1993. Fast genau fünf Jahre nach der „Metel’ 86“, am 21. Dezember 1991, unterschrieben hier die Staatschefs der 12 Sowjetrepubliken die Alma-Ata-Erklärung über die Schaffung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und besiegelten damit den endgültigen Zerfall der Sowjetunion. Alma-Ata wurde zur Hauptstadt der unabhängigen Republik Kasachstan. Almaty 1993 wurde die Stadt erneut umbenannt, in Almaty, das heißt Stadt der Äpfel oder der Apfelbäume. Bald entschied sich die neue kasachische Führung, die Hauptstadt von Almaty nach Aqmola (heute Astana, früher Akmolinsk, Zelinograd und Nur-Sultan) zu verlegen. Das „Gesetz über den Sonderstatus von Almaty“ garantiert jedoch der Stadt den Erhalt einer besonderen Stellung als historisches Wissenschafts-, Kultur- und Finanzzentrum Kasachstans. In Almaty verblieben einige Regierungsorganisationen, 36 ausländische Botschaften und Konsulate, Vertretungen der UNO und UNESCO. Der Umzug der Hauptstadt wurde mit der Erdbebengefährdung der Region um Almaty und mit der Platzknappheit für neue Bauprojekte begründet. Eine Rolle spielte mit Sicherheit die demografische Situation im Norden Kasachstans, wo die Mehrheit der Bevölkerung russischstämmig ist. Dieses würde einer eventuellen Abspaltung entgegenwirken. Dennoch bleibt Almaty ein wichtiges kulturelles, wissenschaftliches und wirtschaftliches Zentrum des Landes. Während der Proteste in Kasachstan Anfang Januar 2022 war Almaty ein Schwerpunkt von gewalttätigen Unruhen. Am Nachmittag des 5. Januar wurde das Gebäude der Stadtverwaltung gestürmt und in Brand gesetzt, daneben gab es Angriffe auch auf andere Regierungsgebäude und Polizeiwachen. Aus verschiedenen Teilen der Stadt wurden Schusswechsel zwischen bewaffneten Menschen und Angehörigen von Polizei und Militär gemeldet. Am späten Abend wurde auch der Flughafen der Stadt von Demonstrierenden besetzt; es kam zu Plünderungen von Bankfilialen und Geschäften. In den folgenden Tagen brachten die Sicherheitsbehörden die Stadt im Rahmen einer „Anti-Terror-Operation“ wieder unter ihre Kontrolle; dabei sollen Angaben der Regierung zufolge allein in Almaty mehr als 100 Menschen getötet und hunderte weitere verletzt worden sein. Politik Bis 1997 war Almaty Hauptstadt Kasachstans und des gleichnamigen Gebiets. Jetzt allerdings ist sie keines von beidem, denn die Hauptstadt wurde nach Aqmola (heute Astana) und die Gebietshauptstadt nach Taldyqorghan verlegt. Obwohl das Gebiet immer noch „Almaty Oblysy“ heißt, ist Almaty kein Teil davon. Sie ist eine autonome „Stadt mit Sonderstatus“, von denen es in Kasachstan noch zwei weitere gibt – Astana und Baikonur. Bürgermeister Derzeitiger Bürgermeister (Äkim) von Almaty ist seit dem 31. Januar 2022 Jerbolat Dossajew. Während sowjetischer Zeit stand der Stadtverwaltung der Vorsitzende des Exekutivausschusses vor. Nachfolgend die Bürgermeister der Stadt seit 1992: Städtepartnerschaften Almaty unterhält 16 Städtepartnerschaften mit Städten in Afrika, Asien, Europa und Nordamerika. Die erste Städtepartnerschaft wurde 1989 mit Tucson in den Vereinigten Staaten geschlossen, die letzte 2004 mit dem bulgarischen Warna vereinbart. Außerdem unterhält der Stadtbezirk Medeu eine Partnerschaft mit Alpen am Niederrhein in Deutschland. In der folgenden Tabelle sind die Orte, mit denen Almaty Städtepartnerschaften eingegangen ist (geordnet nach Jahr der Abschließung), aufgelistet: Bevölkerung Bevölkerungsstruktur Seit 1981 ist Almaty eine Millionenmetropole, eine der größten Städte der ehemaligen Sowjetunion und nach Taschkent die zweitgrößte Stadt Zentralasiens. Rund 8 % der Bevölkerung Kasachstans lebt in Almaty. Das Bevölkerungswachstum betrug in den letzten Jahren ca. 0,6 %, die Sterblichkeitsrate wurde von der Geburtenrate um fast 30 % übertroffen. Zum 1. Januar 2015 lebten rund 1,642 Mio. Menschen in Almaty, von denen 0,75 Mio. männlich und 0,89 Mio. weiblich waren, wodurch sich ein Geschlechterverhältnis von dementsprechend etwa 45 zu 55 Prozent (m/w) ergab. Etwa 16 Prozent der Bevölkerung waren Kinder bis neun Jahre. Rund ein Viertel der Einwohner waren unter 20 Jahre alt. Zu den Aksakalen, wie die ehrbaren alten Männer und Frauen von über 80 Jahren in Kasachstan genannt werden, zählen ungefähr 1,5 %. 2003 sind 5630 Menschen ins Ausland verzogen, 839 davon nach Deutschland. Zugezogen sind 5496 Menschen, davon 1174 aus China und 46 aus Deutschland. Der Saldo der inneren Migration betrug + 18.658 Menschen. Nationalitäten Almaty ist eine internationale und kosmopolitische Stadt, in der Vertreter von annähernd 120 Nationen leben. Bis vor kurzem stellten Russen die Mehrheit in der Stadtbevölkerung dar – was bei den meisten Großstädten Kasachstans der Fall war. In der Zarenzeit waren laut der ersten Bevölkerungszählung von 1897 sogar 58 % der Bewohner russisch. Die Kasachen kamen mit nur 8,2 % sogar erst an dritter Stelle hinter den Uiguren mit 8,7 %. Bedingt durch die geographische Nähe des Uigurischen Autonomen Gebiets Xinjiang in der Volksrepublik China, zählen sie auch heute noch zur drittstärksten Minderheit der Stadt. Heute sind die Russen mit 33 % und die Kasachen mit 51,1 % vertreten. Traditionell leben im Umkreis von Almaty die Kasachen des Älteren Shus, Sippe Dshany des Stammes Dulat bzw. Sippen Tschibyl und Aikym des Stammes Schapraschty. In der Stadt selbst ist die Stammeszugehörigkeit der kasachischen Bevölkerung höchst unterschiedlich und teilweise gar nicht mehr ermittelbar. Außer den Uiguren sind viele andere Turkvölker vertreten, wie Aserbaidschaner, Türken, Tataren und die ostturkestanischen Dunganen oder Dschungaren. Stärkste slawische Minderheit nach den Russen sind die Ukrainer mit 1,2 %. Viertgrößte Bevölkerungsgruppe mit einem Anteil von 1,9 % in Almaty sind Koreaner, die in Kasachstan und anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion sich selbst auch als Korjo-Saram bezeichnen und unter Stalin aus dem russischen fernen Osten nach Zentralasien verschleppt wurden. Der Anteil der Deutschen beträgt nur noch 0,6 %. Vor 15 Jahren gab es weitaus mehr Deutsche in Almaty, doch auch damals zählten sie kaum mehr als 3 %, denn deren Hauptsiedlungsgebiete waren vorwiegend Nord- und Zentralkasachstan. Bei diesen Zahlen ist die starke zwischenstaatliche Migration zu beachten, die durch den Fall der Sowjetunion ausgelöst wurde. Nach deren Auflösung haben viele Russen, Ukrainer, Deutsche und Juden die Stadt und häufig auch das Land verlassen. Seit dem Ende der 1990er Jahre stabilisierte sich die Wirtschaftslage jedoch und die Migration ebbte deutlich ab. In den letzten Jahren kehrte sich der Trend sogar vollständig um, es wanderten zahlreiche Menschen aus ärmeren ehemaligen Sowjetrepubliken nach Almaty ein. Die Hauptverkehrssprache ist, wie in den meisten Teilen Kasachstans, Russisch. Die Regierung bemüht sich seit der Unabhängigkeit aber, die kasachische Sprache ebenso wieder in der Bevölkerung zu verbreiten. Straßenschilder oder offizielle Dokumente sind meist zweisprachig. Daneben sind auch die Sprachen der jeweiligen Minderheiten in der Stadt verbreitet. Einwohnerentwicklung Almaty hat heute rund 1,9 Millionen Einwohner und ist somit die größte Stadt Kasachstans. Hatte die Stadt zur Zeit ihrer Gründung nur rund 400 Einwohner, stieg ihre Bevölkerungszahl bis zum Mai 1859 bereits auf 5.000 Einwohner an. In den folgenden Jahren stieg die Einwohnerzahl weiter an und erreichte 1913 bereits die Marke von 40.000 Einwohnern. Die Volkszählung 1926 ergab für das damalige Alma-Ata eine Bevölkerungszahl von 45.600 Menschen; nur 13 Jahre später zählte die Stadt mehr als 200.000 Einwohner. Seit 1982 ist Almaty eine Millionenstadt. Der rasante Bevölkerungsanstieg der letzten Jahre ist vor allem auf die Erweiterung der Stadtgrenzen zurückzuführen, wodurch viele umliegende Orte ins Stadtgebiet eingegliedert wurden und die Einwohnerzahl im Jahr 2014 um beinahe 150.000 zunahm. ¹ Volkszählungsergebnis Religionen Die meisten Kasachen sind Muslime und gehören der sunnitischen Glaubensrichtung an. Der Großteil der Kasachen nahm ab dem 14. Jahrhundert unter dem Einfluss der Goldenen Horde den Islam an. Im Zusammenhang mit der Perestroika kam es Ende der 1980er Jahre auch bei den Muslimen Kasachstans zu einem Reformprozess. Im November 1989 kamen zahlreiche Imame in Almaty zusammen und gründeten die „Geistliche Verwaltung der Muslime Kasachstans“ (Dukhovnoe upravlenie musul'man Kazakhstana DUMK). Die Delegierten der DUMK wählten im Januar 1990 fünf Qazis, von denen einer für Almaty zuständig war. Die DUMK gründete außerdem 1990 ihr Höheres Islamisches Institut in Almaty, das eine zweijährige religiöse Ausbildung anbot, die im Jahre 1996 bereits 300 Studenten durchlaufen hatten. Die DUMK errichtete darüber hinaus im Stadtgebiet neue Moscheen, so auch die große Zentralmoschee, die 1997 eröffnet wurde. In den 1990er Jahren kam es bei den Muslimen Kasachstans zu einer Annäherung an die arabisch-islamischen Staaten. So unterstützten bereits 1997 arabische Stiftungen den Aufbau der Kasachisch-Arabischen Universität und der Kasachisch-Kuwaitischen Universität in Almaty. Nachdem die DUMK ihr Höheres Islamisches Institut geschlossen hatte, eröffnete sie als Ersatz dafür im Jahre 2001 die Ägyptische Universität für Islamische Kultur Nur-Mubarak, ein Kooperationsprojekt mit dem ägyptischen Ministerium für religiöse Stiftungen. Diese Hochschule beherbergt ebenfalls eine Moschee. Die meisten Christen in Almaty sind Mitglieder der Russisch-Orthodoxen Kirche. Die bedeutendsten russisch-orthodoxen Kirchengebäude sind die Anfang des 20. Jahrhunderts errichtete Christi-Himmelfahrt-Kathedrale, die eine der größten Sehenswürdigkeiten der Stadt ist, und die Nikolaus-Kathedrale. Almaty ist auch zweiter Sitz der russisch-orthodoxen Eparchie Astana und Almaty. In Almaty befindet sich außerdem eine Gemeinde der römisch-katholischen Kirche, die vorwiegend aus den deutschen und polnischen Minderheiten besteht. Die Stadt ist zudem Sitz des Bistums Allerheiligste Dreifaltigkeit zu Almaty mit der Dreifaltigkeitskathedrale. Eine kleine Gemeinde der Armenisch Apostolischen Kirche wurde erst 1994 gegründet. Sie unterhält mit der Kirche des Heiligen Karapet eine von nur drei armenisch apostolischen Kirchen in ganz Zentralasien; die zwei anderen befinden sich in Samarkand und Taschkent in Usbekistan. Die Gemeinde gehört zur armenisch apostolischen Diözese Neu-Nachitschewan und Moskau. Des Weiteren gibt es eine hohe Anzahl an evangelischen Freikirchen, deren Einfluss sich bereits im 19. Jahrhundert erkennbar machte. Die katholischen Gemeinden bestehen meist aus Deutschen und Polen, die nach dem Zweiten Weltkrieg dort ansiedelten. Kultur und Sehenswürdigkeiten Das Kulturleben der südlichen Hauptstadt Kasachstans ist für zentralasiatische Verhältnisse außerordentlich reich und vielfältig. Der Name bedeutet wörtlich Vater des Apfels, die Stadt ist bekannt für ihre Äpfel. Insbesondere die Sorte Aport gilt als prestigeträchtig. Theater, Musik, Film Von den Theatern besitzt die Stadt neun staatliche und sieben nichtstaatliche. Das Staatliche Akademische Theater für Oper und Ballett, das den Namen Abai – nach Abai Qunanbajuly – trägt, ist das älteste und bedeutendste nicht nur der Stadt, sondern auch der Republik. Erwähnenswert sind außerdem noch das Staatliche Akademische Äuesow-Theater, das Staatliche Akademische Lermontow-Theater für Drama, das Theater 'Nowaja Szena', die Nationalen Theater der Russen, Deutschen, Koreaner und Uiguren, sowie drei Puppentheater. In der Kasachischen Staatlichen Shambyl-Philharmonie kann man den Konzerten des Staatlichen Symphonieorchesters, des Staatlichen Blasorchesters, des Staatlichen Ethnographischen Orchesters, des Qurmanghazy-Orchesters für Volksmusikinstrumente und der Baikadamow-Chorkapelle beiwohnen. Darüber hinaus gibt es einige städtische Orchester und Ensembles wie das Symphonische Orchester des Akim von Almaty, das Ballett „Samruk“, die Ensembles „Saltanat“, „Gulder“, „Sasgen Sasy“ und andere. Kasachfilm Studio: In Almaty ist das einzige staatliche Filmstudio Kasachstans, 'Kasachfilm', wo in jüngster Zeit das monumentale historische Epos „die Nomaden“ von Ilias Jessenberlin verfilmt wurde. Im Vergleich zu den Sowjetzeiten ist die Aktivität des Filmstudios allerdings gesunken. Der Kulturpalast der AChBK wurde geschlossen. In Almaty wurde 2017 eine dem Film Igla (russisch: Игла) gewidmete Gasse eröffnet: Auf einem mit Steinen gesäumten Weg wurden Metallplatten mit Zitaten des berühmten russischen Sängers Wiktor Zoi verlegt. Am 21. Juni 2018 wurde am Anfang dieser Gasse ein Denkmal für Wiktor Zoi eröffnet. Museen Das Zentrale Museum der Republik Kasachstan ist eines der ältesten und größten Museen in Kasachstan. Gegründet wurde es 1931 und war zuerst im Gebäude der geschlossenen Christi-Himmelfahrt-Kathedrale untergebracht. Das Museum beschäftigt sich mit der Geschichte des Landes. Ein weiteres bedeutendes Museum ist das Staatliche Kastejew-Museum der Künste. Mit rund 22.000 Kunstgegenständen ist es eines der größten Kunstmuseen in Zentralasien. Die Sammlung umfasst vor allem Exponate aus Kasachstan und Russland aber auch aus Europa und Asien. Das Yqylas-Museum für Volksmusikinstrumente befindet sich am Park der 28 Panfilowzy und ist in einem historischen Gebäude aus dem Jahr 1908 untergebracht. Ausgestellt werden hier hauptsächlich kasachische Musikinstrumente, daneben gibt das Museum auch Einblick in die Entstehung der kasachischen Volksmusik. Das Museum Almaty wurde erst 2001 eingerichtet und beschäftigt sich mit dem historischen und kulturellen Erbe der Region Schetissu. Die Sammlung umfasst etwa Haushaltsgegenstände verschiedener Epochen und Kulturen, Numismatik, Fotos und Dokumente. Das Republikanische Buchmuseum ist ein Museum für Literaturgeschichte und das Verlagswesen Kasachstans. Es verfügt über eine Sammlung von mehr als 500 seltenen Büchern und Manuskripten vom 18. bis 20. Jahrhundert. 2010 wurde im Gebäude der Akademie der Wissenschaften ein Wissenschafts- und Museumszentrum eingerichtet, das mehrere Museen unter einem Dach vereint. Das Archäologische Museum Kasachstans wurde 1973 gegründet und zeigt in seiner Ausstellung alle Perioden der alten Geschichte Kasachstans von der Steinzeit bis zum Mittelalter. Es zeigt einzigartige Materialien von großer Bedeutung aus Ausgrabungen von Grabstätten der Bronzezeit und aus den mittelalterlichen Städten im Süden Kasachstans. Seit 2012 befindet sich auch das Naturmuseum Kasachstans hier. Hier werden versteinerte Überreste von Tieren und Pflanzen sowie Skelette von Dinosauriern und anderen Lebewesen gezeigt, die allesamt in Kasachstan gefunden wurden. Das Museum für die Geschichte der kasachischen Wissenschaft beschäftigt sich mit den Werken mittelalterlicher Denker wie al-Fārābī, Ahmed Yesevi oder Mirza Muhammad Haidar Dughlat. Aber auch das Leben und Werk der kasachischen Pädagogen des 19. Jahrhunderts wie Ybyrai Altynsarin, Abai Qunanbajuly oder Schoqan Uälichanuly werden thematisiert. Das Museum der seltenen Bücher enthält historische, kulturelle und wissenschaftliche Manuskripte und Bücher, die in Kasachstan entstanden sind. Außerdem gibt es eine Reihe biografischer Museumshäuser, die sich mit dem Leben und Wirken bekannter kasachischer Persönlichkeiten beschäftigen. Das Hausmuseum Äuesow ist dem Schriftsteller Muchtar Äuesow gewidmet. Es gibt außerdem noch den Staatlichen Literatur- und Gedenkmuseumskomplex für Ghabit Müssirepow und Säbit Muqanow sowie Hausmuseen für den Schriftsteller Achmet Baitursynuly, den Maler Äbilchan Qastejew und den Politiker Dinmuchamed Kunajew. Weltliche Bauten Das älteste noch erhaltene Gebäude der Stadt stammt von 1892. Dort residierte einst ein Kinderpflegeheim, heute ist dort das städtische Medizinkolleg. Im einst prunkvollen, reichen Stil erbaut ist das Geschäftshaus des Kaufmanns Gabdulwalijews, der heute den Namen „Kysyltan“ trägt. Typische Vertreter des russischen Kolonialstils des 19. Jahrhunderts sind die städtische Lehranstalt, das Jungengymnasium, das Mädchengymnasium und das Offiziershaus im Park der 28 Panfilowzy (heute: Museum der Volksmusikinstrumente). In den 1930er und 1940er Jahren errichtete man viele ansehnliche Gebäude, darunter das Akademische Theater für Oper und Ballett und die ehemaligen Häuser der Regierung und des Finanzministeriums. Die Akademie der Wissenschaften, das Kinder- und Jugendtheater sowie der Bahnhof Almaty II folgten in den 1950er Jahren. 1970 wurde der Palast der Republik und in den späten 1970er Jahren das Hotel Kasachstan errichtet, das mit seinen knapp 130 Metern lange Zeit das höchste Gebäude Kasachstans war. Der Fernsehturm Almaty auf dem Berg Kök-Töbe ist mit seinen 371,5 Metern eines der höchsten Bauwerke der Welt. Jüngeren Datums ist der Nurly Tau Gebäudekomplex im Süden der Stadt. Nurly Tau 1 erreicht mit 28 Etagen eine Höhe von 109 Metern und ist damit das zweithöchste Gebäude Almatys. Almaty verfügt über 13 Ausstellungshallen und Kunstgalerien (Zentrale Ausstellungshalle, „Tengri-Umaj“, „Tribuna“, „Ular“, Art-Zentrum „Alma-Ata“, Salon der Kunst und Numismatik etc.) sowie 12 Kinos (darunter: das Filmtheater Arman). Der Zirkus Almaty ist der älteste Zirkus in Kasachstan. Sakralbauten Die Hauptsehenswürdigkeit der Stadt ist die Heilige Christi-Himmelfahrt-Kathedrale (Sofienkathedrale von Turkestan), der 1907 erbaute Sitz des Bischofs von Turkestan. Die Kathedrale ist im „russischen“ Stil erbaut worden, deren Formen, Ornamente und die helle Farbenfröhlichkeit an die Terems erinnert, die alten russischen Paläste (ein Beispiel hiervon ist der Terem-Palast im Moskauer Kreml). Diese Kathedrale mit ihren Gewölben, Kuppeln, dem Glockenturm und einem System von Treppen und Galerien wird häufig mit der Basilius-Kathedrale in Moskau verglichen, der man die Züge des Barock verliehen hat. Die Kirche wurde in den russischen Katalog der 100 Weltwunder aufgenommen. Die Kathedrale wurde vom Architekten A. P. Senkow geschaffen. Die Stadt Almaty (damals Werny) liegt in einem besonders erdbebengefährdeten Gebiet. Im Jahre 1887 geschah hier ein Erdbeben, das zehn Minuten dauerte und die ganze Stadt in Schutt und Asche legte. Damals merkte man, dass die Bauten aus Holz am wenigsten Schaden davontrugen, und so ist die Kathedrale vollständig aus Holz (genauer gesagt aus dem Tannenholz von Tian-Shan) errichtet worden. Senkow verwendete beim Bau nicht nur die neuesten architektonischen Erkenntnisse der damaligen Zeit, sondern er richtete sich auch nach historischen Vorbildern, wie die in seismisch aktiven Gebieten stehenden japanischen Pagoden. Das Ergebnis war, dass die Turkestan-Kathedrale als eines der wenigen Gebäude die zwei großen Erdbeben von 1910 und 1921 unversehrt überstand. Überraschenderweise ist die Kirche kein einziges Mal in Flammen aufgegangen und bleibt somit eine der wenigen vollständig erhaltenen hölzernen Sakralbauten der Welt. Aus der Zarenzeit erhalten geblieben sind außer der Christi-Himmelfahrt-Kathedrale noch die Nikolaus-Kathedrale, die Peter-und-Paul-Kirche und die Kasaner Kathedrale. Die letzte ist in einem an ukrainisches Barock erinnernden Stil erbaut. In den 1990er Jahren wurde, in Anlehnung an die Moskauer Kathedralen, die orthodoxe Christus-Erlöser-Kathedrale erbaut. 2007 wurde die Sophienkathedrale neu erbaut. Im Norden der Stadt befindet sich die Paraskewi-Kirche. Alle heute in Almaty stehenden Moscheen wurden erst in den 1990er Jahren erbaut. Besonders schön sind die Zentralmoschee, die Sultan-Kurgan-Moschee, die Moschee am Ryskulow-Prospekt, die Moschee im Orbita-Stadtviertel und die Nur-Mubarak-Moschee der Islamischen Universität. Die Tatarische Moschee des alten Werny ist hingegen nicht erhalten geblieben. Des Weiteren gibt es eine moderne römisch-katholische Kathedrale der Heiligen Dreifaltigkeit. Sport Der Fußballverein Kairat Almaty war zu Zeiten der Sowjetunion der Vorzeigeklub der Kasachischen SSR. Mit insgesamt 24 Spielzeiten in der höchsten Spielklasse der Sowjetunion ist Kairat Spitzenreiter für Mannschaften aus den zentralasiatischen Teilrepubliken und liegt in der ewigen Tabelle der Sowjetischen Liga auf dem vierzehnten Platz, knapp vor Pachtakor Taschkent. Heute nimmt der Verein am Spielbetrieb der Premjer-Liga teil, in der bereits zweimal die Meisterschaft gefeiert werden konnte. Darüber hinaus gewann Kairat siebenmal den Kasachischen Fußballpokal. Seine Heimspiele trägt der Verein im Zentralstadion von Almaty aus; er ist aus dem Sportverein Dinamo Alma-Ata hervorgegangen. In der zweiten kasachischen Liga ist die Stadt durch Zesna Almaty vertreten. In der Stadt sind auch die Frauenfußballmannschaft von CSHVSM Almaty und der Futsalverein MFK Kairat Almaty beheimatet. Die Eishockeymannschaft HK Almaty nimmt an der Kasachischen Meisterschaft teil. Im Fraueneishockey wird die Stadt durch den Club Aisulu Almaty vertreten. Der Basketballverein BC Almaty spielt in der kasachischen National League. Etwa 16 km südlich von Almaty befindet sich die international bekannte Eisschnelllaufbahn von Medeo. Die Bandy-Weltmeisterschaft 2012 wurde dort ausgetragen. Am 14. und 15. Februar 2015 fand in Medeo der WM-Grand-Prix von Kasachstan im Eisspeedway statt. In Almaty befinden sich auch mehrere Skisprungschanzen. Ursprünglich gab es eine K 15, eine K 35, eine K 45 und eine K 70 Schanze, die aber abgerissen wurde. Für die Winter-Asienspiele 2011 wurden eine Normalschanze (K 95) und eine Großschanze (K 125) gebaut. Ende September 2010 wurden die beiden Schanzen mit einem Continental-Cup-Springen eröffnet. Beide Springen gewann der Pole Kamil Stoch. Am 30. August 2011 fand hier ein Sommer-Grand-Prix statt, den der Slowene Jurij Tepeš gewann. Der Schanzenkomplex heißt Gorney Gigant. Almaty bewarb sich um die Austragung der Nordischen Skiweltmeisterschaften 2019 sowie – ebenso vergeblich – um jene der Olympischen Winterspiele 1994, 2014 und 2022. Natur und Freizeit Die Stadt der Äpfel besitzt zahlreiche Parks und Erholungsanlagen. Baum-Hain: Der älteste Park – Baum-Hain genannt – wurde noch in Zeiten des Russischen Reiches von einem deutsch-russischen Botanikerpaar angepflanzt. Zentraler Park für Kultur und Freizeit: Der Zentrale Park für Kultur und Freizeit, ehemals Gorki-Park, wurde kurz nach der Gründung der Stadt angelegt. Springbrunnen, Statuen, viele zum Teil exotische Blumen und Bäume, Minieisenbahn, ein See und die Bootsfahrten mit schneebedeckten Gipfeln des Tian-Shan im Hintergrund machen diesen Park zum beliebtesten Erholungsort in der ganzen Stadt. Heute sind dort viele Karussells und sonstige moderne Attraktionen wie z. B. ein Aqua-Park installiert. Der Park der 28 Panfilowzy befindet sich im Stadtzentrum. Erholungsparks: Von den modernen Erholungsparks nach dem Muster von Disneyland gibt es in Almaty noch drei weitere: Phantasiepark Ajja, Park 'Bobek' , und Park 'Family'. Zoo: Tierliebhaber können im großen Zoo von Almaty Elefanten, Nilpferde, Krokodile sowie viele andere Tierarten beobachten. Allerdings bewegt sich der Zoo nach westlichem Verständnis auf einem niedrigen Niveau. Viele Tiere sind in viel zu kleine Gehege und Käfige eingepfercht, werden ununterbrochen von den Besuchern mit ungeeigneter Nahrung versorgt und zeigen erhebliche Verhaltensstörungen. Wintergarten der Akademie der Wissenschaften: Exotische Pflanzen sind im Wintergarten der Akademie der Wissenschaften zu betrachten. Wirtschaft und Infrastruktur Wirtschaftliche Situation Almaty ist das wirtschaftliche Zentrum Südkasachstans und neben Astana eines der wirtschaftlichen Zentren des Landes. Das Bruttoinlandsprodukt betrug im Jahr 2013 rund 42,6 Mrd. US-Dollar und betrug somit mehr als das Doppelte der Wirtschaftsleistung der Hauptstadt Astana. Der Anteil an der Gesamtwirtschaftsleistung Kasachstans belief sich auf 19 Prozent. Der überwiegende Teil der Wirtschaftsleistung stammt aus dem Dienstleistungssektor (hier vor allem Großhandel, Einzelhandel, Informations- und Kommunikationswesen, Transport und Lagerwesen sowie Immobilienwirtschaft) und nur rund zehn Prozent entfallen auf die Industrie. Der Landwirtschaftssektor hat mittlerweile keine Bedeutung mehr für die Wirtschaftsleistung von Almaty. Auch der Tourismus und das Finanzwesen tragen einen bedeutenden Teil bei; beinahe ein Drittel aller Beschäftigten im kasachischen Finanzsektor sind in Almaty beschäftigt. Der Stadt kommt als Verteilungszentrum für Güter und als Drehkreuz für internationale Organisationen und Unternehmen eine wichtige Rolle in der regionalen Wirtschaft zu. Das monatliche Einkommen pro Kopf beträgt rund 169.000 Tenge und ist damit wesentlich höher als der Landesdurchschnitt. Die Anzahl der Erwerbstätigen in der Stadt im ersten Quartal 2016 betrug 889.047 Personen, was zu einer Arbeitslosenquote von 5,3 Prozent führt. Die Struktur der industriellen Produktion sieht wie folgt aus: Am 1. Januar 2005 waren in der Stadt 1668 Betriebe registriert, davon 168 Groß- und Mittelbetriebe, auf die fast 78 % der städtischen Produktion entfällt. Die Palette der erzeugten Industriegüter ist sehr breit. Die Nahrungsmittelindustrie produziert Tee, Weine, Süßwaren, Nudeln, Milch- und Fleischprodukte; in anderen Bereichen werden Waschmaschinen, Fernseher, Teppiche, Lederschuhe, Trikotagen, Ziegelsteine, Metallkonstruktionen und vieles mehr hergestellt. Der Außenhandel umfasste 2004 5.294,6 Mio. US$, die Quote der Arbeitslosen lag bei 8,9 %, die Durchschnittslöhne erreichten 192 US$ pro Monat. Über 577.000 Menschen in der südlichen Hauptstadt waren 2003 erwerbstätig. Das Mega Center Alma-Ata ist eines der größten Einkaufszentren in ganz Kasachstan. Zudem beherbergt Almaty das größte Einkaufszentrum in Zentralasien, die Aport Mall. Almaty ist der größte Messestandort Kasachstans. Das Atakent Expo Exhibition Centre, in dem die Messen stattfinden, ist das einzige Messezentrum des Landes. Die bedeutendsten Messen, die in Almaty veranstaltet werden, sind die WorldFood Kazakhstan, die KazBuild, die Kazakhstan International Healthcare Exhibition, die Kazakhstan International “Oil & Gas” Exhibition, die MiningWorld Central Asia und die Kazakhstan International Tourism Fair. Ansässige Unternehmen Ein wichtiger Wirtschaftszweig ist die Lebensmittelherstellung. So befinden sich die meisten bedeutenden Lebensmittelhersteller in der Stadt. Unter diesen sind Rakhat, der größte Süßwarenhersteller Kasachstans. Auch der Spirituosenhersteller Bacchus und RG Brands, ein Getränkehersteller, sind in Almaty ansässig. Almaty ist auch Kasachstans wichtigster Finanzstandort und das Versicherungszentrum des Landes. So haben, wie die Kazkommertsbank, die Halyk Bank, die ATFBank und die BTA Bank, fast alle bedeutenden Kreditinstitute Kasachstans ihren Hauptsitz in Almaty. Trotz der Verlegung der Hauptstadt nach Astana sind dennoch einige Staatsunternehmen wie etwa die Kazpost, Kazatomprom oder Air Astana in Almaty geblieben. Auch die Einzelhandelsunternehmen Meloman, die ABDI Company und Sulpak haben ihren Hauptsitz in Almaty. Im Süden der Stadt befindet sich die Kasachische Börse, die einzige Börse im Lande. Almaty ist ebenfalls Standort der meisten an der Börse gehandelten Unternehmen, wie etwa Kasachstan Kagazy, Almatyenergosbyt und KazTransCom. Gleichzeitig ist die ehemalige Hauptstadt der größte Medienstandort des Landes. Zahlreiche kasachische Fernsehsender, Rundfunksender und Zeitungen sind in der Stadt angesiedelt. Verkehr Nahverkehr Busse Der öffentliche Nahverkehr in Almaty wird zum größten Teil durch das kommunale Unternehmen Almatyelektrotrans (AET) organisiert. Es betreibt mehr als 100 Buslinien sowie derzeit acht Oberleitungsbuslinien. Da nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht genügend finanzielle Mittel für den Betrieb und die Unterhaltung der öffentlichen Verkehrssysteme bereitgestellt wurde, verschlechterte sich der Zustand des Oberleitungsbus- und Straßenbahnsystems zunehmend. So wurde das Liniennetz in den letzten Jahren stetig verkleinert, sodass von den ursprünglich 25 O-Bus-Linien nur noch acht in Betrieb sind. Der Großteil des ÖPNV wird nach wie vor durch die zahlreichen Busse erbracht, die mittlerweile vollständig privatisiert sind. Um die Kontrolle über die Entwicklung des innerstädtischen Transports zu verbessern, begann die Stadt in den späten 1990er Jahren das Bussystem an private Anbieter auszugliedern. Dies führte allerdings nur zu einer Verschlechterung der Qualität im Nahverkehr, da die privaten Betreiber oft kleine Fahrzeuge mit wenigen Sitzen einsetzten. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, führte man 2005 strengere Anforderungen für Betreiber ein, um Minibusse aus dem städtischen Verkehr wieder zu verbannen. Unter Führung des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen begann 2013 die Optimierung und Modernisierung des Transportsystems der Stadt, was unter anderem die Anschaffung neuer Busse und die Optimierung des Liniennetzes vorsieht. Von den beiden Busstationen Sairan und Saychat bestehen regionale und überregionale Verbindungen. Oberleitungsbusse Seit 1944 gibt es in Almaty, wie in vielen Städten der Sowjetunion auch, Oberleitungsbusse. In seiner größten Ausdehnung umfasste das Liniennetz des Oberleitungsbus Almaty eine Länge von 220 Kilometern auf 25 Linien; es wurde aber insbesondere in den 1990er Jahren massiv verkleinert und umfasst heute nur noch acht Linien. Nachdem in den letzten Jahren alle anderen Oberleitungsbussysteme in Kasachstan den Betrieb eingestellt haben, ist jenes in Almaty das letzte verbliebene System in Kasachstan. Straßenbahnen Bis 2015 betrieb AET auch ein Straßenbahnnetz, bestehend aus zwei Linien, deren Betrieb aufgrund maroder Infrastruktur und häufigen Unfällen mit Straßenbahnen bis auf weiteres eingestellt wurde. U-Bahnen Seit 2011 gibt es in der Stadt auch eine U-Bahn. Mit der Metro Almaty, deren Bau bereits 1988 begonnen hatte und deren Eröffnung mehrfach verschoben wurde, gibt es das erste Untergrundbahnnetz Kasachstans. Es verfügt über zunächst eine Linie mit neun Stationen, eine Erweiterung um zwei weitere Stationen ist für 2019 geplant. Fernverkehr Seit der Fertigstellung der Turksib (1930) ist Almaty auch per Zug erreichbar. Heute besitzt die Stadt zwei große Bahnhöfe, Bahnhof Almaty-1 und Bahnhof Almaty-2; außerdem noch einige kleinere Stationen der Regionalbahnen. Von Moskau erreicht man Almaty in vier Tagen ohne umzusteigen. Luftverkehr Seit 1935 besteht der Flughafen Almaty, er liegt etwa 18 km außerhalb des Stadtzentrums. 1977/78 führte von Alma-Ata nach Moskau die erste Überschall-Flugverbindung der Welt (mit Tupolew Tu-144 als Passagierflugzeug). Heute gibt es verschiedene, tägliche internationale Flugverbindungen. Die Regionalflughäfen im Lande werden ebenfalls täglich angeflogen. Nordwestlich der Stadt liegt noch der kleine Flughafen Almaty-Boraldai. Ab Frankfurt am Main gibt es eine tägliche Verbindung durch die Lufthansa. Bildung In Almaty gibt es eine Vielzahl von Schulen und Hochschulen. Neben 187 Mittelschulen gibt es 16 Gymnasien und Lyzeen. Den mittleren Berufsabschluss können junge Stadtbewohner an 21 Staats- und Republikskollegien bzw. 57 privaten Kollegien erwerben. Es gibt eine intensive Zusammenarbeit mit Schulen in Deutschland und Frankreich. Almaty verfügt über 13 Universitäten: Al-Farabi-Universität Kasachische Nationale Agraruniversität Kasachische Nationale Pädagogische Universität Kasachische Nationale Medizinische Universität Sätbajew-Universität Staatliche Juristische Universität von Almaty Zentral-asiatische Universität Deutsch-Kasachische Universität (auch Kasachisch-deutsche Universität genannt) Kasachisch-Britische Technische Universität Kasachisch-Amerikanische Universität Narxoz-Universität Technologische Universität Almaty Universität „Kainar“ Universität „Turan“ Universität des Fernsehen und Kino Weiterhin existieren Fachhochschulen und Akademien, von denen folgende erwähnenswert sind: Kasachisches Institut für Management, Wirtschaft und Prognostizierung (KIMEP) Internationale Business-Akademie Kasachische Akademie des Transport und der Kommunikationen Kasachische Akademie des Sports und Tourismus Akademie der Arbeit und Sozialer Beziehungen Akademie des Internationalen Journalismus Kasachische Nationale Shurgenow-Kunstakademie: bietet Hochschulbildung im Bereich der Künste Kasachisches Nationalkonservatorium: bietet künstlerische Studiengänge im Bereich Musik sowie Geschichte der Musik an Wissenschaftliche Forschung konzentriert sich an der 1946 von Kanysch Imantajewitsch Satpajew gegründeten Kasachischen Akademie der Wissenschaften. Sie ist auch die oberste wissenschaftliche Anstalt Kasachstans. In den Bergen bei Almaty stehen mehrere Sternwarten (Assy-Turgen Observatory, Tian Shan Observatory), die vom Astrophysikalischen Institut Fessenkow betrieben werden. 30 Bibliotheken: die Nationale Bibliothek der Republik Kasachstan, die Zentrale Städtische Tschechow-Bibliothek, die Republikanische Begalin-Kinderbibliothek etc. Persönlichkeiten Söhne und Töchter: Almaty ist Geburtsort zahlreicher prominenter Persönlichkeiten. Literatur Aitzhan Sh. Nurmanova, Asilbek K. Izbairov: Islamic education in Soviet and post-Soviet Kazakhstan. In: Michael Kemper, Raoul Motika, Stefan Reichmuth (Hrsg.): Islamic Education in the Soviet Union and Its Successor States. Routledge, London 2010, S. 280–312. Weblinks Offizielle Webseite der Stadt Almaty (englisch, kasachisch und russisch) Fotos der Stadt (englisch und russisch) Dorte Huneke: Arbeiten in der Steppe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 274/2007, 24. November 2007, S. C4. Almaty beim Internationalen Informationszentrum der Republik Kasachstan (englisch) Einzelnachweise Stadt republikanischer Bedeutung (Kasachstan) Millionenstadt Ehemalige Hauptstadt (Kasachstan) Ort in Asien Hochschul- oder Universitätsstadt Stadtrechtsverleihung 1867
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https://de.wikipedia.org/wiki/Aldi
Aldi
Als Aldi (Eigenschreibweise: ALDI; steht für Albrecht Diskont) bekannt sind die zwei aus einem gemeinsamen Unternehmen hervorgegangenen, rechtlich selbständigen Unternehmensgruppen und Discount-Einzelhandelsketten Aldi Nord und Aldi Süd. Aldi Nord und Aldi Süd bestehen jeweils aus mehreren Dutzend voneinander unabhängigen Regionalgesellschaften. Aldi zählt zu den zehn größten Einzelhandelsgruppen weltweit. Mit Hauptwettbewerber Lidl gelten die beiden Aldi-Gesellschaften zusammengenommen mit ihren 11.235 Filialen (4725 Nord, 6510 Süd) als größter Lebensmittelanbieter der Welt und gehören mit einem jährlichen Umsatz von rund 120 Milliarden Euro (Stand: 2021) zu den finanziell erfolgreichsten. Geschichte Anfänge 1913–1945 Karl Albrecht sen. (1886–1943), der Vater von Karl (1920–2014) und Theo Albrecht (1922–2010), war ein gelernter Bäcker, bis er aus gesundheitlichen Gründen (Bäckerasthma) diese Arbeit aufgeben musste. Im Frühjahr 1913 machte er sich als Brothändler selbstständig, und seine Frau Anna Albrecht (geb. Siepmann) eröffnete unter dem Namen ihres Mannes am 10. April 1913 einen Tante-Emma-Laden in Essen-Schonnebeck in der Huestraße 87. Im Frühjahr 1919 verlegten die Albrechts ihr Geschäft in das von ihnen gekaufte benachbarte Wohn- und Geschäftshaus in der Huestraße 89. Den neuen Laden nannten sie „Kaufhaus für Lebensmittel Karl Albrecht“. In demselben Haus sind auch die Söhne Karl und Theo geboren und aufgewachsen. Der Laden bestand als Aldi-Filiale bis zum 28. November 2020. Wein wurde in den Anfangsjahren aus Fässern in Flaschen abgefüllt, Zucker und Mehl gab es aus Säcken. Die Kunden wurden noch persönlich von Verkäuferinnen bedient. Selbstbedienung war zu dieser Zeit noch vollkommen unüblich. Nachkriegszeit 1945–1961 1945 übernahmen Karl und Theo den elterlichen Familienbetrieb, den Anna Albrecht in den letzten beiden Kriegsjahren nach dem Tod ihres Ehemanns ab 1943 alleine geführt hatte. Nach der Währungsreform 1948 stellten die Albrecht-Brüder den Tante-Emma-Laden ihrer Mutter mit einem neuen Konzept um. Das Konzept sah vor, die Lebensmittelgrundversorgung mit einem minimalen Sortiment und niedrigen Preisen sicherzustellen. Im Jahr 1954 eröffnete die erste Filiale außerhalb der Stadt Essen. In diesem Jahr wurde auch das Stammgeschäft auf der Huestraße 89 in Essen-Schonnebeck zum ersten Selbstbedienungsladen umgestaltet. 1955 hatte die damalige Albrecht KG ein Filialnetz mit 100 Standorten in Nordrhein-Westfalen, und die Albrecht-Brüder waren zu diesem Zeitpunkt schon Vermögensmillionäre. Die erste Discount-Filiale unter dem Namen Aldi öffnete 1962 in Dortmund. Aufteilung in Nord und Süd 1961 1961 beschlossen die Gebrüder Albrecht, fortan getrennte Wege zu gehen: Sie teilten das Unternehmen Albrecht KG in Aldi Nord und Aldi Süd auf. Die nördlichen Filialen übernahm Theo Albrecht, die südlichen Karl Albrecht. 1961 (im Jahr der Aufteilung) betrieben Karl und Theo Albrecht schon 300 Filialen in West-Deutschland mit einem Bruttoumsatz von ca. 90 Millionen Mark. Zu dieser Zeit existierten bereits zwei getrennte Verwaltungen und Regionallager (von Theo Albrecht in Herten, von Karl Albrecht in Mülheim an der Ruhr), im selben Jahr schied Anna Albrecht, die Mutter der Gebrüder Albrecht, als Gesellschafterin aus. Als Grund für die Trennung wurde verschiedentlich berichtet, die Brüder könnten sich über den Verkauf von Zigaretten nicht einigen (erst seit 2003 gibt es Zigaretten bei Aldi Süd zu kaufen). Der Journalist Martin Kuhna führt an, Zigaretten seien schon vor 1961 verkauft worden und könnten daher nicht der Grund sein. Vielmehr vermutet er, die Gründe lägen im unterschiedlichen Führungsstil. Theo Albrecht neigte zu Mikromanagement, während sein Bruder Karl früh Verantwortung delegierte. Expansion als reine Discounter ab 1962 Durch die in Westdeutschland aufkommende Selbstbedienung im Lebensmitteleinzelhandel stagnierten Anfang der 1960er Jahre bei den Albrecht-Brüdern die Umsätze in den etwa 300 sehr kleinen Bedienungsläden (auch Stubenläden genannt). Dieser Vertriebstyp hatte keine Zukunft mehr und verlor Umsätze an die großen Supermarktketten wie Edeka und Rewe. Karl und Theo Albrecht wandten sich ab 1960 ebenfalls dem Vertriebstyp Supermarkt zu und experimentierten mit etwa 20 bis 30 Albrecht-Supermärkten. Die Läden hatten eine Verkaufsfläche von etwa 150 bis 200 m² und führten neben einem mittelgroßen Sortiment von Trockenwaren auch Frischwaren wie Obst und Gemüse, Molkereiprodukte, Wurstwaren und Frischfleisch (bei Frischfleisch stützten sich die Albrecht-Brüder auf die Großfleischerei RUOS aus Essen als Partner). Der Test mit diesen Albrecht-Supermärkten scheiterte, da er weder in den Ladengrößen noch in der Sortimentsvielfalt der inzwischen davongeeilten Vollsortimenter-Konkurrenz ebenbürtig war. Diese noch unter dem roten Albrecht-Logo getesteten Märkte wurden bald wieder geschlossen bzw. konnten kurze Zeit später nach Umgestaltung auf Aldi-Discount genutzt werden. Unter dem Zwang einer totalen Neuorientierung entwickelten Karl und Theo Albrecht die Idee Lebensmittel-Discount; sie gaben ihren Läden dieser für Europa völlig neuen Vertriebsform den Namen „ALDI“ (AL-brecht DI-scount). Der betriebswirtschaftliche Grundgedanke zu diesem neuen Vertriebstyp wurde vom früheren Aldi-Nord-Geschäftsführer Dieter Brandes mit dem Satz „Discount ist die Kunst des Weglassens“ umschrieben. Im Vergleich zu den damals marktführenden Supermärkten ließen die Brüder Albrecht eine ganze Reihe der damals üblichen Dienstleistungs-Funktionen der Einzelhandels-Distribution einfach weg. Aldi-Fazit: Keine breiten und tiefgestaffelten Sortimente (nur schnelldrehende Grundnahrungsmittel, keine Doubletten), keine leicht verderblichen Frischwaren (damit keine kostenintensive Warenpflege, keine Bedienung, keine teuren Kühlmöbel, geringer Energieverbrauch), kein Preisetikett auf jedem Artikel (die Kassierer hatten die Preise, zusammengefasst in relativ wenigen Preisgruppen, auswendig zu lernen, später über PLU-Nummern aufzurufen), kein Auspacken der Ware (verkauft wurde aus den aufgeschnittenen Versandkartons), keine teure Ladeneinrichtung (verkauft wurde von Paletten oder selbst gefertigten Holzregalen), keine Ladendekoration und Werbung, kein Kreditverkauf, keine damals üblichen Rabattmarken. Das knapp bemessene Filial-Personal wurde für alle anfallenden Arbeiten ausgebildet, so dass es bei hoher Arbeitsdichte ständig ausgelastet war. Dadurch entstanden große Kostenvorteile gegenüber der Supermarkt-Konkurrenz. Diese Kostenvorteile ermöglichten es Aldi, trotz eines von Anfang an gut kalkulierten Gewinns den Verbrauchern große Preisvorteile zu bieten. Die ersten Versuche mit solchen Discount-Läden fanden 1961 im Aldi-Nord-Gebiet in Dortmund, später im Raum Dortmund und Bochum statt. In Serie ging der Vertriebstyp „Discount“ bei Aldi Süd mit dem ersten Markt in Mülheim unter der Leitung von Horst Steinfeld. Die Organisation der Eröffnungen und die Führung dieser ersten Aldi-Filialen verantwortete Walter Vieth (damals Leiter des Bezirks westliches Ruhrgebiet/Niederrhein). Unter Verwertung ehemaliger Albrecht-Supermärkte wurden ab 1962 im Wochenrhythmus und in dieser Reihenfolge die ersten ALDI-Discountmärkte eröffnet: Dinslaken (Neustraße), Walsum (Friedrich-Ebert-Straße), Bocholt (Nordstraße) und Wesel (Hohe Straße). Die Umsatzleistung pro Mitarbeiter war fast zehnmal höher als in den Albrecht-Supermärkten. Die Umsatz- und Renditewerte der ersten Serienmärkte und die schnelle Akzeptanz dieser Läden bei den Verbrauchern waren so überzeugend, dass die Albrecht-Brüder wenige Monate nach Eröffnung dieser ersten Märkte in die überregionale Multiplikation gehen konnten. Das für diese wohl einmalige Expansion notwendige Kapital erwirtschaftete das Discount-System selbst. Durch den raschen Warenumschlag (circa zehn Tage – „Schnelldreher“), die Barzahlung in den Läden und das übliche Zahlungsziel bei den Herstellern (30 Tage) war stets genügend Liquidität vorhanden, die Expansion ohne Bankkredite zu finanzieren. Die Einführung einer neuen Logistikstruktur zur schnellen Versorgung der Märkte mit einem großen Lager in Eichenau förderte die Entwicklung. Die Zentrale in Eichenau wurde dann auch Sitz der Familienstiftungen. Filialen-Umbau seit 2016 Ab den 2000er Jahren hatten alle großen Discounter in Deutschland „massiv in eine Verbesserung des Angebots investiert.“ „Das einst von den Aldi-Brüdern entwickelte Discount-Konzept – Märkte mit kleinem Sortiment und gutem Preis-Leistungsverhältnis –“ wurde von der Konkurrenz weiterentwickelt. „Rewe und Edeka bieten viele Produkte genauso billig an wie Aldi, ergänzen das Sortiment aber mit Produkten aus der Feinkost-Kategorie.“ „Discount funktioniert heute nicht mehr so wie vor 30 Jahren. […] Gute Preise allein reichen nicht mehr aus“, so der Aldi-Marketing-Geschäftsführer Kay Rüschoff. Die Kunden würden heute (2017) mehr Frische, mehr Auswahl und „auch mal etwas Besonderes“ erwarten. Um an die Konkurrenz der Discounter und Supermärkte wieder aufzuschließen, haben nach einer zweijährigen Testphase Aldi Süd (seit Mai 2016) und Aldi Nord (seit Herbst 2017) mit dem jeweils „größten Investitionsprogramm der Firmengeschichte“ begonnen. Formal erhalten die Läden eine neue Gestaltung und inhaltlich wird das Angebot verbessert. Umbau Aldi Süd Aldi Süd plante, bis 2021 in Deutschland rund 3,5 Milliarden Euro zu investieren, um seine knapp 1900 Filialen zu „modernisieren“. Mit der neuen Ladengestaltung soll ein „Ende der Lagerhallen-Atmosphäre“ „mit kaltem Neonlicht“ vollzogen werden. Anstelle der zur Tradition gewordenen Paletten mit aufgerissenen Kartons werden nun auch bei Aldi Regale üblich, teilweise mit Holzimitat-Verkleidung. Die Preisschilder hängen nicht mehr über den Waren, sondern sind nun direkt am Regal. LED-Lampen beleuchten gezielt das jeweilige Warenangebot. Die „Aufback“-Automaten werden „in den nächsten Jahren ... sukzessive“ abgeschafft und wie bei den anderen Wettbewerbern Rewe und Lidl durch eine Brottheke mit Klapptüren aus durchsichtigem Plexiglas ersetzt. Aldi Süd erhöht damit zugleich die Menge der Backwaren-Sorten von bisher maximal 15 Brot- und Brötchen-Sorten auf „bis zu 40 Artikel, die von den Mitarbeitern in der Filiale frisch gebacken werden.“ Das gesamte Warenangebot begrenzt Aldi Süd weiterhin auf 1200 Artikel. Eine große Rewe-Filiale hat im Vergleich dazu „fast zehnmal so viele Artikel“. Weitere Zusatzangebote sind individuell mitnehmbare Mengen an Obst und Gemüse (Kassenwaage), Kaffeeautomaten z. T. mit Sitzgelegenheiten am Ausgang sowie – in den meisten Filialen – Kundentoiletten. Nach der Modernisierung aller Aldi-Süd-Filialen sollen auch die 35.000 Mitarbeiter in den Filialen eine „neue und modernere“ Dienstkleidung erhalten. Dazu ging Aldi Süd eine Zusammenarbeit mit der AMD Akademie Mode & Design in München im Wintersemester 2017/18 ein. Mit einem Designwettbewerb unter den Studierenden wurden die Kleidungsstücke nach den Wünschen von Aldi gestaltet, von denen schließlich ein Kleidungsensemble ausgewählt wurde. Umbau Aldi Nord Gegenüber seinen Rivalen Aldi Süd und Lidl drohte Aldi Nord immer weiter zurückzufallen. „Viele Jahre hatte der Discounter zu wenig in die Modernisierung investiert und zu spät auf neue Trends reagiert.“ Daher führte die Aldi-Nord-Gruppe mit dem Aldi Nord Instore Konzept (ANIKo) ebenfalls ein „Modernisierungsprogramm“ durch. Insgesamt wurde die bis Anfang 2019 vorgesehene Umgestaltung der 2250 Aldi-Nord-Filialen auf 5,2 Milliarden Euro kalkuliert. Im Anschluss erfolgte die Umgestaltung der rund 2400 Märkte im europäischen Ausland. Da keine expliziten Kostensenkungsprogramme bekannt sind, werden nach Beobachtern die Umbaukosten nur durch den später erwarteten höheren Umsatz wieder ausgeglichen. Das Standardsortiment von Aldi Nord lag im Geschäftsjahr 2017 bei rund 1400 Artikeln. Im Gegensatz zu den neuen Aldi-Süd-Filialen gibt es hier aufklappbare Kühlwandregale sowie Wandkühlschränke über den Tiefkühltruhen. Große Schilder und unterschiedliche Regalfarben erleichtern die Orientierung, letzteres ist ebenso eine Neuerung gegenüber Aldi Süd. Im Unterschied zu Aldi Süd befindet sich hier der Kaffeeautomat am Eingangsbereich, und der Kaffeebecher kann in einer Halterung am Einkaufswagen mitgenommen werden. Als Erfinder des Modernisierungsprogramms ANIKo gilt Torsten Hufnagel, seit 1997 bei Aldi und Leiter des Verwaltungsrats von Aldi Nord seit September 2018. Babette Albrecht von der Jakobus-Stiftung stellte das Vorhaben zunächst in Frage und nahm 2017 eine längere Zeit in Anspruch, das Investitionsprogramm zu prüfen. Die Jakobus-Stiftung befindet sich seit Jahren in einem Rechtsstreit mit den beiden anderen Aldi-Nord-Stiftungen. Anfang September 2018 kündigte „überraschend“ Marc Heußinger, der bisherige Leiter von Aldi Nord. Heußinger machte „eine für Aldi ungewöhnlich zügige Karriere“: 1998 trat er nach seiner Promotion bei Aldi an und wurde nach 13 Jahren 2011 zum Leiter des Unternehmens ernannt. Er führte viele Neuerungen für Aldi ein wie mehr Öffentlichkeit (Pressestelle), mehr Werbung und mehr Investitionen. Zuletzt klagte er laut Mitarbeitern über Kritik und Misstrauen seitens der Jakobus-Stiftung. So hatte nur der Familienstamm um Theo Albrechts Schwägerin Babette Albrecht erneut eine lange Zeit beansprucht, bevor man Ende 2017 doch noch Heußinger das Vertrauen für weitere fünf Jahre aussprach. Während im ersten Halbjahr 2018 der Umsatz beim Filialen-Umbau mit zeitweiligen Schließungen stagnierte und um 0,2 % zurückging, stieg der Umsatz von Aldi Süd um 3,3 % und Lidl sogar um 6,8 %. Als Reaktion auf Heußingers Rückzug wurde Aldi-intern lediglich kolportiert, dass er den Umbau der Aldi-Filialen nicht schnell genug vorangetrieben und zu wenig Umsatz erzielt habe. Im Jahr 2020 übernahm Aldi Nord 547 Filialen und drei Zentrallager der französischen Groupe Casino. Die zu diesem Zeitpunkt größte Akquisition der Aldi Nord-Unternehmensgeschichte besitzt ein Volumen von 717 Millionen Euro. Die Anzahl der Regionalgesellschaften wurde bis 2022 auf 25 reduziert, was u. a. die Schließung der Gesellschaften in Bad Laasphe, Horst und Wittstock einschließt. Sowohl die Gewerkschaft ver.di als auch Lokalpolitiker hatten sich für den Erhalt des Standortes Bad Laasphe eingesetzt. Unternehmen Eigentümerstruktur und Anteilseigner Aldi Nord und Aldi Süd sind im vollständigen Besitz von Familienstiftungen. Karl Albrecht gründete 1973 die Siepmann-Stiftung, die 75 % an Aldi Süd hält. Haupt-Destinatäre (Begünstigte) der Siepmann-Stiftung sind Familienangehörige von Beate Heister (einzige Tochter von Aldi-Süd-Gründer Karl Albrecht). Im selben Jahr wurden für Aldi Nord die Markus-Stiftung durch Theodor Paul Albrecht und später die Lukas- und Jakobus-Stiftung, alle mit Sitz in Nortorf, gegründet. Diese halten die Anteile der Unternehmen Aldi Nord und Trader Joe’s. Hauptdestinatäre der Aldi-Nord-Stiftungen sind Nachkommen von Theodor Paul Albrecht. Sie erhalten Zuwendungen seitens der Stiftungen, die sich wiederum aus den Aldi-Nord-Erträgen speisen. Wichtige Entscheidungen bei Aldi Nord müssen durch die drei Stiftungsvorstände einstimmig getroffen werden. Der Vorstand der Markus-Stiftung ist auch das Kontrollgremium für den Verwaltungsrat, der die Geschäftsführung von Aldi Nord bildet. Die Markus-Stiftung wird im Vorstand von Theo Albrecht jun. geleitet. Zum Vorstand gehören auch Torsten Hufnagel (Aldi-Nord Geschäftsführer) und der Anwalt Emil Huber. Laut einem Bericht des Manager Magazins sind die Aldi-Nord-Anteile der Stiftungen und ihre Destinatäre wie folgt: Unternehmensführung 1961 trennten Karl und Theo Albrecht das Stammhaus Albrecht KG in die bis heute aktuellen Unternehmen Aldi Nord und Aldi Süd. Theo Albrecht junior ist das einzige Mitglied der Familie Albrecht, das noch aktiv in der Discounter-Gruppe tätig ist. Aldi Nord und Aldi Süd werden ausschließlich von familienfremden Managern geführt. Die operative Führung von Aldi Nord besteht aus einem Verwaltungsrat mit Sitz in Essen. Aldi Süd wird von einem Koordinierungsrat aus Mülheim an der Ruhr geleitet. Der Koordinierungsrat von Aldi Süd wird geführt von Norbert Podschlapp, Michael Kloeters (bis September 2019) und Thomas Ziegler. Zum Nachfolger des Triumvirats wurde ab Mai 2020 das Führungsduo Matthew Barnes und Thomas Ziegler bestimmt. Der Verwaltungsrat von Aldi Nord besteht aus Theo Albrecht junior, Oliver Elsner und Torsten Hufnagel. Die beiden Unternehmensgruppen sind freundschaftlich verbunden und koordinieren im Aldi-Unternehmensausschuss gemeinsam ihre Geschäftspolitik. Das Bundeskartellamt betrachtet Aldi Nord und Aldi Süd als „faktischen Gleichordnungskonzern“ im Sinne von Abs. 2 Aktiengesetz (Deutschland). Rechtlich, organisatorisch und seit 1966 auch finanziell sind beide Unternehmensgruppen völlig unabhängig voneinander. In Deutschland umfassen Aldi Nord und Aldi Süd zusammen 66 Regionalgesellschaften, die wiederum ca. 4250 Aldi-Filialen kontrollieren (Stand: April 2015). Die Regionalgesellschaften haben ihren Sitz oft außerhalb der größeren Ballungszentren; sie liegen meist nahe einem Autobahnanschluss, um die Effizienz der Belieferung der Filialen per Lkw zu erhöhen. Den Regionalgesellschaften, die als Kommanditgesellschaften (GmbH & Co. KG) geführt werden, steht jeweils ein Regionalgeschäftsführer vor. Dieser legt dem Verwaltungsrat (Aldi Nord) bzw. dem Koordinierungsrat (Aldi Süd), der als Kommanditist auftritt, Rechenschaft ab. Der Regionalgeschäftsführer wird unterstützt durch die unter ihm stehenden Abteilungsleiter. In jeder Regionalgesellschaft gibt es verschiedene Abteilungen, zum Beispiel Logistik, Verwaltung und IT. Den Abteilungsleitern unterstehen mehrere Verkaufsleiter (offiziell Regionalverkaufsleiter), die je einen Verkaufsbezirk von fünf bis sieben Filialen verantworten. Ein Verkaufsleiter ist auch gleichzeitig Disziplinarvorgesetzter und führt bis zu 100 Mitarbeiter. In jeder Aldi-Filiale gibt es einen Filialverantwortlichen, der für die Einteilung und Führung des Filialpersonals sowie für die Warendisposition, Abrechnung und vor allem für das Erreichen der entsprechenden Filialkennzahlen verantwortlich ist. Eine flache Organisationshierarchie und einfache Unternehmensgrundsätze bilden das Unternehmensleitbild. Die oft günstigen Preise bei Aldi sind auf eine effiziente Struktur, basierend auf rigoroser Mitarbeiterführung (bei allerdings meist überdurchschnittlicher Bezahlung), straffer Logistik, einer starken Position (durch einen hohen Grad an Marktmacht) gegenüber Lieferanten und spartanischer Präsentation der Waren (unter anderem lange Zeit Verzicht auf Fernsehwerbung) zurückzuführen. Aldi Süd begann 2016, seine deutschen Filialen mit einer hochwertigeren Ausstattung und verbesserter Aufenthaltsqualität auszustatten. Solche „Luxus-Filialen“ werden bereits in Amerika und Australien betrieben, in Deutschland entstand die erste Filiale dieser Art in Unterhaching. Bis 2019 sollten alle Filialen entsprechend umgebaut werden. Im Jahr 2016 haben Aldi Nord und Aldi Süd erstmals jeweils einen Nachhaltigkeitsbericht veröffentlicht, um über ihre soziale und ökologische Verantwortung Rechenschaft abzulegen. Seit dem Jahr 2020 werden immer mehr Gesellschaften von Aldi Süd in Europäische Aktiengesellschaften (SE) umgewandelt. Struktur Deutschland Die Grenze zwischen Aldi Nord und Aldi Süd wird auch als Aldi-Äquator bezeichnet. Sie verläuft vom Westmünsterland über Mülheim an der Ruhr, Wermelskirchen, Gummersbach, Siegen und Marburg nach Osten bis nördlich von Fulda. Ostdeutschland ist (bis auf eine Filiale im thüringischen Sonneberg, die aus Bayern beliefert wird) vollständig Aldi-Nord-Gebiet. In Gummersbach gibt es Nord- und Süd-Filialen, ebenso in Siegen, weil zum Zeitpunkt der Aufteilung die selbstständige Gemeinde Eiserfeld, in der diese Filiale liegt, Aldi-Süd zugeschlagen wurde. Aldi Nord hat seine Zentralen in Bargteheide, Barleben, Beucha, Datteln, Essen, Greven, Großbeeren, Hann. Münden, Herten, Hesel, Jarmen, Lingen, Mittenwalde, Nortorf, Radevormwald, Rinteln, Salzgitter, Scharbeutz, Schloß Holte, Seefeld, Seevetal, Sievershausen, Weimar, Werl, Weyhe und Wilsdruff. Ende 2017 wurden die Zentralen in Hoyerswerda und Könnern, Ende 2019 die Zentralen in Schwelm und Greiz, Ende 2020 die Zentralen in Berlin-Reinickendorf und Beverstedt und Ende 2021 die Zentralen in Bad Laasphe, Horst und Wittstock geschlossen. Aldi-Süd-Zentralen gibt es in Adelsdorf, Aichtal, Bingen, Bous, Butzbach, Donaueschingen, Dormagen, Ebersberg, Eschweiler, Geisenfeld, Helmstadt, Kerpen, Kirchheim an der Weinstraße, Kleinaitingen, Langenfeld, Langenselbold, Mahlberg, Mönchengladbach, Mörfelden-Walldorf, Murr, Rastatt, Regenstauf, Rheinberg, und Sankt Augustin. Im April 2017 wurde die Zentrale in Eichenau, im April 2020 die Zentralen in Mülheim an der Ruhr und Roth, im Juni 2021 die Zentrale in Wittlich, im Oktober 2021 die Zentrale in Altenstadt (Iller), im Februar 2022 die Zentrale in Montabaur und im April 2022 die Zentrale in Ketsch aufgelöst. Es gibt mehrere Aldi-Gesellschaften, die zentrale Aufgaben wie Einkauf und Immobilienverwaltung für beide Unternehmensgruppen übernehmen, beispielsweise die Aldi Einkauf GmbH & Co. oHG. Daneben besitzt Aldi auch eigene Kaffeeröstereien. Aldi Nord betreibt diese in Weyhe und Herten; die Röstereien von Aldi Süd sind in Mülheim an der Ruhr und in Ketsch. Im Jahr 2017 gründete Aldi Süd das Tochterunternehmen NewCoffee, unter dem die Kaffeeröstereien in Mülheim an der Ruhr und Ketsch als eigenständiges Tochterunternehmen der Unternehmensgruppe Aldi Süd firmieren. Struktur international Aldi Nord und Aldi Süd sind weltweit wie folgt vertreten: Der Markteintritt in Griechenland durch Aldi Süd (verantwortet von Hofer) im November 2008 wurde aufgrund des fehlenden Erfolgs Ende Dezember 2010 wieder rückgängig gemacht. Nach 45 Jahren gab Aldi Nord 2022/23 die Präsenz in Dänemark auf. Die meisten Filialen übernahm der norwegische Konkurrent Rema 1000. Neue Expansionsländer werden abwechselnd auf Aldi Süd und Aldi Nord aufgeteilt und die Verteilung gemeinsam abgesprochen. Für den Markteintritt Aldi Süds in China soll Aldi Nord in zwei Länder expandieren. Seit 2014 befindet sich die Internationale Management Holding von Aldi Süd in Salzburg. Unter dem Dach von Hofer steuern knapp 300 Mitarbeiter die internationale Entwicklung der Unternehmensgruppe Aldi Süd weltweit. Aldi kündigte im Mai 2017 an, mit einer Investition von 1,5 Milliarden Euro 400 neue Filialen in den USA zu eröffnen und die Mehrzahl der bestehenden Filialen auszuweiten. Analysten sehen durch das Auftreten von Lidl, die Reaktion von Walmart und Pläne von Amazon große Veränderungen auf den US-Lebensmittelhandel zukommen. Seit 2014 sind in den USA schon 20 Lebensmittelhändler infolge des Preiskriegs insolvent geworden. 2023 wurde die Übernahme von Winn-Dixie und Harveys im Südosten der USA bekanntgegeben. Ein Großteil der 400 Filialen soll umgeflaggt werden. Hofer / Aldi Suisse Die von Helmut Hofer im Jahr 1962 gegründete Filialkette Hofer mit rund 30 Filialen wurde 1967 von Aldi Süd übernommen. Da der Name Aldi in Österreich nicht nutzbar ist (er gehört der Firma Adel Lebensmittel Diskont), firmiert sie seitdem als Hofer KG. Das Aldi-Süd-Konzept wurde nach und nach umgesetzt. Das Hofer-Logo – ursprünglich ein weißer Schriftzug „Hofer“ auf blauem Balken – wurde später um die zwei Linienscharen des Aldi-„A“s ergänzt und gleicht heute (abgesehen vom Schriftzug HOFER) dem Logo von Aldi Süd (siehe Abschnitt Logos). Die Aldi Suisse AG ist ein Schweizer Unternehmen mit Hauptsitz in Jonschwil und gehört zur Unternehmensgruppe Hofer S/E. 2015 erwirtschaftete Aldi Suisse 1,42 Milliarden Euro (umgerechnet 1,52 Milliarden Franken) Nettoumsatz. Das macht im Durchschnitt 8,4 Millionen Franken pro Filiale. Die ersten vier Filialen wurden am 27. Oktober 2005 in Weinfelden, Amriswil, Altenrhein SG und Gebenstorf eröffnet. Markteintritt von Aldi Süd nach China Im Frühjahr 2017 erfolgte der Markteintritt von Aldi Süd nach China. Der Handel ausgewählter Produkte erfolgte hier zunächst ausschließlich online über die Plattform Tmall Global, einem Online-Marktplatz, der von der chinesischen Alibaba Group betrieben wird. In dem Online-Shop sollen demnach vor allem Weine und ungekühlte Lebensmittel angeboten werden. Australische Lieferanten würden einen Großteil des Sortiments für den Online-Shop stellen und bekommen so Zugang zum weltgrößten Markt mit 1,4 Milliarden Kunden, teilte Aldi Süd mit. Die erste Aldi-Süd-Filiale wurde am 7. Juni 2019 in Shanghai eröffnet. Zielgruppe von Aldi China ist die Mittelschicht, denen „keine Billigware, sondern ausgesuchte, höherwertigere [sic!] Produkte“ angeboten werden. Logos (1945 bis heute) Finanzen Umsätze und Erträge der Gruppe wurden bis zum Jahr 2000 nicht veröffentlicht. Mittlerweile werden die Zahlen sowohl für die Gesellschaften Nord als auch für Süd im Bundesanzeiger publiziert. Der Umsatz 2010 in Deutschland betrug 22,5 Milliarden Euro (Aldi Nord: 9,95 Milliarden Euro, Aldi Süd: 12,5 Milliarden Euro), der weltweite Umsatz betrug 52,8 Milliarden Euro. Die Umsatzrendite betrug 2010 in Deutschland 3,0 % (Aldi Nord) bzw. 3,7 % (Aldi Süd). Aldi Nord und Aldi Süd sind vollständig in Familienbesitz. Die Kapitalausstattung wird als sehr solide bezeichnet; nach eigenen Angaben hat Aldi keine Verbindlichkeiten. Soweit bekannt, ist Aldi Nord über seine Immobilientochter Eigentümer sämtlicher Logistikzentren. Der Filialbestand ist ebenfalls größtenteils Eigentum, gemietete Objekte werden im Zuge des Flächentausches und der Vergrößerung verstärkt durch eigene Objekte ersetzt. Aldi Süd ist ebenfalls Eigentümer fast aller Gebäude (Märkte, Logistikzentren) und Grundstücke, hat aber auch Fremdkapital aufgenommen, um die weitere Immobilienexpansion zu finanzieren. Damit verließ Aldi Süd den bisherigen Weg der totalen Unabhängigkeit von Kreditgebern durch das Vermeiden von Fremdkapital. Kundenprofil Bis etwa Anfang der 1980er Jahre hatte Aldi das Image eines Arme-Leute-Ladens; Aldi-Produkte galten zwar als qualitativ hinreichend solide, aber ohne Prestige. Auch heute sind arme Bevölkerungsschichten eine wichtige Zielgruppe von Aldi, jedoch gilt das nicht mehr als negativ für Aldis Image. Von Aldi vertriebene Produkte erhielten vielfach sehr gute Testergebnisse (z. B. bei Stiftung Warentest und bei Öko-Test). 2006 kauften drei Viertel der Haushalte regelmäßig bei Aldi ein. Im Fünfjahresrückblick der Stiftung Warentest waren 2004–2009 rund 40 % der angebotenen Aktionsprodukte ein Schnäppchen, 45 % waren von angemessenem Preis; die übrigen 15 % erschienen den Testern als zu teuer. Sortiment Die Grundidee ist, nur Produkte im Sortiment zu führen, die bei einem gewissen Mindestumsatz eine hohe Warenumschlagshäufigkeit aufweisen, sogenannte Schnelldreher. Das Sortiment ist somit verhältnismäßig schmal und besteht aus rund 1360 Basisartikeln, 170 Bioartikeln im Standard-, Saison- und Aktionsartikelsortiment und pro Woche etwa 80 Aktionsartikeln. Marken Die früher bei allen Markenartikeln übliche Bindung der Verbraucherpreise (Preisbindung der zweiten Hand) gab den Albrecht-Brüdern keine Möglichkeit, Markenartikel günstiger anzubieten. Deshalb blieb Aldi nur der Ausweg über markenfreie Produkte, die sogenannten No-Name-Produkte. Es galt, Hersteller zu finden, die Produkte speziell für Aldi mit Fantasie-Namen abpackten, die keiner Preisbindung unterlagen. Viele Markenartikler waren anfangs dazu nicht bereit, weil sie negative Reaktionen ihrer Bestandskunden befürchteten und auch tatsächlich erlebten. Aufgrund der raschen Expansion von Aldi und wegen ihrer von Anfang an guten Qualität erreichten diese Aldi-Eigenmarken schnell die Bekanntheit und den Distributionsgrad bekannter Markenartikel. Für Aldi hat dieses Konzept den zusätzlichen Nutzen, dass der Verbraucher nicht eine bekannte Marke kauft, die er genauso gut in jedem anderen Supermarkt erhalten kann, sondern eingestellt wird auf eine Meinung wie beispielsweise „Die Schokolade von Aldi ist gut“. Als Markenware hat Aldi Produkte von Schneekoppe, Storck, Haribo, Ferrero, Coca-Cola, Freixenet, Milka, Zott, Gerolsteiner, Red Bull und der Beiersdorf AG im Sortiment. Lebensmittel Aldi Nord verkauft seit 2004 loses Obst und Gemüse, das an der Kasse abgewogen wird. Seit 2016 ist auch bei Aldi Süd loses Obst und Gemüse erhältlich. Seit 2018 werden einige Fleischprodukte, mit dem Neuland-Tierwohllabel, unter der Eigenmarke „Fair & Gut“ vertrieben. Ende Juni 2021 kündigten Aldi Nord und Süd an, ab 2030 ausschließlich Fleisch aus tiergerechterer Haltung verkaufen zu wollen. Ende April 2019 wurde das „Fair & Gut“-Sortiment um eine Weidemilch erweitert, die auch das Etikett „Für Mehr Tierschutz“ des Deutschen Tierschutzbundes trägt. Seit 1998 werden bei Aldi Süd Tiefkühltruhen eingesetzt. Sehr erfolgreich sind Nord und Süd im Kaffeegeschäft: Der gesamte Röstkaffee wird in eigenen Röstereien hergestellt. Aldi Nord lässt „Markus Kaffee“ bei der Markus Kaffee GmbH & Co. KG in Weyhe und Herten rösten. Das Aldi-Süd-Tochterunternehmen NewCoffee lässt „Amaroy Kaffee“ in Röstereien in Mülheim an der Ruhr und in Ketsch produzieren. Seit 2013 hat Aldi den größten Marktanteil am Wein­absatz in Deutschland und ist in vielen anderen Warengruppen ebenfalls Marktführer. Die Filialen von Aldi Süd wurden ab 2010 mit Backautomaten ausgerüstet. Der Brotbackautomat gibt Brotprodukte auf Knopfdruck heraus. Im Juli 2010 erhob der Zentralverband des Bäckerhandwerks Klage gegen Aldi wegen irreführender Werbung. Kritisiert wurde die Werbung: „Ab sofort backen wir den ganzen Tag Brot und Brötchen für Sie – frisch aus dem Ofen.“ In der Klageschrift hieß es, die Produkte würden in den Automaten „nur erhitzt und/oder gebräunt“. Es kam nicht zu einem Urteil. Ab 2015 testete Aldi Süd in wenigen ausgewählten Filialen eine Backwarentheke, welche Anfang 2018 offiziell eingeführt wurde und sukzessive die Backautomaten ersetzen soll. Im November 2021 waren über die Hälfte der Filialen von Aldi Süd in Deutschland mit einer Backwarentheke anstatt des Backautomaten ausgestattet. Aldi Nord und Aldi Süd führen eigene Biomarken, die die Anforderungen des deutschen staatlichen Bio-Siegels erfüllen. Im Jahr 2023 sollen auch Naturland-zertifizierte Produkte ins Sortiment aufgenommen werden. Der Gebrauchsgüterbereich und der Aldi-PC Der steigende Anteil an Gebrauchsgütern zieht sich seit Anfang der 1990er Jahre wie ein roter Faden durch die Firmengeschichte nicht nur von Aldi, sondern auch von anderen Lebensmittel-Discountern. Im Unterschied zu Lebensmitteln haben Gebrauchsgüter den Charakter kurzzeitiger Aktionsangebote. Mitunter wird im Rahmen einer Themenwoche ein Sortiment artverwandter Artikel angeboten, z. B. ein breites Sortiment an Campingprodukten. Während sich in der Frühzeit der Gebrauchsgüterbereich auf Textilien und Haushaltsgegenstände beschränkte, erweiterte sich das Angebot im Laufe der 1990er Jahre auf Unterhaltungselektronik. Einen Höhepunkt erreichte die Gebrauchsgütersparte durch den sogenannten Aldi-PC, einen in großen Zeitabständen für den Massenmarkt eigens von Aldi in Auftrag gegebenen Personal Computer. Als erster Computer bei Aldi kam der „Aldi-C16“ im Frühjahr 1986 als Set zum Preis von 149 Mark in den Handel, wobei das zuerst lediglich ein Abverkauf von Restbeständen von Commodore war, der aber einen Nachfrageboom auslöste. Ein Jahr später, im Spätsommer 1987, wurde dann der C64 von Aldi verkauft, für einen Preis von 299 Mark. Diese C64 waren laut Typenschild in den USA hergestellt. Als Besonderheit hatten die Gehäuse keine Typenbeschriftungen der Hardwareanschlüsse und eine weiße Tastatur. Der erste „Aldi-PC“ wurde 1995 auf den Markt gebracht, zur Zeit des beginnenden Internet-Booms. Auf die ersten Aldi-PCs gab es einen regelrechten Ansturm, weil das Preis-Leistungs-Verhältnis sehr gut war. Die meisten bei Aldi angebotenen technischen Geräte kommen von Medion. In den Aldi-Süd-Filialen wurden von Anfang der 2000er Jahre bis etwa 2014 Medion-Produkte vielfach unter der Pseudonym-Marke Tevion angeboten, die eine Eigenmarke von Aldi Süd ist und auch Produkte anderer Hersteller umfasst. Die Aldi-Gruppe war 2005 der achtgrößte Textilvermarkter in Deutschland (Umsatz 2005 fast 1,1 Milliarden Euro). Seit 2003/2004 bietet Aldi Süd in Deutschland auch Tabakwaren an. Aldi bietet in Deutschland seit Juli 2005 einen Online-Fotoservice, bei dem Papierabzüge von Digitalbildern nach Hause bestellt werden können. Am 7. Dezember 2005 stieg Aldi nach guten Erfahrungen bei Hofer in Österreich auch in Deutschland ins Mobilfunkgeschäft ein. Aldi Nord und Aldi Süd bieten den Kunden in Kooperation mit Medion als Mobilfunkanbieter sowie der Telefónica Deutschland Holding als Vertragspartner den Prepaid-Tarif Aldi Talk an. Seit Januar 2007 vermitteln Aldi Nord und Aldi Süd auch in Deutschland und der Schweiz Pauschalreisen. Ausführender Partner ist das Unternehmen Berge & Meer, eine TUI-Tochter. Die Zusammenarbeit mit Eurotours International begann Hofer Reisen in Österreich bereits 2003. Von 19. April 2013 bis Februar 2014 vermittelten Aldi Nord und Süd in Kooperation mit dem Bonner Busunternehmen Univers auf dem Internetportal Aldi Reisen auch Fernbusfahrten. Seit Februar 2008 hat Aldi Nord ein Sortiment von etwa 70 Zeitschriften (Tageszeitungen und Illustrierte). Seit April 2008 wird ein Onlinebestellservice von Schnittblumen angeboten. Aldi ist nur Vermittler; den Auftrag wickelt das Unternehmen fleurfrisch ab, eine Tochtergesellschaft von Landgard, dem langjährigen Vertragslieferanten der Pflanzenangebote bei Aldi. Die eigentliche Zusammenstellung der Sträuße übernimmt ein von fleurfrisch beauftragter Bündelservice, der dafür fast ausschließlich Werkvertrags-Mitarbeiter beschäftigt. Für das Jahr 2008 war auch der Vertrieb von Versicherungen in Kooperation mit Signal Iduna geplant. Nach Protesten des Bundesverbandes Deutscher Versicherungskaufleute zog sich Aldi aus der Kooperation zurück. Über die Plattform Aldi life können Kunden seit 2015 Musik streamen. 2016 kamen E-Books und 2017 Computerspiele hinzu. Im Jahr 2016 führte Aldi zum elften Geburtstag der Marke Aldi Talk einen eigenen Onlineshop auf ihrer Website ein. Neben den Tarifen wurde dieser um Smartphones oder Tablets zum Verkauf erweitert. Aldi Süd bietet seit November 2016 zertifizierten Grünstrom an. Seit 2017 bietet Aldi Süd einen Lieferservice und einen Onlineshop an. Vermarktung Aldi gab in der gesamten Unternehmensgeschichte bis 2016 zu keinem Zeitpunkt Geld für externe Marketing-Agenturen aus. (Karl Albrecht, 1953: „Unsere Werbung liegt im billigen Preis.“) Bis zu den Jahren 2007 (Aldi Nord) und 2008 (Aldi Süd) verzichteten beide Unternehmen auf eigene Pressestellen. Mittlerweile verfügen Aldi Nord und Aldi Süd über jeweils eigene Kommunikationsabteilungen. Die wöchentlichen Anzeigen in lokalen Zeitungen sehen seit Jahren gleich aus; sie zeigen die aktuellen Angebote ohne Werbeslogans unter dem Motto „Aldi informiert“. Die Zeitungsanzeigen lösten vorher regelmäßig erscheinende vierseitige Preislisten ab, die teilweise auch an die Haushalte verteilt wurden. Die Zeitungsanzeigen von Nord und Süd wurden größer (seitdem 1/1 Seite) und farbig. Zudem liegen in den Märkten Flugblätter mit den Angeboten der nächsten Woche aus. Sowohl Aldi Süd als auch Aldi Nord haben ganzjährig drei Aktionen pro Woche, die zu einem mehrseitigen Prospekt zusammengefasst werden. Aldi Nord lässt Prospekte, Flugblätter und Zeitungsanzeigen von einer eigenen Werbeagentur vorbereiten und schalten, die für die Gruppe europaweit tätig ist. Anfang der 2000er Jahre versuchte sich Aldi Nord in Sachen Merchandising und bot Aldi-Markt-Bausätze, Lkw-Modelle (siehe Foto) und Badetücher in den Aldi-Farben an. Der Aldi-Markt ist im Standardprogramm der Firma Faller. 2010 verzichtete Aldi in einigen Regionen auf Anzeigen in Tageszeitungen und ließ stattdessen die zweiwöchentlich erscheinende Werbebroschüre kostenlos an alle Haushalte verteilten. Aldi Nord und Aldi Süd haben seit 2010 bzw. 2011 jeweils eine Aldi-App für iOS und Android im Angebot. Darüber lassen sich die aktuellen Kundenprospekte aufrufen und Artikel aus dem Angebot in eine Einkaufsliste eintragen. 2016 haben Aldi Nord und Aldi Süd erstmals in der Unternehmensgeschichte Werbespots im deutschen Fernsehen und online geschaltet. Zum Wahlspruch „Einfach ist mehr“ wurde zudem eine Internetseite online gestellt. Aldi Süd wirbt zudem seit Herbst 2016 mit einem Blog um Kunden. Aldi Süd gibt das Kundenmagazin Aldi inspiriert heraus. Das kostenlose Heft erscheint alle zwei Monate. Am 29. Januar 2021 kündigten ALDI Nord und ALDI SÜD an, dass man sich mit der Marke „ALDI Gaming“ in der Gaming-Szene engagiere. Kassensysteme Vor der Verbreitung von Scannerkassen war es im Lebensmitteleinzelhandel üblich, jeden Artikel einzeln mit einem Preisetikett auszuzeichnen; dieses wurde von den Kassierern abgelesen und eingegeben. Bei Aldi gab es keine Preisetiketten: Bei Aldi Nord erfolgte die Registrierung der verkauften Artikel durch Eingabe einer mehrstelligen PLU-Nummer. Bei Aldi Süd wurden die DM-Preise direkt eingegeben, weshalb Kassenbons ohne Artikelbezeichnung die Regel waren. Es war erforderlich, dass die Kassierer die Preise aller Produkte bzw. die PLU-Nummern auswendig lernten. Das Eintippen war mit der damaligen Technik schneller möglich als das Scannen, weshalb Kunden schneller abgewickelt und Personalkosten eingespart werden konnten. Mit der Einführung des Euro als Bargeld am 1. Januar 2002 als gesetzliches Zahlungsmittel wurden sämtliche Preise exakt umgerechnet und zusätzlich abgerundet. Im Zuge dessen stellte Aldi Süd im Jahr 2000 und Aldi Nord 2002 komplett auf Scannerkassen um. Da Aldi größtenteils Eigenmarken vertreibt, war es relativ einfach, den Strichcode auf den Produktverpackungen in unüblichen und teilweise ungenormten Größen sowie in größerer Anzahl auf verschiedenen Seiten der Verpackung zu platzieren. Die meisten Aldi-Verpackungen besitzen daher den EAN-Strichcode (unternehmensinterner verkürzter EAN-8-Code) auf mindestens drei Seiten, als lange Streifen oder als Banderole um die ganze Verpackung herum, wohingegen die Produkte in anderen Supermärkten einen genormten kleineren Strichcode an nur einer Stelle besitzen. Die Kassierer müssen daher Aldi-Artikel viel seltener drehen und wenden, um sie vom Scanner zu erfassen, was den Kassiervorgang beschleunigt. In Deutschland erfolgten Tests mit der Bezahlung per EC-Karte 2004 in Filialen von Aldi Nord. Ab April 2005 folgte die flächendeckende Einführung der Zahlung per EC-Karte bei Aldi Nord und Süd, die bis Ende Oktober 2005 abgeschlossen wurde. Die Umstellung wurde durch das Unternehmen NCR durchgeführt. Im Mai 2014 wurden in allen Filialen von Aldi Suisse NFC-fähige Kassenterminals eingeführt, im Juni 2015 zogen Aldi Süd und Nord in Deutschland und Dänemark nach. Diese ermöglichen kontaktloses Bezahlen per NFC-fähiger Debitkarte (Maestro, V Pay, PostFinance Card usw.) oder Kreditkarte oder einem NFC-fähigen Smartphone. Für das mobile Bezahlen wird eine sogenannte Mobile-Payment-App wie beispielsweise Apple Pay benötigt. Seit Ende 2016 können Kunden bei Aldi Süd, die einen Einkauf von mittlerweile mindestens fünf Euro mit Karte bezahlen, kostenlos bis zu 200 Euro Bargeld abheben. Aldi UK and Ireland eröffnete im Januar 2022 seinen ersten kassenlosen Supermarkt in Greenwich, London, in dem man einkaufen kann, ohne ein Produkt scannen zu müssen. In der dortigen „Test“-Filiale können die Kunden (Mindestalter 25 Jahre) ihren Einkauf abschließen und bezahlen, ohne an eine Kasse zu gehen. Stattdessen können die Kunden die Aldi Shop&Go-App herunterladen und werden dann beim Verlassen des Ladens automatisch mit ihren Einkäufen belastet. Leergutrücknahme In der zweiten Jahreshälfte 2005 führte Aldi Nord als Rationalisierungsmaßnahme testweise Leergutautomaten ein. Aldi Süd übernahm dieses System im ersten Quartal 2006. Beide schlossen sich im Zuge dieser Maßnahme dem ILN-System an. Auch die neue Pfandregelung, die am 1. Mai 2006 in Kraft trat, zwang das Unternehmen zu diesem Schritt, da die sogenannten „Insellösungen“ beendet wurden. Nach ausgiebigen Tests hat sich Aldi Nord für ein Rücknahmesystem des Herstellers Diebold Nixdorf entschieden, während Aldi Süd eine Entwicklung des Herstellers Tomra Systems vorzog. Bei beiden Geräten kommt ein System zur Anwendung, bei dem die PET-Flaschen unmittelbar nach der Abgabe gepresst werden. Seit Dezember 2014 nimmt die Unternehmensgruppe Aldi Süd Dosengebinde zurück. Die Unternehmensgruppe Aldi Nord nimmt sie erst seit dem 22. März 2015 zurück. Steuerfreies Einkaufen Seit 2006 bietet Aldi Süd in den an der Grenze zur Schweiz gelegenen Filialen ein System zur Rückerstattung der Umsatzsteuerdifferenz für die dort überproportional stark vertretenen Schweizer Kunden an. Jedoch erfolgt keine Barauszahlung, sondern über eine eigens geschaffene Aldi-Süd-Tax-Free-Karte eine bargeldlose Überweisung durch die Firma Global Refund. Sie gilt nur für Kunden über 18 Jahren. Anfangs war ein Mindesteinkauf von 40 Euro obligatorisch. Erstattet (wie bei allen Unternehmen, die sich dem Tax-Free-System angeschlossen haben) wurde aber nur ein Teil der Umsatzsteuer. Bei Aldi waren das 75 % (25 % wurden zur Finanzierung des Systems einbehalten). Aldi sah sich jedoch dazu gezwungen (da der konkurrierende Einzelhandel in diesem Gebiet den Schweizer Kunden schon seit Jahren beinahe flächendeckend eine volle Rückerstattung anbietet und der Anteil dieser Kunden in den regionalen Filialen etwa 30 %, an manchen Wochentagen über 50 % beträgt), die 75-%-/40-€-Regelung Ende 2011 aufzuheben. Mittlerweile wird die Umsatzsteuer zu 100 % erstattet und der Mindesteinkaufsbetrag wurde aufgehoben. Aktuelle Marktposition Aldi nutzt seine Marktmacht bei Verhandlungen mit Zulieferern, erwartet hingegen von seinen Lieferanten keine Zugeständnisse bei sinkenden Verkaufspreisen oder Werbekostenzuschüsse, Jubiläums-Rabatte oder Logistik-Optimierungsrabatte. Im gesamten Lebensmitteleinzelhandel belegt ALDI in Deutschland den vierten Platz nach Umsatz hinter den Unternehmen Edeka, Rewe, der Schwarz-Gruppe und vor der Metro-Gruppe (2010). Mit einem Umsatz im Textilbereich von rund 1,071 Mrd. Euro (2009) liegt ALDI hier auf Platz 8 der größten Textileinzelhändler Deutschlands. Im Bereich Gesundheitsprodukte außerhalb der Apotheke hatte Aldi im Jahr 2005 einen Marktanteil von rund 18 %. Laut einer Forsa-Umfrage sind 95 % der Arbeiter, 88 % der Angestellten, 84 % der Beamten und 80 % der Selbstständigen Kunden bei Aldi. Nach Informationen der Gesellschaft für Konsumforschung ging der Umsatz im Jahr 2007 erstmals um 1,5 % zurück und lag bei brutto 27 Mrd Euro. Der Marktanteil unter den Discountern ging dadurch um 0,6 Prozentpunkte auf 18,9 % zurück. Umwelt Aldi Süd hat rund 1250 Filialen und seine Logistikzentren mit Photovoltaikanlagen ausgerüstet. An 500 Filialen gibt es für den Nutzer Stromtankstellen für Elektroautos und Elektrofahrräder. Anfangs war das Laden kostenlos, jedoch seit Mitte des Jahres 2022 verlangt der Discounter Geld für die Nutzung. Seit Sommer 2019 verlangt Aldi für dünne Plastiktüten für Obst und Gemüse einen Cent. Mit der Maßnahme wollen Aldi Nord und Aldi Süd auf die Kritik reagieren, in ihren Filialen würden zu viel Kunststoffverpackungen verwendet. 2017 sollte Aldi Süd der erste klimaneutrale Lebensmitteleinzelhändler in Deutschland werden. Im Jahr 2018 startete Aldi nach eigenen Angaben sein Projekt namens „Verpackungsmission“: Bis Ende 2025 soll gegenüber 2015 der Materialeinsatz für Eigenmarken-Verpackungen im Vergleich zum Umsatz um 30 Prozent reduziert werden. Ende 2022 sollen alle Aldi-Eigenverpackungen recyclebar sein. Kritik Aldi wurde wegen seines unökologischen Angebots billiger Garnelen auf Kosten der Mangrovenwälder kritisiert. 2010 warf die Umweltschutzorganisation Robin Wood der Handelskette vor, dass auch zwei Bücher ihres Angebotes Fasern aus Mangrovenholz enthielten. Im Mai 2004 verkaufte Aldi in einer Sonderaktion Gartenmöbel aus indonesischem Meranti-Holz. Aufgrund von Protesten von Umweltorganisationen und einzelnen Aktivisten, die Aldi aufforderten, sich nicht an der Zerstörung der letzten indonesischen Tropenwälder zu bereichern, erklärte Aldi, in Zukunft nur noch Artikel aus Holz mit FSC-Siegel vermarkten zu wollen. Im April 2008 stand Aldi Nord in der Kritik, weil jährlich 120.000 Euro an die Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsangehöriger (AUB) geflossen sind. Das Unternehmen räumte diese Zahlungen ein. Die Betriebsräte vieler Aldi-Nord-Regionalgesellschaften sind Mitglied in der AUB, diese selbst steht den Arbeitgebern nahe. Durch die Schließung der Regionalzentren in Bad Laasphe, Horst und Wittstock verlieren die letzten Betriebsräte, die der Gewerkschaft ver.di angehören, ihren Status. Siehe auch Liste von Lebensmitteleinzelhändlern Literatur – chronologisch – Hans Otto Eglau: Karl und Theo Albrecht. Die Discounter von der Ruhr. In: Ders.: Die Kasse muß stimmen. So hatten sie Erfolg im Handel. Econ, Düsseldorf 1972, S. 105–120. Hannes Hintermeier: Die Aldi-Welt. Nachforschungen im Reich der Discount-Milliardäre. Goldmann, München 2000, ISBN 3-442-15063-9. Dieter Brandes: Die 11 Geheimnisse des ALDI-Erfolgs. Campus, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-593-37294-0, . Wolfgang Fritz: Die Aldisierung der Gesellschaft – Eine ökonomische Perspektive. Braunschweig 2005, ISBN 3-933628-60-1. Eberhard Fedtke: ALDI-Geschichten. Ein Gesellschafter erinnert sich. Mit Zeichnungen von Philipp Heinisch. NWB-Verlag, Herne 2012, ISBN 978-3-482-63731-5, Einführung (PDF; 1,8 MB), Besprechung: Andreas Straub: Einfach billig. Ein ehemaliger Manager packt aus. Rowohlt, Reinbek 2012, ISBN 978-3-499-62959-4, (), Besprechung: Silke Gronwald, Rolf-Herbert Peters und Michael Streck: Die Masse macht's – 100 Jahre Aldi. Eine deutsche Konsum-Geschichte. In: stern, 4. April 2013, Nr. 15, S. 76–87 (Titelgeschichte) und als Audiodatei der DZB, 30:52 Min. Martin Kuhna: Die Albrechts: Auf den Spuren der ALDI-Unternehmer. Redline Verlag, München 2015, ISBN 978-3-86881-572-6, . Guido Knopp: Schampus für alle. ALDI – eine deutsche Geschichte. Fischer Krüger, Frankfurt am Main 2021, ISBN 978-3-8105-3078-3 (in Zusammenarbeit mit Mario Sporn). Dokumentarfilme Supermarkt – die umworbene Kundschaft. Dokumentarfilm, Schweiz, 2005, 30:24 Min., Buch und Regie: Ursula Bischof Scherer, Produktion: NZZ Format, Erstsendung: 24. April 2005 bei SRF 1, , online-Video von NZZ Format. Aldi – Mutter aller Discounter. Dokumentation, Deutschland, 2009, 83 Min., Buch und Regie: Rasmus Gerlach, Produktion: NDR, Erstsendung: 2. November 2009, Inhaltsangabe von NDR, online-Video. Der Aldi-Check. Dokumentation, Deutschland, 2011, 44:38 Min., Buch und Regie: Nicole Kohnert und Herbert Kordes, Produktion: WDR, Erstsendung: 22. August 2011, Reihe: Der Markencheck, von Das Erste, online-Video. Die Aldi-Story – Karl und Theo Albrecht. Dokumentation, Deutschland, 2014, 43:20 Min., Buch und Regie: Sebastian Dehnhardt und Manfred Oldenburg, Produktion: ZDF, Erstsendung: 9. Dezember 2014, Reihe: ZDFzeit, online-Video. Wie Aldi in den Osten kam. Dokumentation, Deutschland, 2015, 29:45 Min., Buch und Regie: Joachim Förster und Caspar Kaltofen, Produktion: Maximus Film, MDR, Reihe: Umschau extra, Erstsendung: 19. Mai 2015, online-Video. Aldi Couture. Fernseh-Reportage, Deutschland, 2017, 2:28 Min., Buch und Regie: Boris Berg, Moderation: Annette Betz, Produktion: Bayerischer Rundfunk, Redaktion: Abendschau – Der Süden, Erstsendung: 28. November 2017 bei BR Fernsehen, online-Video von AMD Akademie Mode & Design. Die Aldi-Brüder. (Alternativtitel: Aldi. Eine deutsche Geschichte.) Dokudrama, Deutschland, 2018, 88:06 Min., Buch: Dirk Eisfeld, Hannah Ley, Raymond Ley, Regie: Raymond Ley, Produktion: AVE, WDR, NDR, SWR, Erstsendung: 22. Oktober 2018 in Das Erste, . Im Zentrum der Handlung stehen die Brüder Theo und Karl Albrecht, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg den Laden Karl Albrecht-Lebensmittel ihrer Mutter Anna Albrecht übernehmen und daraus eine Selbstbedienungs-Ladenkette machen. Die Firmengeschichte wechselt mit Zwischenschnitten zur 17-tägigen Entführung von Theo Albrecht Ende November 1971. U. a. mit Arnd Klawitter als Theo Albrecht, Christoph Bach als Karl Albrecht, Peter Kurth als Rechtsanwalt Heinz-Joachim Ollenburg. Ausstellung I love ALDI. Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen, 26. November 2011 bis 4. März 2012, Rezensionen: Weblinks aldi.com – Unternehmensseite Einzelnachweise Abkürzung Einzelhandelsunternehmen (Deutschland) Unternehmensverbund Supermarkt Onlineshop Roundtable on Sustainable Palm Oil Unternehmen (Essen) Unternehmen (Mülheim an der Ruhr) Gegründet 1913 Einzelhandelsunternehmen (Luxemburg)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Akkad
Akkad
Akkad (sumerisch KUR URIKI, A.GA.DEKI) war eine Stadt in Mesopotamien. Im späten 3. Jahrtausend v. Chr. wurde sie unter Sargon von Akkad zum Zentrum seines Reiches erhoben. Dieses wird heute nach seiner Hauptstadt als Reich von Akkad bzw. Akkadisches Großreich bezeichnet, die entsprechende Periode der mesopotamischen Geschichte Akkadzeit (etwa 2340–2200 v. Chr.) genannt. Außerdem ist die in verschiedenen Sprachstufen und Dialekten bis ins 1. Jahrhundert n. Chr. belegte semitische Sprache Mesopotamiens nach der Stadt benannt: Akkadisch. Die Lage der Stadt war noch in neubabylonischer und persischer Zeit (6./5. Jahrhundert v. Chr.) bekannt, wurde aber später vergessen und ist auch heute noch nicht bekannt. Lokalisierung Auf Grund der Tradition, dass Sargon von Akkad vor dem Beginn seiner Herrschaft Mundschenk des Königs von Kiš war, wird Akkad bisweilen in der Nähe von Kiš vermutet (so noch Hans J. Nissen, wenn auch ohne konkreten Lokalisierungsvorschlag). Die Identifizierung mit der Ortslage Ischan Mizyad bei Kiš ließ sich allerdings durch archäologische Ausgrabungen nicht bestätigen. Unter Berufung darauf, dass Akkad nach antiken Quellen zeitweise zum elamischen Herrschaftsgebiet gehörte, neigt man heute eher zu einer nördlicheren Lokalisierung, und zwar am Tigris oberhalb der Einmündung des Diyala und südlich von Aššur. Nachdem eine Lokalisierung im Gebiet des heutigen Bagdad ebenfalls nicht bestätigt werden konnte, nimmt A. Westenholz als einer der besten Kenner der Akkad-Zeit an, dass die Stadt sich unter einem der großen bisher unerforschten Ruinenhügel in der Nähe der Einmündung des Adhaim in den Tigris befindet. In dieselbe Richtung weisen auch die Überlegungen von Dietz-Otto Edzard, wonach Akkad im Bereich des „Flaschenhalses“ zu suchen sei, d. h. der Gegend, in der Euphrat und Tigris einander am nächsten kommen. Geschichte der Stadt und ihres Großreichs Die erste Erwähnung der Stadt stammt aus der Zeit von Enschakuschanna, 24. Jahrhundert v. Chr., von Uruk, einem Herrscher, der etwa eine Generation älter war als Sargon von Akkad. Enschakuschanna benannte eines seiner Regierungsjahre nach der Plünderung von Akkad. Daraus ergibt sich, dass Sargon entgegen älteren Ansichten die Stadt nicht selbst gegründet hat; vielmehr war Akkad vor Sargon sogar schon so bedeutend, dass seine Plünderung in eine Jahresbezeichnung aufgenommen wurde. Sargon von Akkad war nach alten Traditionen „Mundschenk“ (hoher Beamtentitel, nicht Diener bei Tisch) des Königs von Kisch, bevor er selbst – wahrscheinlich durch den Sturz seines ehemaligen Herrn – König wurde. Indem er siegreiche Kriege gegen Lugal-Zagesi von Uruk führte, der eine Art Oberherrschaft über das südliche Mesopotamien, darunter auch über Kiš, innehatte, unterwarf er sich ein größeres Herrschaftsgebiet, das er zu einem zentral verwalteten Staat zusammenfasste. Dass er das außerhalb der alten Kulturzentren liegende Akkad zum Mittelpunkt dieses Reiches machte, also keine der alten sumerischen Königsstädte, hängt damit zusammen, dass sein Zentralstaat gegenüber den älteren sumerischen Stadtstaaten etwas Neues sein sollte. Daher empfahl sich eine Residenz, in der keine älteren stadtstaatlichen Traditionen lebendig waren. Zugleich ist wohl davon auszugehen, dass Sargon selbst in Akkad bzw. seiner Umgebung familiär verwurzelt war. Von dort aus konnte er sich, gestützt auf Verwandte und andere Vertrauensleute, etwa Befreundete seines Stammes, eine Hausmacht aufbauen. Die aus Sargons Königsinschriften bekannte Nachricht, dass er in seinem gesamten Herrschaftsgebiet „Söhne von Akkad“ zu Statthaltern einsetzte, ist aus solchen Erwägungen verständlich. Indem er Vertrauensleute über die unterworfenen Gebiete einsetzte, schuf er eine enge Verbindung zwischen dem Herrschaftszentrum und den einzelnen zum Reich gehörigen Gebieten. Dass Sargon Akkad zur zentralen Hauptstadt ausbaute, geht auch aus der Mitteilung hervor, dass er Schiffe, die Waren aus fernen Ländern herbeibrachten, in Akkad vor Anker gehen ließ. Offensichtlich hat er in Akkad, das selbst bei der südlicheren Lokalisierung in der Nähe von Kiš hunderte von Kilometern vom Meer entfernt lag, einen Hafen angelegt, um das „Einfuhrmonopol“ (Hans J. Nissen) der neuen Hauptstadt gegenüber den älteren sumerischen Städten des Südens zu sichern. Die damit verbundene Bedeutung der Hauptstadt ergibt sich, wenn man bedenkt, wie wichtig der Fernhandel für das rohstoffarme Mesopotamien gewesen ist. Sargons Staatsgründung war erfolgreich: Sein Reich wurde nach ihm noch von vier seiner Nachkommen in drei Generationen regiert: Es folgten ihm seine Söhne Rimuš und Maništušu, sein Enkel Naram-Sin, der nach Sargon selbst der bedeutendste König des Reiches von Akkad war, sowie dessen Sohn Šar-kali-šarri, der bis ca. 2200 v. Chr. herrschte (siehe auch: Liste der Könige von Akkad). Die zentralstaatliche Ordnung hat zweifellos zum Erfolg des Reiches beigetragen, allerdings haben alle akkadischen Könige gegen den Widerstand regionaler Kräfte kämpfen müssen. Bekannt ist etwa die große Revolte gegen Naram-Sin, die von den alten Königsstädten Ur und Kiš angeführt wurde, und die er offenbar mit äußerster Kraftanstrengung niederkämpfte. Sein Sieg hinterließ einen solch starken Eindruck, dass der König noch zu Lebzeiten göttliche Ehren als Stadtgott von Akkad zugesprochen bekam. Unter Naram-Sins Sohn Šar-kali-šarri zerfiel die Zentralgewalt aber immer mehr, nach seinem Tode kämpften verschiedene Kandidaten um die Königsherrschaft, und die innere Anomie ermöglichte es den Gutäern, die aus dem Zāgros-Gebirge ins mesopotamische Flachland einfielen, das Reich zu vernichten. Sie errichteten daraufhin eine Herrschaft, die sich in der Tradition der Könige von Akkad sah. Jedenfalls bezeichnete der Gutäerkönig Erridu-pizir in einer Inschrift den Familiengott der altakkadischen Dynastie als seinen Gott. Das Reich von Akkad lebte in der geschichtlichen Erinnerung des Alten Orients fort. Als prominentestes Beispiel ist wohl eine biblische Notiz über Nimrod zu nennen, in der Erech für Uruk, Schinar für Sumer und Aššur für Assyrien steht: Nimrod war der erste „Gewaltige“ auf der Erde, also der erste Großkönig. Dass hinter der Nimrod-Figur Erinnerungen an einen mesopotamischen Gott oder König stehen, wird allgemein zugegeben, wobei umstritten ist, an welche konkrete Gestalt zu denken sei. Die plausibelste These sieht darin eine Erinnerung an Naram-Sin von Akkad, dessen Name vielleicht zu „Nimrod“ verballhornt wurde. Einer der wichtigsten Könige des ersten mesopotamischen Großreiches wäre damit in der geschichtlichen Erinnerung zum ersten Großkönig überhaupt geworden, und diese Erinnerung hätte sich noch nach vielen Jahrhunderten bei den Nachbarvölkern der Mesopotamier erhalten. Andere Beispiele für das historische Nachleben des Reiches von Akkad sind spätere Erzählungen über Sargon von Akkad und Naram-Sin, die in Mesopotamien, aber auch bei den Hethitern entstanden bzw. überliefert wurden. Was die Geschichte der Stadt nach dem Ende des Akkadischen Großreichs angeht, so zeigen Inschriften aus der Zeit der dritten Dynastie von Ur, dass Akkad immer noch Sitz eines Provinz-Gouverneurs war. Im Prolog des Codex Hammurapi erscheint es als Kultzentrum der altbabylonischen Zeit. König Nabonid von Babylon (555–539 v. Chr.) ließ Ausgrabungen in der Gegend des alten Akkad vornehmen, bei denen u. a. eine Inschrift des altakkadischen Königs Naram-Sin zu Tage kam. Die letzte antike Erwähnung der Stadt findet sich in einem Dokument aus der Zeit des Perserkönigs Dareios I. (522–486 v. Chr.). Archäologie der Akkad-Zeit Die bisher wichtigsten Fundorte der Akkad-Zeit sind die Provinzresidenz in Tell Brak, der alte Palast in Aššur, eine komplexere Siedlungsstruktur in Tell Asmar, die Städte Susa und Ninive. Die gefundenen Tontafeln geben Aufschluss über die Herrscher Akkads und ihre Regierungszeiten. In Ninive wurde der aus Kupfer gegossene Kopf eines nicht namentlich zu bestimmenden akkadischen Herrschers gefunden, der Aufschluss über die künstlerischen Fertigkeiten jener Zeit gibt. In Susa wurde unter anderem die Siegesstele des Naram-Sin gefunden, die wie der Bronzekopf und verschiedene Rollsiegel von der Kunstfertigkeit der Akkad-Zeit zeugen. Kunst und Handwerk der Akkad-Zeit unterscheiden sich stark von den vorhergehenden und den nachfolgenden Dynastien. Rollsiegel tragen detailliertere, individuellere und anatomisch korrektere Darstellungen. Das vorher verbreitete Kleidungsstück, der Zottenrock, wurde mehr und mehr zur Bekleidung der Götter, die menschlichen Figuren trugen nun einfache glatte Gewänder. Bisher liegen kaum Funde aus der Akkad-Zeit vor, die Aufschlüsse über Architektur oder Lebensweise geben. Versuche, die Geschichte der Epoche auf verschiedenen Ebenen (politisch, sozial …) zu rekonstruieren, müssen sich daher weitgehend auf Textquellen stützen. Ein weiteres Problem liegt darin, dass die meisten bisher entdeckten Fundstücke im 2. Jahrtausend v. Chr. als Beutestücke nach Susa verschleppt wurden und daher nicht mehr in ihrem ursprünglichen Kontext stehen. Könige von Akkad Literatur Dietz-Otto Edzard: Geschichte Mesopotamiens. Von den Sumerern bis zu Alexander dem Großen, München 2004, ISBN 3-406-51664-5, S. 76–95. Hans J. Nissen: Grundzüge einer Geschichte der Frühzeit des Vorderen Orients. 3. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1995, ISBN 3-534-08643-0, S. 183–213. Gebhard J. Selz: Sumerer und Akkader. Geschichte, Gesellschaft, Kultur. C.H.Beck, München 2005, ISBN 3-406-50874-X, vor allem S. 63–75. H. Weiss: Akkade. In: The Oxford Encyclopedia of Archaeology in the Ancient Near East. Band I. Oxford University Press, New York 1997, ISBN 0-19-511215-6, S. 41–44. Rainer Michael Boehmer: Die Entwicklung der Glyptik während der Akkad-Zeit. Walter de Gruyter, Berlin 1965. A. Westenholz: The Old Akkadian Period: History and Culture. In: Walther Sallaberger, A. Westenholz: Mesopotamien. Akkade-Zeit und Ur III-Zeit. Orbis biblicus et orientalis. 160/3. Universitätsverlag, Freiburg Schw 1999, 15–117, (zur Stadt Akkad vgl. S. 30–34). ISBN 3-525-53325-X Weblinks Antike mesopotamische Stadt
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https://de.wikipedia.org/wiki/Akkadische%20Sprache
Akkadische Sprache
Akkadisch (akkadû, ak-ka-du-u2; Logogramm: URIKI) ist eine ausgestorbene semitische Sprache, die stark vom Sumerischen beeinflusst wurde. Sie wurde bis ins erste nachchristliche Jahrhundert in Mesopotamien und im heutigen Syrien verwendet, in den letzten Jahrhunderten ihres Gebrauchs zunehmend vom Aramäischen verdrängt und diente zuletzt nur noch als Schrift- und Gelehrtensprache. Ihre Bezeichnung ist vom Namen der Stadt Akkad abgeleitet. Akkadisch war zusammen mit dem Aramäischen Volks- und Amtssprache in Mesopotamien sowie zeitweise die Sprache der internationalen Korrespondenz in Vorderasien bis nach Ägypten. Ihre beiden wichtigsten Dialekte waren Babylonisch und Assyrisch. Das Eblaitische wird von den meisten Forschern als nächster Verwandter des Akkadischen betrachtet. Klassifikation Mit den übrigen semitischen Sprachen gehört das Akkadische zu den afroasiatischen Sprachen, einer Sprachfamilie, die in Vorderasien und Nordafrika beheimatet ist. Innerhalb der semitischen Sprachen bildet das Akkadische eine eigene „ostsemitische“ Untergruppe. Es unterscheidet sich von nordwest- und südsemitischen Sprachen durch die Wortstellung Subjekt-Objekt-Verb (SOV), während die beiden anderen Zweige zumeist eine Verb-Subjekt-Objekt- oder Subjekt-Verb-Objekt-Stellung verwenden. Diese Wortstellung geht auf den Einfluss des Sumerischen zurück, das ebenfalls eine SOV-Stellung hat. Daneben verwendete das Akkadische als einzige semitische Sprache die Präpositionen ina (Lokativ, also dt. in, an, bei, mit) und ana (Dativ-Allativ, also dt. für, zu, nach). Viele benachbarte, nordwestsemitische Sprachen, wie das Arabische und das Aramäische, haben stattdessen bi/bə (Lokativ) bzw. li/lə (Dativ). Die Herkunft der akkadischen Ortspräpositionen ist ungeklärt. Im Gegensatz zu den meisten übrigen semitischen Sprachen hat das Akkadische nur einen Frikativ, nämlich ḫ . Es hat sowohl den glottalen als auch die pharyngalen Frikative verloren, die für die übrigen semitischen Sprachen typisch sind. Die Sibilanten (Zischlaute) des Akkadischen waren zumindest bis zur altbabylonischen Zeit (ca. 19. Jahrhundert v. Chr.) ausschließlich Affrikaten. Geschichte und Schrift Schrift Altakkadisch ist auf Tontafeln seit etwa 2600 v. Chr. überliefert. Es wurde mit der von den Sumerern übernommenen Keilschrift geschrieben. Im Unterschied zum Sumerischen wurde sie jedoch im Akkadischen zu einer voll ausgebildeten Silbenschrift weiterentwickelt. Der Logogramm-Charakter dieser Schrift trat in den Hintergrund. Dennoch verwandte man vor allem bei sehr häufig gebrauchten Wörtern wie „Gott“, „Tempel“, u. a. auch weiterhin die entsprechenden Logogramme. So kann das Zeichen AN z. B. einerseits als Logogramm für „Gott“ stehen, andererseits den Gott An bezeichnen und auch als Silbenzeichen für die Silbe -an- verwendet werden. Daneben kommt das gleiche Zeichen als Determinativ für Götternamen zur Anwendung. Das Beispiel 4 in der Abbildung rechts zeigt eine andere Eigenart des akkadischen Keilschriftsystems. Viele Silbenzeichen haben keinen eindeutigen Lautwert. Manche, wie z. B. AḪ, differenzieren ihren Silbenvokal nicht. Auch in der anderen Richtung gibt es keine eindeutige Zuordnung. Die Silbe -ša- wird beispielsweise mit dem Zeichen ŠA, aber auch mit dem Zeichen NÍĜ wiedergegeben, oft sogar innerhalb eines Textes wechselnd. Sprachentwicklung Das Altakkadische, das bis zum Ende des dritten vorchristlichen Jahrtausends verwendet wurde, unterscheidet sich sowohl vom Babylonischen wie auch vom Assyrischen, zwei Dialekte, die aus dem Altakkadischen hervorgingen und es ablösten. Bereits im 21. Jahrhundert v. Chr. waren diese beiden späteren Hauptdialekte deutlich unterscheidbar. Altbabylonisch ist, wie auch das ihm nahestehende Mariotische, deutlich innovativer als das etwas archaische Altassyrische und das sprachlich und geografisch entferntere Eblaitische. So findet sich im Altbabylonischen erstmals die Form lu-prus (ich will entscheiden) statt des älteren la-prus. Dennoch hat auch Assyrisch eigene Neuerungen entwickelt, wie z. B. die „assyrische Vokalharmonie“, die jedoch nicht mit den Harmoniesystemen im Türkischen oder Finnischen zu vergleichen ist. Das Eblaitische ist sehr archaisch, es kennt noch einen produktiven Dual sowie ein nach Fall, Zahl und Geschlecht differenziertes Relativpronomen. Beides ist bereits im Altakkadischen verschwunden. Altbabylonisch ist die Sprache König Hammurapis, der den in heutiger Zeit nach ihm benannten Codex Hammurapi, einen der ältesten Gesetzestexte der Welt, schuf. Ab dem 15. Jahrhundert v. Chr. spricht man von „Mittelbabylonisch“. Die Trennung ist dadurch bedingt, dass die Kassiten um 1550 v. Chr. Babylon eroberten und über 300 Jahre lang beherrschten. Sie gaben zwar ihre Sprache zugunsten des Akkadischen auf, beeinflussten die Sprache jedoch. In der Blütezeit des Mittelbabylonischen galt es in der gesamten Alten Welt des Orients, einschließlich Ägyptens, als Schriftsprache der Diplomatie. In diese Zeit fällt auch die Übernahme zahlreicher Lehnwörter aus nordwestsemitischen Sprachen und aus dem Hurritischen. Sie waren jedoch nur in den Grenzregionen des akkadischen Sprachgebiets gebräuchlich. Auch das Altassyrische entwickelte sich im zweiten vorchristlichen Jahrtausend weiter. Da es jedoch eine reine Volkssprache war – die Könige schrieben Babylonisch –, sind nur wenige umfangreiche Texte aus dieser Zeit überliefert. Man spricht von „Mittelassyrisch“ bei dieser Sprache von etwa 1500 v. Chr. an. Im 1. Jahrtausend v. Chr. wurde das Akkadische mehr und mehr als Amtssprache verdrängt. Zunächst bestanden ab etwa 1000 v. Chr. Akkadisch und Aramäisch parallel als Amtssprachen. Das wird auf vielen Abbildungen deutlich, auf denen ein Tontafelschreiber Akkadisch schreibt und ein Papyrus- oder Lederschreiber Aramäisch. Auch die zeitgenössischen Texte zeigen dies. Man spricht ab dieser Zeit von „Neuassyrisch“ bzw. „Neubabylonisch“. Ersteres erhielt im 8. Jahrhundert v. Chr. einen großen Aufschwung durch den Aufstieg des Assyrischen Reichs zur Großmacht. Im Jahre 612 v. Chr. wurden die Stadt Ninive und damit das assyrische Reich zerstört. Von da an gab es nur noch etwa zehn Jahre lang spärliche assyrische Texte. Nach dem infolge der Eroberung des Zwischenstromlands durch die Perser herbeigeführten Ende der mesopotamischen Reiche wurde Akkadisch, das dann nur noch in Form des „Spätbabylonischen“ existierte, als Volkssprache verdrängt, jedoch als Schriftsprache weiterhin verwendet. Auch nach dem Einmarsch der Griechen unter Alexander dem Großen im 4. Jahrhundert v. Chr. konnte sich die Sprache als Schriftsprache behaupten. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass zu dieser Zeit Akkadisch als gesprochene Sprache bereits ausgestorben war oder zumindest nur noch in sehr geringem Umfang verwendet wurde. Die jüngsten Texte in akkadischer Sprache stammen aus dem späten ersten nachchristlichen Jahrhundert, doch wurde die Kenntnis, akkadische Texte in Keilschrift zu lesen, unter Gelehrten offenbar noch bis ins dritte nachchristliche Jahrhundert weitergegeben. Entzifferung Die akkadische Sprache wurde erst wiederentdeckt, als der Deutsche Carsten Niebuhr in dänischen Diensten 1767 umfangreiche Abschriften von Keilschrifttexten anfertigen konnte und in Dänemark präsentierte. Sofort begannen die Bemühungen, die Schrift zu entschlüsseln. Besonders hilfreich waren dabei mehrsprachige Texte, die unter anderem altpersische und akkadische Teile hatten. Dadurch, dass zahlreiche Königsnamen in diesen Texten vorkamen, konnte man zumindest einige Keilschriftzeichen identifizieren, die 1802 von Georg Friedrich Grotefend der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Bereits damals erkannte man, dass Akkadisch zu den semitischen Sprachen gehört. Der endgültige Durchbruch in der Entzifferung der Schrift und damit im Zugang zur akkadischen Sprache gelang in der Mitte des 19. Jahrhunderts Edward Hincks und Henry Rawlinson. Dialekte Die folgende Tabelle enthält zusammenfassend die bisher sicher identifizierten Dialekte des Akkadischen. Einige Wissenschaftler (beispielsweise Sommerfeld (2003)) nehmen weiterhin an, dass das in den ältesten Texten verwendete „Altakkadisch“ keine Vorform der späteren Dialekte Assyrisch und Babylonisch war, sondern ein eigener Dialekt, der jedoch von diesen beiden verdrängt wurde und früh ausstarb. Das Eblaitische in Nordsyrien (in und um Ebla) wird von manchen Forschern als ein weiterer akkadischer Dialekt betrachtet, meistens jedoch als eigenständige ostsemitische Sprache. Phonetik und Phonologie Da das Akkadische als gesprochene Sprache ausgestorben ist und über die Aussprache keine zeitgenössischen Aufzeichnungen gemacht wurden, lässt sich die exakte Phonetik und Phonologie nicht mehr erforschen. Jedoch können aufgrund der Verwandtschaft zu den übrigen semitischen Sprachen und auch der Varianten der Schreibungen innerhalb des Akkadischen einige Aussagen getroffen werden. Konsonanten Die folgende Tabelle gibt die in der akkadischen Keilschriftverwendung unterschiedenen Laute wieder. Die IPA-Zeichen stellen die nach Streck 2005 vermutete Aussprache dar. In Klammern dahinter folgt die Transkription, die in der Fachliteratur für diesen Laut anzutreffen ist, sofern sie sich vom Lautschrift-Zeichen unterscheidet. Diese Umschrift wurde für alle semitischen Sprachen von der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) vorgeschlagen und daher als DMG-Umschrift bezeichnet. Für die Lateralaffrikate /š/ wird von einigen Wissenschaftlern eine frikativische Aussprache ( oder ) vermutet. Vokale Daneben wird von den meisten Akkadologen die Existenz eines hinteren mittleren Vokals (o oder ) vermutet. Die Keilschrift bietet hierfür jedoch kaum Evidenz. Alle Konsonanten und Vokale kommen kurz und lang vor. Konsonantenlänge wird durch Doppeltschreibung des betreffenden Konsonanten ausgedrückt, Vokallänge durch einen Querstrich über dem Vokal (ā, ē, ī, ū). Dieser Unterschied ist phonemisch, d. h. bedeutungsunterscheidend, und wird auch in der Grammatik ausgenutzt, z. B. iprusu (dass er entschied) vs. iprusū (sie entschieden). Betonung Über die Betonung im Akkadischen ist nichts bekannt. Zwar gibt es einige Anhaltspunkte, wie die Vokaltilgungsregel, die im Folgenden kurz beschrieben wird, sowie einige Schreibungen in der Keilschrift, die eine Hervorhebung bestimmter Vokale darstellen könnten, jedoch konnte bisher keine Betonungsregel bewiesen werden. Das Akkadische kennt eine Regel, die kurze (und wahrscheinlich unbetonte) Vokale löscht. Dies geschieht nicht mit Vokalen in der letzten Silbe von Wörtern und auch nur in offenen Silben, die einer anderen offenen Silbe mit kurzem Vokal folgen. Offene Silben sind dabei solche, die auf einen Vokal enden. Beispielsweise lautet das Verbaladjektiv (Partizip II) des Verbs prs (entscheiden, trennen) in seiner weiblichen Form paris-t-um (-t zeigt das feminine Geschlecht an, -um ist die Nominativ-Endung). Das /i/ wird nicht getilgt, da es sich in einer geschlossenen Silbe (/ris/) befindet. In seiner männlichen Form heißt es jedoch pars-um, da in der zugrundeliegenden Form /pa.ri.sum/ das /i/ in einer offenen Silbe steht und auf eine kurze offene Silbe (/pa/) folgt. In den späteren Sprachstufen des Akkadischen ist daneben eine generelle Tilgung kurzer Vokale im Wortauslaut zu beobachten. Grammatik Morphologie Allgemeines Wie alle semitischen Sprachen verwendet auch das Akkadische die sogenannte Wurzelflexion. Die „Wurzel“ eines Wortes, die seine Grundbedeutung beinhaltet, besteht in der Regel aus drei Konsonanten, den sogenannten Radikalen. Die Radikale oder Wurzelkonsonanten werden in der Transliteration im Allgemeinen mit großen Buchstaben wiedergegeben, z. B. PRS (entscheiden, trennen). Zwischen und um diese Wurzelkonsonanten werden im Akkadischen verschiedene Infixe, Präfixe und Suffixe gesetzt, die grammatikalische und wortbildende Funktionen aufweisen. Das Konsonant-Vokal-Muster, das sich ergibt, differenziert die Grundbedeutung der Wurzel. Der mittlere Wurzelkonsonant (Radikal) kann einfach oder verdoppelt (gelängt) sein. Dieser Unterschied ist ebenfalls bedeutungsdifferenzierend. Beispiele hierfür finden sich im Abschnitt „Verbmorphologie“. Die Konsonanten ʔ, w, j und n werden als „schwache Radikale“ bezeichnet. Wurzeln, die diese Radikale enthalten, bilden unregelmäßige Stammformen. Dieses morphologische System unterscheidet sich deutlich von dem der indogermanischen Sprachen. Im Deutschen ändert sich beispielsweise die Wortbedeutung grundlegend, wenn man einzelne Vokale austauscht, z. B. „Rasen“ vs. „Rosen“. Allerdings ähnelt der Ablaut (z. B. Präsens „(wir) singen“ vs. Präteritum „(wir) sangen“), der schon urindogermanischen Alters ist, dem semitischen System. Kasus, Numerus und Genus Das Akkadische hat zwei grammatische Geschlechter, männlich und weiblich. Weibliche Substantive und Adjektive haben meistens ein -(a)t am Ende des Stamms. Das Kasussystem ist einfach. Es beinhaltet im Singular drei Kasus (Nominativ, Genitiv und Akkusativ), im Plural jedoch nur zwei Kasus (Nominativ und Obliquus). Adjektive kongruieren in Kasus, Numerus und Genus mit dem Bezugswort und folgen diesem in der Regel. Am Beispiel der Substantive šarrum (König) und šarratum (Königin) und des Adjektivs dannum (stark) wird in der folgenden Tabelle das Kasussystem im Altbabylonischen verdeutlicht: Wie man sieht, unterscheiden sich die Endungen für Substantive und Adjektive nur im männlichen Plural. Einige Substantive, vor allem geografische Begriffe wie „Stadt“, „Feld“ u. ä. können im Singular zusätzlich einen Lokativ auf -um bilden. Dieser ist jedoch anfangs nicht produktiv und die resultierenden Formen stellen erstarrte adverbiale Bestimmungen dar. In neubabylonischer Zeit wird der um-Lokativ immer häufiger und ersetzt in vielen Formen die Konstruktion mit der Präposition ina. In späteren Entwicklungsstufen des Akkadischen ist, außer im Lokativ, zunächst die sogenannte Mimation (analog mit der Nunation, die im Arabischen auftritt), also das -m, das in den meisten Kasusendungen auftritt, entfallen. Später fielen im Singular der Substantive Nominativ und Akkusativ zu -u zusammen. Im Neubabylonischen trat ein Lautwandel ein, durch den kurze Vokale im Wortauslaut verschwanden. Damit entfiel die Unterscheidung der Kasus außer bei den männlichen Nomen im Plural. In vielen Texten wurden die Kasusvokale jedoch weiterhin geschrieben, dies jedoch nicht konsequent und oft auch falsch. Da die wichtigste Kontaktsprache des Akkadischen in dieser Zeit das Aramäische war, das ebenfalls über keine Kasusunterscheidung verfügt, war diese Entwicklung wohl nicht nur phonologisch bedingt. Status Das akkadische Substantiv besitzt drei verschiedene Status. Sie drücken die syntaktische Beziehung des Substantivs zu anderen Satzteilen aus. Der status rectus (regierter Status) ist dabei die Grundform. Der status absolutus (absoluter Status) wird verwendet, wenn das Substantiv in einem Nominalsatz (z. B. A ist ein B) als Prädikat verwendet wird. Folgt einem Substantiv ein Possessivsuffix oder ein Substantiv im Genitiv, so muss es im status constructus stehen, der oft genau wie der Status absolutus durch Abtrennen des Kasussuffixes gebildet wird. Eine Genitivverbindung kann jedoch auch mit der Partikel ša hergestellt werden. Das Substantiv, von dem die Genitivphrase abhängt, steht dabei im Status rectus. Die gleiche Partikel wird auch zur Anknüpfung von Relativsätzen verwendet. Verbmorphologie Bei den Verben werden vier Stämme unterschieden. Der Grundstamm (G-Stamm) ist die nicht-abgeleitete Form. Mit dem Dopplungsstamm (D-Stamm) werden Applikativ-, Kausativ- oder Intensivformen gebildet. Er erhielt seine Bezeichnung von der Dopplung des mittleren Radikals, die für D-Formen typisch ist. Die gleiche Dopplung tritt jedoch auch im Präsens der übrigen Stammformen auf. Der Š-Stamm (Stammbildungselement š-) wird für Kausative verwendet. Im D- und Š-Stamm ändern die Konjugationspräfixe ihren Vokal in /u/. Der N-Stamm drückt Passiv aus. Das Stammbildungselement n- wird dabei an den folgenden ersten Konsonanten der Wurzel angeglichen, der dadurch gelängt wird (vgl. Bsp. 9 in der folgenden Tabelle). In einigen Formen steht es jedoch nicht direkt vor dem Konsonanten, wodurch die ursprüngliche Form /n/ erhalten bleibt (vgl. Bsp. 15). Jeder der vier Stämme kann neben der normalen Verwendung einen Reflexiv- und einen Iterativstamm bilden. Die Reflexivstämme werden mit einem Infix -ta- gebildet. Daher werden sie auch Gt-, Dt-, Št- bzw. Nt-Stamm genannt, wobei der Nt-Stamm nur von sehr wenigen Verben gebildet wird. Für die Iterativstämme verwendet man ein Infix -tan-, das jedoch nur im Präsens sichtbar ist. Die übrigen Zeitformen und Ableitungen der sog. tan-Stämme Gtn, Dtn, Štn und Ntn lauten wie die entsprechenden Formen der Reflexivstämme. Von vielen Verben lassen sich auf diese Weise theoretisch viele tausend Formen bilden. Diese äußerst umfangreiche Verbmorphologie ist eines der besonderen Merkmale der semitischen Sprachen. Die folgende Tabelle zeigt einen kleinen Ausschnitt aus der Formenvielfalt der Wurzel PRS (entscheiden, trennen). Eine finite Verbform des Akkadischen beinhaltet obligatorisch die Kongruenz zum Subjekt des Satzes. Diese wird stets durch ein Präfix, in einigen Formen zusätzlich durch ein Suffix realisiert. Wie bereits erwähnt, unterscheiden sich die Präfixe des G- und N-Stamms von denen im D- und Š-Stamm durch ihren Vokal. In der folgenden Tabelle werden die einzelnen Kongruenzformen des Verbs PRS (entscheiden, trennen) im Präteritum der vier Stämme dargestellt (Übersetzung siehe Tabelle oben). Wie man sieht, werden die beiden grammatische Geschlechter nur in der 2. Person Singular und in der 3. Person Plural unterschieden. Zusätzlich zur Subjektskongruenz können bis zu zwei pronominale Suffixe an das Verb antreten, die dann das direkte und das indirekte Objekt markieren. Diese Pronominalsuffixe sind in allen Verbstämmen gleich. Anders als bei den Kongruenzmorphemen werden die beiden grammatischen Geschlechter in der 2. und 3. Person sowohl im Singular als auch im Plural unterschieden. Wenn sowohl direktes als auch indirektes Objekt pronominal markiert werden, geht das indirekte Objekt (Dativ) dem direkten (Akkusativ) voraus. Die Suffixe für das indirekte Objekt der 1. Person Singular (‚mir‘, ‚für mich‘) entsprechen den Ventiv-Suffixen. Dabei steht -am, wenn die Subjektskongruenz ohne Suffix auftritt, -m nach dem Suffix -ī und -nim nach den Suffixen -ā und -ū. Die Ventiv-Suffixe treten oft zusammen mit anderen Dativ-Suffixen oder mit den Suffixen der 1. Person Singular Akkusativ auf. Die folgende Tabelle enthält die Formen der Objektssuffixe, wie sie im Altbabylonischen verwendet wurden: Das -m der Dativsuffixe assimiliert sich dabei an folgende Konsonanten, vgl. Bsp. (7) unten. Die folgenden Beispiele illustrieren die Verwendung der beschriebenen Morpheme. Stativ Eine sehr oft auftretende Form, die sowohl von Nomen, von Adjektiven als auch von Verbaladjektiven gebildet werden kann, ist der Stativ. Angefügt an prädikativ verwendete Substantive (im Status absolutus) entspricht diese Form dem Verb sein im Deutschen. Verbunden mit einem Adjektiv oder Verbaladjektiv wird ein Zustand ausgedrückt. Eine direkte Entsprechung hat der Stativ als Pseudopartizip im Ägyptischen. Die folgende Tabelle enthält am Beispiel des Nomens šarrum (König), des Adjektivs rapšum (breit) und des Verbaladjektivs parsum (entschieden) die einzelnen Formen. Dabei kann šarr-āta sowohl „du warst König“, „du bist König“, als auch „du wirst König sein“ bedeuten, der Stativ ist also von Zeitformen unabhängig. Wortbildung Neben der bereits erläuterten Möglichkeit der Ableitung verschiedener Verbstämme verfügt das Akkadische über zahlreiche Nominalbildungen aus den Verbwurzeln. Eine sehr häufig auftretende Nominalisierung ist die sogenannte ma-PRaS-Form. Sie kann den Ort eines Geschehens, die Person, die die Handlung ausführt, aber auch viele andere Bedeutungen ausdrücken. Ist einer der Wurzelkonsonanten (Radikale) ein labialer Laut (p, b, m), so wird das Präfix zu na-. Beispiele hierfür sind: maškanum (Stelle, Ort) von ŠKN (setzen, stellen, legen), mašraḫum (Pracht) von ŠRḪ (prachtvoll sein), maṣṣarum (Wächter) von NṢR (bewachen), napḫarum (Summe) von PḪR (zusammenfassen). Eine sehr ähnliche Bildung ist die maPRaSt-Form. Die Nomen, die dieser Nominalbildung entstammen, sind grammatisch weiblichen Geschlechts. Für die Bildung gelten die gleichen Regeln wie für die maPRaS-Form, z. B. maškattum (Depositum) von ŠKN (setzen, stellen, legen), narkabtum (Wagen) von RKB (reiten, fahren). Zur Ableitung abstrakter Nomen dient das Suffix -ūt. Die Substantive, die mit diesem Suffix gebildet werden, sind grammatisch weiblich. Das Suffix kann sowohl an Substantive, Adjektive, als auch an Verben angefügt werden, z. B. abūtum (Vaterschaft) von abum (Vater), rabûtum (Größe) von rabûm (groß), waṣūtum (Weggang) von WṢJ (weggehen). Auch Ableitungen von Verben aus Substantiven, Adjektiven und Zahlwörtern sind zahlreich. Zumeist wird aus der Wurzel des Nomens oder Adjektivs ein D-Stamm gebildet, der dann die Bedeutung „X werden“ oder „etwas zu X machen“ besitzt, z. B. duššûm (sprießen lassen) von dišu (Gras), šullušum (etwas zum dritten Mal tun) von šalāš (drei). Präpositionen Das Akkadische verfügt über Präpositionen, die aus einem einzigen Wort bestehen (z. B. ina (in, an, aus, durch, unter), ana (zu, für, nach, gegen), adi (bis), aššu (wegen), eli (auf, über), ištu/ultu (von, seit), mala (gemäß), itti (mit, bei)). Daneben gibt es jedoch einige mit ina und ana zusammengesetzte Präpositionen (z. B. ina maḫar (vor), ina balu (ohne), ana ṣēr (zu … hin), ana maḫar (vor … hin)). Unabhängig ihrer Komplexität stehen alle Präpositionen mit dem Genitiv. Beispiele: ina bītim (im Haus, aus dem Haus), ana … dummuqim (um … gut zu machen), itti šarrim (beim König), ana ṣēr mārīšu (zu seinem Sohn). Zahlwörter Da in der Keilschrift die Zahlen zumeist als Zahlzeichen geschrieben werden, ist die Lautung vieler Zahlwörter noch nicht geklärt. In Kombination mit etwas Gezähltem stehen die Kardinalzahlwörter im Status absolutus. Da andere Fälle sehr selten sind, sind die Formen des Status rectus nur von vereinzelten Zahlwörtern bekannt. Die Zahlwörter 1 und 2 sowie 21–29, 31–39, 41–49 usw. kongruieren mit dem Gezählten im grammatischen Geschlecht. Die Zahlwörter 3–20, 30, 40 und 50 zeigen eine Genuspolarität, d. h. vor männlichen Substantiven steht die weibliche Form des Zahlworts und umgekehrt. Diese Polarität ist typisch für die semitischen Sprachen und tritt z. B. auch im klassischen Arabisch auf. Die Zahlwörter 60, 100 und 1000 lauten in beiden Geschlechtern gleich. Mit den Zahlwörtern ab zwei steht das Gezählte in der Mehrzahl. Bei paarweise vorhandenen Körperteilen kann eine Dualform (Zweizahl) beobachtet werden, die jedoch nicht mehr produktiv gebildet werden kann, z. B. šepum (Fuß) wird zu šepān (zwei Füße). Die Ordnungszahlen werden bis auf wenige Ausnahmen durch Anfügen einer Kasusendung an die Nominalform PaRuS gebildet, wobei P, R und S durch die entsprechenden Konsonanten des Zahlwortes ersetzt werden müssen. Besonders auffällig ist, dass im Fall der Eins die Ordnungszahl und die Kardinalzahl gleichlauten. Bei der Vier tritt eine Metathese (Lautvertauschung) ein. Die folgende Tabelle enthält die männlichen und weiblichen Formen des Status absolutus einiger akkadischer Kardinalzahlen, sowie die entsprechenden Ordnungszahlen. Beispiele: erbē aššātum (vier Ehefrauen) (männliches Zahlwort!), meʾat ālānū (einhundert Städte). Syntax Nominalphrase Außer den Zahlwörtern stehen alle Ergänzungen, die einem Substantiv angefügt werden, nach diesem Substantiv. Das betrifft sowohl Adjektive, Relativsätze als auch Appositionen. Zahlwörter hingegen gehen dem Gezählten voraus. In der folgenden Tabelle wird die Nominalphrase erbēt šarrū dannūtum ša ālam īpušū abūja (die vier starken Könige, die die Stadt gebaut haben, meine Väter) analysiert. Satzsyntax Die bevorzugte Satzstellung im Akkadischen ist Subjekt-Objekt-Prädikat. Die für semitische Sprachen ungewöhnliche Verbletztstellung ist Ergebnis eines jahrhundertelangen Sprachkontakts mit dem Sumerischen, das ebenfalls diese Satzstellung besitzt. Vor allem in literarischen Texten kommen im Akkadischen jedoch auch andere Reihenfolgen vor. Vor allem Chiasmen, d. h. Umkehrungen der Satzstruktur, sind sehr häufig anzutreffen. Ein Beispiel aus dem Tonzylinder von Nabonid (2:20-2:21) verdeutlicht dies: Verbformen von Nebensätzen, die mit einer Konjunktion eingeleitet sind, tragen das Subordinativ-Suffix -u, das jedoch entfällt, wenn ein anderes mit einem Vokal beginnendes Suffix antritt. Die einzige Konjunktion, die stets ohne Subordinativ in der Verbform auftritt, ist šumma (wenn, falls). Die Gründe dafür sind noch nicht geklärt. Einige weitere Konjunktionen sind ša (für Relativsätze), kī(ma) (dass, sodass, nachdem, als, sobald, wie), ūm (als, sobald, während), adi (solange bis), aššum (weil). In Nominalsätzen wird im Akkadischen keine Kopula verwendet, d. h. kein Verb wie das deutsche sein. Stattdessen steht das prädikativ gebrauche Substantiv oder Adjektiv im Stativ, wie zum Beispiel in Awīlum šū šarrāq. (‚Dieser Mann ist ein Dieb.‘). Wortschatz Der akkadische Wortschatz ist großenteils semitischen Ursprungs. Bedingt durch den sprachgeschichtlichen Sonderstatus der Sprache, dessentwegen man sie auch in eine eigene Untergruppe „Ostsemitisch“ einordnet, gibt es aber selbst im Grundwortschatz relativ viele Elemente ohne offensichtliche Parallelen in den verwandten Sprachen, z. B. māru „Sohn“ (semitisch sonst *bn), qātu „Hand“ (semit. sonst *jd), šēpu „Fuß“ (semit. sonst *rgl), qabû „sagen“ (semit. sonst *qwl), izuzzu „stehen“ (semit. sonst *qwm), ana „zu, für“ (semit. sonst *li) etc. Durch den intensiven Sprachkontakt zunächst zum Sumerischen und später zum Aramäischen besteht der akkadische Wortschatz zu einem Teil aus Lehnwörtern aus diesen Sprachen. Die aramäischen Lehnwörter waren dabei in den ersten Jahrhunderten des 1. Jahrtausends v. Chr. hauptsächlich auf Nord- und Mittelmesopotamien beschränkt, während die sumerischen Lehnwörter im gesamten Sprachgebiet verbreitet waren. Neben den genannten Sprachen wurden einige Substantive aus dem Reit- und Haushaltswesen aus dem Hurritischen und aus dem Kassitischen entlehnt. Einige wenige Lehnwörter entstammen dem Ugaritischen. Aufgrund der im Vergleich zu nichtsemitischen Sprachen sehr verschiedenen Wortstruktur war es den Akkadern nicht möglich, sumerische oder hurritische Verben in die semitische Wurzelflexion zu übernehmen. Aus diesem Grund wurden aus diesen Sprachen nur Substantive und einige Adjektive entlehnt. Da jedoch das Aramäische und das Ugaritische ebenfalls zu den semitischen Sprachen gehören und daher auch über eine Wurzelflexion verfügen, konnten aus diesen Sprachen einige Verben, aber auch viele Nomina übernommen werden. Die folgende Tabelle enthält Beispiele für Lehnwörter im Akkadischen. Aber auch das Akkadische war Quelle von Entlehnungen, vor allem ins Sumerische. Einige Beispiele sind: sum. da-rí (dauernd, von akk. dāru), sum. ra-gaba (Berittener, Bote, von akk. rākibu). Beispieltext Der folgende kleine Text ist der Paragraph 7 des Codex Hammurapi, der etwa im 18. Jahrhundert v. Chr. verfasst wurde. Die Abkürzungen St.cs. und St.abs. stehen für „Status constructus“ bzw. „Status absolutus“. Übersetzung: ‚Wenn ein Bürger aus der Hand des Sohnes eines anderen Bürgers oder eines Sklaven eines Bürgers ohne Zeugen oder Vertrag Silber, Gold, einen Sklaven, eine Sklavin, ein Rind, ein Schaf, einen Esel oder irgendetwas anderes kauft oder in Verwahrung nimmt, ist dieser Bürger ein Dieb und wird getötet.‘ Akkadische Literatur Atraḫasis-Epos (frühes 2. Jahrtausend v. Chr.) Enūma eliš (etwa 18. Jahrhundert v. Chr.) Gilgamesch-Epos (Standard-Version etwa 13. bis 11. Jahrhundert v. Chr.) Siehe auch :Kategorie:Akkadische Inschrift Literatur Allgemeine Beschreibungen und Grammatiken Giorgio Buccellati: A Structural Grammar of Babylonian. Harrassowitz, Wiesbaden 1996. ISBN 3-447-03612-5 Wolfram von Soden: Grundriß der Akkadischen Grammatik. Analecta Orientalia 33. Rom 1995. ISBN 88-7653-258-7 Michael P. Streck: Sprachen des Alten Orients. Wiss. Buchges., Darmstadt 2005. ISBN 3-534-17996-X Arthur Ungnad: Grammatik des Akkadischen. Neubearbeitung durch Lubor Matouš. 5. Auflage. München 1969, 1979, ISBN 3-406-02890-X Lehrbücher Rykle Borger: Babylonisch-assyrische Lesestücke. Analecta Orientalia 54. Pontificium Institutum Biblicum, Rom 1963, 2006 (3. Auflage der Teile I, II). Teil I: Elemente der Grammatik und der Schrift. Übungsbeispiele. Glossar. Teil II: Die Texte in Umschrift. Teil III: Kommentar. Die Texte in Keilschrift. Richard Caplice: Introduction to Akkadian. Studia Pohl, Series Maior 9. 4. Auflage. Biblical Institute Press, Rom 1988, 2002, ISBN 88-7653-566-7 John Huehnergard: A Grammar of Akkadian. Harvard Semitic Studies 45. Eisenbrauns, Winona Lake 1997, 2011 (3.Aufl.). ISBN 978-1-57506-922-7 Kaspar K. Riemschneider: Lehrbuch des Akkadischen. Enzyklopädie, Leipzig 1969. 6. Auflage, Langenscheidt Verlag Enzyklopädie, Leipzig 1992, ISBN 3-324-00364-4 Michael P. Streck: Altbabylonisches Lehrbuch. Harrassowitz, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-447-06456-9 Josef Tropper: Akkadisch für Hebraisten und Semitisten. Hartmut Spenner, Kamen 2011, ISBN 978-3-89991-118-3 Wörterbücher Wolfram von Soden: Akkadisches Handwörterbuch. 3 Bände. Wiesbaden 1958–1981, ISBN 3-447-02187-X Chicago Assyrian Dictionary, 1964–2011 Jeremy G. Black, Andrew R. George, Nicholas Postgate: A Concise Dictionary of Akkadian. Harrassowitz, Wiesbaden 1999; 2. korrigierte Auflage 2000. ISBN 3-447-04264-8 Zeichenlisten Rykle Borger: Mesopotamisches Zeichenlexikon. Alter Orient und Altes Testament (AOAT). Band 305. Ugarit-Verlag, Münster 2004, ISBN 3-927120-82-0; 2., revidierte und aktualisierte Auflage, 2010, ISBN 978-3-86835-043-2 René Labat: Manuel d’Épigraphie Akkadienne. Paul Geuthner, Paris 1976; 6. Auflage, 1995, ISBN 2-7053-3583-8 Wolfgang Schramm: Akkadische Logogramme 2., revidierte Auflage. Göttinger Beiträge zum Alten Orient – Band 5, Göttinger Universitätsverlag, Göttingen 2010, ISBN 978-3-941875-65-4 Fachliteratur zu spezifischen Themen Rykle Borger, Walther Hinz: Die Behistun-Inschrift Darius’ des Großen. In: Rechts- und Wirtschaftsurknden. Historisch-chronologische Texte (= Texte aus der Umwelt des Alten Testament. Band I, 4). Gütersloh 1984, S. 419–450. Ignace J. Gelb: Old Akkadian Writing and Grammar. Materials for the Assyrian dictionary. Band 2. University of Chicago Press, Chicago 1952, 1961, 1973, ISBN 0-226-62304-1, Markus Hilgert: Akkadisch in der Ur III-Zeit. Rhema-Verlag, Münster 2002, ISBN 3-930454-32-7 Walter Sommerfeld: Bemerkungen zur Dialektgliederung Altakkadisch, Assyrisch und Babylonisch. In: Alter Orient und Altes Testament, 274, S. 569–586. Ugarit-Verlag, Münster 2003, Weblinks Akkadisch-Englisch-Französisch Wörterbuch Akkadisch im Wiki Glossing Ancient Languages (Empfehlungen für die Interlineare Morphemglossierung akkadischer Texte) Versuche zur Rekonstruktion des gesprochenen Babylonisch. Website der School of Oriental and African Studies, Universität London Einzelnachweise Korpussprache Einzelsprache Reich von Akkad Sprache des Alten Orients
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https://de.wikipedia.org/wiki/Assyrisch
Assyrisch
Das Adjektiv assyrisch bezieht sich auf: einen Dialekt der ausgestorbenen akkadischen Sprache Assyrisch-neuaramäischer Dialekt, ein nordostaramäischer Dialekt das Volk der Assyrer Assyrien, antike Landschaft im nördlichen Mesopotamien das assyrische Reich mit Zentrum in Assyrien (bis 605 v. Chr.) die assyrische Mythologie die Assyrische Kirche des Ostens Siehe auch:
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https://de.wikipedia.org/wiki/Assur
Assur
Assur steht für Aššur (Gottheit), einen mesopotamischen Gott Aššur (Stadt), eine antike mesopotamische Stadt Assyrien, eine antike Landschaft assyrisches Reich, einen mesopotamischen Staat Assur (Bibel), einen Enkel von Noah Leonid Wladimirowitsch Assur (1878–1920), russischer Ingenieurwissenschaftler Andere Schreibweisen sind Aššur, Aschschur und Aschur. Siehe auch: Asur Aschur
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https://de.wikipedia.org/wiki/Aioli
Aioli
Aioli oder Allioli (; aus dem Okzitanischen bzw. Katalanischen ) ist eine aus dem Mittelmeerraum stammende kalte Creme, die vor allem aus Knoblauch, Olivenöl und Salz besteht. Aioli wird als Vorspeise mit Brot oder Oliven sowie als Beigabe zu Fleisch, Fisch, Pizza und Gemüse serviert. Im Libanon wird eine ähnliche Creme Toum genannt. Zubereitung Bei der traditionellen Aioli, die nur aus Knoblauch und Öl besteht, werden Knoblauchzehen in einem Mörser zerrieben. Dann wird Öl in dünnem Strahl unter fortwährendem Rühren mit dem Stößel hinzugegeben, bis eine zähflüssige Creme entstanden ist. Wird zu viel oder zu schnell Öl hinzugegeben, kann sich die Emulsion wieder trennen und die Aioli gerinnen. Als Emulgator werden deshalb auch Milch, ein Stückchen gekochte Kartoffel oder Eigelb beigegeben. In der klassischen Küche wird die Aioli aus hartgekochtem Eigelb, fein zerstoßenem Knoblauch und wie bei einer Mayonnaise, mit Öl aufgezogen, zubereitet. Anschließend mit Zitronensaft und Cayennepfeffer abgeschmeckt. Aus der Aioli entstanden durch Verfeinerungen und Rezeptzugaben zahlreiche Varianten. Am bekanntesten ist heute die Variante aus Maó (spanisch Mahón) auf Menorca. Häufig ist zu lesen, dies sei die Urversion der französischen Mayonnaise. Diese Auffassung lässt sich aber durch seriöse Quellen nicht belegen. Aioli garni, auch Grand Aioli, ist ein typisch provenzalisches Gericht: gedünstete Kartoffeln, Karotten und grüne Bohnen, dazu Seeschnecken und ein Stück Fischfilet (klassisch ist gewässerter Stockfisch aus Kabeljau) und die oben beschriebene Aioli. Siehe auch Rouille Weblinks Einzelnachweise Kalte Sauce
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https://de.wikipedia.org/wiki/Avatar
Avatar
Avatar steht für: Avatar (Internet), künstliche Person oder grafischer Stellvertreter einer echten Person Avatara, im Hinduismus die Manifestation des höchsten Prinzips (Brahman) oder eines göttlichen Aspekts, der die Gestalt eines Menschen oder Tieres annimmt Avatar (Spiele), Manifestation eines Gottes in der Handlung oder der Hintergrundgeschichte eines Computer-, Rollen-, Brett- oder Tabletop-Spiels Avatar, Kurssystem von Harry Palmer, siehe Harry Palmer #Avatar Avatar, 1857 erschienener Roman des französischen Schriftstellers Théophile Gautier (1811–1872) Film, Fernsehen und Computerspiele: Avatar – Der Herr der Elemente, US-amerikanische Zeichentrickserie (2005–2008) Avatar (Filmreihe) Avatar – Aufbruch nach Pandora, US-amerikanischer Science-Fiction-Film von James Cameron (2009) Avatar: The Way of Water, US-amerikanischer Science-Fiction-Film von James Cameron (2022) James Cameron’s Avatar: Das Spiel, Computerspiel aus dem Jahr 2009 Avatar: Frontiers of Pandora, für 2023 angekündigtes Computerspiel Tatort: Avatar, Fernsehfilm aus der Krimireihe Tatort Musik: Avatar (Band), schwedische Metal-Band Avatar, ursprünglicher Name der US-amerikanischen Metal-Band Savatage Siehe auch: Avatara
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https://de.wikipedia.org/wiki/Apulien
Apulien
Apulien ( [] oder oft im Plural Puglie []; ) ist eine in Südost-Italien gelegene Region mit der Hauptstadt Bari. Sie hat Einwohner (Stand ). Die Halbinsel Salento im Süden Apuliens bildet den Absatz des sogenannten italienischen Stiefels und der Gargano den Stiefelsporn. Geografie Geografische Lage Die Region erstreckt sich entlang des Adriatischen und des Ionischen Meers. Mit der Punta Palascìa erreicht die Küste bei Otranto den östlichsten Punkt Italiens, der nur 80 km von der albanischen Küste entfernt ist. Der südlichste Punkt ist die Punta Ristola. Oberflächengestalt Das Gebiet besteht zu 53,3 % aus Ebenen, zu 45,3 % aus Hügelland und zu 1,5 % aus Gebirge. Damit ist Apulien die flachste Region Italiens. Die Landschaften teilen sich von Norden nach Süden in die bergige Halbinsel Gargano mit den vorgelagerten Tremiti-Inseln, der ebenen Tavoliere delle Puglie, der anschließenden Ebene Terra di Bari, der Kalkhochebene der Murge, der Küstenebene von Tarent und des Valle d’Itria, das die südlichste Region, die größtenteils ebene Halbinsel Salento abschließt. Das einzige Gebirge über 1000 m neben dem Gargano, die Monti della Daunia bilden die Grenze zu Kampanien und erreichen im Monte Cornacchia 1152 m Höhe. Klima Das Klima bietet milde Winter und heiße Sommer. Geschichte Der Hauptartikel Geschichte Apuliens behandelt die historische Entwicklung der südostitalienischen Region Apulien, die in etwa den Stiefelabsatz der italienischen Halbinsel einnimmt. Politik Seit dem 26. Juni 2015 ist Michele Emiliano (PD) Präsident Apuliens. Verwaltungsgliederung und größte Städte Apulien besteht aus den Provinzen Foggia, Barletta-Andria-Trani, Tarent, Brindisi, Lecce und der Metropolitanstadt Bari. Die 2004 gegründete Provinz Barletta-Andria-Trani wurde erst mit den Wahlen zur Provinzversammlung am 6. und 7. Juni 2009 geschäftsfähig. Bari ist mit einer Agglomeration von fast 600.000 Einwohnern die Metropole Apuliens und nach Neapel die zweitgrößte Stadt Süditaliens. In der Region gibt es die folgenden größeren Städte. (Einwohnerzahlen Stand ) Quelle: ISTAT Die Liste der Gemeinden in Apulien beinhaltet alle Gemeinden der Region mit Einwohnerzahlen. Wirtschaft Im Vergleich mit dem Pro-Kopf-BIP der EU (kaufkraftadjustiert) erreichte die Region Apulien im Jahr 2015 einen Index von 63 (EU 28: 100). Mit einem Wert von 0,852 erreicht Apulien Platz 17 unter den 20 Regionen Italiens im Index der menschlichen Entwicklung. Im Jahr 2017 betrug die Arbeitslosenquote 18,8 %. Landwirtschaft In den fruchtbaren Küstenebenen gedeihen neben Mandeln, Oliven, Getreide und Tomaten auch Kaktusfeigen, Trauben, Feigen sowie Zitrusfrüchte. Der milde Winter ist ideal für den Stängelkohl, der an wilden Brokkoli erinnert und die Basis des berühmten apulischen Gerichts Orecchiette con cima di rapa bildet. Apulien ist ein wichtiges Weinbaugebiet mit vorwiegend gehaltvollen Rotweinen. Wichtige Rebsorten sind Primitivo, Negroamaro und Nero di Troia. Auf einer Anbaufläche von 107.571 Hektar wird eine Gesamtproduktion von 7.580.000 Hektolitern (DOC-Produktion: 259.900 hl) erzeugt. Bekannte Weinbau-Regionen sind Manduria, die Halbinsel Salento, die Gebiete um das Castel del Monte, Canosa di Puglia, Locorotondo und Foggia. Apulien wurde 2013 als erste europäische Region vom Olivenbaumsterben betroffen und in entsprechende Schutzzonen aufgeteilt. Flughäfen Apulien bildete luftfahrthistorisch das Sprungbrett Italiens in den Orient. Aus diesem Grund gibt es in dieser Region eine starke Konzentration von Zivil- und Militärflugplätzen. Die Betreibergesellschaft Aeroporti di Puglia betreibt neben dem Flughafen von Bari-Palese auch den Verkehrsflughafen Brindisi-Casale sowie die Flugplätze von Tarent-Grottaglie und Foggia. Der Flughafen von Bari ist zusammen mit dem Flughafen Brindisi-Casale der wichtigste in der Region Apulien, Tarent und Foggia haben hingegen nur regionale beziehungsweise lokale Bedeutung. Der Flughafen Bari liegt acht Kilometer nordwestlich von Bari, der Hauptstadt der Region Apulien. Er wurde Ende 2005 nach dem bürgerlichen Namen des verstorbenen Papstes Johannes Paul II. Karol Wojtyła benannt. Stahlindustrie Die riesige Stahlfabrik ILVA S.p.A. in Tarent stellt mehr als 30 % des italienischen Stahls her und beschäftigt 25.000 Menschen. Es ist die größte Anlage dieser Art in Europa. Wegen massiver Umweltbelastungen mit vielen Todesfällen in der Region sind allerdings Teile der Anlage zurzeit stillgelegt und der italienische Staat übernahm die Kontrolle über den wichtigsten Arbeitgeber in der Region. Literatur Pina Belli D’Elia: Romanisches Apulien. Echter, Würzburg 1989, ISBN 3-429-01242-2. Gianni Farneti: 1000 oasi e parchi naturali da vedere in Italia. Rizzoli, Mailand 2011, S. 690–727. Kathleen M. Lynch: Introduction. In: Thomas H. Carpenter, Kathleen M. Lynch, Edward G. D. Robinson (Hrsg.): The Italic People of Ancient Apulia: New Evidence from Pottery for Workshops, Markets, and Customs. Cambridge University Press, 2014, S. 1–9. (academia.edu) Weblinks Internetpräsenz der Region Apulien (italienisch) Vorgeschichte Apuliens (italienisch) Archäologie (italienisch) Einzelnachweise Italienische Region
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https://de.wikipedia.org/wiki/Argentinien
Argentinien
Argentinien ( []) ist eine Republik im Süden Südamerikas. Sie grenzt im Westen an Chile, im Norden an Bolivien und Paraguay, im Nordosten an Brasilien und Uruguay und wird im Osten durch den Atlantischen Ozean begrenzt. Der Landesname leitet sich von der lateinischen Bezeichnung für Silber – argentum – ab und stammt aus der spanischen Kolonialzeit, als man hier Edelmetalle zu finden hoffte. Bis zu seiner Unabhängigkeit 1816 war es Teil des spanischen Kolonialreiches. Politisch ist Argentinien eine präsidentielle Bundesrepublik, in der die einzelnen Provinzen weitreichende Kompetenzen haben. Laut der argentinischen Verfassung gelten neben República Argentina auch Provincias Unidas del Río de la Plata und Confederación Argentina als offizielle Bezeichnungen Argentiniens. Mit einer Fläche von knapp 2,8 Mio. km² ist Argentinien der achtgrößte Staat der Erde und der zweitgrößte des südamerikanischen bzw. der viertgrößte des amerikanischen Doppelkontinentes. Wegen seiner großen Nord-Süd-Ausdehnung hat das Land Anteil an mehreren Klima- und Vegetationszonen. Im Hinblick auf die Einwohnerzahl steht es mit rund 45 Millionen Einwohnern in Südamerika an dritter (nach Brasilien und Kolumbien) und in ganz Amerika an fünfter Stelle. Etwa ein Drittel der Bevölkerung konzentriert sich im Ballungsraum der Hauptstadt Buenos Aires, die als bedeutendes Kulturzentrum Amerikas gilt, in dem unter anderem der Tango Argentino seinen Ursprung hat. Weitere Ballungszentren bilden die Städte Córdoba, Rosario, Mar del Plata und Mendoza. Große Teile des trockenen und kalten Südens sind dagegen nur sehr dünn besiedelt. Bis etwa 1950 war Argentinien eines der reichsten Länder der Erde. Wirtschaftlich spielten traditionell die Landwirtschaft, Viehzucht und der Rohstoffabbau eine große Rolle, wenn auch heute der Dienstleistungssektor mit rund 60 % den größten Anteil am BIP ausmacht. Politisch und kulturell war das Land bis Mitte des 20. Jahrhunderts stark durch die Einwanderung aus Europa geprägt, vor allem aus Italien und Spanien. Die wichtigsten Etappen seitdem sind der Peronismus (1946–1955; 1973–1976), mehrere Militärdiktaturen (insbesondere die 1976–1983), die Redemokratisierung (nach 1983) und der Neoliberalismus (1990er Jahre) bis zur Argentinien-Krise 2001 und der darauf folgenden Konsolidierung. Geographie Argentinien hat eine Fläche von 2,78 Millionen km² und ist damit nach Brasilien der zweitgrößte Staat Südamerikas. Die Ausdehnung von Norden nach Süden beträgt 3694 km, die von Westen nach Osten an der breitesten Stelle circa 1423 km. Es grenzt im Osten an den Atlantischen Ozean, im Norden an Bolivien und Paraguay, im Nordosten an Brasilien und Uruguay; ihre jeweils längste gemeinsame Grenze bilden Chile und Argentinien im Westen des Landes. Das gesamte westliche Grenzgebiet wird von den Anden eingenommen, der längsten kontinentalen Gebirgskette der Erde. Der zentrale Norden Argentiniens wird vom Gran Chaco – einer heißen Region mit Trockenwald und Savannenformationen – eingenommen. Östlich davon schließt sich entlang des Río Paraná das Hügelland der Provinz Misiones an. Dort befinden sich am Dreiländereck Argentinien–Paraguay–Brasilien die Iguazú-Wasserfälle; sie sind etwa 2,7 Kilometer breit und zählen zu den größten der Erde. Südlich davon, zwischen den großen Strömen Río Paraná und Río Uruguay, liegt das feuchte und sumpfige Mesopotamia. Am Río de la Plata, dem gemeinsamen Ästuar dieser beiden Ströme, liegen die Stadt Buenos Aires und die gleichnamige Provinz Buenos Aires, das wirtschaftliche Herz Argentiniens, wo etwa ein Drittel der Einwohner des Landes lebt. Westlich und südlich von Buenos Aires erstrecken sich die Pampas, eine grasbewachsene Ebene, wo der größte Teil der Agrarprodukte des Landes erzeugt wird. In dieser Region befinden sich große Weizenfelder und Weideflächen für Rinder; die Ausfuhr von Rindfleisch brach ab 2005 als Folge von Exportbeschränkungen und -verboten der Regierung von 771.000 Tonnen auf 190.000 Tonnen ein. Im Jahre 2017 gingen wieder 308.638 Tonnen Rindfleisch in den Export. Zwischen den Pampas und den Anden liegen im zentralen Argentinien die Gebirgszüge der Sierras Pampeanas. Diese Mittelgebirge erreichen Höhen von 2800 m in den Sierras de Córdoba und bis zu 6250 m in der Sierra de Famatina in La Rioja. Das im Süden Argentiniens gelegene Patagonien ist von starken Westwinden geprägt und hat ein sehr raues Klima. Dieses Gebiet, das etwa ein Viertel der Fläche des Landes ausmacht, ist sehr dünn besiedelt. Der tiefste Punkt des Landes und Gesamtamerikas ist die Laguna del Carbón mit 105 m unter dem Meeresspiegel. Sie befindet sich zwischen Puerto San Julián und Comandante Luis Piedra Buena in der Provinz Santa Cruz. Ein etwa 60 km langer Abschnitt der Grenze zu Chile, der sich im Südpatagonischen Eisfeld befindet, ist nicht als klar gezogene Grenze markiert, sondern wird von einer zwischen den beiden Staaten vereinbarten besonderen Zone eingenommen. Von Argentinien wird ein Sektor des antarktischen Kontinents beansprucht; dieser Anspruch kollidiert jedoch mit dem Antarktis-Vertrag, der seit 1961 in Kraft ist. Gebirge und Berge In den argentinischen Anden gibt es fast 100 über 6000 m hohe Berge. Zu ihnen zählen der höchste Berg des amerikanischen Kontinents, der Aconcagua mit 6961 m Höhe und die beiden höchsten Vulkane der Erde, der Ojos del Salado mit 6880 m und der Monte Pissis mit 6795 m. In den Südanden sind die Berge weniger hoch; viele sind wegen des feuchtkalten Klimas stets schneebedeckt. Auch in den Sierras Pampeanas werden teilweise sehr große Höhen gemessen: Die Sierra de Famatina in der Provinz La Rioja erreicht ebenfalls über 6000 m. Die Höhen dieses Gebirgskomplexes fallen jedoch nach Osten hin ab, in den Sierras de Córdoba werden nur noch maximal 2800 Meter erreicht. Die nördlichen Patagoniden (Mesetas Patagoniens) weisen im Südosten von Mendoza immerhin noch 4700 m Höhe auf, ihre Höhe nimmt nach Südosten hin ab. In den anderen Gebieten Argentiniens erreichen die Berge nur in Ausnahmefällen über 1000 m Höhe. Darunter fallen die Sierras Australes Bonaerenses (Sierra de la Ventana und Sierra de Tandil) an der Atlantikküste und das Hügel- und Bergland von Misiones. Flüsse und Seen Argentiniens Hydrologie wird von den Zuflüssen des Río de la Plata dominiert. Sein Einzugsgebiet umfasst etwa 5.200.000 km². Etwa ein Drittel hiervon liegt in Argentinien, der Rest in Bolivien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Zuflüsse des Río de la Plata sind der Río Paraná und der Río Uruguay. Im Norden an der Grenze zu Brasilien befindet sich der Iguazú-Nationalpark. Darin der Fluss Iguazú mit den Iguazú-Wasserfällen, welche dreimal so groß wie die Niagarafälle sind. Das zweitgrößte Einzugsgebiet hat der Río Colorado in Nordpatagonien, dessen größter Zufluss, der Río Salado del Oeste, einen Großteil Westargentiniens entwässert, wobei jedoch ein Großteil seines Wasservolumens wegen des trockenen Klimas bereits auf dem Weg verdunstet oder in Sumpfgebieten versickert. Argentinien weist zwei größere Seengebiete auf. Das umfangreichste liegt am Fuß der Südanden, wo sich eine lange Kette von Schmelzwasserseen von der Provinz Neuquén bis nach Feuerland erstreckt. Daneben finden sich in der westlichen zentralen Pampa und im südlichen Chaco zahlreiche Flachlandseen, die teilweise nur wenige Meter tief und oft salzhaltig sind. Der Flachlandsee Mar Chiquita mit 5770 km² in der Provinz Córdoba sowie die Andenseen Lago Argentino (1415 km²) und Lago Viedma (1088 km²) liegen im Nationalpark Los Glaciares, der zum UNESCO-Welterbe erklärt wurde. Dort befindet sich auch der Gletscher Perito Moreno. Inseln Argentinien hat trotz seiner lang gestreckten Küstenlinie nur wenige Inseln. Die größte ist die zum Archipel Feuerland gehörende Isla Grande de Tierra del Fuego mit 47.020 km², die sich Argentinien (Provinz Tierra del Fuego, 21.571 km²) und Chile (25.429 km²) teilen. Das einzige weitere Inselgebiet von Bedeutung ist der Süden der Provinz Buenos Aires, wo sich in den Buchten Bahía Blanca und Bahía Anegada zwei ausgedehnte Wattenmeere befinden. Die Inseln dort sind flach und mit Ausnahme der Isla Jabalí, auf der der Badeort San Blas liegt, unbewohnt. Größte Insel ist die Isla Trinidad mit 207 km². Des Weiteren gibt es vor der patagonischen Küste einige kleinere Felseninseln. Völkerrechtlich umstrittenes Territorium sind die Falklandinseln (auch Malwinen, englisch Falkland Islands, spanisch Islas Malvinas), eine Inselgruppe im südlichen Atlantik. Sie gehören geographisch zu Südamerika, liegen 600 bis 800 km östlich von Südargentinien und Feuerland bei 52° Süd und 59° West und sind britisches Überseegebiet. Seit 1833 werden sie von Argentinien beansprucht. Die Besetzung der Inseln durch Argentinien am 2. April 1982 löste den Falklandkrieg aus, der bis zum 14. Juni 1982 dauerte und mit einer Niederlage für Argentinien endete. Die größten Inseln der Falkland Islands sind Ostfalkland (Soledad) mit 6683 km² und Westfalkland (Gran Malvina) mit 5278 km². Unter demselben Status befindet sich das südöstlich von den Falklandinseln gelegene Territorium Südgeorgien und die Südlichen Sandwichinseln. Klima Die nördliche Hälfte Argentiniens liegt in den Subtropen (im äußersten Nordosten erreicht ein kleiner Teil die immerfeuchten Tropen) und die südliche in der kühlgemäßigten Klimazone. Über die gesamte Landesfläche bestehen große Kontraste von vollhumiden bis vollariden Klimaten. Hinzu kommen die Gebirgsklimate der Anden. Der Nordwesten Argentiniens ist im Bereich der Anden trocken mit einer kurzen Regenzeit im Sommer. In ihr findet man die Hochwüste Puna, deren Westen zu den regenärmsten Gebieten der Welt zählt, sowie den halbwüstenartigen, unfruchtbaren Monte am Fuß der Anden in den Provinzen Mendoza, San Juan und La Rioja. Die Osthänge der Voranden beherbergen subtropische Nebelwälder in den Provinzen Tucumán, Salta und Jujuy, die im Sommer wegen des Abregnens der feuchten Ostwinde sehr niederschlagsreich, im Winter aber relativ trocken sind. Nach Osten hin schließt sich der Gran Chaco im zentralen Norden an, seine Niederschläge konzentrieren sich auf den Sommer, das Gleiche gilt für die Region der Sierras Pampeanas in Zentralargentinien. In beiden Regionen nehmen die Niederschläge nach Westen hin ab. Der Nordosten sowie die Pampa-Region sind das ganze Jahr über feucht, wobei die höchsten Niederschlagsmengen im subtropischen Regenwald der Provinz Misiones auftreten. Der Süden (Patagonien) liegt in der Westwindzone, weshalb hier der westliche Teil mehr Niederschläge als der Osten erhält. Die Anden sind ständig feucht und von der Temperatur kühl gemäßigt. Sie wirken als Barriere für die feuchten Pazifikwinde, so dass das östlich anschließende patagonische Schichtstufenland sehr trocken und halbwüstenhaft ist. In dieser Region bestimmt der regelmäßig alle ein bis zwei Wochen vom Südwesten her blasende Pampero-Wind das Klima. Ein Sonderfall ist das Klima im südlichen Teil Feuerlands mit kühlem ozeanischem Klima, wo wegen der dort fehlenden Klimascheide der Anden sowohl pazifische als auch atlantische Einflüsse das Wetter bestimmen. Dort sind die Niederschlagsmengen relativ hoch und die Temperaturen weisen eine relativ geringe Abweichung zwischen Sommer und Winter auf. Flora und Fauna Entsprechend den sehr unterschiedlichen Klimazonen Argentiniens variieren auch die Vegetation und die Tierwelt sehr stark. Insgesamt sind etwa zwölf Prozent der Landfläche bewaldet. Flora In den subtropischen Trockenwäldern des Gran Chaco gedeihen tropisch-subtropische Pflanzen, wie Palisanderhölzer (Dalbergia), Guajakholzbäume (Guaiacum officinale), Rio-Palisander (Jacaranda mimosifolia) und Quebracho-Bäume (Schinopsis lorentzii), aus denen Gerbsäure gewonnen wird, aber auch Palmen. Vielfach sind auch Algarrobo-Bäume (hauptsächlich Prosopis alba und Prosopis nigra) prägend. Der Süden und Osten des Chaco mit seinem milderen Klima wird intensiv landwirtschaftlich genutzt, während der Norden noch weitgehend ursprünglich ist. Die Pampa ist eine ausgedehnte subtropische Graslandschaft mit verschiedenen Gräsern. Von nicht einheimischen Eukalypten (Eucalyptus), amerikanischen Platanen (Platanus occidentalis) und Akazien (Acacia) abgesehen, finden sich hier keine Bäume. Der einzige Baum, der in der Pampa beheimatet ist, ist der immergrüne Ombú. Aufgrund des sehr feinen steinfreien und fruchtbaren Bodens ist die landwirtschaftliche Nutzung sehr ertragreich, so dass sich nur noch wenig ursprüngliche Vegetation erhalten hat. In den trockenen zentralen Gebieten Argentiniens finden sich in den ariden Halbwüsten viele Kakteengewächse (Cactaceae) und Dornsträucher. Patagonien liegt schon im Regenschatten der Anden und ist eine karge und weitestgehend baumlose Trockenlandschaft. Hier herrschen zum Teil auch Gräser wie in der Pampa, jedoch überwiegend Sträucher in trockenen Halbwüsten und Strauchsavannenformationen vor. Wegen des steinigen Bodens und des rauen Klimas ist Getreideanbau (außer entlang von Flusstälern) nicht möglich, stattdessen wird die patagonische Hochebene als Weideland genutzt. In den Vorgebirgen der Anden und auf Feuerland befindet sich jeweils ein mehrere hundert Kilometer langer Streifen Grassteppen und Wälder. Anders als auf der Nordhalbkugel gibt es auf der Südhalbkugel keine reinen Nadelwälder; selbst der einheimische Bergwald wird ausschließlich aus Laubhölzern (insbesondere Scheinbuchenarten (Nothofagus) wie Coihue, Lenga und Antarktische Scheinbuche) gebildet, die regional durch eine zweite Baumschicht aus Koniferen ergänzt werden (z. B. Alerce, Chilezeder, Chilenische Flusszeder, Chilenische Steineibe, Pflaumen-Steineibe, Patagonische Eibe und Chilenische Araukarie). Heute sind viele Andenhänge jedoch durch eingeführte Nadelhölzer, wie Fichten (Picea), Zypressen (Cypressus), Kiefern (Pinus), Zedern (Cedrus) und anderen Nutzhölzer, geprägt. Die Baumgrenze liegt bei etwa 3500 m. Die Blüte des Ceibos (Hahnenkammbaum oder Korallenbaum) ist als sogenannte „nationale Blume“ eines der Nationalsymbole. Fauna Im äußersten Norden ist die Tierwelt sehr vielfältig: Hier leben verschiedene Affenarten, Jaguare, Pumas, Ozelots, Waschbären, Nasenbären, Ameisenbären, aber auch Tapire, Nabelschweine und Reptilien wie Schlangen und Kaimane. Die Vogelwelt beherbergt hier in der Nähe zu den Tropen Kolibris, Flamingos, Tukane und Papageien. Allerdings macht diese Region den kleinsten Teil Argentiniens aus. In der Pampa kamen ursprünglich Gürteltiere, Mähnenwölfe, Pampasfüchse, Pampaskatzen, Pampashirsche, Nandus, verschiedene Greifvögel wie Falken sowie Reiher vor. Davon mussten die meisten Arten der Landwirtschaft weichen. In den kargen Gebieten der Anden trifft man auf die wilden Lamas: die Guanakos und Vikunjas; sowie auf den Andenkondor, der zu den größten Vögeln der Welt gehört. Raubtiere sind die Bergkatze, der Puma und der Andenschakal. An Salzseen finden sich häufig Zugvögel wie Flamingos. In Patagonien und Feuerland ist das Tierleben artenärmer. Auch hier leben Pumas, Nandus und Guanakos; der Patagonische Huemul und Pudú (ein kleiner Hirsch) sind Teil der Fauna der südlichen Anden. Auf Feuerland nisten zudem Kormorane und Magellanspechte. Die patagonischen Küsten beherbergen Magellanpinguine und Kolonien von Südamerikanischen Seebären und Mähnenrobben. Die Küstengewässer Argentiniens beherbergen unter anderem Südkaper, Orcas und Commerson-Delfine, daneben Seehechte, Sardinen, Makrelen und Dorados. Bevölkerung Demografie Bevölkerungsdichte Argentinien hat eine Bevölkerung von etwa 47,3 Millionen Einwohnern. Dies entspricht einer Bevölkerungsdichte von 16,4 Einwohnern/km². Etwa 87 % der Bevölkerung leben in Städten von mehr als 2000 Einwohnern, wovon allein 11,5 Millionen auf die Agglomeration Gran Buenos Aires entfallen. Diese hat eine Bevölkerungsdichte von 2989 Einwohnern/km². Die Stadt und die gesamte Provinz Buenos Aires zusammen haben 16,6 Millionen Einwohner, die Provinzen Córdoba und Santa Fe jeweils ca. drei Millionen, so dass in diesen drei im zentralen Teil des Landes gelegenen Provinzen zusammen mehr als 60 % der Bevölkerung leben. Weite Teile des übrigen Landes sind dagegen sehr dünn besiedelt, vor allem im trockenen Süden, wo nur etwa ein bis drei Einwohner/km² leben. Bevölkerungsentwicklung und Altersstruktur In der Kolonialzeit lag der Schwerpunkt der argentinischen Bevölkerung lange im Nordwesten, und insbesondere in der Minenregion um Salta und Jujuy. Größte Stadt war das am Kreuzungspunkt mehrerer Handelsrouten gelegene Córdoba. Dies änderte sich mit der Einrichtung des Vizekönigreiches Río de la Plata 1776. Der Handel ließ nun die Bevölkerungszahl der Küstenregion im Osten des Landes (Buenos Aires, Santa Fe, Entre Rios) sprunghaft ansteigen, und nach der Erringung der Unabhängigkeit hatte sich die wirtschaftliche und politische Macht endgültig in dieser Region konzentriert. Das Gebiet südlich einer Linie etwa zwischen dem heutigen La Plata und Mendoza war dagegen bis zur Wüstenkampagne des General Roca in den 1870er Jahren noch von den Indianern bewohnt, es gab allerdings einige spanische und walisische Enklaven. Die Einwanderungswelle 1880–1930 verstärkte die Dominanz der Küstenregion und besonders von Stadt und Provinz Buenos Aires zusätzlich, da sich der Großteil der Einwanderer in dieser Gegend niederließ. Der Nordwesten wurde mehr und mehr zu einer rückständigen und wirtschaftlich schwachen Region, in dem relativ wenig Einwanderung stattfand, und Patagonien befand sich erst am Beginn seiner Entwicklung. Der Großraum Buenos Aires wuchs so zwischen 1850 und 1914 von 150.000 auf 1,6 Millionen Einwohner. Nach dem Versiegen des Einwandererstroms um 1930 brachte die Industrialisierung einen Binnenwandererstrom, dessen Ziel ebenfalls Buenos Aires und – mit Abstand – Córdoba und Rosario war. Dieser Strom hielt bis in die 1970er Jahre an und führte dazu, dass sich der Großraum rund um die Hauptstadt weit über das eigentliche Stadtgebiet von Buenos Aires ausdehnte. 1980 überschritt der Großraum Buenos Aires im nationalen Zensus zum ersten Mal die 10-Millionen-Marke und konzentrierte damit fast 40 % der Bevölkerung (damals 24 Millionen). Danach flachte das Wachstum der Städte der Küstenregion deutlich ab. Zwischen 1991 und 2001 verlor die Stadt Buenos Aires 7 % ihrer Einwohner, die Bevölkerung des Ballungsraums der Stadt insgesamt stieg nur noch leicht an, auch Rosario und Santa Fe stagnierten. Zum Wachstumsmagnet wurden dagegen abgelegene Regionen wie das wirtschaftlich boomende Patagonien, insbesondere die südlichsten Provinzen Tierra del Fuego und Santa Cruz (44 % bzw. 23 % Zuwachs zwischen 1991 und 2001), aber auch die Städte des Nordwestens wie Jujuy, Salta, La Rioja und Tucumán sowie der Ballungsraum Córdoba. In Buenos Aires und den meisten Großstädten gibt es seit etwa 1980 das Phänomen der Stadtflucht: Viele, meist besser verdienende Einwohner siedeln von den Stadtzentren ins Umland um. Seit etwa 1990 hat sich dieses Phänomen durch die massenhafte Einrichtung von privaten Stadtvierteln und Country Clubs noch verstärkt. Die Ursache liegt in der als steigend empfundenen Kriminalität. Auch touristisch und landschaftlich interessante Orte erleben seit dieser Zeit eine positive Entwicklung, was sowohl mit der steigenden Mobilität der Bevölkerung als auch mit der inzwischen deutlich besseren Verfügbarkeit von infrastrukturellen Dienstleistungen wie Telefon, Radio, Fernsehen und Internet selbst in weit entlegenen Gebieten zusammenhängt. So wurden aus ehemals kleinen Ferienorten wie Merlo, Pinamar und Villa Carlos Paz prosperierende, schnell wachsende Städte. Ethnien Ethnische Zusammensetzung Mehr als 90 % der Bevölkerung stammen nach der offiziellen Statistik zumindest teilweise von eingewanderten Europäern, mehrheitlich Italienern, ab. Die hohe Anzahl von Personen, die zumindest einen europäischen Vorfahren haben, haben einen Mythos des weißen Argentiniens hervorgebracht. Bis Anfang der 1990er Jahre ging man von einem Anteil der Mestizen – Nachfahren sowohl von Europäern als auch von Indigenen – unter 10 % aus. Nach neueren Erkenntnissen ist deren Anteil jedoch weitaus höher. Neuere genetische Untersuchungen ergaben zwischen 53 % und 65 % europäisches, 31-40 % indianisches und 4 % afrikanisches Erbgut. Diese Diskrepanz wird darauf zurückgeführt, dass die Mestizen früher unter einer starken Diskriminierung zu leiden hatten und sich daher als „Weiße“ deklarierten. In Argentinien haben geschätzt 300.000 Menschen eine Roma-Abstammung, von denen zahlreiche wegen Diskriminierung und fehlender kultureller Förderung ihre eigene Kultur aufgegeben und sich assimiliert haben. Indigene Bevölkerung Nur eine Minderheit der Argentinier sind ausschließlich Nachkommen der insgesamt 30 Ethnien, die vor dem Eintreffen der Spanier auf dem Landesterritorium lebten. Dies liegt einerseits daran, dass Argentinien vor der Kolonialzeit nur im Nordwesten dicht bevölkert war, zum anderen auch daran, dass die verbleibenden Ureinwohner von den Spaniern und später von den Argentiniern weitgehend ausgerottet wurden. Vom staatlichen Institut für indigene Angelegenheiten (INAI) wird die Zahl der Indigenen auf etwa 1 Million, von Seiten der Indigenenorganisationen wie der AIRA (Asociación de Indígenas de la República Argentina) jedoch auf mehr als 1,5 Millionen geschätzt. Im Jahr 2001 hatten etwa 2,8 % aller argentinischen Haushalte indigene Haushaltsmitglieder, wobei der Anteil von Provinz zu Provinz stark variierte. So war in der Provinz Jujuy der Anteil mit 10,5 % am größten. Am niedrigsten war der Anteil in der Provinz Corrientes mit 1,0 %. In der Hauptstadt Buenos Aires betrug er 2,3 %. Die größten Gruppen sind die Kolla in Jujuy und Salta, die Mapuche (Araukaner) in Neuquén und Río Negro, die Wichí und Toba im Chaco und in Formosa sowie die Guaraní in den nördlichen Provinzen. Nur eine Minderheit der Indigenen lebt in ihren angestammten Siedlungsgebieten, viele sind in die Großstädte übergesiedelt, wo sie oft unter ärmlichen Bedingungen als schlecht bezahlte Arbeiter leben. So gibt es in Rosario und Resistencia Viertel, die nur von Toba-Indianern bewohnt werden, dasselbe gilt für Kollas in San Salvador de Jujuy und San Miguel de Tucumán. Seit den 1980er Jahren erstarken innerhalb dieser Stämme Bewegungen, die traditionelle Kultur gezielt zu erhalten und zu verbreiten, etwa über Radiosender und an Schulen. Zuwanderung und Auswanderung Die Zahl der Ausländer lag bei der Volkszählung 2010 bei 1.805.957 (4,6 % der Bevölkerung), dabei sind die größten Gruppen Paraguayer (550.713), Bolivianer (345.272), Chilenen (191.147), Peruaner (157.514) und Italiener (147.499). Den höchsten Anteil von im Ausland Geborenen haben die Provinz Santa Cruz (12 %), die Stadt Buenos Aires sowie Tierra del Fuego (beide 11 %). Im Jahre 2017 waren 4,9 % der Bevölkerung Migranten. Historisch gesehen wurde die größte Einwanderungswelle zwischen 1857 und Mitte des 20. Jahrhunderts verzeichnet, fast ausschließlich aus Europa. Zwischen 1857 und 1920 immigrierten vor allem Menschen aus Italien (rund 2,3 Millionen Einwanderer) und Spanien (1,6 Millionen Einwanderer). Die Zahl der Immigranten aus Deutschland wird für die Zeit von 1857 bis 1920 auf 70.000 geschätzt. Mitte des 20. Jahrhunderts flachte die Migration nach Argentinien immer weiter ab, abgesehen von einem kurzzeitigen Wiederaufflammen zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Nach einer Phase negativen Wanderungssaldos zwischen 1975 und 2001 ist die Bilanz seit der Argentinienkrise derzeit wieder leicht positiv. Heute wandern vor allem Bürger der Nachbarländer Bolivien, Paraguay und Uruguay sowie aus den südamerikanischen Staaten Peru und Venezuela nach Argentinien ein. Zu Zeiten der Pinochet-Diktatur fand die Einwanderung auch aus Chile statt, dies hat sich jedoch aufgrund der Redemokratisierung und des mittlerweile höheren Lebensstandards des Nachbarlandes nach 2001 umgekehrt. Insgesamt kommen etwa 68 % der Einwanderer aus amerikanischen Staaten. Etwa 2 % aller Einwanderer kommen aus Asien (hauptsächlich Koreaner). Seit den 1990er Jahren findet man immer mehr Einwanderer aus Europa, die hauptsächlich wegen der unberührten Natur hierher ziehen. Im Unterschied zu den anderen Einwanderern weisen sie meist schon eine gesicherte Existenz auf oder sind Rentner, versuchen also durch den Umzug ihre Lebensqualität zu erhöhen. Andere Ausländergruppen (besonders Italiener und Spanier) sind noch lebende Einwanderer der Hauptwelle (bis 1950). Europäer repräsentieren etwa 28 % der Ausländer. Seit der Argentinien-Krise zwischen 1998 und 2002 sind vermehrt Emigrationswellen aufgetreten. Argentinier verließen das Land in Richtung Europa und Nordamerika, in geringeren Maßen auch nach Brasilien und Chile. Diese Emigrationswelle ist jedoch aufgrund der relativ schnellen Erholung der argentinischen Wirtschaft weitgehend abgeebbt. Sprachen Alleinige landesweit gültige Amtssprache ist in Argentinien Spanisch. Daneben gibt es eine Reihe von mehr oder weniger verbreiteten Minderheitensprachen, die von der indigenen Bevölkerung gesprochen werden. Die verbreitetsten darunter sind das Quechua (in zwei lokalen Varianten) und das Guaraní, in manchen Gegenden wird auch noch Mapudungun gesprochen. In der Provinz Chaco haben die Sprachen der Wichí, der Toba (Volk) und der Mocoví amtssprachlichen Charakter; in der Provinz Corrientes gilt dieses für das Guaraní. Am höchsten ist die Sprecherzahl von autochthonen Sprachen bei den Indigenen im Chaco, bei denen mehr als die Hälfte noch ihre angestammte Sprache versteht. Bei anderen Gruppen wie den Kolla und Mapuche ist diese Zahl weit geringer. Das argentinische Spanisch unterscheidet sich hinsichtlich der Aussprache, der Grammatik und des Wortschatzes von den in Spanien und auch von den in anderen lateinamerikanischen Ländern üblichen Varianten. Der Doppelkonsonant ll wird wie das deutsche sch oder wie das französische j ausgesprochen, ebenso der Buchstabe y zwischen Vokalen und ein konsonantisches y am Wortbeginn; dieses Phänomen wird als Yeísmo bezeichnet. Der Buchstabe z wird immer wie ein stimmloses s ausgesprochen, das Gleiche trifft auf das c vor e und i zu, dies nennt man Seseo. Des Weiteren herrscht in Argentinien der Voseo vor, d. h. anstatt des Personalpronomens tú für die 2. Person Singular wird vos verwendet. Die Verben werden dabei anders konjugiert (im Präsens immer endbetont und mit abweichenden Imperativformen). Weiterhin wird die 2. Person Plural vosotros auch in informeller Sprache durch die 3. Person Plural ustedes ersetzt, die im europäischen Spanisch nur die Höflichkeitsform ist. Darüber hinaus gibt es eine Reihe lexikalischer Abweichungen. Während ein Großteil der Nachfahren italienischer Einwanderer in Argentinien die Sprache ihrer Vorfahren aufgegeben hat, wird von den Nachfahren der deutschsprachigen und englischsprachigen Einwanderer teilweise noch die Sprache ihrer Vorfahren gepflegt. So gibt es Stadtviertel im Großraum Buenos Aires, in denen man noch sehr viel Deutsch hört. In der Provinz Córdoba gibt es eine relativ große Kolonie von Überlebenden des Kriegsschiffs Admiral Graf Spee aus dem Zweiten Weltkrieg, die sich in Villa General Belgrano ansiedelte, wo heute noch teilweise Deutsch gesprochen wird. Siehe auch: Río-de-la-Plata-Spanisch, Belgranodeutsch, Cocoliche, Quechua Religionen Argentinien hat seit dem 20. Mai 1955 keine Staatsreligion mehr, welche davor die römisch-katholische Konfession war. Der Katholizismus genießt nach der Verfassung aber einen bevorzugten Status. Nach dem Report on International Religious Freedom 2017 sind 71 % der Bevölkerung römisch-katholischen Glaubens. Offiziell bestehen über 2500 registrierte Kulte und Religionen, darunter der Protestantismus (9 %), die Zeugen Jehovas (ca. 1,2 %), und andere (ca. 1,2 %) zum Beispiel der Pachamama-Kultus im Nordwesten Argentiniens, der durch Verschmelzung christlicher Riten mit indigenen Religionen entstand. Der Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio SJ, wurde am 13. März 2013 durch das Konklave zum Papst gewählt und ist somit der erste Papst aus Lateinamerika. Bergoglio wählte den Namen Franziskus. In Argentinien leben rund 400.000 bis 500.000 Muslime (1 %). Mit rund 205.000 bis 300.000 Mitgliedern (0,6 %) ist die jüdische Gemeinde die größte in Lateinamerika. Rund 11 %–13 % der Bevölkerung gaben bei Umfragen an, keiner Religion anzugehören. Soziale Situation Die Lebenserwartung betrug im Zeitraum von 2010 bis 2015 76,0 Jahre (Frauen 79,8, Männer: 72,2). Das Instituto Nacional de Estadística y Censos dokumentiert laufend wichtige Indikatoren für die Beurteilung der sozialen Situation in Argentinien. Die soziale Situation des Landes ist in mehrerlei Hinsicht durch eine starke Ungleichheit gekennzeichnet. So gibt es einerseits wie in ganz Lateinamerika ein großes Wohlstandsgefälle zwischen Ober- und Unterklasse. Aber auch die Unterschiede zwischen den Regionen Argentiniens sind groß. So lag etwa die Armutsquote, die nach einem Warenkorb berechnet wird, im Jahr 2008 in der Hauptstadt Buenos Aires mit etwa 15 % nur etwas mehr als halb so hoch wie im Landesdurchschnitt (23 %), während sie in der Nordostregion bei 41 % liegt (Stand 2007). Eine Durchschnittsperson benötigte im März 2008 monatlich etwa 317 AR$, um nicht unter die Armutslinie zu fallen. In den meisten Haushalten ist es daher nötig, dass mehrere Familienmitglieder zum Einkommen beitragen. Dies zeigt auch die offizielle Statistik: So liegt das durchschnittliche monatliche Pro-Kopf-Einkommen bei etwa 1156 AR$ und damit nur knapp über der Armutsquote für Familien, während das durchschnittliche monatliche Haushaltseinkommen bei 2090 AR$ liegt (s. u.). Die nördlichen Provinzen, besonders die Provinz Tucumán und der Nordosten (Chaco, Formosa, Santiago del Estero) waren bis um den Jahrtausendwechsel am stärksten von Armut und Unterernährung betroffen. Verschärft wurde diese Situation durch das relativ hohe Bevölkerungswachstum in dieser Region. Als relativ reich dagegen galten die zentralen Provinzen (Buenos Aires, Santa Fe, Córdoba, San Luis und Mendoza), aber auch der äußerste Süden (Santa Cruz und Tierra del Fuego). Neben den grenznahen Gegenden (beispielsweise Jujuy und Formosa) haben vor allem die reichen Zentralprovinzen am stärksten mit der städtischen Armut und damit mit der Bildung von Elendsvierteln zu kämpfen. Die Zuwanderung aus den ärmeren Nachbarländern Peru, Bolivien und Paraguay sowie die Binnenwanderung aus abgelegenen Gegenden des Landesinneren waren trotz einer Abschwächung in den 1990er Jahren ein Problem in den Großstädten, die die Zahl der Elendsviertelbewohner trotz sozialer Wohnungsprogramme weiterhin anwachsen ließ. So lag 2004 beispielsweise in Rosario der Anteil der Elendsviertelbewohner an der Gesamtbevölkerung bei über 15 %. Zudem kam Zuwachs für die Elendsviertel auch von den so genannten Neu-Armen, besonders in den wirtschaftlich kritischen Jahren 1989/1990, 1995 sowie zwischen 1998 und 2002. In der Argentinien-Krise verschlechterten sich insbesondere in den Jahren 2001 und 2002 viele Indikatoren der sozialen Situation in kürzester Zeit. Die Armutsquote nach einem Warenkorb berechnet stieg auf über 50 %. Ab 2003 normalisierten sich die Werte langsam wieder, allerdings blieb bis 2006 die Armutsquote trotz eines Rückgangs weiterhin mit über 20 % deutlich über den Werten der 1990er Jahre. Dabei waren in der am stärksten betroffenen Región Noreste Argentino (Nordostregion) weiterhin fast die Hälfte der Bevölkerung arm. Nachdem sich die Wirtschaft zunächst wieder erholte, rutschte sie ab 2012 wieder in eine Rezession. 2016 lebte ein Drittel der Argentinier unter der Armutsgrenze und der neu gewählte konservative Präsident Macri sah sich zu einem Sparprogramm gezwungen. In der Folge stieg die Zahl der Personen unterhalb der Armutsgrenze von 29 % auf 41 % (Dezember 2019). Bei der Armuts- und Elendsrate variieren die Einkommen, nach denen sich die Rate richtet, je nach Region, daher wird nur ein ungefährer Durchschnittswert angegeben. Bei der Inflationsrate wird der Wert nur im Großraum Buenos Aires errechnet. Die Daten des INDEC für den Preisindex wurden allerdings mehrfach angezweifelt; der IWF erteilte dem Land deshalb im Jahr 2013 ein Rüge. Geschichte Präkolumbische Zeit Die Forschung nimmt an, dass die Besiedlung des heutigen Argentinien durch den Menschen etwa 15000 v. Chr. von Nordamerika aus erfolgte. Die im Pampa-Raum des heutigen Argentinien ansässigen Pampas-Indianer Het (Querandíes), Charrúa und andere kleine Stämme waren bis zum Eintreffen der Spanier nicht sesshaft und lebten als Jäger und Sammler oder Fischer. Die Stämme im Nordwesten des Landes hingegen (z. B. die Diaguita) praktizierten etwa ab der Zeit des frühen europäischen Mittelalters Ackerbau und Viehzucht und waren vor allem auf architektonischem Gebiet weit fortgeschritten. Im 13. und 14. Jahrhundert expandierte das Inka-Reich stark nach Süden und umfasste um 1450 weite Teile des Nordwestens Argentiniens bis in den Norden der heutigen Provinz Mendoza. Kolonialzeit Die Europäer erreichten die Region erstmals mit der Reise Amerigo Vespuccis 1502. Das heutige Argentinien wurde im 16. Jahrhundert von den Spaniern aus zwei Richtungen kolonisiert. Vom Mündungstrichter des Río Paraná am Atlantik her wurden spanische Niederlassungen am Stromsystem des Río de la Plata („Silberfluss“) gegründet, darunter 1536 zuerst Buenos Aires. Dort konnten sich die Spanier allerdings erst im Jahre 1580 auf Dauer etablieren, nachdem der erste Gründungsversuch am Widerstand der indigenen Pampas-Bewohner gescheitert war. Nachdem die La-Plata-Kolonie zunächst vom 1537 gegründeten Asunción aus verwaltet wurde, kam es nach dem Aufstieg des wiedergegründeten Buenos Aires zum bedeutendsten Wirtschaftsstandort der Kolonie im Verlauf des 17. Jahrhunderts zur zunehmenden institutionellen Trennung des südlichen Teils des Silberlandes vom nördlichen Teil, dem heutigen Paraguay. Die nordwestlichen Teile des heutigen Argentiniens (vor allem im Gran Chaco) nahmen die Spanier hingegen von Peru aus in den 1540er Jahren in Besitz. Die weiter südlich von Buenos Aires im Südkegel gelegenen Gebiete des heutigen Argentiniens (Patagonien) blieben in der Kolonialzeit faktisch außerhalb des spanischen Herrschaftsbereichs. Sie wurden etwa 300 Jahre lang von indianischen Reitervölkern beherrscht (Puelche), die in einem spannungsreichen kulturellen Austausch mit den Kolonisten standen. In mehreren Feldzügen eroberten schließlich die Kolonisten bzw. ihre Nachfahren im 19. Jahrhundert die Gebiete unter großen Verlusten seitens der indigenen Bevölkerung. Gleichzeitig konnten sich Mapuche-Völker aus Westpatagonien bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus einen hohen Grad an Unabhängigkeit bewahren. Administrativ war das heutige Argentinien zunächst Teil des Vizekönigreichs Peru, das mit Ausnahme Venezuelas und der portugiesischen Einflusssphäre ganz Südamerika umfasste. Im Jahre 1776 wurde das Vizekönigreich des Río de la Plata mit der Hauptstadt Buenos Aires abgespalten, das neben Argentinien auch das heutige Paraguay, Uruguay und Teile des heutigen Boliviens umfasste. Der latinisierte Name Argentinien („Silberland“) für die Kolonie taucht erstmals im Titel des 1602 in Portugal gedruckten historischen Langgedichts La Argentina von Martín del Barco Centenera auf, in dem der ehemalige Konquistador und Diakon die Eroberung der La-Plata-Kolonie schildert und dabei den Stil von La Araucana, des erfolgreichen Versromans von Alonso de Ercilla y Zúñiga über den Eroberungskrieg in Chile, nachzuahmen versuchte. Bildung eines Nationalstaats Die unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der Koalitionskriege in Europa am 25. Mai 1810 in Buenos Aires erklärte Unabhängigkeit hatte als Mai-Revolution zunächst nur lokale Wirkung, führte aber zu einem landesweiten Befreiungskrieg gegen die Spanier. Die Unabhängigkeit erlangte das Land schließlich am 9. Juli 1816 in San Miguel de Tucumán. Wie zuvor Paraguay im Jahre 1811 spalteten sich dann auch 1825 Bolivien und 1828 Uruguay von den damaligen Vereinigten Provinzen des Río de la Plata ab. Zwischen 1816 und 1880 war die Entwicklung Argentiniens von Diktaturen (unter dem Bonarenser Gouverneur Juan Manuel de Rosas) und Bürgerkriegen geprägt. Die Provinzen waren zunächst weitgehend autonom, nur 1826–1827 konnte das Land kurzzeitig geeint werden. 1853 wurde zunächst ohne die abtrünnige Provinz Buenos Aires die heutige Argentinische Republik gegründet und eine föderalistische Verfassung in deren erster Hauptstadt Paraná verabschiedet. In den Jahren 1861 und 1862 schloss sich die Provinz Buenos Aires nach einer militärischen Auseinandersetzung wieder an, es wurden landesweite Wahlen ausgerufen, und erster gesamtargentinischer Präsident wurde Bartolomé Mitre. In dessen Regierungszeit fiel der Tripel-Allianz-Krieg 1864 bis 1870, in dem sich Argentinien gemeinsam mit Brasilien und Uruguay gegen expansive Tendenzen Paraguays durchsetzte, das sich zu dieser Zeit zu einer der stärksten Militärmächte Südamerikas entwickelt hatte. Argentinien gewann durch diesen Krieg das Gebiet der heutigen Bundesstaaten Misiones, Formosa und Chaco hinzu. Einwanderung und Wirtschaftsboom Die Jahre von 1880 bis 1912 waren durch die zahlreiche Einwanderung vor allem von Italienern und Spaniern gekennzeichnet, die sich in den Städten und in sogenannten „Kolonien“ auf dem Land ansiedelten. Politisch ist diese Zeit als Scheindemokratie zu bezeichnen, denn die Regierung Julio Argentino Roca und die folgenden Regierungen waren oligarchisch ausgerichtet, mit großem Einfluss der Großgrundbesitzer. Dem Gros der Bevölkerung wurden durch ein ausgeklügeltes Wahlbetrugssystem durch die Regierungspartei Partido Autonomista Nacional, die von 1874 bis 1916 ununterbrochen regierte, die politischen Rechte vorenthalten; auch die Einwanderer hatten kein Stimmrecht. Ab 1893 verschärften sich die Grenzprobleme mit Chile, nachdem Bolivien einen Teil der Puna de Atacama an Argentinien abgetreten hatte. Diese war seit dem Salpeterkrieg von Chile besetzt. Zwischen Chile und Argentinien kam es zu einem Wettrüsten. Erst der britische König Edward VII. konnte 1902 den Grenzstreit schlichten. Patagonien und Feuerland wurden neu aufgeteilt, dabei fielen 54.000 km² an Chile und 40.000 km² an Argentinien. 1912 wurde vom Präsidenten und Leiter des liberalen Flügels der PAN, Roque Sáenz Peña, das allgemeine Wahlrecht für Männer eingeführt. In der Folge kam 1916 die aus der bürgerlichen Protestbewegung hervorgegangene Unión Cívica Radical an die Regierung. Es folgte die wechselhafte so genannte Etapa Radical von 1916 bis 1930. Die Unión Cívica Radical regierte bis 1930, als ein Militärputsch wieder ein konservatives System einführte. Vor allem die 1930er Jahre werden heute als Década infame, als berüchtigtes Jahrzehnt bezeichnet, in dem die Demokratie nur auf dem Papier existierte und Wahlbetrug an der Tagesordnung war. Peronismus Im Laufe der ersten Hälfte der 1940er Jahre gelang es dem jungen Offizier Juan Domingo Perón, sich geschickt an die Macht zu manövrieren. Er war zunächst unter dem Militärregime Ramírez Minister für Arbeit und wurde wegen seiner weitreichenden Zugeständnisse an die Gewerkschaften schnell zu einem Volkshelden in der Arbeiterklasse, so dass nach seinem Sturz im Juli 1945 Massendemonstrationen seine Rückkehr erzwangen. Im Jahre 1946 wurde er zum Präsidenten gewählt. Im Zweiten Weltkrieg war Argentinien offiziell neutral. Es sympathisierte zunächst mit den Achsenmächten, unterstützte gegen Kriegsende jedoch die Alliierten. Vor und während des Krieges war Argentinien Zielland von Flüchtlingen aus Europa, darunter rund 45.000 Juden; nach dem Krieg fanden zahlreiche Nationalsozialisten und Faschisten über die so genannte „Rattenlinie“ Unterschlupf in Argentinien ebenso wie in anderen Staaten Lateinamerikas. Unter den prominentesten nationalsozialistischen Kriegsverbrechern in Argentinien waren Adolf Eichmann, der 1960 vom Mossad entführt und in Israel zum Tode verurteilt wurde, Josef Mengele, Walther Rauff und Erich Priebke. Über sogenannte Schlüsselfirmen wurden auch hohe Vermögenswerte der Nationalsozialisten nach Argentinien verschoben. März 2015 wurde die Entdeckung eines in einem Waldgebiet des Naturparks Teyu Cuare etwa 1000 Kilometer nördlich der Landeshauptstadt Buenos Aires gelegenen Gebäudes aus den 1940er Jahren bekannt. Es wurde nie benutzt. Indizien wie Baustil und gefundene Gegenstände sprechen dafür, dass es als Versteck für flüchtige Nazi-Größen gedacht war, so das Zentrum für Stadtarchäologie (CAU). „Die nationale Kommission zur Aufklärung von Nazi-Aktivitäten (CEANA) schätzt, dass sich mindestens 180 Kriegsverbrecher in das südamerikanische Land abgesetzt haben.“ Unter Perón, der mit faschistischem Gedankengut sympathisierte, verfolgte Argentinien das Ziel, durch Zugeständnisse an die Arbeiter den Kommunismus abzuwehren. In seiner ersten Regierungszeit wurde die Industrialisierung des Landes, die nach der Weltwirtschaftskrise um 1930 begonnen hatte, vertieft und eine Importsubstitutionspolitik durchgesetzt. Die forcierte Industrialisierung und die aktive Sozialpolitik führten zu einem nie gekannten und bis heute nicht wieder erreichten Wohlstandsniveau für die Massen, die deshalb das zunehmend autoritär werdende Regime unterstützten, jedoch auch zu steigender Inflation und Staatsverschuldung. In der zweiten Amtszeit Peróns kam es zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Konflikten mit der mächtigen katholischen Kirche. 1955 wurde er bei einem Putsch abgesetzt und floh ins Exil nach Spanien. Instabilität und Diktaturen Argentinien verzeichnete in der Folgezeit wirtschaftliche Höhen und Tiefen im Wechsel. Bis 1983 gab es eine Epoche der Instabilität, in der abwechselnd zivile und Militär-Regierungen das Land in der Hand hatten. Die demokratisch gewählten Regierungen Frondizis (1958–1962) und Illias (1963–1966) wurden von den antiperonistischen Militärs vorzeitig aus dem Amt geputscht. Von 1966 bis 1973 gab es unter Onganía und seinen Nachfolgern eine längere rechtskonservative Militärdiktatur, die jedoch nach Protesten der Bevölkerung 1973 schließlich aufgegeben wurde. Das Land fand kurzzeitig zur Demokratie zurück, der nach wie vor populäre Perón durfte wieder einreisen und konnte bald erneut die Macht erlangen. Die zweite Amtszeit Peróns von Oktober 1973 bis zu seinem Tod am 1. Juli 1974 brachte nur eine geringfügige Beruhigung in die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse Argentiniens. Nach seinem Tod wurde seine dritte Ehefrau, Isabel Perón (genannt „Isabelita“), die er zur Vizepräsidentin gemacht hatte, auf Betreiben der peronistischen Partei als Präsidentin eingesetzt. Diese, eine ehemalige Nachtclubtänzerin, war mit diesem Amt völlig überfordert und diente lediglich als Marionette von rechten Peronisten wie José López Rega, der mit der Alianza Anticomunista Argentina schon unter Perón eine paramilitärische Gruppe eingesetzt hatte, die Regimegegner folterte und ermordete. Zudem nahmen wirtschaftliche Probleme zu, die Inflation stieg steil an. Mehrere Guerillagruppen (Guerilleros) wie die Montoneros waren in diesem Kontext aktiv und es kam zu verschiedenen Entführungen. Die Entführung des für Mercedes-Benz den Standort Argentinien betreuenden Produktionsleiters Heinrich Metz im Oktober 1975 (er kam später für ein Lösegeld in Höhe von mehreren Millionen US-Dollar wieder frei) löste eine Fluchtwelle unter den für deutsche Unternehmen in Argentinien tätigen Immigranten aus. Im Jahr 1976 kam es erneut zu einem Militärputsch und es installierte sich unter der Führung von Jorge Rafael Videla eine Militärdiktatur, geleitet von einer Junta aus drei Mitgliedern, die mit einem offenen Staatsterror regierten. Die Zeit zwischen 1976 und 1978 wird daher auch als „Schmutziger Krieg“ bezeichnet. Unter den geschätzt 30.000 Desaparecidos („Verschwundenen“) befanden sich auch zahlreiche Studenten, deren Mütter sich zusammenschlossen, um auf dem Platz vor dem Regierungsgebäude (Plaza de Mayo) ungeachtet ihrer Selbstgefährdung zu demonstrieren, und damit in die Geschichte eingingen. Ziel der Madres de Plaza de Mayo (Mütter der Plaza de Mayo), war und ist es, Kenntnis über den Verbleib ihrer Kinder zu erhalten. Die 1977 gegründete Organisation Abuelas de Plaza de Mayo (Großmütter der Plaza de Mayo) hat es sich zum Ziel gesetzt, die in der Gefangenschaft geborenen und illegal zur Adoption freigegebenen Kinder der Verschwundenen in ihre Familie zurückzuführen. Nachdem man ihre Eltern getötet hatte, wurden die Waisen als Kriegsbeute von Menschen aufgezogen, die der Diktatur nahestanden. Nur etwa 100 dieser Kinder haben bis heute von ihrer wahren Identität erfahren. Von 400 weiteren fehlt trotz aller Bemühungen von Verwandten und den Suchenden bislang jede Spur. In späteren Gerichtsverfahren gegen verantwortliche Militärs, die nur mit Mühe durchgesetzt werden konnten, wurde bekannt, dass sich die militärischen Machthaber zahlreicher Menschen auf grausame Weise entledigt hatten: Die Opfer wurden vor sogenannten Todesflügen betäubt und dann über dem Río de la Plata oder dem offenen Meer aus dem Flugzeug geworfen. Zu den Todesopfern der Diktatur gehörte 1977 auch die Deutsche Elisabeth Käsemann, der 2014 erstmals ausgestrahlte Dokumentarfilm Das Mädchen – Was geschah mit Elisabeth K.? enthält Stellungnahmen Hinterbliebener und politisch Verantwortlicher. Um Souveränitätstreitigkeiten (siehe Beagle-Konflikt) über die Inseln an der südlichen Spitze Amerikas zu beenden, beauftragten Argentinien und Chile 1971 ein internationales Tribunal damit, über eine bindende Interpretation des Grenzvertrags von 1881 zu entscheiden. Das Schiedsgericht im Beagle-Konflikt entschied 1977, dass alle Inseln südlich der Isla Grande de Tierra del Fuego zu Chile gehören. 1978 erklärte Argentinien die Entscheidung für nichtig und bereitete die militärische Einnahme der Inseln (siehe Operation Soberanía) vor, nur durch die Vermittlung von Papst Johannes Paul II konnte dies verhindert werden. Erst 1984, im Rahmen der Demokratisierung, erkannte Argentinien – nach Austausch von Navigationsrechten und einer Verschiebung der maritimen Grenze nach Westen – im Freundschafts- und Friedensvertrag von 1984 zwischen Chile und Argentinien das Urteil endgültig an. Im April 1982 begann Argentinien unter dem neuen Junta-Chef Leopoldo Galtieri den Falklandkrieg gegen Großbritannien. Es ging um die Argentinien vorgelagerten Falklandinseln (in Argentinien als „Islas Malvinas“ bezeichnet), die nach argentinischer Rechtsauffassung zum eigenen Staatsgebiet gehören, jedoch ebenso von Großbritannien als eigenes Hoheitsgebiet betrachtet werden und seit 1833 unter dessen Verwaltung stehen. Die Invasion argentinischer Soldaten wurde von den Streitkräften des Vereinigten Königreichs mit Luftangriffen, einem Seekrieg und einer Landeoperation erfolgreich revidiert. Die argentinischen Truppen kapitulierten am 14. Juni 1982. Das demokratische Argentinien ab 1983 Im Jahre 1983 kehrte das Land zur Demokratie zurück. Der erste Präsident dieser Epoche war Raúl Alfonsín (Unión Cívica Radical), der jedoch 1989 infolge einer schweren Wirtschaftskrise vorzeitig zurücktrat. Die Peronistische Partei kam mit Carlos Menem wieder an die Macht. Die neoliberale Wirtschaftspolitik Menems und die 1:1-Bindung des Argentinischen Peso an den US-Dollar war während seiner ersten Amtszeit äußerst erfolgreich und konnte das Land stabilisieren. Während seiner zweiten Amtszeit machten sich aber immer mehr die negativen Seiten dieser Wirtschaftspolitik bemerkbar. Zwischen 1998 und 2002 fiel daher das Land erneut in eine schwere Wirtschaftskrise, in der die Wirtschaftskraft um 20 % zurückging. 1999 wurde die Regierung Menem durch eine Mitte-links-Koalition mit dem Präsidenten Fernando de la Rúa abgelöst. De la Rúa konnte aber die verfahrene wirtschaftliche Situation, die sein Vorgänger hinterließ, nicht schnell und nachhaltig verbessern. Das zögerliche Handeln des Präsidenten, Streitereien innerhalb der Koalition und eine starke außerparlamentarische Opposition durch die Gewerkschaften, die traditionell den Peronisten nahestehen, schwächten de la Rúa zunehmend. Dies gipfelte Ende 2001 nach starken Unruhen und Plünderungen im Rücktritt von Präsident Fernando de la Rúa. In der Folge gab es mehrere peronistische Interimspräsidenten, bis Eduardo Duhalde mit der Verwaltung der Krise beauftragt wurde. Dieser löste die Dollarparität wieder auf. Im Mai 2003 wurde nach einer sehr chaotisch verlaufenden Präsidentschaftswahl Néstor Kirchner zum neuen Staatsoberhaupt gewählt, der dem sozialdemokratischen Flügel der Peronistischen Partei angehört. Trotz seines niedrigen Wahlergebnisses war Kirchner in seiner Amtszeit bei der Bevölkerung sehr beliebt, weil er die Krise erfolgreich überwinden und daher die Gesamtsituation des Landes verbessern konnte. Die Wirtschaft bekam einen starken Wachstumsschub: 2003 verbuchte Argentinien ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes in Höhe von +8,7 % gegenüber −10,9 % im Jahr 2002. Kirchner war jedoch auch Kritik ausgesetzt, insbesondere wegen seines autokratischen Führungsstils und zum Teil auch wegen seiner als Populismus gedeuteten Zusammenarbeit mit der Piquetero-Protestbewegung. Bei den Wahlen zum argentinischen Senat und zur argentinischen Abgeordnetenkammer im Oktober 2005 gingen die Anhänger Néstor Kirchners mit etwa 40 % der Stimmen als Sieger hervor. Bei der Wahl um Senatorenposten der Provinz Buenos Aires gewann seine Frau Cristina Fernández de Kirchner gegen die Ehefrau des ehemaligen Präsidenten Eduardo Duhalde Hilda González de Duhalde, die ebenfalls der Peronistischen Partei angehört. Der Präsident wurde somit gestärkt und konnte sich in beiden Kammern auf eine breite Mehrheit auch innerhalb seiner eigenen Partei stützen. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahl am 28. Oktober 2007 konnten die regierenden Peronisten, insbesondere die Wahlplattform Kirchners, Frente para la Victoria, mit einem überwältigenden Sieg gewinnen. Cristina Fernández de Kirchner konnte sich schon im ersten Wahlgang mit 45,3 % der Stimmen durchsetzen und damit eine Stichwahl vermeiden. Sie trat das Präsidentenamt am 10. Dezember 2007 an. Auch im Parlament wurde der Kirchnerismo leicht gestärkt. In der Folge war die Peronistische Partei von Flügelkämpfen betroffen. Mehrmals wurde sogar erwogen, die Partei auch offiziell zu spalten. Nachdem Kirchner aber 2008 den Parteivorsitz übernommen hatte, stabilisierte sich die Situation innerhalb der Regierungspartei wieder. Bei den Parlamentswahlen am 28. Juni 2009 verlor die Frente para la Victoria (FPV) allerdings. Daraufhin gab Néstor Kirchner den Parteivorsitz der Peronistischen Partei an den Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Daniel Scioli, ab. Im Oktober 2010 erlag er einem Herzinfarkt. 2015 kam es zu einem Machtwechsel: Bei der Präsidentschaftswahl setzte sich in der ersten Stichwahl der argentinischen Geschichte Mauricio Macri, Parteivorsitzender der konservativen Partei Propuesta Republicana und seit 2007 Bürgermeister von Buenos Aires, knapp gegen den von der Regierung Kirchner unterstützten Kandidaten Daniel Scioli durch. Cristina Kirchner konnte laut der Verfassung Argentiniens nicht zur Wiederwahl antreten; sie war schon zwei Wahlperioden Präsidentin. Macri beendete nach 2016 das seit 2012 existierende System der Devisenkontrolle und gab den Wechselkurs des Peso frei, schaffte Subventionen für Gas, Strom und öffentlichen Transport ab und reduzierte die Agrarsteuern auf Exporte. Nach wirtschaftlicher Rezession, hoher Inflation und starken Protesten der Bevölkerung im Jahr 2019 musste sich Macri bei den Präsidentschaftswahlen der Wahlformel Alberto Fernández / Cristina Fernández (Frente de Todos) geschlagen geben. Siehe auch: Liste der Präsidenten von Argentinien, Argentinien-Krise Politik Politisches System Nach der Verfassung von 1994 ist Argentinien eine föderalistische, republikanische Präsidialdemokratie. Im September 1947 wurde nach persönlichem Einsatz von Eva Perón für dieses Vorhaben das aktive und passive Frauenwahlrecht vom Parlament beschlossen. In einigen Provinzen hatten Frauen das aktive und passive Wahlrecht schon früher erhalten. Der Präsident der Nation („Presidente de la Nación Argentina“, „Poder Ejecutivo Nacional“) ist Staatsoberhaupt und Regierungschef in Person und hat eine starke Stellung, unter anderem die Möglichkeit per Dekret zu regieren. Er wird gemeinsam mit dem Vizepräsidenten, der ihn bei Abwesenheit vertritt, alle vier Jahre (bis 1995: alle sechs Jahre) in zwei Wahlgängen direkt gewählt. Um in der ersten Runde zu gewinnen, muss der siegreiche Kandidat 45 oder mehr Prozent der gültigen Stimmen erreichen oder bei einem Wert zwischen 40 und 45 Prozent zehn Prozentpunkte Vorsprung vor dem Zweitplatzierten aufweisen. In allen anderen Fällen gibt es eine Stichwahl. Verzichtet einer der beiden erfolgreichsten Kandidaten in der ersten Runde auf die Teilnahme in der Stichwahl (zuletzt 2003), gilt der andere Kandidat als Sieger, der Drittplatzierte rückt also in diesem Fall nicht nach. Eine Präsidentschaft ist höchstens während zwei aufeinander folgenden Perioden möglich, eine erneute Kandidatur ist aber nach einer Pause von vier Jahren wieder erlaubt. Der Präsident muss unter anderem argentinischer Staatsbürger sein und musste bis zur Verfassungsreform 1994 dem römisch-katholischen Glauben angehören. Die Legislative (Überbegriff: Congreso, Kongress, bestehend aus Abgeordnetenkammer und Senat) wird meist in allen Provinzen zu anderen Zeitpunkten gewählt. Die Anzahl der Abgeordneten der Abgeordnetenkammer wird per Verhältniswahlrecht ermittelt und ist nach einem bestimmten Schlüssel auf die Provinzen verteilt, sie beläuft sich auf etwa einen Abgeordneten pro 152.000 Einwohner. Die Abgeordneten werden für vier Jahre gewählt, allerdings jeweils die Hälfte der Abgeordneten alle zwei Jahre. Die Anzahl der Senatoren beträgt drei je Provinz und drei für die autonome Stadt Buenos Aires. Der Senat wird im Gegensatz zur Abgeordnetenkammer nach einem Sonderfall des Mehrheitswahlrechts gewählt; zwei Senatorensitze erhält die Partei mit den meisten Stimmen, einen Sitz die Partei mit den zweitmeisten Stimmen. Die Senatoren werden für einen Zeitraum von sechs Jahren gewählt, alle zwei Jahre wird ein Drittel der Senatoren gewählt. Seit der Wirtschaftskrise ist die Debatte um eine politische Reform aufgekommen, da das heutige System vor allem für die Wähler sehr undurchsichtig ist und sowohl Personenkult als auch Korruption begünstigt. So werden beispielsweise die Wahlen zum Senat und dem Repräsentantenhaus meist gemeinsam mit Bürgermeisterwahlen durchgeführt, was aufgrund der so genannten Listas Sábanas zu Verzerrungen führt. Das liegt an der Tatsache, dass in Argentinien keine Kreuze auf Stimmzettel gemacht werden, sondern jede Partei ihren eigenen Stimmzettel (Lista Sábana) hat und man seine Stimme durch die richtige Auswahl des Stimmzettels abgibt. Man kann aber bei vielen gleichzeitigen Wahlen die Stimmen aufteilen. In diesem Falle muss man, wenn man Kandidaten verschiedener Parteien wählen möchte, die Stimmzettel auseinanderschneiden und nur die entsprechenden Abschnitte in die Urne werfen. Von dieser Möglichkeit machen jedoch nur wenige Wähler Gebrauch, was bei Häufung von Wahlen am selben Tag zu Verzerrungen führt. Listas Sábanas (deutsch etwa: Betttuch(große)-Listen) heißen die Stimmzettel, weil sie oft sehr groß sind. Die jeweiligen Mehrheitsverhältnisse in der Legislative werden ebenfalls kaum publik gemacht, was auch daran liegt, dass die Zusammensetzung sich fast jedes Jahr ändert. Politische Indizes Parteien Die Parteienlandschaft Argentiniens ist durch starke Zersplitterung und Unstetigkeit gekennzeichnet. Besonders die zweite Hälfte der 1990er Jahre bis zur Argentinien-Krise markierten eine deutliche Zäsur, nach ihr entstanden zahlreiche neue Gruppierungen, zum Teil aus Abspaltungen der traditionellen Parteien. Eine der größten Parteien ist heute die aus der peronistischen Bewegung hervorgegangene PJ (Partido Justicialista, auf Deutsch meist: peronistische Partei genannt), die etwa 50 % des Wählerpotenzials auf landesweiter Ebene ballt. Dahinter folgt mit heute weitem Abstand die UCR (Unión Cívica Radical), die zwischen 1945 und 2003 faktisch ein Zweiparteiensystem mit der PJ gebildet hatte und mehrmals an der Regierung beteiligt war. Von 2015 bis 2019 stellte die Propuesta Republicana (meist als PRO bezeichnet) mit Mauricio Macri den Präsidenten. Die Propuesta Republicana wird als konservativ-liberal eingeschätzt. Die nach der Argentinien-Krise gegründeten Parteien ARI (sozialdemokratisch), Propuesta Republicana (konservativ-liberal) sowie die älteste Linkspartei Partido Socialista sind regional von großer Bedeutung und gehen auf Landesebene vielfache Allianzen ein, die zum Teil auch Teile von PJ und UCR integrieren. Weiterhin gibt es zahlreiche mitgliederstarke Regionalparteien, die in ihren jeweiligen Provinzen dominante Stellungen einnehmen und ebenfalls wechselnd mit den landesweit aktiven Parteien koalieren. Das europäische Rechts-Links-Schema lässt sich in Argentinien daher nicht eindeutig auf bestimmte Parteien anwenden, da viele von ihnen häufig ihre Ausrichtung ändern. Einige Parteien, die in den 1990er Jahren zeitweise Erfolge verbuchen konnten, etwa die liberale Acción por la República und die sozialdemokratische Frente Grande, die zwischen 1999 und 2001 in der Koalition Frente País Solidario an der Regierung beteiligt war, sind heute nur noch von lokaler Bedeutung. Seit Ende der 1990er Jahre finden wesentliche Debatten zwischen den Flügeln des PJ statt, die ideologisch sehr verschieden sind. Die Flügel werden meist mit dem Namen ihrer führenden Persönlichkeit bezeichnet. Der zwischen 2003 und 2015 herrschende Kirchnerismo (ausgehend von Néstor und Cristina Kirchner) ist sozialdemokratisch orientiert, während der in den 1990er Jahren dominierende Menemismo wirtschaftsliberal eingestellt war. Ein weiterer Flügel war lange Zeit der in der Provinz Buenos Aires regierende, ursprünglich mit dem Kirchnerismus alliierte Duhaldismo, wobei nach der Machtergreifung Kirchners durch Differenzen insbesondere im Verhältnis mit Carlos Menem die Allianz der beiden Blöcke zerbrach und der Duhaldismo insgesamt an Bedeutung verlor. Mit der Präsidentschaft Macris 2015 bis 2019 trat die PJ wieder etwas geeinter auf. Bei den Parteien mit extremeren Orientierungen haben bei der Linken diverse kommunistische Parteien (Partido Comunista Revolucionario, Partido Obrero, Izquierda Unida und Movimiento Socialista de los Trabajadores) eine gewisse Bedeutung. Im Fall der Rechten trifft das nur auf die rechtskonservativ-nationalistische Partido del Campo Popular zu (aus dem MODIN hervorgegangen), die als Sammelbewegung für Nostalgiker der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 gilt. Außenpolitik Der argentinische Präsident Mauricio Macri hatte gleich zu Beginn seiner Amtsperiode im Dezember 2015 erklärt, gute Beziehungen zu allen Ländern anstreben zu wollen. Sichtbar setzte er dabei auf die Wiederbelebung der Beziehungen zu Europa und den USA und eine Rückführung Argentiniens auf die Weltbühne. Hierzu zählte auch die schnelle Lösung des Konflikts mit den Hedgefonds in den USA im April 2016, durch die die Rückkehr des Landes auf die internationalen Finanzmärkte erzielt wurde. Priorität genießt für die Macri-Regierung ferner das Verhältnis zu den Ländern der Region, insbesondere zu Brasilien. Die Verfolgung des auf die Falklandinseln/Malwinen erhobenen Souveränitätsanspruchs bleibt von der Verfassung vorgegebenes Ziel argentinischer Außenpolitik, soll allerdings einer Zusammenarbeit mit Großbritannien in anderen Fragen nicht im Wege stehen. Die Beziehungen zu den Nachbarn in der Region, insbesondere zu Brasilien, Chile und Uruguay sowie Fragen der regionalen Zusammenarbeit – vor allem in Mercosur und UNASUR – gehören zu den klassischen außenpolitischen Prioritäten Argentiniens. Argentinien ist Mitglied in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sowie in der im Dezember 2011 gegründeten Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC), deren Mitglieder alle 33 amerikanischen Staaten mit Ausnahme der USA und Kanadas sind. Argentinien steht seit 1998 auf der Liste der Major non-NATO ally und gehört damit zu den engsten diplomatischen und strategischen Partnern der USA außerhalb der NATO. Unter den sozialistischen Regierungen litten die Beziehungen mit den USA allerdings erheblich. Für das Verhältnis zu den USA hat die argentinische Regierung eine deutliche Belebung angekündigt, die USA haben die ersten wirtschafts- und außenpolitischen Schritte Argentiniens durch erste Gesten honoriert. Der ehemalige US-Präsident Obama besuchte im März 2016 Argentinien, die bilateralen Beziehungen gewannen deutlich an Dynamik. Mit Blick auf die angestrebte Handelsdiversifizierung hat Argentinien seine Beziehungen zu China, Indien und Russland verstärkt. China ist nach Brasilien inzwischen der zweitwichtigste Handelspartner Argentiniens. Die Beziehungen zu Deutschland sind eng und beruhen auf zahlreichen kulturellen, wirtschaftlichen und diplomatischen Verbindungen zwischen beiden Ländern. Im Land gibt es eine deutschstämmige Minderheit. Argentinien gehört den G20 an und ist aktives Mitglied der Vereinten Nationen (Truppensteller im Rahmen der VN-Mission MINUSTAH in Haiti). Es war 2013–2015 im UN-Menschenrechtsrat und 2013/2014 als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat vertreten. Siehe auch: Mitgliedschaft Argentiniens in internationalen Organisationen Militär und Verteidigung Das argentinische Militär hat in der Geschichte des Landes immer wieder eine dominierende Rolle gespielt. Besonders in der Zeit zwischen 1955 (Putsch gegen Juan Perón) und 1973 (Rückkehr und zweite Präsidentschaft Peróns) und in der Zeit zwischen 1974 (Tod Peróns) und 1983 (Niederlage im Falklandkrieg und Redemokratisierung) war Argentinien vom Militär direkt oder indirekt geprägt. (Siehe auch: Geschichte Argentiniens) Unter den Präsidentschaften Raúl Alfonsíns (1983–1989) und Carlos Menems (1989–1999) wurde der Versuch unternommen, den Einfluss des Militärs zu schwächen und 1994 wurde die Wehrpflicht abgeschafft. 1999 betrugen die Ausgaben für die Verteidigung nur noch 62 % der Ausgaben von 1983; im gleichen Zeitraum sind die Staatsausgaben allgemein auf 152 % der Ausgaben von 1983 angestiegen. Im Jahr 2003 wurden die Amnestiegesetze für Verbrechen der Militärdiktatur (1976–1983) abgeschafft. Die argentinischen Streitkräfte, Fuerzas Armadas de la República Argentina, hatten 2004 eine Personalstärke (Soldaten und Verwaltung) von insgesamt etwa 102.300 Personen (Heer: 50.900 Personen (41.400 Soldaten), Marine: 26.600 Personen (17.200 Soldaten), Luftwaffe: 23.600 Personen (13.200 Soldaten), Verteidigungsministerium und Generalstab: 1.200 Personen). Argentinien gab 2017 knapp 0,9 % seiner Wirtschaftsleistung oder 5,7 Mrd. US-Dollar für seine Streitkräfte aus. Bildungswesen In Argentinien herrscht Schulpflicht von zehn Jahren. Es gibt neben den staatlichen Schulen auch eine hohe Zahl von privaten Schulen. Das Schulsystem ist in drei Stufen eingeteilt: Inicial (Vorschule; in der Regel ein Jahr), Primaria (in der Regel ab sechs Jahren mit zwei Grundstufen: EGB1 und EGB2; insgesamt sechs Schuljahre) und Secundaria (Sekundärstufe; drei Jahre EGB 3 bis einschließlich zur 9. Klasse und die anschließende dreijährige Polimodalstufe). Laut der Volkszählung des Jahres 2005 waren etwa 2,8 % der Bevölkerung über 15 Jahren Analphabeten. Dabei waren starke regionale Disparitäten zu beobachten: in Tierra de Fuego im Süden lag die Rate bei 0,73 %, im Norden des Landes wie etwa in der Provinz Chaco bei 8,96 %. Im Jahr 2015 war die Analphabetismusquote auf 1,9 % gesunken, wobei der Wert für Männer und Frauen nahezu gleich niedrig war. Von allen Argentiniern, die über 20 Jahre alt sind, haben 88 % die Schule besucht. Etwa 14 % haben die Primaria nicht abgeschlossen, circa 29 % haben eine abgeschlossene Primaria, ungefähr 14 % haben die Secundaria nicht abgeschlossen, etwa 16 % haben eine abgeschlossene Secundaria, circa 5 % einen höheren nicht-universitären Abschluss und etwa 5 % einen Universitätsabschluss. Das heißt, etwa 73 % der Bevölkerung haben mindestens die Primaria abgeschlossen, circa 30 % mindestens die Secundaria und nur etwa 10 % haben einen weiterführenden Abschluss. Schulsystem Im Jahre 1995 wurde das Schulsystem in vielen Provinzen reformiert: Die ersten neun Jahre der Schulzeit werden seitdem als EGB (Educación General Básica) bezeichnet, die in mehrere Richtungen aufgeteilte weiterführende Schule stattdessen als 'Polimodal'. Dieses System wurde mit geringen Abweichungen in fast allen argentinischen Provinzen eingeführt; die Bezeichnungen variieren jedoch, so heißt beispielsweise in der Provinz Córdoba der EGB CBU (Ciclo Básico Unitario). 2005/2006 wurde diese Reform in einigen Provinzen, z. B. in Buenos Aires, teilweise überarbeitet und wieder ans alte System angenähert. Es gibt eine Vielzahl von verschiedenen Schulabschlüssen (naturwissenschaftlich, sozialwissenschaftlich, technisch und wirtschaftlich orientiert), einige sind berufsbefähigende Techniker-Titel. Die Regierung Kirchner hat die Förderung der technischen Schulen von 5 auf 15 Millionen Pesos erhöht und sieht für 2006 eine Erhöhung auf insgesamt 260 Millionen Pesos vor. Die Förderung versucht seit 2003, die erheblichen Schwierigkeiten argentinischer Unternehmen, technisch qualifiziertes Personal zu rekrutieren, zu beheben. Zum Besuch der Hochschulen berechtigen alle im Rahmen des Polimodal erlangten Abschlüsse, auch wenn der Studiengang nicht mit der Ausrichtung des Polimodals übereinstimmt. In der ersten PISA-Studie 2003 schnitt Argentinien bei einer inoffiziellen nachträglichen Erweiterung der Studie (offiziell nahm es nicht teil), verglichen mit anderen lateinamerikanischen Staaten, bei weitem am besten ab. Bei der ersten offiziellen Teilnahme 2006 fiel es in nahezu allen Disziplinen hinter Uruguay, Chile und Mexiko, im Leseverständnis auch hinter Brasilien und Kolumbien zurück, wenn auch meist nur mit geringem Punkteabstand. Bei der PISA-Studie 2015 belegte Argentinien in allen Teilbewertungen Plätze zwischen Rang 36 und 43. In der Gesamtwertung lag es auf Rang 40, die höchste Platzierung aller lateinamerikanischen Staaten. Es gibt ein starkes Gefälle in der Qualität der Schulbildung zwischen Großstädten und ländlichen Regionen einerseits und zwischen Privatschulen und vielen staatlichen Schulen sowie sozialen Klassen und Milieus andererseits. Durch kontinuierliche interne Qualitäts-Tests seit Ende der 1990er Jahre versucht die Politik, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Bei diesen Tests kam eine Bandbreite von durchschnittlich 30 % bis 80 % der möglichen Punktzahl heraus, wobei die schlechtesten Ergebnisse von Schulen in ländlichen Gegenden, die besten dagegen in den Privatschulen der Großstädte sowie in den so genannten Colegios Universitarios (von Universitäten abhängige Staatsschulen) erzielt wurden. Universitäten Argentinien hat eine Vielzahl von staatlichen und privaten Universitäten. Zahlreiche private Universitäten haben in der Regierungszeit des neoliberalen Peronisten Menem ihre Pforten geöffnet. Das 1958 in Kraft getretene Gesetz zur Finanzierung der privaten Universitäten sieht ein Verbot finanzieller Unterstützung vor, erlaubt aber seit den 1990er Jahren unter Menem eine gezielte Förderung einzelner Forschungsprojekte. In der politikkritischen Zeitschrift „Caras y Caretas“ erschien im Mai 2006 ein Artikel, der vor der wachsenden Nähe einiger privater Bildungseinrichtungen zu orthodoxen religiösen Institutionen warnt, wie z. B. der Universidad Austral zum Opus Dei. Die älteste Universität ist die Universität von Córdoba, die 1613 gegründet wurde und heute die zweitgrößte des Landes ist (ca. 120.000 Studenten). Sie gehört mit der Universidad Nacional del Litoral in Santa Fe und der Universidad Nacional de San Martín in San Martín (Buenos Aires) zu den hochrangigsten des Landes. Die größte Universität ist dagegen die Universität von Buenos Aires (UBA), die 1821 gegründet wurde und etwa 400.000 Studenten hat. Bibliothekswesen Das Bibliothekswesen in Argentinien ist vielgestaltig. So entstanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts die ersten privat finanzierten Bibliotecas populares (Volksbibliotheken). Sie werden heute von der Comisión Nacional Protectora de Bibliotecas Populares gefördert. Diese organisiert auch Weiterbildungsveranstaltungen für das Bibliothekspersonal. Seit 1977 gibt es die Confederación Argentina de Bibliotecas Populares. Ihre Mitglieder sind zumeist keine Bibliothekare, sondern Politiker. Daneben existieren 19 Federaciones Provinciales. Seit 1927 entstanden die bibliotecas públicas municipales (Öffentliche Stadtbibliotheken), die heute fast ausschließlich in Buenos Aires existieren. Seit 1944 untersteht diese der Secretaría de Cultura de la Municipalidad de la Ciudad de Buenos Aires. Derzeit existieren in Buenos Aires 23 Stadtbibliotheken und 3 Bücherbusse, deren größte Benutzergruppe Schüler sind. Die 1963 gegründete Junta de Bibliotecas Universitarias Argentinas (JUBIUA) vertritt die Interessen der staatlichen Universitätsbibliotheken gegenüber der Regierung und erarbeitet gemeinsame Zielvorgaben. Die privaten Universitätsbibliotheken verfügen nicht über eine institutionalisierte Zusammenarbeit. Von den Schulen verfügen nur wenige über eigene Bibliotheken, die durch Buch- und Sachspenden sowie ehrenamtliche Tätigkeit der Eltern der Schüler finanziert werden. Derzeit wird ein Konzept zum Aufbau eines nationalen Schulbibliothekssystems erarbeitet. Die Biblioteca Nacional (Nationalbibliothek der Republik Argentinien) wurde 1810 unter dem Namen Biblioteca pública de Buenos Aires gegründet. Seit 1884 ist sie die Nationalbibliothek. 1933 erhielt sie das Pflichtexemplarrecht. Ihr Buchbestand wird auf 800.000 bis 2,5 Millionen Bände geschätzt. Die Biblioteca del Congreso de la Nación (Parlamentsbibliothek) entstand 1859. Die Bibliothek ist Depotbibliothek internationaler Organisationen und besitzt schätzungsweise 1,5 Millionen Bestandseinheiten. Politische Gliederung Provinzen Die Provinzen (spanisch provincias, Einzahl: provincia) sind die Gliedstaaten des argentinischen Bundesstaates. Sie haben jeweils eine eigene Provinzverfassung, eine Provinzregierung unter Leitung eines direkt gewählten Gouverneurs (gobernador) und ein Parlament. Die Provinzen sind wiederum administrativ in Departamentos untergliedert. Ausnahme ist hier die Provinz Buenos Aires, die in Partidos untergliedert ist. Es gibt 23 Provinzen und die autonome Stadt Buenos Aires, siehe Liste der Provinzen Argentiniens. Regionen Ab Ende der 1980er-Jahre haben sich die Provinzen Argentiniens mit Ausnahme der Provinz Buenos Aires zu Regionen zusammengeschlossen, mit dem Ziel, die Wirtschafts-, Infrastruktur- und Entwicklungspolitik untereinander abzustimmen und Gegengewichte zur dominierenden Stellung des Großraums Buenos Aires zu bilden. Diese Regionen sind allerdings bisher keine offiziellen Gliedstaaten, sondern reine Interessengemeinschaften, sie haben also keinerlei offizielle politische Organe. Der Grad der Kooperation ist unterschiedlich. Die Región Centro besteht aus den Provinzen Córdoba, Entre Ríos und Santa Fe und weist den höchsten Integrationsgrad auf. Die Interessengemeinschaft wurde schon 1973 als Ziel anvisiert, aber erst 1998 umgesetzt. Seit 2004 bestehen als offizielle Institutionen der Gouverneursrat (Junta de Gobernadores) und das Exekutivkomitee (Comité Ejecutivo). Die Región del Nuevo Cuyo besteht aus den Provinzen Mendoza, San Juan, La Rioja und San Luis. Sie weist nur einen geringen Integrationsgrad auf und besteht seit 1988. Auch sie hat als Institutionen einen Gouverneursrat und ein Exekutivkomitee, die jedoch kaum praktische Bedeutung haben. Einen Sonderfall nimmt die Región del Norte Grande Argentino ein. Diese integriert die zwei traditionellen Regionen Nordost- (Provinzen Chaco, Corrientes, Formosa und Misiones) und Nordwestargentinien (Catamarca, Jujuy, Salta, Santiago del Estero und Tucumán). Sie existiert seit 1999 und hat bereits zahlreiche Projekte verwirklicht, obwohl der Regionalvertrag noch von drei Provinzen ratifiziert werden muss. Aus traditionellen Gründen ist aber die Einteilung in Nordwesten und Nordosten nach wie vor für viele Statistiken ausschlaggebend. Schließlich besteht die Región Patagónica aus den Provinzen Chubut, La Pampa, Neuquén, Río Negro, Santa Cruz und Tierra del Fuego. Sie wurde 1996 gegründet und hat einen hohen Kooperationsgrad. So entsenden die Provinzparlamente Vertreter in ein gemeinsames Parlament, das Parlamento Patagónico, das schon seit 1991 besteht, als die Region offiziell noch nicht gegründet worden war. Menschenrechte Frauenrechte Im Dezember 2020 wurden Schwangerschaftsabbrüche in den ersten 14 Wochen für straffrei erklärt. Ab der 15. Woche darf nur im Falle einer Vergewaltigung und wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, abgetrieben werden. Gleichzeitig wies Amnesty International im Jahresreport (2020) auf zahlreiche Menschenrechtsverstöße in Argentinien hin: Die Corona-Pandemie habe die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern verschärft: Frauen verrichteten 75 Prozent der unbezahlten Haus- und Pflegearbeit. Bis November 2020 nahm die Gewalt gegen Frauen und Mädchen um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu. Es wurden im Jahr 2020 298 Femizide verübt. Rechte indigener Bevölkerungsgruppen Die Landrechte indigener Gemeinschaften werden nicht anerkannt bzw. umgesetzt (Stand 2020), obwohl ihr Recht auf die angestammten Territorien in der Verfassung verankert ist. Die Gemeinschaften waren Gewalt und unzureichender Versorgung mit Essen und Trinken ausgesetzt. Polizeigewalt Im Amnesty-International-Bericht von 2020 moniert die Organisation „exzessive Gewaltanwendung durch Polizisten“ sowie Fälle von Verschwindenlassen, die staatlicherseits nicht ausreichend aufgeklärt werden. Infrastruktur Große Städte Buenos Aires, dessen Ballungsraum 2017 etwa 14,9 Millionen Einwohner umfasst, ist politische Hauptstadt und wirtschaftliches Zentrum Argentiniens. Es ist umgeben von einer Reihe von selbstständigen Vorstädten, die zum Teil reine Schlafstädte sind, zum Teil aber auch selbst über Produktionsstätten verfügen. Córdoba, mit 1,6 Mio. Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes, verfügt über größere Produktionsstätten und beherbergt die älteste Universität des Landes Universidad Nacional de Córdoba. Rosario in der Provinz Santa Fe (1,3 Mio. Einwohner) ist der zweitgrößte Hafen des Landes und ein Industrie- und Handelszentrum. Mendoza (1 Mio. Einwohner) ist vor allem für seinen Wein- und Obstanbau bekannt, dient aber auch als Brückenkopf für den Handel mit Santiago de Chile. San Miguel de Tucumán (883.000 Einwohner) ist die Geburtsstätte der Unabhängigkeit und wurde durch die intensive Landwirtschaft, insbesondere den Zuckerrohranbau, wirtschaftlich und kulturell bedeutsam, litt aber in den letzten Jahrzehnten unter der Krise in diesem Wirtschaftssektor und ist heute eine der Städte mit der größten Armutsquote des Landes. Die Universitäten in dieser Stadt haben allerdings überregionale Bedeutung und werden z. B. von Studenten aus Bolivien besucht. Siehe auch: Liste der Städte in Argentinien Verkehrsnetze Im Logistics Performance Index, der von der Weltbank erstellt wird und die Qualität der Infrastruktur misst, belegte Argentinien 2018 den 61. Platz unter 160 Ländern. Von allen Länder in Lateinamerika belegt Argentinien einen der besseren Plätze. Schienenverkehr Das Eisenbahnsystem in Argentinien hat am 29. August 1857 mit der ersten Fahrt eines Zuges seinen Anfang genommen. Im Laufe der Zeit wurde das Schienennetz hauptsächlich von englischen Unternehmen relativ zügig ausgebaut und wurde zu einem Schlüssel für die Entwicklung des Landes. In den 1930er Jahren verfügte das Land mit 43.000 Kilometer Schiene über ein größeres Netz als die meisten Länder Europas. Das Eisenbahnsystem bestand aus mehreren unabhängigen privaten Unternehmen, die 1946 von Präsident Perón verstaatlicht wurden. Die Ende der 1950er Jahre hinzugezogenen US-amerikanischen Berater legten die Priorität auf den Straßenverkehr, so dass Bahnstrecken in großem Umfang stillgelegt wurden. Die Staatsbahn wurde 1992 von Carlos Menem wieder privatisiert, was zur Folge hatte, dass der Fahrgastbetrieb noch mehr reduziert wurde, die Eisenbahnergewerkschaft zerschlagen wurde, 50.000 Menschen arbeitslos wurden, ganze Landstriche verödeten und die Korruption im Eisenbahngeschäft stark zunahm. Heute hat das argentinische Schienennetz eine Länge von etwa 28.300 Kilometern in drei verschiedenen Spurweiten. Zwei Eisenbahnstrecken verbinden Argentinien mit Chile, weitere Strecken haben Verbindung mit Bolivien, Paraguay, Uruguay und Brasilien. Allerdings werden immer noch Strecken stillgelegt oder verfallen und werden nicht wieder instand gesetzt. Der Personentransport per Eisenbahn spielt generell nur noch im Großraum Buenos Aires für die Pendler eine Rolle. Bahnfernverbindungen gibt es noch bzw. wieder von Buenos Aires nach Córdoba, Mar del Plata, San Miguel de Tucumán, Santa Fe und nach Posadas. Die Züge benötigen für die gleiche Strecke jedoch wesentlich länger als Fernreisebusse und haben einen sehr eingeschränkten Fahrplan (z. B. Buenos Aires, Bahnhof Retiro – Córdoba zwei Fahrten pro Woche). Die Regierung unter Néstor Kirchner hatte 2006 einen „Megaplan Eisenbahn“ aufgestellt, worin auch eine 710 km lange, mit bis zu 320 km/h betriebene Hochgeschwindigkeitsstrecke Cobra zwischen Buenos Aires und Córdoba für 2011 geplant war. Die infolge dieses Planes reaktivierten Strecken mussten jedoch aufgrund technischer Defizite der Schienen oder des rollenden Materials oft gleich wieder stillgelegt werden. Touristisch gesehen gibt es einige interessante Züge, z. B. den Tren a las Nubes in der Provinz Salta, La Trochita – die einzige dampfbetriebene Schmalspurbahn Argentiniens, die zwischen Esquel und Nahuel Pan verkehrt – sowie den Tren del Fin del Mundo in der Provinz Tierra del Fuego. Straßenverkehr Die Rolle der Eisenbahn für den Personentransport wurde weitestgehend von modernen, klimatisierten Reisebussen übernommen. Es kann praktisch jeder Punkt des Landes mit dem Reisebus erreicht werden, und so sind die Busbahnhöfe heute neben den Flughäfen die meistgenutzten Infrastruktureinrichtungen. Der bedeutendste Busbahnhof Argentiniens ist Retiro in Buenos Aires. Von dort gibt es Busverbindungen in das ganze Land. Weitere stark frequentierte Busbahnhöfe und Drehkreuze finden sich in Córdoba (etwa 10 Stunden Reisezeit von Buenos Aires) und Mendoza (etwa 14–15 Stunden Reisezeit von Buenos Aires). Die längste Direktverbindung besteht zwischen San Salvador de Jujuy und Río Gallegos (3430 km, fahrplanmäßig 55 Stunden Fahrzeit), von wo aus man weiter nach Ushuaia fahren kann. Das Straßennetz hat eine Gesamtlänge von etwa 215.000 km und verteilt sich auf National-, Provinz- und Gemeindestraßen. Die Qualität der Straßen variiert stark. Die großen Wirtschaftszentren sind mit asphaltierten und zum Teil gut ausgebauten Straßen verbunden, die meist über Mautgebühren von privaten Unternehmen gebaut und instand gehalten werden. In den Ballungszentren und auf einigen Hauptverbindungen existieren einige mehrspurige Autobahnen (autopistas) und Schnellstraßen (autovías), die meist als reguläre National- und Provinzstraßen ausgeschildert sind. Die meisten Fernstraßen sind jedoch zweispurig und durch den Schwerlastverkehr oft stark belastet. In abgelegenen Gebieten sind häufig nur Schotter- und Erdpisten vorhanden. Da die Eisenbahn im Personenverkehr keine Rolle mehr spielt und dieser fast ausschließlich über die Straße abgewickelt wird, gibt es pro Jahr fast 10.000 Verkehrstote, was hochgerechnet auf die Einwohnerzahl eine höhere Zahl als in Indien ist. Bekannteste touristische Strecke ist die Ruta Nacional 40 zwischen Cabo Vírgenes an der Südspitze des Festlandes (Provinz Santa Cruz) und La Quiaca, die das gesamte Land von Nord nach Süd durchquert. Flugverkehr Die nationale Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas wurde 1990 privatisiert und 2008 wieder verstaatlicht. Im Inlandsverkehr hat Aerolíneas einen hohen Marktanteil; seit 2018 sind auch mehrere einheimische Billigfluggesellschaften primär im Inland aktiv. Die zu den argentinischen Luftstreitkräften gehörende Líneas Aéreas del Estado (LADE) verbindet kleinere Städte in Patagonien. Aufgrund der großen Entfernungen verfügt fast jede größere Stadt in Argentinien über einen Flughafen. Die Hauptstadt Buenos Aires selbst besitzt zwei Passagier-Flughäfen: Internationale Flüge, insbesondere alle Langstreckenverbindungen, werden überwiegend am Flughafen Ezeiza (EZE) abgewickelt. Darüber hinaus gibt es den Stadtflughafen Aeroparque Jorge Newbery (AEP), der überwiegend für Inlandsflüge, aber auch für kürzere internationale Strecken, genutzt wird. Schiffsverkehr Ungefähr 3100 km der Wasserwege sind schiffbar. Der Río de la Plata mit seinen Oberläufen Río Paraná und Río Uruguay ist der wichtigste Wasserweg. Über diese Flüsse wird auch ein Großteil der landwirtschaftlichen Exporte Argentiniens transportiert, die meist in der Region um Rosario auf hochseefähige Schüttgutfrachter verladen werden. Energiewirtschaft Erdgas und Erdöl Argentinien besitzt Vorkommen an Erdgas, die Stand 2017 beim 6,5-fachen des jährlichen Verbrauchs lagen. Gas wird zum Kochen und Heizen, aber auch vermehrt als Kraftstoff für Pkw eingesetzt. Mehr und mehr spielt der Import von Erdgas, z. B. aus Bolivien, eine größere Rolle. Elektrizitätsversorgung Laut CIA lag Argentinien im Jahr 2016 bzgl. der installierten Leistung mit 38.350 MW an Stelle 27 und bzgl. der jährlichen Erzeugung mit 131,9 Mrd. kWh an Stelle 30 in der Welt. Der Elektrifizierungsgrad lag 2013 bei 96,4 % (99,2 % in den Städten und 96 % in ländlichen Gebieten). Laut der Comisión Nacional de Energía Atómica (CNEA) betrug die installierte Leistung der Kraftwerke in Argentinien 37.652 MW, davon entfielen auf kalorische Kraftwerke 24.396 MW (64,8 %), auf Wasserkraftwerke 11.265 MW (29,9 %) und auf Kernkraftwerke 1.755 MW (4,66 %). Auf der anderen Seite wird der Energiemix seit 1994 durch die Windenergie ergänzt, die in der Provinz Chubut in Patagonien mit ihrem besonders windigen Klima bereits einen erheblichen Teil der Stromerzeugung übernimmt. Sie wird seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gesetzlich gefördert und die Branche weist daher derzeit ein hohes Wachstum auf. Argentinien gilt als eines der Länder mit dem höchsten Windkraftpotenzial der Erde, lag jedoch in der Nutzung dieser Energieform 2006 nur auf dem dritten Platz in Lateinamerika hinter Mexiko und Brasilien. November 2015 kündigt China an, in Patagonien einen Windpark mit 200 MW Leistung zu errichten. Ende 2015 waren 187 MW Windkraft in Argentinien installiert, was 0,6 % Anteil an der Stromerzeugung entsprach. Die argentinische Regierung strebt an, bis 2025 6-7 GW Windenergieleistung zu installieren. Gerade in Patagonien herrschen exzellente Windbedingungen mit niedrigen Turbulenzraten und Windgeschwindigkeiten von bis zu 12 m/s im Jahresschnitt. An der Nutzung der Kernenergie will das Land festhalten. Bereits seit 1974 ist ein deutscher Importreaktor am Standort Atucha im Betrieb. Der zweite argentinische Reaktor am Standort Embalse, in Betrieb seit 1983, war ein Import aus Kanada. Seit 1981 befindet sich ein weiterer aus Deutschland importierter Reaktor im Bau und ging 2014 als Atucha-2 in Betrieb. Der Bau eines vierten Reaktors wurde seit 2006 in Erwägung gezogen. Bewerber für die Ausschreibung kamen aus Kanada, Frankreich, Russland, Japan, Südkorea, China und den USA. Eine entsprechende Anfrage erfolgte durch die argentinische Regierung. 2010 wurden Kooperationsverträge mit Russland und Südkorea unterzeichnet, wobei im Mai 2011 erstmals die Möglichkeit erwähnt wurde, zusammen mit der russischen Gesellschaft Rosatom einen Reaktor zu errichten. Am 12. Juli 2014 unterzeichneten Staatspräsidentin Cristina Kirchner und Wladimir Putin eine Vereinbarung über die russische Beteiligung am Projekt Atucha 3. Bereits 2012 hatte Argentinien mit China eine Kooperation vereinbart zu Finanzierung und Bau des Projekts Atucha 4. Im Juni 2018 beschloss die argentinische Regierung unter Mauricio Macri, die Pläne zum Bau eines Reaktors Atucha 3 und Atucha 4 einzustellen. Im Februar 2022 wurde bekannt, dass Argentinien mit der China National Nuclear Corporation einen Vertrag über den Bau eines weiteren Reaktors mit einer Leistung von 1,2 GW (Atucha 3) abgeschlossen hat. Telekommunikation und Post Die staatliche Telekommunikationsgesellschaft ENTEL wurde 1990 privatisiert und an zwei ausländische Unternehmen – Telefónica (Spanien) und Telecom (Frankreich, heute in der Hand von Telecom Italia) – verkauft, die sich das Land aufteilten. Seitdem hat die Zahl der Telefonanschlüsse je Einwohner rasant zugenommen, denn nach der Privatisierung betrug die Einrichtungsgebühr für einen Telefonanschluss mit 100 US$ nur noch ein Zehntel der früheren Gebühr, und auch die Wartezeit bis zum Anschluss hatte sich wesentlich verringert. Im Jahr 2017 gab es etwa 10 Millionen Festnetzanschlüsse und rund 90 % der Argentinier hatten ein Smartphone. Die Netzqualität und -abdeckung ist aber von Betreiber zu Betreiber sehr unterschiedlich. Im Jahr 2017 nutzten 74 Prozent der Einwohner Argentiniens das Internet. Auch der Postdienst wurde 1997 durch die Gesellschaft SOCMA privatisiert. In der Folge machte das Unternehmen (Correo Argentino) 250 Millionen Dollar Schulden und wurde schließlich 2003 wieder verstaatlicht. Neben Correo Argentino gibt es noch mehrere kleinere Postdienste, z. B. OCA und Andreani. Wirtschaft Argentinien ist eine gelenkte Volkswirtschaft, die in mehreren Stufen seit den 1970er Jahren zunehmend dereguliert und privatisiert wurde. Unter Präsident Néstor Kirchner jedoch wurde diese Tendenz umgekehrt. Argentinien ist mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rund 604 Milliarden US-Dollar (2015) die größte Volkswirtschaft des spanischsprachigen Südamerikas. In Lateinamerika sind lediglich Brasilien und Mexiko wirtschaftlich bedeutender. Argentinien verfügt über eine im Regionalvergleich relativ gut entwickelte Industrie; wichtigste Sektoren sind die Nahrungsmittelindustrie und die Automobilindustrie (u. a. Volkswagen und Daimler), die wesentliche Anteile der Produktion nach Brasilien exportiert. Die verarbeitende Industrie, Immobilien/Unternehmensdienstleistungen sowie der Handel tragen jeweils rund 10 % zum BIP bei. Der Beitrag der reinen Land- und Forstwirtschaft zum BIP liegt bei knapp 5 %; allerdings wird geschätzt, dass ein Drittel der Arbeitsplätze direkt oder indirekt (zum Beispiel Transport, Verpackung) im Zusammenhang mit der Agrarindustrie stehen. Auch bei den Exporten dominiert der Anteil der Nahrungsmittel (rund 45 %) deutlich vor Auto(teile)-Exporten (um 10 %). International wird Argentinien oft zu den Schwellenländern gezählt. Nach dem von den Vereinten Nationen erhobenen Index der menschlichen Entwicklung zählt es seit 2011 jedoch zu den sehr hoch entwickelten Staaten. Es gehört unter den unabhängigen südamerikanischen Staaten gemeinsam mit Chile und Uruguay (Südkegel) zur Spitzengruppe in Hinblick auf das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt (Kaufkraftparität). Die Einkommensungleichheit (Gini-Koeffizient) lag 2009 im weltweiten Vergleich relativ hoch, aber noch unter dem Durchschnitt der lateinamerikanischen Staaten. Im Jahr 2014 befand sich die argentinische Wirtschaft trotz guter Rahmenbedingungen für Rohstoffexporte auf einer Talfahrt mit massiver Abwertung des Peso. Gleichzeitig stieg die Inflationsrate, die seit 2008 stets zwischen sechs und elf Prozent gelegen hatte auf 24 % im Jahr 2014 und auf 34 % im Jahr 2018. Im Global Competitiveness Index des WEF, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes beurteilt, belegt Argentinien Platz 92 von 137 Ländern (Stand 2017–2018). Im Competitiveness-Report von 2020 wurden Argentinien im internationalen Vergleich Fortschritte bei einer progressiven Besteuerung attestiert, jedoch bestehen demnach im Vergleich weiterhin kaum Regelungen gegen Monopolstellungen von Unternehmen und Probleme bei der Infrastruktur und dem Berufsbildungssystem. Nach dem Regierungswechsel von 2015 kürzte die Regierung 2016 staatliche Ausgaben in größerem Umfang. 2017 lag die Inflationsrate bei 26 % und stieg bis 2019 weiter an, 2020 fiel sie von 54 auf 42 %. Bodenschätze Wirtschaftlich bedeutend sind die Erdöl- und Erdgas-Vorkommen im Nordwesten, Neuquén, der Gegend rund um die Bucht Golfo San Jorge und vor der Küste. Im Dreiländereck Argentinien (Provinz Jujuy)-Chile-Bolivien (siehe auch Salar de Uyuni) sollen 70 Prozent der weltweiten Lithium-Vorkommen lagern. Das Leichtmetall Lithium wird für Lithium-Ionen-Akkumulator gebraucht. Wertvolle Mineralerze findet man in Argentinien nur in kleinen Mengen, so etwa Gold, Silber, Kupfer, Blei, Zink, Eisen und Zinn. Geschichte der Wirtschaftspolitik Die argentinische Wirtschaft ist traditionell durch die Landwirtschaft geprägt. Bis in die 1950er Jahre wurden fast ausschließlich Agrargüter exportiert. Erst danach setzte eine Industrialisierung nennenswerten Umfanges ein. Die wirtschaftliche Entwicklung wurde jedoch von den verschiedenen Regierungen nach unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Vorgaben reglementiert. Es entstand, vor allem unter dem Einfluss des Peronismus, ein breiter staatlich kontrollierter Sektor in Industrie, Handel und Dienstleistung. Dennoch hat Argentinien das Wohlstandsniveau der 1950er Jahre nie wieder erreicht. Die Korruption war und ist in Argentinien weit verbreitet. Die 1976 unter der Politik der Militärdiktatur eingeleitete massive Staatsverschuldung fügte der heimischen Wirtschaft schweren Schaden zu. Die Auslandsverschuldung stieg von unter 8 Mrd. US-Dollar im Jahr 1967 auf 160 Mrd. US-Dollar im Jahr 2001. Der Peso Ley musste mehrfach abgewertet werden. Der Falklandkrieg geht möglicherweise auch auf die wirtschaftlichen Probleme unter der Militärdiktatur zurück. Nach der Rückkehr zur Demokratie 1983 erwies sich die Hyperinflation als eines der größten wirtschaftlichen Probleme des Landes. Der 1989 gewählte Präsident Carlos Menem führte daraufhin die 1:1-Bindung des argentinischen Peso an den US-Dollar ein. Dies führte fast schlagartig zu einem Ende der Inflation und zu einem deutlichen wirtschaftlichen Aufschwung. Auf längere Sicht hatte sie aber zur Folge, dass argentinische Produkte auf dem Weltmarkt teurer und Importware im Inland billiger wurden. Zahlreiche argentinische Produktionsbetriebe mussten schließen. Es kam zu einem schnell zunehmenden Ungleichgewicht zwischen dem (offiziellen) Wechselkurs der Währung und ihrer inneren Werthaltigkeit. Kapitalflucht setzte ein, und das ohnehin hoch verschuldete Land musste immer neue Kredite im Ausland aufnehmen, um alte Verbindlichkeiten bezahlen und Devisen für dringende Importe bereitstellen zu können. Gelegentlich wurden sogar Staatsbedienstete nicht mehr mit Geld, sondern mit Schuldverschreibungen bezahlt, und Geschäftsleute wurden gesetzlich verpflichtet, derartige Papiere als Zahlungsmittel anzunehmen. Anfangs wurde dies noch durch private Kapitalzuflüsse ausländischer Anleger überlagert, die sich in argentinische Unternehmen einkauften, besonders im Zuge der von Menem eingeleiteten Privatisierung von Staatsbetrieben. Doch schließlich hatte die Verschuldung so weit zugenommen und die Wirtschaftsleistung so weit abgenommen, dass Ende 2001 nach schweren Unruhen Präsident Fernando de la Rúa zurücktrat. Auslöser für die Unruhen war der sogenannte Corralito, also das Einfrieren sämtlicher Bankguthaben. Die folgende Regierung gab die Einstellung der Zahlungen auf Tilgung und Zinsen, also den Staatsbankrott, bekannt. Wegen fehlender Unterstützung der Partei trat der übergangsweise angetretene Präsident Adolfo Rodríguez Saá schon nach fünf Tagen wieder zurück. Es folgte der Peronist Eduardo Duhalde, der im Januar 2002 den argentinischen Peso zunächst auf 1,40 ARS/US-Dollar abwertete, um ihn dann wenig später ganz freizugeben. Der IWF versorgte nach einer langen Verhandlung Mitte 2002, mit politischer Unterstützung der größten Industrienationen, Argentinien im Rahmen verschiedener Interimsabkommen mit frischem Geld. Damit konnte die argentinische Wirtschaft bereits im Jahr 2003 ein beachtliches Wachstum verzeichnen, vor allem weil nun Mittelabflüsse durch Kreditrückzahlungen nicht mehr stattfanden und wegen des nun deutlich billigeren Peso (3,5 bis 4 Argentinische Peso je US-Dollar). Allerdings wurde im März 2004 die Rückzahlung einer Rate von 3,1 Mrd. US-Dollar (etwa 2,5 Mrd. Euro) für einen im Rahmen der Interimsabkommen gewährten IWF-Kredite fällig. Erst unmittelbar vor dem letztmöglichen Termin wies die Regierung Kirchner die Zahlung an. Vorausgegangen war ein mehrwöchiger Verhandlungspoker. Die argentinische Regierung wollte dabei erreichen, dass ein Bericht des IWF über die Bemühungen des Landes im Hinblick auf die Wiedergewinnung wirtschaftlicher Solidität möglichst positiv ausfiel. Dies galt als Voraussetzung für eine weitere Kreditgewährung durch den IWF. Über die Behandlung der Forderungen von privaten Gläubigern Argentiniens wurde bislang aber noch keine Einigung erzielt. Dies belastet weiterhin die Handelsbeziehungen des Landes. Im IWF war lange umstritten, ob Argentinien die Voraussetzungen für die weitere Vergabe von Krediten erfüllt. Die Auflage, in „gutem Glauben“ zu verhandeln, hat die argentinische Regierung nach Ansicht der privaten Gläubiger nicht erfüllt. Stattdessen forderte Argentinien in den Verhandlungen zwischen 2002 und 2004 einen Kapitalschnitt, der auf 75 % Barwertverlust hinausläuft. Es liefen Klagen gegen Argentinien und den IWF vor dem Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel der vollständigen Rückzahlung des geliehenen Geldes, die teilweise noch nicht abgeschlossen sind. Eine deutsche Gläubigerorganisation ist die Interessengemeinschaft Argentinien e. V. Anfang 2005 nahm die Regierung Verhandlungen mit den Inhabern argentinischer Staatspapiere zur Annahme eines Umschuldungsplanes auf. Dieser Plan umfasste neben einem erheblichen Kapitalschnitt die zeitliche Streckung der Verbindlichkeiten sowie eine Reduzierung des Zinses. Dabei wurde ausschließlich mit privaten Gläubigern und ihren Interessenvertretungen verhandelt. Hierbei war bislang bei inländischen Gläubigern eine deutliche Bereitschaft erkennbar, das Umschuldungsangebot zu akzeptieren. Bei ausländischen Gläubigern stießen die Vorschläge jedoch zunächst auf harten Widerstand. Der Umschuldungsplan wurde von etwas mehr als 76 % der privaten Gläubiger innerhalb der gesetzten Frist akzeptiert. Eine kurzzeitige Streitigkeit mit einem Hedgefonds um 7 Milliarden Dollar verzögerte die Ausgabe der neuen Bonds allerdings um zwei Monate bis Ende Mai 2005. Siehe auch: Argentinien-Krise Wirtschaftswachstum Die Tabelle des Wirtschaftswachstums Argentiniens zeigt den tiefen Einschnitt bei der argentinischen Wirtschaftskrise 2001/2002, der zeitlich nach der mexikanischen Tequila-, der Asien- und der Brasilienkrise stattfand. (Quellen: Weltbank) Bruttoinlandsprodukt Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrug im Jahr 2003 376,2 Milliarden Arg$, dies entsprach etwa 103 Milliarden Euro. Davon entfielen etwa 43 % auf die Produktion von Waren und etwa 51 % auf die Erbringung von Dienstleistungen. Den größten Anteil am BIP hatten dabei die produzierende Industrie mit 22 %, die Landwirtschaft mit 10 %, der Groß- und Einzelhandel mit 11 % sowie die Vermietung von Gebäuden und Grundstücken mit ebenfalls 11 %. Staatsverschuldung Während der 1990er Jahre galt Argentinien als ein positives Beispiel für finanzielle Stabilität und erfolgreiche Marktreformen, doch stieg unter der Regierung Menem die Staatsverschuldung kontinuierlich an. Dies war eine der Ursachen für die Argentinien-Krise und den Staatsbankrott im Jahr 2001. Die Staatsanleihen wurden nicht mehr bedient. Die Gläubiger, die sich einem Umtausch unterwarfen, verloren ca. 70 % ihrer Anlage, darunter viele private Kleinanleger vor allem in Italien, Japan und Deutschland. Allein in Deutschland wurden mehrere hundert Urteile erstritten, welche die Republik Argentinien zur Zahlung der ausstehenden Schulden verpflichtet. Am 31. Juli 2014 wurde Argentinien zum zweiten Mal seit 2001 zahlungsunfähig. Seit 1985 gehört Argentinien ununterbrochen zu den Top-5-Kreditnehmern des Internationalen Währungsfonds. Inflationsrate Argentinien war in den 1980er Jahren bekannt als ein Land mit einer sehr hohen Inflationsrate. Diese verstärkte sich ab Beginn der Redemokratisierung 1983 zunehmend zu einer Hyperinflation, deren Höhepunkt 1989 erreicht wurde. Im selben Jahr wurde unter der Regierung von Carlos Menem und seinem Wirtschaftsminister Domingo Cavallo die 1:1-Bindung des argentinischen Peso an den US-Dollar beschlossen. Diese Maßnahme konnte die Inflationsrate in der Folge relativ rasch auf „normale“ Werte drücken. Im Zeitraum zwischen 1994 und 1998 gab es keine nennenswerte Inflationsrate. Ab 1999 drehte die beginnende Wirtschaftskrise die Inflationsrate sogar in den deflationären Bereich. Mit der Argentinien-Krise, die um den Jahreswechsel 2001/2002 ihren Höhepunkt erreichte und mit der Erklärung des Default und einer Abwertung gegenüber dem Dollar verbunden war, stieg die Inflationsrate zunächst stark an, sank aber zwischenzeitlich wieder auf einstellige Werte. Seit das argentinische Statistikamt INDEC Anfang 2007 unter Regierungsaufsicht gestellt und die statistischen Berechnungsgrundlagen verändert wurden, wird die offizielle Inflationsrate von privaten Wirtschaftsinstituten und internationalen Organisationen in Zweifel gezogen. Deren Schätzungen für 2011 liegen bei ca. knapp 23 % (2010: ca. 25 %). Auf diesem oder höherem Niveau blieb sie bis mindestens 2021. Die hohe Inflation schlägt sich in den letzten Jahren in den Abschlüssen der Tarifrunden nieder, bei denen die mächtigen Gewerkschaften Erhöhungen noch deutlich oberhalb der realen Inflationsraten erzielen konnten. Außenhandel Der Außenhandel war in den vergangenen Jahren stark von der Argentinien-Krise geprägt. Die Importe gingen seit 1999 zurück. Im Jahresvergleich 2001/2002 hatten sie einen besonders starken Rückgang von 56 % und konnten sich erst 2003 wieder erholen. Die Exporte blieben von der Argentinien-Krise nahezu unberührt. Die Exporte sind von landwirtschaftlichen Produkten dominiert. 31 % aller Exporte sind weiterverarbeitete, landwirtschaftliche Produkte, 25 % sind Rohstoffe (wobei hierzu auch landwirtschaftliche Produkte zählen), 25 % sind industrielle Produkte und 18 % sind Mineralöle und andere Energieträger. Nach Handelsblöcken unterteilt gingen 2015 24 % aller argentinischen Exporte in den MERCOSUR, 23 % an ASEAN und China, Südkorea, Japan, Indien, 15 % an die EU und 10 % an NAFTA. Unter den einzelnen Abnehmerländern liegt Brasilien mit 17,8 % an erster Stelle, gefolgt von China mit 9,5 % und den USA und Chile mit 6,0 % bzw. 4,2 %. Bei den argentinischen Importen dominierten 2015 die Handelsblöcke ASEAN und China, Südkorea, Japan, Indien mit 28 %, gefolgt von Mercosur mit 23 % und der EU und NAFTA mit jeweils 17 %. Als Hauptlieferländer dominieren Brasilien mit 21,8 % und China mit 19,7 %, gefolgt von den USA mit 12,9 % und Deutschland mit 5,2 %. Staatshaushalt Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben von umgerechnet 141,7 Mrd. US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 115,9 Mrd. US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 4,7 % des BIP. Die Staatsverschuldung betrug 2016 279,6 Mrd. US-Dollar oder 51,3 % des BIP. 2006 betrug der Anteil der Staatsausgaben (in % des BIP) folgender Bereiche: Gesundheit: 10,1 % Bildung: 3,8 % (2004) Militär: 1,3 % (2005) Kultur Ein scherzhafter Ausspruch von Jorge Luis Borges bezeichnet die Argentinier als „Italiener, die Spanisch sprechen und gerne Engländer wären, die glauben, in Paris zu leben.“ Dadurch kommt die Mischung des Volkes aus Einwanderern verschiedener europäischer Länder zum Ausdruck, der sich in der Kultur deutlich bemerkbar macht. Argentinien hat eine sehr aktive, multikulturelle und stark durch europäische Einflüsse geprägte Kulturszene. Vor allem in Buenos Aires gibt es ein vielfältiges Angebot an Veranstaltungen in den Bereichen Theater, Musik, Oper, Literatur, Film und Sport. Musik Argentinische Musik ist durch den Tango (und die verwandten Musikformen Milonga und Vals) bekannt geworden. Bekannteste Interpreten sind Carlos Gardel, Astor Piazzolla und Osvaldo Pugliese. Tango kann jedoch nicht auf die musikalische Dimension beschränkt werden, vielmehr ist Tango ein gesamtkulturelles Phänomen mit den zusätzlichen Aspekten Textdichtung und tänzerische Interpretation. Als solches begründet der Tango eine kulturelle Identität, die sehr viel zum Selbstverständnis der Argentinier, genauer genommen der „Porteños“ aus Buenos Aires, beiträgt. Außerdem gibt es in Argentinien die in der traditionellen Musik verwurzelten Folklore-Interpreten. Zu den auch international beachteten Musikern zählen der als Atahualpa Yupanqui weltweit bekannt gewordene Héctor Roberto Chavero und die aus der Provinz Tucumán stammende Mercedes Sosa (1935–2009), die 1982 nach vier Jahren Exil in Madrid und Paris nach Argentinien zurückkehrte. Neuerdings sind in Argentinien einige traditionelle Musikstile von der Popmusik her wiederbelebt worden. Zu nennen sind hier der fröhlich-leichte Tanz des Cuarteto, die urbane Musik der Stadt Córdoba, sowie einige Stile der von den Spaniern übernommenen nationalen Folklore, die durch Mischung mit anderen Stilen eine völlig neue Gestalt erlangt haben. Auch Musikstile aus anderen Teilen Südamerikas, allen voran die kolumbianische Cumbia, wurden von argentinischen Interpreten weiterentwickelt. So entstand als aktueller Beitrag Argentiniens zur Popmusik in Buenos Aires die Cumbia Villera („Elendsviertel-Cumbia“). Literatur Im 19. Jahrhundert löst sich mit der Unabhängigkeit des Landes die argentinische Literatur von der spanischen – ohne dieses Erbe zu verleugnen. Durch die Thematisierung des Lebens der Gauchos in der Pampa gewinnt die Literatur eine deutliche nationale Komponente. Beispiele dafür sind Fausto (1866) von Estanislao del Campo, das in Gedichtform die Geschichte eines Gauchos erzählende und oft als argentinisches Nationalepos bezeichnete El gaucho Martín Fierro (1872) von José Hernández sowie das bereits 1845 entstandene Facundo von Domingo Faustino Sarmiento. In ähnlicher Traditionslinie steht auch die 1926 veröffentlichte Erzählung Don Segundo Sombra von Ricardo Güiraldes (deutsch bereits 1934: Das Buch vom Gaucho Sombra). Bekannte moderne Autoren sind Eduardo Mallea, Ernesto Sabato, Humberto Costantini, Julio Cortázar, Adolfo Bioy Casares, Manuel Puig, Victoria Ocampo, María Elena Walsh, Tomás Eloy Martínez, Roberto Arlt und besonders Jorge Luis Borges. In den 1920er Jahren formierten sich verschiedene Künstler, vor allem Schriftsteller, aus Argentinien und Uruguay in den Gruppen Grupo Boedo und Grupo Florida. Die Boedo-Gruppe wird als „plebejisch“ die Florida-Gruppe (u. a. mit Borges) als „großbürgerlich“ bezeichnet. Die Kontroverse zwischen diesen Gruppen wird jedoch als eher „freundschaftlicher Art“ beschrieben. Bekannte Comic- und Cartoonautoren sind Guillermo Mordillo und Quino, der unter anderem Preisträger des Max-und-Moritz-Preises ist und die Reihe Mafalda schuf. Theater In vielen Städten gibt es eine lebhafte Theaterszene. Man könnte pro Woche leicht über 100 verschiedene Theaterstücke von professionellen und Laiengruppen ansehen. Besonders bekannt ist Rosario für seine Theatergruppen. Das bekannteste Theatergebäude Argentiniens ist das Opernhaus Teatro Colón in Buenos Aires. Malerei Die argentinische Malerei gehört mit zu den führenden in Südamerika. Stilistisch ist die Malerei, im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern, weniger von indigenen Einflüssen bestimmt, sondern von der klassischen Moderne Europas. Herausragende traditionelle Maler Argentiniens sind Enrique de Larrañaga, Didimo Nardino und Horacio Politi. Eine neue Generation von Malern wird zunehmend von Einflüssen der Populärkultur wie Graffiti und New Pop Art bestimmt. Film Argentinien war eines der Pionierländer auf dem Gebiet des Stummfilms. Schon 1896 wurde der erste Film gedreht, der die argentinische Fahne zum Thema hatte. 1933 begann der Aufstieg der argentinischen Filmindustrie mit dem Aufkommen des Tonfilms. Damit begann die beste Zeit des argentinischen Kinos, die Filme dieses Landes wurden in der ganzen Welt gezeigt. Besonders bekannt wurden die „Tangofilme“ aus Buenos Aires, unter anderem mit dem Superstar Carlos Gardel. Ab der Mitte der 1940er Jahre griff allerdings der Staat mittels Zensur und Einmischung in die Kinoszene ein. Besonders dramatisch wurde dies in den Militärregierungen (1966–1973 und 1976–1983). In den demokratischen Zwischenzeiten wurden jedoch künstlerisch sehr hochwertige Filme produziert. 1968 kam La hora de los hornos (deutsch: Die Stunde der Hochöfen) von Pino Solanas heraus, ein Film, der als einer der Höhepunkte des politischen lateinamerikanischen Kinos gilt. Ein anderer politischer Filmemacher aus dieser Zeit ist Raymundo Gleyzer. Nach der Militärdiktatur begann das Kino, die Terrorherrschaft aufzuarbeiten. Es entstanden Filme wie La Historia Oficial (Luis Puenzo) (Oscar 1986 für den besten ausländischen Film), La Noche de los Lápices (Héctor Olivera) und später Garage Olimpo (Marco Bechis), die teils fiktive, teils wahre Fälle von sogenannten „Verschwundenen“ auf die Leinwand brachten. 1997 leitete Pizza, Birra, Faso (Adrián Caetano) die Epoche des „Nuevo Cine Argentino“ ein, in dem vor allem Geschichten aus dem Milieu der einfachen Leute und Elendsviertelbewohner verfilmt wurden. Heute ist die argentinische Filmszene vor allem in Buenos Aires und in geringerem Maße auch in Rosario und Santa Fe sehr aktiv. Der international bekannteste Regisseur war um die Jahrtausendwende wohl Berlinale-Gewinner Pino Solanas mit seinen sozialkritischen Filmen wie Sur, El viaje (Die Reise), Tangos, el exilio de Gardel sowie den Dokumentationen Memoria del Saqueo und La Dignidad de los Nadies, die den Zustand von Politik und Gesellschaft des Argentinien zu jener Zeit beschreiben. 2010 gewann der argentinische Film El secreto de sus ojos (In ihren Augen) neben anderen Auszeichnungen den Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film. Drehbuch und Regie stammen von Juan José Campanella. Sport Argentinien gilt als „das wohl leidenschaftlichste Fußball­land der Welt“. Bereits 1893 wurde der argentinische Fußballverband AFA gegründet, dieser gehört somit zu den ältesten nationalen Fußballverbänden der Erde. Das erste Länderspiel der argentinischen Nationalmannschaft wurde 1902 gegen Uruguay ausgetragen. Seither hat die Nationalmannschaft 15 Mal die südamerikanische Fußballmeisterschaft, die Copa América, und dreimal die Fußball-Weltmeisterschaft gewonnen (1978, 1986, 2022). 1978 wurde das Weltmeisterschaftsturnier in Argentinien ausgerichtet. Die beiden bekanntesten Fußballclubs sind River Plate und Boca Juniors, beide aus Buenos Aires. Die Spiele zwischen diesen beiden Mannschaften werden Superclásico genannt und das öffentliche Leben steht dabei praktisch still. Bei Boca Juniors hat der bekannte argentinische Fußballspieler Diego Maradona gespielt, der oft als einer der besten oder sogar als bester Fußballspieler des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird und von 2008 bis 2010 auch die argentinische Nationalmannschaft trainiert hat. Seit den 2000er Jahren gilt der siebenmalige Weltfußballer Lionel Messi bzgl. seines Talents als sein Nachfolger – durch die von ihm angeführten Siege der Copa América 2021 und der WM 2022 besitzt er mittlerweile ähnlichen Legendenstatus. Argentinien gewann als erstes Team die Basketball-Weltmeisterschaft im Jahre 1950. Außerdem konnte die Mannschaft aus Südamerika auch die Goldmedaille bei den Olympischen Sommerspielen 2004 gewinnen. Dieser 28. August war damit der erfolgreichste Tag Argentiniens in der Geschichte der Olympischen Spiele, denn am gleichen Tag gewann die argentinische Fußballmannschaft ebenfalls die Goldmedaille. Seit den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki waren dies die ersten Goldmedaillen für Argentinien. In Südamerika ist die argentinische Nationalmannschaft sehr dominant. Sie konnte bisher 13-mal die Kontinentalmeisterschaften für sich entscheiden (1934, 1935, 1941, 1942, 1943, 1966, 1976, 1979, 1987, 2001, 2004, 2008 und 2012). Zusätzlich gewannen die Argentinier die Amerikameisterschaften 2001, 2011 und 2022. Ein weiterer beliebter Sport in Argentinien ist Rugby in der Variante Rugby Union. Die argentinische Rugby-Nationalmannschaft, die „Pumas“, spielt mittlerweile auf höchstem internationalen Niveau und vollzog ab der WM 1999 eine große Entwicklung nach vorn. Bei der Weltmeisterschaft 2007 in Frankreich belegte sie den dritten Platz und schlug dabei Größen wie Frankreich und Schottland. 2015 und 2023 wurden die Pumas Weltmeisterschaftsvierte. Auch Basketball (bei Männern) und Hockey (vor allem bei Frauen) sind weit verbreitet, bei beiden Sportarten gehören die Nationalmannschaften mit zur Weltspitze. Neben Fußball und anderen Ballsportarten genießt der Pferdesport, insbesondere das Polo ein großes Interesse in Argentinien. Die argentinische Polo-Nationalmannschaft gehört zu den besten der Welt und konnte bisher viermal den Sieg bei der Poloweltmeisterschaft erringen: 1987, 1992, 1998, 2011 und 2017. Im Gegensatz zu Polo, das eher von Mitgliedern der argentinischen Oberschicht gespielt wird, ist Pato, der offizielle argentinische Nationalsport, ein Spiel der einfachen Landbevölkerung, eine Art Basketball auf Pferden. Im Gegensatz zu den Mannschaftssportarten sind die argentinischen Erfolge in Individualsportarten geringer. Ausnahme ist Tennis, bei dem mehrere Spieler bisher zur Weltspitze gehörten. Bekannt sind vor allem Guillermo Vilas, Juan Martín del Potro, Gastón Gaudio, David Nalbandian und früher bei den Damen Gabriela Sabatini. Von weiten Teilen der Bevölkerung werden auch Squash und Paddle-Tennis gespielt. Auch im Schwimmsport gab es einige Vertreter in der Weltspitze, in der Leichtathletik dagegen wurden von wenigen Ausnahmen abgesehen nur auf südamerikanischer Ebene Erfolge erzielt. Im Kampfsport ist die beliebteste Disziplin Boxen, das trotz der relativ geringen internationalen Bekanntheit argentinischer Boxer ein reges Medieninteresse, auch bei den Frauen, hervorruft. Im Motorsport ist wegen der landschaftlichen Bedingungen besonders die Rallye beliebt. Die Rallye Argentinien gehört seit 1980 fast ununterbrochen zur Rallye-Weltmeisterschaft. Seit 2009 findet die Rallye Dakar aus Sicherheitsgründen in Südamerika statt, was allerdings aus kulturellen und ökologischen Gründen umstritten ist. Start- und Zielort ist Buenos Aires. Der populärste Motorsportler ist jedoch der ehemalige Formel-1-Fahrer Juan Manuel Fangio, mit insgesamt fünf Titeln vor Michael Schumacher lange Zeit Rekordweltmeister dieser Disziplin. Weitere erfolgreiche Formel-1-Fahrer waren José Froilán González und Carlos Reutemann. Die Bedeutung von Argentinien in der Formel 1 hat allerdings stark nachgelassen – der jeweils auf dem Autódromo Juan y Oscar Alfredo Gálvez in Buenos Aires abgehaltene Große Preis von Argentinien fand letztmals 1998 statt; mit Gastón Mazzacane trat letztmals 2001 ein Argentinier in dieser Rennsportklasse an. Im November 2012 fanden in Bahía Blanca im Rahmen der Speedway-Junioren-U-21-Weltmeisterschaft zwei Finalläufe statt. Zudem gab es von 2015 bis 2017 drei Auflagen des Buenos Aires E-Prix im Rahmen der FIA-Formel-E-Meisterschaft. Special Olympics Argentinien wurde 1996 gegründet. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Fulda betreut. Siehe auch: Fußball in Argentinien Copa América Polo in Argentinien Argentinien bei den Olympischen Spielen Feiertage 1. Januar: Neujahr (Año nuevo) 24. März: Gedenktag an den Militärputsch 1976 Gründonnerstag, Karfreitag (Viernes Santo) und Ostern (Pascuas) 2. April: Tag der Islas Malvinas (Día del Veterano y de los Caídos en la Guerra de Malvinas) 1. Mai: Tag der Arbeit (Día del Trabajador) 25. Mai: Erklärung der Unabhängigkeit von Spanien am 25. Mai 1810 (Primer Gobierno Patrio) 20. Juni: Tag der Nationalflagge (Día de la Bandera, offiziell: Paso a la Inmortalidad del General Manuel Belgrano) 9. Juli: Anerkennung der Unabhängigkeit durch Spanien am 9. Juli 1816 (Día de la Independencia) 17. August: Gedenktag zu Ehren des Generals José de San Martín (Paso a la Inmortalidad del General José de San Martín) 12. Oktober: Tag der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus (Día de la Raza), siehe auch Kolumbus-Tag 8. Dezember: Mariä Empfängnis (Inmaculada Concepción de María) 25. Dezember: Weihnachten (Navidad), teilweise ist auch der Heilige Abend arbeitsfrei 31. Dezember: Silvester ist teilweise arbeitsfrei Sollte ein Feiertag auf einen Samstag oder Sonntag fallen, so ist der darauf folgende Montag meist arbeitsfrei. Diese Regelung gilt nicht für Neujahr, Ostern und Weihnachten, den Tag der Arbeit sowie den 24. März, 25. Mai und den 9. Juli. Zusätzliche Feiertage, die für Angehörige der jüdischen Gemeinde arbeitsfrei sind (Daten sind variabel und richten sich nach dem jüdischen Kalender): zwei Tage zwischen dem 6. September und dem 5. Oktober: jüdisches Neujahrsfest (Rosch ha-Schana; Año Nuevo) einen Tag zwischen dem 15. September und dem 14. Oktober: Versöhnungstag (Jom Kippur; Gran Día del Perdón) Zusätzliche Feiertage, die für die Angehörigen der muslimischen Gemeinde arbeitsfrei sind (Daten sind variabel und richten sich nach dem islamischen Kalender): Opferfest (Eid ul-Adha; Fiesta del Sacrificio) Islamisches Neujahrsfest (Ra's as-sana; Año Nuevo Islámico) Fastenbrechen am Ende des Ramadan (Eid al-fitr; Culminación del Ayuno) Essen Typisch für die argentinische Esskultur ist das Rindfleisch, traditionell als Asado oder Parrillada auf einem Holz- oder Holzkohlegrill zubereitet. Des Weiteren sind der Locro, ein Maiseintopf mit zahlreichen Zutaten, und die Empanadas, gefüllte Teigtaschen, verbreitete argentinische Gerichte. Bei den Getränken ist der Mate besonders charakteristisch, der auch in den Nachbarländern Uruguay, Paraguay, Chile sowie im Süden Brasiliens getrunken wird. Er ist ein teeartiger Aufguss aus den getrockneten und zerkleinerten Blättern des Mate-Strauchs (Yerba Mate), einer Pflanzenart aus der Gattung der Stechpalmen. Man trinkt ihn durch einen metallenen Trinkhalm, Bombilla genannt, und zumeist in geselliger Runde und bei jeder Gelegenheit. Dabei ist es üblich, dass nur ein (ebenfalls Mate genanntes) Trinkgefäß aus Holz oder Kürbis jeweils mit heißem, aber nicht kochenden Wasser neu aufgegossen und weitergereicht wird. Oft trinkt man den Mate-Tee auch als kalte Variante, die Tereré genannt wird. Argentinien besitzt außerdem mehrere große Weinanbaugebiete. Homosexualität Homosexualität ist in Argentinien mittlerweile weitgehend gesellschaftlich akzeptiert. Im Jahre 2010 wurde die Ehe für homosexuelle Paare erlaubt; in der autonomen Stadt Buenos Aires und der Provinz Río Negro konnten gleichgeschlechtliche Paare bereits seit 2003 eine eingetragene Partnerschaft eingehen. Es bestehen jedoch auf Bundesebene noch keine Antidiskriminierungsgesetze zum Schutz der sexuellen Orientierung. Dritte Geschlechtsoption Seit 2012 ist das Gesetz zur Geschlechtsidentität in Kraft, das eine Änderung des Geschlechtseintrags ohne psychiatrische Begutachtung oder geschlechtsangleichende Operation erlaubt. Im Juli 2021 ist Argentinien das erste Land in Lateinamerika, das in Ausweisdokumenten eine Kennzeichnung für nichtbinäre Menschen einführt: Personalausweise und Reisepässe können als Geschlecht ein „X“ enthalten. Medien Fernsehen Argentinien hat einen staatlichen Fernsehsender, Canal 7. Daneben gibt es eine Vielzahl von lokalen und nationalen, privaten Fernsehsendern, die über Antenne und Kabel zu empfangen sind. Des Weiteren gibt es eine große Anzahl von Sendern, die nur über Kabel und Satellit verbreitet werden. Die bekanntesten Sender sind die per Antenne zu empfangenen Telefe, Canal 9, América TV und Canal 13, die in vielen Regionen auch lokale Programme ausstrahlen. Einige argentinische Fernsehserien (darunter viele Telenovelas, Familienserien, aber auch wöchentliche Produktionen wie etwa Los Simuladores (2002-2003)) sind wegen ihrer niedrigen Produktionskosten und der hohen Qualität zu einem Exportschlager vor allem nach Osteuropa geworden. Mit dem Ziel einer stärkeren Integration Lateinamerikas ist Argentinien zusammen mit Uruguay, Kolumbien, Venezuela und Kuba an dem Satellitensender telesur beteiligt, der im Juli 2005 seinen Sendebetrieb aufgenommen hat. Hörfunk Radio ist ein sehr beliebtes Medium in Argentinien. Es gibt eine Fülle von staatlichen und privaten Radiosendern. Von den privaten Radiosendern sind viele in Cadenas, Radio-Ketten zusammengeschlossen und so kann man viele Sender aus Buenos Aires im ganzen Land empfangen. Der staatliche Auslands-Rundfunksender Radiodifusión Argentina al Exterior (RAE) existiert seit 1949. Die Sendungen werden in Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch auf den Frequenzen 6060, 11.710 und 15.345 kHz ausgestrahlt. Radio 360 in Euskirchen verbreitet die deutschsprachigen Sendungen auch als Podcast. Empfangsberichte werden von RAE mit QSL-Karten bestätigt, wenn Rückporto in Form von Internationalen Antwortscheinen beigefügt wird. Printmedien Es werden in Argentinien über 200 Tageszeitungen publiziert. Die auflagenstärksten erscheinen in Buenos Aires, zu nennen sind hier Clarín, La Nación sowie die Boulevardzeitungen Diario Popular, La Razón, Perfil, Crónica, Tiempo Argentino, Ámbito Financiero und Buenos Aires Herald. Eine linksalternative Zeitung aus Buenos Aires ist Página/12 mit detailliertem Kulturteil. Auflagenstarke Zeitungen aus anderen Städten sind La Capital (Rosario), die älteste heute noch erscheinende Zeitung des Landes, sowie La Voz del Interior (Córdoba) mit der höchsten Auflage im Landesinneren und La Gaceta (Tucumán). Erwähnenswert ist weiterhin El Tribuno, die in drei verschiedenen Ausgaben in den Provinzen Salta, Tucumán und Jujuy herausgegeben wird. In jüngerer Zeit haben eine Reihe von Zeitungen in den Großstädten Bedeutung erlangt, die vor allem in Bussen und Bahnen kostenlos verteilt werden (zum Beispiel La Razón und El Diario del Bolsillo). In Argentinien gibt es zudem eine große Anzahl von Zeitschriften und Wochenblättern. Die bekanntesten Nachrichtenmagazine sind Noticias und Veintitrés, auflagenstarke Magazine des Boulevardjournalismus sind Gente und Paparazzi. Des Weiteren erscheinen zahlreiche lokale Ausgaben internationaler Zeitschriften. Deutschsprachige Medien In Buenos Aires wird seit 1878 das Argentinische Tageblatt herausgegeben. Es erschien zwischen 1889 und 1981 täglich, wurde dann jedoch aus ökonomischen Gründen in eine Wochenzeitung umgewandelt. Zwischen 1880 und 1945 erschien zusätzlich die Deutsche La Plata Zeitung. Im Hörfunk gibt es beispielsweise im Programm des Senders Radio Popular eine Sendung mit dem Namen „Treffpunkt Deutschland“, die sonntags von 10 bis 14 Uhr über Mittelwelle 660 kHz sowie via Internet übertragen wird. Auf Kurzwelle 15.345 kHz sendet montags bis freitags der Radiosender Radiodifusión Argentina al Exterior ein einstündiges Programm in deutscher Sprache, das ebenfalls im Internet gehört werden kann. Pressefreiheit Die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen hält Argentiniens Medienlandschaft für vielfältig, aber politisch polarisiert. Sie sieht erkennbare Probleme für die Pressefreiheit. Siehe auch Agrarstrukturen in Lateinamerika Tourismus in Argentinien Literatur Klaus Bodemer, Andrea Pagni, Peter Waldmann (Hrsg.): Argentinien heute. Politik. Wirtschaft. Kultur. 2., vollst. neu bearb. Aufl., Vervuert. Frankfurt 2010, ISBN 978-3-86527-594-3. Tobias Boos: Populismus und Mittelklasse. Die Kirchner-Regierungen zwischen 2003 und 2015 in Argentinien. transcript-Verlag, Bielefeld 2021, ISBN 978-3-8376-5782-1, 321 Seiten (OA, zum Herunterladen transcript-verlag.de) Christoph Jost: Argentinien: Umfang und Ursachen der Staatsverschuldung und Probleme der Umschuldung in: Auslandsinformationen 11, Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 2003, (zum Herunterladen: ) Barbara Potthast: Eine kleine Geschichte Argentiniens. Suhrkamp, Berlin 2010, ISBN 978-3-518-46147-1 Michael Riekenberg: Kleine Geschichte Argentiniens. C.H. Beck, München 2006, ISBN 978-3-406-58516-6. Peter Waldmann: Argentinien. Schwellenland auf Dauer. Murmann, Hamburg 2010, ISBN 978-3-86774-106-4. Deutschsprachiges Exil in Argentinien. Themenhefte von Zwischenwelt. Literatur, Widerstand, Exil, Zeitschrift der Theodor Kramer Gesellschaft, Wien 2011/2012, Nr. 3 und 4 Weblinks Website der argentinischen Botschaft in Deutschland (deutsch, spanisch) Länderinformationen zu Argentinien vom Auswärtigen Amt (Deutschland) und vom Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten (Österreich) Einzelnachweise Staat in Südamerika Präsidiale Bundesrepublik (Staat) Mitgliedstaat der Vereinten Nationen Verwaltungseinheit als Namensgeber für einen Asteroiden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Antigen
Antigen
Ein Antigen (von engl. antibody-generating ‚Antikörper-erzeugend‘) ist eine molekulare Struktur, an die sich Antikörper im Rahmen einer erworbenen Immunantwort binden können. Nach der Bindung von Antikörpern an ihr jeweiliges Antigen erfolgt die erworbene Immunantwort, um gegen einen Krankheitserreger vorzugehen. Es kann sich bei den Antigenen zum Beispiel um Proteine, Lipide oder Kohlenhydrate handeln, nicht jedoch um Monosaccharide, Disaccharide, Aminosäuren oder einzelne Fettsäuren, weil derartige kleine Moleküle in der Regel keine Bindung zum Antikörper etablieren können (siehe Haptene). Ursprünglich wurde der Begriff nur auf Substanzen angewendet, die nach Injektion in einen fremden Organismus zur Antikörperbildung führten. Heute umfasst die Definition Moleküle, die spezifisch von Antigenrezeptoren von B- und T-Zellen gebunden werden. Außer Antikörpern können sich auch Lymphozyten über B-Zell-Rezeptoren oder T-Zell-Rezeptoren an Antigene binden, wodurch die Bildung von Antikörpern verstärkt wird oder Zytotoxische T-Zellen gebildet werden. Eigenschaften Die spezifische Bindung von Antikörpern und Antigenrezeptoren an Antigene ist ein wesentlicher Teil der adaptiven Immunität (auch erworbene Immunität) gegen Pathogene (Krankheitserreger). Dieser Teil des Immunsystems wird als adaptiv bezeichnet, weil die Antigen-bindenden Proteine des Immunsystems für eine bessere Bindung an das Antigen angepasst werden. Als erworben wird dieser Teil bezeichnet, weil erst nach einem ersten Kontakt eine adaptive Immunantwort entsteht – im Gegensatz zur angeborenen Immunantwort. Die Stelle auf der Oberfläche eines Antigens, die von einem Antikörper erkannt wird, wird als Epitop bezeichnet. Ein Antigen kann mehrere Epitope besitzen. An dieses Epitop bindet ein Antikörper mit dem sogenannten Paratop, der gegenüberliegenden passgenauen Stelle auf der Oberfläche des Antikörpers. Die Bindung eines Antikörpers an sein Antigen wird auch als Antigen-Antikörper-Reaktion bezeichnet. Ein Antikörper bindet nur an ein bestimmtes Epitop, je nach Aufbau des Paratops. Immunogenität Antigene können eine Immunantwort auslösen und damit immunogen wirken – oder auch tolerogen (toleranzbildend) wirken und in Folge keine Immunantwort auslösen. Beispielsweise müssen Krankheitserreger vom Immunsystem erkannt und eliminiert werden, nicht aber harmlose (z. B. Nahrungsmittel) oder körpereigene Moleküle. Antigene, die von Antikörpern oder B-Zell-Rezeptoren gebunden werden, sind meistens Proteine, können aber auch Kohlenhydrate, Lipide, Nukleinsäuren oder andere Stoffe sein. Dagegen werden von T-Zell-Rezeptoren meistens Proteinfragmente (Peptide) gebunden. Epitopwiederholungen Normalerweise kommt ein Epitop nur einmal auf einem Antigen vor. Diese Epitope werden als monovalent (einwertig) bezeichnet. Bei Polymeren wie Nukleinsäuren und Polysacchariden sowie bei räumlich gruppierten gleichen Antigenen (wie beispielsweise gleiche Membranproteine auf einer Zelloberfläche) kommen gleiche Epitope auch mehrfach nah beieinander vor. In diesem Fall werden sie als polyvalent (mehrwertig) bezeichnet, was sich in einer Erhöhung der Avidität, einer Gruppierung von B-Zell-Rezeptoren zu Clustern und somit in einer Aktivierung von B-Zellen äußert. Niedermolekulare Verbindungen Nicht jedes Antigen ist auch immunogen; beispielsweise wirken zu kleine Moleküle (darunter die Haptene) nicht immunogen. Bestimmte niedermolekulare Stoffe, die alleine keine Antikörperreaktion hervorrufen können, sondern erst durch die Bindung an ein Trägerprotein eine Immunreaktion auslösen können, heißen Haptene. Diese Haptene waren bei der Erforschung der Bindung durch Antikörper an ein Antigen wichtig, indem sie als chemisch definierte und veränderbare Versuchsobjekte dienten. Dementsprechend wird eine (meist höhermolekulare) Substanz, die diese Reaktion alleine ermöglicht, als Vollantigen bezeichnet, ein Hapten als Halbantigen. Kleine Moleküle wie Monosaccharide, Amino- oder Fettsäuren können keine adaptive Immunreaktion bewirken. Spezifität Damit ein Antigen immunogen ist, muss es zunächst von B- oder T-Zellen erkannt werden. Jede dieser Zellen bindet spezifisch nur ein Antigen mit ihrem jeweiligen Rezeptor nach der Klon-Selektionstheorie. Gelegentlich kommt es zu einer Bindung von Molekülen, die strukturell sehr ähnlich sind (Kreuzreaktivität). Antigene können entweder von B-Zell-Rezeptoren, T-Zell-Rezeptoren oder (von B-Zellen produzierten) Antikörpern erkannt bzw. gebunden werden. Für die Einleitung einer Immunantwort muss generell zusätzlich zum präsentierten Antigen zweiter Mechanismus aktiviert werden (ein Kostimulator auf der präsentierenden Zelle bindet an sein Gegenstück auf der Immunzelle). Bei Impfstoffen wird dieses zweite Aktivierungssignal teilweise durch Zugabe von Adjuvanzien erreicht. Eine Ausnahme bilden die Superantigene, welche zur Aktivierung der adaptiven Immunantwort kein zweites Aktivierungssignal benötigen. Bindungsstärke Antigene erzeugen je nach Stärke der Bindung an Teile des Immunsystems unterschiedlich starke Immunreaktionen. Die Bindung von Antigenen ist reversibel und ohne kovalente Bindung. Sie erfolgt über elektrostatische Wechselwirkungen, Wasserstoffbrückenbindungen, Van-der-Waals-Kräfte und hydrophobe Wechselwirkungen. Die Stärke der Bindung wird als Affinität bezeichnet, und typische Werte für Antikörperbindungen liegen zwischen 10−7 bis 10−11 M. In Blut und Lymphe kommen Millionen verschiedene Antikörper mit unterschiedlichen Affinitäten und unterschiedlichen Epitopen vor, aber jeder Antikörper bindet nur ein Epitop. Die Epitope, die eine stärkere Immunantwort erzeugen, werden als immundominant bezeichnet. Oftmals kommt es vor, dass sich Antigene von Krankheitserregern verändern, die zuvor gut vom Immunsystem erkannt wurden. Da durch eine starke adaptive Immunantwort gleichzeitig auch ein starker negativer Selektionsdruck auf die Epitope ausgeübt wird, kommt es häufiger im Zuge einer Immunevasion zu solchen Veränderungen, die sich in der Ausbildung von Fluchtmutationen von Krankheitserregern äußern, wodurch die Antigene verändert sind und schlechter oder gar nicht mehr vom Immunsystem erkannt werden. Gegenseitige Hemmung Wenn mehrere Epitope nahe beieinander liegen, kann die Bindung eines Antikörpers, B- oder T-Zell-Rezeptors an das erste Epitop räumlich die Bindung eines zweiten Antikörpers, B- oder T-Zell-Rezeptors an ein in direkter Nachbarschaft liegendes zweites Epitop behindern (sterische Hemmung). In seltenen Fällen kann die Bindung eines Antikörpers, B- oder T-Zell-Rezeptors eine Konformationsänderung im Antigen hervorrufen, wodurch ein anderes Epitop mit verändert wird und nicht mehr erkannt wird (allosterische Hemmung). Selbst- und Fremderkennung Körpereigene Antigene (Autoantigene) sind prinzipiell tolerogen, neu auftretende Antigene (darunter Neoantigene von Tumoren) sind potentiell gefährlich. Auch die Strukturen auf den Zellen eines fremden Menschen werden als körperfremd erkannt, denn die Kombination der Proteine auf den Zelloberflächen (Zellmembran) ist bei jedem Menschen anders. Daher wirken sich diese menschlichen Antigene bei der Übertragung von organischem Material von einem Menschen auf einen anderen nachteilig aus, z. B. bei der Bluttransfusion oder Organtransplantation. Hier muss auf Blutgruppen- bzw. Gewebeverträglichkeit geachtet werden. Die Übertragung falscher Blutgruppen führt zur Verklumpung des Blutes, bei Transplantationen kann es zur Abstoßungsreaktion gegen das übertragene Organ oder zur Schädigung des Empfängers durch das transplantierte Organ kommen (Graft-versus-Host Disease). Damit körpereigene oder harmlose Stoffe nicht als Antigene erkannt werden, wird eine Immuntoleranz ausgebildet. Dennoch kommt es gelegentlich zu Fehlreaktionen, wie Autoimmunerkrankungen (z. B. durch Autoantikörper), Immunpathogenesen oder Allergien. Antigene, die Allergien auslösen können, werden Allergene genannt. Auch körpereigene Strukturen können als Antigene wirken, wenn sie fälschlicherweise als fremd angesehen werden. Antigene werden unter anderem zur Entwicklung von Impfstoffen gegen Pathogene oder Tumoren (Tumorantigene und Tumor-assoziierte Antigene) eingesetzt oder werden vor einer Bluttransfusion oder Organtransplantation untersucht, um eine Immunreaktion gegen fremde Blutgruppen bzw. eine Abstoßungsreaktion zu vermeiden. Antigenpräsentation Für die Darbietung der Antigene sorgt die Antigenpräsentation. Die Optimierung der Bindung durch B- oder T-Zellen erfolgt durch zwei Mechanismen: die V(D)J-Gen-Umlagerung und die somatische Hypermutation (nur bei B-Zellen). Die entsprechenden Rezeptoren der Lymphozyten werden je nach Art der Lymphozyten als B-Zell-Rezeptoren oder T-Zell-Rezeptoren bezeichnet. Die Optimierung auf ein bestimmtes Epitop hat einen prägenden Einfluss auf die Immunantwort gegen dieses Epitop, der sich in einer schwächeren Immunantwort gegen mutierte Epitope bei einem erneuten Kontakt äußert, z. B. mit Virusvarianten (Antigenerbsünde). Während B-Zellen Antigene in voller Länge erkennen können (native Antigene), müssen Antigene für T-Zellen erst durch proteinabbauende Enzyme in Peptide zerlegt und an einem Präsentationsmolekül (MHC-I oder MHC-II) auf der Zelloberfläche präsentiert werden. B-Zell-Antigene Antigene, die von B-Zell-Rezeptoren oder Antikörpern erkannt werden, befinden sich oftmals auf den Oberflächen von eingedrungenen Fremdkörpern (z. B. auf Pollenkörnern, Bakterienoberflächen und im Kot von Hausstaubmilben) oder Zellen und weisen dort eine dreidimensionale Struktur auf, die spezifisch von bestimmten B-Zellen oder Antikörpern erkannt werden kann. Antigene auf Zelloberflächen werden als Oberflächenantigene bezeichnet. B-Lymphozyten (B-Zellen), die sich mit ihrem B-Zell-Rezeptor (der membranständige Vorläufer des Antikörpers) an ein Antigen gebunden haben, werden je nach Antigen entweder direkt (TI-antigen) oder mit Hilfe einer T-Helferzelle aktiviert. T-Helferzellen, die sich an einen Antigen-MHC-Komplex gebunden haben und das Antigen als fremd erkannt haben, scheiden Cytokine aus, die B-Zellen zur Antikörperproduktion anregen. Je nachdem, welche Cytokine in der Umgebung ausgeschüttet werden, findet ein Klassenwechsel in eine der Antikörper-Klassen (IgG, IgE, IgA) statt. Antikörper werden von den Plasma-Zellen (aktivierte B-Zellen) sezerniert, binden spezifisch an das Antigen, markieren damit den Eindringling (Opsonisierung) und führen so zur Phagocytose der Fremdkörper. Diese Aufgabe übernehmen beispielsweise Makrophagen, die sich mit ihren Fc-Rezeptoren an die konstante Region der Antikörper binden. Durch die Erkennung körperfremder Antigene können gezielt Eindringlinge wie Bakterien oder Viren bekämpft werden, ohne körpereigene Zellen zu schädigen. Bei den meisten B-Zell-Antigenen ist eine parallele Präsentation von T-Zell-Antigenen auf MHC-II gegenüber T-Helferzellen für eine humorale Immunantwort notwendig (Thymus-abhängige Antigene). Einige wenige B-Zell-Antigene können Antikörper auch ohne eine Aktivierung von T-Helferzellen hervorrufen (T-unabhängige Antigene, engl. TI-Antigens). T-Zell-Antigene Antigenpräsentierende Zellen für MHC-I sind alle kernhaltigen Zellen, während die für MHC-II vorwiegend Dendritische Zellen sind. Professionelle Antigen-präsentierende Zellen (prAPC) sind spezialisierte Zellen des Immunsystems, die den T-Zellen Antigene präsentieren. Zu den prAPCs gehören Dendritische Zellen, Makrophagen und B-Zellen. Sie nehmen Substanzen über verschiedene Mechanismen wie beispielsweise durch Endozytose auf, verarbeiten sie und koppeln sie an MHC-Moleküle. Diese werden dann auf der Zellmembran präsentiert. Eine T-Zelle mit einem passenden T-Zell-Rezeptor (TCR) kann das Antigen dann als fremd erkennen und wird aktiviert, wenn auch weitere kostimulatorische Signale vorliegen. T-Lymphozyten (T-Zellen) erkennen Antigene nur, wenn diese auf den Oberflächen von anderen Zellen an MHC präsentiert werden. Zytotoxische T-Zellen können an Antigene binden, die von MHC-I präsentiert werden und durchschnittlich aus 8–10 Aminosäuren bestehen. Die präsentierende Zelle wird im Anschluss durch Perforine und Granzym B zerstört. Eine Untergruppe der MHC-I (CD1) präsentiert nicht Peptide, sondern Lipide als Antigene. Ein MHC-I-ähnlicher Rezeptor (MR-1) präsentiert Metaboliten von bakteriellen Vitaminsynthesen, darunter Stoffwechselprodukte aus der bakteriellen Herstellung von Riboflavin. Antigene, die dagegen von Rezeptoren der T-Helferzellen erkannt werden, sind Peptidsequenzen aus circa 12–24 Aminosäuren, die von antigenpräsentierenden Zellen (APC) aufgenommen und auf MHC-II an der Zelloberfläche präsentiert werden. Durch die Präsentation auf MHC-II wird über die Aktivierung von T-Helferzellen anschließend die Bildung von Antikörpern durch B-Zellen verstärkt. Verwendung Antigene werden routinemäßig bei der Diagnostik von Infektionskrankheiten, Allergien und Autoimmunerkrankungen untersucht. Die quantitative Bestimmung eines nativen Antigens erfolgt meistens per ELISA. Als qualitative Nachweise werden auch Schnelltests verwendet. Eine Bestimmung von immunogenen und tolerogenen Epitopen (kurze Peptide) wird dagegen meistens im Rahmen einer Epitopkartierung per EliSPOT, per release assay oder Tetramerfärbung durchgeführt. Geschichte Die Bezeichnung „Antigen“ wurde in Anlehnung an den von Paul Ehrlich geprägten Begriff Antikörper erstmals ab 1899 von László Detre verwendet. Im Jahr 1903 veröffentlichte er gemeinsam mit Elie Metchnikoff eine Schrift in französischer Sprache, in der Antigene als substances immunogènes ou antigènes (deutsch ‚immunogene oder antigene Substanzen’) definiert wurden. Für ihre Entdeckungen „zur Spezifität der zellulären Immunantwort“ (MHC-Restriktion) erhielten Peter C. Doherty und Rolf Zinkernagel 1996 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Literatur C. Janeway et al: Immunobiology. 6. Auflage. ISBN 0-8153-4101-6. Die 5. englische Ausgabe ist online auf den Seiten des NCBI-Bookshelf frei verfügbar, (online). Weblinks Einzelnachweise Immunologie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Allergen
Allergen
Ein Allergen ist eine Substanz, die über Vermittlung des Immunsystems Überempfindlichkeitsreaktionen (allergische Reaktionen) auslösen kann. Die verschiedenen Überempfindlichkeitsreaktionen (Allergien, Pseudoallergien und Intoleranzen) sind im Artikel Allergie beschrieben. Dieser Artikel beschreibt die Stoffe. Ein Allergen ist ein Antigen. Allergene haben keine chemischen Gemeinsamkeiten. Deswegen ist es nicht möglich, eine Chemikalie zu entwickeln, die Allergene zerstört. Die meisten Allergene sind Eiweiße oder Eiweißverbindungen. Das Immunsystem allergischer Patienten reagiert mit der Bildung von IgE-Antikörpern auf den Kontakt mit Allergenen. „Pseudoallergene“ sind demgegenüber Stoffe, bei denen das Immunsystem nicht beteiligt ist, wohl aber Mediatoren, wie z. B. die Histamine. Allergene können nach verschiedenen Gesichtspunkten eingeteilt werden: nach der Art des Kontakts mit den Allergenen (z. B. Inhalationsallergene, Nahrungsmittelallergene) nach der Allergenquelle (z. B. Allergene aus Tierepithelien, Pollenallergene, Bienengiftallergene, Schimmelpilzallergene) nach dem Pathomechanismus, durch den die allergische Reaktion ausgelöst wird (z. B. IgE-reaktive Allergene) nach der Frequenz ihrer Erkennung durch IgE-Antikörper (Haupt- und Nebenallergene) nach ihrer Aminosäure-Sequenz in bestimmte Allergengruppen (z. B. Gruppe-5-Graspollenallergene) oder in bestimmte Proteinfamilien (z. B. Lipocaline, Profiline). Anhand dieser Einteilung sind mögliche Kreuzallergien ablesbar. IgE-reaktive Allergene IgE-reaktive Allergene sind jene Antigene, gegen die sich die fehlgeleitete Immunantwort bei Typ-I-Allergien richtet. Diese Allergene kommen ubiquitär (überall) vor und jeder Mensch kommt auch mit ihnen in Kontakt, und zwar durch Inhalation, Nahrungsaufnahme oder Berührung. Bei gesunden Personen kommt es entweder zu keiner Immunantwort gegen Allergene oder zu einer milden Immunantwort mit der Bildung von Allergen-spezifischen IgG1- und IgG4-Antikörpern. Im Gegensatz dazu kommt es bei Allergikern zu einer Bildung von Allergen-spezifischen IgE-Antikörpern. Diese veränderte Immunantwort wird – vereinfacht dargestellt – einem verschobenen T-Helferzellen Typ 1 – Typ 2 (Th1-Th2)-Gleichgewicht zugeschrieben, mit einer Th2-dominierten Immunantwort bei Allergikern und einer Th1-dominierten Immunantwort bei gesunden Personen. Allen IgE-reaktiven Allergenen ist gemeinsam, dass sie sehr gut wasserlösliche und eher sehr stabile Proteine oder Glycoproteine sind. Es handelt sich meist um kleine Proteine in der Größe von 5 bis 80 kDa. Sonst sind Allergene von ihrer Struktur, Aminosäure-Sequenz oder biologischen Funktion her, sehr unterschiedlich. Die Frage, „was ein Allergen zu einem Allergen macht“, konnte noch nicht befriedigend geklärt werden. Verschiedene Faktoren, wie z. B. die Art der Allergenaufnahme (z. B. durch Inhalation), die Partikelgröße, die enzymatische Aktivität einiger Allergene und die Tatsache, dass Allergene in ausgesprochen kleinen Mengen aufgenommen werden (nanogramm-Mengen reichen), scheinen einen Einfluss auf die Allergenizität zu haben. Alle Allergene haben gemeinsam, dass sie von dendritischen Zellen aufgenommen werden müssen und eine Differenzierung der dendritischen Zelle in eine Th2-induzierende aktivierte dendritische Zelle induzieren. IgE-reaktive Allergene kommen in einer Vielzahl von Allergenquellen vor. Eine Allergenquelle kann mehrere verschiedene Allergene freisetzen. So sind für die Hausstaubmilbe Dermatophagoides pteronyssinus mehr als 20 verschiedene Allergene bekannt. Allergiker können gegen nur ein Allergen oder auch gegen mehrere Allergene einer Allergenquelle sensibilisiert sein, also IgE-Antikörper bilden. Unter „Hauptallergenen“ versteht man jene Allergene einer Allergenquelle, gegen die mehr als 50 % der Patienten mit der betreffenden Allergie, IgE-Antikörper bilden. Alle anderen sind „Nebenallergene“. Kontaktallergene Kontaktallergene sind Auslöser von Typ-IV-Allergien. Das typische Krankheitsbild ist das allergische Kontaktekzem, das sich genau an den Körperstellen zeigt, die mit dem betreffenden Allergen in Kontakt kommen. Meist sind das die Hände, das Gesicht, die Unterschenkel oder der Nacken. Zu den häufigsten Kontaktallergenen gehören Nickel, Thiomersal, Parfum, Cobalt, Formaldehyd, Perubalsam, Kolophonium, Isothiazolinone, Chrom, Thiuramix. Besonders im beruflichen Umfeld spielen Kontaktallergene eine große Rolle. Berufsgruppen, die häufig betroffen sind, sind Köche, Friseure, Bäcker, Reinigungskräfte, Personal in der Möbelherstellung, in Fleisch und Fisch verarbeitenden Betrieben und in Gärtnereien. Die EU-Richtlinie 94/27/EG („Nickel Directive“) legt fest, dass Nickel nicht in Schmuck und anderen mit der Haut in Berührung kommenden Produkten enthalten sein darf. Beispiele für Kontaktallergene: tierischen Ursprungs: Seide, Wolle, Wollwachs, Milben pflanzlichen Ursprungs: Wiesenpflanzen und Primeln chemische Kontaktallergene: Teer, Nickel und Chrom Inhalationsallergene oder Aeroallergene Inhalationsallergene oder Aeroallergene werden über die Atmung aufgenommen. Ein typisches Beispiel sind Birkenpollenallergene. Beispiele für Inhalationsallergene: tierischen Ursprungs: aus Tierepithelien freigesetzte Schwebstoffe, Hausstaubmilben pflanzlichen Ursprungs: Gräserpollen, Pilzsporen, Mehl, Holzmehl und Holzstaub chemischen Ursprungs: Dämpfe von Additiven in Kraft-, Kunst- und Beschichtungsstoffen Nahrungsmittelallergene Nahrungsmittel- und Arzneimittel-Allergene werden durch den Mund in den Körper aufgenommen. Beispiele für Nahrungsmittel- und Arzneimittel-Allergene: tierischer Herkunft: Milcheiweiß, Eier, Krebse, Fisch und Fleisch, Milbenkäse pflanzlicher Herkunft: Erdbeeren, Äpfel, Nüsse, Bohnen Arzneimittel: Schmerzmittel und Penicillin Es ist sehr schwierig und bisher kaum zufriedenstellend gelungen, die Allergie-auslösende Aktivität verschiedener Allergene miteinander zu vergleichen. Methoden zur Allergen-Bewertung wurden in den USA und in Australien entwickelt: Die FDA verwendet für Lebensmittelallergene die Bewertung nach LOAEL (Lowest Observed Adverse Effect Level). Daneben bestehen Schwellenwerte für einige Allergene in ppm (mg Protein pro kg Lebensmittel) gemäß VITAL-Konzept (Voluntary Incidental Trace Allergen Labelling, Australien). Entsprechend Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung muss die Verwendung bestimmter (häufiger) Allergengruppen als Zutaten in Lebensmitteln deklariert werden. Obige Tabellen enthüllen zum einen Widersprüche in der Bewertung des allergenen Potentials verschiedener Lebensmittel, was die Problematik dieser Quantifizierungen belegt. Zum anderen liefern sie aber doch eine Basis, verschiedene Lebensmittel bezüglich ihrer Allergenität miteinander zu vergleichen und eine grobe Rangfolge abschätzen zu können. Laut einer Studie werden Nahrungsmittelallergene, wie beispielsweise Milchbestandteile, Haselnüsse, Meeresfrüchte, Ovalbumin oder Fischallergene, in vitro durch Simulierung der sauren Magenverdauung mit Pepsin innerhalb von wenigen Minuten komplett verdaut, bei pH-Wert-Anhebung allerdings nicht. Daraus folgerten die Forscherinnen, dass Nahrungsmittelallergieproblem mit einem erhöhten pH-Milieu des Magens in Zusammenhang stehen könnten. Säuglinge hätten erst am Ende des zweiten Lebensjahres Magensäurewerte wie Erwachsene. Auch Personen mit verminderter Magensäuresekretion oder nach Einnahme von Antazida, Sucralfat, H2-Rezeptor-Blockern oder Protonenpumpeninhibitoren haben erhöhte pH-Werte im Magen. Diagnostik Für die Allergiediagnostik in Lebensmitteln kann der ELISA zur direkten, quantitativen Bestimmung des Allergens sowie die PCR zum indirekten Nachweis der DNA des Allergens angewandt werden. In stark prozessierten Lebensmitteln wird häufig auf die PCR zurückgegriffen, da DNA deutlich hitzestabiler ist. In sauren Lebensmitteln, in denen die DNA hydrolysieren kann oder wenn keine Auswirkungen auf Proteine zu erwarten sind, ist der ELISA-Test die Methode der Wahl. Dies gilt insbesondere für den Nachweis von Milch oder Ei, die natürlicherweise wenig DNA und viel Protein enthalten. Injektionsallergene Injektionsallergene gelangen durch Injektionen in den Körper. Dazu gehören auch die Insektengiftallergien, bei denen das Allergen durch Insektenstiche übertragen wird. Beispiele für Injektionsallergene: tierischer Herkunft: Bienengift, Wespengift, Quallengift pilzlicher Herkunft: Medikamente wie die Penicilline (aus Pilzkulturen) chemischer Herkunft: jodhaltige Kontrastmittel, Novocain und ähnliche Narkosemittel, Konservierungsmittel wie Parabene Leitallergene Leitallergene geben wichtige Hinweise darauf, inwieweit andere Stoffe zu einer allergischen Reaktion führen können. So reagieren Birkenallergiker in 50 % der Fälle im Rahmen einer Kreuzallergie auch auf bestimmte Nahrungsmittel wie Äpfel und Birnen. Deklarationspflichtige Allergene Pseudoallergene Häufige luftübertragene, nichtallergische Reizstoffe (Pseudoallergene) sind: Feinstaub Aerosole aus Klebstoffen, Putzmitteln, Sprays (z. B. Insektenspray) Parfüm Tabakrauch, Kerzen und Räucherkerzen Umweltschadstoffe wie Kohlenstoffmonoxid und Ozon Andere Auslöser allergieähnlicher Beschwerden: Kontrastmittel Medikamente (z. B. Acetylsalicylsäure) Milchzucker (Laktose) Nahrungs- und Genussmittel mit hohem Histamingehalt Narkosemittel Allergenfreie Stoffe Garantiert keine Allergien lösen aus: sauberes Wasser kleinkettige Zucker Aminosäurelösungen Fette Luft im Gebirge über ca. 2000 m Meereshöhe (pollenfrei) nicht iodiertes Speisesalz (es ist umstritten, ob Iodunverträglichkeit eine Allergie darstellt) Mineralsalze gereinigte Vitamine Bei Arbeitern, die mit Vitamin B1 Umgang haben, sind Allergien beschrieben. Auf die Anwendung von Vitamin B12 sind bei Patienten Soforttyp-Allergien und Allergien vom verzögerten Typ beschrieben. Auch Vitamin E, INCI Tocopherol, kann in kosmetischen Produkten (hier als Antioxidans eingesetzt) Allergien auslösen. Allerdings sind diese Allergien nicht häufig. Siehe auch Ekzem Epikutantest Hapten Hyposensibilisierung Immuntoleranz Einzelnachweise Weblinks Europaweites Allergiewörterbuch für Reisen (Europäische Verbraucherzentrale, Kiel) Allergieportal des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz mit Informationen zu den wichtigsten Allergenen der verschiedenen Lebensbereiche Allergome - Datenbank allergener Proteine (engl.)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ada%20Lovelace
Ada Lovelace
Augusta Ada King-Noel, Countess of Lovelace, allgemein als Ada Lovelace bzw. Lady Lovelace bekannt (geborene Hon. Augusta Ada Byron; * 10. Dezember 1815 in London; † 27. November 1852 ebenda), war eine britische Mathematikerin und Gesellschaftsdame. Sie war die Tochter des Dichters Lord Byron. Sie gilt als erste Person, die Computerprogramme erstellte. Lovelace arbeitete mit Charles Babbage an der von ihm entwickelten Analytical Engine. Diese wurde zwar niemals fertiggestellt, aber Ada Lovelace erkannte das große Potential dahinter, über die Verwendung als Maschine zur Berechnung mathematischer Tafeln hinaus, die ihr Erfinder Charles Babbage zunächst im Auge hatte. Das manifestierte sich 1843 in selbst hinzugefügten Notizen zu ihrer Übersetzung eines Artikels von Luigi Federico Menabrea über die Analytical Engine, die dreimal so lang waren wie der ursprüngliche Text. Die Erkenntnis, dass die Maschine mehr als nur Zahlen verarbeiten könnte, war bahnbrechend, wurde jedoch zu ihrer Lebzeit nicht erkannt. Sie legte in ihren Aufzeichnungen und in der Veröffentlichung auch ein konkretes Programm für die Maschine am Beispiel der Berechnung von Bernoulli-Zahlen vor. Daher gilt sie manchen Historikern als erste Programmiererin der Welt. Das wurde vor allem von Doron Swade, der sich intensiv mit Charles Babbages Biographie befasst, mit dem Argument kritisiert, konkrete Programmbeispiele hätten sich auch mehrere Jahre zuvor in Babbages Aufzeichnungen befunden. Das ändere nach Swade aber nichts an ihrer eigentlichen Bedeutung, visionär die weit über konkrete Rechnungen hinausgehende Bedeutung des Computers erkannt zu haben. Die Programmiersprache Ada, die Lovelace Medal, der Ada Lovelace Award sowie die Coins ADA der Kryptowährung des Cardano-Netzwerks wurden nach ihr benannt. Leben Ada Lovelace wurde am 10. Dezember 1815 als Augusta Ada Byron geboren. Ihre Eltern stammten beide aus adeligen Familien. Adas Mutter, Anne Isabella Noel-Byron, 11. Baroness Wentworth, war eine religiöse und gebildete Frau. Ihr Vater, George Gordon Byron, 6. Baron Byron, bekannt als Lord Byron, war einer der bedeutendsten romantischen Dichter Englands. Er war für seine ausschweifende Lebensweise bekannt, in der er große Spielschulden anhäufte und viele Affären hatte. Ada war das einzige ehelich geborene Kind ihres Vaters, seine beiden anderen Kinder hatten andere Mütter. Ada Byrons Mutter zog aufgrund andauernder Auseinandersetzungen mit Lord Byron am 16. Januar 1816 gemeinsam mit der einen Monat alten Ada zu ihren Eltern nach Kirkby Mallory. Am 21. April 1816 unterzeichnete Lord Byron eine Trennungsurkunde und verließ England wenige Tage danach. Bis auf ein anlässlich dieses Abschieds geschriebenes Gedicht hatte Ada keine Beziehung zu ihrem Vater, sie traf nie mit ihm zusammen. Als Ada acht Jahre alt war, starb er. Zu Adas Lebzeiten war es Frauen in England noch nicht gestattet zu studieren. Stattdessen war es üblich, dass Mädchen aus wohlhabenden Familien Privatunterricht zuhause erhielten. Adas Mutter sorgte für eine sehr gute und breite Ausbildung ihrer Tochter. Den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechend, erhielt Ada Unterricht in Musik und Französisch. Da Adas Mutter sehr an Mathematik, Geometrie und Astronomie interessiert war und in ihrer Jugend selbst in diesen Fächern unterrichtet worden war, ermöglichte sie Ada auch eine naturwissenschaftliche Ausbildung. Zu ihren Tutoren gehörte Augustus De Morgan, Mathematikprofessor am University College London, der in seiner Forschung grundlegende Beiträge zur Entwicklung der mathematischen Logik lieferte. Diese Inhalte sollten später für ihr Verständnis der Analytical Engine sehr wichtig werden. Ada Byron war als Kind und Jugendliche oft krank und wird von Zeitzeugen als leidenschaftlich wie auch als ausgesprochen naturwissenschaftlich interessiert beschrieben. Als Tochter von Lord Byron waren ihr überall neugierige Blicke sicher. So auch als das scheue Kind mit zehn Jahren seine erste Bildungsreise nach Europa machte. Ada liebte Maschinen und verbrachte viele Stunden damit, neue Erfindungen und technische Diagramme zu studieren. Mit 13 Jahren erfand sie zum Spaß eine dampfgetriebene Flugmaschine und die „Wissenschaft“ der Flugologie. Sie zeigte auch in der Öffentlichkeit ein reges Interesse an verschiedenen mathematischen, mechanischen und naturwissenschaftlichen Fragestellungen und verstieß damit gegen die gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit. Im Verlauf ihrer mathematischen Studien lernte Ada Lovelace die Mathematikerin Mary Somerville sowie den 42 Jahre alten Charles Babbage kennen, dessen Salon sie im Alter von 17 Jahren besuchte. Sie begann mit ihm eine langjährige wissenschaftliche Korrespondenz und wurde seine Mitarbeiterin. Nach ihrer Europareise war Ada Byron erkrankt, möglicherweise an Masern. Anschließend kam es zu Lähmungserscheinungen, insbesondere der Beine. Erst mit 17 Jahren war sie wieder fähig, mit einem Stock zu gehen. In dieser Zeit führte sie auch ein Heft mit mathematischen Rätseln, Formeln, Denkspielen und naturwissenschaftlichen Betrachtungen. Im Jahr 1833 wurde sie dem König des Vereinigten Königreiches (Wilhelm IV.) vorgestellt. Daraufhin ergingen an sie Einladungen an den Hof und für weitere Gesellschaftsereignisse. Am 8. Juli 1835 heiratete Ada im Alter von 19 Jahren William King, 8. Baron King, den sie kaum einen Monat zuvor kennengelernt hatte, und erhielt dadurch den Höflichkeitstitel Baroness King. Auch er verfügte über eine mathematische Bildung und ließ sich, da Frauen zu dieser Zeit der Zutritt zu Bibliotheken und Universitäten untersagt war, ihr zuliebe in die Royal Society aufnehmen, wo er für sie Artikel abschrieb. Das Ehepaar hatte ein Haus in London und zusätzlich ein großes Anwesen im Süden von England und ein weiteres in Schottland. In den folgenden vier Jahren bekamen die beiden zusammen drei Kinder: Byron King-Noel, Viscount Ockham, 12. Baron Wentworth (1836–1862); Anne Isabella King-Noel, 15. Baroness Wentworth (1837–1917), ⚭ Wilfrid Scawen Blunt; Ralph Gordon King-Milbanke, 2. Earl of Lovelace, 13. Baron Wentworth (1839–1906). Im Jahr 1838 wurde ihr Ehemann zum Earl of Lovelace erhoben, wodurch Ada den Höflichkeitstitel Countess of Lovelace erhielt. Nach dem Tod von Ada Kings Mutter, 1860, änderte ihr Gatte als deren Generalerbe den Familiennamen von „King“ zu „King-Noel“. Ada Lovelaces Rolle als Ehefrau und Mutter machte für sie das wissenschaftliche Arbeiten immer schwieriger. In ihrer Korrespondenz mit Mary Somerville schrieb sie, dass sie eine unglückliche Ehe führe, weil ihr neben Schwangerschaften und Kinderbetreuung so wenig Zeit für ihr Studium der Mathematik und ihre zweite Leidenschaft, die Musik, bleibe; sie war eine „passionierte Harfenspielerin“ und spielte zudem Geige und sang. Um sich abzulenken, stürzte sie sich ins Gesellschaftsleben und hatte mehrere Liebesaffären. Mit großer Begeisterung wettete sie, nachdem sie in Doncaster zum ersten Mal Pferderennen besucht hatte, auf Pferde. Nachdem Ada Lovelace 1843 erkrankte, eine Magersucht entwickelte, Opium und Brandy zu sich nahm und zunehmend depressive Phasen zeigte, wuchsen ihre Kinder bei ihrer Großmutter auf. Die letzten Jahre ihres Lebens soll Lovelace mit der Entwicklung eines mathematisch ausgefeilten „sicheren“ Wettsystems verbracht haben. Sie starb im Alter von 36 Jahren an einem 1851 diagnostizierten Zervixkarzinom. Ihrem Wunsch entsprechend, wurde sie neben ihrem Vater in der St.-Maria-Magdalena-Kirche in Hucknall, Nottinghamshire, beigesetzt. Eine Gedenktafel in Latein erinnert bis heute daran. Werk Lovelace war ihr ganzes Leben lang interessiert an wissenschaftlichen Entwicklungen, inklusive Fragen nach der Möglichkeit zu fliegen oder die Arbeit des Gehirns mathematisch zu beschreiben. Nach ihrem ersten Treffen mit Babbage im Jahre 1833 war sie schnell fasziniert von dessen Arbeit an der „analytischen Maschine“. Sie nutzte ihre Bekanntschaft mit Mary Somerville, um so oft wie möglich an dem Rechenautomaten arbeiten zu können. Sie verglich die „analytische Maschine“ mit dem zu dieser Zeit hochmodernen dampfbetriebenen Jacquard-Webstuhl. Diese neuartigen Webstühle konnten per Lochkartenprogrammierung beliebig komplizierte Muster ohne direkten menschlichen Einfluss herstellen. Babbage war beeindruckt von Lovelaces Intelligenz und ihren analytischen Fähigkeiten. Babbages „analytische Maschine“ wurde zu seinen Lebzeiten niemals gebaut. Einerseits war die Feinmechanik noch nicht weit genug entwickelt, um die Maschinenteile in der nötigen Präzision herzustellen, andererseits verweigerte das britische Parlament die Finanzierung von Babbages Forschungsprogramm, nachdem es die Entwicklung der Vorgängermaschine – der Difference Engine – bereits mit 17.000 britischen Pfund gefördert hatte (ein Wert von rund 2,1 Millionen britischer Pfund im Jahr 2021). 1842 hielt Babbage einen Vortrag über seine Erfindung an der Universität von Turin. Der italienische Mathematiker Luigi Federico Menabrea fertigte auf dieser Grundlage eine Beschreibung von Babbages Analytical Engine auf Französisch an, die in der Schweiz erschien. Auf Babbages Bitte hin übersetzte Ada Lovelace ihn im Jahr 1843 ins Englische. Der in der wissenschaftlichen Zeitschrift Taylor’s Scientific Memoirs erschienene, mit A.A.L. signierte Artikel stellte eine Art Erläuterung und Bedienungsanleitung für die geplante Maschine dar. Sie erweiterte diese Übersetzung durch eigene Kommentare und Weiterentwicklungen. Diese Notes waren bei ihrer Veröffentlichung etwa doppelt so umfangreich wie Menabreas ursprünglicher Artikel. Babbage versuchte, die Bekanntheit von Lovelace zu nutzen, um unter ihrem Namen Kritik an der Streichung der finanziellen Mittel zu üben. Lovelace bestand jedoch darauf, ihren fachlichen Teil davon klar zu trennen. In Lovelaces Notes finden sich eine Reihe dem Stand der Forschung um 1840 weit vorausgreifende Konzepte. Während ihre Beiträge zu Rechnerarchitektur und Grundlagen der Programmierung bis zu ihrer Wiederentdeckung in den 1980er Jahren weitgehend in Vergessenheit gerieten, spielten ihre Standpunkte zur künstlichen Intelligenz in erkenntnistheoretischen Debatten als „Lady Lovelace’s Objection“ bereits bei Begründung dieses Forschungsbereichs der Informatik eine gewisse Rolle. Ada Lovelace legte in den Notes einen schriftlichen Plan zur Berechnung der Bernoulli-Zahlen in Diagrammform vor, welcher als das erste veröffentlichte formale Computerprogramm gelten kann. Wissenschaftlicher Beitrag Rechenmaschine und Computer Ein Kommentar ihrer Notes zeigt, dass sie den entscheidenden Unterschied zwischen einer bloßen Rechenmaschine und einem Computer herausgearbeitet hatte: Eine Rechenmaschine kann nur eine fixe Berechnung durchführen oder ist auf die manuelle Eingabe der durchzuführenden Operationen angewiesen. Mit der Programmierung dagegen kann man beliebig komplexe Algorithmen für den Rechner formulieren und automatisch ablaufen lassen. Anwendungsbereiche der Maschine Eine zweite Bemerkung beweist, dass sie auch die Möglichkeit erkannte, mit einem Computer mehr als nur arithmetische Aufgaben zu bearbeiten: Babbages Motivation für die Analytical Engine war die Berechnung von Zahlentabellen für den Einsatz in Naturwissenschaft und Ingenieurwesen. Lovelace dagegen hatte das weitaus größere Potenzial der Maschine erkannt: Sie würde nicht nur numerische Berechnungen anstellen können, sondern auch Buchstaben kombinieren und Musik komponieren. Diese nämlich beruhe auf den Relationen von Tönen, welche sich als Zahlenkombinationen ausdrücken ließen. Hardware und Software Auch erkannte Ada Lovelace, dass die Maschine einen physischen Teil hat, nämlich die Kupferräder und Lochkarten, und einen symbolischen, also die automatischen Berechnungen, die in den Lochkarten codiert sind. Damit nahm sie die Unterteilung in Hardware und Software vorweg. Lady Lovelace’s Objection In den Notes schreibt Lovelace 1843: „Die Maschine kann [nur] das tun, was wir ihr zu befehlen vermögen, sie kann der [Anm. d. Ü.: gemeint unserer] Analyse folgen. Sie hat jedoch keine Fähigkeit zur Erkenntnis analytischer Verhältnisse oder Wahrheiten.“ Umgangssprachlich postuliert Lovelace hier, dass eine Maschine im Gegensatz zum menschlichen Geist keine Fähigkeit zur Intuition habe und daher nicht zu eigener Erkenntnis befähigt sei. Alan Turing geht in seinem Artikel Computing Machinery and Intelligence aus dem Jahr 1950 auf diesen Einwand als „Lady Lovelace’s Objection“ ein. Die These (und Turings Widerspruch dagegen) ist seitdem immer wieder Gegenstand von Debatten sowohl in der Informatik als auch in der Philosophie. Eine neuere Arbeit zu diesem Thema ist beispielsweise Alfonseca et al. (2021), MPIB; die Argumentation der Autoren stützt sich u. a. auf die Nicht-Entscheidbarkeit des Halteproblems. Kritik an der Rezeption von Ada Lovelaces wissenschaftlichem Beitrag Verschiedene Forscher vertreten die Ansicht, dass Ada Lovelace nicht als erste Programmiererin gelten sollte. Der Charles-Babbage-Forscher Doron Swade führt als Beleg dafür an, dass bereits Babbages persönliche Aufzeichnungen aus den Jahren 1836/1837 „Programme“ für die Maschine enthielten – sechs bis sieben Jahre vor dem berühmten „Programm“ von Lovelace. Er betont allerdings, dass das keineswegs die Figur Lovelace' oder den Wert ihrer Beiträge unterminiere, da ihr originelles Verständnis der Fähigkeiten und Potenziale des Computers einen weit bedeutsameren Beitrag darstellte. Des Weiteren erhoben Forscher Zweifel daran, ob bzw. zu welchem Grade jenes Programm überhaupt Ergebnis ihrer eigenen Arbeit ist. Ehrungen und Projekte mit Bezug auf Ada Lovelace Die von Jean Ichbiah bei dem Unternehmen Honeywell Bull in den 1970er Jahren entworfene strukturierte Programmiersprache mit statischer Typenbindung Ada wurde nach ihr benannt. Von der Association of Women in Computing wird seit 1982 der nach ihr benannte Ada Lovelace Award verliehen. Das 1997 gegründete rheinland-pfälzische Ada-Lovelace-Projekt fördert Mädchen und junge Frauen im MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik). In Australien wurde die von Valerie Aurora und Mary Gardiner 2011 gegründete Ada Initiative nach Lovelace benannt, die sich für vermehrte weibliche Teilhabe im Open-Source-Umfeld einsetzt. Ende September 2017 wurde das blockchainbasierte Netzwerk Cardano gestartet, dessen erste Anwendung, eine Kryptowährung, zu Ehren Lady Lovelace Ada genannt wurde. Seit 2009 wird jährlich Mitte Oktober der Ada Lovelace Day ausgerufen, an dem Frauen und ihre Werke in Wissenschaft, Technik, Ingenieurwissenschaften und Mathematik gefeiert werden. Veranstaltungen im Zuge des Ada Lovelace Days waren unter anderem Wikipedia-Edit-a-thons mit dem Ziel, Frauen auf Wikipedia – sowohl in Artikeln als auch unter den Benutzern – sichtbarer zu machen und gegen den Gender Bias auf Wikipedia vorzugehen. In Hanau ist eine Straße nach ihr benannt. In der Seestadt Aspern im 22. Wiener Gemeindebezirk ist eine Straße nach ihr benannt. Ada und Lovelace sind Module im Heimautomationssystem Home Assistant. Ada ist dabei der Name des Sprach-Assistenten, und als Lovelace wird die grafische Benutzeroberfläche der Software bezeichnet. Der Entwickler für Grafikprozessoren Nvidia hat die Mikroarchitektur der GeForce-40-Serie nach Lovelace benannt. Mit dem Ada Lovelace Promotionsprogramm der Universität Münster werden pro Jahr bis zu drei Promotionsstellen finanziert, um herausragende Mathematikerinnen und Informatikerinnen für eine Promotion in Münster zu gewinnen. Ada Lovelace in Kunst und Popkultur In dem 2009 erschienenen Roman Die Frau, für die ich den Computer erfand von Friedrich Christian Delius dient Ada Lovelace in der Phantasie dem Computerpionier Konrad Zuse als Muse und heimliche Geliebte. In Sydney Paduas größtenteils kontrafaktischem Comic The Thrilling Adventures of Lovelace and Babbage: The (Mostly) True Story of the First Computer nehmen Charles Babbage und Ada Lovelace eine Analytical Engine in Betrieb. Der Film Leidenschaftliche Berechnung („Conceiving Ada“, USA 1997) von Lynn Hershman Leeson (Regie) basiert auf Lovelaces Leben. Themen sind künstliches Leben, DNA, Geschichte und Erinnerung. In Folge 5 der Serie Halt and Catch Fire (2014) steht Ada Lovelace Pate für den Namen eines neu entwickelten BIOS. Am 10. Dezember 2012, zum 197. Geburtstag, würdigte Google Ada Lovelace mit einem eigenen Google Doodle. Die Kinderbuchreihe „Adas & Marys unglaublich erfolgreiche Agentur für das Lösen unlösbarer Fälle“ basiert frei auf der Kindheit und Jugendzeit Adas. In dem Roman wird sie als Genie beschrieben und arbeitet mit Charles Baggage (der in dem Buch Mr Baggage genannt wird) an der Maschine „Blim“, die an ihre analytische Maschine anlehnt. Zusammen mit Mary Godwin (bekannt als die erste Science-Fiktion-Buch-Autorin) gründet sie eine Detektivagentur, die sie nach Mary’s berühmter Mutter (die ebenfalls wirklich gelebt hat) Wollstonecraft-Detektivagentur benennen. Frau Ada denkt Unerhörtes. Schauspiel von Martina Clavadetscher, Uraufführung Schauspiel Leipzig, 2019 In der Doppelfolge Spyfall der Serie Doctor Who (2020) trifft der 13. Doktor (Jodie Whittaker) eine junge Frau, die ihren Namen als Ada King angibt. Die beiden besuchen einen „Kollegen“ Adas, der sich als Charles Babbage entpuppt, wodurch der Doktor die junge Frau als Ada Lovelace erkennt. In der Folge The Haunting of Villa Diodati derselben Staffel erwähnt Lord Byron seine Tochter Ada, die er zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen hat. Das 2020 auf englisch erschienene Buch „I, Ada“ von Julia Gray erzählt aus der Sicht Adas ihre Lebensgeschichte vor ihrer Arbeit mit Babbage. Es ist auf historischen Aufzeichnungen basiert; Lücken in diesen werden jedoch durch Fiktion geschlossen. Im 2021 erschienenen Roman „Adas Raum“ von Sharon Dodua Otoo erscheint sie als Teil einer multidimensionalen Persönlichkeit, die sich in mehreren Schleifen durch Zeit und Raum bewegt. Ada Lovelace erscheint als eine von drei Frauenfiguren in Martina Clavadetschers Roman „Die Erfindung des Ungehorsams“ (2021). Ausstellungen 2015/2016: Am Anfang war Ada. Frauen in der Computergeschichte. Heinz Nixdorf MuseumsForum. Anlässlich des 200. Geburtstages von Ada Lovelace. „Die Ausstellung setzt die Entwicklung der Informationstechnik ins Verhältnis zu den weiblichen Rollenbildern des 19. und 20. Jahrhunderts.“ Siehe auch Medora Leigh Literatur Malcolm Elwin: Lord Byron’s Family. Annabella, Ada and Augusta 1816–1824. John Murray, London 1975. James Essinger: Ada’s algorithm. How Lord Byron’s daughter Ada Lovelace launched the digital Age. London 2013. Walter Isaacson: Innovators. (How a Group of Hackers, Geniuses and Geeks created the digital Revolution). Simon & Schuster, New York NY u. a. 2014, ISBN 978-1-4767-0869-0. Evelyne Keitel: Lyrik, Inzest und die Liebe zur Mathematik: Ein schwieriges Erbe für Lord Byrons Töchter. In: Luise F. Pusch (Hrsg.): Töchter berühmter Männer. Neun biographische Portraits. (= Insel TB 979) Insel, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-458-32679-0, S. 155–208, hier: S. 156–159, 165–180, 183, 190 und 195–197. Eugene Eric Kim, Betty Alexandra Toole: Ada and the first computer. In: Scientific American. Band 280, Nr. 5, Mai 1999, S. 76–81. Sybille Krämer (Hrsg.): Ada Lovelace. Die Pionierin der Computertechnik und ihre Nachfolgerinnen. Fink, Paderborn 2015, ISBN 978-3-7705-5986-2 (zur Ausstellung Am Anfang war Ada – Frauen in der Computergeschichte vom 2. September 2015 bis zum 10. Juli 2016 im Heinz Nixdorf MuseumsForum in Paderborn). Doris L. Moore: Ada Countess of Lovelace. Byron’s Legitimate Daughter. John Murray, London 1977, ISBN 0-7195-3384-8 (englisch). Sadie Plant: Nullen + Einsen. Digitale Frauen und die Kultur der neuen Technologien. Berlin-Verlag, Berlin 1998, ISBN 3-8270-0290-7. Dorothy K. Stein: Ada. A Life and a Legacy. MIT Press, Cambridge MA u. a. 1985, ISBN 0-262-19242-X (englisch). Ada. Die Braut der Wissenschaft. Kulturverlag Kadmos, Berlin 1999, ISBN 3-931659-13-5. Ada Augusta Lovelace. Eine Frau am Anfang der Moderne. Übersetzt aus dem Englischen von Björn Bossmann und Sabine Kreiner. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2004, ISBN 3-931659-64-X. Betty A. Toole: Ada, the Enchantress of Numbers. A Selection from the Letters of Lord Byron’s Daughter and Her Description of the First Computer. Strawberry Press, Mill Valley CA 1992, ISBN 0-912647-09-4 (Biographie). Catherine Turney: Byron’s Daughter. A Biography of Elizabeth Medora Leigh. Charles Scribner’s Sons, New York NY 1972, ISBN 0-684-12753-9. Benjamin Woolley: Byrons Tochter. Ada Lovelace – die Poetin der Mathematik. (= Aufbau-Taschenbücher. Band 2123). Aufbau-Taschenbuch-Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-7466-2123-2. Miranda Seymour: In Byron’s wake: the turbulent lives of Lord Byron’s wife and daughter: Annabella Milbanke and Ada Lovelace. Simon & Schuster, London 2018, ISBN 978-1-4711-3857-7. Anne Kunze: Ada und der Algorithmus. In: Die Zeit, Nr. 5/2014, abgerufen am 14. Februar 2019. Belletristik Anita Siegfried: Die Schatten ferner Jahre. Dörlemann, Zürich 2007, ISBN 978-3-908777-32-8. María Isabel Sánchez Vegara: Ada Lovelace. (= Serie „Little People, Big Dreams“) Insel, Berlin 2021, ISBN 978-3-458-17914-6. Sharon Dodua Otoo: Adas Raum. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021, ISBN 978-3-10-397315-0. Weblinks Mathias Schulenburg: Erfinder der ersten modernen Rechenmaschine. deutschlandfunk.de, Kalenderblatt, 26. Dezember 2016, Sketch of The Analytical Engine Invented by Charles Babbage von L. F. Menabrea of Turin, Officer of the Military Engineers Ada King, Countess of Lovelace 1815–1852 Biografie der Initiative ‚Frauen in der Geschichte der Informationstechnik‘ Ada Lovelace als Ikone der Informationstechnologie Initiative ‚Frauen in der Geschichte der Informationstechnik‘ Herrad Rhia, Imogen Stand: Bayern 2 radioWissen, 21. September 2012 (audio) Ralph Erdenberger: 27. November 1852 – Die Mathematikerin Ada Lovelace stirbt in London. In: WDR5, ZeitZeichen, 27. November 2022, (Podcast, 13:47 Min., verfügbar bis 27. November 2099). Einzelnachweise George Gordon Byron Charles Babbage Ada Mathematiker (19. Jahrhundert) Informatiker Erfinder Computerpionier Britischer Adliger Engländer Brite Geboren 1815 Gestorben 1852 Frau
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ascorbins%C3%A4ure
Ascorbinsäure
Ascorbinsäure ist ein farb- und geruchloser, kristalliner, gut wasserlöslicher Feststoff mit saurem Geschmack. Sie ist eine organische Säure, genauer eine vinyloge Carbonsäure; ihre Salze heißen Ascorbate. Ascorbinsäure gibt es in vier verschiedenen stereoisomeren Formen, biologische Aktivität weist jedoch nur die L-(+)-Ascorbinsäure auf. Eine wichtige Eigenschaft ist beim Menschen und einigen anderen Spezies die physiologische Wirkung als Vitamin. Ein Mangel kann sich bei Menschen als Skorbut manifestieren. Der Name ist daher abgeleitet von der lateinischen Bezeichnung der Krankheit, scorbutus, mit der verneinenden Vorsilbe a- (weg-, un-), also die ‚antiskorbutische‘ Säure. Da Ascorbinsäure leicht oxidierbar ist, wirkt sie als Redukton und wird als Antioxidans eingesetzt. Die L-(+)-Ascorbinsäure und ihre Ableitungen (Derivate) mit gleicher Wirkung werden unter der Bezeichnung Vitamin C zusammengefasst. Der Sammelbegriff Vitamin C umfasst daher auch Stoffe, die im Körper zu L-(+)-Ascorbinsäure umgesetzt werden können, wie zum Beispiel die Dehydroascorbinsäure (DHA). Geschichte Erforschung des Skorbut Skorbut war bereits im 2. Jahrtausend v. Chr. im Alten Ägypten als Krankheit bekannt. Auch der griechische Arzt Hippokrates und der römische Autor Plinius berichten darüber. Bis ins 18. Jahrhundert war Skorbut die häufigste Todesursache auf Seereisen. Im Jahre 1747 untersuchte der britische Schiffsarzt James Lind diese Krankheit. Er nahm zwölf Seeleute, die unter Skorbut litten, und teilte sie in sechs Gruppen zu je zwei Personen. Jeder Gruppe gab er zusätzlich zu den üblichen Nahrungsrationen einen weiteren speziellen Nahrungsmittelzusatz, darunter Obstwein, Schwefelsäure, Essig, Gewürze und Kräuter, Seewasser, sowie Orangen und Zitronen. Er stellte fest, dass die Gruppe, welche die Zitrusfrüchte erhielt, eine rasche Besserung zeigte. Im Jahr 1757 veröffentlichte Lind dieses Resultat. Doch erst 1795 ließ die britische Marine die Nahrungsrationen auf See mit Zitronensaft ergänzen. Zusätzlich wurden Sauerkraut und Malz zur Skorbutprävention eingesetzt. Lange Zeit wurde behauptet, dass Skorbut die Folge einer speziellen bakteriellen Erkrankung, Vergiftung, mangelnder Hygiene oder Überarbeitung sei. Der Engländer George Budd vermutete bereits 1842, dass in der Nahrung spezielle essentielle Faktoren enthalten sein müssen. Fehlen diese, würden erkennbare Mangelerscheinungen auftreten. Diese Entwicklungen gerieten wieder in Vergessenheit, als die Reisedauer durch das Aufkommen der Dampfschifffahrt stark verkürzt wurde und dadurch die Gefahr des Mangels sank. Außerdem führte die fehlende exakte Identifikation des Vitamins dazu, dass wirksamer frischer Orangensaft durch billigeren gekochten Limettensaft ersetzt wurde. Zuletzt machte Ende des 19. Jahrhunderts die sogenannte Ptomain-Theorie von sich reden, die eine Nahrungsmittelvergiftung für den Skorbut verantwortlich machte. So kam es, dass auf den großen Polarexpeditionen wieder der Skorbut Einzug hielt, der zwar mit frischen Lebensmitteln geheilt werden konnte, aber es hatte zunächst niemand ein korrektes Konzept für die Vorbeugung. Betroffen waren insbesondere die britische Arktisexpedition 1875–1876, die Jackson-Harmsworth-Expedition 1894–1897, Scotts Discovery-Expedition 1901–1904 und die Terra-Nova-Expedition 1910–1913. Im Jahr 1907 entdeckten zwei norwegische Ärzte zufällig ein Tiermodell zur Erforschung des Skorbuts: Axel Holst und Theodor Frølich studierten ursprünglich den „Schiffs-Beriberi“ der Schiffsbesatzungen der norwegischen Fischereiflotte, und zwar anhand von Tauben als Versuchstiere. Sie gaben später Meerschweinchen dasselbe Futter aus Getreide und Mehl, die jedoch unerwarteterweise mit Skorbutsymptomen reagierten. Somit beobachteten Holst und Frølich erstmals den Skorbut, der bis dahin nur bei Menschen beobachtet wurde, an Tieren. Sie zeigten ferner, dass durch bestimmte Futterzusätze die Krankheit bei den Meerschweinchen geheilt werden konnte. Damit leisteten sie einen wesentlichen Beitrag zur Entdeckung des Vitamins C ab dem Jahre 1928 durch den Ungarn Albert Szent-Györgyi und den Amerikaner Charles Glen King. Isolierung der Ascorbinsäure Im Jahr 1912 entdeckte der Biochemiker Casimir Funk nach Studien zu der Mangelerkrankung Beriberi, dass diese durch das Fehlen der chemischen Substanz Thiamin (Vitamin B1) verursacht wurde. Er prägte dafür das Kunstwort „Vitamin“, eine Zusammensetzung aus vita (Leben) und Amin (Aminogruppe). In Bezug auf Skorbut vermutete er fälschlicherweise einen ähnlichen Amino-Faktor und bezeichnete diesen als „Antiskorbut-Vitamin“ (heute: Vitamin C). Tatsächlich enthält Vitamin C keine chemische Aminogruppe, dennoch ist die Bezeichnung bis heute geblieben. Im Jahr 1921 gab der Biochemiker Sylvester Zilva einer Mischung von aus Zitronensaft isolierten Substanzen, die in der Lage war, Skorbut zu heilen, die Bezeichnung Vitamin C. Bereits 1927 gelang es dem ungarischen Wissenschaftler Albert von Szent-Györgyi Nagyrápolt, Vitamin C aus der Nebenniere, Orangensaft beziehungsweise Weißkohl zu isolieren. Die so isolierte Ascorbinsäure sandte er Zilva zu, der diese aber nach Analyse fälschlicherweise nicht als Vitamin C erkannte. Durch diesen Fehler verzögerte sich die Identifikation von Ascorbinsäure als Vitamin C um mehrere Jahre. In den 1920er Jahren verfehlten auch andere, wie zum Beispiel der Wissenschaftler Karl Paul Link oder Oberst Edward B. Vedder, den Nachweis dafür, dass Ascorbinsäure Skorbut heilen kann und sie das postulierte Vitamin C ist. Zwischen 1928 und 1934 gelang es Szent-Györgyi sowie Joseph L. Svirbely und unabhängig davon Charles Glen King mit seinen Mitarbeitern, durch Kristallisationsversuche die für die Heilung von Skorbut verantwortliche Substanz zu isolieren. Im Jahr 1931 isolierten King und Svirbely kristallines Vitamin C aus Zitronensaft und erkannten, dass diese Skorbut heilen kann und die physikalischen und chemischen Eigenschaften der damals noch kaum charakterisierten sogenannten Hexuronsäure, der heutigen Ascorbinsäure, teilte. Szent-Györgyi wollte diese Säure zunächst „Ignose“ nennen (von ignosco), da sie trotz vieler Wissenslücken mit Hexosen verwandt war. Dieser Name wurde aber nicht akzeptiert. Da die Anzahl der Kohlenstoffatome (sechs C-Atome) bekannt war und die Substanz sich wie eine Säure verhält, wurde der Name Hexuronsäure von Szent-Györgyi eingeführt. Svirbely wechselte bald als Mitarbeiter zu Szent-Györgyi. Sie bewiesen, dass die bisher isolierten Substanzen mit Skorbut heilenden Eigenschaften (Vitamin C) mit der Hexuronsäure übereinstimmten. Damit stellte Szent-Györgyi fest, dass diese das lang gesuchte Vitamin C ist. Die Struktur dieser damals noch Hexuronsäure genannten Verbindung wurde 1933 schließlich durch die Arbeiten von Walter Norman Haworth und dessen damaligen Assistenten Edmund Hirst aufgeklärt. Szent-Györgyi und Haworth änderten den Namen der Hexuronsäure schließlich in L-Ascorbinsäure, der bis heute akzeptiert wird. 1934 gelang Haworth und Tadeus Reichstein erstmals die Synthese künstlicher L-Ascorbinsäure aus Glucose. Haworth erhielt 1937 für seine Forschungen am Vitamin C den Nobelpreis für Chemie, Szent-Györgyi den für Medizin. Seit 1967 propagierte Linus Pauling die Verwendung hoher Dosen von Ascorbinsäure als Vorbeugung gegen Erkältungen und Krebs, wofür jedoch Evidenzen fehlen. Pauling selbst nahm zeitweise 18 g pro Tag ein und starb 1994 im Alter von 93 Jahren an Prostatakrebs. Die industrielle Herstellung von Vitamin C begann 1934 durch Roche in der Schweiz (Redoxon), der damalige Forschungsleiter Markus Guggenheim war jedoch über den tatsächlichen Bedarf und den Nutzen skeptisch. Die Nachfrage danach blieb anfangs gering. Durch geschicktes Marketing und Ausnutzung von Ängsten (angebliche Unterversorgung) konnte die Vermarktung aber angekurbelt werden. Die Zeit des Nationalsozialismus In der Zeit des Nationalsozialismus (1933–45) förderten die Machthaber in Deutschland die Versorgung der Bevölkerung mit den damals gerade erst entdeckten Vitaminen sehr aktiv. Sie wollten so den „Volkskörper von innen stärken“, weil sie davon überzeugt waren, dass Deutschland den Ersten Weltkrieg auch als Folge von Mangelernährung verloren hatte. In Vitamin-Aktionen wurden Kinder, Mütter, Schwerstarbeiter und Soldaten mit Vitaminen versorgt, insbesondere mit Vitamin C. Nationalsozialistische Massenorganisationen wie die Deutsche Arbeitsfront und die Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung organisierten die Produktion und Verteilung von Vitamin-C-Präparaten. Hausfrauen wurden dazu aufgerufen, Hagebutten und Sanddorn zu sammeln, aus denen Brotaufstriche und andere Vitaminpräparate für die Wehrmacht hergestellt wurden. Noch 1944 bestellte die Wehrmacht 200 Tonnen Vitamin C, unter anderem bei Roche. Vorkommen In der Nahrung kommt Vitamin C vor allem in Obst und Gemüse vor. Zitrusfrüchte wie Orangen, Zitronen und Grapefruits enthalten – in reifem Zustand unmittelbar nach der Ernte – viel Vitamin C. Grünkohl hat den höchsten Vitamin-C-Gehalt aller Kohlarten (105–120 mg/100 g verzehrbare Substanz). Rotkraut, Weißkraut und Sauerkraut sind ebenfalls Vitamin-C-Lieferanten. Sauerkraut war lange Zeit in der Seefahrt von Bedeutung, wo ein haltbares Vitamin-C-reiches Nahrungsmittel benötigt wurde. Die höchsten natürlichen Vitamin-C-Konzentrationen wurden in der Buschpflaume und im Camu-Camu gefunden. In Sauerkraut und Kohlgemüse ist Ascorbinsäure in Form von Ascorbigen A und B (C-2-Scatyl-L-ascorbinsäure) gebunden. Wird das Gemüse gekocht, zerfallen die Moleküle in L-Ascorbinsäure und 3-Hydroxyindol, sodass es in gekochtem Zustand mehr Vitamin C enthalten kann als im rohen Zustand. Durch zu langes Kochen gelangt das Vitamin verstärkt in das Kochwasser. Viele Gemüsearten enthalten Ascorbinsäure-Oxidase, die insbesondere durch Zerkleinern mit dem Vitamin in Berührung kommt und dieses oxidiert. Das führt zum Beispiel bei Rohkost, die nicht sofort verzehrt wird, zu erheblichen Vitamin-C-Verlusten. Die folgenden Angaben dienen nur der Orientierung, die tatsächlichen Werte hängen stark von der Sorte der Pflanze, der Bodenbeschaffenheit, dem Klima während des Wachstums, der Lagerdauer nach der Ernte, den Lagerbedingungen und der Zubereitung ab. Das Weizenkorn enthält zum Beispiel kein Vitamin C, sondern dies entsteht erst bei der Keimung. Vitamin-C-Gehalt in Obst- und Gemüsesorten je 100 g (nach absteigendem Vitamin-C-Gehalt geordnet): Vitamin-C-Gehalt in tierischen Produkten je 100 g (nach absteigendem Vitamin-C-Gehalt geordnet): Kalbsleber 40 mg Rinderleber 33 mg Milch 1 mg Herstellung Die Jahresproduktion an Ascorbinsäure lag 2006 weltweit bei etwa 80.000 Tonnen und hat sich damit seit 1999 mehr als verdoppelt. Marktführer war lange Zeit die Schweizer Hoffmann-La Roche (30 % Weltumsatz), gefolgt vom BASF-NEPG-Kartell (auch etwa 30 %) und der Firma Merck. Im Jahr 2002 hat Hoffmann-La Roche seine Vitaminsparte für 3,4 Milliarden Schweizer Franken, etwa 2,1 Milliarden Euro, an die niederländische Koninklijke DSM verkauft. Der größte Produzent von Ascorbinsäure ist heute die Volksrepublik China, wo sie ausschließlich biotechnologisch produziert wird. Synthese Ascorbinsäure kann aus C5-Zuckern wie L-Xyloson, L-Lyxose, L-Xylose und L-Arabinose synthetisiert werden. Für die großtechnische Synthese dagegen wird in der chemischen Industrie aus der Ausgangssubstanz D-Glucose – einer Hexose – über die Stufe des Sorbitols kristalline Ascorbinsäure, Natriumascorbat (E 301), Calciumascorbat (E 302) und Ascorbylmonophosphat hergestellt. Die 1934 entdeckte Reichstein-Synthese bildet die Grundlage der industriellen, chemisch-mikrobiologischen Produktion. Biologisch-technisches Verfahren Zur Unterscheidung von diesem synthetisch hergestellten Produkt wird ein mit Hilfe gentechnisch veränderter Mikroorganismen hergestelltes Vitamin C international mit GMO-Vitamin C (GMO, : „gentechnisch veränderter Organismus“) bezeichnet. GMO-Ascorbinsäure ist preiswerter; nach diesem Verfahren wird weltweit der größere Teil hergestellt. Im Sonoyama-Verfahren wird Ascorbinsäure aus D-Glucose hergestellt. Dabei wird dieses zunächst durch Pantoea agglomerans zu 2,5-Dioxo-D-Gluconsäure oxidiert. Ein zweiter Stamm, Aureobacterium sp., reduziert das Produkt zu 2-Oxo-L-Gulonsäure, das dann wie bei der Reichstein-Synthese zu L-Ascorbinsäure umgesetzt wird. Es wird versucht, P. agglomerans-Stämme gentechnisch so zu verändern, dass diese aus Glucose in einem einstufigen mikrobiellen Verfahren 2-Oxo-L-Gulonsäure herstellen. Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Ascorbinsäure bildet unter Normalbedingungen farblose Kristalle, die gegen Licht, Wärme und Luft beständig sind. Der Schmelzpunkt liegt bei 190–192 °C. Das Schmelzen erfolgt unter Zersetzung. In fester Phase bildet Ascorbinsäure zwei intramolekulare Wasserstoffbrückenbindungen, die maßgeblich zur Stabilität und damit zu den chemischen Eigenschaften der Endiol-Struktur beitragen. Ascorbinsäure kristallisiert im monoklinen Kristallsystem mit den Gitterparametern a = 1730 pm, b = 635 pm, c = 641 pm, β = 102°11´. Die vier Moleküle der Einheitszelle sind paarweise durch Pseudoschraubenachsen verbunden. Die Moleküle bestehen aus einem Fünfring und der Seitenkette, wobei die Endiolgruppe planar ist. Infolge der guten Wasserlöslichkeit des Vitamins können die Verluste je nach Art und Dauer der Zubereitung in Lebensmitteln bis zu 100 % betragen. Molekulare Eigenschaften Ascorbinsäure enthält mehrere Strukturelemente, die zu ihrem chemischen Verhalten beitragen: eine Lactonstruktur, zwei enolische Hydroxygruppen sowie eine sekundäre und eine primäre Alkoholgruppe. Der Lactonring ist nahezu planar. Ascorbinsäure hat zwei asymmetrische Kohlenstoffatome (C4 und C5) und existiert damit in vier verschiedenen stereoisomeren Formen, die optische Aktivität aufweisen. Die Moleküle L- und D-Ascorbinsäure verhalten sich wie Bild und Spiegelbild zueinander, sie sind Enantiomere, ebenso die L- und die D-Isoascorbinsäure. L-Ascorbinsäure und D-Isoascorbinsäure sowie D-Ascorbinsäure und L-Isoascorbinsäure sind Epimere, sie unterscheiden sich in der Konfiguration nur eines Kohlenstoffatoms. Trotz dieser geringen Unterschiede sind die Stereoisomere der L-Ascorbinsäure im Körper fast alle inaktiv, da die am Stoffwechsel beteiligten Enzyme spezifisch L-Ascorbinsäure erkennen. Lediglich die D-Isoascorbinsäure (E 315) weist eine geringe Wirkung auf. Chemische Eigenschaften Obwohl Ascorbinsäure keine der „klassischen“ sauren funktionellen Carbonsäure-, Sulfonsäure- oder Phosphonsäuregruppen aufweist, ist sie beträchtlich sauer. Mit einem pKs-Wert von 4,25 ist sie saurer als Essigsäure mit pKs = 4,8. Sie liegt damit unter physiologischen Bedingungen als Ascorbat-Anion AscH− vor. Dies ist zum einen auf die Endiol-Struktur zurückzuführen. Enole sind bereits deutlich saurer als Alkohole. Zusätzlich wird die Acidität bei Ascorbinsäure durch die zweite enolische Hydroxygruppe und durch die benachbarte Carbonylgruppe noch verstärkt. Zum anderen wird das nach Abspaltung des Protons entstehende Enolat-Anion mittels Keto-Enol-Tautomerie stabilisiert. Die dann am Sauerstoff bestehende negative Ladung wird dabei sowohl über die Doppelbindung zwischen den beiden Kohlenstoffatomen als auch über die Carbonylfunktion delokalisiert, also verteilt und somit stabilisiert. Strukturell könnte diese Gruppierung als vinyloge Carbonsäure aufgefasst werden, das heißt als eine Carbonsäure-Funktion mit „eingeschobener“ Kohlenstoff-Kohlenstoff-Doppelbindung zwischen Carbonylgruppe und Hydroxygruppe. Die Endiol-Struktur bedingt die reduzierenden (antioxidativen) Eigenschaften der Ascorbinsäure, da Endiole leicht zu Diketonen oxidiert werden können. Endiole mit benachbarter Carbonylgruppe heißen daher auch Reduktone. Die andere enolische Hydroxygruppe hat nur schwach saure Eigenschaften (pKs = 11,79), da hier das Anion weniger mesomere Grenzstrukturen zur Stabilisierung ausbilden kann. Nach Abgabe beider Protonen entsteht aus Ascorbinsäure ein Dianion (Asc2−). Die intermediäre Form, die durch Abgabe eines Elektrons und eines Protons entsteht (AscH.), ist eine sehr starke Säure (pKs = −0,45). Sie hat wegen ihrer Kurzlebigkeit im Metabolismus keine Bedeutung. Das Säurerest-Ion der Ascorbinsäure nennt sich Ascorbat. Es entsteht durch Übertragung eines Wasserstoffions (H+, Proton) auf ein protonierbares Lösungsmittel, etwa Wasser. Deswegen lautet seine Summenformel C6H7O6−. Die Reaktion ist eine Gleichgewichtsreaktion: Ascorbinsäure reagiert mit Wasser zu Ascorbat und einem Oxonium-Ion. Ascorbinsäure ist in wässrigen Lösungen ein starkes Reduktionsmittel. Hierbei kann es über Zwischenstufen zu Dehydroascorbinsäure (DHA) oxidiert werden. Dieser Prozess ist reversibel, so können beispielsweise Cystein, Dithiothreitol oder andere Thiole DHA zurück zu Ascorbinsäure reduzieren. In der Reduktions- und Oxidationswirkung liegt eine wichtige Eigenschaft von Vitamin C in biologischen Systemen. In kristalliner Form ist Ascorbinsäure relativ stabil gegenüber Oxidation durch Luftsauerstoff. In wässriger Lösung geschieht die Oxidation wesentlich rascher, wobei eine Temperaturerhöhung, eine Erhöhung des pH-Wertes sowie die Anwesenheit von Schwermetallionen diese beschleunigen. Säuren wie Citronensäure, Oxalsäure oder Metaphosphorsäure sowie Komplexbildner wie 8-Hydroxychinolin wirken stabilisierend. Bei der Zubereitung von Nahrungsmitteln durch Kochen werden durchschnittlich 30 % der enthaltenen Ascorbinsäure oxidiert. Dehydroascorbinsäure L-Dehydroascorbinsäure (englisch dehydro ascorbic acid, DHA) entsteht durch Oxidation von Ascorbinsäure. Im menschlichen Metabolismus kann sie zu L-Ascorbinsäure reduziert werden und damit Vitamin C regenerieren. Dehydroascorbinsäure liegt in wässrigen Lösungen nahezu vollständig als Monohydrat (mono-DHA·H2O) vor. Dabei bildet es einen Bizyklus, was durch Kernspinresonanzspektroskopie nachgewiesen wurde. Möglicherweise kann es noch ein zweites Molekül Wasser aufnehmen, um dann ein Dihydrat auszubilden. Auch Semi-Dehydroascorbinsäure sowie oxidierte Formen veresterter Ascorbinsäuren werden zur Gruppe der Dehydroascorbinsäure gezählt. Generell wird Vitamin C in Form von DHA durch Glucosetransporter, hauptsächlich GLUT-1, in die Mitochondrien der Zellen transportiert, da nur sehr wenige Zellen über spezifische Vitamin-C-Transporter verfügen. Hierbei sind die meisten dieser Transporter Natriumionen-abhängig. Insbesondere das Gehirn ist auf eine Versorgung mit Ascorbinsäure angewiesen, das Vitamin kann jedoch nicht die Blut-Hirn-Schranke passieren. Dieses Problem wird dadurch umgangen, dass Dehydroascorbinsäure durch Glucosetransporter, zum Beispiel GLUT1, durch die Schranke transportiert und in den Gehirnzellen zu Ascorbinsäure reduziert wird. Es wird davon ausgegangen, dass Ascorbinsäure in Form von DHA intrazellulär transportiert wird. Hierbei soll extrazelluläre Ascorbinsäure zu DHA oxidiert, in die Zelle aufgenommen und dann wieder reduziert werden, da Ascorbinsäure selbst die Zelle nicht verlassen kann. DHA ist instabiler als L-Ascorbinsäure. Je nach Reaktionsbedingungen (pH-Wert, An- beziehungsweise Abwesenheit von Reduktionsmitteln wie Glutathion) kann es entweder wieder zurück in Ascorbinsäure umgewandelt werden oder zu Diketogulonsäure (DKG) irreversibel hydrolysieren. Verwendung Ascorbinsäure findet hauptsächlich als Antioxidans Verwendung. Sie wird vielen Lebensmittelprodukten als Konservierungsmittel oder Umrötungshilfsmittel, zum Beispiel bei der Herstellung von Brühwürsten zugesetzt, was in der Zutatenliste des Lebensmittels mit E 300 zu kennzeichnen ist. E-Nummern von Ascorbinsäurederivaten sind E 301 (Natriumascorbat), E 302 (Calciumascorbat), E 304a (Ascorbylpalmitat) und E 304b (Ascorbylstearat). Naturtrüber Apfelsaft kann bei der Herstellung mit Ascorbinsäure versetzt werden und wird dadurch deutlich heller, weil es im natürlichen Saft vorhandene Chinone reduziert, die bei der Pressung durch Oxidation von Phenolen mit Luftsauerstoff und dem Enzym Polyphenoloxidase entstehen und eine braune Farbe bewirken. Ascorbylpalmitat wird zur Verhinderung der Autooxidation von Fetten eingesetzt und verhindert so, dass diese ranzig werden. Der Ascorbinsäurezusatz zu Mehlen als Mehlbehandlungsmittel soll das Gashaltevermögen und das Volumen der Teige vergrößern. Dies lässt sich durch die Ausbildung zusätzlicher Disulfidbrücken zwischen den Kleber-Strängen des Teiges erklären. Auch im Pharma-Bereich dient Ascorbinsäure als Antioxidans zur Stabilisierung von Pharmaprodukten. In der Küche wird Ascorbinsäure (in Rezepten meist als „Vitamin-C-Pulver“ bezeichnet) eingesetzt, damit geschnittenes Obst (meist Äpfel und Bananen) länger frisch bleibt und nicht braun wird. Wegen ihrer reduzierenden Eigenschaft wird Ascorbinsäure vereinzelt als Entwicklungssubstanz in photographischen Entwicklern eingesetzt. Zum Auflösen von Heroinbase vor der Injektion wird oft Ascorbinsäure mit dem Heroin aufgekocht. Physiologische Bedeutung Vitamin C ist ein Radikalfänger und hat eine antioxidative Wirkung (es wirkt also als Reduktionsmittel). Weiterhin stellt Vitamin C ein wichtiges Coenzym für die Prolyl-4-Hydroxylase dar. Dieses Enzym wird bei der Biosynthese des Proteins (Eiweißes) Kollagen benötigt. Es wandelt integrierte Prolinreste in 4-Hydroxyprolyl-Seitenketten unter Verbrauch von molekularem Sauerstoff um. Hydroxyprolin ist für den stabilen Kollagenaufbau unerlässlich. Ebenfalls innerhalb der Biosynthese von Kollagen, aber auch weiterer Proteine, findet mithilfe von Ascorbinsäure und des Enzyms Lysylhydroxylase die Hydroxylierung von L-Lysin zum Hydroxylysin statt. Im Kollagen erfüllt dieses eine Funktion in der kovalenten Quervernetzung benachbarter Moleküle. Darüber hinaus kann Hydroxylysin im Kollagen und weiteren Proteinen glykosyliert werden, was zur Bildung von Glykoproteinen führt. Mangel an Vitamin C führt zu einer verminderten Aktivität der Prolyl-Hydroxylierung und der Lysyl-Hydroxylierung und damit zur Instabilität von Kollagen. Da Kollagen in praktisch allen Organen und Geweben des menschlichen und tierischen Organismus vorkommt, vor allem im Bindegewebe, wird bei Mangel von Vitamin C Skorbut ausgelöst. Bei der Hydroxylierung von Steroiden ist Vitamin C ein wichtiger Cofaktor. Darüber hinaus spielt es eine wichtige Rolle beim Aufbau von Aminosäuren wie beispielsweise dem L-Tyrosin. Auch bei der Umwandlung von Dopamin zu Noradrenalin, im Cholesterin-Stoffwechsel (Ascorbinsäure spielt eine Rolle bei der Umwandlung von Cholesterol zu Gallensäure und senkt dadurch den Blut-Cholesterol-Gehalt), der Serotoninsynthese und bei der Carnitinbiosynthese wird Ascorbinsäure benötigt. Mit Niacin und Vitamin B6 steuert Vitamin C die Produktion von L-Carnitin, das für die Fettverbrennung in der Muskulatur benötigt wird. Weiterhin begünstigt es die Eisenresorption im Dünndarm. Aufgrund der hohen Konzentration von Vitamin C im männlichen Sperma wird der Einfluss auf die Zeugungsfähigkeit derzeit untersucht. Vitamin-C-Gaben bei manchen unfruchtbaren Männern konnten vereinzelt die Spermienqualität erhöhen. Die Stimulation der körpereigenen Abwehr, die dem Vitamin C oft zugeschrieben wird, wird unter anderem durch einen Schutz der Phagozytenmembran vor oxidativer Selbstzerstörung erklärt. Diese oxidative Selbstzerstörung kann sonst durch das bei der Phagozytose ausgelöste Halogenid-Peroxidase-System ausgelöst werden. Zudem wurde in Tierversuchen eine erhöhte Interferonproduktion sowie eine Aktivierung des Komplementsystems nach Gabe von Vitamin C beobachtet werden. Generell wurde bei Leukozyten im Blut, die einen wichtigen Stellenwert in der Immunabwehr einnehmen, ein hoher Ascorbinsäuregehalt festgestellt. Weiterhin scheint Vitamin C Einfluss auf zahlreiche weitere neutrophile Funktionen zu haben, wie die Chemotaxis, Aufnahme von Partikeln durch Phagozyten, Lysozym-beeinflusste nicht-oxidative Immunreaktion und die Stimulation des Hexose-Monophosphat-Shunts. Der Stellenwert von Vitamin-C-Gaben zur Bekämpfung und Vorbeugung von Krankheiten wie der Erkältung ist wissenschaftlich allerdings umstritten, wobei größere Reviews einen generellen Trend sehen, dass während Vitamin C zwar keinen messbaren prophylaktischen Effekt bei saisonaler Erkältung hat, allerdings ein moderater positiver Effekt auf den Krankheitsverlauf beobachtet wurde. Dieser konnte in therapeutischen Studien allerdings nicht reproduziert werden. Rezente Meta-Analysen zeigen, dass Nahrungsergänzungsmittel mit Vitamin C bei Erkältungen weder prophylaktisch helfen noch die Genesung beschleunigen können. Bei Meta-Reviews vorhandener Studien wurden keine klinisch relevanten Effekte einer Vitamin-C-Supplementation bei Krebs beobachtet. Auch bei schwer erkrankten Patienten auf der Intensivstation gibt es keine Evidenzen für einen Nutzen einer Vitamin-C-Gabe. L-Ascorbinsäure wirkt am Nicotinrezeptor des Typs α9α10 als positiver allosterischer Modulator. Hierdurch könnte es sich zur Akutbehandlung eines Schalltraumas empfehlen. Die wirksame Konzentration liegt bei 1–30 mM. Bedarf Der Bedarf an Vitamin C wird zum Teil sehr kontrovers gesehen. Die Zufuhrempfehlung für einen gesunden Erwachsenen (ab 19 Jahren) beträgt laut Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung 95 mg/Tag für Frauen beziehungsweise 110 mg/Tag für Männer. Die Meinungen hierüber gehen jedoch weit auseinander; die Empfehlungen anderer Gruppierungen liegen zwischen einem Bruchteil (zum Beispiel der Hälfte) und einem Vielfachen (zum Beispiel „so viel wie möglich“) dieses Wertes. Fest steht, dass Mengen bis zu 5000 mg kurzzeitig als unbedenklich gelten. Überschüssige Mengen werden vom Körper über den Urin ausgeschieden, da Vitamin C gut wasserlöslich ist (siehe auch Hypervitaminosen). Bei einer ausgewogenen Mischkost kann in Deutschland davon ausgegangen werden, dass dem Körper alle lebensnotwendigen Vitamine, und daher auch Vitamin C, in ausreichendem Maße zugeführt werden. Die Versorgung mit Vitamin C ist in Deutschland knapp über der DGE-Empfehlung von 95 mg/Tag beziehungsweise 110 mg/Tag. Daher sind Vitaminpräparate für einen gesunden Menschen, der sich abwechslungsreich und vollwertig ernährt, überflüssig. Die Empfehlung für Schwangere und Stillende liegt bei 105 beziehungsweise 125 mg täglich. Für Raucher liegt die Empfehlung bei 135 mg/Tag für Frauen beziehungsweise 155 mg/Tag für Männer. Ursache für eine unzureichende Zufuhr ist meistens eine einseitige Ernährung. Dies betrifft vor allem Menschen, die nicht täglich frisches Obst und Gemüse verzehren. Untersuchungen mit 14C-markiertem Vitamin C zeigen, dass der tägliche Ascorbatumsatz unabhängig von der Vitamin-C-Zufuhr nur etwa 20 mg beträgt. Somit genügen bereits knapp 20 mg täglich, um Skorbut zu vermeiden. Die Fachinformation des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gibt für Vitamin C einen täglichen Gesamtumsatz von etwa 1 mg/kg Körpergewicht an. Für Vergleichszwecke interessant ist, dass für Meerschweinchen eine Tagesdosis von 10 bis 30 mg empfohlen wird (bei einem Gewicht von etwa 0,8 bis 1,5 kg), wobei sie diese ebenso wie der Mensch nicht selbst produzieren können. Im Gegensatz dazu produzieren viele Tiere selbst Vitamin C. Große Hunde oder kleine Kälber, die etwa das Körpergewicht eines Menschen haben, stellen 1 bis 2 g täglich her, bei Krankheit bis zu 10 g. Studien zur Pharmakokinetik von Vitamin C zeigen, dass eine volle Sättigung der Körperreserven mit Vitamin C (3000 mg) eine tägliche Zufuhr von 200 mg erfordert. Immunzellen wie Lymphozyten, Neutrophile und Monozyten werden bereits bei einer täglichen Aufnahme von 100 mg Vitamin C gesättigt. Die vollständige Plasmasättigung wird bei Zufuhr von 1000 mg Vitamin C pro Tag erreicht. Die Bioverfügbarkeit nimmt bei oraler Einnahme mit steigender Einzeldosis stark ab. 200 mg werden noch nahezu vollständig aufgenommen. Aus diesem Grund ist es sinnvoller, mehrere Einzeldosen mit je 200 mg über den Tag verteilt zu sich zu nehmen, als einmalig 1000 mg. Die Vitamin-C-Versorgung des Organismus spiegelt sich im Blutspiegel wider. Laut DGE sind geringere Konzentrationen als 20 µmol/l (0,35 mg/dl) mit vorklinischen Symptomen wie beispielsweise allgemeiner Müdigkeit, Leistungsschwäche, Infektanfälligkeit und schlechter Wundheilung verbunden. Offensichtliche klinische Mangelsymptome, die unter dem Begriff Skorbut zusammengefasst werden, treten erst bei Vitamin-C-Plasmaspiegeln unterhalb von 10 µmol/l (0,18 mg/dl) auf. Heute ist allgemein anerkannt, dass subklinische Vitamin-C-Defizite die Langzeitgesundheit negativ beeinflussen. Ein deutsches Konsensuspapier empfiehlt deshalb präventive Vitamin-C-Plasmaspiegel von mindestens 50 µmol/l (0,88 mg/dl) zur Verringerung des Arteriosklerose- und Krebsrisikos (DGE 2000). Die von der DGE empfohlene Vitamin-C-Tagesdosis von 95 mg beziehungsweise 110 mg bezieht sich ausschließlich auf Gesunde. Vitamin C ist eines der wichtigsten körpereigenen Antioxidantien. Ein Mehrbedarf bei Erkrankungen, die mit der Generierung von reaktiven Sauerstoffverbindungen (ROS) einhergehen, ist unbestritten. Er ist beim gegenwärtigen Stand der Erkenntnis nur noch nicht genau bezifferbar. Chronisch-entzündliche Erkrankungen wie beispielsweise Arthritis, Allergien, Arteriosklerose, Krebs oder rezidivierende Infektionen sind nachweislich mit einem subklinischen bis klinischen Vitamin-C-Mangel (unter 30 µmol/l oder 0,53 mg/dl) und oxidativem Stress verbunden. Eine ständig zunehmende Anzahl epidemiologischer Studien zeigt den prophylaktischen Wert einer adäquaten diätetischen Vitamin-C-Aufnahme. Hier sind vor allem die Ergebnisse der EPIC-Studie zu nennen, die 2001 in der Zeitschrift „The Lancet“ publiziert wurden. Die Daten von fast 20.000 Männern und Frauen zeigten, dass eine Steigerung der Blutascorbatwerte um 20 µmol/l (0,35 mg/dl) eine 20%ige Reduktion der Mortalität mit sich brachte. Mangelerscheinungen Szent-Györgyi identifizierte 1933 das Vitamin C als wirksame Substanz gegen Skorbut. Nur wenige Wirbeltiere, darunter Trockennasenprimaten (unter anderem der Mensch), Meerschweinchen und Echte Knochenfische sowie einige Familien in den Ordnungen der Fledertiere und Sperlingsvögel, sind nicht zur Biosynthese von Ascorbinsäure aus Glucuronsäure befähigt. Ihnen fehlt das Enzym L-Gulonolactonoxidase. Für diese Lebewesen ist Ascorbinsäure ein Vitamin, also essenziell. Für alle anderen Wirbeltiere ist Ascorbinsäure nur ein Metabolit. Lebewesen, die nicht in der Lage sind, Ascorbinsäure selbst zu synthetisieren, müssen diese in ausreichender Menge über die Nahrung aufnehmen, um nicht an Skorbut zu erkranken. In frisch gelegten Hühnereiern fehlt zwar die Ascorbinsäure, sie wird jedoch ab Brutbeginn hauptsächlich von der Membran des Dottersacks synthetisiert. Das Umschalten des GLUT-1-Transporters auf Dehydroascorbat-Transport in Erythrozyten erfolgt mittels des Membranproteins Stomatin und dieser Prozess kommt nur in denjenigen Säugetieren vor, die nicht selbst Ascorbinsäure bilden können. Studien, die den tatsächlichen Vitamin-C-Gehalt im Blut des Menschen bestimmen, beobachten häufiger als bislang angenommen eine Unterversorgung: Die NHANES-III-Untersuchung von 1988 bis 1994 stellte fest, dass 10 bis 14 % der untersuchten Amerikaner an einer ernsten Unterversorgung (unter 11 µmol/l) und 17–20 % an einer subklinischen (11–28 µmol/l) Unterversorgung leiden – insgesamt also mehr als ein Viertel der Bevölkerung. Die aktuelle NHANES-Erhebung für den Zeitraum 2003–2004 beobachtet eine erfreuliche Entwicklung: Eine ernste Unterversorgung betrifft nur noch 7,1 % der Bevölkerung. Einschneidend sind immer noch die Einkommensverhältnisse. Menschen mit niedrigem Einkommen leiden im Vergleich zu Gutverdienern doppelt so häufig an einer Unterversorgung (10–17 % versus 5–8 %). Zwei wesentliche Gründe für die insgesamt verbesserte Vitamin-C-Versorgung sind der Rückgang der Anzahl der Passivraucher, durch ein Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen und die zunehmende Einnahme von Vitaminpräparaten. Am subklinischen Mangel (unter 28 µmol/l) änderte sich kaum etwas – er trifft immer noch etwa 20 % der Amerikaner. Der sozioökonomische Einfluss auf eine gesundheitsbewusste Ernährung wird in einer schottischen Untersuchung deutlich: 44 % der Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status wiesen Vitamin-C-Blutspiegel unter 23 µmol/l und 20 % unter 11 µmol/l auf. Aber Nichtrauchen und gute Schulbildung schützen nicht automatisch vor einer Unterversorgung. Eine kanadische Studie bestimmte in der Zeit von 2004 bis 2008 die Vitamin-C-Blutspiegel von knapp 1000 Nichtrauchern im Alter von 20 bis 29 Jahren an einer Campus-Universität. Jeder Dritte zeigte einen subklinischen Vitamin-C-Mangel (unter 28 µmol/l) und jeder Siebte defizitäre Werte unterhalb der Skorbutgrenze (unter 11 µmol/l). Dabei korrelierte der Mangel mit Übergewicht, Bluthochdruck und Entzündungsparametern. Überdosierung Für Vitamin C ist die Hypervitaminose, wie sie beispielsweise bei Vitamin A vorkommen kann, sehr selten, da der Körper einen Überschuss an Ascorbinsäure wieder über die Nieren ausscheidet. Wegen mangelnder Daten gibt das BfR keine UL aus, definiert aber einen „Orientierungswert“ von 1000 mg Vitamin C pro Tag. In einer vom National Institutes of Health (NIH) durchgeführten Studie wurden sieben Freiwillige zunächst mit einer ascorbinsäurearmen Diät ernährt und so ihre körpereigenen Vorräte an Vitamin C aufgebraucht. Als diese danach wieder mit Vitamin C versorgt wurden, begann die renale (über die Niere) Ausscheidung an unverändertem Vitamin C ab etwa 100 mg/d. Die Zufuhr über 400 mg/d wurde – soweit überhaupt im Darm aufgenommen (die Einnahme von Megadosen senkt die Resorptionsquote deutlich) – praktisch vollständig renal ausgeschieden. Ab etwa 1 g pro Tag steigen die Oxalat- und die Harnsäure-Konzentrationen im Urin. Da ein Teil der Ascorbinsäure im Stoffwechsel zu Oxalsäure umgesetzt wird, besteht bei entsprechend disponierten Menschen prinzipiell ein erhöhtes Risiko für Calciumoxalat-Nierensteine (CaC2O4). Schon bei normaler Zufuhr stammen etwa 30 bis 50 % des Plasmaoxalats aus dem Vitamin-C-Abbau. Der Oxalatspiegel im Urin steigt selbst erst an, wenn eine Tagesdosis von etwa 6 g überschritten wird. Hohe orale Einzeldosen können einen vorwiegend osmotisch bedingten Durchfall auslösen. Die Dosis variiert von Person zu Person, wird mit etwa 5–15 g (1–3 gehäufte Teelöffel) für eine gesunde Person angegeben. Diese Toleranzgrenze kann bei Individuen, die an schweren Erkrankungen leiden, bis auf über 200 g ansteigen. Bei Menschen mit Glucose-6-Phosphatdehydrogenase-Mangel (G6PD-Mangel, Favismus), einer insbesondere in Afrika sehr weit verbreiteten, erblichen Krankheit, können intravenöse Vitamin-C-Dosen, etwa 30 bis 100 g pro Infusion, zur Hämolyse führen. Häufig wird Vitamin C, besonders wenn auf nüchternen Magen konsumiert, mit Verdauungsstörungen durch Übersäuerung des Magens in Verbindung gebracht. Dies kann unter anderem vermieden werden, indem Vitamin C nicht als Ascorbinsäure, sondern als Ascorbat (Salz der Ascorbinsäure, zum Beispiel Natriumascorbat) aufgenommen wird. Dies kann zum Beispiel durch die Zugabe von Backpulver (NaHCO3) erreicht werden. Studien haben gezeigt, dass die Resorption von Vitamin C erhöht wird, wenn es zu Fruchtsäften wie zum Beispiel Orangensaft gemischt wird. Bei der Ratte liegt der LD50-Wert (die Dosis, bei der die Hälfte der Versuchstiere sterben) für Vitamin C bei 11,9 g pro Kilogramm Körpergewicht. Das entspricht bei einem 70 kg schweren Menschen einer Dosis von 833 g. Therapeutisch und prophylaktisch eingesetzt wird die Überdosierung von Vitamin C zum Beispiel bei Harnwegsinfektionen. Durch die renale Ausscheidung der Ascorbinsäure wird der Urin sauer. In diesem sauren Milieu können die Erreger deutlich schlechter gedeihen. Eine regelmäßig hohe Einnahme von Ascorbinsäure kann jedoch die Bildung von Nierensteinen begünstigen, zumindest ist das Risiko bei den untersuchten Männern doppelt so hoch. Stoffwechsel im Detail Ascorbinsäure kann von Menschen, Affen und einigen anderen Tierarten nur mit der Nahrung aufgenommen werden. Im Stoffwechsel der meisten anderen Lebewesen kann sie hingegen auch bedarfsabhängig synthetisiert werden. Aufnahme mit der Nahrung Der Transportweg von Vitamin C erfolgt über Enterozytzellen des Darmes. Wie es von dort in den Blutstrom gelangt, ist noch nicht vollständig geklärt. Jedoch ist der Transport von Ascorbat beziehungsweise Dehydroascorbat (DHA) vom Blut in alle anderen Zellen genauer bekannt. Die Aufnahme von Dehydroascorbat (DHA, vergleiche Abschnitt oben) in das Zellinnere (Zytosol) menschlicher Zellen findet mittels dreier Glucosetransporter statt, GLUT-1, GLUT-3 und GLUT-4. DHA konkurriert dabei mit Glucose, sodass ein Übermaß an Glucose effektiv die Aufnahme von DHA verhindern kann. Das Ascorbat wird zusammen mit je zwei Natriumionen mittels der Transportproteine SVCT1 und SVCT2 ins Zellinnere geschleust. Biosynthese Ascorbinsäure wird von Bakterien, Pflanzen und Wirbeltieren mithilfe verschiedener Enzyme produziert. Ausgangssubstanzen sind hauptsächlich D-Glucose beziehungsweise D-Galactose. Bei Pflanzen können neben D-Glucose und D-Galactose auch D-Glucuronlacton, D-Galacturonat beziehungsweise dessen Methylester die Biosynthese einleiten. Biosynthese in Wirbeltieren Bei Ratten wurde die Biosynthese am besten untersucht. Die Bildung der Ascorbinsäure beginnt mit der Oxidation von UDP-D-Glucose zu UDP-D-Glucuronsäure durch das Enzym UDP-Glucose-Dehydrogenase (). Oxidationsmittel ist dabei das NAD+. Ausnahmen Trockennasenprimaten (unter anderem der Mensch), Meerschweinchen, Echten Knochenfischen sowie einigen Familien der Fledertiere und Sperlingsvögel fehlt das Enzym L-Gulonolactonoxidase (B in obiger Abbildung) aufgrund eines genetischen Defekts, sodass sie Ascorbinsäure nicht synthetisieren können. Die genetische Mutation bei Trockennasenprimaten trat vor etwa 65 Millionen Jahren auf. Diese Primaten waren seinerzeit in einer Gegend angesiedelt, die ganzjährig reich an Vitamin-C-haltigen Früchten war. Daher hatte dieser bei anderen Tieren letale Defekt keine negativen Auswirkungen. Auch einige Insekten wie die Wanderheuschrecken (Acrididae) können Ascorbinsäure nicht selbständig herstellen. Funktion Eine wichtige Funktion der Ascorbinsäure im menschlichen Organismus beruht auf ihrer Eigenschaft als Reduktionsmittel. Sie ist also in der Lage, Elektronen auf andere Moleküle zu übertragen. Zwei grundsätzliche Aufgaben können unterschieden werden: Ascorbinsäure als Radikalfänger (Scavenger) Ascorbinsäure dient im tierischen Organismus als Radikalfänger, da sie in der Lage ist, ebensolche auf andere Moleküle zu übertragen. Die Grafik zeigt nicht den tatsächlichen Reaktionsmechanismus, sondern schematisch die Fähigkeit der Ascorbinsäure, unter Reaktion zur Dehydroascorbinsäure zwei Radikale einfangen zu können (vgl. obige Abbildung). Bei der Verstoffwechslung des Sauerstoffs in der Zelle kann es zur Bildung des Hyperoxidradikals O2•− kommen, wenn der molekulare Sauerstoff O2 bei der Endreaktion der Atmungskette statt vier Elektronen nur eines erhalten hat. Das Hyperoxidradikal ist aufgrund dieses Elektronenmangels extrem reaktiv und in der Lage, molekulare Zellstrukturen zu schädigen. Die Reaktion mit Ascorbinsäure überführt dieses in Wasserstoffperoxid: Das Wasserstoffperoxid wird von dem Enzym Katalase abgebaut. Ascorbinsäure als Cofaktor in Redoxreaktionen Sowohl Ascorbinsäure als auch deren oxidierte Form (DHA) sind Cofaktoren für viele biochemische Reaktionen. Hierbei stellt Ascorbinsäure Elektronen für Kupfer(I)-abhängige Monooxygenasen beziehungsweise Eisen(III)-abhängige Dioxygenasen bereit. In vitro können auch andere Redoxfaktoren diese enzymatischen Reaktionen katalysieren. Von Bedeutung ist diese Redoxeigenschaft der Ascorbinsäure beispielsweise bei der Synthese von Collagen im menschlichen Stoffwechsel. Zur Darstellung dieses Strukturproteins muss die Aminosäure L-Prolin zu ihrer oxidierten Form, Hydroxyprolin, umgewandelt werden. Ascorbinsäure dient dazu, das in dieser Reaktion genutzte Reduktionsmittel Fe(II) zu regenerieren. Besteht ein Mangel an Vitamin C, kann die Bildung des Hydroxyprolins bei der Collagensynthese nur begrenzt erfolgen, sodass die typischen Symptome des Skorbuts wie Zahnfleischbluten, Zahnausfall und Hautschäden auftreten. Recycling der Oxidationsprodukte Die nach Oxidation entstehenden Produkte Semidehydroascorbinsäure und Dehydroascorbinsäure werden enzymatisch wieder zu Ascorbinsäure reduziert. Die Enzyme Cytochrom b5-Reduktase und Thioredoxinreduktase katalysieren die Umwandlung von Semidehydroascorbinsäure zu Ascorbinsäure im Cytosol, unter Verbrauch von NADH beziehungsweise NADPH. Außerdem kann eine Reduktion über elektronentransferierende Membranproteine stattfinden. Dehydroascorbinsäure wird sowohl spontan mittels Glutathion oder NADPH reduziert als auch enzymatisch über die Glutathiontransferase Omega. Abbau Der Abbau von Dehydroascorbinsäure wird bei Säugetieren durch Hydrolyse zur physiologisch inaktiven 2,3-Diketogulonsäure eingeleitet. Diese wird entweder zu Oxalat und L-Threonsäure gespalten oder zu Kohlenstoffdioxid, Xylose, Xylulose decarboxyliert. Im Unterschied dazu haben Bakterien wie E. coli enzymatische Stoffwechselwege für den Abbau von Ascorbinsäure und wahrscheinlich auch für Dehydroascorbinsäure. Nachweis Um Ascorbinsäure quantitativ nachzuweisen, gibt es zahlreiche colorimetrische Methoden, etwa unter Verwendung von 2,4-Dinitrophenylhydrazin. Ascorbinsäure reagiert mit diesem zu einem Hydrazon, dessen Absorption messbar ist. Darüber hinaus kann 2,2′-Bipyridin zum colorimetrischen Nachweis dienen. Hierbei wird die Reduktionskraft der Ascorbinsäure genutzt, die Fe(III) zu Fe(II) reduziert. Fe(II) bildet dann mit 2,2′-Bipyridin einen farbigen Komplex. Es sind auch einige fluorometrische Nachweismethoden bekannt. Ascorbinsäure lässt sich auch durch Titration mit Tillmans-Reagenz (2,6-Dichlorphenolindophenol, abgekürzt DCPIP) nachweisen, bei der das Reagenz durch die Ascorbinsäure zu einer Leukoverbindung reduziert wird. Dabei ist ein Farbumschlag von tiefblau zu farblos zu beobachten. Diese Methode eignet sich für eine schnelle Bestimmung, die aber an die Genauigkeit oben genannter Wege nicht heranreicht. Ascorbinsäure kann auch spezifisch mittels Oxidation durch das Enzym Ascorbinsäure-Oxidase nachgewiesen werden, wobei die Änderung der Lichtabsorption bei einer Wellenlänge von 245 nm gemessen wird. Die Gehaltsbestimmung wird im Europäischen Arzneibuch durch redoximetrische Titration mit 0,05-molarer Iodlösung unter Zusatz von Stärke durchgeführt (Iodometrie). Dabei verbraucht ein Mol Ascorbinsäure ein Mol Iod, das zu farblosem Iodid umgesetzt wird. Die Färbung durch den blauen Iod-Stärke-Komplex dient der Endpunktbestimmung. Da die zugesetzte Stärkelösung die Reaktion verzögert und einen schleppenden Umschlag verursacht, bietet sich eine Indikation mit Variamin an. Der maßanalytische Faktor beträgt 8,8065 mg Ascorbinsäure / ml 0,05 M Iodlösung. Literatur Beat Bächi: Volksdroge Vitamin C für alle! Pharmazeutische Produktion, Vermarktung und Gesundheitspolitik (1933–1953). Chronos, Zürich 2009, ISBN 978-3-0340-0921-8 (= Interferenzen. Band 14, zugleich Dissertation an der Universität Zürich 2008). Lester Packer, Jürgen Fuchs: Vitamin C in Health and Disease. Marcel Dekker Inc illustrated edition 1997, ISBN 0-8247-9313-7. Siehe auch Ascorbate Weblinks Ascorbat- und Alderatstoffwechsel. Bei: Kegg-Enzyme. B. Jassal: Vitamin C (ascorbate) metabolism. In: reactome.org. (englisch) Vitamin C: Mikroskop-Aufnahmen in polarisiertem Licht. – Galerie von Mikrokristallen. Einzelnachweise C Arzneistoff Lebensmittelkonservierungsstoff Enol Crotonolacton Polyol Antioxidationsmittel Säuerungsmittel Organische Säure Lebensmittelzusatzstoff (EU) Futtermittelzusatzstoff (EU)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Anomie
Anomie
Anomie (griechisch: Kompositum aus α privativum zur Verneinung und der Endung -nomie von , „Ordnung, Gesetz“) bezeichnet in der Soziologie einen Zustand fehlender oder schwacher sozialer Normen, Regeln und Ordnung. Vor allem in England war der Begriff ursprünglich ein theologischer Ausdruck für das Brechen religiöser Gesetze. Zur Beschreibung einer Anomie wird umgangssprachlich und irreführend häufig auch das Wort Anarchie (Abwesenheit von Herrschaft) benutzt. „Anomie“ bei Durkheim Der Begriff der Anomie wurde von Émile Durkheim (1858–1917), der ihn den Schriften des Philosophen Jean-Marie Guyau entlehnt hatte, in die Soziologie eingeführt. Der Rückgang von religiösen Normen und Werten führt nach Durkheim unweigerlich zu Störungen und zur Verringerung sozialer Ordnung. Aufgrund von Gesetz- und Regellosigkeit sei dann die gesellschaftliche Integration nicht länger gewährleistet. Diesen Zustand nannte Durkheim anomie, die beim Individuum zu Angst und Unzufriedenheit führen müsse, ja sogar zur Selbsttötung führen könne („anomischer Suizid“). Durkheim benutzte den Begriff, um die pathologischen Auswirkungen der sich im Frühindustrialismus rasch entwickelnden Sozial- und Arbeitsteilung zu beschreiben. Die damit einhergehende Schwächung der Normen und Regeln für die Allokation von Waren führe zu einem verschärften Wettbewerb und Kampf um die steigenden Wohlstandsgewinne. Die Entwicklung des Anomiebegriffs bei Durkheim vollzog sich in mehreren Schritten: Zunächst verstand er Anomie als eine Situation, in der in einer arbeitsteiligen Gesellschaft keine Solidarität mehr entsteht. In seinem Werk über den Suizid (1897) sind es vor allem Ambitionen der Individuen, die im günstigen Fall zu einem moralischen Individualismus, im ungünstigen zu einem egoistischen exzessiven Individualismus führen. Letzterer zerstört das soziale Gleichgewicht und die sozialen Normen und führt nach Durkheim in die Anomie. In der Arbeit über die Regeln der soziologischen Methode ist Anomie keine reale oder zugeschriebene Eigenschaft der Individuen (dafür wird von der Kriminalsoziologie der Begriff der Devianz genutzt), sondern der gesellschaftlichen Struktur insgesamt. Diese ist regelmäßig durch eine gewisse Quote an Normabweichung – z. B. an Kriminalität – gekennzeichnet. Anomisch ist jedoch ein plötzlicher Anstieg der Kriminalität. Das Gegenteil der Anomie ist nach Durkheim ein Zustand des Fatalismus, in dem soziale Regeln widerspruchslos akzeptiert werden. Bronisław Malinowski postulierte 1926, dass auch in sogenannten primitiven Gesellschaften die sozialen Regeln allenfalls partiell erfüllt werden. Talcott Parsons wies darauf hin, dass gesteigerter Individualismus nicht aus der Emanzipation der Individuen von sozialen Regeln resultiere, sondern selbst eine besondere Form der sozialen Regelung in modernen Gesellschaften darstelle. „Anomie“ bei Merton Robert K. Merton hat den Anomiebegriff verfeinert. Anomie entsteht vor allem aus der Diskrepanz zwischen gesellschaftlich bzw. kulturell definierten, also erstrebenswerten und legitimen Zielen (für die USA z. B. individueller Reichtum), und einer Unklarheit über die zu ihrer Erreichung legitimen (sozial erlaubten) Mittel oder aus einem erschwerten Zugang zu diesen Mitteln. Mit Anomie kann also die Dissoziation zwischen kulturellen Zielen und dem Zugang bestimmter sozialer Schichten zu dazu notwendigen Mitteln beschrieben werden, also aus einem Auseinanderklaffen von angestrebten Zielen, Wünschen und Erwartungen der Menschen einer Gesellschaft, den sozialen Normen, welche die Mittel vorschreiben, die die Menschen zur Realisierung ihrer Ziele anwenden dürfen, und einer als ungerecht empfundenen Verteilung dieser Mittel. Dadurch schwächt sich die Bindung zwischen Mitteln und Zielen ab. Die kulturelle Struktur einer Gesellschaft beeinflusst dabei die Ziele (z. B. Bildung, Wachstum, Wohlstand, hohes Ansehen) und die zu ihrer Erreichung zu befolgenden Normen („1+1=2“?, Fleiß, Intelligenz, Lernfreude, Religion, Erinnerung). Die soziale Struktur entscheidet hingegen über die Verteilung dieser Mittel (Chancengleichheit, Teilhabe, gleiches Recht für alle usw.). Merton nennt fünf mögliche Reaktionsmuster des Menschen auf diese Dissoziation: Konformität: Konzentrierung auf die Ziele, die mit den zur Verfügung stehenden (gebilligten) Mitteln erreicht werden können; Innovation: Gebrauch kulturell bisher missbilligter Mittel zur Verfolgung kulturell gebilligter Ziele; Ritualismus: strikte Nutzung der vorgeschriebenen Mittel bis hin zur Ignoranz der negativen Konsequenzen des Gebrauchs dieser Mittel (Durchführung des Rituals um des Rituals willen – auch bei Verzicht auf die Erreichung der kulturellen Ziele); Rückzug (retreat): Verzicht sowohl auf vorgeschriebene Ziele als auch geforderte Mittel (Aussteiger, Drogenabhängige etc., vgl. auch Eskapismus); Rebellion: Zurückweisung von Zielen und Mitteln und Betonung eines neuen, sozial missbilligten Systems von Zielen und Mitteln. Kulturell gebilligte Mittel können als im technischen Sinn ineffizient empfunden werden, was den Rückgriff auf effizientere, aber kulturell abgelehnte Mittel nahelegt. Dieses Verhalten kann missbilligt, jedoch nachträglich als erfolgreiche Innovation betrachtet werden. Gegenwärtig führe vor allem die Relativierung kultureller Mittel durch Pluralisierung und Individualisierung zu Problemen wie Orientierungslosigkeit, Verhaltensunsicherheit und gesellschaftlicher Desintegration. Siehe auch Anomia Assimilation (Soziologie) Emergente Ordnung Entfremdung Literatur Gabriele Faßauer, Frank Schirmer: Moderne Leistungssteuerung und Anomie. Eine konzeptionelle und indizienbasierte Analyse aktueller Entwicklungen in Organisationen. In: Soziale Welt. Jg. 57, Nr. 4, 2006, S. 351–371, doi:10.5771/0038-6073-2006-4-351, . Hans Joas (Hrsg.): Lehrbuch der Soziologie. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Campus-Verlag, Frankfurt am Main u. a. 2007, ISBN 978-3-593-37920-3. Siegfried Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens. Eine Einführung für Soziologen, Psychologen, Pädagogen, Juristen, Politologen, Kommunikationswissenschaftler und Sozialarbeiter. (= UTB 740). 6. Auflage. Fink, München 1996, ISBN 3-7705-1620-6. Realino Marra: Geschichte und aktuelle Problematik des Anomiebegriffs. In: Zeitschrift für Rechtssoziologie. Jg. 10, 1989, S. 67–80, doi:10.1515/zfrs-1989-0104. Bernd-Dieter Meier: Kriminologie. 2., neu bearbeitete Auflage. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53861-4. Ulrich Meier: Aggressionen und Gewalt in der Schule. Zur Dialektik von Schülerpersönlichkeiten, Lernumwelten und schulischem Sozialklima (= Jugendsoziologie. Band 6). Lit, Münster 2004, ISBN 3-8258-7013-8, S. 56 f. (zugleich: Bielefeld, Univ., Diss., 2003). Wolfgang Melzer, Wilfried Schubarth, Frank Ehninger: Gewaltprävention und Schulentwicklung. Analysen und Handlungskonzepte. Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2004, ISBN 3-7815-1322-X, S. 62 f. Marco Orru: The Ethics of Anomie: Jean Marie Guyau and Émile Durkheim. In: The British Journal of Sociology. Jg. 34, Nr. 4, 1983, S. 499–518, . Rüdiger Ortmann: Abweichendes Verhalten und Anomie. Entwicklung und Veränderung abweichenden Verhaltens im Kontext der Anomietheorien von Durkheim und Merton (= Kriminologische Forschungsberichte aus dem Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht Freiburg i. Br. Band 89). Edition iuscrim, Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht, Freiburg (Breisgau) 2000, ISBN 3-86113-033-5. Rüdiger Peuckert: Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle. In: Hermann Korte, Bernhard Schäfers (Hrsg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. (= Einführungskurs Soziologie. Band 1). 7., grundlegend überarbeitete Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-531-15029-1, S. 108–123. Jordi Riba: La morale anomique de Jean-Marie Guyau. L’Harmattan, Paris u. a. 1999, ISBN 2-7384-7772-0. Einzelnachweise Kriminalsoziologie Soziologische Theorie
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Alexandre Dumas der Jüngere
Alexandre Dumas der Jüngere, auch Dumas fils, (* 27. Juli 1824 in Paris; † 27. November 1895 in Marly-le-Roi) war ein französischer Romanschriftsteller und dramatischer Dichter. Er war der uneheliche Sohn von Alexandre Dumas dem Älteren und Marie-Catherine Labay, einer Näherin. Leben Dumas schlug 17-jährig, nachdem er das Collège Bourbon verlassen hatte, die schriftstellerische Laufbahn mit dem Gedichtband Péchés de jeunesse („Jugendsünden“) ein. Er begleitete seinen Vater auf dessen Reise durch Spanien und Nordafrika und veröffentlichte nach seiner Rückkehr den sechsbändigen Roman Histoire de quatre femmes et d’un perroquet (1847), der die Neugierde des Publikums erregte. In dem Roman Die Kameliendame (La dame aux camélias, 1848) erzählt Dumas realitätsnah die Geschichte einer Pariser Kurtisane, die früh an der Schwindsucht stirbt. In den beiden späteren Stücken Diane de Lys (1853) und Le demi-monde (1855) behandelt der Dichter fast dasselbe Thema, doch in wesentlich satirischerer Absicht und mehr, um nach Art des Komödiendichters seiner Zeit einen Spiegel vorzuhalten. Dumas gilt als einer der Begründer des Gesellschaftsdramas und er setzte sich in fast allen seinen Stücken mit sozialen und gesellschaftlichen Problemen auseinander. Die Stellung der Frau nahm dabei eine besondere Rolle ein. So beschäftigte er sich mit den Rechten und Pflichten der Frau und den Fehlern der einschlägigen Gesetzgebung und gesellschaftlichen Anschauung im Roman L’affaire Clémenceau (1864) sowie in mehreren Flugschriften wie Lettres sur les choses du jour, L’homme-femme, Tue-la! Les femmes qui tuent et les femmes qui votent (1872–1880) und in der größeren Streitschrift Le divorce (1880). Im Jahr 1875 wurde Dumas in die Académie française aufgenommen, 1894 wurde er Mitglied der Ehrenlegion. Der als anspruchslos und hilfsbereit für seine Freunde geltende Dumas erfreute sich persönlich allgemeiner Beliebtheit. 1864 heiratete er Nadeschda Naryschkina von Knorring (1826–1895), mit der er zwei Töchter hatte. Nach Naryschkinas Tod 1895 heiratete er Henriette Régnier de La Brière und starb im selben Jahr am 27. November in Marly-le-Roi. Werke Die Kameliendame Dumas’ bekanntestes Werk ist der Roman Die Kameliendame (La dame aux camélias) von 1848, der das Schicksal einer Pariser Kurtisane und ihres Verehrers schildert. Trotz Schwierigkeiten mit der Zensur war der Roman ein außergewöhnlicher Erfolg. Nach Umarbeitung des Werks zu einem Bühnenstück wuchs seine Popularität noch: Das 1852 im Théâtre du Vaudeville erstmals aufgeführte Werk erlebte ohne Unterbrechung mehr als 100 Aufführungen. 1853 übernahm Giuseppe Verdi das Thema für seine Oper La traviata. Die französische Schauspielerin Sarah Bernhardt spielte ab 1880 die Kameliendame in dem Bühnenstück und feierte damit in Europa und den USA große Erfolge. Das Stück zeichnete sich durch überaus scharfe Beobachtung der gesellschaftlichen Zustände, sichere Behandlung der dramatischen Form und einen lebendigen, prickelnden Dialog aus; aber nach damaliger Auffassung war die Verherrlichung und Rehabilitierung des Lasters moralisch bedenklich. Im Jahr 1911 wurde Dumas’ Kameliendame mit Sarah Bernhardt in der Hauptrolle erstmals verfilmt. In einer weiteren Filmversion von Regisseur George Cukor spielte Greta Garbo 1936 die Hauptrolle. Werkliste Aventures de quatre femmes et d’un perroquet. 1847. Le roman d’une femme. 1848. Césarine. 1848. La dame aux camélias. (Die Kameliendame) 1848. Le docteur Servans. 1849. Antonine. 1849. Trois hommes forts. 1850. Tristan le Roux. 1850. Diane de Lys. 1851. Les Revenants. 1852. Le régent Mustel. 1852. Contes et nouvelles. 1853. Sophie Printemps. 1853. Le Demi-Monde. 1855. La boîte d’argent. 1855. Vie à vingt ans. 1856. Le fils naturel. 1858. Père prodigue. 1859. L’ami des femmes. 1864. L’affaire Clémenceau. (Die polnische Gräfin) 1864. Le supplice d'une femme. 1865. Héloise Paranquet. 1866. Les idées de Madame Aubray. 1867. Une visite de noces. 1871. La princesse Georges. 1871. La femme de Claude. 1873. Monsieur Alphonse. 1873. L’étrangère. 1877. Literatur Charles Potvin: De la corruption littéraire en France. Brüssel 1873. Léopold Lacour: Trois théâtres : Émile Augier, Alexandre Dumas fils, Victorien Sardou. Paris 1880. Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig/ Wien 1885–1892. Hans-Jörg Neuschäfer: Populärromane im 19. Jahrhundert. Von Dumas bis Zola. Fink, München 1976, ISBN 3-7705-1336-3. Weblinks Autor Literatur (19. Jahrhundert) Literatur (Französisch) Literatur (Frankreich) Drama Roman, Epik Mitglied der Académie française Mitglied der Ehrenlegion (Großoffizier) Alexandre Dumas der Ältere Franzose Geboren 1824 Gestorben 1895 Mann
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Dumas (Familienname)
Dumas ist ein französischer Familienname. Namensträger Adolphe Dumas (1805–1861), französischer Dichter, Dramatiker und Provenzalist Amy Dumas (* 1975), US-amerikanische Wrestlerin André Dumas (1918–1996), französischer Pfarrer und Universitätsprofessor Ann Dumas (* 1955), US-amerikanische Kunsthistorikerin und Kuratorin Charles Dumas (1937–2004), US-amerikanischer Leichtathlet Edward Canfor-Dumas (* 1957), Romanautor und TV-Drehbuchautor Fernand Dumas (1892–1956), Schweizer Architekt Franck Dumas (* 1968), französischer Fußballspieler Françoise Dumas (* 1960), französische Politikerin Frédéric Dumas (1913–1991), französischer Tauchpionier Gaëlle Dumas (* 2003), haitianische Fußballspielerin Jerry Dumas (1930–2016), US-amerikanischer Autor und Comiczeichner Marlene Dumas (* 1953), südafrikanisch-niederländische Künstlerin Matthieu Dumas (1753–1837), französischer General und Militärhistoriker Nora Dumas (1890–1979), ungarisch-französische Fotografin Philip Dumas (1868–1948), britischer Offizier und Diplomat René-François Dumas (1757–1794), französischer Jurist und Revolutionär Roger Dumas (Komponist) (1897–1951), französischer Komponist Roger Dumas (1932–2016), französischer Schauspieler und Liedtexter Roland Dumas (* 1922), französischer Politiker Romain Dumas (* 1977), französischer Autorennfahrer Stéphane Dumas (* 1978), französischer Basketballspieler und -trainer Susan Rigvava-Dumas (* 1966), Musikerin, Sängerin Thomas Alexandre Dumas (1762–1806), französischer General Vito Dumas (1900–1965), argentinischer Einhandsegler und Schriftsteller William Dumas (* 1942), französischer Politiker Wolfram Dumas (* 1930), deutscher Politiker, Bremer Bürgerschaftsabgeordneter (CDU/SPD) Weblinks Dumas bei forebears.io Familienname Französischer Personenname
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Auge
Das Auge ( oder , ) ist ein Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen. Es ist Teil des visuellen Systems und ermöglicht das Sehen. Die Aufnahme der Reize geschieht mit Hilfe von Fotorezeptoren, lichtempfindlichen Nervenzellen, deren Erregungszustand durch die unterschiedlichen Wellenlängen elektromagnetischer Strahlung aus dem sichtbaren Spektrum verändert wird. Bei Wirbeltieren werden die Nervenimpulse bereits in der Netzhaut beginnend bearbeitet und gelangen über die Sehnervenbahnen zum Sehzentrum des Gehirns, wo sie schließlich zu einer visuellen Wahrnehmung verarbeitet werden. Die Augen von Tieren unterscheiden sich in Aufbau und Funktionalität teilweise erheblich. Ihre Leistungsfähigkeit ist eng an die Anforderungen für den jeweiligen Organismus angepasst. Auch die Anzahl der Augen ist ein evolutionäres Ergebnis der Lebensumstände. Manche Tiere, deren Orientierung weniger von visuellen Eindrücken bestimmt wird, benötigen lediglich eine grobe Unterscheidung von Hell und Dunkel, andere wiederum von Kontrast- und Bewegungsmustern. Höher entwickelte Augen dienen der kontrastreichen Bildwahrnehmung, deren Qualität mit der Fähigkeit steigt, Helligkeitsunterschiede sehr differenziert wahrzunehmen (Minimum visibile). Dies drückt sich wiederum in einer entsprechenden Sehschärfe (Minimum separabile) aus, die bei Tag, Dämmerung oder Nacht sehr unterschiedlich sein kann. Wieder andere benötigen weniger ein kontrastreiches Sehen als vielmehr ein großes Gesichtsfeld oder eine differenzierte Farbwahrnehmung in verschiedenen Wellenlängenbereichen. Mit dem Grad der visuellen Orientierung wächst die Leistungsfähigkeit des Sehsinns einer Lebensform – dies wird erreicht durch einen feineren anatomischen Aufbau und eine zunehmende Komplexität neuronaler Verknüpfungen, die der Bilderzeugung und der Bildverarbeitung dienen. Etymologie Das gemeingermanische Wort „Auge“ beruht – über von  – auf der indogermanischen Wurzel oku̯- „sehen; Auge“ (teils okw- geschrieben). Auch im lateinischen ist diese Wurzel enthalten, ebenso in den griechischen Wörtern und , wo sie durch Sprachumwandlung von *okje zu op-/oph- jedoch schwer zu erkennen ist. Evolution des Auges Es gibt Schätzungen, dass Augen der verschiedensten Bauweisen im Laufe der Evolution etwa 40 mal neu entwickelt worden seien. Dennoch spielt das Pax-6-Gen sowohl bei den Tintenfischen als auch bei Säugetieren (Mäuse) sowie Insekten eine initiative Rolle bei der frühen Entwicklung der Augen. Bei der Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) hat das hierzu homologe Gen eyeless dieselbe Funktion. Deshalb liegt es nahe, dass all diese Augentypen einen gemeinsamen Ursprung haben. Orthologe von PAX-6 sind in vielen Chordatieren (stammesgeschichtlicher Ursprung im Präkambrium) zu finden. Fossilfunde belegen auch, dass es frühe Augen bereits vor 505 Millionen Jahren im Erdzeitalter Kambrium gab (z. B. das Lochkamera-Auge der Perlboote). Die ersten Linsen hatten Trilobiten in Facettenaugen vor 520 bis 500 Millionen Jahren. Zentrale Eigenschaften Als Resultat einer visuellen Reizverarbeitung sind die Eigenschaften Richtungssehen, Sehschärfe, Gesichtsfeld, Farbsehen, Formsehen und Bewegungssehen zu nennen. Die Anforderungen der jeweiligen Lebensformen an diese Eigenschaften sind sehr unterschiedlich ausgeprägt. Zudem sind viele Spezies in der Lage, ihre Augen mit unterschiedlicher Präzision an verschiedene Objektentfernungen anzupassen (Akkommodation). Richtungssehen Manche Augentypen sind auf Grund ihrer anatomischen und physiologischen Entwicklung lediglich in der Lage, die Richtung auszumachen, aus der Licht auf ihre Sinneszellen fällt. Diese Eigenschaft lässt eine nur geringe visuelle Orientierung zu, stellt jedoch gegenüber der bloßen Wahrnehmung von Hell und Dunkel eine höhere Differenzierungsmöglichkeit dar. Sehschärfe Mit Sehschärfe wird die Fähigkeit eines Lebewesens bezeichnet, Konturen und Muster in der Außenwelt als solche zu erkennen. Ihre Qualität ist abhängig von: dem Auflösungsvermögen des Augapfels, der Abbildungsqualität auf der Netzhaut, die durch die brechenden Medien des Auges – Hornhaut, Kammerwasser, Linse und Glaskörper – bestimmt wird, der Refraktion des Auges, sowie dem Brechungsindex des Mediums, welches von außen an die Hornhaut grenzt (Luft, Wasser), den optischen Eigenschaften des Objekts und seiner Umgebung (Kontrast, Farbe, Helligkeit), der Form des Objekts: die Netzhaut und das zentrale Nervensystem sind in der Lage, bestimmte Formen (horizontale und vertikale Geraden, rechte Winkel) höher aufzulösen als es dem Auflösungsvermögen des Augapfels allein entspricht. Zur Quantifizierung hat man verschiedene Parameter definiert. Die Winkel-Sehschärfe (angulare Sehschärfe) ist das Auflösungsvermögen, bei dem zwei Sehobjekte noch als getrennt wahrgenommen werden (Minimum separabile). Die Auflösung von 1' (einer Bogenminute) entspricht einer Ortsauflösung von etwa 1,5 mm bei 5 m Abstand. Je kleiner die Winkel-Sehschärfe ist, desto besser ist die Sehschärfe. Die dimensionslose Eigenschaft Visus wird definiert, indem die Bezugsgröße 1' in Beziehung zur individuellen Winkel-Sehschärfe gesetzt wird. Visus = 1' / (individuelle Winkel-Sehschärfe) Je größer der Visus ist, desto besser ist die Sehschärfe. Beispiel: wenn eine Person Punkte erst bei einem Winkelabstand von 2' trennen kann, hat sie einen Visus von 0,5. Statt Winkel können auch Entfernungen bestimmt werden. Wenn man als Bezugsgröße den Abstand d wählt, bei dem man zwei Punkte unter einem Winkel von 1' sieht, dann ist: Visus = individueller Abstand / d Beispiel: wenn eine Person erst im Abstand von 6 m die Punkte getrennt sehen kann, die bei 12 m einen Winkelabstand von 1' haben, hat sie einen Visus von 6/12 = 0,5. Gesichtsfeld Mit Gesichtsfeld bezeichnet man den Bereich des Außenraums, der bei ruhiger, gerader Kopfhaltung und geradeaus gerichtetem, bewegungslosem Blick mit unterschiedlicher Sensibilität visuell wahrgenommen werden kann. Man unterscheidet das monokulare Gesichtsfeld jeweils eines Auges von der Summe der Gesichtsfelder aller Augen eines Lebewesens. Sein Ausmaß wird in der Regel in der Einheit Sehwinkelgrad angegeben und unterscheidet sich je nach Lebewesen teils sehr deutlich. Beispiele des Ausmaßes eines horizontalen Gesichtsfeldes: Fliegen fast 360° (Facettenaugen) Frosch ca. 330° Turmfalke 300° Krokodil 290° Mensch 214° Schleiereule 160° Schnecken (Napfaugen und Lochaugen) etwa 100° bis 200° Quallen und Würmer (Flachaugen) 100° bis 180°, bei mehreren Augen größer Farbsehen Die Farbwahrnehmung ist die Fähigkeit, elektromagnetische Wellen verschiedener Wellenlängen in ihrer Intensität zu unterscheiden. Diese Fähigkeit ist im ganzen Tierreich verbreitet. Das Absorptionsspektrum der wahrgenommenen und unterscheidbaren Wellenlängen charakterisiert artspezifisch die Qualität dieser Fähigkeit. Dazu muss das Wahrnehmungssystem mindestens zwei unterschiedliche Typen von Lichtrezeptoren besitzen, um die Zusammensetzungen des Lichts erkennen zu können. Bauformen Die einfachsten „Augen“ sind lichtempfindliche Sinneszellen auf der Außenhaut, die als passive optische Systeme funktionieren. Sie können nur erkennen, ob die Umgebung hell oder dunkel ist. Man spricht hier von Hautlichtsinn. Insekten und andere Gliederfüßer haben Augen, die aus vielen einzelnen Augen zusammengesetzt sind. Diese Facettenaugen liefern ein rasterartiges Bild (nicht mehrfache Bilder, wie man vermuten könnte). Neben den beschriebenen Augentypen mit lichtbrechenden Linsen findet man in der Natur gelegentlich auch Spiegelaugen. In den Augen der Kammmuschel (Pecten) wird das Bild durch Hohlspiegel erzeugt, die hinter der Netzhaut angeordnet sind. Die direkt vor der Netzhaut liegende Linse dient der optischen Korrektur des stark verzerrten Spiegelbildes. Die Spiegel sind nach dem Prinzip von reflektierenden Glasplatten gebaut. Mehr als 30 Schichten aus feinsten Guanin-Kristallen liegen dicht gestapelt, jede Schicht in eine Doppelmembran eingeschlossen. Auch andere Tiere haben Spiegelaugen, unter anderem der Tiefseekrebs Gigantocypris, der Hummer und die Langusten. Diese Form hat sich offenbar dort durchgesetzt, wo es weniger auf die Bildqualität und mehr auf die Lichtausbeute ankommt. Beschatteter Photorezeptor Manche Lebewesen wie der Regenwurm besitzen am Körperende oder verstreut einzelne Lichtsinneszellen. Deren Lage relativ zum lichtabsorbierenden Körper des Wurms bestimmt die Richtungen des Lichteinfalls, für die diese Sinneszellen jeweils empfindlich sind. Dieses Prinzip ist bereits beim Einzeller Euglena verwirklicht: Der Photorezeptor liegt hier an der Basis der Geißel und wird durch einen pigmentierten Augenfleck einseitig beschattet. Das ermöglicht es der Zelle, sich zum Licht hin zu bewegen (Phototaxis). Flachauge Quallen und Seesterne besitzen viele nebeneinander liegende Lichtsinneszellen, die innen an eine Schicht aus Pigmentzellen anschließen können. Die Konzentrierung der Sinneszellen in solchen Flachaugen verbessert die Hell-Dunkel-Wahrnehmung. Pigmentbecherauge In Pigmentbecheraugen liegen die Sehzellen vom Licht abgewandt (inverse Lage) in einem Becher aus lichtundurchlässigen Pigmentzellen. Das Licht kann nur durch die Öffnung des Bechers eindringen, um die Sehzellen zu stimulieren. Da daher immer nur ein kleiner Teil der Sehzellen gereizt wird, kann neben der Helligkeit auch die Einfallsrichtung des Lichts bestimmt werden. Solche Augen besitzen unter anderem Strudelwürmer und Schnecken. Grubenauge Das Grubenauge unterscheidet sich vom Pigmentbecherauge durch die dem Licht zugewandte (everse) Lage der Sinneszellen und dadurch, dass die Grube mit Sekret gefüllt ist. In der Grube bilden die Sehzellen eine Zellschicht, die innen an eine Schicht von Pigmentzellen anschließt. Es ist also eine Weiterentwicklung des Flachauges. Es ermöglicht auch die Bestimmung der Intensität und der Einfallsrichtung des Lichts. Lochauge und Blasenauge Lochaugen oder Lochkameraaugen sind weiterentwickelte Grubenaugen und funktionieren nach dem Prinzip der Lochkamera. Aus der Grube wird eine blasenförmige Einstülpung, die Öffnung verengt sich zu einem kleinen Loch und der Hohlraum ist vollständig mit Sekret gefüllt. Durch die erhöhte Anzahl der Sehzellen in einem Sehzellenepithel (Netzhaut) ist nun auch Bildsehen möglich. Das Bild ist jedoch lichtschwach, klein und steht wie bei einer Camera obscura auf dem Kopf. Die Schärfe des Bildes auf der Netzhaut hängt von der Anzahl der erregten Sehzellen ab. Da diese auch von der Entfernung vom Sehloch zum Gegenstand abhängt, ist beim Lochauge ein eingeschränktes Entfernungssehen möglich. Dieser Augentyp kommt rezent bei urtümlichen Kopffüßern wie den Perlbooten vor. Ein Lochauge mit verbesserter Leistung ist das Blasenauge, bei dem die Öffnung von einer durchsichtigen Haut bedeckt ist. Das Blasenauge entsteht aus einer Einstülpung der Epidermis, die mit einem Pigmentepithel und einer Sehzellenschicht ausgekleidet ist. Es kommt bei Hohltieren, Schnecken und Ringelwürmern vor. Je nach Durchmesser der Sehöffnung entsteht entweder ein helleres aber unschärferes oder ein dunkleres aber schärferes Bild. Facettenauge (Komplexauge) Facettenaugen setzen sich aus einer Vielzahl von Einzelaugen (Ommatidien) zusammen, von denen jedes acht Sinneszellen enthält. Jedes Einzelauge sieht nur einen winzigen Ausschnitt der Umgebung, das Gesamtbild ist ein Mosaik aus allen Einzelbildern. Die Anzahl der Einzelaugen kann zwischen einigen Hundert bis hin zu einigen Zehntausend liegen. Die Auflösung des Facettenauges ist durch die Anzahl der Einzelaugen begrenzt und ist daher weit geringer als die Auflösung des Linsenauges. Allerdings kann die zeitliche Auflösung bei Facettenaugen deutlich höher sein als bei Linsenaugen. Sie liegt etwa bei fliegenden Insekten bei 250 Bildern pro Sekunde (also 250 Hz), was etwa dem vierfachen des menschlichen Auges mit 60 bis 65 Hz entspricht. Dies verleiht ihnen eine extrem hohe Reaktionsgeschwindigkeit. Die Farbempfindlichkeit des Facettenauges ist in den ultravioletten Bereich verschoben. Außerdem verfügen Spezies mit Facettenaugen über das größte Blickfeld aller bekannten Lebewesen. Zu finden sind diese Augen bei Krebsen und Insekten. Zusätzlich besitzen viele Gliederfüßer Ocellen, kleinere Augen, die sich häufig auf der Stirnmitte befinden und sehr unterschiedlich aufgebaut sein können. Bei einfachen Ocellen handelt es sich um Grubenaugen. Besonders leistungsfähige Ocellen besitzen eine Linse oder, wie bei den Spinnentieren, auch einen Glaskörper, es handelt sich also um kleine Linsenaugen. Linsenauge Das einfachste Linsenauge hat noch nicht den komplizierten Aufbau des Wirbeltierauges. Es besteht aus nicht viel mehr als Linse, Pigmentzellen und Retina. Ein Beispiel hierfür ist das Linsenauge der Würfelqualle Carybdea marsupialis. Zudem schauen die Augen an den vier Sinneskörpern am Schirmrand der Qualle in den Schirm hinein. Dennoch kann sie damit gut genug sehen, um Rudern auszuweichen, an denen sie sich verletzen könnte. Auch manche Ocellen der Gliederfüßer sind einfache Linsenaugen. Obwohl sich die Augen von Wirbeltieren, Tintenfischen und Einzellern im Aufbau stark ähneln, haben sie diese sehr ähnliche Funktionsweise phylogenetisch unabhängig voneinander entwickelt. Dies wird bei der Bildung der Augen bei den Embryonen sichtbar: Während sich Linsenaugen bei Mollusken durch eine Einstülpung der embryonalen Epidermis entwickeln, wodurch die Sehzellen dem Licht zugewandt sind, entwickeln sich die Linsenaugen der Wirbeltiere aus einer Ausstülpung des Gehirns, wodurch die Sehzellen dem Licht abgewandt sind (inverse Retina). Ein Krötenauge besitzt schon die meisten Teile, die auch das menschliche Auge hat, nur die Augenmuskeln fehlen. Deshalb kann eine Kröte, wenn sie selber ruhig sitzt, keine ruhenden Gegenstände sehen, da sie nicht zu aktiven Augenbewegungen fähig ist und das Bild auf der Netzhaut dadurch verblasst, wenn es unbewegt ist. Bei den höchstentwickelten Linsenaugen fällt das Licht auf einen mehrstufigen dioptrischen Apparat, durch den es auf die Netzhaut geworfen wird, die nun zwei Arten von Sinneszellen enthält, Stäbchen und Zapfen. Die Einstellung auf Nah- und Fernsicht wird durch eine elastische Linse ermöglicht, die von Zonulafasern gestreckt bzw. gestaucht wird. Die Linsenaugen mit der höchsten Sehschärfe findet man bei Wirbeltieren. So ist zum Beispiel bei Greifvögeln die Fähigkeit entwickelt, Objekte in einem Bereich der Netzhaut stark vergrößert zu sehen, was insbesondere beim Kreisen in großer Höhe beim Lauern auf Beute vorteilhaft ist. Nachttiere wie Katzen, Eulen und Rehe, aber auch Schafe realisieren durch eine retroreflektierende Schicht (meist grün oder blau) hinter der Netzhaut einen Zugewinn an Empfindlichkeit, was ihnen als Nachttieren (Räubern wie Beute) zugutekommt (Siehe hierzu: Tapetum lucidum). Bei Katzen findet man zusätzlich eine sogenannte Schlitzblende, die beim Öffnungsverhältnis größere Unterschiede als Lochblenden erlaubt. Beim Tagsehen werden aber bei Schlitzblenden periphere Strahlbündel weniger als bei Lochblenden unterdrückt, so dass hier die Sehschärfe schlechter ist. Im Verhältnis zur Körpergröße sind die Augen bei nachtaktiven Tieren deutlich größer als bei den tagaktiven. Für die Leistungsfähigkeit eines Auges ist neben der Form des Auges und der Zahl und Art der Stäbchen und Zapfen auch die Auswertung der Wahrnehmungen durch die Nervenzellen im Auge und im Gehirn sowie die Augenbewegungen und die Lage der Augen am Kopf sehr wesentlich. Die Auswertung im Gehirn kann von Art zu Art stark variieren. So hat der Mensch sehr viel mehr unterschiedliche Bereiche zur Bildauswertung und zum Bilderkennen im Gehirn als ein Spitzhörnchen. Generell kann die Funktion des Linsenauges mit einer Kamera verglichen werden. Bei den Perlbooten, die keine Linse besitzen, gewährleistet eine sehr kleine Pupille wie bei einer Lochkamera die Bildschärfe, aber das erzeugte Bild ist relativ lichtschwach. Bei den meisten Cephalopoden jedoch (z. B. beim Oktopus) verändert die Irismuskulatur den Pupillendurchmesser wie die Blende einer Kamera. Durch eine Linse, die vor und zurück bewegt werden kann, wird das Licht auf die Retina fokussiert entsprechend der Schärfeneinstellung mit einem Objektiv. Auch bei vielen Fischen erfolgt die Scharfstellung durch Verschieben einer kugelförmigen Linse. Menschen und andere Säugetiere hingegen fokussieren, indem sie die Form der Linse verändern und damit ihre Brechkraft anpassen. Wirbeltierauge Die Augen der Wirbeltiere sind sehr empfindliche und teils hoch entwickelte Sinnesorgane. Sie liegen geschützt und eingebettet in einem Muskel-, Fett- und Bindegewebspolster in den knöchernen Augenhöhlen (Orbita) des Schädels. Bei landlebenden Wirbeltieren wird das Auge nach außen hin durch die Augenlider geschützt, wobei der Lidschlussreflex eine Schädigung durch Fremdkörper und andere äußere Einwirkungen verhindert. Zudem bewahrt er die empfindliche Hornhaut durch ständiges Benetzen mit Tränenflüssigkeit vor dem Austrocknen. Auch die Wimpern dienen dem Schutz vor Fremdkörpern, Staub und kleineren Partikeln. Das Sehorgan (Organon visus) der Wirbeltiere kann in drei Untereinheiten gegliedert werden: den Augapfel (), die Anhangsorgane des Auges und die Sehbahn. Der Aufbau des Auges beim Menschen entspricht in groben Zügen dem bei anderen Wirbeltieren. Gleichwohl finden sich bei manchen Vögeln, Reptilien und wasserlebenden Wirbeltieren teils erhebliche Unterschiede hinsichtlich ihrer Funktionalität und Leistungsfähigkeit. Äußerlich sichtbar sind lediglich die Hornhaut, Sklera und Bindehaut, Iris und Pupille, sowie die Augenlider und ein Teil der abführenden Tränenwege (Tränenpünktchen). Augapfel Der Augapfel (Bulbus oculi) ist ein fast kugelförmiger Körper, dessen Hülle aus drei konzentrischen Schichten, Lederhaut, Aderhaut und Netzhaut, besteht, die alle unterschiedliche Aufgaben haben. Der Innenraum des Augapfels enthält unter anderem den Glaskörper (Corpus vitreum), die Linse (Lens) mit Zonulafasern und Ziliarkörper (Corpus ciliare), die hintere Augenkammer (Camera posterior bulbi), die Regenbogenhaut (Iris) sowie die vordere Augenkammer (Camera anterior bulbi). Zudem besitzt der Augapfel ein optisches System, den sogenannten dioptrischen Apparat, welcher ein scharfes Sehen erst möglich macht. Dieses System besteht neben der Linse und dem Glaskörper aus dem Kammerwasser und der Hornhaut. Anhangsorgane Zu den Anhangsorganen des Auges gehören der Tränenapparat, die Augenmuskeln, die Bindehaut und die Augenlider. Der Tränenapparat landlebender Wirbeltiere besteht aus der für die Produktion von Tränen­flüssigkeit zuständigen Tränendrüse, sowie aus den zu- und ableitenden Gefäßen und Kanälen, den Tränenwegen, die die Tränenflüssigkeit transportieren. Das gesamte Organ dient der Versorgung der vorderen Augenabschnitte, ihrer Reinigung und ihrem Schutz. Um die Augen bewegen zu können, verfügt das Wirbeltierauge über sieben (beim Menschen sechs) äußere Augenmuskeln. Sie sind unterteilt in vier gerade und zwei schräge Augenmuskeln, die das Auge jeweils in die unterschiedlichsten Richtungen ziehen können. Je nach Augenstellung verfügen die Muskeln über mehr oder weniger ausgeprägte Haupt- und Teilfunktionen, die sich in der Hebung, Senkung, Seitwärtswendung oder Rollung des Augapfels ausdrücken. Die so ausgelösten Augenbewegungen erfolgen einerseits mit dem Ziel, Objekte im Außenraum fixieren zu können, andererseits um das Blickfeld zu vergrößern. Zudem sind sie bei manchen Spezies Voraussetzung für die Entstehung von räumlichem Sehen. Die Bindehaut, auch Konjunctiva genannt, ist eine Schleimhaut im vorderen Augenabschnitt. Sie beginnt an der Lidkante und überzieht die hintere, dem Augapfel zugewandte Fläche der Augenlider. Dieser Schleimhautüberzug wirkt wie ein weiches Wischtuch und verteilt beim Lidschlag die Tränenflüssigkeit über der Hornhaut, ohne diese zu verletzen. Das Augenlid ist eine dünne, aus Muskeln, Bindegewebe und Haut bestehende Falte, die ein Auge vollständig bedecken kann, um es unter anderem mittels eines Reflexes (Lidschlussreflex) vor äußeren Einwirkungen und Fremdkörpern zu schützen. Es verteilt bei jedem Lidschlag Tränenflüssigkeit, die sich in Form eines Tränenfilms über der vorderen Augapfelfläche anlagert und so die empfindliche Hornhaut sauber und feucht hält. Fische besitzen keine Augenlider. Sehbahn Als Sehbahn bezeichnet man alle Übertragungsleitungen und neuronalen Verschaltungen des visuellen Systems vom Auge bis zum Gehirn. Hierzu zählen die Netzhaut im Auge, der Sehnerv bis zu seinem Verlauf an der Sehnervenkreuzung, sowie den sich daran anschließenden Tractus opticus. Im seitlichen Kniehöcker des Thalamus im Zwischenhirn (Corpus geniculatum laterale) finden die ersten Verschaltungen der Sehbahn außerhalb der Netzhaut statt. Sie setzt sich fort als sogenannte Gratioletsche Sehstrahlung bis zur primären Sehrinde. Literatur Weblinks Das Sehvermögen des Säuglings – kindergesundheit-info.de: unabhängiges Informationsangebot der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) LP – Das menschliche Auge als optisches System. Georg-August-Universität Göttingen Lichtsinneszellen – Bau und Photorezeption (PDF; 513 kB) Unterrichtsmaterial Tinka Wolf: Wenn die Evolution ins Auge geht. Die Welt, 31. Oktober 2007 Trevor D. Lamb: Evolution of phototransduction, vertebrate photoreceptors and retina. sciencedirect.com, 18. Juni 2013 Einzelnachweise Neurobiologie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Assoziativgesetz
Assoziativgesetz
Das Assoziativgesetz, genauer die Assoziativität ( „vereinigen, verbinden, verknüpfen, vernetzen“), auf Deutsch Verknüpfbarkeit, ist in der Mathematik eine Eigenschaft mancher (meist zweistelligen) Verknüpfungen. Eine Verknüpfung ist assoziativ, wenn alle Reihenfolgen der Ausführung dasselbe Ergebnis haben. Anders gesagt: Die Klammerung mehrerer assoziativer Verknüpfungen ist beliebig. Neben dem Assoziativgesetz sind Kommutativgesetz und Distributivgesetz von elementarer Bedeutung in der Algebra. Definition Eine binäre Verknüpfung auf einer Menge heißt assoziativ, wenn für alle das Assoziativgesetz gilt. Die Klammern können dann weggelassen werden. Das gilt auch für mehr als drei Operanden. Beispiele und Gegenbeispiele Als Verknüpfungen auf den reellen Zahlen sind Addition und Multiplikation assoziativ. So gilt zum Beispiel und Reelle Subtraktion und Division sind hingegen nicht assoziativ, denn es ist und Auch die Potenz ist nicht assoziativ, da gilt. Bei (divergenten) unendlichen Summen kann es auf die Klammersetzung ankommen. So verliert die Addition die Assoziativität bei: aber In endlichen Realisierungen wie dem Computer sind die Darstellungen der Zahlen in ihrer Größe begrenzt. Somit können weder Addition noch Multiplikation beliebig korrekt sein. Addition und Multiplikation von Festkommazahlen kann man bei vielen Maschinen so einstellen, dass diese anzeigen, wenn das Ergebnis inkorrekt wird, und innerhalb eines so definierten Gültigkeitsbereiches sind die Operationen assoziativ. Außerhalb dieses Gültigkeitsbereiches können die Operationen zwar assoziativ sein, was aber angesichts des falschen Ergebnisses keine Bedeutung hat. Bei Gleitkommazahlen werden nicht alle sog. Rundungsfehler angezeigt, so dass die Assoziativgesetze nicht wirklich gelten, wie das folgende Beispiel für die Addition mit 4-Bit-Mantissen zeigt: (1.0002×20 + 1.0002×20) + 1.0002×24 = 1.0002×21 + 1.0002×24 = 1.0012×24 1.0002×20 + (1.0002×20 + 1.0002×24) = 1.0002×20 + 1.0002×24 = 1.0002×24 Solche Fehler können manchmal durch Ausschalten der Normalisierung verringert werden.Darüber hinaus kann das Laufzeitverhalten von der Reihenfolge der Ausführung zweier Operationen stark abhängen. Einordnung Das Assoziativgesetz gehört zu den Gruppenaxiomen, wird aber bereits für die schwächere Struktur einer Halbgruppe gefordert. Seitigkeit Insbesondere bei nicht-assoziativen Verknüpfungen gibt es Konventionen einer seitigen Assoziativität. Eine binäre Verknüpfung gilt als links-assoziativ, wenn aufzufassen ist. Die nicht-assoziativen Operationen Subtraktion und Division werden gemeinhin links-assoziativ verstanden: Anwendung von Funktionen im Verfahren des Currying. Eine binäre Verknüpfung heißt rechts-assoziativ, wenn gilt: Beispiel für eine rechts-assoziative Operation: Exponenzieren reeller Zahlen in Exponentenschreibweise: Aber auch assoziative Operationen können Seitigkeit haben, wenn sie ins Unendliche zu iterieren sind. Die dezimale Notation rechts vom Dezimalkomma ist eine links-assoziative Verkettung der Dezimalziffern, weil die Auswertung(sschleife) nicht rechts bei den Auslassungspunkten beginnen kann, sondern links beginnen muss. Die -adische Schreibweise enthält mit der Juxtaposition eine rechts-assoziative Verkettungsoperation, weil die Auswertung rechts beginnen muss. Schwächere Formen des Assoziativgesetzes Folgende Abschwächungen des Assoziativgesetzes werden an anderer Stelle genannt/definiert: Potenz-Assoziativität: i-Potenz-Assoziativität: Idemassoziativität: Alternativität: Linksalternativität: Rechtsalternativität: Flexibilitätsgesetz: Moufang-Identitäten: Bol-Identitäten: linke Bol-Identität: rechte Bol-Identität: Jordan-Identität: Siehe auch Algebra Operatorassoziativität Literatur Einzelnachweise Algebra Arithmetik Mathematischer Grundbegriff
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https://de.wikipedia.org/wiki/Atharvaveda
Atharvaveda
Der Atharvaveda (Sanskrit, m., अथर्ववेद, Atharvaveda, alternativ Atharwaweda) ist eine der heiligen Textsammlungen des Hinduismus. Er enthält eine Mischung von magischen Hymnen, Zauberformeln und anderem Material, das offenbar sehr unterschiedlichen Alters ist. Obwohl vieles sprachlich deutlich jünger ist als die anderen drei Veden (zumindest des Rigveda), finden sich in ihm auch sehr alte Passagen. Man schätzt, dass der Atharvaveda in der zweiten Hälfte des letzten vorchristlichen Jahrtausends kanonisiert wurde, und auch dann erst mit den anderen drei Veden auf eine Stufe gestellt wurde. Er liegt in zwei Rezensionen oder Schulen vor, der bekannteren Shaunaka-Version, und der erst in jüngster Zeit besser erforschten Paippalada-Version. Der Atharvaveda umfasst 20 Bücher in 731 Hymnen mit ungefähr 6000 Versen. Ungefähr ein Siebtel des Atharvaveda ist aus dem Rigveda entnommen. Der Atharveda ist entstanden, als die Sesshaftwerdung in der Gangesebene schon abgeschlossen war. Das Wort für Tiger kommt hier vor, im früheren Rigveda hingegen noch nicht. Jeder der vier Veden, das sind Rigveda, Samaveda, Atharvaveda und Yajurveda, umfasst vier Textschichten. Die älteste Schicht sind jeweils die Samhitas (Hymnen), die nächste Schicht sind die Brahmanas (Ritualtexte), dann kommen die Aranyakas (Waldtexte) und zuletzt die Upanishaden (philosophische Lehren). Die anderen drei Veden waren bestimmten Priestern im vedischen Opferritual zugeteilt: der Hotri („Rufer“) musste den Rigveda auswendig können, der Udgatri („Sänger“) musste den Samaveda beherrschen, und der Adhvaryu (Opferpriester) musste die Mantras des Yajurveda kennen. Als der Atharvaveda in den Kanon aufgenommen wurde, wurde er schlichterhand dem Brahman zugeordnet, obwohl dieser Priester eigentlich die drei anderen Veden auswendig können musste, damit er das Ritual aus dem Hintergrund beobachten und bei Fehlern einschreiten konnte. Deswegen wird er auch als „Arzt des Opfers“ bezeichnet. Die Zuordnung des Brahman zum Atharva Veda ist also eher willkürlich. Im Vergleich zu den drei anderen Veden hatte der Atharvaveda immer die Reputation, vor allem mit Magie zu tun zu haben. Atharvan bedeutet ursprünglich Feuerpriester. Eine andere Sorte Priester waren die Angiras. Magische Formeln, die helfen den Kranken zu heilen, waren Sache der Atharvans. Schwarze Magie, um Feinden oder Rivalen zu schaden, war die Sache der Angiras. Die Heiligkeit des Atharvaveda wurde wegen dieser magischen Inhalte immer etwas in Zweifel gezogen. Der Atharvaveda ist von großer Bedeutung hinsichtlich der medizinischen Vorstellungen der damaligen Zeit. Die Lieder und Zauber zum Heilen von Krankheiten gehören zu den magischen Heilriten (bhaishajyani). Exorzismus und „Frauenriten“ (Liebesmagie) werden ebenso beschrieben. Der Atharvaveda öffnet also ein Fenster zu einer völlig anderen Welt als die des Rigveda. Exorzismus Literatur (Vedisch)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Anatomie
Anatomie
Die Anatomie (dem Erkenntnisgewinn dienende ‚Zergliederung‘ von tierischen und menschlichen Körpern; aus , und ) ist ein Teilgebiet der Morphologie und in der Medizin bzw. Humanbiologie (Anthropotomie), Zoologie (Zootomie) und Botanik (Phytotomie) die Lehre vom Bau der Organismen. Es werden Gestalt, Lage und Struktur von Körperteilen, Organen, Geweben oder Zellen betrachtet. Die pathologische Anatomie befasst sich mit krankhaft veränderten Körperteilen. Die mikroskopische Anatomie befasst sich mit den feineren biologischen Strukturen bis zur molekularen Ebene und knüpft an die Molekularbiologie an. Die klassische Anatomie verwendet eine standardisierte Nomenklatur, die auf der lateinischen und der griechischen Sprache basiert. Ein mit der Anatomie befasster Arzt oder Naturwissenschaftler ist ein Anatom. Der Begriff Anatomie wird schon seit dem frühen 16. Jahrhundert (auch als anatomei) auch allgemeiner und übertragen verwendet in der Bedeutung „Zergliederung, Strukturbestimmung, Analyse von konkreten und abstrakten Dingen“, auch „Struktur, (Auf-)bau“, z. B. Anatomie des Bodens, der Kunst, der Gedanken, der Gesellschaft. Geschichte Zitat: „Ärzte ohne Anatomie sind Maulwürfen gleich: sie arbeiten im Dunkeln, und ihrer Hände Tagwerk sind Erdhügel.“ (Friedrich Tiedemann). Die frühesten erhaltenen anatomischen Studien finden sich im Papyrus Edwin Smith, der auf das 17. Jahrhundert v. Chr. datiert wird. Behandelt werden u. a. das Herz und die Herzkranzgefäße, Leber, Milz und Nieren, Hypothalamus, Gebärmutter und Blase sowie die Blutgefäße. Der Papyrus Ebers aus dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts v. Chr. enthält ein Traktat zum Herzen, in dem auch die Blutgefäße beschrieben werden. Nomenklatur, Methodik und Anwendungen gehen auf die griechischen Ärzte der Antike zurück. Beschreibungen von Muskeln und Skelett finden sich im Corpus Hippocraticum (v. a. Über die Knochenbrüche und Über die Gelenke), wobei in der hippokratischen Medizin die menschliche Physiologie eine größere Bedeutung hatte als die Anatomie. Aristoteles beschrieb anhand der Sektion von Tieren die Anatomie der Wirbeltiere. Praxagoras von Kos kannte bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. den Unterschied zwischen Arterien und Venen. Anfänge einer systematischen Anatomie entstanden im alten Babylon. Eine erste anatomische Schule gab es im 2. Jahrhundert v. Chr. in Alexandria. Die Herrscher des Ptolemäerreiches (in Betracht kommen Ptolemaios I. und vor allem Ptolemaios II.) erlaubten dort die Leichenöffnung für anatomische Studien, meist an Exekutierten. Herophilos von Chalkedon (geboren im letzten Drittel des 4. Jahrhunderts v. Chr.) führte die ersten wissenschaftlichen Obduktionen und auch Vivisektionen an Mensch und Tier durch. Er soll 600 Strafgefangene lebend seziert haben und gilt als „Vater der Anatomie“. Er verwarf die Ansicht von Aristoteles, das Herz sei der Sitz des Intellekts und nannte dafür das Gehirn. Weitere Anatomen in Alexandria waren Erasistratos (im 3. Jahrhundert v. Chr.) und Eudemos von Alexandria. Herophilos und Erasistratos gelten als Begründer der anatomischen Studien an menschlichen Leichen. Die von Rufus von Ephesos im 2. Jahrhundert verfasste Abhandlung Über die Bezeichnung der Körperteile des Menschen ist das älteste erhaltene anatomische Lehrbuch, dessen Hauptanliegen die Vermittlung anatomischer Nomenklatur war. Gemäß Rufus wurde der theoretische Unterricht durch Veranschaulichungen an lebenden Personen ergänzt, wobei die äußeren Körperteile an Sklaven demonstriert wurden. Galenos von Pergamon fasste im 2. Jahrhundert n. Chr. das medizinische Wissen der antiken Ärzte systematisch zusammen, unter anderem in einem 15-bändigen Anatomie-Werk Über die Verfahrensweise beim Sezieren. Als Arzt von Gladiatoren konnte er verschiedenste Arten von Wunden und so auch die Anatomie des Menschen genau studieren. Weitere Studien betrieb er an Schweinen und Affen. Seine Schriften bildeten die Basis für die Werke des Mittelalters, so auch für den Kanon der Medizin von Avicenna. Seit etwa 1300 wurden, vor allem in Oberitalien, gelegentlich anatomische Lehrsektionen vorgenommen. Derartige Demonstrationen dienten jedoch vor allem dem Zweck, die Lehren der antiken Autoren bzw. Autoritäten zu bestätigen. Das Lehrbuch der Anatomie von Mondino dei Luzzi († 1326) beruht zum Teil schon auf eigenen Sektionsbefunden. Ab dem 15. Jahrhundert erfuhr die Anatomie, inspiriert durch Ideen des Humanismus und der Renaissance, neue Impulse. Nachdem im Mittelalter die Anatomie keine großen Fortschritte gemacht hatte, korrigierte der flämische Anatom Andreas Vesalius (1514–1564) die über Jahrhunderte kaum hinterfragten Annahmen bzw. Glaubenssätze, was viele seiner Kollegen empörte. Seine die Anatomie reformierende Arbeit machte ihn zum Begründer der modernen Anatomie. Ausgehend von oberitalienischen Vorbildern erlangte der anatomische Unterricht mittels des Sezierens von menschlichen Leichen im 16. Jahrhundert auch im deutschsprachigen Raum seine Verbreitung. So etwa ab spätestens 1530 in Deutschland, ab 1535 durch Burghard Mithobius (1501–1564) an der Universität Marburg. Weitere bedeutende Anatomen des 16. Jahrhunderts waren etwa Gabriele Falloppio, Bartolomeo Eustachi, Giulio Cesare Aranzio und Giovanni Battista Canano (1515–1579, genannt auch Giambattista Canano), am Übergang zum 17. Jahrhundert etwa Girolamo Fabrizio ab Acquapendente, Adriaan van den Spieghel, Felix Platter und Caspar Bauhin. Die Begründung des modernen anatomischen Denkens erfolgte um 1543 bis 1638. William Harvey (1578–1657) gilt als Entdecker des Blutkreislaufs und als Wegbereiter der modernen Physiologie. Die Anatomie nahm seit dem 16. Jahrhundert einen hohen Stellenwert in den bildenden Künsten ein, Sektionen an Menschen und Tieren gehörten zur Grundausbildung der Studenten. Künstler wie Michelangelo, Raffael, Dürer und Leonardo da Vinci brachten Jahre mit dem Studium des menschlichen Körpers zu. Da Vincis Codex Windsor übertraf in seiner wissenschaftlichen Genauigkeit die Arbeiten des 62 Jahre später geborenen Vesalius. Die enge Zusammenarbeit von Künstlern und Anatomen ließ medizinische Schriften von außergewöhnlich hoher Qualität entstehen wie zum Beispiel das Lehrbuch des Flamen Philip Verheyen (1648–1710). Im Zeitalter der Aufklärung errichtete man anatomische Theater, die neben dem wissenschaftlichen Wert einen hohen Schauwert hatten. Bedeutende Anatomen des 17. Jahrhunderts waren in England unter anderem Francis Glisson, Thomas Wharton, Nathaniel Highmore, William Cowper sowie Thomas Willis, in den Niederlanden Reinier de Graaf, Jan Swammerdam, Frederik Ruysch, Nicolaes Tulp sowie Anton Nuck, und in Frankreich Jean Riolan, Raymond Vieussens, Jean Pecquet sowie der Genfer Théophile Bonet. Bedeutende Anatomen des 18. Jahrhunderts waren in Italien unter anderem Antonio Valsalva und Giovanni Domenico Santorini, in Frankreich François Pourfour du Petit und Joseph Lieutaud, in England James Douglas, William Hunter und John Hunter, in den Niederlanden Bernhard Siegfried Albinus und Peter Camper und in Deutschland beispielsweise Carl Caspar von Siebold, Johann Zinn, Johann Nathanael Lieberkühn, Samuel Thomas von Soemmerring, Heinrich August Wrisberg und Johann Friedrich Meckel. Zu den wenigen Anatominnen dieser Zeit zählt Anna Morandi Manzolini (1716–1774) in Bologna. Das erste bedeutende japanische Anatomiebuch entstand ab 1754 durch Yamawaki Tōyō. Den ersten populär gewordenen fotografischen Anatomieatlas veröffentlichten 1982/83 Johannes W. Rohen und Chihiro Yokochi. Zu den bedeutenden Anatomen des 19. Jahrhunderts gehörte etwa Albert von Koelliker, zu denen des 20. Jahrhunderts etwa Anton Johannes Waldeyer, Professor an der Universität Berlin, der in den 1940er Jahren ein Lehrbuch publizierte. Durch die intensive Anwendung der Gewebezüchtung auf die Zellenlehre durch Alexis Carrel sowie die Berücksichtigung anthropologischer Fragen, von Umwelteinflüssen und der Auswirkungen der Lebensweise und Beschäftigung auf die Konstitution der Menschen erweiterte die Anatomie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihr Arbeitsfeld. Ab etwa 1925 wurde die Anatomie vermehrt vom funktionellen Gedanken geleitet (beispielsweise Hermann Braus, im Gegensatz zu Vertretern der biologisch eingestellten vergleichenden Anatomie wie Hans Böker), wendet sich zunehmend praktischen Zielen zu und arbeitete eng mit der Vertretern der praktischen Heilkunde und der Hygiene zusammen. Arbeitsgebiete Makroskopische Anatomie Die makroskopische Anatomie beschäftigt sich mit dem Aufbau des Menschen, von Tieren oder Pflanzen, und zwar mit allen Dingen, die man mit dem bloßen Auge sehen kann. Beachtet hierbei werden nicht nur äußerlich sichtbare Strukturen, sondern insbesondere auch die Strukturen, welche nach Auf- und Auseinanderschneiden des Körpers zu beobachten sind. Nach der Art der Herangehensweise wird die makroskopische Anatomie unterteilt: Die beschreibende oder deskriptive Anatomie ist die wohl antiquierteste Art der Vermittlung der Anatomie. Bei ihr werden die einzelnen Strukturen des Körpers lediglich hinsichtlich ihrer äußerlichen Erscheinung vermittelt. Funktionelle, topografische und systematische Aspekte werden nicht berücksichtigt. Bei allen Nachteilen hat aber auch die modern vermittelte Anatomie immer einen deskriptiven Anteil, denn ein Arzt muss in der Lage sein, krankhafte Veränderungen an einem Organ zu erkennen. Die topographische Anatomie (gefördert ab 1847 durch Joseph Hyrtl) beschreibt die einzelnen Strukturen des Körpers nach ihren räumlichen Lagebeziehungen zueinander (topos: griech. „Ort“). Der große Vorteil liegt sicherlich darin, dass der Arzt/Tierarzt ein sehr anwendungsorientiertes Wissen erwirbt. So ist es z. B. für einen Handchirurgen nicht ausschließlich wichtig, zu welchem größeren Organsystem eine Struktur gehört, er muss besonders wissen, wo Nerven, Blutgefäße bzw. Sehnen genau verlaufen. Auch für die Anwendung bildgebender Verfahren sind topografisch-anatomische Kenntnisse von großer Bedeutung. Die Topographische Anatomie bedient sich standardisierter Lage- und Richtungsbezeichnungen, die von der aktuellen Körperposition unabhängig sind und stattdessen relative Bezugspunkte verwendet. Funktionelle Zusammenhänge können nicht nur aus strukturellen und insbesondere topographischen Eigentümlichkeiten des Aufbaus von körperlicher Gestalt und Organen, sondern insbesondere auch aus der somatotopischen Struktur des Nervengewebes erschlossen werden. Die systematische Anatomie, welche im 20. Jahrhundert die topographische Anatomie verdrängt hatte, gruppiert die einzelnen Strukturen des Körpers zu funktionell-zusammenhängenden Organsystemen. Dies ermöglicht zwar eine gewisse Kategorisierung und erleichtert das Erlernen, hat aber auch Nachteile. Topografische Aspekte, wie sie der Arzt/Tierarzt im klinischen Alltag bewältigen muss, bleiben unberücksichtigt. Zudem sind alle Organsysteme auch wieder untereinander verknüpft, die Haut besitzt z. B. Blutgefäße, Nerven, Zellen der Immunabwehr usw. Die vergleichende Anatomie untersucht den Körperbau verschiedener Tierarten. Bereits die klassische biologische Systematik beruhte auf baulichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden für die Einteilung von den Reichen bis zu den Arten, zunehmend werden aber auch genetische Differenzen in die Klassifikation einbezogen. Mit der Gegenüberstellung und dem Vergleich verschiedener Tierarten lassen sich manchmal Beobachtungen an einer Tierart überhaupt erst deuten. Darüber hinaus bietet dieser Vergleich die Möglichkeit, bestimmte bauliche Grundprinzipien zu erkennen und damit die Basis für eine gemeinsame Benennung zu schaffen. Frühe Grundlagen der vergleichenden Anatomie waren die naturwissenschaftlichen Errungenschaften des Aristoteles. Erste Vorlesungen auf dem Gebiet der Vergleichenden Anatomie hielt Johann Friedrich Blumenbach ab 1785. Der Mediziner, Anatom und Physiologe Hermann Friedrich Stannius (1808–1883) aus Rostock führte den Begriff Zootomie ein, welcher sich fast gänzlich mit dem Begriff der vergleichenden Anatomie deckt. Zu den bedeutenden Vergleichenden Anatomen des 19. Jahrhunderts gehörten auch Joseph Hyrtl und Robert Wiedersheim. Mikroskopische Anatomie Für die Untersuchung anatomischer Strukturen unterhalb des mit bloßem Auge sichtbaren Bereichs ist die Mikroskopische Anatomie (Histologie) zuständig. Sie beschreibt den Feinbau von Organen, Geweben und Zellen. Embryologie Die Embryologie beschreibt die Entstehung der anatomischen Strukturen während der Embryonalentwicklung. Anhand der Entstehungsgeschichte lassen sich vielfältige topografische und funktionelle Beziehungen erkennen. Auch für das Verständnis der Entstehung von Fehlbildungen sind embryologische Kenntnisse unverzichtbar. Aufgaben in der Ausbildung Ein wichtiges Gebiet der Anatomie ist die Bereitstellung von Anschauungsmaterialien zur Arztausbildung. Dies geschieht in Präparierkursen und -übungen, Vorlesungsveranstaltungen, anatomischen Sammlungen, anatomischen Museen, vergleichenden anatomischen Sammlungen oder anatomischen Lehrsammlungen. Entsprechendes gilt für die Erstellung anatomischer Lehrbücher und Atlanten, in denen auch heute noch feine Zeichnungen (Strichzeichnungen) ihre didaktische Bedeutung haben. Auch von bildenden Künstlern (etwa Leonardo da Vinci) werden Erkenntnisse der Anatomie, vermittelt durch die Plastische Anatomie, genutzt. Der Wiener Anatomieprofessor Josef Hyrtl schrieb in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Anatomie: „[Sie] zerstört mit den Händen einen vollendeten Bau, um ihn im Geiste wieder aufzuführen, und den Menschen gleichsam nachzuerschaffen. Eine herrlichere Aufgabe kann sich der menschliche Geist nicht stellen. Die Anatomie ist eine der anziehendsten, und zugleich gründlichsten und vollkommensten Naturwissenschaften, und ist dieses in kurzer Zeit geworden, da ihre Aera erst ein paar Jahrhunderte umfasst.“ Siehe auch Plastination Visible Human Project (Voxel-Man) Anatomische Lage- und Richtungsbezeichnungen Literatur Gerhard Baader: Zur Anatomie in Paris im 13. und 14. Jahrhundert. In: Medizinhistorisches Journal. Band 3, 1968, S. 40–53. Axel W. Bauer: „De sedibus et causis morborum“. Der Zugriff der neuzeitlichen Medizin auf den toten Körper als Erkenntnismethode und Grenzverletzung. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. Band 24, 2005, S. 162–179. Jean Marc Bourgery, N. H. Jacob: Atlas of Human Anatomy and Surgery. The complete colored Plates of 1831–1854. Jean-Marie Le Minor, Henri Sick: Atlas der Anatomie und Chirurgie von J. M. Bourgery und N. H. Jacob. Ein Monumentalwerk des 19. Jahrhunderts. Dreisprachig (französisch, englisch, deutsch), Faksimile-Reprint 726 handkolorierte Lithografien, Großformat. Taschen, Köln 2005, ISBN 2-286-01268-7. Gordon Cheers: Anatomica, Körper und Gesundheit, das komplette nachschlagewerk. Tandem Verlag, München 2004, ISBN 3-8331-1286-7. Rüdiger Döhler, Thaddäus Zajaczkowski, Caris-Petra Heidel: Johann Adam Kulmus – zur Bedeutung seiner anatomischen Tabellen für die Chirurgie in Europa und für die Medizinerausbildung in Japan. In: Der Chirurg. Band 61, 2020, S. 1070–1077. doi:10.1007/s00104-020-01231-6. Heinz Feneis: Anatomisches Bildwörterbuch der internationalen Nomenklatur. 2. Auflage. 1970; 4. Auflage ebenda 1974. Käthe Heinemann: Das erste anatomische Institut in Deutschland. In: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin. Band 41, 1957, S. 207–212. Werner Kahle, Helmut Leonhardt, Werner Platzer: Taschenatlas der Anatomie für Studium und Praxis. 6., überarbeitete Auflage. Stuttgart 1996, ISBN 3-13-102516-6 (Band 1: Bewegungsapparat), ISBN 3-13-102526-3 (Band 2: Innere Organe), ISBN 3-13-102536-0 (Band 3: Nervensystem und Sinnesorgane). Gundolf Keil, Bernhard D. Haage, Wolfgang Wegner, Christoph Schweikardt: Anatomie. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 55–61. Leonardo da Vinci: Anatomische Zeichnungen. Aus der königlichen Bibliothek auf Schloss Windsor. Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1979. Johannes Möller, Paul Müller: Grundriß der Anatomie des Menschen. Für Studium und Praxis. 6. Auflage, bearbeitet von Graf Haller von Hallerstein. Walter de Gruyter & Co., Berlin 1933. Joachim-Hermann Scharf: Die nomina anatomica im System der Wissenschaftssprache im Wandel der Zeiten. In: Verhandlungen der anatomischen Gesellschaft. Band 80, 1986, S. 27–73. Ernst Seidl, Philipp Aumann: KörperWissen. Erkenntnis zwischen Eros und Ekel. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Andreas%20Vesalius
Andreas Vesalius
Andreas Vesal oder latinisiert Andreas Vesalius (aus flämisch Andries van Wezel, eigentlich Andreas Witinck bzw. Andries Witting van Wesel (te Brussel), auch Andreas Witing; * 31. Dezember 1514 in Brüssel; † 15. Oktober 1564 auf Zakynthos/Griechenland) war ein flämischer Anatom und Chirurg der Renaissance bzw. des Humanismus deutscher Abstammung. Er gilt als Begründer der neuzeitlichen Anatomie und des morphologischen Denkens in der Medizin. Vesal wirkte als Dozent an der Universität von Padua. Er war zudem Leibarzt Kaiser Karls V. und König Philipps II. von Spanien. Bekannt wurde er vor allem durch sein 1543 erschienenes Hauptwerk De humani corporis fabrica libri septem („Sieben Bücher vom Bau des menschlichen Körpers“), womit er einen lange Zeit unübertroffenen Beitrag humanistischer Gelehrsamkeit zur Kenntnis der Anatomie des Menschen geschaffen hat. Durch seine Arbeiten zu Abnormitäten der Organe legte er zudem den Grundstein zur pathologischen Anatomie. Leben Andreas Vesal (bzw. Andries van Wesel) stammte aus einer alten Weseler Familie (der Name Vesal erinnert noch daran), die jedoch früh auswanderte. Der Vater Andries van Wesel (1479–1544) war habsburgischer Leibapotheker am Kaiserhof Karls V. in Flandern, die Mutter hieß Elisabeth Crabbe. Vesal besuchte die Schule in Brüssel, studierte ab 1530 an der Universität Löwen alte Sprachen und Wissenschaften und erhielt dort seine humanistische Bildung. 1531 wechselte er zur Medizin. Vesalius ging 1533 nach Paris, um mit Miguel Serveto unter Jacques Dubois (Jacobus Sylvius) und Johann Winter von Andernach galenische Medizin und Anatomie zu studieren. Er war jedoch von Sylvius’ strikter Anlehnung an Galenos (Galen) und von der realitätsfernen Ausbildung an der Universität enttäuscht und verließ Paris 1536 wegen des Dritten Krieges Karls V. gegen Franz I. wieder. Er kehrte nach Löwen zurück und beendete dort sein Studium. Weil er sich selbst Gewissheit über anatomische Einzelheiten verschaffen wollte, über die er an der Universität aus den Lehren von Galen gehört hatte, verschaffte er sich dort die Leiche eines Hingerichteten und präparierte das Skelett. Hierbei stellte er Abweichungen zu den Angaben von Galen fest. In Löwen konnte Vesal dank guter Beziehungen zur Obrigkeit 1537 seine erste öffentliche Leichenöffnung (Sektion) durchführen. Anfang 1537 gab Vesal als Kandidat der Medizin (ein dem Master vergleichbarer Abschluss) in Brüssel sein philosophisches Erstlingswerk heraus, die Paraphrasis ad nonum librum Rhazae, eine Beschäftigung mit den Theorien und Methoden des persischen Arztes Rhazes (Abu Bakr Muhammad ibn Zakariya ar-Razi), der etwa von 860 bis 925 gelebt hatte. Danach ging er nach Oberitalien. Am 3. Dezember 1537 wurde er promoviert; tags darauf wurde er in Padua zum Professor der Chirurgie und Anatomie ernannt. So lehrte er die nächsten Jahre als Lehrstuhlinhaber in Padua. Später zog er nach Venedig, wo er 1537 zu Besuch gewesen war und dort erfolgreich Pleuritis-Kranke operiert hatte. In Anerkennung seiner hervorragenden Kenntnisse erhielt Vesalius vom venezianischen Senat einen fünfjährigen Zeitvertrag als Professor für Chirurgie, mit Lehrverpflichtung in Anatomie. Im großen venezianischen Stadtspital konnte er nicht nur „seine anatomischen und medizinischen Kenntnisse vertiefen, sondern auch im Hinblick auf seine musischen Neigungen wesentliche Anregungen von der Malschule des Tizian […] empfangen.“ Während seines Aufenthaltes in Venedig lernte er den gleichfalls vom Niederrhein stammenden Maler und Holzschneider Jan Stephan van Calcar kennen, der großen Einfluss auf die künstlerische Gestaltung seiner wissenschaftlichen Werke hatte. Vesal, im Schrifttum seiner Zeit Vesalius genannt, führte um 1542 eine (rhythmische) Beatmung über ein in die Luftröhre eingebrachtes Röhrchen, einen Tubus aus Schilfrohr, durch und brachte damit ein stillstehendes Herz wieder zum Schlagen. Diese 1543 publizierte erste belegte endotracheale Intubation erfolgte nur im Tierversuch und fand keine weitere Beachtung. Sechs anatomische Flugblätter für Studenten, die Tabulae anatomicae sex, gab Vesal 1538 in Venedig heraus. Zumindest hier gilt als gesichert, dass Jan Stephan van Calcar die dazugehörigen Skelettzeichnungen anfertigte. Einen Monat später gab Vesal eine Neuausgabe der Institutiones anatomicae des Johann Winter ohne dessen Wissen heraus. Sie war als Kompendium für Studenten gedacht. Vesals Aderlassbrief erschien 1539, drei weitere Traktate zu einer großen Galen-Ausgabe verfasste er 1541. Kaiserlicher Leibarzt Im Jahr 1544 reiste Andreas Vesal nach Pisa, nachdem er sich Karl V. als Leibarzt verpflichtet hatte, und hielt dort eine öffentliche Sektion ab. Auch ein Lehramt an der Universität Pisa wurde ihm angetragen, doch die Annahme des Rufs wurde ihm von Kaiser Karl V. verwehrt. Vesal zog nach Brüssel und war weiter schriftstellerisch tätig. Er publizierte 1546 eine Abhandlung über die Chinawurzel und heiratete im selben Jahr. Als sich Kaiser Karl V. 1556 nach Spanien zurückzog, wollte er Vesal, mit einer Leibrente versehen, in den Niederlanden zurücklassen. Ein Jahr zuvor, 1555, war die zweite Auflage der „Fabrica“ erschienen, die in einer noch schöneren Typographie nach dem Entwurf des französischen Schriftsetzers Claude Garamond wieder zu einem Meisterwerk der europäischen Buchkunst geraten war (die Bücher 1–5 kamen schon 1552 auf den Markt). Unzählige kleinere Veränderungen hatte Vesal in diese Ausgabe eingearbeitet. Sie enthielt auch Antworten auf Angriffe gegen ihn und zudem war sie durch eine freiere Haltung gegenüber Galen gekennzeichnet. Vesals wissenschaftliches Interesse erlosch nun zwar nicht, doch trat er in den Dienst Philipps II. von Spanien, dessen Hof 1559 nach Madrid verlegt wurde. Vesal war jetzt Arzt des niederländischen Hofstaates. Schließlich unternahm er 1564 eine Pilgerreise ins Heilige Land, von der er nicht mehr zurückkam: Während der Rückreise von Jerusalem erkrankte er und musste an Land gehen. In Zante starb er. Er soll von Pilgern bestattet worden sein. Legenden um diesen frühen Tod brachten Vesalius mit der Inquisition in Verbindung. Hubertus Languetus schrieb ein Jahr nach Bekanntwerden seines Todes an den Arzt Caspar Peucer, Vesalius habe aus Versehen einen Menschen bei lebendigem Leib seziert und sei zur Strafe verpflichtet worden, nach Jerusalem zu reisen. Öffentliche Sektionen In Bologna, der Scholarenuniversität, sezierte Vesal 1540 öffentlich: Die erste Vorlesung fand in der Kirche San Salvador statt, die anatomische Demonstration in einem eigens dazu errichteten Anatomischen Theater unter dem sakralen Schutz der Kirche San Francesco. Auch ein deutscher Medizinstudent war eingeladen worden, der Sektion beizuwohnen. Der aus Liegnitz stammende Balthasar Heseler (1508/1509–1567) berichtete später, Vesal habe die Sektion vor etwa 200 Zuschauern, darunter 150 Studenten, vorgenommen. Zunächst habe er sich von der alten Vorgehensweise, deren Vertreter Galen und Mondino er namentlich genannt habe, distanziert, und – statt sofort Brust, Bauch und Schädel zu eröffnen – mit der Myologie (Muskellehre) begonnen, die bis zu Leonardo da Vinci völlig vernachlässigt worden war, und alle Details der Myologie und Osteologie (Knochenlehre) dargelegt. Während der Demonstration Vesals habe Jacobus Erigius, ein Mitglied der Medizinischen Fakultät Bolognas, ebenfalls eine Leiche seziert und sich wegen seines unsachgemäßen Vorgehens den Spott des Ersteren zugezogen. Seitdem die Zahl der Sektionen in Padua häufiger geworden war, hatte Vesalius nicht nur die Autorität des Galen ins Wanken gebracht, sondern durch vermehrte Berücksichtigung von Organ-Abnormitäten den Grundstein für die spätere pathologische Anatomie gelegt. De humani corporis fabrica libri septem In den Jahren 1538 bis 1542 bereitete Vesal das große Werk De humani corporis fabrica libri septem (lateinisch für „Sieben Bücher über den Aufbau des menschlichen Körpers“) vor, das die neuzeitliche Anatomie begründete. Die Konsequenz, Konzentration und der manische Eifer, die Fabrica zu vollenden, ließen ihn bei seinen Mitmenschen schweigsam und melancholisch (taciturnus et melancholicus) erscheinen. Während Vesal Professor und Prosektor war, sezierte er 1539 die Leichen aller in Padua Hingerichteten. 1540 folgten anatomische Demonstrationen in Bologna. Im Vorwort zur Fabrica übte er vehemente Kritik an der anatomischen Lehre Galens, der selbst nie ein Hehl daraus gemacht hatte, nur Tierkadaver seziert zu haben. Dieses sorgfältig typographisch ausgestattete Lehrbuch zeigt rund 200 zum Teil ganzseitige Illustrationen. Darin vertrat Vesal entgegen der allgemeinen Überzeugung die Ansicht, allein der menschliche Leib sei der zuverlässige Weg zur Erkenntnis des menschlichen Körperbaus. Darüber hinaus zeichnete er darin, sich dabei auf Plinius beziehend, eine Abstammungslinie vom Affen über die Pygmäen hin zum Menschen. De humani corporis fabrica libri septem (nebst deren Auszug für Chirurgen), fertiggestellt 1542, erschien erstmals 1543 in Basel bei dem Verleger Johannes Oporinus. Vesalius hatte die Holzstöcke seiner Illustrationen, fertig geschnitten, zusammen mit den Probeabzügen nach Basel bringen lassen. Er selbst folgte 1543 nach und hielt in Basel im Mai unter Assistenz des Ratsherrn und zünftischen Wundarztes Franz Jeckelmann (später Schwiegervater von Felix Plater) ein berühmt gewordenes anatomisches Kolloquium ab. Das hierbei von Vesalius präparierte sogenannte Vesalsche Skelett ist noch heute erhalten und das älteste Stück der anatomischen Sammlung in Basel. Es soll 1543 aus den sterblichen Überresten des Straftäters Jakob Karrer von Gebweiler präpariert worden sein. Mit seinem revolutionären, in humanistischer Weise in ciceronischem Latein verfassten Werk und der Lösung von den anatomischen Lehren Galens war der als Humanist handelnde Vesal, der für seine Sektionen auch auf antike alexandrinische Vorbilder des 3. Jahrhunderts v. Chr. zurückgriff, der Hauptbegründer der neuzeitlichen Anatomie und Reformer deren Nomenklatur, bei der Vesal auf den Wortschatz der antiken römischen Medizinschriftsteller und insbesondere den von Aulus Cornelius Celsus zurückgriff. Als anatomisch unhaltbar griff er (auf S. 515 seiner Fabrica) die These an, dass die Niere durch ein Sieb in zwei Höhlen getrennt sei. Vesal beschrieb erstmals die Bänder der Gelenke und den Zwischengelenkknorpel des Kiefergelenks und identifizierte als Erster die Pulpahöhle. Seine Schüler führten diese auf Erfahrung beruhende Anatomie weiter. Leonhart Fuchs bearbeitete Vesals Werk und gab es 1551 zunächst unter dem lateinischen Titel De humani corporis fabrica ex Galeni et Andreae Vesalii libris concinnata in Tübingen heraus, ließ aber im selben Jahr auch eine deutschsprachige populärwissenschaftliche Fassung verbreiten. Vesal beschrieb eingehend das Ventrikelsystem des menschlichen Gehirns und schuf damit eine der Grundlagen der Neurochirurgie. Auch wenn er keine „Poren“ in der Herzscheidewand (Septum) gefunden hat, hielt Vesal am Irrtum Galens fest, dass Blut aus dem rechten Herzen durch das Septum in die linke Herzkammer fließe. Illustrationen aus De humani corporis fabrica libri septem Ehrung Die Pflanzengattung Vesalea aus der Familie der Geißblattgewächse (Caprifoliaceae) wurde 1844 nach ihm benannt. 1970 wurde der Mondkrater Vesalius und 1987 der Asteroid (2642) Vésale nach ihm benannt. Gleiches gilt für den Mount Vesalius in der Antarktis. Schriften Andreas Vesalius: Scholae Medicorum Patauinae Professoris, De humani corporis fabrica libri septem De humani corporis fabrica libri septem. Johannes Oporinus, Basel (Juni) 1543, doi:10.3931/e-rara-20094 (2. Auflage ebenda 1555; Neudruck Brüssel 1970.) De humani corporis fabrica librorum Epitome. Basel 1543. The Fabric of the Human Body, the complete English translation of the Fabrica with annotations, stories and images of Vesalius and his work Beispielseiten aus dem Erstdruck seines Hauptwerkes Andreae Vesalii Icones anatomicae. J. F. Lehmanns Verlag, München. (Erster moderner Neudruck sämtlicher Holzschnitte der Werke Vesals.) Englische Übersetzung der Fabrica mit Kommentar (im Aufbau) Andreas Vesalius, VESALIUS Projekt. Infos zu den neuen DVD „De Humani Corporis Fabrica“ produziert von der Bibliothek der Gesundheitswissenschaften des Universitätskrankenhauses Ferrara – Italien.(Fabrica auf CD; aber nicht erhältlich) Quellen Jacob Baumann (Hrsg.): Anatomia, Deudsch. Ein kurtzer Auszug der beschreibung aller glider menschlichs Leybs aus den buchern des Hochgelerten Hern D. Andree Vesalij von Brüssel. […] sampt den Figuren und derselben außlegung allen diser loeblichen kunst liebhabern […], sonderlich wundaertzten Deutscher nation zu nutz ins deutsch gebracht. Jul. Paulus Fabricius, Nürnberg (August) 1551. Reprint: Zentralantiquariat der Deutschen Demokratischen Republik, 1982; Neudruck Reprint-Verlag, Leipzig um 1995, ISBN 3-8262-2201-6. Ruben Eriksson (Hrsg.): Andreas Vesalius’ First Public Anatomy at Bologna 1540. An eyewitness report by Baldasar Heseler, medicinae scolaris, together with his notes on Matthaeus Curtius’ Lectures on Anatomia Mundini. Almqvist & Wiksells, Uppsala/ Stockholm 1959. (Edition der lateinischen Texte mit englischer Übersetzung) Herman Boerhaave, Bernhard Siegfried Albinus (Hrsg.): Andreae Vesalii Opera omnia anatomica et chirurgica. J. du Vivie & J. u. H. Verbeck, Leiden 1725. Literatur Ernst Cassirer: The Place of Vesalius in the Culture of Renaissance. In: Journal of Biology and Medicine. Band 16, 1943/1944, S. 121 ff. Andrew Cunningham: The Anatomical Renaissance. The resurrection of the anatomical projects of the ancients. Ashgate, Aldershot u. a. 2003, ISBN 1-85928-338-1. Harvey Cushing: A bio-bibliography of Andreas Vesalius. Schuman’s, New York 1943; 2. Auflage. Archon, Hamden (Conn.) 1962. Ludwig Edelstein: Andreas Vesalius, the Humanist. In: Bulletin of the History of Medicine. Band 14, 1943, S. 547–561. Karlheinz Klimt: Lutherus medicinae – aus dem Leben eines Leichenräubers. Projekte-Verlag, Halle/Saale 2010, ISBN 978-3-86237-227-0. Axel Hinrich Murken (Hrsg.): Die schönsten Holzschnitte aus Andreas Vesals „De humani corporis fabrica libri septem“. Coppenrath, Münster 1978. Charles Donald O’Malley: Andreas Vesalius of Brussels, 1514–1564. University of California Press, Berkeley u. a. 1964. Gernot Rath: André Vésale. In: Exempla historica. Epochen der Weltgeschichte in Biographien. Band 27, Fischer, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-596-17027-3, S. 23–41. Moritz Roth: Andreas Vesalius Bruxellensis. G. Reimer, Berlin 1892. Friedrich Rudolf: Ein Erinnerungsblatt an Andreas Vesalius. In: Basler Jahrbuch 1943, S. 113–121. Richard Toellner: „Renata dissectionis ars“. Vesals Stellung zu Galen in ihren wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen und Folgen. In: August Buck (Hrsg.): Rezeption der Antike. Zur Problematik der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance. Hamburg 1981, S. 85–95. Barbara I. Tshisuaka: Vesal[ius], Andreas. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1440 f. Ralf Vollmuth: Renaissance: Ein neuer Blick auf den Menschen. In: Medizin im Mittelalter. Zwischen Erfahrungswissen, Magie und Religion (= Spektrum der Wissenschaften. Spezial: Archäologie Geschichte Kultur. Band 2.19), 2019, S. 76–81, hier: S. 77–79. Weblinks Einzelnachweise Anatom Mediziner (16. Jahrhundert) Hochschullehrer (Universität Padua) Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Geboren 1514 Gestorben 1564 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Amulett
Amulett
Ein Amulett ist ein als „Anhängsel“ tragbarer Gegenstand, dem magische Kräfte zugeschrieben werden, mit denen er Glück bringen (energetische, sakramentale Wirkung) und vor Schaden schützen (apotropäische Wirkung etwa als „Artzney so man ann Hals henckt“) soll. In seiner glückbringenden Eigenschaft und meist größerer Ausführung wird es auch als Talisman bezeichnet. Das Amulett hat mit seiner magischen Wirkung Parallelen zur Votivgabe. Während die Votivgabe typischerweise an einem geeignet erscheinenden Ort hinterlegt wird, dient das Amulett dazu, am Körper oder in einer Tasche mitgeführt zu werden. Abgesehen von seinem zugedachten magischen Aspekt kann das Amulett auch sichtbar als Schmuckstück oder als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer meist religiösen Gemeinschaft getragen werden. Etymologie Die genaue Etymologie des Wortes ist ungeklärt. Der lateinische Begriff amuletum, von dem das deutsche Wort ab Anfang des 18. Jahrhunderts entlehnt ist, findet sich mehrfach in der Naturalis historia Plinius’ des Älteren (1. Jahrhundert n. Chr.) und wird von verschiedenen Autoren als Abwehrmittel gegen Unheil auf amoliri ‚abwenden, entfernen‘ zurückgeführt. Von anderen Wissenschaftlern wurde eine Herkunft aus der arabischen Wurzel ḥ-m-l () vermutet, gegen die Johann Gildemeister in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft argumentierte. Möglicherweise besteht als (gesundheitsfördernde bzw. schadenabwendende) ‚Speise aus Stärkemehl‘ eine Verwandtschaft mit griechisch-lateinisch amylum bzw. amulum (Stärkemehl) und diese wurde dann volksetymologisch auf lateinisch amoliri („abwenden“) bezogen. Verwendung Amulette werden am Körper (oft auch als Schmuck) oder in der Kleidung getragen, in Fahrzeugen oder der Behausung aufbewahrt oder dem Vieh umgehängt. Sie können aus einer Vielzahl von Materialien bestehen und durch sie soll der Träger passiv geschützt werden. Schon in der Vorgeschichte hängten sich Menschen Überreste (Zähne und Krallen) ihrer erlegten Beute um. Sie sollten dem Träger die Kraft des Tieres geben. Amulette fanden Anwendung in der Heilkunde, als Schutz von Schwangeren, gegen den Bösen Blick und – beispielsweise die Muskatnuss – als Liebeszauber und gegen eine Vielzahl von Krankheiten. Am Amulett wirkt die animistische Vorstellung, dass magische Kräfte auf den Menschen einwirken, denen er durch das Amulett entgegenwirken kann. Amulette sind in allen Kulturen bekannt. Seit der Steinzeit nutzte man Muscheln oder Perlen und besondere Mineralien wie Bernstein, Horn- oder Beinmaterial (Amulett von Lindholmen), Fossilien und Bergkristalle. In keltischen Siedlungen wurden polierte, durchbohrte Schädelfragmente (Amulette?) bei Grabungen gefunden. Bei den Arabern sind Amulette Ledertäschchen mit eingenähtem Papier, auf das eine Koransure oder ein magisches Zeichen geschrieben ist. Sie verbreiten die islamische Segenskraft Baraka. Eine amulettartige positive Wirkung entfalten im Volksglauben Buntmetalle, besonders Kupfer und Messing. Der Glaube an die medizinische Wirksamkeit von Amuletten erfuhr in Europa besonders von der Frühen Neuzeit bis ins 17. Jahrhundert eine Hochblüte und findet sich etwa bei Paracelsus, Marsilio Ficino, Cornelius Agrippa und Giordano Bruno. Kulturelle Varianten Als Amulett gelten bei den: Alten Ägyptern: Skarabäus, Knoten, Horusauge Assyrern: Täfelchen mit Beschwörungsformeln Chinesen: Lochmünzen, Zauberformeln („fu“) in Geheimschrift Christen: Kreuze, Symbole auf den Kultgewändern, Reliquien, Pilgerzeichen, Pesttaler als talerförmige Amulettmedaillen Alte Griechen: Abaskanton, Bätylien und Goldenes Vlies Germanisch-heidnische Religionen: Donarskeule, Thorshammer Indianern Nordamerikas: Medizinbeutel Persern: Glasköpfchen Maghrebstaaten bis Naher Osten: Hand der Fatima Mauretanien: Fünfermotiv auf Haushaltsgegenständen aus verziertem Leder, wie auf dem Kamelreitsattel Rahla und dem Kissen Surmije. Das „Schüsselamulett“ ist ein geometrisches Motiv auf der Holzschüssel Gdah Römer: verschiedene Symbole der Fruchtbarkeit und der sexuellen Potenz Tuareg: um den Hals hängende Ledertaschen oder silberne Amulettbehälter, silberner dreieckiger oder kreuzförmiger Halsschmuck bei Frauen Türken: Nazar, blaues Auge gegen den Bösen Blick USA, vorwiegend unter Afroamerikanern: Mojo Verständnis im Judentum Amulette sind in der jüdischen Tradition weit verbreitet, und Beispiele für Amulette aus der Zeit Salomos sind in vielen Museen zu finden. Da im Judentum Götzen und Götzenbilder verboten sind, stehen bei jüdischen Amuletten Text und Namen im Vordergrund. Beispiele für Amulette mit Text sind die Silberne Schriftrolle (ca. 630 v. Chr.) und die noch heute gebräuchlichen Mesusa und Tefillin. Ein Gegenbeispiel ist die Hand der Miriam, der Umriss einer menschlichen Hand. Ein weiteres nichttextliches Amulett ist das Siegel Salomos, auch bekannt als Hexagramm oder Davidstern. In einer Form besteht es aus zwei ineinander verschlungenen Dreiecken und wird häufig um den Hals getragen. Ein weiteres gebräuchliches Amulett ist das Chai (Symbol)-(hebräisch: חַי „lebendig“ ḥay), das ebenfalls um den Hals getragen wird. Andere ähnliche Amulette, die noch in Gebrauch sind, bestehen aus einem der Namen des Gottes des Judentums, wie ה (He), יה (YaH) oder שדי (Schaddai), die auf ein Stück Pergament oder Metall, meist Silber, eingraviert sind. Zu den regionalen Traditionen rund um die Geburt von Kindern gehörten häufig Amulette, die dazu dienten, den Teufel, den Bösen Blick oder Dämonen wie Lilith abzuwehren. Sogenannte Wunderrabbiner (Ba'al Shem) waren dafür zuständig, Amulette zu schreiben und die Namen Gottes und schützenden Engel anzurufen. Hebammen stellten ebenfalls Amulette her, die oft mit Kräutern gefüllt waren. In Süddeutschland, im Elsass und in Teilen der Schweiz trugen die jüdischen Jungen für ihre Brit Mila Halsgezeige. Münzen oder Korallensteine an diesen Halsbändern sollten den Bösen Blick von den Jungen ablenken und so als Schutz dienen. Dieser Brauch hielt sich bis ins frühe 20. Jahrhundert. Verständnis im Christentum Der Bagdader Mathematiker, Philosoph und Arzt Qusta ibn Luqa (Qusṭā ibn Lūqā al-Baʿlabakkī) war melchitischer Christ griechischer Abstammung und machte bereits in seiner um 900 entstandenen Schrift über den Wert von Amuletten Glauben und menschliche Einbildungskraft für deren Wirkung verantwortlich. Okkulte oder astrale Eigenschaften verneinte er. In Europa wandte sich die christliche Kirche im Mittelalter ebenfalls gegen den Aberglauben, zu dem auch Amulette gerechnet wurden. Das hinderte den Volksglauben allerdings nicht daran, an Amuletten mit christlichem Bezug festzuhalten. Auch hohe Kirchenmänner besitzen Glücksbringer. So sind etwa im Schatzinventar des Heiligen Stuhls von 1295 15 Natternzungenbäume verzeichnet. Als am 9. Februar 1749 der Fürstbischof Anselm Franz von Würzburg, zeitlebens ein Streiter gegen Aberglauben und Hexenwahn, nach einem Schlaganfall starb, fand man auf seiner Brust ein Amulett aus Messingblech, auf dem ein Pentagramm und einige Zauberformeln eingraviert waren. Siehe auch Fetischismus Pesttaler als talerförmige Amulettmedaillen Literatur Hans Bonnet: Amulett. In: Lexikon der ägyptischen Religionsgeschichte. Nikol, Hamburg 2005, ISBN 3-937872-08-6, S. 26–31. Mariacarla Gadebusch Bondio: Amulett. In: Werner E. Gerabek u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 52 f. Liselotte Hansmann, Lenz Kriss-Rettenbeck: Amulett und Talisman. Erscheinungsform und Geschichte. Callwey, München 1966 (2. Auflage 1977). Erweiterte Neuausgabe: Amulett, Magie, Talisman. Nikol, Hamburg 1999, ISBN 3-933203-21-X Charms and Amulets. In: James Hastings (Hrsg.): Encyclopaedia of Religion and Ethics. Band 3, Charles Scribner’s Sons, New York, NY 1908–1926, S. 392–472, online: Rudolf Kriß: Volksglaube im Bereich des Islam. Band 2: Amulette, Zauberformeln und Beschwörungen. Harrassowitz, Wiesbaden 1962, . Eugen von Philippovich: Kuriositäten – Antiquitäten. Ein Handbuch für Sammler und Liebhaber (= Bibliothek für Kunst- und Antiquitätenfreunde, Band 46), Klinkhardt und Biermann, Braunschweig 1966, . Daniela Schmid: Jüdische Amulette aus Osteuropa – Phänomene, Rituale, Formensprache. (Dissertation) Universität Wien 2012 Thomas Staubli: Amulette. Altbewährte Therapeutica zwischen Theologie und Medizin, in: G. Thomas/I. Karle (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch. Stuttgart 2009. S. 91–114. Weblinks Christa Tuczay: Amulette und Talismane. In: Gudrun Gersmann, Katrin Moeller, Jürgen-Michael Schmidt (Hrsg.): Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung. historicum.net, 9. November 2007 Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Arc%20de%20Triomphe%20de%20l%E2%80%99%C3%89toile
Arc de Triomphe de l’Étoile
Der Arc de Triomphe de l’Étoile (Triumphbogen an der Place de l’Étoile) oder kurz Arc de Triomphe ist ein von 1806 bis 1836 errichtetes Denkmal im Zentrum der Place Charles de Gaulle in Paris. Er gehört zu den Wahrzeichen der Metropole. Unter dem Bogen liegt das Grabmal des unbekannten Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg mit der täglich gewarteten Ewigen Flamme, im Französischen Flamme du Souvenir (dt. Flamme der Erinnerung) genannt, im Gedenken an die Toten, die nie identifiziert wurden. Das ganze Jahr hindurch finden Kranzniederlegungen und Ehrungen statt, die ihren Höhepunkt in der Parade am 11. November finden, dem Jahrestag des Waffenstillstands zwischen Frankreich und Deutschland im Jahr 1918. Für Fußgänger ist der Arc de Triomphe nur durch eine Unterführung erreichbar; der Triumphbogen verfügt über eine Aussichtsplattform. Der Arc de Triomphe de l’Étoile ist nicht zu verwechseln mit dem weniger bekannten und kleineren Arc de Triomphe du Carrousel, der sich zwischen dem Palais du Louvre und dem Jardin des Tuileries befindet. Das Bauwerk wird vom Centre des monuments nationaux (dt. Zentrum für nationale Monumente) verwaltet, das dem Ministerium für Kultur untersteht. Geschichte Der Triumphbogen diente dem Ruhm der kaiserlichen Armeen und wird von manchen pathetisch als „Altar des Vaterlandes“ bezeichnet, denn an diesem Ort finden die feierlichsten staatlichen Zeremonien Frankreichs statt; häufig führen Festumzüge von hier aus die Avenue des Champs Élysées hinunter oder enden mit dem Arc de Triomphe als Ziel. Er steht im Zentrum der Place Charles de Gaulle (bis 1970 Place de l’Étoile), am westlichen Ausläufer der Avenue des Champs Élysées. Er ist Teil der „historischen Achse“, einer Reihe von Monumenten und großen Straßen, die aus Paris herausführen. Zwölf Avenuen gehen sternförmig von diesem Triumphbogen aus. Die heutige Form des Platzes entstand 1854, war in Grundzügen aber bereits seit dem späten 18. Jahrhundert so ähnlich angelegt worden, wenn auch nur mit vier Straßen. Der Triumphbogen selbst wurde von Kaiser Napoleon I. nach der Schlacht bei Austerlitz zur Verherrlichung seiner Siege 1806 in Auftrag gegeben. Am 15. August 1806 wurde der Grundstein zum Bau gelegt. Zwei Jahre dauerte der Bau der Fundamente. 1810 erhoben sich die vier Pylonen des Triumphbogens aber erst bis zu einer Höhe von 1 m. Napoleon heiratete am 1. April 1810 die habsburgische Prinzessin Marie-Louise; er ließ dazu ein provisorisches Modell des Triumphbogens aus Holz und Stuck in originaler Größe errichten. Ähnlich dem Elefanten der Bastille stand diese Ehrenpforte längere Zeit. Der Triumphbogen wurde (anders als der Elefant) letztlich fertiggestellt. Als der zuständige Architekt Jean-François Chalgrin im Januar 1811 gestorben war und Napoleon am 6. April 1814 abdankte, wurden die Bauarbeiten gestoppt. Louis XVIII. ließ sie 1824 unter der Leitung von Héricart de Thury fortsetzen. 1830 entschied sich König Louis-Philippe I. (oft Bürgerkönig genannt), zur napoleonischen Konzeption zurückzukehren. Er und Adolphe Thiers entschieden über den figurativen Schmuck und seine Ausführenden. Der Bogen wurde 1836 von Huyot und Blouet fertiggestellt. Am 25. Juni 1836 schoss ein 26-jähriger Anarchist namens Louis Alibaud auf die Kutsche des Königs und verfehlte ihn nur knapp. Der König beschloss daraufhin, nicht an der geplanten großen Militärparade teilzunehmen, die am 29. Juli zur Erinnerung an den sechsten Jahrestag der Julirevolution von 1830 und zur Einweihung des Bogens stattfinden sollte. Jean Navarre, ein Fliegerass im Ersten Weltkrieg, hatte den Plan, am 14. Juli 1919 bei einer Siegesparade durch den Triumphbogen zu fliegen. Navarre stürzte aber am 10. Juli 1919 beim Üben für diesen Flug ab und starb. Am 7. August 1919 durchflog Charles Godefroy mit einer Nieuport 11 „Bébé“ den Triumphbogen. Im Oktober 1981 flog Alain Marchand durch den Triumphbogen. Der Rundkurs der letzten Kilometer der Schlussetappe der Tour de France, die seit 1975 auf der Avenue des Champs Élysées endet, umrundet den Arc de Triomphe. Bis 2013 führte der Rundkurs direkt vor dem Arc de Triomphe eine Wende aus (und umkreiste ihn somit nicht). Am Abend des 9. Januar 2015 wurden die Worte „Paris est Charlie“ auf den Triumphbogen projiziert. Die Parole, eine Abwandlung von „Je suis Charlie“, war ein Bekenntnis zu den demokratischen Werten der Meinungs- und Pressefreiheit und eine Solidaritätsbekundung mit den Mitarbeitern des Satiremagazins Charlie Hebdo, die von islamistischen Attentätern erschossen worden waren. Am 1. Dezember 2018 wurde die Figur der Marianne am Triumphbogen schwer beschädigt, als es im Zuge der Protestaktionen der Gelbwestenbewegung zu schweren Ausschreitungen kam. Beschreibung Der Triumphbogen ist 49,54 m hoch, 44,82 m breit und 22 m tief. Der große Gewölbebogen misst 29,19 m in der Höhe und 14,62 m in der Breite, der kleine Bogen 18,68 m in der Höhe und 8,44 m in der Breite. Der Entwurf ist im Stil der antiken römischen Architektur gehalten. Die vier Figurengruppen an der Basis des Bogens zeigen Der Triumph von 1810, Widerstand, Frieden und La Marseillaise oder Auszug der Freiwilligen von 1792 (von François Rude). Oben sind auf den Flächen rund um den Bogen Flachreliefs mit Nachbildungen von wichtigen revolutionären und napoleonischen Siegen eingelassen. Die Innenwände des Triumphbogens beherbergen ein kleines Museum. Inschriften Die Innenwände des Triumphbogens führen die Namen von: 660 französischen Militärs, vorwiegend Generälen auf. Die Namen derjenigen, die im Kampf gefallen sind, sind unterstrichen. 158 Schlachten. Die 30 bedeutendsten Schlachten Napoleons beginnend mit Valmy sind zuoberst auf dem Fries in fast 50 Metern Höhe zu sehen, während 106 weitere Kriegsereignisse auf den Pfeilern zu finden sind. Verzeichnet sind nur siegreiche Schlachten. Siehe auch → Liste der Personennamen auf dem Triumphbogen in Paris Reliefs Berühmt ist der Triumphbogen auch wegen der bedeutenden Reliefs, die er trägt. Sie wurden 1833 bei den Bildhauern Antoine Étex, Jean-Pierre Cortot und vor allem François Rude in Auftrag gegeben. Die Ostfassade zeigt das berühmteste Relief, die Marseillaise (dt. Auszug der Freiwilligen von 1792) von Rude, die auch Le chant du départ, also das Abschiedslied, genannt wird. Es stellt eine Gruppe ausziehender Krieger dar, die in offensichtlich revolutionärer oder erhoben nationaler Gesinnung – zumindest kann man das in dieser Szene vermuten – das neue Revolutionslied der Marseillaise auf den Lippen haben, das erst am 25. April 1792 komponiert worden war. François Rude übertrifft mit dem heroischen Schwung seiner Darstellung die seiner Konkurrenten auf diesem Triumphbogen bei weitem. Er begann als akademischer Klassizist, aber mit diesem seinem bekanntesten Werk vollzog Rude als einer der ersten die Abkehr vom Klassizismus und die Hinwendung zur Romantik, zu einer neuen heroischen Leidenschaftlichkeit in der Bildhauerei, ähnlich wie Eugène Delacroix in der Malerei. Interessant ist ein Vergleich der beiden Reliefs dieser Seite. Es handelt sich auf der anderen Seite um den „Triumph Napoleons nach dem Frieden von 1810“ (der „Triumph“ verherrlicht den Frieden von Wien) von Jean-Pierre Cortot. Das Relief von Cortot steht noch ganz in der Tradition der klassizistischen Statik, der gemessenen Heldenverehrung, des symmetrischen, wohlproportionierten Bildaufbaus – mit anderen Worten der „erhabenen Langeweile“. Auch bei den Reliefs von Antoine Etex auf der Westseite ist diese Atmosphäre deutlich zu spüren, beispielsweise beim „Frieden“. Hier hat man noch den Eindruck, dass die Themen von einer Schauspielertruppe auf einer Theaterbühne dargestellt werden, dass hier Motive aus dem Arsenal zusammengestellt worden sind. Auf den vier Außenseiten des Bogens befinden sich sechs Flachreliefs, die jeweils berühmte Schlachten zeigen. Unter den sechs Bildhauern ist auch Jean-Jacques Feuchère mit einer Darstellung des Übergangs über die Brücke von Arcole zu sehen. Kunst Das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude beabsichtigte, das Bauwerk im Zeitraum vom 19. September 2020 für 16 Tage bis zum 4. Oktober 2020 für seine Kunstaktion L’Arc de Triomphe, Wrapped (Project for Paris, Place de l’Étoile – Charles de Gaulle) zu verhüllen. Christo verstarb jedoch am 31. Mai 2020. Seinem Wunsch gemäß wurde das Projekt, dessen erste Pläne aus den 1960er Jahren stammten, von seinem Neffen postum umgesetzt. Die Verhüllung war nach zweimonatiger Vorbereitungsarbeit am 18. September fertiggestellt und dauerte bis zum 3. Oktober 2021. Eingesetzt wurden 25.000 Quadratmeter Stoff und 3.000 Meter rote Seile, die jeweils weiterverwendet werden. Siehe auch Liste der Personennamen auf dem Triumphbogen in Paris Grande Arche Arc de Triomphe du Carrousel Triumphbogen Bukarest Literatur Thomas W. Gaehtgens: Napoleons Arc de Triomphe. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1974, ISBN 3-525-82363-0. Ernst Seidl: La Grande Arche in Paris – Form, Macht, Sinn. Kovač, Hamburg 1998, ISBN 3-86064-702-4. Dominique Fernandes, Gilles Plum, Isabelle Rouge: L’arc de triomphe de l’Étoile. Éditions du patrimoine, Paris 2000, ISBN 2-85822-202-9. Anne Muratori-Philip: L’Arc de Triomphe. Éditions du Patrimoine, Centre des Monuments Nationaux, Paris 2007, ISBN 978-2-85822-969-7. Film Der Pariser Triumphbogen. Herz einer Nation. Dokumentarfilm. Regie: Laurent Ramamonjiarisoa, Arte, ORF, Frankreich, Österreich 2021. Weblinks Offizielle Website des Arc de Triomphe (französisch) (französisch) Bilder und Informationen zum Arc de Triomphe (französisch) Einzelnachweise Klassizistisches Bauwerk in der Île-de-France Monument historique im 8. Arrondissement (Paris) Monument historique seit 1896 Paris Centre des monuments nationaux Bauwerk in Paris Erbaut in den 1830er Jahren
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https://de.wikipedia.org/wiki/Akustik
Akustik
Die Akustik (von griechisch (ausgesprochen: „akuein“) ‚hören‘ bzw. akoustikós, ‚das Gehör betreffend‘) ist die Lehre vom Schall und seiner Ausbreitung. Im Wissenschaftsgebiet sind eine Vielzahl damit zusammenhängender Gesichtspunkte enthalten, so die Entstehung und Erzeugung, die Ausbreitung, die Beeinflussung und die Analyse von Schall, seine Wahrnehmung durch das Gehör und die Wirkung auf Menschen und Tiere. Akustik ist ein interdisziplinäres Fachgebiet, das auf Erkenntnissen aus zahlreichen Fachgebieten aufbaut, unter anderem der Physik, der Psychologie, der Nachrichtentechnik und der Materialwissenschaft. Akustik wird auch (unscharf) in drei Teilgebiete unterteilt: Die physikalische Akustik (oft auch nur als „Akustik“ bezeichnet) umfasst insbesondere Teilgebiete der klassischen Mechanik, die physiologische Akustik behandelt Schallaufnahme und Schallübertragung in den Gehörorganen und die psychologische Akustik die Umsetzung der akustischen Nervenreizung in die Hörempfindung. Zu den wichtigsten Anwendungen der Akustik gehören die Erforschung und Minderung von Lärm, das Bemühen, einen Wohlklang hervorzurufen oder eine akustische Information, etwa einen Ton, zu übertragen. Außerdem ist der Einsatz von Schall zur Diagnose oder zu technischen Zwecken eine wichtige Anwendung der Akustik. Geschichte Antike und Mittelalter Als eine erste systematische Beschäftigung mit der Akustik gilt die Einführung von Tonsystemen und Stimmungen in der Musik im 3. Jahrtausend v. Chr. in China. Aus der abendländischen Antike ist eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Akustik unter anderem von Pythagoras von Samos (ca. 570–510 v. Chr.) überliefert, der den Zusammenhang von Saitenlänge und Tonhöhe beim Monochord mathematisch analysierte, manche ihm zugeschriebene Erkenntnisse, wie etwa Pythagoras in der Schmiede, sind allerdings eher als Legende einzustufen. Im 8. Kapitel seines Werkes De Anima (Von der Seele) beschrieb Aristoteles um 350 v. Chr. den physikalischen Wellencharakter des Schalls als "räumliche Bewegung", "Erschütterung" und durch periodischen Druck erzeugtes "Ausdehnen und Zusammenziehen" der Luft, ebenso wie die Abhängigkeit des Schalls von einem Medium, in dem er sich ausbreiten kann, wie etwa Luft oder Wasser. Im um c. 290 v. Chr. entstandenen, früher Aristoteles und heute allgemein Straton von Lampsakos zugeschriebenen, allein in Auszügen im Kommentar zur Harmonielehre des Ptolemaios von Porphyrios überlieferten Werk De audibilibus (Von hörbaren Dingen) findet sich eine Abhandlung über die Abhängigkeit der Tonhöhe von der Schwingungsfrequenz der Schallwellen in der Luft. Chrysippos von Soli (281–208 v. Chr.) beschrieb den Wellencharakter von Schall durch einen Vergleich mit Wellen auf der Wasseroberfläche. Der römische Architekt Vitruv (ca. 80–10 v. Chr.) analysierte die Schallausbreitung in Amphitheatern und vermutete die Ausbreitung von Schall als Kugelwelle. Er beschrieb ebenfalls die Wirkungsweise von Helmholtz-Resonatoren zur Absorption tieffrequenten Schalls. Dem islamischen Gelehrten al-Bīrūnī wird für die Zeit um 1000 die Entdeckung zugeschrieben, dass der Schall sich um ein Vielfaches langsamer bewege als das Licht. Frühe Neuzeit Leonardo da Vinci (1452–1519) war unter anderem bekannt, dass Luft als Medium zur Ausbreitung des Schalls erforderlich ist und dass sich Schall mit einer endlichen Geschwindigkeit ausbreitet. Von dem Priester, Mathematiker und Musiktheoretiker Marin Mersenne (1588–1648) stammt neben anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Natur des Schalls auch die erste Angabe einer experimentell bestimmten Schallgeschwindigkeit. Galileo Galilei (1564–1642) beschrieb den für die Akustik wichtigen Zusammenhang zwischen Tonhöhe und Frequenz. Galilei und Mersenne entdeckten etwa zeitgleich eine beim Instrumentenbau eingesetzte Formel zur exakten Berechnung der benötigten Masse (Dicke), Spannungsgrad und Schwingungsfrequenz einer Saite zur Hervorbringung bestimmter Töne. Joseph Sauveur (1653–1716) führte die Bezeichnung „Akustik“ für die Lehre vom Schall ein. Isaac Newton (1643–1727) berechnete als erster die Schallgeschwindigkeit auf Grund theoretischer Überlegungen, während Leonhard Euler (1707–1783) eine Wellengleichung für Schall in der heute verwendeten Form fand. Ernst Florens Friedrich Chladni (1756–1827) gilt als Begründer der modernen experimentellen Akustik; er fand die Chladnischen Klangfiguren, die Eigenschwingungen von Platten sichtbar machen. 19. Jahrhundert Mit Beginn des 19. Jahrhunderts setzte eine intensive Beschäftigung mit der Akustik ein und zahlreiche Wissenschaftler widmeten sich dem Thema. So fand Pierre-Simon Laplace (1749–1827) das adiabatische Verhalten von Schall, Georg Simon Ohm (1789–1854) postulierte die Fähigkeit des Gehörs, Klänge in Grundtöne und Harmonische aufzulösen, Hermann von Helmholtz (1821–1894) erforschte die Tonempfindung und beschrieb den Helmholtz-Resonator und John William Strutt, 3. Baron Rayleigh (1842–1919) veröffentlichte die „Theory of Sound“ mit zahlreichen mathematisch begründeten Erkenntnissen, die den Schall, seine Entstehung und Ausbreitung betreffen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden erste akustische Mess- und Aufzeichnungsgeräte entwickelt, so der Phonautograph von Édouard-Léon Scott de Martinville (1817–1897) und später der Phonograph von Thomas Alva Edison (1847–1931). August Kundt (1839–1894) entwickelte das Kundtsche Rohr und setzte es zur Messung des Schallabsorptionsgrades ein. 20. Jahrhundert Ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zur breiten Anwendung der vorhandenen theoretischen Erkenntnisse zur Akustik. So entwickelte sich die von Wallace Clement Sabine begründete wissenschaftliche Raumakustik mit dem Ziel, die Hörsamkeit von Räumen zu verbessern. Die Erfindung der Elektronenröhre 1907 ermöglichte den breiten Einsatz elektroakustischer Übertragungstechnik. Paul Langevin (1872–1946) verwendete Ultraschall zur technischen Ortung von Objekten unter Wasser (Sonar). Heinrich Barkhausen (1881–1956) erfand das erste Gerät zur Messung der Lautstärke. Seit etwa 1930 erscheinen wissenschaftliche Fachzeitschriften, die sich ausschließlich Themen der Akustik widmen. Zu einer der wichtigsten Anwendungen der Akustik entwickelt sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch die Minderung von Lärm, so wird zum Beispiel der Schalldämpfer für die Abgasanlage von Kraftfahrzeugen immer weiter verbessert. Mit der Einführung von Strahltriebwerken um 1950 und der für den erfolgreichen Einsatz notwendigen Lärmminderung entwickelte sich die Aeroakustik, die wesentlich durch die Arbeiten von Michael James Lighthill (1924–1998) begründet wurde. Teilgebiete Innerhalb der Akustik werden eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte behandelt: Aeroakustik beschäftigt sich mit der Entstehung und Ausbreitung aerodynamisch erzeugter Geräusche und deren Minderung Audiometrie dient in der Medizin zur Vermessung von Parametern des menschlichen Gehörs Bioakustik bezeichnet das Forschungsfeld der Tierstimmenforschung Elektroakustik beschäftigt sich mit der Aufnahme, Verarbeitung und Wiedergabe von Schall Fahrzeugakustik behandelt alle Fragestellungen zum Thema Innen- und Außengeräusch von Fahrzeugen Hydroakustik beschäftigt sich mit Wasserschall Lärmforschung beschäftigt sich mit allen Aspekten der Lärmerzeugung, -minderung und -wahrnehmung Musikalische Akustik befasst sich mit der Erzeugung und Wahrnehmung von Musik Optoakustik Ozeanische Akustik als Teil der Meereskunde befasst sich mit Signalen aus der Unterwasserwelt der Meere, das Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven unterhält eine entsprechende Arbeitsgruppe Phonetik beschäftigt sich mit der Sprachverarbeitung und -kommunikation Physikalische Akustik behandelt die physikalischen Grundlagen der Akustik Psychoakustik behandelt Themen zur Schallwahrnehmung und zur subjektiven Beurteilung von Schall und zur Objektivierung der subjektiven Wahrnehmung, in der Musikwissenschaft auch mit Hilfe der Musikpsychologie Raumakustik und Bauakustik behandeln die Fragestellungen der Schallübertragung in Gebäuden und der Beschallung von Zuhörerräumen Technische Akustik behandelt Geräusche von Maschinen und Anlagen Thermoakustik behandelt die Wechselwirkung von thermischer Energie und akustischen Schwingungen Analysemethoden Frequenzanalyse Neben der Betrachtung zeitgemittelter Schallfeld- und Schallenergiegrößen wird oft die zeitliche Auslenkung gemessen, z. B. das Drucksignal, und einer Frequenzanalyse unterzogen. Für den Zusammenhang des so erhaltenen Frequenzspektrums mit dem Klang siehe Klangspektrum. Die zeitliche Veränderung innerhalb eines Schallereignisses wird durch Kurzzeit-Fourier-Transformation zugänglich. Die Veränderungen des Spektrums beim Prozess der Schallabstrahlung, -ausbreitung und Messung bzw. Wahrnehmung werden durch den jeweiligen Frequenzgang beschrieben. Den Frequenzgang des Gehörs berücksichtigen Frequenzbewertungskurven. Resonanzanalyse Die akustische Resonanzanalyse wertet die entstehenden Resonanzfrequenzen aus, wenn ein Körper durch eine impulshafte Anregung wie etwa einen Schlag in Schwingung versetzt wird. Ist der Körper ein schwingungsfähiges System, so bilden sich über einen gewissen Zeitraum bestimmte charakteristischen Frequenzen aus, der Körper schwingt in den so genannten natürlichen Eigen- oder Resonanzfrequenzen – kurz Resonanzen. Ordnungsanalyse Bei der Ordnungsanalyse werden Geräusche oder Schwingungen von rotierenden Maschinen analysiert, wobei im Gegensatz zur Frequenzanalyse hierbei der Energiegehalt des Geräusches nicht über der Frequenz, sondern über der Ordnung aufgetragen wird. Die Ordnung entspricht dabei einem Vielfachen der Drehzahl. Laborräume Reflexionsarmer Raum Ein reflexionsarmer Raum, manchmal physikalisch unrichtig auch „schalltoter“ Raum genannt, besitzt Absorptionsmaterial an Decke und Wänden, so dass nur minimale Reflexionen auftreten und Bedingungen wie in einem Direktfeld D (Freifeld oder freiem Schallfeld) herrschen, wobei der Schalldruck mit 1/r nach dem Abstandsgesetz von einer Punktschallquelle abnimmt. Solche Räume eignen sich für Sprachaufzeichnungen und für Versuche zur Lokalisation von Schallquellen. Wird auf einer gedachten Hüllfläche um die Schallquelle die senkrecht durch diese Fläche tretende Schallintensität gemessen, so kann die Schallleistung der Quelle bestimmt werden. Ein reflexionsarmer Raum mit schallreflektierendem Boden wird in Angrenzung zum Freifeldraum als Halbfreifeldraum bezeichnet. Freifeldraum Ein Freifeldraum ist die spezielle Ausführung eines reflexionsarmen Raumes. Hier ist jedoch zusätzlich auch der Boden mit absorbierendem Material bedeckt. Da der Boden durch diese Maßnahme nicht mehr begehbar ist, wird meistens ein schalldurchlässiges Gitter darüber angeordnet, das den Zugang zum Messobjekt ermöglicht. Derartige Räume werden in der akustischen Messtechnik eingesetzt, um gezielte Schallquellenanalysen – auch unter dem Messobjekt – durchführen zu können. Hallraum Ein Hallraum dagegen wird so konstruiert, dass an jedem beliebigen Punkt im Schallfeld Reflexionen gleicher Größe aus allen Richtungen zusammentreffen. In einem idealen Hallraum herrscht daher mit Ausnahme des Bereiches direkt um die Schallquelle (siehe Hallradius) an jedem Ort derselbe Schalldruck. Ein solches Schallfeld wird Diffusfeld genannt. Da die Schallstrahlen aus allen Richtungen gleichzeitig einfallen, ist in einem Diffusfeld keine Schallintensität vorhanden. Um Resonanzen in einem Hallraum zu vermeiden, wird er im Allgemeinen ohne parallel zueinander stehende Wände und Decken gebaut. Über Nachhallzeit-Messungen oder durch Referenzschallquellen kann der Raum kalibriert werden. Hierbei wird die Differenz zwischen dem an einem beliebigen Ort im Raum, weit genug außerhalb des Hallradius gemessenen Schalldruckpegel und dem Schallleistungspegel einer Schallquelle bestimmt. Diese Differenz ist frequenzabhängig und bleibt unverändert, solange sich der Aufbau des Raumes und der Absorptionsgrad der Wände nicht ändern. In einem Hallraum kann daher die Schallleistung einer Quelle theoretisch mit einer einzigen Schalldruckmessung bestimmt werden. Dieses ist z. B. für Fragestellungen im Bereich des Schallschutzes sehr nützlich. Akustik in der Natur Akustik bei Lebewesen Die meisten höheren Tiere besitzen einen Hörsinn. Schall ist ein wichtiger Kommunikationskanal, da er praktisch unmittelbare Fernwirkung besitzt. Mit Lautäußerungen ist den Tieren ein Mittel zur Reviermarkierung, Partner- oder Rudelsuche, zum Auffinden von Beute und zur Mitteilung von Stimmungen, Warnsignalen usw. gegeben. Der menschliche Hörbereich liegt zwischen der Hörschwelle und der Schmerzschwelle (etwa 0 dB HL bis 110 dB HL). Lautlehre Bei der Erzeugung von Lauten im Rahmen der Lautlehre unterscheidet man im Allgemeinen zwischen stimmhaften und stimmlosen Phonemen. Bei den stimmhaften Phonemen, die als Vokale bezeichnet werden, werden beim Kehlkopf durch Vibration der Stimmbänder die „Roh“klänge erzeugt, die dann im Rachen- und Nasenraum durch verschiedene willkürlich beeinflussbare oder unveränderliche individualspezifische Resonanzräume moduliert werden. Bei stimmlosen Phonemen, den Konsonanten, ruhen die Stimmbänder, wobei der Laut durch Modulation des Luftstromes zustande kommt. Beim Flüstern werden selbst die Vokale nur durch Modulation des Spektrums des Rauschens eines hervorgepressten Luftstromes gebildet, wobei die Stimmbänder ruhen. Berufsausbildung Fachleute für Akustik werden als Akustiker oder Akustikingenieur bezeichnet. Die englischen Berufsbezeichnungen sind acoustical engineer oder acoustician. Der übliche Zugang zu diesem Arbeitsfeld ist ein Studium im Bereich Physik oder ein entsprechendes ingenieurwissenschaftliches Studium. Hörakustiker arbeiten im Fachbereich der Medizintechnik und verwenden in ihrem Beruf sowohl physikalisches als auch medizinisches Fachwissen. Literatur Wilhelm von Zahn: Über die akustische Analyse der Vocalklänge (= Programm der Thomasschule in Leipzig 1871). A. Edelmann, Leipzig 1871. Weblinks Einführung in die Raumakustik und Beschallungstechnik Begriffsdefinitionen aus Akustik und Beschallungstechnik Musikalische Akustik (PDF; 264 kB) Akustik-Gehör-Psychoakustik Akustik und Musik – beinhaltet weiterführende Links mit Grafik- und Klangbeispielen Glossar Akustik mit Fachbegriffen (PDF; 1516 kB) Sammlung von Fachartikeln in der Tontechnik Informationen der Bundesagentur für Arbeit über den Beruf Akustiker/in bzw. Akustikingenieur/in Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Amerika%20%28Begriffskl%C3%A4rung%29
Amerika (Begriffsklärung)
Amerika steht für: Amerika, Doppelkontinent bestehend aus Nordamerika (mit Zentralamerika) und Südamerika eine nichtamtliche Kurzform für die Vereinigten Staaten von Amerika, siehe Vereinigte Staaten Künste und Medien: Amerika (Album), Album von BAP Amerika (Fernsehserie), Fernsehserie mit Kris Kristofferson aus dem Jahr 1987 Amerika (Fernsehfilm), ein deutscher Fernsehfilm aus dem Jahr 1996 von Ronald Eichhorn fürs ZDF Amerika (Film), Spielfilm von Jens Jenson aus dem Jahr 2000 Amerika (Heftromanserie), Heftromanserie von 1995/1996 Amerika (Lied), ein Lied der Musikergruppe Rammstein Der Verschollene, früher „Amerika“, Romanfragment von Franz Kafka Amerika (Zeitschrift), Zeitschrift in russischer Sprache Orte: Amerika (Garrel), Ortsteil der Gemeinde Garrel (Landkreis Cloppenburg) in Niedersachsen Amerika (Penig), Ortsteil der Stadt Penig (Landkreis Mittelsachsen) in Sachsen Amerika (Drenthe), ein Dorf in den Niederlanden (Provinz Noordenveld) Amerika (Friedeburg), Gemeindeteil von Friedeburg, Landkreis Wittmund, Niedersachsen Kloster Amerika, eine Siedlung im Ortsteil Hovel, Stadt Wittmund, Landkreis Wittmund, Niedersachsen Neu-Amerika (Schlettau), ein Ortsteil von Schlettau in Sachsen Amerika (Thailand), Affeninsel im Norden Thailands Amerika, historischer Name von Dybowen (Gut), 1938 bis 1945 Diebau (Gut), Kreis Johannisburg, Ostpreußen, seit 1945: Dybówko, Powiat Ełcki, Woiwodschaft Ermland-Masuren, Polen Amerika, bis 1917 Name von Pagelshof (Gut) im Kreis Osterode, Ostpreußen, seit 1945: Ameryka (Olsztynek), Powiat Olsztyński, Woiwodschaft Ermland-Masuren, Polen Familienname: Katrīna Amerika (* 1991), lettische Schachspielerin Schiffe, siehe Liste von Schiffen mit dem Namen Amerika, darunter: Celtic (Schiff, 1872), ein 1872 in Dienst gestelltes Passagierschiff, später Amerika der dänischen Reederei Thingvalla-Linie Amerika (Schiff, 1905), ein 1905 in Dienst gestelltes Passagierschiff der deutschen Reederei HAPAG Amerika (Schiff, 1930), ein 1930 in Dienst gestelltes Passagierschiff der dänischen Reederei Det Østasiatiske Kompagni Sonstiges: Amerika (Zug), den Decknamen des Sonderzuges, den Adolf Hitler während des Zweiten Weltkriegs benutzte Siehe auch: Klein Amerika Neu-Amerika America amerikanisch Ameryka
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https://de.wikipedia.org/wiki/Afroasiatische%20Sprachen
Afroasiatische Sprachen
Die afroasiatischen Sprachen (traditionell als semito-hamitisch oder hamito-semitisch bezeichnet) bilden eine Sprachfamilie, die in Nord- und Ostafrika sowie in Vorderasien verbreitet ist. Das Afroasiatische besteht aus sechs Zweigen: dem Ägyptischen, Berberischen, Semitischen, Kuschitischen, Omotischen und dem Tschadischen. Diese umfassen insgesamt etwa 350 Sprachen mit etwa 350 Millionen Sprechern. Etwa 40 der ursprünglich bekannten Sprachen sind heute ausgestorben. Das Afroasiatische ist auch eine der vier großen Familien (Phyla) afrikanischer Sprachen, deren Identifizierung Joseph Greenberg in seinen Arbeiten von 1949 bis 1963 etabliert hatte und die heute die Basis aller linguistischen Klassifikationen in Afrika bildet. Das Gebiet der (rezenten) Sprachfamilie der afroasiatischen Sprachen grenzt im Süden an die Sprachfamilien der Niger-Kongo- und nilosaharanischen Sprachen und im Nordosten an den Sprachraum der indoeuropäischen Sprachen und der Turksprachen. Bezeichnung Joseph Greenberg führte die Bezeichnung „Afroasiatisch“ (auch „Afro-Asiatisch“) für die Sprachfamilie ein. Sie hat die ältere Benennung „Hamito-Semitisch“ vielfach abgelöst. Diese scheint insofern irreführend, als sie eine Zweiteilung in „semitische“ und „hamitische“ Sprachen suggeriert und im Zusammenhang mit der Hamitentheorie als rassistisch konnotiert empfunden werden kann. Als weitere Benennungen wurden Afrasisch (Igor M. Diakonoff), Lisramisch (Carleton T. Hodge) und Erythräisch (Leo Reinisch) vorgeschlagen; diese Termini haben jedoch, mit Ausnahme von Afrasisch, kaum Anhänger gefunden. (Erythräisch ist in diesem Zusammenhang nicht mit der Bezeichnung einer von Christopher Ehret vorgeschlagenen hypothetischen Untergruppe des Afroasiatischen zu verwechseln). Die ältere, früher weit verbreitete Bezeichnung als hamito-semitisch geht auf die Völkertafel der Bibel zurück, die die Söhne Hams und Sems im hier gemeinten Sprachgebiet verortet. Die Begriffe sind nicht ethnisch gemeint und gruppieren die Sprachen in zwei differierende Zonen: Tatsächlich sind einerseits Koptisch und Berberisch in Nordafrika einander ähnlicher als beispielsweise Koptisch und die semitischen Sprachen Hebräisch, Arabisch, Aramäisch; andererseits weisen die semitischen Sprachen untereinander ein engeres Verwandtschaftsverhältnis auf, das sie von den nordafrikanischen Sprachen abhebt. Auch wenn Hamitisch als Bezeichnung für die offenbar auf afrikanischem Boden entstandenen „afroasiatischen“ Sprachen heute außer Gebrauch kommt, bleibt die Bezeichnung Semitisch weiterhin üblich. Primärzweige, Gliederung und geografische Ausbreitung Man unterscheidet heute in der Regel folgende fünf oder sechs Primärzweige des Afroasiatischen, wobei besonders die Zugehörigkeit des Omotischen umstritten ist: Afroasiatisch > ungefähr 354 Sprachen, davon 43 ausgestorben, 347 Mio. Sprecher: Nordafrika, Vorderasien Ägyptisch-Koptisch † > 1 Sprache, ausgestorben: Ägypten Berberisch > ungefähr 24 Sprachen, davon 5 ausgestorben, 40 Mio. Sprecher: Nordwestafrika Semitisch > ungefähr 62 Sprachen, davon 28 ausgestorben, 261 Mio. Sprecher: Nordafrika, Vorderasien, Malta, Äthiopien Kuschitisch > ungefähr 47 Sprachen, davon 2 ausgestorben, 38 Mio. Sprecher: Nordostafrika Tschadisch > ungefähr 193 Sprachen, davon 7 ausgestorben, 31 Mio. Sprecher: Südwest-Tschad, Süd-Niger, Nord-Nigeria Omotisch > ungefähr 27 Sprachen, 4 Mio. Sprecher: Äthiopien, Sudan Die genaue Zahl der Sprachen ist kaum abschließend zu bestimmen, weil oft unklar ist, was Dialekt einer bestimmten Sprache ist und was eigenständige Sprache. Die folgenden Beispiele illustrieren die Beziehungen der afroasiatischen Sprachen untereinander sowohl im lexikalischen wie im morphologischen Bereich, wobei besonders bestimmte Verbflexionen („Präformativkonjugation“) einander sehr ähnlich sind (siehe hier die letzten drei Beispiele unten), so sehr, dass es kaum eine andere Erklärung für die Übereinstimmungen zwischen dem Semitischen, Berberischen und Kuschitischen gibt als eine gemeinsame Ursprache. Die Verwandtschaft dieser drei mit dem Ägyptischen und dem Tschadischen ist weniger offensichtlich und wurde auch schon angezweifelt, eine Verwandtschaft mit dem Omotischen ist stark umstritten. * Vergangenheitsform Die in Äthiopien gesprochene Sprache Ongota (Birale) gehört möglicherweise auch zur afroasiatischen Familie und etabliert nach H. Fleming einen unabhängigen weiteren Zweig. Einige Wissenschaftler halten das Kuschitische nicht für eine genetische Einheit, sondern nehmen an, dass es aus zwei oder mehr direkt dem Afroasiatischen untergeordneten Primärzweigen besteht. Die früher vorgenommene Teilung in semitische und hamitische Sprachen wird heute nicht mehr vertreten (dazu siehe den Artikel afrikanische Sprachen). Es existieren mehrere Vorstellungen darüber, in welcher Reihenfolge und wann sich die einzelnen Primärzweige vom Proto-Afroasiatischen abspalteten. Ein linguistisch begründetes Szenario liefert Ehret 1995. Danach hat sich zuerst – vor mindestens 10.000 Jahren – der omotische Zweig vom Kern getrennt (dies wird heute nahezu von allen Forschern so gesehen, während die weiteren Stufen durchaus umstritten sind). Als nächste Zweige spalteten sich das Kuschitische und Tschadische ab, die Trennung des Restes (von Ehret Boreafrasisch genannt) in Ägyptisch, Berberisch und Semitisch erfolgte zuletzt. Es ist nach heutigem Kenntnisstand nicht möglich, eine auch nur annähernde absolute Chronologie dieser Abspaltungen anzugeben. Nach dem Modell von Ehret ergibt sich folgender „dynamischer“ Stammbaum des Afroasiatischen: Stammbaum und interne Gliederung des Afroasiatischen (nach Ehret 1995) Afroasiatisch Omotisch Erythräisch Kuschitisch Nord-Erythräisch Tschadisch Boreafrasisch Ägyptisch Berberisch Semitisch Der von Ehret hier eingeführte Name Erythräisch (für Afroasiatisch ohne Omotisch) wurde von anderen Forschern für die gesamte afroasiatische Sprachfamilie verwendet, er konnte sich aber nicht gegen Afroasiatisch durchsetzen. Ägyptisch Das Ägyptische stellt eine Ausnahme unter den afroasiatischen Primärzweigen dar, da es aus nur einer einzigen Sprache besteht, die eine lückenlose Überlieferung über fast fünf Jahrtausende aufweist. Seine letzte Stufe, das Koptische, starb in der frühen Neuzeit als Alltagssprache aus. Das Ausbreitungsgebiet des Ägyptischen umfasste in historischer Zeit kaum mehr als das nördliche Drittel des Niltales, im 3. Jahrtausend v. Chr. wurde jedoch möglicherweise auch in der ägyptischen Westwüste ein dem Ägyptischen nahe verwandtes Idiom gesprochen, von dem sich einzelne Personennamen in ägyptischer Überlieferung finden. Durch seine lange Überlieferungsdauer ist das Ägyptische von besonderem sprachwissenschaftlichem Interesse, jedoch fehlen ihm trotz der frühen Überlieferung einige grundlegende morphologische und möglicherweise auch phonologische Eigenschaften des Afroasiatischen. Berberisch Die Berbersprachen wurden vor der Expansion des Islam und der damit verbundenen Ausbreitung des Arabischen beinahe in der gesamten Sahara gesprochen. Das heutige Hauptverbreitungsgebiet liegt in den Staaten Niger, Mali, Algerien, Marokko, Tunesien und im westlichen Libyen; kleine Sprachinseln haben sich auch im Nordosten der Sahara in Oasen wie Augila (Libyen) und Siwa (Ägypten) sowie im westlichen Mauretanien gehalten. Im Gegensatz zu den anderen Zweigen des Afroasiatischen (außer dem Ägyptischen) sind die Berbersprachen untereinander nahe verwandt und gehören fast vollständig zu zwei Dialektkontinua. Die bekanntesten Berbersprachen sind Kabylisch, Zentralatlas-Tamazight, Taschelhit, Tarifit sowie das Tuareg. Meistens wird auch die kaum bekannte libysche Sprache in aus den letzten vorchristlichen Jahrhunderten stammenden Inschriften in Algerien, Tunesien und Marokko zum Berberischen gerechnet. Ebenso dürfte auch das bis ins 17. Jahrhundert auf den kanarischen Inseln gesprochene Guanche eine Berbersprache gewesen sein. Semitisch Das Semitische ist heute mit etwa 260 Millionen Sprechern die sprecherreichste afroasiatische Sprachfamilie und wird in Vorderasien, am Horn von Afrika und weiten Teilen Nordafrikas sowie auf Malta gesprochen, wobei der größte Anteil der Sprecher auf das Arabische entfällt. Einer Überlegung nach wird angenommen, dass die Urheimat der semitischen Sprachen auf der Arabischen Halbinsel lag und sich die Sprachfamilie erst durch die südarabischen Expansionen nach Äthiopien und später durch die arabischen Expansionen über Ägypten und Nordafrika und zeitweise bis nach Spanien ausbreitete. Andere verorten die Urheimat für die semitische Protosprache im nordöstlichen Afrika. Das Semitische wird allgemein in zwei Zweige aufgeteilt, wobei einen das ausgestorbene Akkadische bildet, das für die Rekonstruktion des Proto-Semitischen und damit auch der afroasiatischen Protosprache von besonderem Interesse ist. Auf den anderen, westlichen, Zweig entfallen die zentralsemitischen Sprachen wie Aramäisch, Hebräisch, Arabisch und Altsüdarabisch, die äthiosemitischen Sprachen wie Altäthiopisch und die neusüdarabischen Sprachen. Kuschitisch Die kuschitischen Sprachen werden in Ostafrika in den heutigen Staaten Sudan, Eritrea, Äthiopien, Somalia, Kenia, Uganda und dem nördlichen Tansania gesprochen. Die Einheit der kuschitischen Sprachen ist nicht unumstritten, da die einzelnen Zweige sich wesentlich unterscheiden; insbesondere die Zugehörigkeit des Bedscha wird diskutiert. Im Allgemeinen werden die folgenden Zweige unterschieden: Nordkuschitisch: umfasst nur das Bedscha (ca. 1,2 Millionen) Zentralkuschitisch/Agaw: Bilen, Quara u. a. (zusammen ca. 585.000) Ostkuschitisch (ca. 35,4 Millionen) Hochlandostkuschitisch: Sidama, Kambaata u. a. (zusammen ca. 4,5 Millionen) Tieflandostkuschitisch Saho-Afar (ca. 1,8 Millionen) Oromoid: Oromo, Konso (zusammen ca. 35 Millionen) Omo-Tana: Rendille, Somali, Arbore u. a. (zusammen ca. 11,2 Millionen) Dullay (zusammen ca. 52.000) Südkuschitisch: Iraqw, Dahalo u. a. (zusammen ca. 483.000) Omotisch Die omotischen Sprachen werden von etwa 4 Millionen Sprechern nordöstlich des Turkanasees im südlichen Äthiopien gesprochen. Sie wurden zunächst für einen Zweig des Kuschitischen gehalten, inzwischen ist die von Harold Fleming begründete Abgliederung weitestgehend anerkannt. Die omotischen Sprachen sind schlechter erforscht als die Vertreter der anderen Zweige, dennoch kann bereits jetzt gesagt werden, dass sie in ihrer Struktur stark von den anderen afroasiatischen Primärzweigen abweichen. Die folgende Gliederung ist, von Einzelheiten abgesehen, allgemein anerkannt: Südomotisch: Dime, Aari u. a. (zusammen ca. 212.000) Nordomotisch (ca. 3,7 Millionen) Dizoid: Dizi u. a. (zusammen ca. 53.000) Gonga-Gimojan/Ta-Ne Gonga: Kaffa, Mocha u. a. (zusammen ca. 85.000) Gimojan Yem (ca. 80.000) Gimira: Bench u. a. (zusammen ca. 185.000) Chara (ca. 7.000) Ometo: Wolaytta u. a. (ca. 2,7 Millionen) Mao (ca. 11.000) Tschadisch Die tschadischen Sprachen werden rund um den namensgebenden Tschadsee, hauptsächlich im Tschad, Niger und in Nigeria, gesprochen. Die bei weitem bekannteste und bedeutendste tschadische Sprache ist das Hausa, das in einem großen Gebiet um den Tschadsee als Lingua franca dient. Das Tschadische wird in vier Zweige aufgeteilt: Westtschadisch: Hausa, Bole, Bade u. a. (zusammen ca. 27 Millionen) Biu-Mandara: Kamwe, Buduma u. a. (zusammen ca. 2,9 Millionen) Osttschadisch: Kera, Nancere u. a. (zusammen ca. 500.000) Masa: Masana, Musey u. a. (zusammen ca. 650.000) Forschungs- und Klassifikationsgeschichte Die Verwandtschaft der semitischen Sprachen untereinander war Juden und Muslimen im Orient und Spanien schon lange bekannt, im christlichen Europa erkannte dies erstmals Guillaume Postel im Jahre 1538. Durch die wissenschaftliche Erforschung afrikanischer Sprachen in Europa, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einsetzte, wurde bald die Verwandtschaft weiterer Sprachen mit dem Semitischen erkannt. So rechnete Hiob Ludolf 1700 die äthiopischen Sprachen Altäthiopisch und Amharisch erstmals zum Semitischen, bald darauf fielen auch Ähnlichkeiten mit dem Koptischen und – nach der Entzifferung der Hieroglyphen – dem antiken Ägyptisch auf. 1781 führte August Ludwig von Schlözer den Begriff semitische Sprachen ein, in Anlehnung daran prägte Johann Ludwig Krapf 1850 die Bezeichnung hamitische Sprachen zunächst für die nicht-semitischen schwarzafrikanischen Sprachen. 1877 fügte F. Müller dieser Gruppe die afroasiatischen Berber- und Kuschitensprachen zu, während das ebenfalls afroasiatische Tschadisch unberücksichtigt blieb. Gleichzeitig fasste er bestimmte hamitische Sprachen und die semitischen Sprachen zum Hamito-Semitischen zusammen. Eine Neudefinition erfuhr der Begriff der hamitischen Sprachen durch Karl Richard Lepsius, der nun die flektierenden Sprachen Afrikas mit Genussystem unter dieser Bezeichnung zusammenfasste. Damit hatte Lepsius schon die wesentliche Masse der nichtsemitischen afroasiatischen Sprachen erfasst, jedoch erweiterte er diese Gruppe 1888 um einige nichtafroasiatische Sprachen, ebenso benutzte auch Carl Meinhof in seinem 1912 erschienenen Werk Die Sprachen der Hamiten hamitisch in einem sehr weiten Rahmen. In der Folgezeit wurde der hamito-semitische Sprachstamm um einige Sprachen reduziert und entsprach in den Grundzügen der heutigen Klassifikation, strittig blieb jedoch die Zugehörigkeit der tschadischen Sprachen, die erst in den 1950er Jahren von Joseph Greenberg endgültig etabliert wurde. Gleichzeitig prägte er den Begriff afroasiatisch als Ersatz für den eine ungerechtfertigte Aufteilung in hamitische und semitische Sprachen implizierenden Begriff hamito-semitisch, welcher auf die Hamitentheorie Bezug nahm. Die heutige Form erhielt die Klassifikation des Afroasiatischen 1969 durch Harold Flemings Ausgliederung einiger äthiopischer Sprachen aus der kuschitischen Familie, die von da an als Omotisch einen eigenen Primärzweig des Afroasiatischen bildeten. Protosprache und Urheimat Die Rekonstruktion der afroasiatischen Protosprache gestaltet sich aufgrund der kurzen Überlieferungsgeschichte der meisten Zweige und der teilweise gravierenden Unterschiede zwischen den einzelnen Hauptzweigen sowohl im Bereich der Grammatik als auch im lexikalischen Bereich wesentlich schwieriger als z. B. die Rekonstruktion des Proto-Indogermanischen. Diese gravierenden Unterschiede lassen sich auf die verhältnismäßig große Zeittiefe des Proto-Afroasiatischen zurückführen, nach glottochronologischen Untersuchungen soll das Proto-Afroasiatische um 10.000–9.000 v. Chr. gesprochen worden sein. Die Lage der Urheimat ist umstritten, da jedoch die Mehrzahl der afroasiatischen Sprachen in Nordafrika beheimatet ist, liegt eine Herkunft aus Nordafrika nahe. Besonders die nordöstliche Sahara oder das heutige nördliche Libyen werden favorisiert. Aufgrund lexikalischer Übereinstimmungen des Afroasiatischen mit dem Indogermanischen, den kaukasischen Sprachen und dem Sumerischen sowie der kulturellen Stellung des rekonstruierten proto-afroasiatischen Vokabulars vertreten einige Wissenschaftler wie z. B. Alexander Militarev dagegen eine Urheimat in der Levante. Verschriftlichung und früheste Belege Die früheste durch Schriftquellen belegte afroasiatische Sprache ist das Alt- bzw. – genauer – Frühägyptische, dessen älteste Zeugnisse bis zum Ende des vierten vorchristlichen Jahrtausends zurückreichen. Einige Jahrhunderte später setzt die Überlieferung des Semitischen, zunächst des Akkadischen und im zweiten Jahrtausend v. Chr. westsemitischer Idiome ein. Die aus den Jahrhunderten vor Christi Geburt stammenden libyschen Inschriften aus Nordafrika werden zwar allgemein zum Berberischen gerechnet, sind aber bislang unverständlich; die frühesten Belege für das Kuschitische, Tschadische und Omotische finden sich sogar erst im Mittelalter bzw. der Neuzeit. Nur ein kleiner Teil der zahllosen tschadischen, kuschitischen und omotischen Sprachen ist heute zu Schriftsprachen geworden, unter diesen befinden sich Sprachen wie das Somali, das Hausa und das Oromo. Die Transkription von Worten aus afroasiatischen Sprachen folgt in diesem Artikel im Wesentlichen den in der entsprechenden Fachliteratur üblichen Konventionen. Aufgrund der Unterschiede zwischen Konventionen in Semitistik, Ägyptologie und Afrikanistik ist die Umschrift daher nicht für alle Sprachen einheitlich. Phonologie Konsonanten Das Konsonantensystem des Proto-Afroasiatischen wird übereinstimmend mit etwa 33/34 Phonemen und teilweise auch velarisierten, palatalisierten und sonstigen Varianten rekonstruiert. Die Lautkorrespondenzen der Hauptzweige untereinander sind jedoch in zahlreichen Fällen unsicher, besonders gravierend sind die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Ägyptischen, die sich stark auf die innerägyptologische Diskussion auswirken. Beispielsweise ist umstritten, ob das Ägyptische emphatische Konsonanten aufwies und ob das ägyptische Phonem ʿ, das spätestens seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. den Lautwert besaß, auf proto-afroasiatisches ʕ oder eine Reihe stimmhafter Plosive und Frikative zurückgeht. Dennoch sind einige allgemeine Aussagen möglich. Die meisten bzw. alle afroasiatischen Hauptzweige haben neben stimmhaften und stimmlosen konsonantischen Phonemen auch eine dritte Reihe, deren Mitglieder in Abhängigkeit von der Sprache glottalisiert, pharyngalisiert, ejektiv, velarisiert oder implosiv realisiert werden und traditionell als emphatisch bezeichnet werden. Oft bilden stimmhafte, stimmlose und emphatische Konsonanten triadische Gruppen. In mehreren Hauptzweigen sind pharyngale Frikative (, ) vorhanden. Als klassisches Beispiel für ein typisch afroasiatisches Konsonantensystem kann dasjenige des Altsüdarabischen gelten. Es weist das konservativste System innerhalb des Semitischen auf und kommt darüber hinaus den für das Proto-Afroasiatische rekonstruierten Inventaren nahe: Im Semitischen, Berberischen und Ägyptischen ist das Vorkommen von Konsonanten in Wurzeln beschränkt. Insbesondere dürfen meist unterschiedliche Konsonanten mit dem gleichen Artikulationsort nicht in einer Wurzel vorkommen. Vokale Protosemitisch, Altägyptisch und möglicherweise das Protoberberische wiesen die drei Vokalphoneme a, i und u auf, die Beziehungen dieser Vokale zu denen anderer Sprachen, die durchgehend mehr Vokale aufweisen, sind kaum gesichert. Nach Ehret 1995 besaß die Protosprache die Vokale a, e, i, o, u, die lang und kurz auftreten konnten; die Rekonstruktion von Orel und Stolbova 1995 weicht ab. Zwar sind einige afroasiatische Sprachen Tonsprachen, doch ist unklar, ob das Proto-Afroasiatische deshalb ebenfalls eine Tonsprache war, wie Ehret 1995 annimmt. Morphologie Für das Semitische, Berberische und Ägyptische ist eine extensive Nutzung einer Wurzelmorphologie typisch, in der die lexikalische Information fast ausschließlich durch eine rein konsonantische Wurzel übermittelt wird, der die grammatische Information vor allem in Form von Vokalen beigefügt wird. Im Tschadischen und Kuschitischen findet sich nur ein begrenzt eingesetzter Ablaut; die Morphologie des Omotischen basiert dagegen fast ausschließlich auf Suffigierung und ist teilweise agglutinierend. In der wissenschaftlichen Diskussion geht man davon aus, dass das Proto-Afroasiatische zwar, beispielsweise zur Pluralbildung und zur Bildung von Aspektstämmen (siehe unten), ablautende Formen besaß, es lassen sich aber nur sehr wenige der vielen in den Sprachen vorhandenen Vokalisierungsmuster für das Proto-Afroasiatische rekonstruieren. Nominalmorphologie Für das Proto-Afroasiatische lässt sich ein zweiteiliges Genussystem mit den Genera Maskulinum und Femininum rekonstruieren, die sich nicht vollständig mit dem natürlichen Geschlecht (Sexus) decken. Zu den sichersten Gemeinsamkeiten in der Nominal- und auch Pronominalmorphologie gehört ein feminines Bildungselement t, das in vielen Sprachen an feminine Substantive suffigiert wird: Ägyptisch: Mittelägyptisch *sā́n.˘t „Schwester“ Berberisch: Kabylisch t-aqšiš-t „Mädchen“ Kuschitisch: Bedscha hamíʃ-t „Kuh“ Semitisch: akkadisch šarr-at-um „Königin“ Tschadisch: Miya tá-ká „jene“ Während das Maskulinum in der Nominalmorphologie des Berberischen, Ägyptischen und Semitischen unmarkiert ist, wenden viele Sprachen in anderen Primärzweigen hierzu analog zum Femininum Morpheme wie k und n an. Kuschitisch, Berberisch und Semitisch haben außerdem ein Kasussystem gemeinsam, von dem sich mögliche Spuren auch im Ägyptischen und Omotischen finden, wobei die Interpretation oder überhaupt Existenz des ägyptischen Befundes umstritten ist. Die Reflexe des rekonstruierten Absolutivs fungieren in allen Sprachen als Objekt transitiver Verben und im Berberischen und Kuschitischen auch als Zitierform und extrahiertes Topik; von letzterem Gebrauch gibt es auch mögliche Reste im Semitischen. Das Subjekt wird mit Reflexen des Nominativsuffixes markiert; die Protosprache wird daher meist als Akkusativsprache angesehen. Da der Absolutiv der unmarkierte Kasus gewesen sein soll, vermuten einige Wissenschaftler, dass das Proto-Afroasiatische in einer früheren Stufe eine Ergativsprache gewesen sein könnte, in welcher das Nominativsaffix -u auf die Subjekte transitiver Verben begrenzt gewesen sein soll. Alle Zweige des Afroasiatischen kennen die Numeri Singular und Plural, im Semitischen und Ägyptischen kommt ein Dual hinzu, für den sich ein Suffix *-y rekonstruieren lässt. Die Pluralbildung erfolgt allgemein, mit Ausnahme des Ägyptischen, in dem sich ein Suffix -w durchgesetzt hatte, auf vielfältige Art und Weise. Aufgrund ihrer großen Verbreitung können die Pluralsuffixe -n, -w und die Pluralbildung durch Veränderung der Vokalstruktur (besonders nach dem Muster CVCaC u. ä.), Gemination und Reduplikationen als proto-afroasiatische Merkmale angesehen werden: Mit -w: Ägyptisch nbw.w „Herren“ zu nbw „Herr“ Berberisch: Tuareg măss-aw „Herren“ zu məssi „Herr“, măssawăte „Herrinnen“ zu măssa „Herrin“ Kuschitisch: Afar lubak-wa „Löwen“ zu lubak „Löwe“ Semitisch: akkadisch šarrū (< *šarruw) „Könige“ zu šarru- „König“ Tschadisch: Hausa itaat-uuwà „Bäume“ zu itààc-èè „Baum“ Mit -a-: Berberisch: ijḍaḍ „Vögel“ zu ajiḍiḍ „Vogel“ Kuschitisch: Beja bak „Ziegen“ zu book „Ziege“ Semitisch: Arabisch kilāb „Hunde“ zu kalb „Hund“ Tschadisch: Ngizim gàmsàk „Männer“ zu gə̀msə̀k „Mann“ Über die ganze Sprachfamilie verbreitet sind außerdem einige Präfixe zur denominalen und deverbalen Nominalbildung, beispielsweise *m-, das zur Bildung deverbaler Substantive dient: Lokal: Ägyptisch *mĕ́sḏ˘r „Ohr“ zu sḏr „schlafen“. Berberisch: Tuareg emăsăww „Quelle“ zu əsəw „trinken“ Semitisch: Äthiopisch makwannān „Gerichtshalle“ zu kwannana „herrschen, richten“ Tschadisch: Bade màkfān „Eingang“ zu ə̀kfu „hereingehen“ Instrumental: Ägyptisch *mắ3q.t „Leiter“ zu j3q „hinaufsteigen“. Semitisch: Akkadisch našpartum „Brief“ zu šapāru „senden“ Tschadisch: Bade marbə̀cən „Schlüssel“ zu ə̀rbə̀cu „öffnen“ Agensnominalisierung: Ägyptisch mḏ3jw „Widersacher“ zu ḏ3j „kreuzen, sich widersetzen“ Berberisch: Tuareg amidi „Freund“ zu idaw „begleiten“ Semitisch: Äthiopisch makwannən „Herrscher, Richter“ zu kwannana „herrschen, richten“ Tschadisch: Bade màsūyān „Fischer“ zu sūy „fischen“ Ein Suffix *-y zur Bildung von denominalen Adjektiven, das oft mit der Genitivendung *-i in Verbindung gebracht wird, ist im Ägyptischen und Semitischen vorhanden: Ägyptisch jmn.t.j „westlich“ zu jmn.t „Westen“ Semitisch: Arabisch taʔrīḫ-iyy-un „historisch“ zu taʔrīḫ-un „Geschichte“ Ähnliche Suffixe zur Bildung von Adjektiven finden sich auch im kuschitischen Bedscha. Pronomina Die Morphologie der Personalpronomina ist innerhalb des Afroasiatischen relativ konsistent. Den Kern bildete die folgende, in allen Zweigen erhaltene Reihe (Tabelle im Wesentlichen nach Hayward 2000; die angegebenen Pronomina sind oft in mehreren einzelsprachlichen Reihen verteilt. Die Dualformen im Ägyptischen und Semitischen bleiben hier unberücksichtigt.): In allen Primärzweigen außer dem Omotischen treten diese Pronomina als klitische Objekts- und Possessivpronomina auf: Objektspronomina Ägyptisch h3b=f wj „er schickte mich“ Berberisch: Tuareg i-nn asnăt „er sagte ihnen“ Kuschitisch: Bedscha irhán-hokna „ich sah euch“ Semitisch: Arabisch taraa-hu „du siehst ihn“ Tschadisch: Bole íshí ɗòppée-nò „dass er mir folge“ Possessivpronomina Ägyptisch pr=f' „sein Haus“ Berberisch: Kabylisch aḫḫam-is „sein Haus“ Kuschitisch: Bedscha tóː-kʷaː-tóː-k „deine Schwester“ Semitisch: Arabisch baytu-kunna „euer (feminin) Haus“ Tschadisch: Bole mòrɗó-kò „deine (m.) Hirse“ Einzelsprachlich haben formal verwandte Pronomina auch eine Reihe anderer Funktionen, so haben viele Sprachen formal ähnliche Subjektspronomina. Auch die Intransitive Copy Pronouns einiger tschadischer Sprachen sind formal ähnlich. Daneben lässt sich wohl eine zweite Reihe rekonstruieren, deren Mitglieder frei stehen konnten und die oft aus einem Element ʔan- und einem auch für die Verbalkonjugation benutzten Suffix zusammengesetzt sind. Ehret 1995 rekonstruiert nur Formen für den Singular; in vielen Sprachen gibt es auch analog gebildete Pluralformen. Ägyptisch und Semitisch haben weitere freie Pronomina, die aus den gebundenen Pronomina und -t zusammengesetzt sind, wie ägyptisch kwt > ṯwt „du (mask.)“, akkadisch kâti „dich (mask.)“. Die Demonstrativpronomina werden in vielen afroasiatischen Sprachen aus kleinen Elementen zusammengesetzt, besonders genusanzeigenden Elementen *n-, *k- (Maskulinum), *t- (Femininum), die mit weiteren kleinen Elementen kombiniert werden: Somali (Kuschitisch) kan (m.), tan (f.), kuwan (pl.) „dieser, -e, -e“. Altägyptisch pn (m.), tn (f.), jpn (pl. m.), jptn (pl. f.), nn (neutrisch) „dieser, -e, -e“. Miya (Westtschadisch) náka (m.), táka (f.), níyka (pl.) „jener, -e, -e“. Verbalmorphologie Konjugation In der Verbalmorphologie zeigen sich zwischen den Primärzweigen ähnliche Unterschiede wie sie schon bei der Substantivdeklination erkennbar wurden: Semitisch, Kuschitisch und Berberisch besitzen die Präfixkonjugation, die durch Ablaut mehrere Aspektstämme unterscheidet (siehe unten) und Kongruenz mit dem Subjekt über Prä- und Suffixe markiert. Die folgende Tabelle illustriert das System der Personalaffixe der Präfixkonjugation: Im Ägyptischen haben sich keine Spuren der Präfixkonjugation erhalten, stattdessen findet sich hier schon seit den frühesten Texten die (ägyptische) Suffixkonjugation, die keine Personalkonjugation kannte, aber das pronominale Subjekt durch suffigierte Personalpronomina ausdrückte: sḏm=f „er hört“, sḏm.n nṯr „der Gott hörte“. Die Evolution dieser Art der Konjugation ist umstritten, in Frage kommen hauptsächlich Verbalnomina und Partizipien. Das Tschadische besitzt zwar eine Konjugation durch meist präverbale Morpheme, doch ist diese genetisch mit der Präfixkonjugation nicht verwandt, vielmehr stellen die Personapräfixe des Tschadischen modifizierte Formen der Personalpronomina dar. Beispiel: Hausa kaa tàfi „du gingst“. Im Omotischen erfolgt die Konjugation auf verschiedene Weise durch pronominale Elemente; das Verbalsystem des Proto-Omotischen ist höchstens in Ansätzen rekonstruierbar. Neben der Präfixkonjugation besaß das Proto-Afroasiatische noch eine zweite Konjugationsmethode, in der die Kongruenz mit dem Subjekt ausschließlich durch Suffixe hergestellt wurde. Diese Art der Konjugation hat sich im Semitischen, Ägyptischen und Berberischen erhalten, sie verlieh dem Verb – im Akkadischen auch Substantiven und Adjektiven – offenbar eine stativische Bedeutung. Nach der Meinung einiger Wissenschaftler ist auch die Suffixkonjugation des Kuschitischen genetisch verwandt, bei ihr kann es sich aber auch, wie heute mehrheitlich angenommen wird, um eine sekundäre Bildung aus Verbalstamm plus präfixkonjugiertem Hilfsverb handeln. (Die altägyptischen und akkadischen Dualformen bleiben hier unberücksichtigt. Paradigmawörter: ägyptisch nfr „gut“, kabylisch məqqər- „groß sein“, akkadisch zikarum „Mann“): Aspektstämme Aspektstämme werden in vielen afroasiatischen Sprachen, vor allem solchen mit Reflexen der Präfixkonjugation, durch Ablaut gebildet. Meist wird davon ausgegangen, dass die Protosprache bereits mindestens zwei Aspektstämme gekannt hat: ein imperfektiver und ein perfektiver Stamm. Während der Vokal des perfektiven Stamms wohl lexikalisch festgelegt war, werden dem imperfektiven Stamm Ablaut nach a und/oder Gemination des vorletzten Stammkonsonantes als typische Bildungsmerkmale zugeordnet. Belege für diese Bildungsweisen finden sich in allen Hauptzweigen außer dem Ägyptischen und Omotischen, wenngleich deren Deutung als Reste eines ursprachlichen Imperfektstammes im Tschadischen angezweifelt wird: Berberisch: Tuareg: -ə̀knəs- (Aorist) – -kánnæs- (Intensiv) Kuschitisch: Afar: -erd- (Perfekt) – -ard- (Imperfekt) Semitisch: Akkadisch -kbit- (Perfekt) – -kabbit- (Imperfekt) Tschadisch: Ron: mot – mwáat (Habitativ). Einige Wissenschaftler halten auch einen intransitiven oder stativen Stamm mit -a-, dessen Reflexe sich im Berberischen, Semitischen und Kuschitischen finden sollen, für rekonstruierbar. Das Bedscha (Nordkuschitisch) und die Berbersprachen besitzen in der Präfixkonjugation auch negative Verbalstämme, deren Bezug zum protosprachlichen System aber kaum erforscht ist. Der Verbalstamm, der in der Suffixkonjugation angewendet wird, hat im Semitischen und Ägyptischen bei dreikonsonantigen primären Verben die Form CaCVC-, im (Proto-)Berberischen dagegen meist *Cv̆Cv̄C. Über die Protosprache lassen sich daher keine näheren Aussagen machen. Je nach der Verteilung und Quantität der Vokale in der Präfixkonjugation lassen sich die Verben in verschiedene Klassen einteilen, die sich in ähnlicher Form auch im Ägyptischen finden und die teilweise auf die Protosprache zurückgehen können. In fast allen afroasiatischen Sprachen werden auch Affixe und Infixe zur Bildung von Verbalstämmen angewendet, die aspektuelle, temporale und modale Unterscheidungen und in einigen tschadischen und omotischen Sprachen auch Fragesätze markieren. Bislang konnten allerdings keine derartigen Affixe für das Proto-Afroasiatische rekonstruiert werden. Verbalbildung Allen Hauptzweigen des Afroasiatischen ist ein hauptsächlich aus Affixen bestehendes System zur deverbalen Verbalbildung gemeinsam. Sehr weit verbreitet ist ein Affix *-s-, das zur Bildung kausativer, faktitiver und transitiver Verben dient: Ägyptisch s-mn „festsetzen“ zu mn „bleiben“ Berberisch: Kabylisch ss-irəd „waschen“ zu irid „gewaschen werden“ Kuschitisch: Oromo dammaq-s „aufwecken“ zu dammaq „aufwachen“ Omotisch: Aari: lanq-s- „müde machen“ zu lanq- „müde sein“. Semitisch: Ugaritisch šlḥm „füttern“ zu lḥm „essen“ Tschadisch: Hausa karànta-s / karànta-r „lehren“ zu karàntaa „lernen“ Weitere weit verbreitete Affixe sind *-t- und *-m-, die Reflexivität, Reziprozität, Passivität, Intransitivität und das Medium ausdrücken: Berberisch: Kabylisch m-ẓər „sich (gegenseitig) sehen“ zu ẓər „sehen“ Kuschitisch: Afar -m-ḥukum- „gerichtet werden“ zu -ḥkum „richten“ Omotisch: Gamo bakˀ-ett-ees „geschlagen werden“ zu bakˀkˀ-ees „schlagen“ Semitisch: Akkadisch mitḫurum „einander gegenüberstehen“ zu maḫarum „gegenüberstehen“ Tschadisch: Bade jədù „nehmen“ zu ju „gehen“ Reduplikation dient in vielen Sprachen zum Ausdruck verbaler Intensität oder Pluralität: Ägyptisch: wnwn „umhergehen“ zu wnj „eilen“ Kuschitisch: Oromo duddubbaddh „wieder und wieder sprechen“ zu dubbaddh „sprechen“. Omotisch: Aari míksmiks-da „er bettelt“ zu miks- „betteln“ Tschadisch: Hausa sàssayàà „wieder und wieder kaufen“ zu sàyaa „kaufen“ Syntax Einige Merkmale der Syntax sind innerhalb des Afroasiatischen besonders weit verbreitet. Ob es sich hierbei auch um Merkmale der Protosprache handeln könnte, wurde bisher nicht umfassend untersucht. In den meisten Sprachen folgen Objekte dem Verb, pronominale Objekte stehen dabei oft vor nominalen Objekten. Sind beide Objekte pronominal, folgt das direkte dem Indirekten; indirekte nominale Objekte folgen jedoch direkten. Diese drei Regeln sind im älteren Ägyptisch, vielen semitischen Sprachen, dem Tschadischen und Berberischen nahezu universell gültig: Wortschatz Der für die Protosprache rekonstruierbare Wortschatz dürfte mehrere hundert Lexeme groß sein, seine Rekonstruktionen (Diakonoff u. a. 1993-7, Ehret 1995, Orel-Stolbova 1995) weichen jedoch, nicht zuletzt aufgrund der Unsicherheiten hinsichtlich der Rekonstruktion der Lautkorrespondenzen, stark voneinander ab. Nur für wenige Lexeme gibt es Belege in allen sechs Primärzweigen. Beispiele für mögliche Wortgleichungen gibt die folgende Tabelle. Die Rekonstruktionen proto-afroasiatischer Wurzeln wurden Ehret 1995 entnommen (dort: ă=tiefer Ton; â=hoher Ton). Die einzelsprachlichen Reflexe sind verschiedenen Veröffentlichungen entnommen. Einzelne Reflexe erfordern gegensätzliche Lautentsprechungen, so fordert die Gleichung jdmj „roter Leinenstoff“ < Proto-Afroasiatisch *dîm-/*dâm- „Blut“ die Beziehung ägyptisch d < proto-afroasiatisch *d, während ägyptisch ˁ3j „groß sein“ als Reflex von *dăr- „größer werden/-machen“ die Beziehung ägyptisch ˁ < proto-afroasiatisch *d voraussetzt. Folglich kann nur eine dieser beiden Gleichungen richtig sein (sofern man keine komplexeren Regeln für *d rekonstruiert), in der Forschung werden beide Lautbeziehungen vertreten. Wo die Bedeutung des einzelsprachlichen Reflexes mit der rekonstruierten Wurzelbedeutung übereinstimmt, wurde diese nicht wiederholt. Literatur Überblick Igor M. Diakonoff: Afrasian languages. Nauka, Moskau 1988. Richard Hayward: Afroasiatic. In: Bernd Heine, Derek Nurse (Hrsg.): African Languages. Cambridge University Press, Cambridge 2000, ISBN 0-521-66629-5. Joseph Greenberg: The Languages of Africa. 3. Auflage. Mouton, The Hague and Indiana University Center, Bloomington 1963, ISBN 0-87750-115-7. Ernst Kausen: Die Sprachfamilien der Welt. Teil 2: Afrika – Indopazifik – Australien – Amerika (Kapitel 2). Buske, Hamburg 2014, ISBN 978-3-87548-656-8. Hans-Jürgen Sasse: Afroasiatisch. In: Bernd Heine, Thilo C. Schadeberg, Ekkehard Wolff (Hrsg.): Die Sprachen Afrikas. Buske, Hamburg 1981, ISBN 3-87118-496-9, S. 129–148. Lexikon und Phonologie Igor M. Diakonoff u. a.: Historical-Comparative Vocabulary of Afrasian. In: St. Petersburg Journal of African Studies. Band 2–6. St. Petersburg 1993–1997. Christopher Ehret: Reconstructing Proto-Afroasiatic (Proto-Afrasian), Vowels, Tone, Consonants, and Vocabulary. (= University of California Publications in Linguistics. Band 126). University of California Press, Berkeley 1995, ISBN 0-520-09799-8. Vladimir E. Orel, Olga V. Stolbova: Hamito-Semitic Etymological Dictionary. Materials for a Reconstruction. (= Handbuch der Orientalistik. Abteilung I. Band 18). Brill, Leiden 1995, ISBN 90-04-10051-2 (aufgrund methodischer Unzulänglichkeiten stark in der Kritik). Marcel Cohen: Essai comparatif sur la vocabulaire et la phonétique du chamito-sémitique. Champion, Paris 1947 (von historischem Interesse). Weblinks die afroasiatischen Sprachen im World Atlas of Language Structures Online (englisch) die afroasiatischen Sprachen im Ethnologue (englisch) Einzelnachweise und Anmerkungen Sprachfamilie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Afrikanische%20Sprachen
Afrikanische Sprachen
Der Begriff Afrikanische Sprachen ist eine Sammelbezeichnung für die Sprachen, die auf dem afrikanischen Kontinent gesprochen wurden und werden. Die Bezeichnung „Afrikanische Sprachen“ sagt nichts über eine sprachgenetische Verwandtschaft aus (→ Sprachfamilien der Welt, Sprachfamilie). Begriff Zu den afrikanischen Sprachen zählen zunächst die Sprachen, die ausschließlich auf dem afrikanischen Kontinent gesprochen werden. Das sind die Niger-Kongo-Sprachen, die nilosaharanischen Sprachen und die Khoisan-Sprachen. Auch die afroasiatischen Sprachen rechnet man traditionell insgesamt zu den „afrikanischen Sprachen“ hinzu, obwohl Sprachen der semitischen Unterfamilie des Afroasiatischen auch oder nur außerhalb Afrikas – im Nahen Osten – gesprochen wurden und werden. Zum einen sind die semitischen Sprachen wesentlich auch in Afrika vertreten (z. B. das Arabische, viele Sprachen Äthiopiens und Eritreas), zum anderen stammt die afroasiatische Sprachfamilie wahrscheinlich aus Afrika. In diesem erweiterten Sinne gibt es 2.138 afrikanische Sprachen und Idiome, die von rund 1,101 Mrd. Menschen gesprochen werden. Die Sprache Madagaskars – Malagasy – gehört zur austronesischen Sprachfamilie und wird deshalb normalerweise nicht zu den „afrikanischen Sprachen“ gerechnet, ebenfalls nicht die europäischen indogermanischen Sprachen der Kolonisatoren (Englisch, Afrikaans, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch und Deutsch). Von den gut 2000 rezenten afrikanischen Sprachen sind 1400 Niger-Kongo-Sprachen, darunter mehr als 500 Bantusprachen. Mit mehr als 500 Sprachen werden in Nigeria die meisten afrikanischen Sprachen gesprochen. Die Afrikanistik ist die Wissenschaft, die sich mit den afrikanischen Sprachen und Kulturen befasst. Die Einteilung der afrikanischen Sprachen Seit den 1950er Jahren werden die afrikanischen Sprachen auf Grund der Arbeiten von Joseph Greenberg in vier Gruppen oder Phyla eingeteilt: Afroasiatisch mit etwa 350 Sprachen und 350 Mio. Sprechern in Nordafrika und Westasien Niger-Kongo mit etwa 1400 Sprachen und 370 Mio. Sprechern in West-, Zentral- und Südafrika Nilosaharanisch mit etwa 200 Sprachen und 35 Mio. Sprechern vom Sudan bis Mali Khoisan mit 28 Sprachen und 355 Tsd. Sprechern vor allem im südwestlichen Afrika Die Forschung betrachtet die Greenberg'sche Klassifikation als methodisch unzureichend, um tatsächliche sprachgenetische Aussagen zu formulieren, die ähnlich belastbar sind, wie die sprachgenetischen Aussagen zu anderen Sprachfamilien. Jedoch dient diese Schematik heute mangels Alternativen übereinstimmend als pragmatisches Ordnungsprinzip, z. B. für Bibliothekssystematiken. Die innere Struktur dieser Sprachgruppen wird in den Einzelartikeln behandelt. Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Klassifikation der afrikanischen Sprachen insgesamt. (Siehe auch: Liste afrikanischer Sprachen) Diskussion der afrikanischen Phyla Ob diese Sprachgruppen oder Phyla genetisch definierte Sprachfamilien bilden, wird in der Afrikanistik nach wie vor zum Teil strittig diskutiert. Jedenfalls geht auch das einzige aktuelle Standardwerk über afrikanische Sprachen insgesamt – B. Heine and D. Nurse, African Languages – An Introduction (Cambridge 2000) – herausgegeben und verfasst von führenden Afrikanisten unserer Zeit (B. Heine, D. Nurse, R. Blench, L.M. Bender, R.J. Hayward, T. Güldemann, R. Voßen, P. Newman, C. Ehret, H.E. Wolff u. a.) von diesen vier afrikanischen Phyla aus. Das Nilosaharanische wird von den Spezialisten dieses Gebiets (zum Beispiel L.M. Bender und C. Ehret) als gesicherte Einheit aufgefasst, deren Protosprache in Grundzügen zu rekonstruieren ist. Diese Meinung wird jedoch nicht von allen Afrikanisten geteilt, obwohl der Kern des Nilosaharanischen – Ostsudanisch, Zentralsudanisch und einige kleinere Gruppen – als genetische Einheit ziemlich unumstritten ist. Von wenigen bezweifelt wird die Zugehörigkeit der Sprachen Kunama, Berta, Fur und der Maba-Gruppe zum Nilosaharanischen. Stärkere Zweifel gelten für die „Outlier-Gruppen“ Saharanisch, Kuliak und Songhai, deren Zugehörigkeit zum Nilosaharanischen von mehreren Forschern bestritten wird. Dennoch kann vor allem nach den Arbeiten von Bender und Ehret keine Rede davon sein, dass das Konzept der nilosaharanischen Sprachen als Ganzes gescheitert sei. Selbst wenn sich die eine oder andere Außengruppe doch als eigenständig erweisen sollte, so wird der größere Teil des Nilosaharanischen als genetische Einheit Bestand haben. Anders ist die Situation beim Khoisan: die Autoren dieses Abschnitts im oben genannten Übersichtswerk (T. Güldemann und R. Voßen) halten die auf Greenberg und mehrere Vorgänger zurückgehende Vorstellung einer genetischen Einheit der Khoisan-Sprachen nicht aufrecht, sondern gehen stattdessen von mindestens drei genetisch unabhängigen Einheiten (Nordkhoisan oder Ju, Zentralkhoisan oder Khoe, Südkhoisan oder ) aus, die früher zum Khoisan gerechneten Sprachen Sandawe, Hadza und Kwadi werden als isoliert betrachtet. Die Khoisan-Gruppe bilde einen arealen Sprachbund typologisch verwandter Sprachen, der durch lange Kontaktphasen entstanden sei. Diese Einschätzung der Khoisan-Gruppe als Sprachbund findet heute weite Zustimmung. Geschichte der Klassifikation Die folgende Darstellung gibt einen tabellarischen Überblick über die Forschungsgeschichte der afrikanischen Sprachen. Die verwendeten Gruppenbezeichnungen sind teilweise modern, damit auch der Nichtfachmann den Zuwachs – oder Rückschritt – der gewonnenen Erkenntnisse verfolgen kann. Seit dem 10. Jahrhundert Afrikanische Sprachen werden in arabischen Dokumenten beschrieben; die Verwandtschaft des Hebräischen, Arabischen und Aramäischen ist jüdischen und islamischen Sprachkundigen seit langem bekannt 1538 G. Postel stellt als erster Europäer die Verwandtschaft der damals bekannten semitischen Sprachen fest. Der Begriff „Semitische Sprachen“ wird erst 1781 von Schlözer eingeführt 17. Jahrhundert Erste wissenschaftliche Beschäftigung mit afrikanischen Sprachen in Europa: Koptisch (1636), Nubisch (1638), (Ki-)Kongo (1652), Nama (1643), Altäthiopisch (1661) und Amharisch (1698) 1700 H. Ludolf erweitert die semitische Gruppe um die äthiopischen Sprachen Altäthiopisch und Amharisch 18. Jahrhundert Europäischen Gelehrten fallen Ähnlichkeiten des Koptischen mit den semitischen Sprachen auf 1776 L.B. Proyart erkennt die genetische Verwandtschaft einiger Bantusprachen 1778 W. Marsden beschreibt die Umrisse der Bantufamilie und erkennt, dass die Bantusprachen etwa so nah verwandt sind wie die romanischen Sprachen, publiziert erst 1816 1781 von Schlözer führt den Begriff „Semitische Sprachen“ ein 1808 H. Lichtenstein teilt die südafrikanischen Sprachen in Bantu- und Nama (Khoisan)-Sprachen ein 1820er Champollion entdeckt bei der Entzifferung der Hieroglyphen Ähnlichkeiten zwischen dem Ägyptischen und den semitischen Sprachen 1826 A. Balbi versucht die erste Gesamtübersicht und Einteilung der afrikanischen Sprachen in Atlas ethnographique du globe ou classification des peuples anciens et modernes d'après leurs langues 1850 J.L. Krapf prägt den – später heftig umstrittenen und heute aufgegebenen – Begriff „Hamitische Sprachen“ für die nicht-semitischen subsaharischen Sprachen, wobei die Khoisan-Sprachen wohl ausgeklammert bleiben; er unterscheidet „Nilo-Hamitisch“ (dazu zählt er zum Beispiel die Bantu-Sprachen) und „Nigro-Hamitisch“ (für die westafrikanischen Sprachen) 1877 F. Müller fügt den „nilo-hamitischen“ Sprachen die Berbersprachen und die kuschitischen Sprachen hinzu. Trotz Ähnlichkeiten zählt er das Hausa nicht zum Hamitischen. Die „nilohamitischen“ und semitischen Sprachen fasst Müller zum „hamito-semitischen“ Sprachstamm zusammen (Arbeiten 1876–88) 1880 Der deutsche Sprachforscher und Ägyptologe K.R. Lepsius fasste alle nichtsemitischen flektierenden Sprachen Afrikas, die ein Genus-System besitzen, zu den „Hamitischen Sprachen“ zusammen und definiert dadurch diesen Terminus neu. Seiner Überzeugung nach gehörte zum Hamitischen auch das Hausa (und die anderen tschadischen Sprachen) sowie die Berber-Sprachen. 1888 K.R. Lepsius rechnet auch die Nama-Buschmann-Sprachen zum Hamitischen; eine falsche Klassifikation, die lange Bestand hatte und hinter die Klassifikation von 1850 zurückfällt. Unrichtig war auch die Einordnung von Maasai (heute: nilosaharanische Sprache) als hamitische Sprache 1912 C. Meinhof erweitert die hamitischen Sprachen um die Nama-Buschmann-Sprachen (Khoisan) und Maasai (wie Lepsius), aber auch noch Fulani (heute: Niger-Kongo-Sprache) u. a. Diese Gesamtklassifikation der afrikanischen Sprachen, welche sehr lange Bestand hatte, umfasst danach die Bantusprachen, die Hamitosemitische Sprachen (im weiten Sinne Meinhofs) und Sudansprachen. C. Meinhof postuliert, dass die Bantusprachen mit ihren charakteristischen Nominalklassensystemen eine Vermischung der hamitischen Sprachen, welche ein grammatisches Geschlecht besitzen, und der Negersprachen seien (die kein grammatisches Geschlecht kennen). Die Negersprachen südlich der Sahara fasste Meinhof unter dem Begriff Sudansprachen zusammen. Meinhof nimmt auch Ablautgesetze, Wortstrukturen und Lautinventare für die Einordnung von Sprachen in seine „hamitische Gruppe“ zur Hilfe. Wo diese typologischen Kriterien nicht ausreichten (die keinerlei genetische Relevanz hatten), ergänzt er sie durch völkische Einordnungsmuster. Dieser – nach heutiger Vorstellung völlig falsche – Ansatz führte zu der Einordnung von Sprachen aus vier verschiedenen Sprachgruppen – Khoisan, Ful (Niger-Kongo), Somali (kuschitisch) und Maasai (nilosaharanisch) – in seine „hamitische“ Gruppe. Diese Klassifizierung hält sich vor allem in der deutschen Afrikanistik als herrschende Meinung bis etwa 1950 1927 Bereits 1911 nahm D. Westermann (ein Schüler C. Meinhofs) eine interne Unterscheidung der Sudansprachen in west- und ostsudanesische Sprachen vor. 1927 erforschte Westermann zusammen mit Hermann Baumann die geschichtliche Entwicklung des Westsudanischen. Sie verglichen das Ergebnis mit dem Proto-Bantu von C. Meinhof, schlossen daraus aber noch nicht auf genetische Verwandtschaft. 1935 etablierte Westermann durch sein Werk „Charakter und Einteilung der Sudansprachen“ die These einer Verwandtschaft zwischen der westlichen Sudansprachen zum Bantu und legt damit gegen die Meinung seines Lehrers den Kern für das heutige „Niger-Kongo“; er erkennt auch, dass die östlichen Sudansprachen – ebenfalls im Gegensatz zur Auffassung seines Lehrers – nicht mit den westlichen verwandt sind. Die ostsudanischen Sprachen werden später von Greenberg als „Nilosaharanisch“ klassifiziert 1948–63 J. Greenberg klassifiziert die afrikanischen Sprachen von Grund auf neu. Er führt den Begriff „Afroasiatisch“ anstelle des belasteten „Hamito-Semitisch“ ein und etabliert das Tschadische als fünfte Unterfamilie des Afroasiatischen. Das Niger-Kongo wird als neuer Begriff für die westsudanischen Sprachen definiert, es schließt auch die Fulani-Gruppe, das Adamawa-Ubangi und vor allem die Bantusprachen (als Unter-Unter-Einheit) mit ein. Die ostsudanischen Sprachen werden mit einigen kleineren Gruppen als „Nilosaharanisch“ zusammengefasst. Er gelangt über verschiedene Zwischenstufen zur heute weitgehend akzeptierten Einteilung der afrikanischen Sprachen in (1) Afroasiatisch, (2) Nilosaharanisch, (3) Niger-Kordofanisch (heute Niger-Kongo) und (4) Khoisan 1969 H. Fleming identifiziert Omotisch als sechsten Zweig des Afroasiatischen weitere Entwicklung: Die gesamte afrikanistische Forschung, soweit sie klassifikatorisch tätig ist, arbeitet auf Basis des Greenbergschen Modells, auch wenn sie dieses nicht in allen Einzelheiten anerkennt. Kritik gibt es vor allem am Nilosaharanischen, später auch – mit mehr Berechtigung – am Khoisan Greenbergs Beitrag zur Klassifikation der afrikanischen Sprachen Greenberg verzichtet auf nicht-linguistische Kriterien wie Rasse und Kultur, die zum verfehlten Begriff des Hamitischen geführt haben; konsequenterweise eliminiert er die Einheit Hamitisch. G. erkennt, dass die Zweige der hamito-semitischen Gruppe gleichberechtigt sind, und gibt die Zweiteilung in Semitisch und Hamitisch auf; als Folge davon benennt er diese Einheit in Afroasiatisch um, da der alte Name diese Zweiteilung suggeriert. G. etabliert das Tschadische als unabhängigen Zweig des Afroasiatischen, das damit aus den gleichberechtigten Zweigen Semitisch, Ägyptisch, Berberisch, Kuschitisch und Tschadisch besteht. (Das Omotische wird später durch Arbeiten von H. Fleming vom Kuschitischen abgetrennt.) G. entfernt die Gruppen, die Lepsius und Meinhof fälschlicherweise dem Hamitischen hinzugefügt hatten, und ordnet sie anderen Familien zu: so wurde Fulani dem Niger-Kongo, Nama dem Khoisan zugeordnet, und Nilo-Hamitisch bzw. Nilotisch zu einer Unterfamilie des Nilosaharanischen. G. ordnet das Adamawa-Ubangi dem Niger-Kongo zu. G. erkennt die korrekte Position des Bantu als Unter-Untergruppe des Niger-Kongo. G. führt das Nilosaharanische als Restkategorie der Sprachen ein, die weder zum Afroasiatischen, noch zum Niger-Kongo, noch zum Khoisan gehören. Damit umfassen sie die ostsudanischen Sprachen und einige kleinere Sprachgruppen. Er versucht, die genetische Einheit dieser Gruppe nachzuweisen. (Vor allem diese letztere Einschätzung wurde von Greenbergs Gegnern kritisiert, obwohl Meinhof das Sudanische als eine Restkategorie definiert hatte, die sogar das heutige Niger-Kongo und das Nilosaharanische umfasst.) Methodisch ist seine Einteilung aufgrund der gewählten Methode (Lexikostatistik, bzw. Lexikalischer Massenvergleich) hochumstritten, da diese Methode erstens rein statistisch vorgeht und zweitens unzureichendes Material zugrunde legt (ausschließlich Wörterlisten meist zweifelhafter Güte) und drittens in Zeitalter zurückreicht, die mit anderen linguistischen oder archäologischen Methoden niemals erfasst geschweige denn bestätigt werden könnten. Daher wird die Greenberg-Klassifikation heute zwar mangels Alternative als Ordnungssystem (etwa zur Herstellung von systematischen Bibliothekskatalogen) weitgehend akzeptiert, ihr genetischer Aussagegehalt jedoch nur mit starken Vorbehalten angenommen. Soziolinguistische Situation Afrikas Die Staatsgrenzen stimmen in Afrika nicht mit den Grenzen von Sprachen und Volksgruppen überein. Es haben sich, bis auf wenige Ausnahmen, keine einheitlichen Kulturnationen herausgebildet, so dass es keine Verbindung von Sprache, Volk und Staat gibt. Die soziolinguistische Situation in Subsahara-Afrika ist in weiten Teilen durch eine Triglossie geprägt. Es haben sich neben den zahlreichen einheimischen Sprachen der einzelnen Volksgruppen (→ Vernakularsprache) infolge Wanderungsbewegungen, Handelswesen, vorkolonialer Reichsbildung, religiöse Missionierungen und teilweise auch durch die Unterstützung der Kolonialherren im Rahmen einer „Stammesselbstverwaltung“ und der britischen „Politik der mittelbaren Herrschaft“ bestimmte Sprachen als afrikanische Verkehrssprachen herausgebildet, welche die Aufgaben übernehmen, die Verständigung zwischen den Angehörigen der verschiedenen Volksgruppen zu ermöglichen. Sie spielen insbesondere eine wichtige Rolle in afrikanischen Städten, wo eine Bevölkerung lebt, die anders als die Landbevölkerung nicht mehr zuvörderst durch eine Volksgruppenzugehörigkeit geprägt ist. Diese Verkehrssprachen sind auch im Volksbildungswesen von Bedeutung und werden in einigen Medien und in der Literatur verwandt. Zu diesen Verkehrssprachen werden vor allem Swahili in Ostafrika, Hausa, Fulfulde, Kanuri, Igbo, Yoruba und die Mandesprachen Bambara, Dioula und Malinke in Westafrika gezählt. In Zentralafrika spielen Lingála, Kikongo und Sango eine Rolle. Neben den Vernakularsprachen und den afrikanischen Verkehrssprachen sind seit der Kolonialherrschaft Französisch, Englisch und Portugiesisch eingeführt worden. Diese Sprachen werden in den meisten afrikanischen Staaten südlich der Sahara weiterhin als Amts-, Gerichts- sowie Lehr- und Wissenschaftssprachen in den Universitäten und höheren Lehranstalten verwendet. Die Kenntnisse der europäischen Sprachen ist je nach Bildungsgrad, Land und Grad der Verstädterung recht unterschiedlich. Die Politik der Exoglossie erscheint vielen Staaten wegen der Sprachenvielfalt als vorzugswürdig. Insbesondere sollen der Vorwurf der Benachteiligung der anderen, nicht staatstragenden Ethnien (→Tribalismus) und eine wirtschaftliche Isolierung vermieden werden. Ausnahmen von der Triglossie sind nur Burundi und Ruanda. In Kenia, Uganda und Tansania wird Swahili gefördert und ist auch als Amtssprache verankert. Gänzlich anders gestaltet sich die Lage in Nordafrika und am Horn von Afrika. Die vor den islamischen Eroberungen der Araber im Magreb vorherrschenden Berbersprachen sind durch das Arabische in den Hintergrund gedrängt worden. In Ägypten starb das Ägyptisch-Koptische aus. Arabisch ist für die weitaus meisten Nordafrikaner Muttersprache. Anders als in Subsahara-Afrika haben die nordafrikanischen Staaten die Sprache der Kolonialherren, Französisch, durch Arabisch als Amtssprache ersetzt. In Äthiopien wirkt Amharisch als Verkehrssprache; eine Kolonialsprache gibt es nicht. In Somalia ist Somali vorherrschend. Italienisch hat dort sehr stark an Boden verloren. Siehe auch Liste afrikanischer Sprachen Literatur – chronologisch geordnet Richard Lepsius: Nubische Grammatik. Mit einer Einleitung über die Völker und Sprachen Afrikas. Hertz, Berlin 1880, ISBN 3-8364-2105-4. Diedrich Westermann: Die Sudansprachen. Friederichsen, Hamburg 1911. Carl Meinhof: Die Sprachen der Hamiten. Friederichsen, Hamburg 1912. Diedrich Westermann: Die westlichen Sudansprachen und ihre Beziehungen zum Bantu. Reimer, Hamburg 1927. Malcolm Guthrie: The Classification of the Bantu Languages. Oxford University Press 1948. Joseph Greenberg: Studies in African Linguistic Classification. 7 Parts. Southwestern Journal of Anthropology.University of New Mexico Press. Albuquerque 1949–1950. Part I: The Niger-Congo Family. 1949. Part II: The Classification of Fulani. 1949. Part III: The Position of Bantu. 1949. Part IV: Hamito-Semitic. 1950. Part V: The Eastern Sudanic Family. 1950. Part VI: The Click Languages. 1950. Part VII: Smaller Families; Index of Languages. 1950. Joseph Greenberg: The Languages of Africa. Mouton, The Hague and Indiana University Center, Bloomington 1963 (3. Ausgabe), ISBN 0-87750-115-7. Malcolm Guthrie: Comparative Bantu. 4 Volumes. Gregg, Farnborough 1967–71. Achiel E. Meeussen: Bantu Grammatical Reconstructions. Annales du Musée Royale de l’Afrique Central 1967. Carleton T. Hodge (Hrsg.): Afroasiatic. A Survey. Mouton, The Hague – Paris 1971. A. E. Meeussen: Bantu Lexical Reconstructions. Annales du Musée Royale de l’Afrique Central 1980. Bernd Heine und andere (Hrsg.): Die Sprachen Afrikas. Buske, Hamburg 1981, ISBN 3-87118-496-9. Herrmann Jungraithmayr und andere: Lexikon der Afrikanistik. Reimer, Berlin 1983, ISBN 3-496-00146-1. (weitgehend veraltet) John Bendor-Samuel: The Niger-Congo Languages: A Classification and Description of Africa’s Largest Language Family. University Press of America. Lanham/ New York/ London 1989, ISBN 0-8191-7375-4. Christopher Ehret: Reconstructing Proto-Afroasiatic. University of California Press, Berkeley – Los Angeles – London 1995, ISBN 0-520-09799-8. Rainer Voßen: Die Khoe-Sprachen. Köppe, Köln 1997, ISBN 3-927620-59-9. Lionel M. Bender: The Nilo-Saharan Languages. A Comparative Essay. 2. Auflage. Lincom Europa, München/ Newcastle 1997, ISBN 3-89586-045-X. Bernd Heine, Derek Nurse (Hrsg.): African Languages. An Introduction. Cambridge University Press, 2000, ISBN 0-521-66629-5. Christopher Ehret: A Historical-Comparative Reconstruction of Nilo-Saharan. Köppe, Köln 2001, ISBN 3-89645-098-0. Derek Nurse, Gérard Philippson (Hrsg.): The Bantu Languages. Routledge, London/ New York 2003, ISBN 0-7007-1134-1. Ernst Kausen: Die Sprachfamilien der Welt. Teil 2: Afrika – Indopazifik – Australien – Amerika. Buske, Hamburg 2014, ISBN 978-3-87548-656-8. (Kapitel 1) Weblinks Sprachen Afrikas bei Ethnologue Afrikanische Sprachen und Linguistik im Internet (Auszug aus der Webseiten-Datenbank von ilissAfrica) Einzelnachweise ! Afrika Gesellschaft (Afrika)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Atomh%C3%BClle
Atomhülle
Die Atomhülle oder Elektronenhülle besteht aus den Elektronen, die von einem Atomkern gebunden sind und ihn gewöhnlich bis zu einem Abstand von der Größenordnung 10−10 m umgeben (Atomradius). Atomkern und Atomhülle zusammen bilden das Atom, wobei der Kern einen je nach chemischem Element 20.000- bis 150.000-mal kleineren Durchmesser hat als die Hülle, aber 99,95 % bis 99,98 % der gesamten Atommasse enthält. Die von außen zugänglichen Eigenschaften des Atoms sind daher, abgesehen von der Masse, fast ausschließlich von der Hülle bestimmt. Dazu gehören neben der Größe des Atoms seine verschiedenen möglichen Arten einer chemischen Bindung, die Möglichkeiten zur Bildung eines Moleküls oder eines kristallinen Festkörpers, die Emission und Absorption von elektromagnetischer Strahlung bestimmter Wellenlängen in den Bereichen Infrarot, sichtbares Licht, Ultraviolett und Röntgenstrahlen. Die Atomphysik, die sich zum großen Teil mit diesen Phänomenen beschäftigt, ist daher weitgehend eine Physik der Atomhülle. Die Anzahl der Elektronen in der Atomhülle eines neutralen Atoms ist durch die Größe der positiven elektrischen Ladung des Atomkerns gegeben. ist auch die chemische Ordnungszahl des Elements, zu dem das Atom gehört. Atome mit mehr oder weniger als Elektronen sind negativ bzw. positiv geladen und werden als Ionen bezeichnet. Für den Aufbau der Elektronenhülle wurden verschiedene Atommodelle entwickelt. Das erste in Teilen sehr erfolgreiche Modell war 1913 das Bohrsche Atommodell (nach Niels Bohr), das auch heute noch vielen populären Darstellungen zugrunde liegt. Es wurde ab 1925 durch die wesentlich umfassenderen und genaueren quantenmechanischen Atommodelle abgelöst, die bis heute die theoretische Grundlage der Atomphysik bilden. Eigenschaften der gesamten Hülle Bindungsenergie Die Atomhülle besteht aus Elektronen, die aufgrund ihrer negativen elektrischen Ladung an den positiven Atomkern gebunden sind. Die gesamte Bindungsenergie aller Elektronen eines neutralen Atoms im Grundzustand beträgt zusammen etwa . Eine genauere, ebenfalls theoretisch begründete Näherung ist , eine noch bessere Anpassung erhält man mit . Die durchschnittliche Bindungsenergie pro Elektron nimmt daher mit steigender Teilchenzahl etwa gemäß zu, sie steigt von bei auf bei . Dies Verhalten kontrastiert zur Situation im Kern, wo die durchschnittliche Bindungsenergie pro Nukleon nur bei kleinen Teilchenzahlen bis etwa 16 Nukleonen () stark anwächst, im Weiteren aber nahe bei 8 MeV bleibt. Diese Unterschiede werden durch die Eigenschaften der jeweils vorherrschenden Wechselwirkung erklärt. Im Kern beruht sowohl die Stärke als auch die effektive Sättigung der Bindungsenergie auf der Starken Wechselwirkung zwischen je zwei Nukleonen, die zwar eine vergleichsweise sehr feste Bindung erzeugt, aber auch von sehr kurzer Reichweite ist, so dass sie kaum über die direkt benachbarten Nukleonen hinaus auch die weiteren Nukleonen anziehen kann. Demgegenüber ist die Hülle durch die vom Kern ausgehende elektrostatische Anziehungskraft gebunden, die proportional zu ansteigt, vergleichsweise viel schwächer ist als die Kernkräfte, aber aufgrund ihrer langen Reichweite alle Elektronen im ganzen Atom erreicht. Im einfachsten Modell der Atomhülle wäre ein etwas stärkeres Anwachsen der Bindungsenergie pro Elektron wie zu erwarten, wenn man vom Bohrschen Atommodell ausgeht und annimmt, dass erstens jedes Elektron seine Quantenzahlen behält, wenn mit steigendem weitere Elektronen dazukommen, und zweitens, dass keine gegenseitige elektrostatische Abstoßung wirkt. Denn jedes der Elektronen hätte dann eine mit anwachsende Bindungsenergie, weil nicht nur die Kernladung wie ansteigt, sondern seine Bahn dem Kern auch -fach näher ist. Das schwächere Anwachsen mit anstatt mit erklärt sich dann in etwa daraus, dass bei ansteigender Elektronenzahl die fester gebundenen Bahnen nach dem Pauli-Prinzip schon voll besetzt sind und die neu hinzukommenden Elektronen die weniger fest gebundenen besetzen müssen. Ihre gegenseitige elektrostatische Abstoßung fällt demgegenüber weniger ins Gewicht. Ein Anwachsen der Bindungsenergie pro Elektron mit ergibt sich aus der Behandlung der Elektronenhülle als eines Fermi-Gases aus Elektronen, die in einem ausgedehnten Potentialtopf gebunden sind (Thomas-Fermi-Modell), und bis auf eine pauschale elektrostatische Abstoßung nicht untereinander wechselwirken. Der zusätzliche Korrekturfaktor der angegebenen genaueren Näherung geht wesentlich darauf zurück, dass zusätzlich die Bindung der innersten Elektronen extra behandelt wird. Sie befinden sich nahe dem spitzen Potentialminimum am Kernort, das im Thomas-Fermi-Modell nur unzureichend berücksichtigt wird. Form und Größe Die Atomhülle hat keine scharf definierte Oberfläche, sondern zeigt im Außenbereich einen etwa exponentiellen Abfall der Elektronendichte. Größe und Form des Atoms werden üblicherweise durch eine möglichst kleine Oberfläche definiert, die einen Großteil (z. B. 90 %) der gesamten Elektronenladung enthält. Diese Fläche ist in den meisten Fällen annähernd kugelförmig, außer bei Atomen, die in einem Molekül oder manchen Kristallgittern chemisch gebunden sind, oder nach spezieller Präparation in Form eines Rydberg-Atoms vorliegen. Die gesamte Hülle kann gegen den Kern schwingen, wobei die Frequenz z. B. beim Xenon-Atom mit 54 Elektronen um 1017Hz (bzw. Anregungsenergie um 100 eV) liegt. Aufgrund des unscharfen Randes der Atomhülle liegt die Größe der Atome nicht eindeutig fest (siehe Atomradius). Die tabellierten Werte sind aus der Bindungslänge gewonnen, das ist der energetisch günstigste Abstand zwischen den Atomkernen in einer chemischen Bindung. Insgesamt zeigt sich mit steigender Ordnungszahl eine in etwa periodische Variation der Atomgröße, die mit der periodischen Variation des chemischen Verhaltens gut übereinstimmt. Im Periodensystem der Elemente gilt allgemein, dass innerhalb einer Periode, also einer Zeile des Systems, eine bestimmte Schale aufgefüllt wird. Von links nach rechts nimmt die Größe der Atome dabei ab, weil die Kernladung anwächst und daher alle Schalen stärker angezogen werden. Wenn eine bestimmte Schale mit den stark gebundenen Elektronen gefüllt ist, gehört das Atom zu den Edelgasen. Mit dem nächsten Elektron beginnt die Besetzung der Schale mit nächstgrößerer Energie, was meist mit einem größeren Radius verbunden ist. Innerhalb einer Gruppe, also einer Spalte des Periodensystems, nimmt die Größe daher von oben nach unten zu. Dementsprechend ist das kleinste Atom das Heliumatom am Ende der ersten Periode mit einem Radius von 32 pm, während eines der größten Atome das Caesium­atom ist, das erste Atom der 5. Periode. Es hat einen Radius von 225 pm. Dichte Entgegen vielen populären Darstellungen ist die Atomhülle keineswegs ein im Wesentlichen leerer Raum. Vielmehr variiert die mittlere Elektronendichte der Hülle je nach Element zwischen 0,01 und 0,1 kg/m3. Zum Vergleich: Luft hat diese Dichte bei einem Druck zwischen 10 und 100 mbar. Die Vorstellung der Hülle als eines (fast) leeren Raums würde sich ergeben, wenn zu jedem Zeitpunkt die Elektronen als nahezu perfekte Massenpunkte an bestimmten Stellen im Raum wären. Die Vorstellung von derart lokalisierten Elektronen im Atom ist aber nach der Quantenmechanik unzulässig. Drehimpuls Die Atomhülle eines freien Atoms besitzt in jedem Energieniveau einen bestimmten Drehimpuls. Er wird meist durch bezeichnet, sein Betrag durch die Quantenzahl und die Komponente zu einer frei gewählten z-Achse durch die magnetische Quantenzahl mit . In Elektronenhüllen mit einer geraden Anzahl Elektronen ist eine ganze Zahl , bei ungerader Elektronenzahl ist halbzahlig. Der Betrag des Drehimpulses ist durch gegeben, die z-Komponente durch . Dabei ist das reduzierte Plancksche Wirkungsquantum. Experimentelle Methoden zur Untersuchung der Atomhülle Die Größe der Atomhülle wird vor allem im Rahmen der kinetischen Gastheorie und der Kristallstrukturanalyse bestimmt (siehe Atomradius). Methoden zur Aufklärung der Struktur der Atomhülle werden unter dem Begriff Methoden der Atomphysik zusammengefasst. Sie werden detailliert in den jeweils eigenen Artikeln dargestellt. Als typische Beispiele sind zu nennen (wobei die Liste keineswegs erschöpfend ist): Röntgenphotoelektronenspektroskopie (XPS): Die Absorption eines Quants hochenergetischer Röntgenstrahlung im photoelektrischen Effekt erzeugt ein freies Elektron mit einer kinetischen Energie, die sich aus der Differenz zwischen der Energie des absorbierten Quants und der Bindungsenergie ergibt, die das Elektron vorher in der Hülle hatte. Elektronen mit der geringsten kinetischen Energie hatten die höchste Bindungsenergie und stammen aus der K-Schale. Danach kommen bei einer Bindungsenergie von etwa die drei eng benachbarten Bindungsenergien der L-Schale usw. Es zeigt sich deutlich die energetische Schalenstruktur der Hülle, ab etwa einschließlich der Aufspaltung gemäß der Struktur nach jj-Kopplung. Atomemissionsspektrometrie und Atomabsorptionsspektrometrie: Die spektrale Untersuchung der von der von Atomhüllen emittierten bzw. absorbierten elektromagnetischen Strahlung hinsichtlich ihrer Wellenlänge, vor allem in den Bereichen sichtbares Licht, Ultraviolett, Infrarot, gibt Aufschluss über die Energieabstände der verschiedenen Energieniveaus des Atoms. In vielen Fällen lassen sich diese Energien mit dem Wechsel nur eines einzigen relativ schwach gebundenen Elektrons von einem Orbital in ein anderes deuten (Leuchtelektron). Dies hat wesentlich zur Erforschung der Atomhülle und damit zur Entdeckung der Quantenmechanik beigetragen. Emissions- und Absorptionsspektren sind charakteristisch für das betreffende Element und werden zu chemischen Analyse eingesetzt. Daher ist die optische Spektroskopie unter den hier genannten Methoden die älteste. Weitere wichtige Ergebnisse der Messungen sind die die Intensität (vor allem im Verhältnis verschiedener Spektrallinien) und Polarisation der Strahlung. Röntgenspektroskopie: Wie die vorstehend beschriebene optische Spektroskopie, aber im Energiebereich der Röntgenstrahlen und daher mit anders gebauten Spektrometern. Die Stärke der Absorption steigt bei wachsender Energie der Röntgenquanten jedes Mal sprunghaft an, wenn die Bindungsenergie eines Orbitals überschritten wird (Absorptionskante). Dies war der erste experimentelle Beweis für die Größe und die Quantelung der Bindungsenergien der inneren Elektronen im Atom. Die von der Absorption ausgelöste Emission von Röntgenstrahlung zeigt ein einfaches Linienspektrum, das für jedes Element charakteristisch ist (charakteristische Röntgenstrahlung, Röntgenfluoreszenzanalyse). Dass es erst entsteht, wenn vorher ein inneres Elektronen herausgeschlagen worden ist, war der erste Hinweis darauf, dass ein schwächer gebundenes Elektronen nur dann in ein tieferes Niveau springen kann, wenn dort ein Platz frei ist („Lochzustand“). Augerelektronenspektroskopie (AES): Ein angeregtes Atom kann anstelle eines Photons ein Elektron emittieren (Auger-Effekt), wenn die Anregungsenergie das möglich macht. Dann ist der Auger-Effekt im Allgemeinen sogar der häufigere. Denn im Einzelnen beruht er darauf, dass in einem Niveau mit hoher Bindungsenergie ein Elektron fehlt (Lochzustand) und dass zwei schwächer gebundene Elektronen der Hülle vermittels ihrer elektrostatischen Abstoßung einen Stoß machen, so dass eins von ihnen den Lochzustand füllt und die gewonnene Energie für das andere ausreicht, das Atom zu verlassen. Gemessen wird die Energie und Intensität der emittierten Elektronen. Auch diese sind elementspezifisch und werden zur chemischen Analyse dünnster Schichten eingesetzt. Elektronenstreuung: Untersuchung der von Atomhüllen nach dem Stoß eines energiereichen Elektrons emittierten Elektronen hinsichtlich ihrer Energie und Intensität. Modellvorstellungen zum Aufbau der Atomhülle (Siehe auch Liste der Atommodelle sowie Wasserstoffatom) Die Unterteilung eines Atoms in Atomkern und Atomhülle geht auf Ernest Rutherford zurück, der 1911 in Streuexperimenten zeigte, dass Atome aus einem winzigen, kompakten Kern umgeben von einer viel leichteren Hülle bestehen. Dies Bild stand in vollständigem Gegensatz zu allen anderen bis dahin diskutierten Atommodellen. Nach dem Erfolg des Bohrschen Atommodells ab 1913 wurde unter Atommodell ein Modell der Atomhülle verstanden. Bohrsches Atommodell und Verfeinerungen bis 1925 1913 konnte Niels Bohr, aufbauend auf Rutherfords Atommodell aus Kern und Hülle, erstmals erklären, wie es in den optischen Spektren reiner Elemente zu den Spektrallinien kommt, die für das jeweilige Element absolut charakteristisch sind (Spektralanalyse nach Robert Wilhelm Bunsen und Gustav Robert Kirchhoff 1859). Bohr nahm an, dass die Elektronen sich nur auf bestimmten quantisierten Kreisbahnen aufhalten können, die mit steigendem Radius durch die Hauptquantenzahl durchnummeriert werden. Die Elektronen können auch von einer zur anderen dieser Bahnen „springen“, sich jedoch nicht dazwischen aufhalten. Beim Quantensprung von einer äußeren zu einer weiter innen liegenden Bahn muss das Elektron eine bestimmte Menge an Energie abgeben, die als Lichtquant bestimmter Wellenlänge erscheint. Im Franck-Hertz-Versuch konnte 1914 an Quecksilberatomen die quantisierte Energieaufnahme und -abgabe experimentell bestätigt werden. Doch ergab das Bohrsche Atommodell nur für Systeme mit lediglich einem Elektron (Wasserstoff und ionisiertes Helium) quantitativ richtige Resultate. Obwohl es bei Atomhüllen mit mehreren Elektronen grundsätzlich versagte, bildete es das Fundament für eine Reihe von Verfeinerungen, die im Laufe des folgenden Jahrzehnts zu einem qualitativen Verständnis des Aufbaus der Elektronenhüllen aller Elemente führten. Damit wurde das Bohrsche Atommodell zur Grundlage des populären Bildes vom Atom als einem kleinen Planetensystem. 1915 wurde das Bohrsche Atommodell durch Arnold Sommerfeld zum Bohr-Sommerfeldschen Atommodell erweitert. Es berücksichtigte die Spezielle Relativitätstheorie, ließ auch elliptische Keplerbahnen zu und führte zwei neue Quantenzahlen ein: die Nebenquantenzahl für die Unterscheidung von Elektronenbahnen mit gleicher Hauptquantenzahl aber unterschiedlicher elliptischer Form, sowie die magnetische Quantenzahl , die für die Bahnen zu gegebener Haupt- und Nebenquantenzahl die endliche Anzahl möglicher räumlicher Orientierungen durchnummeriert. Da die Energie nur schwach von den beiden neuen Quantenzahlen abhängt, wurde hierdurch die Aufspaltung der Spektrallinien erklärt, die im Bohrschen Modell noch durch eine einzige Energie bestimmt waren. Zugleich entstand das Bild, dass die Bahnen zu gleicher Hauptquantenzahl eine „Schale“ bilden, wobei verschiedene Schalen sich aber räumlich durchdringen. 1916 versuchte Gilbert Newton Lewis, die chemische Bindung zu erklären, indem er im Rahmen des Bohrschen Atommodells die elektrische Wechselwirkung der Elektronen zweier Atome betrachtete. Aus den Beobachtungen der charakteristischen Röntgenstrahlung leitete Walther Kossel ab, dass es in jedem Atom nur eine bestimmte Anzahl von Plätzen für die inneren Elektronen gibt, um zu erklären, warum Elektronen von weiter außen nur dann in eine innere Bahn springen, wenn dort ein Elektron herausgeschlagen worden war. Aufgrund der periodischen chemischen Eigenschaften der Elemente vermutete er 1916 weiter, dass es „Elektronenschalen“ gibt, die nach der Aufnahme von 8 Elektronen „abgeschlossen“ sind und dann ein Edelgas bilden. Diese Anzahl entspricht gerade der verdoppelten Anzahl verschiedener Kombinationen von und zur gleichen Hauptquantenzahl . Dies wurde bis 1921 von Niels Bohr zum „Aufbauprinzip“ weiterentwickelt, wonach mit zunehmender Kernladungszahl jedes weitere Elektron in die jeweils energetisch niedrigste Elektronenschale der Atomhülle, die noch Plätze frei hat, aufgenommen wird, ohne dass die schon vorhandenen Elektronen sich wesentlich umordnen. Das führte Wolfgang Pauli 1925 zur Entdeckung des Paulischen Ausschließungsprinzips, dem zufolge jede durch die drei Quantenzahlen charakterisierte Bahn von maximal zwei Elektronen besetzt werden darf. Nach der Entdeckung des Elektronenspins, für den eine vierte Quantenzahl mit nur zwei möglichen Werten eingeführt wurde, wurde das Pauli-Prinzip so präzisiert, dass jeder durch die vier Quantenzahlen definierte Zustand nur von einem Elektron besetzt werden kann. Quantenmechanische Modelle der Atomhülle Aufbauend auf der von Louis de Broglie 1924 postulierten Materiewelle entwickelte Erwin Schrödinger 1926 die Wellenmechanik. Sie beschreibt die Elektronen nicht als Massenpunkte auf bestimmten Bahnen, sondern als dreidimensionale Wellen, die durch Kraftfelder, zum Beispiel das elektrostatische Potential eines Atomkerns, verformt werden. Als Folge dieser Beschreibung ist es unter anderem unzulässig, einem Elektron in einem gegebenen Moment gleichzeitig Ort und Impuls mit genauen Werten zuzuschreiben. Dieser Sachverhalt wurde 1927 von Werner Heisenberg in der Unschärferelation formuliert. Demnach können statt der Bewegung auf bestimmten Bahnen nur Wahrscheinlichkeitsverteilungen für Wertebereiche von Ort und Impuls angegeben werden, eine Vorstellung, die nur schwer zu veranschaulichen ist. Einer quantisierten Umlaufbahn des Bohrschen Modells entspricht hier eine stehende Welle oder „Atomorbital“, die in der Nähe des Atomkerns konzentriert ist und die Verteilung der Materie beschreibt. Ein Atomorbital gibt unter anderem genau an, welche Form die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Elektrons im Raum hat. Das Modell wurde zunächst für eine Atomhülle mit nur einem Elektron im Feld einer Punktladung entwickelt (Wasserstoffproblem). Es lieferte die Energien der Bohrschen Bahnen je nach Hauptquantenzahl und auch die von Sommerfeld eingeführten Quantenzahlen für den Drehimpuls, letztere mit der korrekten Zählung von Null an aufwärts (statt wie bei Bohr mit 1 beginnend). Anders als das Bohr-Sommerfeld-Modell konnte das wellenmechanische Modell in eindeutiger Weise und erfolgreich auf Atomhüllen mit mehreren Elektronen ausgedehnt werden, indem das Pauli-Verbot zu einer Vorschrift über die Antisymmetrie der Wellenfunktion bei Vertauschung zweier Elektronen umformuliert worden wurde. Die Beschreibung der Eigenschaften der Atome gelang hiermit sehr viel besser als mit den Vorläufermodellen. Die Elektronen werden zunächst unter Vernachlässigung ihrer elektrostatischen Abstoßung nacheinander in die Orbitale eingeordnet, für den Grundzustand der Atomhülle in die mit den niedrigsten Energien, für angeregte Zustände eins oder mehrere Elektronen in höher liegende. Die Abstoßung, obwohl eine Kraft zwischen je zwei Elektronen, wird pauschal angenähert, indem die Abschirmung durch die Elektronenwolke durch ein entsprechend abgeschirmtes elektrostatisches Potential berücksichtigt wird. Dadurch werden die Orbitale umso schwächer gebunden, je höher ihr Bahndrehimpuls ist. Resultat ist eine Energieaufspaltung innerhalb jeder Hauptschale ab n=2: Die Energie der Orbitale steigt mit der Nebenquantenzahl an. Zum Beispiel liegt bei gefüllter 3p-Schale (Z=18, Argon) die 3d-Schale energetisch schon über der 4s-Schale und wird daher erst nach dieser (ab Z=21, Scandium) mit Elektronen gefüllt (3d-Übergangsmetalle). Das Modell liefert damit nicht nur eine detaillierte Erklärung des Periodensystems, sondern auch ein schon recht wirklichkeitsgetreues Bild der räumlichen und energetischen Verteilung der Elektronen in der Hülle. Die Schalen sind aber, mit Ausnahme der beiden innersten, weder im räumlichen noch im energetischen Sinn deutlich voneinander getrennt, sondern zeigen starke Überschneidungen (siehe Abbildung). Die Beschreibung der Struktur der Atomhülle in räumlicher und energetischer Hinsicht legt auch die genauen Möglichkeiten fest, mit den Atomhüllen anderer Atome gebundene Zustände zu bilden. Daher wird das Orbitalmodell in der Chemie vielfach zur Beschreibung genutzt. Alle Grund- und die meisten Anregungszustände der Hülle sind gut darzustellen, das Modell kann also auch die optischen Spektren, die Röntgenspektren und die Augerspektren erklären. Das Orbitalmodell ist bei einem Atom mit mehr als einem Elektron physikalisch als eine Näherung zu bezeichnen, weil jedem einzelnen Elektron ein bestimmtes Orbital zugeschrieben wird. Ein so gebildeter Zustand der Atomhülle wird als reine Konfiguration bezeichnet. Er gehört in der Quantenmechanik zu der einfachsten Art von Mehrteilchenzuständen. Genauere Modelle berücksichtigen, dass die Hülle auch in einem Zustand sein kann, der aus der Superposition verschiedener Konfigurationen besteht, wo also mit verschiedenen Wahrscheinlichkeitsamplituden gleichzeitig verschiedene Elektronenkonfigurationen vorliegen, genannt Konfigurationsmischung. Dies Modell ermöglicht die genauesten Berechnungen von Energieniveaus und Reaktionsweisen der Atome. Weitere Verfeinerungen betreffen die relativistische Behandlung des Elektrons (Dirac-Gleichung) und die genaue Berücksichtigung des endlichen Durchmessers des Kerns und seiner magnetischen und elektrischen Kernmomente sowie die Strahlungskorrekturen nach der Quantenelektrodynamik (Lambshift). Wegen des dazu nötigen mathematischen Aufwands werden jedoch, wo es möglich ist, auch weiterhin einfachere Atommodelle genutzt. Zu nennen ist hier das Thomas-Fermi-Modell, in dem die Elektronenhülle pauschal wie ein im Potentialtopf gebundenes ideales Elektronengas (Fermigas) behandelt wird, dessen Dichte wiederum die Form des Potentialtopfs bestimmt. Den einfachsten Ansatz für die Wellenfunktion einer reinen Konfiguration zu einer bestimmten Anzahl von Elektronen gewinnt man mit der Hartree-Fock-Methode. Sie bleibt bei der Einzelteilchen-Näherung, bei der jedem Elektron ein bestimmtes Orbital zugewiesen wird, wobei aber die Form der Orbitale aufgrund der Anwesenheit aller übrigen Elektronen geeignet abgeändert wird. Dazu sucht man diejenigen Formen für die Orbitale, mit denen die Energie der gesamten Konfiguration unter Berücksichtigung der Abstoßungskräfte, die ja von der Form der besetzten Orbitale abhängen, ein Minimum erreicht. Damit werden die Orbitale in selbstkonsistenter Weise so bestimmt, dass sich eine zeitlich stabile Konfiguration ergibt. Das Ergebnis ist also immer noch eine reine Konfiguration, nur dass die darin vorkommenden Zustände der einzelnen Elektronen gegenüber den aus dem Wasserstoffproblem bekannten Orbitalen abgewandelt sind. Zum selben Typ von selbstkonsistenter Näherungslösung führt die Dichtefunktionaltheorie. Hier geht man von einer ortsabhängigen Verteilung der Gesamtdichte der Elektronen aus und bildet daraus eine Schrödingergleichung für ein einziges Elektron, in der die Auswirkungen der Antisymmetrie der Vielteilchen-Wellenfunktion und der Elektron-Elektron-Abstoßung durch einen Zusatzterm, der nur von der Gesamtdichte abhängt, angenähert pauschal berücksichtigt werden. Aus den damit bestimmten Orbitalen der einzelnen Elektronen wird wieder eine Gesamtdichte berechnet. Stimmt sie mit der anfangs angesetzten Gesamtdichte nicht zufriedenstellend überein, wird diese variiert, um bessere Übereinstimmung zu erzielen. Interpretation einiger grundlegender Eigenschaften der Atome im Rahmen des Schalenmodells Das Schalenmodell wird hier in seiner einfachsten, kugelsymmetrischen Form betrachtet, während eine Richtungsabhängigkeit der Elektronendichte erst im Orbitalmodell hinzukommt. Dann lässt das Schalenmodell Stärke und Abstandsabhängigkeit der Kräfte zwischen zwei Atomen verstehen. Sie werden praktisch ausschließlich durch die beiden Hüllen bestimmt. Darauf beruht unter anderem die chemische Bindung sowie der Wechsel des Aggregatzustands und die mechanische Stabilität und viele weitere Eigenschaften der makroskopischen Materialien. Anziehung Bei größeren Abständen, mehr als ein Atomdurchmesser, entstehen schwach anziehende Van-der-Waals-Kräfte dadurch, dass die beiden Atomhüllen sich gegenseitig polarisieren. Das heißt, Hüllen und Kerne verschieben sich minimal gegeneinander, so dass die beiden Atome zu schwachen elektrischen Dipolen werden, die sich bei richtiger Orientierung elektrostatisch anziehen. Diese anziehenden Kräfte bewirken im gasförmigen Zustand meist nur geringe Abweichungen vom Verhalten des Ideales Gas, verursachen aber auch die Kondensation eines Gases zu einer Flüssigkeit, also einen Wechsel des Aggregatzustands. Abstoßung Bei starker Annäherung, sobald sich die Hüllen zweier Atome im Raum merklich überschneiden, entsteht eine starke abstoßende Kraft. Sie beruht vor allem auf dem Pauli-Prinzip, das die Elektronen eines Atoms von der Aufnahme in die besetzten Orbitale des anderen Atoms ausschließt, soweit sie schon von einem Elektronenpaar besetzt sind. Sie müssen daher in energetisch höheren Orbitalen untergebracht werden, was einen Energieaufwand erfordert. Demgegenüber spielt die elektrostatische Abstoßung der beiden negativen Elektronenwolken und der beiden positiven Kerne fast keine Rolle. Mit dieser Abstoßungskraft lässt sich die äußerst geringe Kompressibilität von kondensierter Materie (Flüssigkeiten und Festkörper) weitgehend erklären. Chemische Bindung In dem wohldefinierten Abstand, bei dem sich Anziehung und Abstoßung zweier Atome gerade die Waage halten, liegt das Minimum ihrer gegenseitigen potentiellen Energie (vgl Abbildung 1 hier). Dies erklärt die homöopolare Chemische Bindung, die zwischen den Atomen desselben Elements typisch ist (z. B. im 2-atomigen Gas). Im Fall von Atomen verschiedener Elemente, die leicht positive bzw. negative Ionen bilden, gilt eine ähnliche Potentialkurve zwischen den beiden entgegengesetzt geladenen Ionen. Dann wird die anziehende Kraft durch die elektrostatische Anziehung der Ionen verstärkt, gleichzeitig wird die Kurve aber angehoben um die Differenz von Ionisierungsenergie beim positiven Ion und Elektronenaffinität beim negativen. Bleibt das Minimum der potentiellen Energie dabei negativ, ergibt sich eine Ionenbindung (z. B. Na+Cl-). Zur Erklärung weiterer Feinheiten der chemischen Bindungen reicht das einfache Schalenmodell nicht aus. Es muss dann das Orbitalmodell herangezogen werden (z. B. bei der räumlichen Anordnung der Atome in mehratomigen Molekülen), wenn nicht sogar eine eigene quantenmechanische Berechnung vonnöten ist (z. B. bei Metallen). Vermittelt über die Hüllen ihrer Atome ziehen auch Moleküle einander an. Ein fester Körper entsteht, wenn viele Moleküle sich aneinander binden und dabei, weil es energetisch günstig ist, eine feste Anordnung einhalten. Ist diese Anordnung regelmäßig, bildet sich ein Kristallgitter. Infolge dieser Bindung ist der feste Körper nicht nur weitgehend inkompressibel wie eine Flüssigkeit, sondern im Unterschied zu dieser deutlich weniger leicht verformbar und daher auch auf Zug belastbar. Die Besonderheiten von metallischen Festkörpern, insbesondere ihre leichtere Verformbarkeit, große elektrische Leitfähigkeit und Wärmeleitfähigkeit, metallischer Glanz, lassen sich nur durch die Metallische Bindung erklären. Erklärung der Atomeigenschaften im Rahmen des Orbitalmodells Die dem Schalenmodell zugrundeliegenden Elektronenschalen ergeben sich durch die Quantisierung der Energie eines einzelnen Elektrons im Kraftfeld des Atomkerns nach den Regeln der Quantenmechanik. Um den Kern herum bilden sich verschiedene Atomorbitale, das sind unscharf begrenzte Wahrscheinlichkeitsverteilungen für mögliche räumliche Zustände der Elektronen. Jedes Orbital kann aufgrund des Pauli-Prinzips mit maximal zwei Elektronen besetzt werden, dem Elektronenpaar. Die Orbitale, die unter Vernachlässigung der gegenseitigen Abstoßung der Elektronen und der Feinstruktur theoretisch die gleiche Energie hätten, bilden eine Schale. Die Schalen werden mit der Hauptquantenzahl durchnummeriert oder fortlaufend mit den Buchstaben K, L, M,… bezeichnet. Genauere Messungen zeigen, dass ab der zweiten Schale nicht alle Elektronen einer Schale die gleiche Energie besitzen. In diesem Fall wird durch die Nebenquantenzahl oder Drehimpulsquantenzahl eine bestimmte Unterschale identifiziert. Sind die Orbitale, angefangen vom energetisch niedrigsten, so weit mit Elektronen besetzt, dass die gesamte Elektronenzahl gleich der Protonenzahl des Kerns ist, ist das Atom neutral und befindet sich im Grundzustand. Werden in einem Atom ein oder mehrere Elektronen in energetisch höherliegende Orbitale versetzt, ist das Atom in einem angeregten Zustand. Die Energien der angeregten Zustände haben für jedes Atom wohlbestimmte Werte, die sein Termschema bilden. Ein angeregtes Atom kann seine Überschussenergie abgeben durch Stöße mit anderen Atomen, durch Emission eines der Elektronen (Auger-Effekt) oder durch Emission eines Photons, also durch Erzeugung von Licht oder Röntgenstrahlung. Bei sehr hoher Temperatur oder in Gasentladungen können die Atome durch Stöße Elektronen verlieren (siehe Ionisationsenergie), es entsteht ein Plasma, so z. B. in einer heißen Flamme oder in einem Stern. Da die Energien der Quanten der emittierten Strahlung je nach Atom bzw. Molekül und den beiden beteiligten Zuständen verschieden sind, lässt sich durch Spektroskopie dieser Strahlung die Art der Quelle im Allgemeinen eindeutig identifizieren. Beispielsweise zeigen in Gasen die einzelnen Atome ihr elementspezifisches optisches Linienspektrum. Bekannt ist etwa die Natrium-D-Linie, eine Doppellinie im gelben Spektralbereich bei 588,99 nm und 589,59 nm,. Ihr Aufleuchten zeigt die Anwesenheit von angeregten Natrium-Atomen an, sei es auf der Sonne oder über der Herdflamme bei Anwesenheit von Natrium oder seinen Salzen. Da diese Strahlung einem Atom auch durch Absorption dieselbe Energie zuführen kann, lassen sich die Spektrallinien der Elemente sowohl in Absorptions- als auch in Emissionsspektren beobachten. In der nebenstehenden Abbildung ist dieses Dublett mit D-1 bezeichnet und zeigt die Anwesenheit von Natriumatomen in der äußeren Photosphäre der Sonne an. Diese Spektrallinien lassen sich auch verwenden, um Frequenzen sehr präzise zu vermessen, beispielsweise für Atomuhren. Obwohl Elektronen sich untereinander elektrostatisch abstoßen, können zusätzlich bis zu zwei weitere Elektronen gebunden werden, wenn es bei der höchsten besetzten Elektronenenergie noch Orbitale mit weiteren freien Plätzen gibt (siehe Elektronenaffinität). Chemische Reaktionen, d. h. die Verbindung mehrerer Atome zu einem Molekül oder sehr vieler Atome zu einem Festkörper, werden dadurch erklärt, dass ein oder zwei Elektronen aus einem der äußeren Orbitale eines Atoms (Valenzelektronen) unter Energiegewinn auf einen freien Platz in einem Orbital eines benachbarten Atoms ganz hinüberwechseln (Ionenbindung) oder sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dort aufhalten (kovalente Bindung durch ein bindendes Elektronenpaar). Dabei bestimmt die Elektronegativität der Elemente, bei welchem Atom sich die Elektronen wahrscheinlicher aufhalten. In der Regel werden chemische Bindungen so gebildet, dass die Atome die Elektronenkonfiguration eines Edelgases erhalten (Edelgasregel). Für das chemische Verhalten des Atoms sind also Form und Besetzung seiner Orbitale entscheidend. Da diese allein von der Protonenzahl bestimmt werden, zeigen alle Atome mit gleicher Protonenzahl, also die Isotope eines Elements, nahezu das gleiche chemische Verhalten. Nähern sich zwei Atome über die chemische Bindung hinaus noch stärker an, müssen die Elektronen eines Atoms wegen des Pauli-Prinzips auf freie, aber energetisch ungünstige Orbitale des anderen Atoms ausweichen, was einen erhöhten Energiebedarf und damit eine abstoßende Kraft nach sich zieht. Literatur Die Elektronenhülle eines Atoms wird in vielen einführenden Büchern zur Atomphysik ausführlich erklärt. Beispielhaft seien hier genannt: Weblinks Einzelnachweise Atomphysik Physikalische Chemie Chemische Bindung
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Asselspinnen
Die Asselspinnen (Pycnogonida, auch Pantopoda) bilden eine Klasse innerhalb der Kieferklauenträger (Chelicerata). Trotz ihres Namens werden sie nicht zu den Spinnentieren gerechnet. Sie sind eine rein marine Tiergruppe mit einer Verbreitung in allen Weltmeeren und einem Verbreitungsschwerpunkt im Südlichen Ozean. Ihre Zahl wird auf über 1300 Arten geschätzt. Merkmale Allgemeines Die Pantopoda fallen vor allem durch einen, im Verhältnis zu den Beinen winzigen, stabförmigen Körper auf, der oft nur ein schmales Verbindungsstück zwischen den Beinbasen darstellt. Der Vorderkörper teilt sich in das ungegliederte Prosoma, das die ersten vier Extremitätenpaare trägt (darunter das erste Laufbeinpaar), und einen, durch Querfurchen in mehrere Segmente unterteilten, hinteren Abschnitt, dem die weiteren Laufbein-Paare anhängen. In der Regel sind es vier, bei einigen Arten bis zu sechs Paare. Der Hinterkörper (Abdomen, Opisthosoma) ist extrem reduziert und meist nur eine kleine Ausbuchtung ohne Anhänge, der am Ende den After trägt. Nur bei den fossilen Palaeopantopoden ist er noch sackförmig und lässt drei bis fünf Segmente erkennen. Neben Arten mit sehr langen Gliedmaßen kommen auch kompaktere Formen vor. Die kleinsten Asselspinnen haben eine Größe von 1 bis 10 mm, die größten unter den in der Tiefsee lebenden werden bis zu 900 mm groß. Die Länge des Körpers liegt zwischen 0,8 und 100 mm. Gliedmaßen Die Extremitäten ähneln denen anderer Chelicerata, sie besitzen jedoch keine Laden (Enditen). Unterschieden werden vier verschiedene Arten von Gliedmaßen. Das erste Paar, die scherenbesetzten Cheliceren (bei den Pycnogonida meist Cheliforen genannt), bestehen meist aus drei, seltener aus vier Gliedern. Ihnen kommt eine Bedeutung bei der Ernährung zu. Es folgen tasterartige Palpen von wechselnder Länge (bis zehngliedrig), die mit ihrer dichten Behaarung der Reizaufnahme dienen. Das dritte Extremitätenpaar ist das sogenannte Brutbeinpaar. Es entspringt ventral, ist gleichfalls tasterartig und dient beim Männchen als Eiträger (Oviger). Die Eipakete werden vom Männchen gebildet, indem es mit seinen Brutbeinen in der vom Weibchen abgelegten Eimasse rührt und diese mit von den Beinen abgegebenem Kitt zu Klumpen verklebt. Je nach Größe der Eier kann ein Paket 50 bis 1000 Eier beinhalten. Mit Hilfe eines aus den letzten vier Gliedern des Beines bestehenden Ringes, der mit vielen Borsten besetzt ist, gewährleistet das Männchen den sicheren Transport. Die Borsten dienen dem Männchen z. B. zur Reinigung der Eier. Bei den Weibchen hingegen ist dieses Beinpaar häufig zurückgebildet oder fehlt ganz. Eine Besonderheit haben die nächsten Extremitätenpaare, die Laufbeine. Sie können, ähnlich denen der Weberknechte, bei Gefahr abgeworfen werden. Das Abwerfen hat zwei Vorteile: zum einen greifen Feinde die ihnen überlassenen langen Beine an, während die Asselspinne die Flucht ergreift; zum anderen ist es von Vorteil, ein verletztes Bein abzuwerfen, anstatt es mit sich herumzutragen und einen Flüssigkeitsverlust zu riskieren. Die Bruchstelle schließt sich sehr rasch, und das Bein wächst nach der nächsten Häutung nach. Die aus neun Gliedern bestehenden langen Laufbeine sind meist 4-, vereinzelt 5- (7 Arten, darunter Pentanymphon) oder selten sogar 6-paarig (2 Arten, Gattung Dodecalopoda). Diese mehrbeinigen Arten sind jeweils nahe mit achtbeinigen verwandt und gelten als sekundäre Abweichungen des Grundbauplans. Das Endglied, der Praetarsus, ist meist klauenförmig ausgebildet, dazu noch oft mit einer Nebenklaue besetzt und dient unter anderem dem Festhalten der Nahrung. Die drei vorderen Extremitäten-Paare können variabel ausgebildet sein oder aber auch, genau wie Kiemen und Fühler, ganz fehlen. Außenskelett Auch diese Vertreter der Kieferklauenträger besitzen, genau wie andere Gliederfüßer, ein Exoskelett mit Chitin-Einlagerungen. Wie bei den Spinnen werden in die darunterliegende Haut Exkrete eingelagert, sodass die Tiere oft bunt gezeichnet sind. Aber auch Vorratsstoffe werden dort eingelagert. Das Exoskelett ist sehr undurchlässig und manchmal außerordentlich dick. Dagegen fehlt jedwede Einlagerung von Kalk, was zur Folge hat, dass die Haut der Pantopoda leder- oder pergamentartig ist. Sinnesorgane und Nervensystem In der Haut liegen zahlreiche Drüsen, wie z. B. Kittdrüsen an den Femora der Beine der Männchen und Spinndrüsen an den Cheliceren der Larven. Die Sinnesorgane sind gering entwickelt. Im Vorderkörper liegen auf einem Augenhügel vier kleine Linsenaugen (Medianaugen). An Hautsinnesorganen sind nur Sinnesborsten bekannt. Spaltsinnesorgane wurden bei dieser Klasse noch nicht gefunden. Das Nervensystem ist primitiver als das anderer Chelicerata, da die Bauchganglien weitgehend getrennt bleiben. Das Unterschlundganglion innerviert Palpen- und Brutbeinsegment. Ein oder zwei Abdominalganglien treten während der Entwicklung noch auf, verschmelzen jedoch mit dem letzten Rumpfganglion. Die Ganglien im Rumpf sind meist deutlich sichtbar. Von diesen kann man oft starke Nervenstränge in die Beine ziehen sehen. Verdauungstrakt Der Mund liegt auf einem umfangreichen Rüssel (Proboscis), der ventralwärts oder nach vorn ragt. Der Rüssel besteht innen aus drei Längsteilen (Antimeren), einem dorsalen und zwei ventrolateralen. Der dreieckige Mund an der Rüsselspitze selbst ist mit drei borstenbesetzten Platten (Lippen) und drei beweglichen Chitinhaken besetzt. Der im Rüssel liegende Teil des Darms wird als Pharynx bezeichnet. Sein dreikantiges Lumen wird durch radiäre, zur Rüsselwand ziehende Muskeln erweitert, und der hintere Bereich wird durch in das Lumen ragende Chitinhaken zu einem Reusenapparat. Ein Oesophagus führt in den Mitteldarm. Da der Rauminhalt des Rumpfes bedeutend kleiner ist als der der Beine, gibt es zusätzlich lange Ausläufer des Mitteldarms (Blindsäcke), die bis in die Beine, bei manchen Arten aber auch bis in die Cheliceren und Rüssel ziehen. Das hat zur Folge, dass die aufnehmende und verdauende Oberfläche beträchtlich vergrößert wird. Die Speiseröhre, die von einem Apparat aus starren und beweglichen Borsten besetzt ist, der den groben aufgesogenen Nahrungsbrei fein zerkleinert, bis nur noch Zellbruchstücke zurückbleiben, ist lang und eng. Von hier aus gelangen diese in den Darm und werden hier von den Darmzellen, in denen die eigentliche Verdauung erfolgt, resorbiert. Der gerade Endteil des Darmes mündet mit endständigem After. Die Exkretion läuft über sogenannte Nephrocysten, den Ausscheidungszellen, ab. Nephridien und Malpighische Gefäße fehlen diesen Vertretern der Chelicerata. Blutgefäßsystem und Atmung Das Blutgefäßsystem besteht nur aus einem Rückengefäß. Es weist zwei Paar Einströmöffnungen (Ostien) für das farblose Blut auf und durchzieht den Rumpf vom Hinterende bis zur Region der Augenhügel und ist dorsal mit breiter Fläche an der Rückenwand, ventral am Pericardialseptum angewachsen. Oft kommt noch ein unpaares Ostium am Hinterende dazu. Das Pericardialseptum durchzieht den Rumpf horizontal dicht über dem Darm und erstreckt sich auch in die Beine. Da den Asselspinnen Kiemen fehlen, wird die Atmung von einem anderen Organ übernommen, wahrscheinlich dem Darm oder feinen Blutkapillaren, in die der Sauerstoff diffundiert. Bau der Geschlechtsteile Die Gonaden entstehen ventral am Pericardialseptum, erstrecken sich aber bis in die Beine, die auch den größten Anteil der Geschlechtsorgane enthalten. An den Coxen der Beine liegen auch die Genitalöffnungen, meist im zweiten Glied, daher findet man legereife Eier nie im Rumpf, sondern nur in den Beinen. Oft sind mehrere Paare von Öffnungen vorhanden, vielfach an allen Beinpaaren. Bei manchen Gattungen sind sie auf bestimmte Beinpaare beschränkt, am häufigsten jedoch auf die letzten. Zahl und Lage der Genitalöffnungen können in Abhängigkeit vom Geschlecht variieren. Larvalentwicklung Die abgelegten Eier, die je nach Art eine Größe von 0,02 bis 0,7 mm erreichen, werden wie schon beschrieben vom Männchen getragen. Die Entwicklung zeigt manche Eigenarten und ist auch innerhalb der Pantopoden nicht gleichartig. Die Furchung ist zunächst total und kann je nach Dottergehalt äqual oder inäqual ausfallen. Früher oder später verschmelzen aber Zellen zu syncytialen Massen. Die Keimblätterbildung ist schwer verständlich. Dorsal werden große Zellen ins Innere verlagert, welche Entoderm (zum Teil von einer Urentodermzelle ausgehend) und Mesoderm bilden. Später tritt ventral die Längsrinne auf, die dem Blastoporusgebiet anderer Arthropoden entspricht. Das Mesoderm scheint sich stets über ein einfaches Streifenstadium in Muskeln und Bindegewebe umzuwandeln. Die Embryonalentwicklung führt zu einer typischen Larve, der Protonymphon-Larve. Bei den drei Extremitätenpaaren, über die die Larve anfangs verfügt, handelt es sich um Cheliceren, Palpen und Brutbeine. Die Cheliceren der Protonymphon-Larve tragen eine seitlich in eine Röhre mündende Spinndrüse und zum Teil Scherendrüsen. Die beiden anderen Extremitäten sind jedoch nur dreigliedrige Haken, die später mehr oder weniger zurückgebildet werden, während die definitiven Palpen und Brutbeine durch Neubildung entstehen. Herz und After fehlen der Larve. Die Weiterentwicklung erfolgt durch schrittweise Bildung der Beine am Hinterkörper, die Stadien sind durch Häutungen getrennt. Nur selten bleiben die Larvalstadien an den Brutbeinen der Männchen (zum Beispiel Chaetonymphon), meist verlassen sie als Protonymphon die Brutbeine und leben in der nächsten Phase als Ekto- oder Endoparasiten (Phoxichilidium, Anoplodactylus) an anderen Tieren, vor allem Polypen. Lebensweise und Verbreitung Die Vertreter der Pycnogonida sind ausschließlich marin zuhause und leben zwischen Bodenbewuchs aller Art. Dabei sind sie nicht an eine bestimmte Tiefe gebunden, sondern sind sowohl an der Oberfläche als auch in der Tiefsee in Tiefen von mehr als 4000 m heimisch. Einige besonders kleine Arten leben im Sandlückensystem (Interstitial). Abhängig sind sie einzig von einem bestimmten Salzgehalt, der bei ungefähr 3,5 % liegt. Des Weiteren bevorzugen sie kaltes Wasser. Daher findet man sie auffallend häufig in der Antarktis (etwa 250 der 1000 bekannten Arten, davon 100 Arten endemisch in der Antarktis und rund 60 in den subantarktischen Gewässern), dort auch in den großen Formen. In den warmen Meeren, zum Beispiel an den Küsten des Mittelmeeres, fand man bisher nur kleine Exemplare mit höchstens 30 mm Durchmesser. Alle Pantopoden sind durchweg träge Tiere, wobei sich die kurzbeinigen, plumpen Arten durch ganz besondere Schwerfälligkeit auszeichnen. Sie lassen sich, gibt man sie in eine Schale, zu Boden sinken und bleiben regungslos liegen. Die schlankeren Formen können jedoch mehr oder weniger grazil schwimmen und sich auf diese Weise längere Zeit im freien Wasser aufhalten. Alle Asselspinnen sind Kletterer, die sich langsam und bedächtig bewegen und sich an jedem geeigneten Gegenstand festklammern können. Die Fortbewegungsgeschwindigkeit ist recht langsam (ca. 1 bis 3 mm/s), kann jedoch in Gefahrensituation enorm gesteigert werden. Nahrung Alle Vertreter der Asselspinnen ernähren sich räuberisch. Zu ihrer Nahrung gehören ausschließlich weichhäutige Tiere, so beispielsweise Schnecken, Moostierchen und Schwämme, aber vor allem Hydroidpolypen. Die Nesselzellen der Polypen scheinen auf Asselspinnen keinerlei Wirkung zu haben. Die Nahrung, zum Beispiel ein Polypenköpfchen, wird mit einer Schere gefasst und mit dem Rüssel ausgesogen. Dieser Vorgang kann bis zu 10 Minuten dauern. Des Weiteren wurde auch die Aufnahme von Ruderfußkrebsen und Vielborstern beobachtet. Die Ruderfußkrebse werden mit Hilfe der Greifklauen der Laufbeine gepackt, zum Mund geführt und ausgesaugt. Außerdem wurde in Experimenten das Fressen von Muschelfleisch untersucht. Auch hier werden die Greifklauen der Beine eingesetzt, um das Fleisch festzuhalten und die Nahrung anschließend über den Proboscis aufzunehmen. Dieser Vorgang kann sich über mehrere Stunden erstrecken. Eine Reihe von Arten lebt ektoparasitisch (auf Hohltieren, Schwämmen, Mollusken und Stachelhäutern). Abwehr von Fressfeinden Bei der Knotigen Asselspinne (Pycnogonum litorale) wurde erstmals in einer marinen Räuber-Beute-Beziehung eine Methode der chemischen Abwehr gefunden. Es konnte nachgewiesen werden, dass die Gemeine Strandkrabbe (Carcinus maenas), die sonst nahezu alles frisst, Asselspinnen meidet, weil diese in allen Stadien einen sehr hohen Gehalt an 20-Hydroxy-Ecdyson haben. Diese Substanz ist ein Hormon, das bei Insekten und Krebstieren die Häutung (Ecdysis) auslöst. Für die Strandkrabben sind häufige Häutungen nachteilig, nicht zuletzt weil frisch gehäutete Tiere noch sehr weiche Mundwerkzeuge haben, die eine Nahrungsaufnahme für eine gewisse Zeit unmöglich machen. Die Asselspinnen steuern ihre Häutungen offenbar anders. Ein Häutungshormon für diese Tiere ist bisher noch unbekannt. Namensgebung Auch für die Asselspinnen haben sich, wie bei allen Tier- und Pflanzengruppen, mehrere Namen erhalten. So wurden sie um 1815 vom Engländer William Elford Leach als Podosomata bezeichnet, was so viel wie „Körper (nur) aus Beinen“ bedeutet. 1863 wiederum beschrieb sie der deutsche Zoologe Carl Eduard Adolph Gerstäcker als Pantopoda, was man frei mit „die Allesbeinigen“ übersetzen kann. Ein gewisses Maß an Unsicherheit drückt der deutsche Name Asselspinnen aus. Lange Zeit wurden sie zu den Krebsen gestellt, da sie aber auch spinnenförmig aussehen und auch einige Gemeinsamkeiten aufwiesen, reihte man sie in die Klasse der Spinnentiere ein. Da man aber ihre Eigentümlichkeit betonen wollte, nannte man sie letztendlich Asselspinnen. Systematik Zwischenzeitlich aufgekommene Vermutungen, die Asselspinnen bildeten einen eigenständigen Stamm basal zu allen anderen Arthropoda gelten heute als widerlegt. Die meisten Taxonomen setzen den Asselspinnen als basalster Gruppe der Chelicerata alle anderen Vertreter als Schwestergruppe gegenüber. Damit sind die Pfeilschwanzkrebse und die Spinnentiere miteinander näher verwandt als jede dieser Gruppen mit den Asselspinnen. Die so dargestellte traditionelle Systematik (basierend vor allem auf morphologischen Reihen mit fortschreitender Reduktion einzelner Gliedmaßen) wird von moderneren molekularen und kladistisch-morphologischen Studien nur teilweise gestützt. Die meisten Ordnungen und einige Familien erwiesen sich als paraphyletisch. Fossile Überlieferung Fossilien von Asselspinnen werden nur sehr selten gefunden. Eine Reihe problematischer Fossilien mit stark abweichendem Körperbau gelten heute nicht mehr als Stammgruppenvertreter, sondern wurden anderen Verwandtschaftskreisen zugeordnet. Die verbleibenden Arten können aufgrund ihres Bauplans modernen Ordnungen zugewiesen werden, ihre früher übliche Zusammenfassung als „Palaeopantopoda“ ist demnach eine künstliche Einteilung. Besonders reich an fossilen Arten ist der unterdevonische Dachschiefer des Hunsrücks. Die ältesten Formen sind in Körpererhaltung (d. h. nicht nur als Abdruck) erhaltene Larven aus dem Oberkambrium von Schweden (dabei wurde die Körperwand durch Calciumphosphat ersetzt und das Tier anschließend in Kalkstein eingebettet, sog „Orsten“-Fossilien). Die adulten Formen dazu sind unbekannt. Literatur Claudia P. Arango, Ward C. Wheeler: Phylogeny of the sea spiders (Arthropoda, Pycnogonida) based on direct optimization of six loci and morphology. In: Cladistics. Band 23, 2007, S. 255–293, doi:10.1111/j.1096-0031.2007.00143.x. F. Arnaud, R. N. Bamber: The biology of Pycnogonida. In: J. H. S. Blaxter, Alan J. Southward (Hrsg.): Advances in Marine Biology. Band 24, Academic Press, 1988, ISBN 0-12-026124-3, S. 1–95. Volker Storch, Ulrich Welsch: Systematische Zoologie. 6. Auflage. Spektrum-Verlag. München 2004, ISBN 3-8274-1112-2. Hans-Eckard Gruner, Hans-Joachim Hannemann, Gerhard Hartwich: Wirbellose Tiere. (= Urania Tierreich. Band 2). Urania, Freiburg/B. 1994, ISBN 3-332-00502-2. Joel W. Hedgpeth: Pycnogonid. In: Encyclopedia Britannica. 1977. Philip Ernst King: Pycnogonids. Hutchinson, London 1973, ISBN 0-09-116460-5. Jan C. Loman: Biologische Beobachtungen an einem Pantopoden. In: Tijdschrift van de Nederlandse Dierkundige Vereniging. Band 2, 1907, S. 255–284, Tafel V. T. Munilla, A. Membrives: Check-List of the pycnogonids from Antarctic and sub-Antarctic waters: zoogeographic implications. In: Antarctic Science. Band 21, 2009, S. 99–111, doi:10.1017/S095410200800151X. Weblinks Bibliographie (von Franz Krapp) Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Astronomisches%20Objekt
Astronomisches Objekt
Ein astronomisches Objekt (auch Himmelsobjekt oder Himmelskörper) ist ein Objekt im Weltall, das von der Astronomie und der Astrophysik untersucht wird. Konsistenz Die Konsistenz der Objekte ist überwiegend gasförmig – Sterne verschiedener Art, Sternhüllen, Gasplaneten, Gasnebel, interstellare Materie und Molekülwolken, Halos, … flüssig – das Innere großer Gasplaneten fest – Gesteinsplaneten, Monde, Asteroiden, Kometen, Meteoroide, … staubförmig – Dunkelwolken, Planetenringe, interplanetarer Staub zusammengesetzte Systeme – Sternhaufen, Galaxien, Galaxienhaufen Leerräume – Voids zwischen den Galaxienhaufen ungeklärt – z. B. Schwarze Löcher, Dunkle Materie. Himmelskörper Kosmologische Objekte Dies sind Objekte der Kosmologie, wie die prinzipiellen Strukturen des Universums (Filamente und Voids) und – bisher noch – hypothetische oder in ihrer Natur noch nicht hinreichend geklärte Objekte, wie Schwarze Löcher oder Dunkle Materie. Einteilung nach der Entfernung Eine Orientierung einzelner Fachgebiete der Astronomie: Objekte in Erdnähe: Atmosphärische Objekte: bis zur Exosphäre (500 und 1000 km) Meteore (Sternschnuppen und Feuerkugeln), Meteoriten, Low-Earth-Orbit-Satelliten Erdorbitale Objekte: etwa bis zur Entfernung einer geostationären Umlaufbahn (ca. 36.000 km) höhere Erdsatelliten, Orbitalmissionen Erdnahe Objekte: bis zur Mondbahn (um die 400.000 km) oder – nach anderen Gesichtspunkten – bis zum inneren Lagrangepunkt (also vorrangig der Erdanziehung unterworfen: ca. 1,5 Millionen km von der Erde) Erdmond, Raumfahrtmissionen der Mondforschung, Erdbahnkreuzer Solare Objekte: Objekte des inneren Sonnensystems: bis zum Asteroidengürtel (etwa 450 Millionen km = 3 AE) Sonne, innere Planeten und deren Monde, erdnahe Asteroiden: Amor-Typ-, Apollo-Typ- und Aten-Typ-, Arjuna-Asteroiden, Mars-Trojaner Der Asteroidengürtel als Grenze zwischen innerem und äußerem Sonnensystem, der Zwergplanet Ceres Äußeres Sonnensystem: 7,5 Milliarden km = 50 AE Äußere Planeten und deren Monde, Jupiter- und Neptun-Trojaner kurzperiodische Kometen Transneptunische Objekte (Kuipergürtelobjekte) außerhalb der Neptunbahn (30–50 AE): Der Kuipergürtel mit dem Pluto und Eris (Zwergplaneten) als Hauptvertreter, Randbereiche des Sonnensystems: sonnenferne Objekte bis zur Heliopause, etwa 100.000 AE = 1,5 Lichtjahre Die Oortsche Wolke Langperiodische Kometen und aperiodische Kometen mit hyperbolischer oder parabolischer Bahn, die das Sonnensystem weitläufig durchqueren. Extrasolare Objekte: Objekte außerhalb der Grenzen des Sonnensystems (Deep-Sky-Objekte). Objekte der galaktischen Nachbarschaft: Interstellare Objekte (nicht gravitativ an einen Stern gebunden) Nahe Sterne (etwa 15 Lj) Die Lokale Blase (um die 300 Lj) fernere Sterne, Offene Sternhaufen, Gasnebel Halo der Kugelsternhaufen, umgebende Dunkle Materie Galaktische Objekte: ein Bereich von 100.000 Lj (30 pc) Die Milchstraße und ihre direkten Begleiter, insbesondere die Große und die Kleine Magellansche Wolke Extragalaktische Objekte: Lokale Gruppe (Andromedanebel, M33 und begleitende Zwerggalaxien) Virgo-Superhaufen (ungefähr 100 Galaxienhaufen, etwa 200 Millionen Lichtjahre Durchmesser), Große Mauer Ferne Galaxienhaufen, Quasare Filamente und Voids (die größten derzeit bekannten Strukturen des Universums) Positionsdiagramm astronomischer Objekte Weblinks ! Liste (Astronomie) Astronomischer Kalender
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Altersbestimmung (Archäologie)
Bei der Altersbestimmung von archäologischen Funden gibt es verschiedene Datierungsmethoden, die man in zwei große Gruppen unterteilen kann, relative und absolute Altersbestimmung. Relative Datierungsmethoden Bei einer relativen Datierungsmethode werden lediglich Aussagen darüber getroffen, ob eine Fundschicht „älter“ oder „jünger“ ist, als beispielsweise, die umgebende Bodenschicht (besser Begehungshorizont). Relative Datierung durch Stratigraphien Im Regelfall gilt als Leitprinzip, dass untere Schichten eher abgelagert worden sind als obere, und somit ältere Schichten unter jüngeren zu finden sind (Stratigraphisches Prinzip). Ähnlich wie bei relativen Altersbestimmungen der Geologie wird nur die Abfolge der Schichten festgestellt, ohne das tatsächliche Alter zu messen. Ausnahmen kommen etwa bei Umlagerungen oder Überschiebungen vor: So könnte in einem archäologischen Befund älteres Material durch Umschichtungen bei Bauarbeiten oder durch Erosion an einem Hang über jüngerem Material abgelagert worden sein. In der Geologie kommen vergleichbare Ereignisse vor: Ein Gesteinsblock wird durch tektonische Prozesse angehoben, und über einen (nicht angehobenen) jüngeren geschoben. Derartige Prozesse sind selten und durch Aufnahme eines Gesamtbildes identifizierbar. Relative Datierung durch Fundzusammensetzungen Die zeitliche Änderung von Gegenstandsformen, verwendeten Materialien oder Handwerkstechniken führt dazu, dass sich die Zusammensetzung der Fundgegenstände in geschlossenen Funden wie Gräbern, Abfallgruben und Depotfunden in charakteristischer Weise verändert. Eine solche relativchronologische Abfolge lässt sich mit Kombinationsstatistiken oder in einer Seriation darstellen. Veränderliche prozentuale Anteile von Artefakttypen können auch für die relative Chronologie ganzer archäologischer Kulturen oder Zeithorizonte ausschlaggebend sein. Für die relative Datierung ist also nicht die Anwesenheit oder das Fehlen eines einzelnen Objekts entscheidend, sondern seine relative Häufigkeit. Modellhaft lässt sich das so begründen, dass eine Form in einer Zeitstufe erfunden wird aber noch selten ist, in der nächsten Stufe ist sie dann allgemein bekannt und wird viel benutzt und in der nächsten wird sie bereits langsam von einer neuen Form verdrängt. Chorologische Methoden Eine chorologische Methode, die bei der Auswertung von Gräberfeldern erfolgreich sein kann, ist die so genannte Horizontalstratigraphie. Wenn in einem Bestattungsplatz unterschiedliche Regionen zu unterschiedlichen Zeiten benutzt wurden, sind auch chronologisch relevante Grabbeigaben einer gewissen Zeit nur in der zugehörigen Region des Gräberfeldes zu finden. Die Kartierung der Beigaben auf dem Gräberfeldplan erlaubt es dann, unterschiedliche Belegungsphasen im Kartenbild zu erkennen. Fluor-Datierung Knochen und Zähne bestehen zu einem hohen Prozentsatz aus Hydroxylapatit, der ohne weiteres Fluorid an sich binden kann, woraus das weitaus härtere, säurebeständige und wasserunlösliche Fluorapatit entsteht. Diese Einlagerung von Fluor endet nicht mit dem Tod des Individuums, sondern kann sich auch in Fossilien fortsetzen, sofern sie durch das Grundwasser weiterhin mit Fluor in Kontakt kommen. Je länger die Lagerung von Fossilien in fluorhaltigen Böden andauert, desto mehr Fluor dringt in die Knochen ein. Dieser Umstand wurde vor allem zwischen 1950 und 1970 in Form der Fluor-Datierung für die relative Altersbestimmung von Knochenfunden genutzt. Archäologie und Geologie Wenn Funde von Frühmenschen (Homininen) oder ihren Erzeugnissen in geologische Schichten eingebettet sind, lassen sie sich über diese datieren. Überreste aus fossilführenden Schichten lassen sich daher mit Hilfe von Leitfossilien genauer einordnen. Auch Großereignisse, die charakteristische überregionale Merkmale erzeugen, können den Vergleich von Schichten oder Gesteinen ermöglichen. Zum Beispiel hat sich eine Iridium-Schicht, die beim Aufprall eines großen Meteoriten entstanden ist, weltweit in alle Gesteine der damaligen Zeit eingelagert. Auch Ablagerungen von Vulkanasche lassen sich manchmal großräumig einer konkreten Eruption wie der des Vulkans vom Laacher See zuweisen. Absolute archäologisch-geologische Datierungsmethoden In der Archäologie werden zahlreiche absolute Datierungsmethoden verwendet. Diese beruhen auf unterschiedlichen Ansätzen. Welche dieser Ansätze anwendbar und sinnvoll sind, entscheidet sich im Einzelfall des jeweiligen Befundes. Geochronologische Datierungen mittels Isotopenzerfall Viele Methoden zur Altersbestimmung in der Geologie liefern nur sehr grobe Absolutdaten. So waren etwa die heute ausgestorbenen Radionuklide 26Al oder 53Mn bei der Entstehung des Sonnensystems noch vorhanden. Mit diesen Methoden können z. B. das Entstehungsalter von Meteoriten oder einzelner Bestandteile von Meteoriten relativ zueinander bestimmt werden. Erst durch Kalibrieren dieser relativen Datierungsmethoden mit absoluten Datierungsmethoden wie der Uran-Blei-Datierung können dann auch absolute Alter angegeben werden. Bei den radiometrischen Methoden mit nicht ausgestorbenen Radionukliden wird gemessen, wie hoch der Anteil natürlich vorkommender radioaktiver Elemente und eventuell ihrer Zerfallsprodukte ist. Da die Halbwertszeit der radioaktiven Elemente bekannt ist, kann daraus das Alter berechnet werden. Für das Alter von Gesteinen benötigt man Elemente mit sehr langen Halbwertszeiten. Dafür eignen sich unter anderem folgende Methoden (Halbwertszeit in Klammern, siehe auch Geochronologie): Uran 238U → Blei 206Pb (4,5 Milliarden Jahre, Uran-Blei-Datierung) Uran 235U → Blei 207Pb (704 Millionen Jahre, Uran-Blei-Datierung) Thorium 232Th → Blei 208Pb (14 Milliarden Jahre) Rubidium 87Rb → Strontium 87Sr (48,8 Milliarden Jahre) Samarium 147Sm → Neodym 143Nd (106 Milliarden Jahre) Kalium 40K → Argon 40Ar (1,25 Milliarden Jahre, Kalium-Argon-Datierung) Eine Besonderheit stellt die Aluminium-Beryllium-Methode dar, da sie vergleichend den Zerfall zweier Radioisotope nutzt, die nicht im Tochter-/Mutterisotopverhältnis stehen. Diese Methode der Oberflächenexpositionsdatierung wird auch zur Bestimmung des Alters von fossilen Hominiden-Knochen genutzt. Die Altersbestimmung erfolgt über das Aluminiumisotop 26Al und das Berylliumisotop 10Be im Mineral Quarz basiert auf dem (bekannten) Verhältnis von 26Al und 10Be, die beide durch kosmische Strahlung (Neutronen-Spallation, Myonen-Einfang) an der Oberfläche von Steinen/Mineralen entstehen. Das Verhältnis ist abhängig u. a. von der Höhenlage, der geomagnetischen Breite, der Strahlungsgeometrie und einer möglichen Schwächung der Strahlung durch Abschirmungen (z. B. Bedeckung). In der Regel werden bei geologischen Datierungen sogenannte Isochronendiagramme verwendet. Vorteil dieser Technik ist es, dass die anfängliche Konzentration und Isotopenverhältnisse der Tochterelemente nicht bekannt sein müssen, man erhält sie vielmehr als ein weiteres Resultat, zusätzlich zum Alter der Probe. Des Weiteren hat die Isochrontechnik den Vorteil, dass zuverlässig ausgeschlossen werden kann, dass eventuelle Störungen durch Umgebungseinflüsse das gemessene Alter verfälscht haben könnten. Der eigentliche Vorteil der radiometrischen Datierungsmethoden beruht darauf, dass die Bindungsenergien der Atomkerne um etliche Größenordnungen größer sind als die thermischen Energien der Umgebung, in welcher potentielle Proben (meist Gesteine) überhaupt existieren können. Eine Beeinflussung der Zerfallsraten (Halbwertszeiten) durch Umgebungseinflüsse kann deshalb ausgeschlossen werden, so dass die radiometrischen Alter – besonders wenn sie unter Verwendung der Isochronmethode gewonnen wurden – als sehr zuverlässig gelten. Eine weitere absolute Datierungsmethode ist die Fission-Track-Methode. Hier werden die durch die beim radioaktiven Zerfall (z. B. spontaner Zerfall von Uran oder Zerfall von 40K zu 40Ar) entstandenen hochenergetischen Zerfallsprodukte erzeugten Kristallschäden entlang deren Flugbahnen durch Anätzen unter dem Mikroskop sichtbar gemacht und abgezählt. Weitere geochronologische Methoden Bei der Warvenchronologie werden Warven, jährliche Sedimentablagerungen in Seen, ausgezählt. Der Boden bekommt durch diese Ablagerungen ein Streifenmuster. Insbesondere für Gegenden mit starker Schneeschmelze ist dieses Verfahren geeignet. Für die Eifelregion gibt es eine Chronologie der letzten 23.000 Jahre, für einen japanischen See für 45.000 Jahre und für den Lago Grande di Monticchio in Süditalien sogar für die letzten 76.000 Jahre. Bei der Analyse von Eisbohrkernen werden die Schichten gezählt, die jedes Jahr durch den Schneefall gebildet werden. Die Magnetostratigraphie nutzt die Tatsache, dass das Erdmagnetfeld sich im Lauf der Zeit des Öfteren umgepolt hat. Dieses Muster lässt sich in den Gesteinen wiederfinden und auszählen. Absolute archäologische Datierungsmethoden Radiokohlenstoffdatierung Zur Altersbestimmung menschlicher Hinterlassenschaften in der Archäologie sind meist Ausgangsisotopen mit kürzeren Halbwertszeiten erforderlich als in der Geologie. Hier wird vorwiegend die Radiokohlenstoffdatierung von organischen Materialien angewandt. Bei der Radiokohlenstoffdatierung wird der Gehalt an radioaktivem Kohlenstoff 14C, der eine Halbwertszeit von 5.730 Jahren hat, gemessen. Damit sind Altersbestimmungen bis zu 60.000 Jahren möglich. Bei älteren Proben ist der 14C-Anteil bereits zu gering, um noch gemessen werden zu können. Eine Schwierigkeit dieser Methode ist, dass der Anteil von 14C in der Erdatmosphäre nicht konstant ist. Diese Schwankungen können beispielsweise mit Hilfe der Dendrochronologie ermittelt werden. Dendrochronologie Die Dendrochronologie ermöglicht es, mittels charakteristischer Jahrringe einiger Baumarten, z. B. Eichen, Datierungen vorzunehmen, die auf das Jahr genau sein können. Daher lässt sich bei guter Erhaltung die Errichtungszeit von Bauten mit erhaltenen Hölzern, etwa von Pfahlbauten oder Brunnen, die Bauzeit von Schiffen oder die Herstellung von Särgen bestimmen. Münzdatierungen Bei der Münzdatierung liefern die Münzen einen terminus post quem. Das bedeutet, dass ein Fund erst in die Erde gelangt sein kann, nachdem das (jüngste) Geldstück aus diesem Fund geprägt wurde. Dabei steht zunächst nicht fest, wie lange nach der Prägung der Münze dies geschehen ist. Archäologische Funde (Importe) Archäologische Funde einer Kultur können auch durch absolut datierte Importgegenstände aus anderen Kulturen datiert werden. Beispiele dafür sind etwa griechische Keramik oder Bronzegefäße in Fürstengräbern der späten Hallstattzeit in Ostfrankreich und Südwestdeutschland oder Römische Importe in der Kaiserzeit in der Germania Magna. Verbindung mit historischen Ereignissen Gelegentlich lassen sich archäologische Fundzusammenhänge über bekannte historische Ereignisse datieren. So wurden beispielsweise die Städte Pompeji und Herculaneum durch den von Plinius dem Jüngeren beschriebenen Ausbruch des Vesuv am 24. August 79 zerstört und verschüttet, die Gebäude in diesen Städten müssen also vor diesem Vulkanausbruch errichtet worden sein. Für Funde aus diesen Orten gilt also ein terminus ante quem von 79. Die Einwanderung der Langobarden in Italien fand nach historischen Quellen im Jahr 568 statt. Langobardische Gräberfelder in Italien datieren daher erst in die Zeit nach 568, die Einwanderung bietet hier einen terminus post quem. Die absolute Datierung über die Verbindung von archäologischen Funden und historischen Daten sollte generell mit großer Vorsicht vorgenommen werden, da die Gefahr eines Zirkelschlusses besteht (so genannte gemischte Interpretation). So könnte etwa die historisch belegte Zerstörung einer Siedlung dazu verleiten, eine dort gefundene Brandschicht vorschnell auf diese Zerstörung zu beziehen und nach ihr zu datieren, obwohl die Brandschicht tatsächlich von einem anderen, historisch nicht überlieferten Feuer stammt. Verhindern lässt sich ein solcher Zirkelschluss durch eine möglichst genaue, eigenständige archäologische Datierung und die Einordnung in einen größeren Zusammenhang. Für die oben genannten Beispiele bedeutet das, dass die Funde aus Pompeji (Münzen, Keramik usw.) auch ohne Kenntnis des genauen Datums eine Datierung der Zerstörung um 80 erlauben. Die Datierung der Einwanderung der Langobarden ist nach dem historischen Datum von 568 möglich, da die ältesten Grabbeigaben der Langobarden in Italien nach archäologischen Kriterien aus dem letzten Drittel des 6. Jahrhunderts stammen und spezielle Formen, etwa von Fibeln, dort vorher nicht bekannt gewesen sind, sondern nach genauen Vergleichsstücken von langobardischen Zuwanderern aus ihren bisherigen Wohngebieten in Pannonien mitgebracht wurden. Weitere Methoden Einige Methoden eignen sich für relativ spezielle Anwendungsgebiete. Die Thermolumineszenzdatierung etwa dient zur naturwissenschaftlichen Altersbestimmung von Keramik. Inzwischen wurde auch die Argon-Argon-Datierung so weit verfeinert, dass die absolute Datierung historischer Ereignisse mit dieser in bestimmten Fällen möglich ist. So wurde sie 1997 verwendet, um mit ihr Bimsstein von dem Vesuv-Ausbruch, welcher Pompeji zerstörte, auf die Jahre von 72 bis 94 n. Chr. zu datieren. Damit liegt das in historischen Quellen genannten Datum (79 n. Chr.) im Bereich des quantifizierten Fehlers. Die unabhängigen Altersangaben bestätigen sich folglich gegenseitig. Eine neue Untersuchungsmethode stellt die Rehydroxylierung dar, nämlich in welchem Grade Sauerstoffbrücken in Keramik durch Eindringen von Wasser aufgebrochen worden sind. Auf diese Weise gelang es Moira Wilson von der University of Manchester und ihren Kollegen, keramische Objekte im Alter bis zu 2000 Jahren recht genau zu bestimmen. Zusammenführung von relativer und absoluter Chronologie Im Regelfall sollte zunächst eine relative Chronologieabfolge erstellt werden, welche erst in einem zweiten Schritt mit absoluten Daten zusammengeführt wird. Wird dieses Prinzip missachtet, führt dies bei einer zu ungenauen oder fehlerhaften Absolutdatierung zu einer falschen Relativdatierung. Siehe auch Isotopenuntersuchung Radiometrische Datierung Literatur Mebus A. Geyh: Handbuch der physikalischen und chemischen Altersbestimmung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-17959-5. Burkhard Heuel-Fabianek: Natürliche Radioisotope: die „Atomuhr“ für die Bestimmung des absoluten Alters von Gesteinen und archäologischen Funden. StrahlenschutzPraxis, 1/2017, S. 31–42. Manfred Reitz: Auf der Fährte der Zeit. Mit naturwissenschaftlichen Methoden vergangene Rätsel entschlüsseln. Wiley-VCH, Weinheim 2003, ISBN 3-527-30711-7. Rolf C. A. Rottländer: Einführung in die naturwissenschaftlichen Methoden in der Archäologie. Archaeologica Venatoria, Tübingen 1983, ISBN 3-921618-19-3. Sahra Talamo, Bernd Kromer, Michael P. Richards, Lukas Wacker: Back to the future: The advantage of studying key events in human evolution using a new high resolution radiocarbon method. In: PLoS ONE. Band 18, Nr. 2, 2023, e0280598, doi:10.1371/journal.pone.0280598. Weblinks Einzelnachweise Datierung (Archäologie) Archäologische Forschungsmethode Geochronologie eo:Datadmetodo
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Adrenalin
Adrenalin (gebildet 1901 aus ‚an‘ und ‚Niere‘) oder Epinephrin (1900 gebildet aus ‚auf‘ und ‚Niere‘) ist ein im Nebennierenmark gebildetes Hormon, das zur Gruppe der Katecholamine gehört. Auch im Zentralnervensystem kommt Adrenalin vor, dort ist es als Neurotransmitter in adrenergen Nervenzellen vorhanden. Seine Effekte vermittelt Adrenalin über eine Aktivierung von G-Protein-gekoppelten Rezeptoren, den Adrenozeptoren. Die wirksamere Form L-Adrenalin kam vor 1919 als Suprarenin (von lateinisch supra, ‚über‘) auf den Markt. Einmal ins Blut ausgeschüttet, vermittelt Adrenalin eine Herzfrequenzsteigerung, einen durch Blutgefäßverengung bewirkten Blutdruckanstieg und eine Bronchiolenerweiterung. Das Hormon bewirkt zudem eine schnelle Energiebereitstellung durch Fettabbau (Lipolyse) sowie die Freisetzung und Biosynthese von Glucose. Es reguliert die Durchblutung (Zentralisierung) und die Magen-Darm-Tätigkeit (Hemmung). Als Stresshormon ist es an der „Flucht- oder Kampfreaktion (fight-or-flight response)“ beteiligt. Begriffsdefinition Eine häufig gebrauchte Bezeichnung für Adrenalin (ursprünglich ein Markenname) ist Epinephrin (INN) ( epí ‚auf‘ und nephrós ‚Niere‘). Adrenalin besitzt ein Stereozentrum, somit existieren zwei Enantiomere. Ist der Name „Adrenalin“ durch keinen Deskriptor näher gekennzeichnet, ist das natürlich vorkommende (R)-(−)-Adrenalin gemeint. (S)-(+)-Adrenalin hat dagegen praktisch keine Bedeutung. Entdeckungsgeschichte Den ersten Hinweis auf eine im Nebennierenmark vorkommende und von dort in die Blutbahn freigesetzte Substanz, die sich mit Eisen(III)-chlorid anfärben ließ, fand 1856 der französische Physiologe Alfred Vulpian. Dass diese Substanz außerordentliche pharmakologische Eigenschaften besitzen musste, stellten 1893/94 der praktizierende Arzt George Oliver und der Physiologe Edward Albert Schäfer fest. Dasselbe gelang 1894 dem Krakauer Physiologen Napoleon Cybulski mit seinem Assistenten Władysław Szymonowicz. 1896 publizierte der Augenarzt William Bates seine Beobachtungen. John Jacob Abel stellte 1897 bzw. 1900 die noch unreine Substanz dar und gab ihr den Namen „Epinephrin“. Inspiriert durch seine Arbeiten isolierten Jokichi Takamine und Thomas Bell Aldrich (1861–1938) 1901 diese und ließen die kristallinische Substanz von der Firma Parke, Davis & Co. unter dem Namen „Adrenalin“ vertreiben. Obgleich Abels Epinephrin sich später als ein Artefakt der Isolierung herausstellte, wird der Name Epinephrin bis heute synonym für Adrenalin gebraucht. Im Jahr 1904 folgte die Aufklärung der Formel und chemische Synthese durch Friedrich Stolz in Höchst. 1908 gelang Fritz Flaecher (1876–1938) die Trennung des Racemats in die beiden Enantiomere, wobei die wirksamere L-Form unter dem Namen Suprarenin auf den Markt gebracht wurde. 1919 führte Reinhard von den Velden (1880–1941) die erste intrakardiale Adrenalin-Injektion durch. Adrenalin war das erste Hormon, das rein hergestellt und dessen Struktur bestimmt wurde. Die weitere Adrenalinforschung führte zu den beiden anderen körpereigenen Catecholaminen Noradrenalin und Dopamin. Biosynthese und Abbau Biosynthese Die Biosynthese von Adrenalin geht von der α-Aminosäure L-Phenylalanin (1) aus. Diese wird durch das Enzym Phenylalaninhydroxylase (PAH) zunächst zu L-Tyrosin (2) hydroxyliert. Eine weitere Hydroxylierung durch die Tyrosinhydroxylase (TYH) liefert L-DOPA (3), welches durch die Aromatische-L-Aminosäure-Decarboxylase (AADC) zu Dopamin (4) decarboxyliert wird. Es folgt eine enantioselektive Hydroxylierung zum Noradrenalin (5) durch die Dopamin-β-Hydroxylase (DBH). Eine abschließende N-Methylierung durch Phenylethanolamin-N-Methyltransferase (PNMTase) liefert schließlich Adrenalin (6). Die normale Konzentration von Adrenalin im Blut liegt unter 100 ng/l (etwa 500 pmol/l). Regulation der Biosynthese Die Biosynthese und die Freisetzung von Adrenalin kann durch nervale Reize, durch Hormone oder durch Medikamente gesteuert werden. Nervale Reizung fördert die Umwandlung von L-Tyrosin zu L-Dopa und von Dopamin zu Noradrenalin. Cortisol, das Hormon der Nebennierenrinde, fördert die nachfolgende Umwandlung von Noradrenalin zu Adrenalin. Die Adrenalinproduktion kann auch durch einen negativen Feedback-Mechanismus reguliert werden. Ansteigende Adrenalinspiegel sind mit der L-Tyrosin-Bildung negativ rückgekoppelt, bei erhöhten Adrenalinspiegeln wird also die L-Tyrosin-Bildung gebremst. Abbau Adrenalin wird nach seiner Freisetzung relativ schnell wieder abgebaut. So beträgt die Plasmahalbwertszeit von Adrenalin bei intravenöser Gabe nur eine bis drei Minuten. Am Abbau von Adrenalin sind insbesondere die Enzyme Catechol-O-Methyltransferase (COMT) und Monoaminooxidase (MAO) beteiligt. Das durch O-Methylierung (COMT) gebildete primäre Abbauprodukt Metanephrin (siehe Metanephrine) besitzt bereits keine nennenswerte biologische Aktivität mehr. Durch weitere, insbesondere oxidative Stoffwechselprozesse unter Beteiligung der Monoaminooxidase ist eine Metabolisierung zu Vanillinmandelsäure und 3-Methoxy-4-hydroxyphenylethylenglykol (MOPEG) möglich. Diese Stoffwechselprodukte werden in konjugierter (z. B. als Sulfate) und unkonjugierter Form über den Urin ausgeschieden. Der zuverlässige qualitative und quantitative Nachweis aller Metabolite gelingt durch die Kopplung verschiedener chromatographischer Verfahren. Wirkungen Adrenalin ist ein Stresshormon und schafft als solches die Voraussetzungen für die rasche Bereitstellung von Energiereserven, die in gefährlichen Situationen das Überleben sichern sollen (Kampf oder Flucht). Diese Effekte werden auf subzellularer Ebene durch Aktivierung der G-Protein-gekoppelten Adrenorezeptoren vermittelt. Herz-Kreislauf-System Von besonderer Wichtigkeit ist die Wirkung von Adrenalin auf das Herz-Kreislauf-System. Hierzu zählt u. a. der Anstieg des zentralen Blutvolumens, der durch Kontraktion kleiner Blutgefäße, insbesondere in der Haut und in den Nieren, über die Aktivierung von α1-Adrenozeptoren geschieht. Zugleich wird eine β2-Adrenozeptor-vermittelte Erweiterung zentraler und muskelversorgender Blutgefäße beobachtet. Die Aktivierung von β1-Adrenozeptoren führt zu einer erhöhten Herzfrequenz (positiv chronotrope Wirkung), einer beschleunigten Erregungsleitung (positiv dromotrope Wirkung), einer erhöhten Kontraktilität (positiv inotrope Wirkung) und einer Senkung der Reizschwelle (positiv bathmotrope Wirkung). Diese Effekte verbessern die Herzleistung und tragen mit der Konstriktion kleiner Blutgefäße zur Erhöhung des Blutdrucks bei. Nach Vorbehandlung mit Alpha-Blockern führt Adrenalin jedoch zu einer paradoxen, therapeutisch genutzten Senkung des Blutdrucks (Adrenalinumkehr). Auch sehr niedrige Adrenalindosen (< 0,1 µg/kg) können eine leichte Senkung des Blutdrucks bewirken, die mit einer selektiven Aktivierung von β2-Adrenozeptoren der Blutgefäße erklärt wird. Chronisch erhöhte Adrenalinspiegel werden mit einer Hypertrophie des Herzens in Verbindung gebracht. Glatte Muskulatur, Atmung, Magen-Darm-Trakt, Harnblase Neben der oben genannten Funktion auf das Herz-Kreislauf-System ist die Steigerung der Atmung und eine vorübergehende Inaktivierung nicht benötigter Prozesse, z. B. der Verdauung, im Rahmen der Stresshormonfunktion des Adrenalins von Bedeutung. Adrenalin führt über eine Aktivierung von β-Adrenozeptoren zu einer Erschlaffung der glatten Muskulatur. Dies hat beispielsweise eine Ruhigstellung des Magen-Darm-Trakts (Hemmung der Peristaltik) und eine Erweiterung der Bronchien zur Erleichterung der Atmung als Folge (β2-Adrenozeptoren). Ebenfalls über β2-Adrenozeptoren kann Adrenalin eine Relaxation des Uterus von Schwangeren bewirken. Andererseits kann Adrenalin in Organen, die vorwiegend α1-Adrenozeptoren exprimieren, eine Kontraktion der glatten Muskulatur vermitteln. So führt Adrenalin zu einer Kontraktion des Schließmuskels der Harnblase. Mobilisierung von Energiereserven Die Freisetzung von Adrenalin aus der Nebenniere führt zu einer Mobilisierung von körpereigenen Energieträgern durch Steigerung des Fettabbaus (Lipolyse). Diese Lipolyse wird durch eine β-Adrenozeptor-vermittelte (vorwiegend β3-Adrenozeptoren) Aktivierung der hormonsensitiven Lipase katalysiert. Ebenso führt ein Anstieg des Adrenalinspiegels zu einer Freisetzung und Neubildung von Glucose und damit zu einem Anstieg des Blutzuckerspiegels (β2-Adrenozeptoren). Dieser als Adrenalinglucosurie (bzw. Adrenalinglykosurie) bezeichnete, 1901 von Léon Blum entdeckte Effekt wird durch α2-Adrenozeptor-vermittelte Hemmung der Insulinproduktionen und die β-Adrenozeptor-vermittelte Freisetzung von Glucagon verstärkt. Im Muskel kommt es durch Adrenalin zu verstärkter Glucose-Aufnahme. Adrenalin führt ebenfalls zu einer Erhöhung des Energieumsatzes (vorwiegend β2-Adrenozeptoren). Zentralnervensystem Beobachtete zentralnervöse Effekte als Stresshormon werden als reflektorisch angesehen, da in der Nebenniere gebildetes Adrenalin die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren kann. Ungeachtet dessen konnte in einigen Neuronen des Zentralnervensystems vor Ort produziertes Adrenalin als Neurotransmitter nachgewiesen werden. Diese Neurone kommen insbesondere in der Area reticularis superficialis ventrolateralis vor. Die Funktion dieser adrenergen Neurone ist nicht genau bekannt, jedoch wird eine Rolle bei der zentralen Blutdruckregulation und beim Barorezeptorreflex diskutiert. Das zentrale Nervensystem nimmt den Stressor wahr, daraufhin wird der Hypothalamus aktiv und aktiviert den Sympathicus. Dessen anregende Wirkung auf das Nebennierenmark bewirkt dessen Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin. Sonstige Effekte Als Folge einer Adrenalinfreisetzung oder einer lokalen Adrenalinanwendung können Schweißproduktion, Gänsehaut (pilomotorischer Reflex) und eine Pupillenerweiterung (Mydriasis) beobachtet werden. Zudem bekommt man auch einen trockenen Mund. Adrenalin ist ferner an der Blutgerinnung und Fibrinolyse beteiligt. Chemie Adrenalin (chemisch: (R)-1-(3,4-Dihydroxyphenyl)-2-(N-methylamino)ethanol) gehört zur Gruppe der Katecholamine, zu der auch Noradrenalin und Dopamin zählen. Die wirksame Form (Eutomer) des Adrenalins besitzt stereochemisch eine (R)-Konfiguration [(R)-Adrenalin oder (−)-Adrenalin]. (R)-Adrenalin ist etwa 20- bis 50-mal wirksamer als (S)-Adrenalin. Synthese Zur Synthese des Adrenalins sind in der Literatur mehrere Verfahren beschrieben. Das klassische Syntheseverfahren umfasst drei Schritte: Brenzkatechin (1) wird mit Chloressigsäurechlorid (2) zum 3,4-Dihydroxy-ω-chloracetophenon (3) acyliert. Die Reaktion entspricht indirekt der Friedel-Crafts-Acylierung, der bevorzugte Weg führt gleichwohl über die Ester-Zwischenstufe und schließt so eine Fries-Umlagerung mit ein. Die Aminierung des Chloracetophenons mit Methylamin ergibt das Adrenalon (4); die anschließende Reduktion liefert racemisches Adrenalin (5). Die Racematspaltung ist mit Hilfe von (2R,3R)-Weinsäure möglich. Alternativ kann man auch 3,4-Dimethoxybenzaldehyd mit Blausäure zum Cyanhydrin umsetzen, dessen Oxidation dann ein Nitriloketon liefert. Durch katalytische Reduktion entsteht ein Aminoketon, dessen schonende N-Methylierung liefert dann das sekundäre Amin. Durch Hydrolyse der Phenyletherfunktionen, Reduktion und Racematspaltung gelangt man dann zum Adrenalin. Handelsübliche Formen des Adrenalins sind auch das Hydrogentartrat und das Hydrochlorid. Stabilität Wie alle Katecholamine ist Adrenalin oxidationsempfindlich. Ein Oxidationsprodukt des Adrenalins ist Adrenochrom. Für die Oxidation kann man Silber(I)-oxid (Ag2O) verwenden. Die Oxidation des Adrenalins kann auch in wässriger Lösung durch Spuren von Eisen- und Iodidionen katalysiert werden. Antioxidantien, wie z. B. Ascorbinsäure und Natriummetabisulfit können die Bildung von Adrenochrom verlangsamen. Die Geschwindigkeit der Oxidation ist darüber hinaus vom pH-Wert der Lösung abhängig. Als Stabilitätsoptimum gilt ein leicht saurer pH-Wert. Adrenalin als Arzneistoff Anwendungsgebiete In der Medizin wird Adrenalin vor allem als Notfallmedikament bei der Herz-Lungen-Wiederbelebung bei Herzstillstand und dem anaphylaktischen Schock eingesetzt. Es ist in verschiedenen Darreichungsformen erhältlich und verschreibungspflichtig. Notfallmedizin Für die Anwendung in der Notfallmedizin wird Adrenalin intravenös, alternativ auch intraossär, früher auch endobronchial (erstmals 1967 beschrieben und 1974 etabliert) und intrakardial, verabreicht. In den aktuellen Empfehlungen des European Resuscitation Council wird die Gabe von Adrenalin bei der Reanimation als Standard empfohlen. In einer großen placebo-kontrollierten Studie konnte ein verbessertes Überleben durch Anwendung von Adrenalin bei der Reanimation außerhalb des Krankenhauses gezeigt werden, allerdings ging dies auch mit einer höheren Zahl von neurologischen Schäden einher. Ein weiteres Hauptanwendungsgebiet von Adrenalin in der Medizin ist der Kreislaufschock, beispielsweise bei anaphylaktischen Reaktionen oder Sepsis. Die Behandlung anaphylaktischer Reaktionen und des anaphylaktischen Schocks erfolgt über eine intramuskuläre Verabreichung von Adrenalin. Sollte im akuten Schockgeschehen keine Zustandsbesserung mit der intramuskulären Gabe erfolgen, kann Adrenalin auch intravenös titriert verabreicht werden. Für Patienten mit schwerwiegenden allergischen Reaktionen in der Vergangenheit (z. B. drohende Erstickung durch Anschwellen der Stimmritze (Glottisödem)) stehen Adrenalin-Fertigspritzen zur Verfügung, die dann von dem Betroffenen nach einer Allergenexposition mit beginnender Symptomatik selbst appliziert werden können. Für die Anwendung in der Herz-Lungen-Wiederbelebung und beim Schock stehen die den Blutkreislauf zentralisierenden Wirkungen des Adrenalins im Vordergrund. Durch eine Aktivierung von α1-Adrenozeptoren wird eine Konstriktion kleiner Blutgefäße in der Haut und in den Nieren erreicht, während große zentrale Blutgefäße erweitert werden. Auf diese Weise soll Adrenalin den koronaren und zerebralen Perfusionsdruck steigern. Atemwegserkrankungen Für die Anwendung als Zusatzmedikation bei der akuten Laryngitis subglottica („Pseudo-Krupp“) steht Adrenalin als Lösung zur Inhalation zur Verfügung. Bis 2002 waren in Deutschland Adrenalin-haltige Inhalationspräparate auch für die Akutbehandlung des Asthma bronchiale zugelassen. Mit Inkrafttreten des FCKW-Verbots wurden diese jedoch vom Markt genommen. Die inhalative Anwendung anderer Adrenalinpräparate zur Akutbehandlung asthmatischer Beschwerden ist somit außerhalb der arzneimittelrechtlichen Zulassung und entspricht einem Off-Label-Use. Die Anwendung des Adrenalins bei Atemwegserkrankungen basiert auf seiner bronchienrelaxierenden Wirkung, die über eine Aktivierung von β2-Adrenozeptoren vermittelt wird. Systemische Nebenwirkungen nach Resorption müssen jedoch in Kauf genommen werden. Lokale Vasokonstriktion Adrenalin kann weiterhin zur lokalen Gefäßverengung bei Blutungen eingesetzt werden. Die gefäßverengende Wirkung wird auch zum Schließen von Cuts im Boxsport verwendet. Diese vasokonstriktive Wirkung beruht auf einer Aktivierung von α1-Adrenozeptoren kleiner Blutgefäße in der Haut und im Muskelgewebe und ihrer darauf folgenden Verengung. Verdünntes Adrenalin (etwa als 1:1000 bzw. 1:5000 verdünnte Suprarenin-Lösung) wird ferner, nachdem der Chirurg Heinrich Braun Untersuchungen mit Kokain dazu angestellt hatte, seit Beginn des 20. Jahrhunderts als vasokonstriktiver Zusatz zu Lokalanästhetika verwendet, um deren Abtransport zu verlangsamen und damit ihre Wirkungsdauer zu verlängern und auch die Toxizität zu verringern. Antidot Adrenalin ist das Mittel der zweiten Wahl bei Betablockervergiftungen und kann eingesetzt werden, wenn kein spezifischer β-Agonist zur Verfügung steht. Für diese Notfallanwendung besteht jedoch ebenfalls keine arzneimittelrechtliche Zulassung (Off-Label-Use). Nebenwirkungen Die Nebenwirkungen des Adrenalins entsprechen weitgehend seinen Hauptwirkungen und sind auf dessen Bedeutung als Stresshormon zurückzuführen. Adrenalin führt zu einer Kontraktion kleiner Blutgefäße, insbesondere der Haut und der Nieren, verbunden mit einem Blutdruckanstieg und, insbesondere bei lokaler Anwendung, vereinzelten Nekrosen. Bei systemischer Anwendung stehen kardiale Nebenwirkungen, wie z. B. Herzinsuffizienz, Angina-pectoris-Anfälle, Herzinfarkt, tachykarde Herzrhythmusstörungen, bis hin zum Kammerflimmern und Herzstillstand im Vordergrund. Daher ist seine Anwendung teilweise umstritten. Die systemische Anwendung von Adrenalin kann darüber hinaus eine Erhöhung des Blutzuckerspiegels (Hyperglykämie), eine Erniedrigung des Kaliumspiegels (Hypokaliämie), eine metabolische Azidose und eine Absenkung der Magnesiumkonzentration (Hypomagnesiämie) zur Folge haben. Des Weiteren können Mydriasis, Miktionsschwierigkeiten, Speichelfluss, Schwitzen bei gleichzeitigem Kältegefühl in den Extremitäten, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel und Kopfschmerz beobachtet werden. Als neurologische Nebenwirkungen durch den Einsatz von Adrenalin können Ruhelosigkeit, Nervosität, Angst, Halluzinationen, Krämpfe und Psychosen auftreten. Wechselwirkungen Einige Inhalationsanästhetika, die das Herz für Katecholamine sensibilisieren, führen zu einer verstärkten Wirkung von Adrenalin am Herz und somit zu einer erhöhten Gefahr von Herzinsuffizienz, Angina-pectoris-Anfällen, Herzinfarkt und tachykarden Herzrhythmusstörungen. Die Wirkungen und Nebenwirkungen von Adrenalin können ebenfalls durch eine Hemmung des Adrenalinabbaus oder einer vermehrten (Nor-)Adrenalinfreisetzung verstärkt werden. Dies ist insbesondere bei gleichzeitiger Anwendung von MAO-Hemmern, Levodopa, L-Thyroxin, Theophyllin, trizyklischen Antidepressiva und Reserpin zu beobachten. Adrenalin seinerseits hemmt die blutdrucksenkende Wirkung von Alphablockern und die kardialen Effekte der Betablocker. Da Adrenalin zu einem Anstieg des Blutzuckerspiegels führt, ist die Wirkung oraler Antidiabetika herabgesetzt. Dosierung Adrenalin wird als Lösung intravenös verabreicht. Typischerweise ist die Konzentration in einer Ampulle 1 mg/ml (auch als Adrenalinlösung 1:1.000 oder Adrenalinlösung 0,1%ig bezeichnet). Je nach Anwendungsgebiet ist es gebräuchlich, im Verhältnis 1:10 mit 0,9 % Natriumchloridlösung zu verdünnen (dann als Adrenalinlösung 1:10.000 oder Adrenalinlösung 0,01%ig bezeichnet). Die Reanimationsdosis beträgt 1 mg alle 3–5 Minuten. In der Intensivmedizin und zur Behandlung eines Low-output-Syndroms wird bei Erwachsenen eine Dosierung von 2–20 µg/min eingesetzt. Handelsnamen nach Darreichungsform Ampullen (Injektionslösung) Suprarenin (D) Adrenalin 1:1000 Infectopharm (D) sowie Generika (A, CH) Autoinjektoren (Injektionslösung in Fertigpen) Emerade (D) EpiPen (A, CH) Fastjekt (D) Jext (D, A, CH, NL, DK, E, I, FIN, N, SLO, S, UK) Anapen (D, A, CH) – Lincoln Medical Limited rief am 5. Juni 2012 alle noch haltbaren Chargen wegen möglicher Nichtabgabe von Adrenalin zurück. Inhalationslösung InfectoKrupp Inhal (D) Literatur Klaus Starke: Grundlagen der Pharmakologie des Nervensystems. In: Wolfgang Forth, Dietrich Henschler, Walter Rummel, Ulrich Föstermann, Klaus Starke: Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie. 8., völlig überarbeitete Auflage. Urban & Fischer, München u. a. 2001, ISBN 3-437-42520-X, S. 111–146. Serafim Guimarães, Daniel Moura: Vascular adrenoceptors: an update. In: Pharmacological Reviews, Band 53, Nr. 2, S. 319–356, PMID 11356987. Otto Westphal, Theodor Wieland, Heinrich Huebschmann: Lebensregler. Von Hormonen, Vitaminen, Fermenten und anderen Wirkstoffen. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 1941 (= Frankfurter Bücher. Forschung und Leben. Band 1), S. 17–19 (Die Nebennieren) und 82 f. (Der Blutruckregler). Weblinks Adrenaline – Molecule of the Month (englisch) Einzelnachweise Katecholamin Benzylalkohol Hormon Neurotransmitter Arzneistoff Nebenniere Stress Psychotropes Phenylethylamin Psychotroper Wirkstoff Beschränkter Stoff nach REACH-Anhang XVII, Eintrag 75 Sympathomimetikum
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Arterie
Eine Arterie (lateinisch Arteria, von , „Luftrohr, Schlagader“) ist ein Blutgefäß, welches (mit Ausnahme der Herzkranzarterien) Blut vom Herzen weg führt. Sie wird nach den an großen Arterien spürbaren Pulsen des Herzschlags auch Schlagader oder Pulsader genannt. Durch ihren Aufbau sollen Arterien den vom Herzen erzeugten Blutdruck stabil halten können. Im Körperkreislauf transportieren sie sauerstoff­reiches Blut („arterielles Blut“). Die vom rechten Herzen zu den Lungenflügeln abgehenden Arterien des Lungenkreislaufs hingegen enthalten sauerstoffarmes Blut. In den Arterien des Menschen sind nur etwa 20 % des gesamten Blutvolumens enthalten (post mortem wegen des Druckgefälles noch ca. 2 %). Arterien verzweigen sich in immer kleinere Arterien und dann über Arteriolen in so genannte Haargefäße (Kapillaren). Blutgefäße, die das Blut aus dem Körper zum Herzen zurücktransportieren, werden im Allgemeinen Venen genannt. Wortherkunft Lateinisch arteria stammt von ; von a(ë)rter, ‚woran etwas aufgehängt wird‘ (in Bezug auf die an der Luftröhre bzw. den Bronchien aufgehängte Lunge), von altgriech. . Volksetymologisch wurde die Arterie bezogen auf bzw. aër, ‚Luft‘, in der Annahme, Arterien seien mit Luft gefüllt (Arterien galten zudem als Leitungsbahn nicht nur für Blut, sondern auch als Gefäße für den Transport des ebenso lebenswichtigen Pneumas; zum Teil wurde – bis durch Galenos zur Anerkennung gebracht wurde, dass auch Blut in den Arterien fließt – auch angenommen, die Arterien enthielten nur das Pneuma). Typen Je nach Funktion und Lokalisation müssen Arterien verschiedenen Ansprüchen genügen und unterscheiden sich daher auch in ihrem Aufbau: muskulärer Typ (Arteriae myotypicae): diese kleineren Arterien liegen relativ herzfern (peripher) und sind als Widerstandsgefäße u. a. durch ihre glatte Muskulatur maßgeblich an der Aufrechterhaltung des Blutdrucks beteiligt, da sie durch Verengung ihres Durchmessers den erforderlichen Blutdruck herstellen können (tun sie dies nicht, so spricht man von einer orthostatischen Dysregulation mit Schwindel- und Schwächeanfällen v. a. nach dem Aufstehen) Elastischer Typ (Arteriae elastotypicae): Diese großen, herznahen Gefäße wandeln physiologischerweise den pulsatilen Blutfluss, der durch den ruckartigen Herzschlag (die Systole) verursacht wird, durch ihre elastische Schwingungsfähigkeit in eine quasi-kontinuierliche Strömung um – die sogenannte Windkesselfunktion – und schützen so in der Peripherie des Kreislaufs die Organe und Gewebe vor gefährlichen Blutdruckspitzen oder -tälern. Bei der Arteriosklerose ist diese Schwingungseigenschaft stark vermindert oder total erloschen, was in dauerhaften, krankhaften Bluthochdruck bis hin zur hypertensiven Krise, transitorischen ischämischen Attacken (kurzzeitigen, durch schwachen Blutdruck bedingten Bewusstseinsverlusten), Schlaganfällen (durch Massenblutung bei zu hohem oder Mangelversorgung bei zu niedrigem Blutdruck) oder dem Reißen einer Gefäßaussackung (eines Aneurysmas) münden kann. Gemischter Typ: Die Übergangsform von muskulären zum elastischen Typ wird als gemischter Typ oder Arteriae mixtotypicae bezeichnet. Sperrarterien (Arteriae convolutae): Hier handelt es sich um Arterien, die ihr Lumen soweit verengen können, dass kein Blutstrom stattfindet. Hierfür verfügen sie über einen speziellen Wandaufbau der einen eigenen Typus begründet. In den Gefäßwänden befindet sich längs zur Fließrichtung orientierte glatte Muskulatur. Wandaufbau Die Gefäßwände der Arterien sind dicker (muskelreicher), haben eine deutlich ausgeprägtere Schichtung und sind weniger dehnbar als die Venen. Grundsätzlich besteht eine arterielle Wand aus drei Schichten, deren Bestandteile alle lateinisch-anatomische Namen tragen; von der blutführenden Seite aus gesehen sind dies: Die Tunica interna (auch Intima) besteht aus einem einschichtigen Endothel, der darauf aufsetzenden Schicht aus lockerem Bindegewebe und dem Stratum subendotheliale, daran anschließend die Membrana elastica interna (besonders gut entwickelt bei den muskulären, peripheren Arterien). Die Tunica media (oder kurz Media) ist bei den peripheren Arterien aus mehreren, dicht anliegenden, ringförmigen und schräg gewundenen Muskelschichten aufgebaut, die auch elastische Fasern und solche aus Kollagen enthalten, bei den elastischen Arterien ähnlich aufgebaut, allerdings mit mehr Kollagen und vielen schwingungsfähigen und gefensterten Membranen. Teilweise befindet sich zwischen der Media und der Adventitia noch zusätzlich eine elastische Schicht (Membrana elastica externa, Elastika), die mittels Elastika-Färbung darstellbar ist. Die Tunica externa (auch als Tunica adventitia bezeichnet), welche vor allem aus elastischem und kollagenem, faserigem Bindegewebe besteht und über ihre Vasa vasorum (die Gefäße der Gefäße) und Nerven (Nervi vasorum) die Gesamtarterie ernährt und steuert. Große Arterien Die größte Arterie im menschlichen Körper ist die Aorta (Hauptschlagader) mit einem Durchmesser von etwa drei Zentimetern. Weitere größere Arterien sind: Arteria axillaris (Achselarterie) Arteria basilaris (Schädelbasisschlagader) Arteria brachialis (Oberarmarterie) Arteria carotis communis (gemeinsame Halsschlagader) Arteria carotis externa (äußere Halsschlagader) Arteria carotis interna (innere Halsschlagader) Arteria facialis (Gesichtsschlagader) Arteria femoralis (Oberschenkelarterie) Arteria hepatica communis (gemeinsame Leberarterie) Arteria iliaca communis (gemeinsame Beckenarterie) Arteria iliaca externa (äußere Beckenarterie) Arteria iliaca interna (innere Beckenarterie) Arteria splenica (Milzarterie, syn. Arteria lienalis) Arteria maxillaris (Oberkieferschlagader) Arteria mesenterica inferior (untere Eingeweidearterie) Arteria mesenterica superior (obere Eingeweidearterie) Arteria ophthalmica (Augenschlagader) Arteria ovarica (Eierstockarterie) Arteria poplitea (Kniekehlenarterie) Arteria pulmonalis (Lungenarterie) Arteria radialis (Speichenarterie) Arteria renalis (Nierenarterie) Arteria subclavia (Unterschlüsselbein-Arterie) Arteria testicularis (Hodenarterie) Arteria tibialis anterior (vordere Schienbeinarterie) Arteria tibialis posterior (hintere Schienbeinarterie) Arteria ulnaris (Ellen-Arterie) Arteria vertebralis (Wirbelarterie) Truncus brachiocephalicus (gemeinsamer Hals-Kopf-Stamm) Truncus coeliacus (Stammgefäß für die Versorgung der oberen Bauchorgane) Weblinks Einzelnachweise Histologie der Kreislauforgane
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Ariel Scharon
(, genannt Arik; geboren am 26. Februar 1928 als Ariel Scheinermann in Kfar Malal, Britisches Mandatsgebiet Palästina; gestorben am 11. Januar 2014 in Ramat Gan) war ein israelischer Politiker und General. Bis zum Jom-Kippur-Krieg 1973 war er als aktiver Offizier, vielfach in entscheidenden Positionen, an allen militärischen Konflikten Israels beteiligt. Damals und in der darauf folgenden Zeit, als er mehrfach Ministerämter bekleidete, galt er als Hardliner und Protagonist der Siedlerbewegung. Als Ministerpräsident von 2001 bis 2006 setzte er dagegen den Abzug des israelischen Militärs aus dem Gazastreifen durch. Familie Scharons Vater Schmuel kam aus Brest-Litowsk und die Mutter, die einer Familie von Subbotniki entstammte, aus Mahiljou in Belarus. Der Vater hatte gerade in Tiflis sein Betriebswirtschaftsstudium mit Vertiefung auf Einzelhandelskaufmann abgeschlossen, als er 1921 als aktiver Zionist vor der Roten Armee floh und zusammen mit der Mutter nach Palästina auswanderte. Seine Frau Vera Schneeroff konnte deshalb ihr Studium der Medizin nicht abschließen, was sie ihr Leben lang bereute. Im Unterschied zu vielen Einwanderern jener Zeit war sie weder sozialistisch eingestellt noch teilte sie den Zionismus ihres Mannes. Die Familie zog in den Moschaw Kfar Malal, wo die Entscheidungen zwar kollektiv getroffen wurden, aber jeder sein eigenes Land besaß. Sein wenig kompromissbereiter Vater setzte sich als einziger studierter Landwirt wiederholt über die Entscheidungen der Gemeinschaft hinweg, wodurch er die Familie manchmal isolierte. Frühe Jahre Dienst in der Hagana Bereits mit 13 Jahren beteiligte sich Scharon am Wachdienst des Moschaws und trat im Jahr darauf der Untergrundorganisation Hagana bei, dem Vorläufer der israelischen Armee. Seit 1941 besuchte er das Gymnasium in Tel Aviv. Dort legte er, der nie ein herausragender Schüler war, mit 17 Jahren das Abitur ab. Da sein Vater die Aktionen des Palmach gegen national-konservative Gruppen (wie Lechi und Etzel) ablehnte, die gegen die Briten kämpften, trat Scharon nicht dieser Eliteeinheit, sondern der Jewish Settlement Police bei. Schon seit dem 21. Dezember 1947 war die Hagana dauerhaft mobilisiert, und Scharon nahm an mehreren ihrer Aktionen teil. Unabhängigkeitskrieg Zu Beginn des israelischen Unabhängigkeitskrieges von 1948 war Scharon Zugführer in einer Infanteriekompanie, die zur Alexandroni-Brigade gehörte. Er kämpfte unter anderem am 26. Mai 1948 in der ersten Schlacht um Latrun, in der er schwer verwundet und sein Zug fast vollkommen ausgelöscht wurde. Später wurde er zum Aufklärungsoffizier im Bataillon ernannt, das zuerst im Norden gegen die irakischen und später, kurz vor Kriegsende, im Süden gegen die ägyptischen Truppen kämpfte. Nach dem Krieg wurde die Alexandroni-Brigade in den Reservestatus versetzt. Scharon wurde Offizier der Aufklärung in der Golani-Brigade, in der er bald zum Hauptmann (Seren) befördert wurde und einen Bataillonskommandeurskurs besuchte. Im Jahr 1950 wurde er zum Aufklärungsoffizier für das gesamte Zentralkommando ernannt. Wegen der Folgen einer Malaria nahm Scharon 1951 eine mehrmonatige Auszeit und bereiste zum ersten Mal Europa und Nordamerika. Im November 1952 war Scharon unter der Führung von Mosche Dajan erstmals an Kommandoaktionen hinter den feindlichen Linien beteiligt. Am Ende des Jahres entschloss er sich jedoch zum Rückzug aus dem aktiven Dienst. Er begann ein Studium der Geschichte und Kultur des Nahen Ostens an der Hebräischen Universität Jerusalem, an der er sich 1947 bereits für Landwirtschaft eingeschrieben hatte. Am 29. März 1953 heiratete er seine erste Frau Margalit (kurz Gali), eine rumänische Jüdin, die er 1947 kennengelernt hatte. Margalit starb im Jahr 1962 bei einem Autounfall. Durch einen Unfall mit einem Gewehr der Familie starb auch ihr gemeinsamer Sohn Gur 1967 früh. Scharon heiratete später Margalits jüngere Schwester Lily, mit der er zwei Söhne, Omri und Gilad zeugte. Lily Scharon starb im Jahr 2000 an Lungenkrebs. Militärische Karriere Die Einheit 101 Im Jahr 1951 kam es zu 137, 1952 zu 162 und 1953 zu 160 Angriffen von Palästinensern auf den jungen Staat Israel. Da dessen Grenzen nur schwer zu überwachen waren, gelang es einigen Angreifern sogar, bis in die Vororte Tel Avivs vorzudringen. Dabei waren zahlreiche – meist zivile – Opfer zu beklagen. Das israelische Militär versuchte bei mehreren Gegenschlägen, die Zentren der paramilitärischen und terroristischen Angreifer zu treffen. Diese waren jedoch wenig effektiv, da die eingesetzten Truppen nicht speziell ausgebildet waren und oft schwere Verluste erlitten. Auch Scharon führte einen dieser misslungenen Gegenschläge aus. Seine militärische Analyse der Aktion bewog David Ben Gurion dazu, Mordechai Maklef mit der Gründung einer Spezialeinheit zu beauftragen, der Einheit 101. Ende Juli 1953 wurde Scharon mit deren Führung betraut. Daher musste er sein Studium zurückstellen. Scharon wählte die 45 Mitglieder der Einheit sorgfältig aus. Seit Oktober 1953 wurden sie im Camp Sataf einem harten Training unterworfen. Die Einheit begann mit Militäraktionen im Feindesland, die sie als „Abschreckungsoperationen“ bezeichnete. Bei einem gemeinsam mit einer Kompanie Fallschirmjäger unternommenen Angriff auf das jordanische Dorf Qibya wurden 69 Menschen getötet. Die meisten Opfer waren Zivilisten, die sich trotz Räumungsbefehls in ihren Häusern versteckt hielten, die von den Israelis gesprengt wurden. In seiner Autobiografie schreibt Ariel Scharon: Die Fallschirmjäger Nachdem Mosche Dajan Ende 1953 zum israelischen Generalstabschef ernannt worden war, wurde die Einheit 101 in die Fallschirmjägertruppe integriert. Scharon wurde der Kommandeur des Bataillons, das nach Einschätzung der israelischen Führung erfolgreich arbeitete. Nach der Qibya-Aktion wurden jedoch nur noch rein militärische Ziele angegriffen. Neben der herausgehobenen Position der Fallschirmjäger führte die Tatsache, dass Scharon seine persönlichen Kontakte zu Ben Gurion und Dajan zu scharfer Kritik an den Methoden der Armee und für seine persönlichen Ambitionen nutzte, zu Problemen Scharons mit seinen Vorgesetzten in der Armee. Zu Konflikten kam es auch mit dem neuen Verteidigungsminister Pinchas Lawon, der, besorgt um die außenpolitischen Auswirkungen der Aktionen, Scharon vergeblich zu zügeln versuchte. In diese Zeit fällt auch der großangelegte Angriff der Einheit auf das ägyptische Hauptquartier in Gaza am 28. Februar 1955, der einer der Gründe für die verstärkte Inanspruchnahme sowjetischer Militärhilfe durch Gamal Abdel Nasser war. Eine weitere bedeutende Aktion war der Angriff auf das jordanische Militärhauptquartier in Kalkilia im Oktober 1956. Die Sueskrise In der Sueskrise spielte Scharons 202. Fallschirmjäger-Brigade eine entscheidende Rolle. Das 890. Fallschirmjäger-Bataillon sicherte nach einer Luftlandung den Ostausgang des strategisch wichtigen Mitla-Passes. Der Rest der Brigade unter Scharon kämpfte sich in zwei Tagen auf dem Landweg die 200 km durch feindliches Gebiet zum Pass vor. Scharon bat mehrmals erfolglos darum, den Pass angreifen zu dürfen, erhielt aber nur Erlaubnis, ihn aufzuklären, um ihn, falls er unbesetzt sein sollte, später einzunehmen. In großzügiger Auslegung seiner Anweisungen schickte Scharon einen für reine Aufklärungszwecke sehr starken Spähtrupp, der in der Passmitte durch schweres Feuer gebunden wurde. Scharon schickte daraufhin auch den Rest seiner Brigade zur Unterstützung. In dem sich nun entwickelnden Gefecht konnten die Israelis den Pass erobern, wobei 38 israelische Soldaten fielen. Mehrere Jahre später gingen einige Teilnehmer der Schlacht an die Presse und warfen Scharon vor, er habe seine Aufklärer leichtfertig in Gefahr gebracht, um die Ägypter zu provozieren. Andere Veteranen der Aktion nahmen Scharon hingegen in Schutz. Zwischenkriegszeit Der Mitla-Zwischenfall fand das Missfallen von Scharons Vorgesetzten und brachte seine militärische Karriere auf Jahre hinaus beinahe zum Stillstand. Er blieb Kommandeur der Fallschirmjäger, bis er im Herbst 1957 von Dajan für ein Jahr nach Großbritannien auf das Staff College Camberley geschickt wurde. Dort schrieb er eine analytische Arbeit mit dem Titel: Command Interference in Tactical Battlefield Decisions: British and German Approaches. Nach seiner Rückkehr wurde er Oberst und Kommandeur der Infanterie-Schule, eine Aufgabe, die ihm wegen ihrer Theorielastigkeit nicht zusagte. Später kam das Kommando einer Reserve-Infanteriebrigade hinzu. Scharon begann auch einen Panzer-Lehrgang und besuchte einen Abendkurs für Jura bei der Tel Aviver Abteilung der Hebräischen Universität (den Abschluss machte er schließlich 1966). Auf Druck von Ben Gurion ernannte ihn Tzur schließlich zum Kommandeur einer Reserve-Panzerbrigade, abermals eine inaktive Rolle, die ihm aber wegen seines Interesses für die strategische Bedeutung von Panzern eher zusagte. Erst als Ende 1963 Jitzchak Rabin, der spätere israelische Premierminister, zum Generalstabschef ernannt wurde, wurde Scharon wieder einbezogen und zum Kommandeur des Nordkommandos unter Avraham Joffe ernannt. 1966 wurde er schließlich von Rabin in den Rang eines Generalmajors (Aluf) befördert, zum Direktor des militärischen Trainings ernannt und Kommandeur einer Reserve-Division. Der Sechstagekrieg Vor dem Sechstagekrieg machte sich Scharon zusammen mit Joffe und Matti Peled dafür stark, die ursprüngliche Taktik eines Stufenplans, der das schrittweise Meistern verschiedener Fronten und Konfliktherde vorsah, durch einen größer angelegten Präventivschlag an mehreren Fronten zu ersetzen. Scharon plante einen Angriff, der sowohl gleichzeitig und von Beginn an alle verfügbaren Kräfte ins Kampfgeschehen einbinden als auch die gesamte Sinaifront umfassen sollte. Nach der Ernennung Dajans zum Verteidigungsminister konnte sich diese Vorstellung durchsetzen. Im Krieg kommandierte Scharon die mächtigste Panzerdivision an der Sinaifront (die beiden anderen Divisionen waren die von Tal und Joffe), der der Durchbruch im Gebiet von Kusseima und Abu-Ageila gelang. Es war schließlich auch Scharon, der die 6. ägyptische Division vernichtend schlug. Rabin ernannte Scharon daraufhin zum Kommandeur des Sinai, wodurch er auch für die Versorgung der in der Wüste verstreuten ägyptischen Soldaten zuständig war. Als Chef der militärischen Ausbildung begann er sofort nach dem Krieg, verschiedene Ausbildungszentren in das Westjordanland zu verlegen, um die Gebiete zu sichern. Am Ende hatte er beinahe alle ehemaligen jordanischen Militärlager und Kasernen besetzt, die an den wichtigen strategischen Punkten lagen. Er versuchte auch Dajan davon zu überzeugen, die Familien der Soldaten in der Nähe dieser Kasernen anzusiedeln, war jedoch zunächst nicht erfolgreich. Im Jahr 1969 wurde er Chef des Südkommandos der israelischen Streitkräfte. Im Januar 1972 soll er Angaben des Scharon-Biographen David Landau zufolge die Vertreibung von 3.000 Beduinen in der Wüste des Sinais angeordnet haben, weil er auf dem Land der Beduinen eine Militärübung durchführen wollte. Die Menschen sollen ohne Vorbereitungszeit bei eisigen Temperaturen in drei Nächten zum Verlassen ihres Landes gezwungen worden sein. Während der Vertreibung kamen rund 40 Personen, vor allem Kinder, Babys und Alte, ums Leben. David Elazar ordnete nach der erfolgreichen Durchführung der Übung an, die Rückkehr der Beduinen auf ihr Land zu ermöglichen. Der Jom-Kippur-Krieg Nach dem überraschenden Angriff Ägyptens und Syriens auf Israel zum Auftakt des Jom-Kippur-Krieges 1973 wurde Scharon zusammen mit anderen erfahrenen Offizieren aus dem militärischen Ruhestand zurückgerufen und mit der Führung der 143. Panzerdivision betraut. Wegen seines eigenmächtigen Führungsstils stand er jedoch im ständigen Konflikt zu seinen Vorgesetzten Generalmajor Shmuel Gonen und Generalleutnant Chaim Bar-Lev, sowohl während eines misslungenen Gegenangriffs am 8. Oktober als auch während der Operation Gazelle, also dem Übergang auf das Westufer des Suezkanals. Scharon gelang es zwar unter großen Verlusten, einen Brückenkopf zu errichten, den entscheidenden Durchbruch und die anschließende Einschließung der 3. Ägyptischen Armee erzwang jedoch die 162. Panzerdivision unter Generalmajor Abraham (Bren) Adan, unterstützt durch eine weitere Panzerdivision. Während dieser Operation hatte Scharon den Befehl erhalten, mit seiner Division vorrangig die Übergangsstelle zu sichern, ein Auftrag, dem er aber erst nachkam, als ihm Bar-Lev ein Verfahren wegen Befehlsverweigerung angedroht hatte. Scharons Angriffe auf Ismailia und auf die Missouri-Stellung am Ostufer des Kanals zur Absicherung des Korridors blieben erfolglos. Dass Scharon dennoch als Lichtgestalt und angeblicher Sieger aus dem Jom-Kippur-Krieg hervorging, verdankte er dem zunehmend erstarkenden Likudblock, der ihm als politischen Hoffnungsträger half, eine Legende aufzubauen, die ihn als strahlenden Held aus dem Jom-Kippur-Krieg hervorgehen ließ. Während viele andere Politiker und Militärs nach dem Krieg im Kreuzfeuer der Kritik standen oder gar von der Agranat-Kommission gemaßregelt wurden, blieb Scharon trotz seiner taktischen Fehler hiervon verschont. Politischer Werdegang Minister Vor den Knesset-Wahlen 1973 wurde unter maßgeblicher Beteiligung des gerade aus der Armee ausgeschiedenen Scharon aus dem Zusammenschluss des rechten Parteienbündnisses Gachal mit kleineren Rechtsparteien der Likud gebildet, um ein bürgerliches Gegengewicht zu dem von der Awoda angeführten Maarach-Block zu etablieren. Zuvor war Scharon der Liberalen Partei beigetreten, nachdem er als General nominelles Mitglied der Mapai bzw. der Awoda gewesen war. Von 1973 bis 1974 und von 1977 bis 2006 war Scharon Abgeordneter der Knesset. In der Likud-Regierung von Menachem Begin amtierte Scharon zunächst als Landwirtschaftsminister (1977–1981), dann als Verteidigungsminister (1981–1983). Als Landwirtschaftsminister wurde er ab 1977 einer der wichtigsten Fürsprecher der Siedlerbewegung. Während einer israelischen Militärintervention im Süd-Libanon verübten im Rahmen des libanesischen Bürgerkriegs die mit Israel lose verbündeten libanesisch-christlichen Falange-Milizen 1982 in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila ein Massaker an palästinensischen Kämpfern und Zivilisten. Ein israelischer Untersuchungsausschuss, die Kahan-Kommission, gab 460 Opfer als gesichert an und ging aufgrund von Geheimdienstinformationen von etwa 800 zivilen und militärischen Opfern aus, während der Palästinensische Rote Halbmond von 2000 Opfern spricht. An Israels indirekter Beteiligung als seinerzeitige militärische Besatzungsmacht, die nicht einschritt, entzündete sich nationale und vor allem internationale Empörung. Die Kommission warf Scharon zwar nicht Komplizenschaft, aber doch fahrlässiges Unterlassen vor und befand ihn daher 1983 als politisch indirekt mitschuldig, wodurch er als Verteidigungsminister zum Rücktritt gezwungen wurde. In den folgenden Kabinetten blieb Scharon zunächst Minister ohne Geschäftsbereich (1983–1984), von 1984 bis 1990 Minister für Handel und Industrie und Bauminister (1990–1992). In dieser Zeit entwickelte er weitreichende israelische Siedlungspläne im palästinensischen Westjordanland mit dem umstrittenen Siedlungsring um Ostjerusalem, zu dem auch Ma'ale Adumim gehört. Nach dem Regierungswechsel 1992, bei dem die Arbeitspartei unter Jitzchak Rabin den Likud ablöste, war Scharon Mitglied der Knesset. Dort gehörte er der außenpolitischen und der Verteidigungskommission an. Als schärfster innenpolitischer Gegner Rabins kritisierte Scharon Rabin wegen des Oslo-Friedensprozesses als Verräter. 1996, im Jahr nach der Ermordung Rabins, errang der Likud unter Benjamin Netanjahu einen neuen Wahlsieg; Scharon wurde Minister für die nationale Infrastruktur und förderte in dieser Funktion massiv den Ausbau der israelischen Siedlungen in den besetzten Palästinensergebieten. 1998 ernannte Netanjahu Scharon zum Außenminister. In diesem Amt fordert Scharon seine Landsleute auf, sich in den besetzten Gebieten „so viele Berggipfel wie möglich zu nehmen“. 1999 besiegte die Arbeitspartei unter Ehud Barak den Likud, dessen Vorsitzender Netanjahu in den Strudel einer Finanzaffäre geraten war. Netanjahu trat als Parteichef zurück und Scharon wurde am 27. Mai 1999 zunächst übergangsweise, am 2. September 1999 mit 53 % der abgegebenen Stimmen dann endgültig sein Nachfolger. Am 28. September 2000 besuchte Scharon in Begleitung von rund 1000 Journalisten, Polizisten, Militärs und Politikern, den sowohl von Muslimen als auch von Juden und Christen als heilig deklarierten Tempelberg in Jerusalem, um zu verdeutlichen, dass der Tempelberg auch den Juden gehört. Er wollte damit auch deutlich machen, dass Israel die Kontrolle über ein vereinigtes Jerusalem an jedem Ort behalten müsse. Bei seinem Besuch, begleitet von zahlreichen bewaffneten Sicherheitskräften, sagte Scharon, er sei mit einer Friedensbotschaft gekommen: „Ich bin überzeugt, dass wir mit den Palästinensern zusammenleben können.“ Obwohl der Besuch mit der muslimischen Verwaltung des Tempelbergs abgestimmt war, kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen; bei Demonstrationen im Anschluss wurde auch mit scharfer Munition auf Demonstranten geschossen und etliche verletzt und getötet. Der Tempelbergbesuch Scharons fällt zeitlich mit dem Beginn der Zweiten Intifada zusammen, welche nach arabischer Lesart durch diesen ausgelöst wurde, sich aber in jedem Fall schon seit längerer Zeit angekündigt hatte. Die Palästinenser bezeichnen die zweite Intifada auch als Al-Aqsa-Intifada, benannt nach der gleichnamigen Moschee auf dem Tempelberg. Es gab auch schon unmittelbar davor Anschläge und Pläne der bewaffneten Palästinenser-Gruppen für den bewaffneten Aufstand. Premierminister Scharon gewann am 6. Februar 2001 die Wahl um das Ministerpräsidentenamt und wurde daraufhin am 7. März 2001 Israels Premierminister. Besonders populär war bei den Wählern sein Versprechen, dem Sicherheitsbedürfnis der israelischen Bevölkerung höchste Priorität einzuräumen und den Terror zu beenden. Dieses Versprechen konnte er allerdings während seiner Amtszeit nicht erfüllen. Scharon lehnte Jassir Arafat als Gesprächspartner auf palästinensischer Seite ab, warf ihm Urheberschaft am Terror vor, isolierte Arafat international und stellte ihn in der weitestgehend zerstörten Muqataa unter Hausarrest. Bei der Wahl 2003 erreichte Scharon mit seiner Likud-Partei einen großen Wahlerfolg. In der zweiten Amtszeit von Scharons Regierung wurde mit der Errichtung einer 720 km langen Sperranlage teilweise inmitten der Palästinensergebiete begonnen, die über eine Distanz von 20 km mit Beton verstärkt und deren internationaler rechtlicher Status äußerst umstritten ist. Am 23. März 2004 kündigte die Hamas zum wiederholten Male und als Reaktion auf die gezielte Tötung ihres Führers Ahmad Yasins an, Scharon ermorden zu wollen. Nur wenige Tage nach der Tötung Yasins geriet Scharon erneut unter Druck. Abgeordnete der Schinui-Partei, die an der Regierung beteiligt waren, forderten Scharons Rücktritt. Am 28. März hatte die Generalstaatsanwältin Edna Arbel bekanntgegeben, dass sie gegen Scharon und seine Söhne Anklage wegen Korruption erheben wollte. Mitte Juni 2004 entschied der israelische Generalstaatsanwalt Menachem Masus nach monatelangen Ermittlungen, Regierungschef Scharon nicht anzuklagen. Da der Verdacht nicht zu erhärten war und somit eine Verurteilung unwahrscheinlich erschien, wurde das Verfahren eingestellt. Scharon hatte gleichzeitig mit Masus auch einen anderen Konflikt: Dieser hatte Scharon öffentlich getadelt, da Scharon in Bezug auf das Westjordanland und den Gazastreifen von den „besetzten Gebieten“ sprach – abweichend vom offiziellen israelischen Sprachgebrauch, der „umstrittene Gebiete“ verwendet. Scharon legte trotz des schwebenden Ermittlungsverfahrens keinen gesteigerten Wert auf ein entspanntes Verhältnis zum Chefankläger und bestand weiterhin auf seiner Wortwahl. Im Dezember 2003 legte Scharon den als „Scharon-Plan“ bekannten einseitigen Abzugsplan aus dem Gazastreifen und Teilen des Westjordanlandes vor, wonach alle Siedlungen im Gazastreifen und vier im Westjordanland aufgelöst werden sollten. Trotz internationaler Kritik an der fehlenden Abstimmung mit den Palästinensern sahen viele diesen Plan als Schritt in die richtige Richtung und Abkehr von der bisherigen Siedlungspolitik Israels. Andere sahen darin nur die Einsicht, dass der militärische Aufwand, die Siedlungen in Gaza zu halten, auf Dauer nicht tragbar war. Der Plan kostete Scharon Sympathien bei der Siedlungsbewegung und der politischen Rechten Israels, brachte ihm aber Zustimmung im gemäßigten und linken Spektrum sowie bei internationalen Bündnispartnern. Um den Plan, der seiner früheren Politik widersprach, durchzusetzen, beendete er die Koalition mit Schinui und Schas und ging eine Große Koalition mit der Arbeitspartei ein. Innerparteilich hatte er einen Machtkampf mit den Gegnern des Plans unter Finanzminister Benjamin Netanjahu zu bestehen, der im August 2005 kurz vor Vollzug des Gaza-Abzugs von seinem Amt zurücktrat. Am 21. November 2005 kündigte Scharon seinen Rücktritt als Premierminister und den Austritt aus dem Likud an. Nachdem der Widerstand im Likud gegen den Abzug gewachsen war, hatte er im selben Monat eine neue Partei mit dem Namen Kadima („Vorwärts“) gegründet, die bei den folgenden Neuwahlen ihre gute Chance nutzte. Erkrankung, Koma und Tod Am 18. Dezember 2005 erlitt Scharon einen leichten Schlaganfall. Danach wurde ein offenbar angeborener Herzfehler entdeckt, der am 5. Januar 2006 operiert werden sollte. Am Vorabend der Operation wurden starke Hirnblutungen festgestellt, Scharon musste sich in den nächsten Tagen mehreren neurochirurgischen Operationen unterziehen. Die Regierungsgeschäfte wurden an den stellvertretenden Ministerpräsidenten Ehud Olmert übertragen. Bei Tests am 14. Januar wurden zwar Gehirnaktivitäten in beiden Hirnhälften gemessen, es gab jedoch keine Anzeichen für ein Erwachen aus dem Koma. Es galt als sicher, dass Scharon sein Amt nicht mehr würde ausüben können. Dies brachte eine schwierige Situation für die israelische Politik mit sich, da insbesondere die in den letzten Jahren verfolgte Politik gegenüber den Palästinensern und die neue Partei Kadima eng mit der Person Scharons verbunden waren. In der israelischen Öffentlichkeit wurde Kritik an der medizinischen Versorgung Scharons laut; man hätte ihm demnach nicht gestatten sollen, ohne ärztliche Begleitung auf seine abgelegene Farm zurückzukehren. Ein Journalist der Zeitung Ha'aretz formulierte: „Israel hat nun zwei Ministerpräsidenten verloren, weil sie nicht ausreichend geschützt wurden: Rabin durch Gewalt und Scharon durch Krankheit.“ Am 11. Februar 2006 entschieden sich die Ärzte zu einer weiteren Notoperation, nachdem Untersuchungen Schäden am Verdauungstrakt des Politikers und Probleme bei der Blutversorgung der inneren Organe gezeigt hatten. Erklärungen der behandelnden Ärzte zufolge sei Scharons Zustand nach der Operation „kritisch, aber stabil“. Anfang April 2006 erfolgte ein weiterer chirurgischer Eingriff zur Schließung der Schädelöffnungen, die durch die vorherigen Operationen verursacht worden waren. Am 11. April 2006 beschloss das israelische Kabinett, Scharon für dauerhaft amtsunfähig zu erklären. Sein Nachfolger im Ministerpräsidentenamt wurde sein Stellvertreter Ehud Olmert. Ariel Scharon wurde als Wachkoma-Patient auf die Rehabilitationsstation des Chaim Sheba Medical Center verlegt, einem Krankenhaus in Tel Hashomer, einem Stadtteil von Ramat Gan nahe Tel Aviv. Sein langjähriger Berater Dov Weisglass sagte am 21. April 2008 der Jerusalem Post, Scharons Zustand habe sich wenig verändert. Scharon atme ohne die Hilfe medizinischer Geräte und könne nach dem Urteil der Ärzte wahrscheinlich noch lange in diesem Zustand bleiben. Im November 2010 wurde Scharon versuchsweise für einige Tage auf seine Farm im Süden Israels verlegt. Im Oktober 2010 wurde Scharons Zustand durch eine Installation des israelischen Künstlers Noam Braslavsky in der Kishon-Galerie in Tel-Aviv, die eine lebensechte Wachsfigur Scharons in einem Krankenbett zeigt, erneut in die Öffentlichkeit gerückt. Da die Installation an ein Beatmungsgerät angeschlossen ist, hebt und senkt sich der Brustkorb, wodurch die Szene noch realitätsgetreuer wirkt. Im Januar 2011 sagte sein persönlicher Arzt, Scharon reagiere auf Kneifen und öffne die Augen, wenn man ihn anspreche. Am 2. Januar 2014 wurde bekannt, dass mehrere innere Organe versagt hätten und Scharon in Lebensgefahr schwebe. Ariel Scharon verstarb schließlich im Alter von 85 Jahren am 11. Januar 2014 an multiplem Organversagen in jenem Krankenhaus bei Ramat Gan, in dem er seit 2006 behandelt wurde. Scharon wurde in einem Staatsbegräbnis im Beisein von hochrangigen ausländischen Politikern wie US-Vizepräsident Joe Biden, dem ehemaligen britischen Premier Tony Blair, dem Ex-Ministerpräsidenten der Niederlande Wim Kok, dem russischen Außenminister Sergei Lawrow, Tschechiens Ministerpräsident Jiří Rusnok und Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier beigesetzt. Er wurde am 13. Januar 2014 neben seiner zweiten Frau Lily auf der Familienfarm Havat Shikmim begraben, die im Norden der Wüste Negev nahe Sderot liegt. Politische Bedeutung Scharon war Parteivorsitzender des Likud und Gründer von dessen Abspaltung Kadima. Vor seiner Zeit als Regierungschef hatte er verschiedene Ministerposten inne. So war Scharon Landwirtschaftsminister, zweimal Verteidigungsminister sowie Außenminister. Nach seinem Schlaganfall Ende 2005 musste er im April 2006 als Ministerpräsident für amtsunfähig erklärt werden. Der ehemalige General wirkte aufgrund seiner Biografie und seiner Politik stark polarisierend. Viele Israelis betrachten ihn als Helden, der ihr Land seit dem Unabhängigkeitskrieg stets in bedeutenden Positionen mitgeprägt hat. Weite Teile der arabischen und der internationalen Öffentlichkeit sehen in ihm jedoch vor allem den Mitverantwortlichen für das Massaker von Sabra und Schatila und den militärischen Hardliner. Andererseits setzte er 2005 die Aufgabe der israelischen Siedlungen im Gazastreifen durch. Viele Anhänger der israelischen Rechten, speziell der Siedlerbewegung, die lange Zeit ihren Vorkämpfer in ihm sahen, wurden infolge dieser Politik zu seinen Gegnern. Aus ihrer Sicht hat er sich als Ministerpräsident gegenüber den Palästinensern als zu kompromissbereit gezeigt. Anlässlich seines Todes im Januar 2014 würdigten viele hochrangige Politiker Scharons Verdienste. US-Präsident Barack Obama bezeichnete ihn als jemanden, der dem Staat Israel sein Leben gewidmet habe. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel würdigte ihn als Patrioten mit großen Verdiensten um sein Land. Werke Ariel Scharon, David Chanoff: Warrior. An Autobiography. Simon & Schuster, New York 2001, ISBN 0-7432-2566-X. Literatur David Landau: Arik: The Life of Ariel Sharon. Vintage, New York 2014, ISBN 978-1-4000-7698-7. Gadi Blum, Nir Hefez: Ariel Scharon. Die Biografie. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2006, ISBN 3-455-50002-1. Norman H. Finkelstein: Ariel Sharon. Lerner Pub Group 2005, ISBN 0-8225-9523-0 (Biographie). Baruch Kimmerling: Politicide: Ariel Sharon’s War Against The Palestinians. Verso 2003, ISBN 1-84467-532-7 (dt. Politizid. Ariel Sharons Krieg gegen das palästinensische Volk. Hugendubel, Kreuzlingen und München 2003, ISBN 3-7205-2375-6). Israel Prime Minister Ariel Sharon Handbook. International Business Publications, USA 2003, ISBN 0-7397-6341-5. Film Ariel Scharons letzter Kampf. Dokumentarfilm, Frankreich, 2007, 93 Min., Regie: Michaël Prazan, Produktion: Arte, Erstausstrahlung: 21. Mai 2008 (Inhaltsangabe von arte). Weblinks Einzelnachweise Premierminister (Israel) Außenminister (Israel) Einwandererminister (Israel) Gesundheitsminister (Israel) Innenminister (Israel) Kommunikationsminister (Israel) Landwirtschaftsminister (Israel) Religionsminister (Israel) Verkehrsminister (Israel) Verteidigungsminister (Israel) Wohlfahrtsminister (Israel) Wohnungsbauminister (Israel) Parteivorsitzender (Israel) Knesset-Abgeordneter Kadima-Mitglied Likud-Mitglied Generalmajor (Israel) Fallschirmjäger (Israel) Person (Hagana) Person im Nahostkonflikt Person im Palästinakrieg Person im Sechstagekrieg Person im Jom-Kippur-Krieg Ehrendoktor der Bar-Ilan-Universität, Ramat Gan Absolvent der Universität Tel Aviv Person (Palästina) Israeli Geboren 1928 Gestorben 2014 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/D%C3%A9partement%20Alpes-Maritimes
Département Alpes-Maritimes
Das Département des Alpes-Maritimes [] () ist das französische Département mit der Ordnungsnummer 06. Es liegt im Südosten des Landes in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur und ist nach den Seealpen benannt, die hier das Grenzgebirge zu Italien bilden. Geographie Das Département ist Teil der Provence und reicht von der Côte d’Azur bis in das alpine Hinterland. Es grenzt im Westen an das Département Var, im Nordwesten an das Département Alpes-de-Haute-Provence, im Osten und Norden an Italien (Piemont und Ligurien) und im Süden an das Mittelmeer, wo es das Fürstentum Monaco umschließt. Hauptstadt ist Nizza, weitere bekannte Städte sind Cannes und Grasse. Wappen Das Wappen des Départements Alpes-Maritimes ist mit jenem der Stadt Nizza deckungsgleich. Geschichte Claude Salicis listet für das Département 26 Dolmen, 39 Pseudodolmen, 183 Tumuli und 33 Menhire () auf. Die Römer hatten bereits im Jahr 7 v. Chr. eine Provinz Alpes Maritimae gegründet. Deren Hauptstadt war Cemenelum, heute Cimiez, ein Ortsteil von Nizza. Während ihrer größten Ausdehnung Ende des 3. Jahrhunderts umfasste die Provinz auch Digne und Briançon, ihre Hauptstadt war nach Embrun verlegt worden. Ein Département Alpes-Maritimes mit der Hauptstadt Nizza existierte in Frankreich bereits von 1793 bis 1815. Dessen Grenzen unterschieden sich von denen des heutigen Départements, zumal es Monaco und Sanremo umfasste. Das aktuelle Département Alpes-Maritimes wurde 1860 geschaffen, als die Grafschaft Nizza zu Frankreich kam. Es wurde aus der Grafschaft, die das Arrondissement Nizza bildete, und einem Teil des Départements Var, die das Arrondissement Grasse bildete, geformt. Letzteres erklärt, warum der Fluss Var das gleichnamige Départment nicht durchfließt: Er bildete zuvor die Grenze zwischen Frankreich und der Grafschaft Nizza, heute jedoch die Grenze zwischen den beiden Arrondissements. 1947 wurde das Territorium des Départements Alpes-Maritimes um die Gemeinden Tende und La Brigue erweitert, deren Einwohner im gleichen Jahr in einem Referendum für den Anschluss an Frankreich votiert hatten und demzufolge Italien die beiden Dörfer abtreten musste. Die ursprünglichen provenzalischen (bzw. okzitanischen) Ortsnamen und andere geografische Namen (die während der Zugehörigkeit an dem Haus Savoyen italianisiert waren) wurden beim Anschluss der Grafschaft Nizza an Frankreich – anders als das auf Korsika der Fall war – weitestgehend frankophonisiert, so auch die im letzten Abschnitt genannten Gemeinden. Eine Ausnahme könnte die Gemeinde Isola darstellen. Auch von Nizza ist neben dem französischen Nice noch die italienische Bezeichnung bekannt, jedoch örtlich nicht gebräuchlich. Darüber hinaus sind auch im vom Département umgebenen Fürstentum Monaco die Stadtbezirke Monte-Carlo, Larvotto, Les Moneghetti in ihrer italienischen Schreibweise erhalten geblieben. Bevölkerung Sprache Die amtliche Sprache ist Französisch. Bis 1860 war die Amtssprache im damaligen Contea di Nizza noch Italienisch. Die Annexion durch Frankreich zog in der Region eine aggressive Sprachpolitik der Französisierung nach sich. Durch eine anhaltende Einwanderung von Italienern, beispielsweise nach Menton (italienisch Mentone), konnte die italienische Sprache in der Region in letzter Zeit etwas an Boden gewinnen. Bedingt durch die Geschichte der Grafschaft Nizza, die zwischen 1388 und 1860 von der Provence verwaltungsmäßig abgetrennt war, wird in Nizza und Umgebung noch ein Dialekt der provenzalischen bzw. okzitanischen Sprache gesprochen, welche eine altprovenzalische Form hat und Nissart genannt wird. In den nördlichen, alpinen Teilen des Départements wird Alpinprovenzalisch (Gavot) und Brigasque gesprochen, während im Westen das Maritimprovenzalische noch zu hören ist. Städte Antibes Cannes Cagnes-sur-Mer Grasse Menton Nizza (französisch Nice) Roquebrune-Cap-Martin Vence Verwaltungsgliederung Siehe auch: Liste der Gemeinden im Département Alpes-Maritimes Liste der Kantone im Département Alpes-Maritimes Liste der Gemeindeverbände im Département Alpes-Maritimes Tourismus Wandern Das Département ist im Norden von den Seealpen mit dem südlichsten Dreitausender der Alpen (Mont Clapier 3045 m und der Cime du Gélas 3143 m), im Osten von den Ligurischen Alpen und im Westen durch die provenzalischen Voralpen begrenzt. Dadurch bietet sich im Gebiet Vallée du Verdon, Vallée de la Tinée, Vallée du Var, Vallée de l’Estéron, Vallée du Cians, Vallée de la Vésubie und Vallée de la Roya hervorragende Wandermöglichkeiten. Mehrere große französische GR-Fernwanderwege, Sentiers de grande randonnée, durchziehen das Département (GR 4, GR 5, GR 52, GR 52A und die Via Alpina) und führen zum Teil auch durch den Nationalpark Mercantour. Wintersport Bekannte Wintersportorte sind Isola 2000, Auron, Beuil, Valberg, Peira-Cava und Camp d’Argent am Col de Turini. Sehenswürdigkeiten Sehenswerte Orte des Départements: Bévéra (Fluss/Tal/Canyon) Canyon von Daluis (la Haute Vallée du Var – Entraune) Duranus Estéron (Fluss/Tal/Canyon) Cimiez Colle della Bonette Colle di Tenda Col di Turini Nationalpark Mercantour Vallée des Merveilles Roya (Fluss/Tal/Canyon) Siagne (Fluss/Tal) Tête de Chien Tendabahn Tropaeum Alpium in La Turbie Var (Tal) Vésubie (Fluss/Tal/Canyon) Klima Tage pro Jahr (Stand 1991) mit Regenfällen über 1 Millimeter: 64 Frost: in 9 von 10 Jahren frostfrei Schnee: 1 Gewitter: 20 Hagel: 1 Weblinks Website des Départments Alpes-Maritimes (französisch) Website der Präfektur des Départments Alpes-Maritimes (französisch) Einzelnachweise Alpesmaritimes Verwaltungsgliederung (Provence-Alpes-Côte d’Azur) Gegründet 1860
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https://de.wikipedia.org/wiki/Amphore
Amphore
Eine Amphore oder Amphora (von altgriechisch amphoreus ‚zweihenkliges Tongefäß‘; gebildet aus amphí ‚auf beiden Seiten‘ sowie phérein ‚tragen‘) ist ein bauchiges enghalsiges Gefäß mit zwei Henkeln meist aus Ton, aber auch aus Metall (Bronze, Silber, Gold). Durch zwei Henkel sollte ursprünglich das Tragen erleichtert werden. Die griechischen feinkeramischen Amphoren sind zu den antiken Vasen zu zählen. Als Amphore wird jede Töpferware betrachtet, die zwei Henkel hat und deren Basis, die häufig aus einer Spitze oder aus einem Knopf besteht, die vertikale Aufrechthaltung schlecht oder gar nicht ermöglicht. Die Amphora ist auch eine Maßeinheit. Das Volumen als römisches Hohlmaß beträgt einen römischen Kubikfuß, das sind etwa 26,026 l. Zweck der Formgebung Funde aus Schiffswracks haben gezeigt, dass die stehenden Amphoren in mehreren Schichten so verpackt waren, dass die „Böden“ einer darüber liegenden Schicht in die Zwischenräume zwischen die „Schultern“ der unteren Schicht passten. Somit wurden die Belastungspunkte durch die vier Kontaktpunkte mit den Amphorenböden der darüber liegenden Schicht und die vier Kontaktpunkte mit den Amphorenschultern darunter bestimmt. Jede Schicht würde einem zusätzlichen Gewicht von einem Viertel einer einzelnen Amphore an jedem Belastungspunkt entsprechen. Verwendung Amphoren wurden in der Antike als Vorrats- und Transportgefäße unter anderem für Öl, Oliven und Wein sowie für Honig, Milch, Getreide, Garum, Südfrüchte wie Datteln und anderes benutzt. Sie wurden in jenen Regionen hergestellt, in denen die Transportgüter erzeugt wurden, also etwa dort, wo Wein- oder Olivenanbau stattfand. Je nach Inhalt ist das Volumen unterschiedlich, Fassungsvermögen betragen zwischen 5 und 50 Liter. Häufig wurden sie als Einwegbehälter nach dem Transport weggeworfen, so besteht der Monte Testaccio in Rom zu großen Teilen aus Amphorenscherben. Andere Exemplare fanden eine neue Verwendung, etwa als Urne bei Brandbestattungen oder zur Abdeckung der Toten bei Körpergräbern. Aufwändiger gestaltete Amphoren verfügen über, etwa mit Tierfiguren, verzierte Henkel. Heute werden Amphoren nur mehr zu Zierzwecken, beispielsweise als Vase, hergestellt. Eine besondere Rolle spielt die Amphore bis heute bei der Herstellung spezieller Weine, dem sogenannten „Amphorenwein“. Dieser Ausbau ist vor allem bei „biodynamischen Weinen“ beliebt, aber auch geschwefelte Weine aus Georgien werden häufig in speziellen Amphoren ausgebaut. Siehe auch: Quevri-Wein. Archäologische Bedeutung Ein Wandel der Formen sowie häufige Aufschriften bieten Datierungsmöglichkeiten. Absolut datierbare Funde aus Schiffswracks und anderen geschlossenen Funden erlauben eine zeitliche Einordnung. Die Chronologie der vorrömischen Eisenzeit Mitteleuropas bezieht auch die Amphorenchronologie mit ein. Da Herkunft und Inhalt vieler Amphorenformen bekannt sind, erlauben archäologische Funde darüber hinaus die Rekonstruktion von Handelsverbindungen. Zahlreiche Amphoren weisen auch Amphorenstempel auf. Griechische Amphoren Typen Es gibt unterschiedliche Typen von Amphoren, die zu verschiedenen Zeiten gebräuchlich waren. Manche waren mit einem Deckel versehen. Für die Feinkeramik der archaischen und klassischen Zeit sind beispielhaft die folgenden Typen zu nennen. Bestimmte Typen finden sich auch in der Toreutik. Halsamphora (ca. 6.–5. Jahrhundert v. Chr.) Bei der Halsamphora sind die Henkel am Hals angebracht, der durch einen deutlichen Knick vom Bauch abgegrenzt ist. Es gibt zwei verschiedene Typen der Halsamphora: die Nolanische Amphora (Ende des 5. Jahrhunderts), welche nach dem Fundort Nola bei Neapel benannt ist, und die Tyrrhenische Amphora. Einige Sonderformen der Halsamphora weisen gewisse Besonderheiten auf: die Spitzamphora, deren unteres Ende spitz und teilweise knopfartig zuläuft. die Loutrophoros, die zum Aufbewahren des Wassers während des Heirats- wie auch des Begräbnisrituals genutzt wurde. Bauchamphora (ca. 640–450 v. Chr.) Die Bauchamphora hat im Gegensatz zur Halsamphora keinen abgesetzten Hals, vielmehr geht der Bauch in einer Rundung in den Hals über. Ab der Mitte des 5. Jahrhunderts wurde sie kaum noch hergestellt. Die Pelike ist eine Sonderform der Bauchamphora, die gegen Ende des 6. Jahrhunderts aufkam. Bei ihr ist der Bauch nach unten versetzt, der größte Durchmesser liegt also im unteren Bereich des Vasenkörpers. Der tiefe Schwerpunkt und der breite Fuß verleihen diesen Gefäßen einen besonders stabilen Stand. Panathenäische Preisamphora Eine Sonderform sind die Panathenäischen Preisamphoren mit schwarzfiguriger Bemalung, die zum athenischen Panathenäenfest hergestellt wurden und – offenbar aus kultischen Gründen – die schwarzfigurige Malweise noch jahrhundertelang nach ‚Erfindung‘ der rotfigurigen Malweise beibehielten. Ähnliche Formen Antiken Amphoren ähnlich sind der Amphoriskos und der Pithos. Römische Amphoren Allgemeines Römische Amphoren dienten vorwiegend zum Transport und zur Lagerung von Grundnahrungsmitteln wie Olivenöl, Wein, Fischsaucen, Früchten und Getreide. Die Kapazität lag häufig bei 25 bis 26 Litern, was erklärt, dass der Begriff amphora sich im Laufe der Zeit zu einer wichtigen Maßeinheit für Flüssigkeiten wandelte (26,2 l). Große bauchige Olivenölamphoren aus der Baetica vom Typ Dressel 20 konnten mit einem Inhalt von 70 l bisweilen auch ein Gesamtgewicht von 100 kg erreichen. Gelegentlich sind Stempel auf diesen angebracht worden, wobei die Forschung unsicher ist, ob diese von den Töpfereien der Amphoren oder vom Produzenten des Olivenöls aufgebracht wurden. Wie die aufgemalten oder eingeritzten Zahlen und Buchstaben (graffiti bzw. tituli picti) sind sie eine bedeutende epigraphische Quelle zur Wirtschaftsgeschichte. Bis in die 1960er Jahre standen besonders die Amphorenstempel und -formen im Mittelpunkt. In den 1970er und 1980er Jahren fanden internationale Diskussionsforen zur Amphorenforschung, darunter zur Typologie und Chronologie, statt. Ungefähr 1990 wurden die Amphoren aus Augst/Kaiseraugst zum ersten Mal ausgewertet, die zur Grundlage der Bearbeitung von Amphoren aus Mainz dienten. Typologische Klassifizierung Als Zeugen einer vergangenen Handels- und Konsumware stellen die römischen Amphoren wichtige potenzielle Informationsträger zur Wirtschaftsgeschichte der Römerzeit dar und geben Auskunft über das Konsumverhalten der damaligen Bevölkerung. Die Amphoren blieben eine lange Zeit unbeachtet. Die Amphoren werden wie die übrige Keramik häufig nach Form, Herkunft und zusätzlich nach Inhalt klassifiziert, da ihre Anzahl und Vielfalt zur Bestimmung nur nach Form oder Herkunft zu groß ist. Der deutsche Archäologe Heinrich Dressel stellte Ende des 19. Jahrhunderts die erste typologische Klassifizierung der zu seiner Zeit bekannten Amphoren auf. Die von ihm benannten Typen tragen seinen Namen, ergänzt um eine numerische Bezeichnung, die den Amphorentyp markiert (siehe Bildbeispiel „Dressel 1B“). Teilweise dient seine Einteilung noch heute als Grundlage für die Bezeichnung der verschiedenen Amphorentypen: Weinamphoren, wie Dr. 1, Dr. 2–4, Dr. 5, und Ölamphoren, wie Dr. 20 und Dr. 23, werden weiterhin nach ihm benannt (Dr. = Dressel). Dressels Arbeit entstand unter anderem aus der Beschäftigung mit stadtrömischen Funden, darunter mit dem Monte Testaccio einer der größten Fundkomplexe römischer Amphoren, und wurde aufgrund der Kleininschriften im Corpus Inscriptionum Latinarum veröffentlicht. Weitere römische Amphorentypen sind nach Forschern wie dem italienischen Unterwasserarchäologen Nino Lamboglia oder Fundorten wie Augst benannt. Herstellung und geographische Klassifizierung Die Behälter wurden meistens dort hergestellt, wo sie zur Abfüllung von Waren benötigt wurden und von wo aus sie verkehrsgünstig zu ihren Absatzgebieten und Bestimmungsorten abtransportiert werden konnten. Aus Form und Herkunft der Amphoren ist es möglich, die transportierten Produkte und ihre Handelswege zu bestimmen. Durch die naturwissenschaftlichen Untersuchungen zur Herstellung der Amphoren werden zur Bestimmung der Herkunft die Art der Tonmischung und die Brenntemperatur erkundet. Zuerst wird geprüft, welche und wie viele Tonarten bei der Herstellung benutzt wurden und ob die Gefäße ein natürliches sedimentäres Gefüge haben, bzw. ob zusätzliche Magerungen zur Tonmischung hinzugefügt wurden. Danach bestimmt man die Brenntemperatur. Obwohl auch die Schwach- und Überbrandproben existieren, wurde als Normalbrand eine Brenntemperatur von ca. 950 °C für die meisten italischen Amphoren angestrebt. Inhalt und Gebrauch Amphoren wurden überwiegend als Transportmittel, Vorratsspeicher oder als Grabbeigaben verwendet. Aber sie dienten in der Antike hauptsächlich zum Transport bestimmter Lebensmittel, sozusagen als die Container der Antike. Die Amphoren wurden im Süden mit verschiedenen Waren gefüllt und speziell in den Norden verhandelt, wo wegen des anderen Klimas entsprechende Produkte nicht angebaut und hergestellt werden konnten. Die Haupthandelsrouten führten über das Mittelmeer und andere Wasserwege. Großsegler hatten Platz für bis zu 10.000 Amphoren, da sie mehrmals gestapelt werden konnten. In der Regel wurde die gleiche Ware in gleiche Gefäße abgefüllt. Nur in Einzelfällen gibt es Hinweise auf außergewöhnliche Amphoreninhalte. Zu den in den Amphoren importierten Waren kann man beispielsweise Olivenöl aus adriatischen Süditalien (Brindisi) und Nordafrika (Tripolitana I), eingelegte Oliven aus Marokko (Schörgendorfer 558), Weine aus Katalonien, Südfrankreich, Italien (Dressel 2–4), Kreta, Rhodos (Camulodunum 184) und Nordafrika, Fischsauce aus adriatischen Oberitalien (Dressel 6A) oder Feigen und Datteln aus Ägypten und Syrien zählen. Entweder dominieren innerhalb einer Warengruppe die Amphoren eines Typs oder es liegen Amphoren verschiedener Formen in mehr oder weniger gleichen Mengen vor. Bemerkenswert ist, dass sie, wenn sie ihre Funktion, den Warentransport, erfüllt hatten, kein zweites Mal in gleicher Weise verwendet wurden. Sie wurden entweder ohne weitere Nutzung als Müll entsorgt oder etwa zum Sarg, Urinal, Baumaterial oder auch antiken Molotow-Cocktail umfunktioniert. Sie waren für eine Weiterverwendung attraktiv aufgrund ihrer massenhaften Verfügbarkeit. In Augst und Kaiseraugst wurden knapp 6.000, in Mainz 5.000, im Mainzer Umland 7.500, in Legionslager von Dangstetten und in Neuss jeweils 1.500 Amphoren gefunden. Über ihre vielfältigen Einsatzbereiche geben neben den Schrift- und Bildquellen auch die archäologischen Befunde und Funde Auskunft. Einige der berühmtesten Beispiele zu den Schütthügeln bzw. Abfalldeponierungen, die aus Amphoren bestehen, wären der Schutthügel des Legionslagers auf dem Kästrich in Mainz und der Amphoren-Depot am Dimesser Ort und am Hopfengarten in Mainz. Graffiti auf Mainzer Amphoren In die noch ungebrannten Amphoren werden bestimmte Stempel eingedrückt, die man Graffiti oder Marken ante cocturam nennt. Bei den Mainzer Amphoren sind mehr als 200 Ritzungen und Marken zu verzeichnen. Nur wenige davon erlauben Aussagen zu Warenkennzeichnung und Warenbesitzern. Graffiti und Marken ante cocturam stehen in Zusammenhang mit der Gefäßproduktion und beziehen sich weder auf die abzufüllende Ware noch ihren späteren Besitzer. Zahlreiche post cocturam-Ritzungen sind derart stark verkürzt oder fragmentiert erhalten, dass eine Deutung nicht möglich ist. Die Graffiti post cocturam enthalten vor allem Hohlmaße und nennen Personen oder Gruppen, die als mögliche Produktbesitzer zu interpretieren sind. Die Graffiti vermitteln damit andere Informationen als die Pinselaufschriften. Firmenzeichen wie Dreizack, Anker, Palmette oder Stern geben zusätzlich Auskunft über die Herkunft der Amphoren. Verbreitung der Amphoren Anders als das importierte Tafelgeschirr handelt es sich bei den Amphoren um reine Transportbehälter, die in Siedlungen, Gräbern und Schiffswracks gefunden werden und größtenteils aus dem Fernhandel stammen. Ihre geographische und teilweise weite Streuung entspricht dem Vertrieb und Absatz des Inhalts. Daher werden in den Verbreitungskarten die Liefergebiete dieser Amphoren dargestellt, nicht die Herstellungsgebiete, die nur durch die Stempel oder naturwissenschaftliche Untersuchungen lokalisiert werden. Durch die Analysen an den Resten der Inhalte werden Form, Chronologie, Herkunft und importierte Handelsware (meistens mediterrane Lebensmittel) bestimmt. Dies gilt insbesondere für die Amphoren der frühen und mittleren Kaiserzeit, während in der Spätantike der Zusammenhang von Form und Inhalt nicht immer klar ist. Von Ausnahmen abgesehen handelt es sich bei den kartierten Fundplätzen um Siedlungsfunde, also im Rahmen der Siedlungsaktivitäten geleerter und schließlich weggeworfener Amphoren, die aus der Literatur und durch Autopsie bekannt geworden sind. Die Verbreitung der Amphoren spiegelt allerdings – wie immer bei archäologischen Karten – auch den Forschungsstand. Verbreitungskarten von Amphoren gab es bisher hauptsächlich für den Mittelmeerraum. Mit der Verteilung und damit den Fragen von Absatzgebieten und Handelswegen in den Provinzen nördlich der Alpen befasste man sich noch wenig. Hochwertige Amphoren Neben den für Handel, Transport und Lagerung von Waren verwendeten Spitzamphoren finden sich gelegentlich auch hochwertigere Amphoren, beispielsweise aus Glas und Metall. Diese Amphoren besitzen in der Regel einen Fuß. Die Form der Amphora wurde in römischer Zeit allerdings nur selten aufgegriffen, manchmal in der Art einer Pelike; andere Gefäßformen (etwa Kannen) sind sehr viel häufiger. Die Portlandvase mit ihren Kameoglas-Reliefbildern hat im 18./19. Jahrhundert eine starke Vorbildwirkung auf die Kunst jener Zeit ausgeübt. Amphoren des Mittelalters und der Neuzeit In der Tradition antiker Amphoren wurden diese im byzantinischen Raum aber auch in Spanien bis weit ins Mittelalter hinein produziert. In der frühen Neuzeit wurden Amphoren auch in Großbritannien hergestellt. Formal verändern sie sich gegenüber der Antike, indem sich anstelle der Spitzböden gerundete Boden durchsetzen, In der südspanischen Produktion verlieren sich in der frühen Neuzeit sogar die Doppelhenkel, so dass ein definierendes Merkmal der Amphoren verloren geht. Literatur V. Degrassi, D. Gaddi, L. Mandruzatto: Amphorae and coarse ware from late Roman-early medieval layers of the recent excavations in Tergeste/Trieste (Italy). In: M. Bonifay, J.-C. Tréglia (Hrsg.): LRCW 2. Late Roman coarse wares, cooking wares, and amphorae in the Mediterranean (= BAR International Series. 1662). Oxford 2007, ISBN 978-1-4073-0098-6, S. 503–510. Ulrike Ehmig: Dangstetten IV. Die Amphoren. Untersuchungen zur Belieferung einer Militäranlage in augusteischer Zeit und den Grundlagen archäologischer Interpretation von Fund und Befund (= Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg. 117). Stuttgart 2010, ISBN 978-3-8062-2394-1. Ulrike Ehmig: Die römischen Amphoren aus Mainz (= Frankfurter archäologische Schriften. Band 4). Bibliopolis, Möhnesee 2003, ISBN 3-933925-50-9. Ulrike Ehmig: Die römischen Amphoren im Umland von Mainz (= Frankfurter archäologische Schriften. Band 5). Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-89500-567-1. Ulrike Ehmig: Müll, Molotow, Missverständnisse. Der Umgang mit leeren Amphoren anderswo und im römischen Mainz. In: S. Wolfram (Hrsg.): Müll. Facetten von der Steinzeit bis zum Gelben Sack. Begleitschrift zur Sonderausstellung vom 06.06 bis 30. November 2003 in Oldenburg, anschließend in Hanau (= Schriftenreihe des Landesmuseums für Natur und Mensch. Band 27). 2003, ISBN 3-8053-3284-X, S. 75–85. Ulrike Ehmig: Naturwissenschaftliche Untersuchungen an römischen Amphoren aus Mainz und ihre kulturhistorische Interpretation. In: Norbert Hanel, M. Frey (Hrsg.): Archäologie, Naturwissenschaften, Umwelt. Beiträge der Arbeitsgemeinschaft „Römische Archäologie“ auf dem 3. Deutschen Archäologenkongress in Heidelberg, 25.5-30.5.1999 (= BAR International Series. Band 929). Oxford 2001, ISBN 1-84171-223-X, S. 85–100. Norbert Hanel: Schwerkeramik. In: Thomas Fischer (Hrsg.): Die römischen Provinzen. Eine Einführung in ihre Archäologie. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2001, ISBN 3-8062-1591-X, S. 300f. Stefanie Martin-Kilcher: Die römischen Amphoren aus Augst und Kaiseraugst. Ein Beitrag zur römischen Handels- und Kulturgeschichte (= Forschungen in Augst. Band 7,1–3). Römermuseum Augst, Augst 1987–1994, (Band 1), ISBN 3-7151-0107-5 (Band 2), ISBN 3-7151-0207-1 (Band 3) (Digitalisate: Band 1, Band 2, Band 3). Stefanie Martin-Kilcher: Verbreitungskarten römischer Amphoren und Absatzgebiete importierter Lebensmittel. In: Münstersche Beiträge zur antiken Handelsgeschichte. Band 13, Nr. 2, 1994, S. 95–121. Stefanie Martin-Kilcher: Amphoren: Archäologische Fragen und Fragestellungen. In: Grabung – Forschung – Präsentation (= Xantener Berichte. Band 14). Philipp von Zabern, Mainz 2006, S. 11–18. F. Schimmer: Amphoren aus Cambodunum/Kempten. Ein Beitrag zur Handelsgeschichte der römischen Provinz Raetia (= Münchner Beiträge zur provinzialrömischen Archäologie. Band 1; = Cambodunumforschungen. Band VII). Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-89500-659-3. W. Schultheis (Hrsg.): Amphoren. Bestimmung und Einleitung nach ihren Merkmalen. Bonn 1982, ISBN 3-7749-1913-5. Gisela Thierrin-Michael: Römische Weinamphoren. Mineralogische und chemische Untersuchungen zur Klärung ihrer Herkunft und Herstellungsweise. Dissertation. Universität Freiburg 1990, . Stephan Weiß-König: Graffiti auf römischer Gefäßkeramik aus dem Bereich der Colonia Ulpia Traiana, Xanten (= Xantener Berichte, Band 17). Philipp von Zabern, Mainz 2010, ISBN 978-3-8053-4273-5. Weblinks Bulletin amphorologique Einzelnachweise Archäologische Fundgattung Griechische Vasenform Römische Keramik Transportbehälter
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https://de.wikipedia.org/wiki/Akustikkoppler
Akustikkoppler
Der Akustikkoppler ist ein Gerät zur Übertragung von digitalen Daten über eine analoge Teilnehmeranschlussleitung. Akustikkoppler wurden in den 1970er bis gegen Ende der 1980er Jahre verwendet und erlaubten die Datenübertragung über den Hörer von Fernsprechtischapparaten. Bei einem Akustikkoppler war keine elektrische Verbindung mit dem Festnetzanschluss nötig, weil diese in vielen Ländern und bei vielen Netzbetreibern nicht erlaubt war. Funktionsweise Akustikkoppler kamen zum Einsatz, wenn kein analoges Modem zur Verfügung stand oder eine elektrische Verbindung des Modems mit dem Telefonnetz nicht möglich oder erlaubt war. Akustikkoppler nutzten den Telefonhörer eines bestehenden Telefons zum Senden und Empfangen der modulierten Tonsignale. Sie verfügten dazu über ein Mikrofon und einen Lautsprecher, die an den entsprechenden Gegenstücken im Telefonhörer befestigt werden. Es gab zwei Arten von Akustikkopplern: Akustikkoppler mit integriertem Modem wie zum Beispiel das Dataphon s21d wurden direkt an die serielle Schnittstelle des Computers angeschlossen. Sie übernahmen dabei die digitalen Daten des Computers und wandelten sie in analoge Tonsignale um. Als Modulationsverfahren kamen einfache digitale Tastungen oder Modulationsverfahren zur Anwendung, wie beispielsweise die binäre Frequenzumtastung (FSK). Die Parameter der Modulation, wie die verwendeten Frequenzen, waren in Normen wie beispielsweise der ITU-T V.21, V.23 oder im US-amerikanischen Raum nach Bell 202 festgelegt und mussten von beiden an der Kommunikation beteiligten Akustikkopplern unterstützt werden. Die Anwahl der Gegenstelle musste bei diesen Modellen typischerweise von Hand über eine Wähleinrichtung wie die Wählscheibe bei Impulswahl oder den Tastenwahlblock des Telefons erfolgen. Akustikkoppler ohne integriertes Modem wie zum Beispiel der Road Warrior Telecoupler II wurden an ein bereits vorhandenes analoges Modem angeschlossen und bildeten nur die Hardwareschnittstelle zum Telefonnetz, sie setzten also nur die vom Modem gelieferten tonfrequenten elektrischen Signale in hörbare Töne bzw. die von der Gegenstelle empfangenen Töne in analoge elektrische Signale für das Modem um. Da analoge Modems typischerweise das Mehrfrequenzwahlverfahren beherrschten, konnte mit diesen Akustikkopplern die Gegenstelle auch softwaregesteuert angewählt werden. Aufgrund ihrer Bauart waren Akustikkoppler störanfällig gegenüber externen Geräuschen und abhängig von der Qualität des Telefons bzw. des Telefonhörers. Aufgrund des unvermeidlichen Verlusts an Signalqualität durch den akustischen Übertragungsschritt erreichten Akustikkoppler nicht die Datenübertragungsraten der direkten elektrischen Verbindung des Modems mit dem Telefonnetz. Bei älteren Akustikkopplern reichen die Übertragungsraten nur von 300 bis 2.400 Bit/s. Spätere Modelle, zum Beispiel Konexx Coupler oder Road Warrior Telecoupler II, erreichten in der Praxis Datenübertragungsraten bis zu 33.600 Bit/s; damit war etwa das Abholen von E-Mails aus einer Telefonzelle in vertretbarer Zeit möglich. Rechtliche Situation In den 1980er-Jahren war der Betrieb von selbst gebauten Akustikkopplern im Telefonnetz der Deutschen Bundespost illegal und mit hohen Geldstrafen belegt. Trotzdem nahm die Zahl der selbst gebauten Geräte deutlich zu, nachdem der Chaos Computer Club 1985 in der Hackerbibel eine vergleichsweise einfach zu realisierende Bauanleitung für einen Selbstbau-Akustikkoppler – das sogenannte „Datenklo“ – veröffentlicht hatte. Parallel zu den Akustikkopplern wurden auch die ersten direkt mit der Telefonleitung verbundenen Modems verfügbar. Auch hier war der Anschluss frei erhältlicher Geräte an das deutsche Telefonnetz verboten; die Post erlaubte in ihrem Netz nur die Verwendung Post-eigener Modems, die entweder monatlich gemietet oder zu – im Vergleich mit frei erhältlichen Geräten – höheren Preisen von der Post gekauft werden mussten. Sonstiges Akustikkoppler werden im deutschen Sprachraum gelegentlich auch als Datenfön bezeichnet, nach der einst populären Dataphon-Baureihe S21 der Marke Woerltronic des Unternehmens Wörlein GmbH aus Cadolzburg. Einzelnachweise Weblinks Benutzerschnittstelle Modemtechnik ru:Модем#История
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https://de.wikipedia.org/wiki/Akronym
Akronym
Ein Akronym (von sowie , dorisch und äolisch ) ist ein Sonderfall der Abkürzung. Akronyme entstehen dadurch, dass Wörter oder Wortgruppen auf ihre Anfangsbestandteile gekürzt und diese zusammengefügt werden. Definitionen Für den Begriff Akronym gibt es zwei konkurrierende Definitionen: Den großen Wörterbüchern des Deutschen zufolge, z. B. Duden und das Deutsche Wörterbuch von Wahrig, ist ein Akronym ein Kurzwort, das aus den Anfangsbuchstaben mehrerer Wörter zusammengesetzt ist, wobei EDV (elektronische Datenverarbeitung) als Beispiel genannt wird. ADAC, PC und TÜV sind demnach Akronyme, da sie aus den Anfangsbuchstaben der ihnen zugrunde liegenden Ausdrücke bestehen. Keine Akronyme sind Abkürzungen wie Abk., lt., Betr. oder kpl. In Fachlexika der Linguistik finden sich weitere Definitionen: „Aus den Anfangsbuchstaben oder -silben einer Wortgruppe oder eines Kompositums gebildete Abkürzung, die als Wort verwendet wird.“ Die Sprachwissenschaftlerin Hadumod Bußmann definiert den Begriff entsprechend. Anders als in der ersten Definition werden hier also nicht nur Anfangsbuchstaben, sondern auch (gekürzte) Anfangssilben berücksichtigt. Bußmann unterteilt Akronyme in unterschiedliche Typen: Akronyme, die aus Initialen zusammengesetzt sind und ausbuchstabiert werden und mit Endbetonung ausgesprochen werden, wie WM Akronyme, die aus Initialen zusammengesetzt sind und sich zu einem phonetischen Wort zusammenfügen, wie AIDS Akronyme, deren Buchstaben silbischen Wert annehmen mit Anfangsbetonung, wie NATO Mischformen aus Initial- und Silbenbildung, wie Azubi oder BAföG. Formen des Akronyms Initialwort Duden, Wahrig sowie Bußmann und Glück behandeln Initialwort als Synonym für „Akronym“. Nach Duden und Wahrig ist ein Initialwort damit eine Sonderform des Buchstabenworts (siehe unten), die sich nur aus den Anfangsbuchstaben, also den Initialen der Wörter, zusammensetzt. So steht zum Beispiel das Initialwort LASER für . Diese Form des Akronyms wurde bereits in vorchristlicher Zeit verwendet, bekannt ist die Abkürzung SPQR für Senatus Populusque Romanus, in Gebrauch seit etwa 80 v. Chr. Silbenkurzwort Nach Bußmann und Glück ist auch das Silbenkurzwort/Silbenwort ein Akronym. Das sind Abkürzungen, die aus den (gekürzten) Anfangssilben der zugrundeliegenden Ausdrücke bestehen. Kripo – Kriminalpolizei Trafo – Transformator Elko – Elektrolytkondensator Stasi – Staatssicherheit Das Silbenwort war besonders beliebt in der Amtssprache der frühen Sowjetunion, solche Kurzformen sollten der Bekämpfung des Analphabetismus dienen (unter dem Titel ликбез (Likbez), selbst ein Silbenwort für ликвида́ция безгра́мотности „Liquidation des Analphabetismus“). Verwandte Formen Silbenkurzworte sind verwandt mit den Kopfwörtern, zum Beispiel: Auto – Automobil Antifa – Antifaschistische Aktion Akku – Akkumulator … und den Schwanzwörtern (wie Bus für Omnibus). Eine ähnliche Kurzwortform (das Kunstwort) wird aus dem Anfang mehrerer Wörter gebildet. Hier werden oft Zusammensetzungen genutzt, die gut zu sprechen sind, zum Beispiel: Haribo – Hans Riegel Bonn Adidas – Adolf „Adi“ Dassler Unimog – Universal-Motor-Gerät Chipitts – Chicago und Pittsburgh Degussa – Deutsche Gold- und Silber- Scheide-Anstalt Eine weitere Ähnlichkeit weisen Kofferwörter auf. Mischformen aus Initial- und Silbenbildung Mischformen aus Initial- und Silbenbildung sind zum Beispiel: Azubi – Auszubildender BAföG – Bundesausbildungsförderungsgesetz Bufdi – Bundesfreiwilligendienstler Es können auch Namen als Grundlage für Akronyme eingesetzt werden: Alwegbahn – nach Axel Lennart Wenner-Gren benannt (Eine Assoziation mit „alle Wege“ war durchaus beabsichtigt.) Spezielle Formen des Akronyms Apronym Als Apronym bezeichnet man ein Akronym, das ein bereits existierendes Wort ergibt. Das bedeutet, dass potenziell jedes Wort ein Apronym werden kann, wenn die einzelnen Buchstaben als Anfangsbuchstaben einer Phrase stehen können. Die meisten Apronyme haben einen gewollten Bezug zu der Sache, die sie bezeichnen. Beispiele: ΙΧΘΥΣ («Fisch») – Ἰησοῦς Χριστός Θεοῦ Υἱός Σωτήρ «Jesus Christus, Sohn Gottes, Erlöser» ein bereits im 2. Jahrhundert verwendetes griechisches Apronym. BIOS – Basic Input Output System, Firmware eines Computers, die den Start des Betriebssystems ermöglicht – und dem Computer dabei sozusagen Leben () einhaucht. ELSTER – ELektronische STeuer-ERklärung – die Elster erscheint in der Volkssage als „diebischer“ Rabenvogel, der glitzernde Wertsachen an sich bringt und in Teilen Europas als Unheilsbote gilt. LAVES – Niedersächsisches Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit – ist der Name des hannoverschen Architekten Georg Ludwig Friedrich Laves. Apronyme dienen oft als Namen für EU-Förderprogramme oder US-amerikanische Gesetze: ERASMUS – LEADER – USA PATRIOT Act – . Nicht immer passen Anfangsbuchstaben als geeignete Buchstaben. In solchen Fällen werden auch Buchstaben aus Wortmitten herangezogen, um ein Apronym zu finden, beispielsweise beim EU-Forschungsprojekt BADGER. ist das englische Wort für „Dachs“ und steht als passendes Apronym für für den Bau eines autonom agierenden Tunnelbauroboters mit Betonmörtel-Verarbeitung durch einen 3D-Drucker. Backronym Als Backronym [] („Rückwärts-Apronym“) bezeichnet man Wörter, die erst nachträglich die (oft scherzhafte) Bedeutung einer Abkürzung erhalten haben. Beispiele: Ehe – scherzhaft: Team – scherzhaft: Toll, ein anderer macht’s Drag – ursprünglich vermutlich von langen Rockteilen, die am Boden schleiften; der Begriff verweist heute sowohl auf (vgl. Dragqueen) als auch auf (vgl. Dragking). Mehrschichtiges Akronym Ein Akronym kann mehrschichtig (verschachtelt) sein. Ein Beispiel ist BDSM: B&D, D&S, S&M stehen für . Rekursives Akronym Als rekursives Akronym werden initiale Abkürzungen bezeichnet, die in ihrer Explikation paradoxerweise selbst enthalten sind und damit eine Rekursion aufweisen. Verwendung finden rekursive Akronyme insbesondere in Namensgebungen von Projekten der freien Software. Beispiele: GNU – PHP – Wine – XNA – Den Akronymen ähnliche Wortformen Es gibt verschiedene Wortformen, die den Akronymen ähneln, ohne dass sie einer der beiden angegebenen Definitionen genügen. Buchstabenwort/Buchstabenkurzwort Ein Buchstabenwort oder Buchstabenkurzwort ähnelt dem Initialwort, setzt sich aber aus beliebigen Einzelbuchstaben der Vollform der Wörter zusammen: zum Beispiel DAX als Abkürzung für Deutscher Aktienindex, wo der letzte Buchstabe des gekürzten Ausgangswortes berücksichtigt ist. Schreibweise Die Schreibweise von Akronymen besteht im Deutschen meist aus einer Aneinanderreihung von Groß- und Kleinbuchstaben, entsprechend der Schreibung der vollen Form, im Englischen dagegen meist nur aus Großbuchstaben. Bei Akronymen, die wie ein Wort ausgesprochen werden, hat sich aber im Lauf der Zeit auch eine Schreibweise entwickelt, die derjenigen normaler Substantive gleicht (z. B. Radar, Laser, Aids, Nato (aber auch: NATO), Unicef (aber auch: UNICEF)). Da Akronyme ohne Punkt geschrieben werden, ist in solchen Fällen weder durch die Aussprache noch durch das Schriftbild erkennbar, dass es sich ursprünglich um ein Kunstwort handelt. Akronyme in der Astronomie In der Astronomie werden die Kürzel, welche für einen astronomischen Katalog stehen, Akronym genannt. Beispielsweise „HR“ für den Bright-Star-Katalog. Die Angabe eines Katalogeintrags besteht aus dem Akronym und weiteren, katalogspezifischen Schriftzeichen, welche den Datensatz identifizieren. So bezeichnet HD 124897, bestehend aus dem Akronym HD und einer Nummer, den Eintrag zum Stern Arktur im Henry-Draper-Katalog. Akronyme in Internetforen oder Chats Im Internet werden Akronyme häufig verwendet, um eine Handlung oder eine Gemütslage auszudrücken. Die meisten dieser Chat-Akronyme sind aus der englischen Sprache übernommen: LOL – wird verwendet, wenn der Chatter lachen muss. ROFL – wird als Steigerung dessen verwendet, in dem Fall kann sich der Chatter vor Lachen kaum noch halten. AFK – wird verwendet, um eine vorübergehende Abwesenheit mitzuteilen. IMHO – wird verwendet im Sinne von „meiner bescheidenen Meinung nach“. AFAIK – wird verwendet im Sinne von „soweit ich weiß“. Begriffe wie „cu“ oder „l8r“ sind keine Akronyme, sondern homophone Abkürzungen, das heißt, sie klingen gelesen wie der auszudrückende Satz ( oder ), sind aber keine Initialworte. Akronyme auf Webseiten Um auf Webseiten Wörter als Abkürzungen zu markieren, stehen die zwei HTML-Elemente abbr (von englisch ) und acronym zur Verfügung. Screenreader erkennen diese Elemente. Sie brauchen also nicht mehr zu „raten“, ob es sich bei einem Wort um eine Abkürzung handelt, sondern passen die Aussprache entsprechend an. Beiden Elementen kann zugewiesen werden, wofür die Abkürzung steht. Das kann dann von einem Vorleseprogramm (engl. ) anstelle der Kurzform wiedergegeben werden. Die Wahl zwischen abbr und acronym gibt dem Programm einen Hinweis darauf, ob die Abkürzung als Wort – acronym – oder in einzelnen Buchstaben – abbr – vorgelesen werden sollte. Vom World Wide Web Consortium wird empfohlen, vorrangig abbr zu benutzen. Diese Vereinfachung geht allerdings auf Kosten der Barrierefreiheit. Akronyme, die eigentlich als Wort gesprochen werden sollten, werden nicht mehr als solche erkannt. Anwendungsbeispiele Die Abkürzungen werden mittels Start- und End-Tags als Elemente ausgezeichnet. Mit dem title-Attribut wird die Bedeutung angegeben. Für Vorleseprogramme, die nicht darauf eingestellt sind, die Bedeutung vorzulesen, spielt die Wahl des Elements eine Rolle. <abbr title="Hypertext Markup Language">HTML</abbr> Der Rechner liest „Haa Tee Emm El“ vor. <acronym title="National Aeronautics and Space Administration">NASA</acronym> Durch die Auszeichnung als acronym liest der Screenreader „Nasa“ und nicht „Enn Aa Ess Aa“ vor. Besondere Aspekte der Verwendung von Akronymen Generell gilt, dass Kurzwörter, also auch Akronyme, bedeutungsgleich mit den Ausdrücken verwendet werden, die ihnen zugrunde liegen (= Vollformen). Abweichend davon kann der Plural auch mit -s gebildet werden. Auch die Wortbildung eröffnet bei Akronymen besondere Möglichkeiten: So kann man eine -ler-Ableitung bilden, die bei der Vollform nicht möglich ist: SPDler. Das Prinzip der Gleichwertigkeit von Vollform und Akronym hinsichtlich ihrer Bedeutung setzt jedoch voraus, dass dem Verwender die Vollform auch bekannt ist. Wenn das nicht der Fall ist, kann es zu Bedeutungswandel und Lexikalisierung kommen. Lexikalisierungstendenzen zeigen sich zum Beispiel bei der Bezeichnung BAföG, das meist als monetäre Leistung und nicht länger als das dahinter stehende Bundesausbildungsförderungsgesetz verstanden wird. Ähnlich verläuft es bei der SMS: SMS bedeutet und beschreibt den Dienst, der das Versenden von Kurzmitteilungen ermöglicht. Die Nachricht selbst wäre also eher eine SM (oder „Kurznachricht“). Trotzdem hat es sich eingebürgert, als SMS die Nachricht zu bezeichnen, zumal die korrekte Abkürzung (SM) im allgemeinen Sprachgebrauch schon vergeben ist. Redundantes Akronym Es gibt Kritiker, die Wortbildungen wie LCD-Display ablehnen, da das „D“ in der Abkürzung bereits für steht (). Ähnlich verhält es sich mit: HIV-Virus – HIV = Humanes Immundefizienz-Virus IGeL-Leistung – IGeL = Individuelle Gesundheitsleistung ABM-Maßnahme – ABM = Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ISBN-Nummer – ISBN = Internationale Standardbuchnummer bzw. engl. PDF-Format – PDF = PIN-Nummer – PIN = Persönliche Identifikationsnummer CSS-Stylesheet – CSS = Cascading Style Sheet, hier werden sogar zwei Buchstaben gedoppelt. Ks-Signal – Ks = Kombinationssignal Im deutschen Handelsrecht wird aus diesem Grund eine GmbH (Gesellschaft mit beschränkter Haftung) als mbH bezeichnet, wenn sich der Begriff „Gesellschaft“ bereits im Eigennamen des Unternehmens befindet (z. B. Württembergische Eisenbahn-Gesellschaft mbH). Im Englischen wird diese Redundanz selbstreferenziell als „RAS-Syndrom“ (Redundantes-Akronym-Syndrom-Syndrom) bezeichnet. Diese Verdopplungen können rhetorisch als Tautologie (als Aussage) beziehungsweise als Pleonasmus (als Ausdruck) gesehen werden. DIN-Norm (Deutsches Institut für Normung) wird oft fälschlicherweise für ein redundantes Akronym gehalten, da die Abkürzung „DIN“ früher für „Deutsche Industrie-Norm“ stand. Siehe auch Liste der Listen von Abkürzungen Dreibuchstabenabkürzung Akrostichon Kofferwort Sigel Liste der US-Navy-Akronyme Literatur DIN 2340 (Kurzformen für Benennungen und Namen; Bilden von Abkürzungen und Ersatzkürzungen; Begriffe und Regeln). Hadumod Bußmann (Hrsg.) unter Mitarbeit von Hartmut Lauffer: Lexikon der Sprachwissenschaft. 4., durchgesehene und bibliographisch ergänzte Auflage. Kröner, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-520-45204-7. Weblinks abkuerzung.ch – Über 20.000 Akronyme aus Informatik, Telekommunikation und Elektronik The Free Dictionary Farlex-Akronymenlexikon Globalacronyms – Suchmaschine für Akronyme (enthält 347249 Akronyme in 65 Sprachen, unterteilt in 10 Kategorien) Akronyme in der Chemie – kostenfreie Suchmaschine des Fachinformationszentrum Chemie Einzelnachweise !Akronym Buchstabenspiel Wort