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https://de.wikipedia.org/wiki/Flut
Flut
Als Flut wird das Steigen des Wasserstandes infolge der Gezeiten (Tide) bezeichnet. Dieser Zeitraum reicht von einem Niedrigwasser bis zum folgenden Hochwasser. An der Küste wird auch der Ausdruck auflaufendes Wasser zur Unterscheidung von binnenländischen Hochwässern oder Überflutungen benutzt. Das darauf folgende Sinken des Meeresspiegels wird ablaufendes Wasser (Ebbe) genannt. Die Flut ist nicht mit dem Hochwasser zu verwechseln. Flut zeigt eine Bewegungsrichtung an, während Hochwasser den höchsten Stand des Wassers markiert. Der Flutstrom kann in den Prielen des Wattenmeers beträchtliche Geschwindigkeiten (bis über 20 km/h) erreichen. Daher ist bei Wanderungen im Watt besondere Vorsicht geboten. Die Höhe der Flut über dem Meeresspiegel ist nicht überall gleich. In der von den Ozeanen relativ abgeschnittenen Ostsee liegt sie bei 10 cm, auf der offenen Nordsee meist bei 100 cm. Der Tidenhub des Atlantiks liegt im Gebiet des mittelatlantischen Rückens bei nur 50 cm, woraus sich die Höhe der Flut mit 25 cm ergibt. Anthropogene Veränderungen können die mittleren Wasserstände bei Flut (wie auch bei Ebbe) verändern, wie am Beispiel der Elbe ersichtlich wird. In Sturmfluten wird der Wasserstand durch die Kraft des Windes über das Normalmaß hinaus erhöht. Dadurch können Wasserstände erreicht werden, die 3 bis 5 Meter über dem normalen mittleren Tidehochwasser (MTHW) liegen. Weblinks Einzelnachweise
1786
https://de.wikipedia.org/wiki/Abu-Nidal-Organisation
Abu-Nidal-Organisation
Die Abu-Nidal-Organisation (ANO, auch bekannt unter dem Namen Fatah-Revolutionsrat) ist eine von Abu Nidal 1974 gegründete Abspaltung von der PLO, die sich für ein selbstständiges Palästina einsetzt. Sie wurde zuerst von Saddam Hussein, dann von Hafiz al-Assad, dann von Muammar al-Gaddafi und vom Iran unterstützt. Aktivitäten und Skandale Der Gruppierung werden zahlreiche Anschläge zur Last gelegt. Unter anderem wird die Gruppe für den Sprengstoffanschlag auf dem Flughafen Frankfurt am Main am 19. Juni 1985, sowie die Anschläge auf die Flughäfen von Rom und Wien am 27. Dezember desselben Jahres verantwortlich gemacht, bei denen insgesamt 21 Menschen ums Leben kamen. Auch der Anschlag auf eine griechische Fähre bei Athen im Sommer 1988, wobei neun Menschen starben und etliche verletzt wurden, sowie einen Angriff auf Synagogen in Paris und Wien (Stadttempel) wird ihr zugeschrieben. Zudem ist sie für die Ermordung des Wiener Politikers Heinz Nittel verantwortlich. Die EU und die USA führen die Organisation auf ihrer Liste der Terrororganisationen. Darüber hinaus beging die Gruppe Auftragsmorde und tötete Angehörige der Fatah, die für Verhandlungen mit Israel eintraten wie z. B. 1983 den Arafat-Vertrauten Issam Sartawi. Sie wurde aber, anders als andere palästinensische Organisationen, niemals zum Ziel israelischer Vergeltungsschläge. Dies und ihre offensichtliche Arbeit gegen die Interessen der PLO führte zu Spekulationen, die Gruppe sei zumindest in Teilen von israelischen Geheimdiensten unterwandert. Namhafte Historiker bezweifeln aber diese Annahme. Im Jahr 2000 versuchte die Frau des Abu-Nidal-Finanzreferenten Samir N., eine Ägypterin mit dem Spitznamen „Die Sanfte“, Geld von dessen Bankkonto abzuheben. Sie wurde wegen Terrorismus angeklagt, konnte aber nach Libyen entkommen. Die acht Millionen US-Dollar, die sich bereits seit Jahren auf jenem Wiener Bankkonto befinden, sind seither Gegenstand mehrerer Gerichtsprozesse, die beinahe zur Überweisung des Geldes an ehemalige Mitglieder geführt hätten. 2009 wurde ein entsprechendes Urteil jedoch vom Oberlandesgericht Wien aufgehoben. Ein neuer Prozess soll klären, was mit dem Geld geschehen soll. Siehe auch Bank of Credit and Commerce International Einzelnachweise Untergrundorganisation (Palästinensische Autonomiegebiete) Paramilitärische Organisation Gegründet 1974
1787
https://de.wikipedia.org/wiki/Formant
Formant
Als Formanten (von [eines Vokals]) bezeichnet man in der Phonetik und Akustik die Konzentration akustischer Energie in einem unveränderlichen (fixen) Frequenzbereich, unabhängig von der Frequenz des erzeugten Grundtons. Aufgrund der Resonanz- und Interferenzeigenschaften des Artikulationsraums bzw. Resonanzkörpers werden diese Frequenzbereiche gegenüber den übrigen Frequenzbereichen verstärkt und die anderen gedämpft, wonach die Formanten als Energiespitzen übrigbleiben. Dieser Prozess spielt sowohl bei der menschlichen Sprache eine Rolle als auch bei Musikinstrumenten. Begriffsabgrenzung Einen Oberton (Partial) oder einen zusammenhängenden Bereich von Obertönen (Partialen), die bei charakteristischen Eigenfrequenzen durch Resonanzverstärkung im Pegel angehoben werden, bezeichnet man als Formanten. Hingegen bezeichnet man den Frequenz-Bereich, der für einen Vokal charakteristisch ist, als einen Formantbereich (auch: Formantstrecke). Beobachtung und Beschreibung Als Phänomen sind ein Phon (im phonetischen Sinne) bzw. „einzelner Ton“ im Musikalischen die kleinsten akustischen Einheiten. Um eine falsche Vorstellung zu vermeiden, ist grundsätzlich zwischen messbaren Größen und wahrgenommenen Größen zu unterscheiden. Dabei lassen sich die Schallquellen zunächst in drei Teilkomponenten zerlegen: den eigentlichen Oszillator, die Stimmlippen (Plica vocalis), die den ausströmenden Atemluftstrom periodisch unterbrechen, die Anregung (durch Zupfen, Anblasen, den periodisch unterbrochenen Luftstrom des Atmungsapparates Apparatus respiratorius) und den Resonanzkörper (also den Korpus des Musikinstrumentes, die Resonanzräume (Vokaltrakt) des menschlichen Körpers). Die wichtigste Veränderung der Resonanzeigenschaften erfolgt, als variable Größe, durch eine geänderte Zungenstellung. Die Sprachgrundfrequenz liegt bei ca. 100–150 Hz für Männer und bei ca. 200–300 Hz für Frauen. Im physikalischen Sinne kann ein solcher „einzelner Ton“ weiter in verschiedene Teiltöne bzw. Partial- oder Obertöne, also in unterschiedliche Frequenzbänder, zerlegt werden. Der unterste Partialton ist maßgebend für die empfundene Tonhöhe. Sie wird auch als Grundfrequenz oder Grundton bezeichnet. Insgesamt lassen sich mit den Teil- oder Partialtönen alle Klänge in der Musik ebenso beschreiben wie akustische Sprachproduktion oder allgemeiner jegliche weitere akustische Ereignisse. Fast alle Töne, Klänge und Geräusche sowie die gesprochene Sprache (Lautsprache) setzen sich aus einer ganzen Reihe von Partialtönen zusammen. Alle diese Teiltöne liegen in Form von Sinusschwingungen vor. Ein Gesamtton besteht z. B. aus zehn Partialtönen, das sind dann neun Obertöne und ein Grundton. Welche Frequenzen als Obertöne auftreten, hängt von den physikalischen Eigenschaften des jeweiligen Klangerzeugers ab, also von dessen „Eigenfrequenzen“. Dabei werden Klänge mit „harmonischen“ von denen abgegrenzt, die zu den „nichtharmonischen Obertonreihen“ zählen. Im Bereich der harmonischen Obertonreihen handelt es sich bei den Frequenzen der Obertöne um ganzzahlige Vielfache der Frequenz des Grundtons (Naturtonreihe). Im Bereich der Musikinstrumente zählen hierzu etwa die Saiten- und Blasinstrumente. Bei „nichtharmonischen Obertonreihen“ bilden die Frequenzen der Partialtöne komplizierte nicht ganzzahlige Verhältnisse zueinander aus. Solche Klänge treten in der Musik bei Instrumenten mit geräuschhaften Tönen auf, etwa bei Schlaginstrumenten wie den Trommeln oder bei den Idiophonen wie den Glocken mit metallenen Klangfarben. Die Anzahl der Obertöne und ihr Verhältnis zueinander beschreibt aber nur einen Teil eines als Gesamtklang wahrgenommenen akustischen Ereignisses. Von Bedeutung ist ferner die Lautstärke der einzelnen Obertöne. Die menschliche Sprache klingt bei den verschiedenen Sprechern unterschiedlich. Der Grund hierfür ist im Wesentlichen der Stimmklang, der bei gleicher Tonhöhe unterschiedlich sein kann. Denn eigentlich müsste der gleiche Klang entstehen, wenn zwei Personen den gleichen Ton sängen. Bedingt durch die individuelle anatomische Ausformung, also Größe und Form von Mundhöhle, Nasennebenhöhlen, Rachen etc., die beim Menschen die wesentlichen Resonanzräume bilden, werden manche Frequenzen verstärkt, andere abgeschwächt. Für solche sprachbezogenen Resonanzkurven sind die Obertöne verantwortlich. So wird der gleiche Vokal bei verschiedenen Menschen unterschiedliche Resonanzen erzeugen. Aber neben Vokalen bedienen sich die menschlichen Sprachen noch der Konsonanten – den Geräuschlauten, bei denen der Atemluftstrom während der Aussprache gehemmt wird und die somit eine geringe akustische Reichweite haben. Anders bei den Vokalen, die ohne Hemmung des Atemluftstromes ausgesprochen werden und deshalb klarer zu hören sind. Erläuterungen zur Definition Im Kehlkopf oder z. B. im Mundstück eines Blasinstrumentes wird zunächst ein Grundton mit zahlreichen Obertönen produziert. Erst im Klangkörper eines Musikinstrumentes bzw. auf dem Weg zwischen Kehlkopf und Mundöffnung wird aus diesem Spektrum ein Teil der Harmonischen, also Partial- bzw. Teiltöne oder Obertöne und Rauschanteile, gedämpft, ein anderer Teil durch Resonanz relativ gegenüber der Grundfrequenz und gegenüber anderen Obertönen verstärkt. Die Bereiche, bei denen eine maximale relative Verstärkung stattfindet, sind die Formanten. Stimmen und Instrumente besitzen oft mehrere Formantregionen, die nicht direkt aneinander anschließen. Die Lage und Ausprägung der Formanten prägen maßgeblich die Klangfarbe (das Timbre) eines Musikinstruments oder einer Stimme. Durch sie lassen sich Stimmen und auch Musikinstrumente voneinander unterscheiden – etwa die Stimmen zweier Frauen oder eine Geige von einer anderen. Die Lage der Formanten hängt ab generell von den charakteristischen Eigenfrequenzen des Instruments oder Klangerzeugers, bei mechanischen Musikinstrumenten von der Bauform und den verwendeten Materialien, insbesondere von der Gestaltung des Klangkörpers, bei der menschlichen Stimme von der willkürlich veränderten Form des Vokaltrakts, so wie er zum Artikulieren eines bestimmten Lauts durch Muskelbewegungen eingestellt wird, bei elektronischen Musikinstrumenten von den eingesetzten Bandpässen und Bandsperren. Sprache Sprache und damit Sprachlaute bestehen aus Luftdruckwellen, die aus der Mund- und Nasenhöhle ausgestoßen werden. Die Atemluft, die durch die Stimmlippen gepresst wird, führt dazu, dass diese zu vibrieren beginnen. Die Vibrationen werden zu einem Grundton, der durch die oralen und nasalen Kanäle oder andere anatomische Gegebenheiten geformt und verstärkt wird. Je mehr Atemluft durch die Stimmlippen gepresst wird, desto lauter ist der Ton. Durch die unterschiedlichen Positionierungen der Zunge und der Lippen können verschiedene Laute geformt werden. Die sich öffnenden und schließenden Stimmbänder erzeugen eine periodische Schwingung. Die Dauer eines Zyklus hängt von der Länge, der Masse und der Anspannung der Stimmbänder sowie von dem durch die Atemmuskulatur und die Lunge erzeugten Luftdruck ab. Die vokalische Artikulation ist normalerweise stimmhaft, die relevanten Abwandlungen bestehen in Änderungen der Größe des Rachen- und Mundraumes. Diese werden durch Zunge und Lippen bewirkt, aber auch Kehlkopfhöhe, Rachenenge, Zungenposition und -höhe sowie die Lippenstellung verändern die Resonanzeigenschaften des Ansatzrohres und damit auch die Resonanzfrequenzen des entstehenden Vokals. So erhält jeder Vokal seine für ihn typische spektrale Zusammensetzung mit Energiekonzentrationen in den jeweiligen Resonanzfrequenzen. Diese Energiekonzentrationen, die man im Sonagramm als waagerechte Frequenzbänder erkennen kann, heißen Formanten F1, F2, F3 und F4 etc. Bei der menschlichen Sprache charakterisiert die Lage der Formanten die Bedeutung bestimmter Laute. Vokale unterscheiden sich im Sonagramm von Konsonanten vor allem durch ihre deutliche Formantstruktur. Das liegt daran, dass der Laut, dessen Artikulation zu einem Konsonanten führt, durch eine Verengung des Stimmtraktes entsteht, sodass der Atemluftstrom ganz oder teilweise blockiert wird und es zu hörbaren Turbulenzen (Luftwirbelungen) kommt. Konsonanten sind Hemmnis überwindende Laute, sie können dabei ohne Einsatz der Stimme (stimmlos) oder mit Stimmgebung (stimmhaft) erzeugt werden. In der Tendenz zeigt sich Folgendes: Vokale befinden sich eher in einem tieferen Frequenzbereich, die Konsonanten in einem höheren. Während die Vokale hauptsächlich die Lautstärke von Sprache erzeugen, werden über die Konsonanten die Wortdifferenzierungen (Silben) übermittelt. Ein Vokal kann in unterschiedlichen Tonhöhen artikuliert werden, indem bei unverändertem Mund- und Rachenraum die Periode der Stimmbandbewegung verändert wird. Als Formant wird in der Akustik und Phonetik die Konzentration akustischer Energie in einem bestimmten Frequenzbereich bezeichnet. Während die Formanten F1, F2 und F3 vokalspezifisch sind, das bedeutet relativ sprecherunabhängig immer annähernd gleiche Frequenzwerte annehmend, sind die Frequenzwerte ab dem F4-Formanten überwiegend für Klangfarbe und Charakteristik der Sprecherstimme verantwortlich. Sie dienen in erster Linie der Identifikation eines Sprechers und nicht eines Vokals. Vokale unterscheiden sich im Sonagramm von Konsonanten in erster Linie durch ihre deutliche Formantstruktur. Formanten entstehen etwa in den Resonanzspektren von Musikinstrumenten oder auch der menschlichen Stimme. Aufgrund der Resonanzeigenschaften eines Instruments oder des menschlichen Artikulationsraums werden bestimmte Frequenzbereiche im Verhältnis zu anderen Frequenzbereichen verstärkt. Formanten sind dabei diejenigen Frequenzbereiche, bei denen die relative Verstärkung am höchsten ist. Vokale etwa unterscheiden sich artikulatorisch durch drei Parameter: die vertikale Position des höchsten Zungenpunkts, die horizontale Position des höchsten Zungenpunkts und die Rundung der Lippen Anhand der ersten beiden Formanten im Vokaldreieck beziehungsweise im Vokaltrapez lassen sich alle Vokale eines Lautsystems voneinander unterscheiden. Die Vokal-Formantlagen unterscheiden sich von Mensch zu Mensch, besonders zwischen Männern, Frauen und Kindern. Hier folgt eine Tabelle der gemittelten Formantlagen aus dem genannten Vokaldreieck. Die ersten beiden Formanten F1 und F2 sind für die Verständlichkeit der Vokale wichtig. Ihre Lage charakterisiert den gesprochenen Vokal, der dritte und der vierte Formant F3 und F4 sind für das Sprachverständnis nicht mehr wesentlich. Sie charakterisieren eher die Anatomie des Sprechers und dessen Artikulationseigenarten sowie das Timbre seiner Sprache und variieren je nach Sprecher. So wird der Charakter einer Stimme durch die Grundfrequenz (F0, 100 bis 250 Hz) und die Artikulationseigenarten bestimmt. Die mittlere Sprechstimmlage liegt beim Mann etwa zwischen 100 und 130 Hz und bei der Frau etwa zwischen 200 und 260 Hz. Formanten, die zwischen 1500 und 2000 Hz liegen, bringen die Wirkung des Näseleffekts hervor, weshalb sie Näselformanten genannt werden. Wird das Velum geöffnet, tritt ein, oft auch ein zweiter Nasalformant hinzu. Hierzu liegen diverse Untersuchungen vor, die unterschiedliche Nasalformanten ergeben haben. Der erste Nasalformant wird mit Werten zwischen 200 und 250 Hz angegeben, der zweite Nasalformant sehr unterschiedlich mit Werten von z. B. 1000, 1200, 2000 oder 2200 Hz. Besonderheiten beim Gesang Grundsätzlich gilt für den Gesang das Gleiche wie für die Sprache. Die o. g. Formanten lassen sich besonders gut für tiefe Töne, z. B. gesungen im Schnarrregister zeigen. Aber bereits im höheren Bereich einer Sopranstimme liegt die Grundfrequenz oberhalb der in Tabelle 1 genannten 1. Formantfrequenzen. Bei Frequenzen von z. B. 700 Hz müssten demnach die Vokale u, e und i unverständlich sein und wegen der starken Dämpfung zwischen den Formanten nur schwache, nicht tragfähige Töne bilden. Allerdings sind nach Sundberg die Formanten nicht unabhängig vom Grundton. Diese unabhängige Variation der Formanten wird beispielsweise beim Obertongesang praktiziert. Wenn der Grundton in den Bereich des 1. Formanten fällt oder darüber liegt, dann steigt mit steigendem Grundton auch der 1. Formant. Das erreicht die Sängerin, indem sie den Mund weiter öffnet. Diese Anpassung des ersten Formanten bezeichnet man als Formanttuning. Es führt beim i, u, e zu einem Anstieg des 1. Formanten, er liegt bei einer Grundfrequenz von 700 Hz ebenfalls bei etwa 700 Hz. Beim a bleibt er weitgehend konstant. Der 2. Formant sinkt dagegen beim e und i und steigt beim u. Der Anstieg des 1. Formanten geht aber nicht „unendlich“ weiter, im Bereich um h2 und darüber kann man mit weiterem Öffnen des Mundes nichts mehr bewirken. Die Vokale sind bei sehr hohen Tönen nicht mehr unterscheidbar, weil nunmehr die Grundfrequenz immer oberhalb des ersten Formanten liegt und somit der Klangeindruck dieses Formanten verschwindet. Frequenzen um 3 kHz spielen eine entscheidende Rolle für die Tragfähigkeit einer Stimme. Deshalb nennt man diesen Frequenzbereich Sängerformant. Er kann beispielsweise auch durch Training von Heben oder Senken des Kehlkopfs beim Singen verändert werden. Ein Sängerformant ist gut ausgeprägt, wenn in einem gesungenen Ton die Frequenzen in einem breiten Band zwischen 2800 und 3400 Hz eine „relative Stärke“ haben, unabhängig vom Grundton. Geschichte Der Begriff Formant wurde 1890 erstmals von Ludimar Hermann in seiner Akustischen Phonetik verwendet, aber erst 1929 von Erich Schumann in seiner Habilitationsschrift in Berlin technisch beschrieben und bildet heute ein breites Forschungsfeld in analytischen, nachrichtentechnischen und klangsynthetischen Domänen. Siehe auch Frequenzspektrum Klirrfaktor Pitch shifter Sonagramm Spracherkennung Sprachsynthese Vocoder Literatur Franz Brandl: Die Kunst der Stimmbildung auf physiologischer Grundlage. Eigenverlag, München 2001, ISBN 3-00-008593-9. Michael Dickreiter, Volker Dittel, Wolfgang Hoeg, Martin Wöhr (Hrsg.): Handbuch der Tonstudiotechnik. 8., überarbeitete und erweiterte Auflage, Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2014, ISBN 978-3-11-028978-7 oder e-ISBN 978-3-11-031650-6 (2 Bände). Ludimar Hermann: Beiträge zur Lehre von der Klangwahrnehmung. In: Pflügers Arch. Band 56, 1894, S. 467–499. Fritz Klingholz: Medizinischer Leitfaden für Sänger. Libri Books on Demand, Seefeld 2000, ISBN 3-8311-0493-X. Paul-Heinrich Mertens: Die Schumannschen Klangfarbengesetze und ihre Bedeutung für die Übertragung von Sprache und Musik. E. Bochinsky, Frankfurt/M. 1975, ISBN 3-920112-54-7. Jürgen Meyer: Akustik und musikalische Aufführungspraxis. E. Bochinsky, Frankfurt/M. 2004, ISBN 3-932275-95-0. Christoph Reuter: Klangfarbe und Instrumentation. Habil. Lang, Frankfurt 2002, ISBN 3-631-50272-9. Erich Schumann: Physik der Klangfarben. Habilitationsschrift an der Universität Berlin, 1929. Erich Schumann: Physik der Klangfarben. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1940 (Band II). Johan Sundberg: Die Wissenschaft von der Singstimme. Übers. von Friedemann Pabst, Orpheus, Bonn 1997, ISBN 3-922626-86-6. Uta Konzelmann: Stimmfeldmessungen bei Chorsängern vor und nach Belastung unter besonderer Berücksichtigung des Sängerformanten. Diss., Erlangen/Nürnberg 1989. Hannes Raffaseder: Audiodesign. Fachbuchverlag Leipzig, 2002. Wolfgang Saus: Chorphonetik – wenn Vokale die Intonation steuern. VOX HUMANA 11.1, Februar 2015, S. 22–26 (PDF; 170 kB). Eglė Alosevičienė: Grundlagen der Phonetik und Phonologie. Universität Vilnius, Geisteswissenschaftliche Fakultät, Kaunas 2009, ISBN 978-9955-33-413-2 (PDF; 929 kB). DVD-ROM Bernhard Richter, Matthias Echternach, Louisa Traser, Michael Burdumy, Claudia Spahn: Die Stimme. Einblicke in die physiologischen Vorgänge beim Singen und Sprechen. 2017, Helbling, DVD-ROM. Weblinks Vokaldreieck – Frequenzlage der ersten beiden Formanten. (PDF; 178 kB). Formanten prägen die Klangfarbe. (PDF; 22 kB). Das Lesen von Sonagrammen – Vokale und Formanten. On the Importance Of Formants In Pitch Shifting. (englisch). Walter F. Sendlmeier, Julia Seebode: Formantkarten des deutschen Vokalsystems. (PDF; 388 kB). TU Berlin, Institut für Sprache und Kommunikation. Tanja Schultz, Michael Wand: . (PDF; 2,3 MB). Vorlesung WS 2012/2013, Universität Karlsruhe. Einzelnachweise Audiologische Akustik Musikalische Akustik Phonetik Phoniatrie und Pädaudiologie Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Fastenzeit
Fastenzeit
Als Fastenzeit wird in der Westkirche der vierzigtägige Zeitraum des Fastens und Betens zur Vorbereitung auf das Hochfest Ostern bezeichnet. In den reformatorischen Kirchen ist hierfür der Begriff „Passionszeit“ gebräuchlich. In der römisch-katholischen Kirche wird seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch die Bezeichnung „österliche Bußzeit“ verwendet. Die orthodoxen Kirchen nennen sie die heilige und große Fastenzeit, kennen daneben aber noch drei weitere längere Fastenzeiten. Historische Begriffe im deutschen Sprachraum sind „die große Faste“ und „die lange Faste“. Die wichtigste lateinische Bezeichnung ist Quadragesima. Zur Vorbereitung auf Weihnachten kennt die Westkirche eine zweite, ursprünglich ebenfalls vierzigtägige Bußzeit, den Advent. Vorkonfessionelle Entwicklung Seit dem 2. Jahrhundert ist ein zweitägiges Trauerfasten an Karfreitag und Karsamstag bezeugt, das im 3. Jahrhundert mancherorts auf die ganze Karwoche ausgedehnt wurde. Im 3. Jahrhundert gab es in Rom eine dreiwöchige Fastenzeit, doch „seit dem 4. Jh. ist auf vielfältige Weise eine vierzigtägige Vorbereitungszeit auf das Osterfest bezeugt.“ Diese Periode galt als Bußzeit für öffentliche Sünder und gleichzeitig als Vorbereitungszeit der Katechumenen (Taufbewerber) auf die Taufe, die damals nur in der Osternacht gespendet wurde. Biblische Motive und Symbolik Biblischer Hintergrund für die Festsetzung der Fastenzeit auf 40 Tage und Nächte ist das ebenfalls vierzigtägige Fasten Jesu in der Wüste . Die Zahl 40 erinnert aber auch an die 40 Tage der Sintflut , an die 40 Jahre, die das Volk Israel durch die Wüste zog , an die 40 Tage, die Mose auf dem Berg Sinai in der Gegenwart Gottes verbrachte , und an die Frist von 40 Tagen, die der Prophet Jona der Stadt Ninive verkündete, die durch ein Fasten und Büßen Gott bewegte, den Untergang von ihr abzuwenden . Zählung Die Dauer von „vierzig Tagen“ ist eher als symbolische und weniger als mathematische Größe verstanden worden. Ursprünglich – so etwa in Rom gegen Ende des 4. Jahrhunderts – scheint das Fasten am 6. Sonntag vor Ostern (Invocavit) begonnen zu haben, es endete am 40. Tag, dem Gründonnerstag, an dem die Büßer wieder zum Empfang der Kommunion zugelassen wurden. Ab dem 5. Jahrhundert wurden die Sonntage (als „kleine“ Auferstehungstage) vom Fasten ausgenommen. Um auf eine vierzigtägige Fastenzeit zu kommen, wurde daher der Beginn des Fastens (caput ieiunii) auf den Aschermittwoch vorgezogen und auch die beiden Tage des Trauerfastens (Karfreitag und Karsamstag) noch mitgerechnet. Nach einer anderen Zählweise, welche die Sonntage einschließt, beginnt die Fastenzeit am Aschermittwoch und geht bis Palmsonntag. Mit dem Palmsonntag beginnt die heilige Woche, die dann als gesonderter Abschnitt gerechnet wird. Auch die adventliche Fastenzeit umfasste ursprünglich 40 Tage und begann nach dem 11. November, dem Martinstag. Die Sitte, an diesem Abend noch eine Martinsgans zu essen, ist ebenso wie der Beginn der Karnevalssession am 11. November in Parallele zu den Fastnachtsbräuchen vor Aschermittwoch zu sehen. Entwicklung in der Westkirche Mit dem Auslaufen der öffentlichen Kirchenbuße gegen Ende des ersten Jahrtausends erhielt sich der Ritus der Bestreuung mit Asche als Zeichen der Buße und wurde an allen Gläubigen vorgenommen. Der Ritus der Auflegung der Asche fand Eingang in die Liturgie des Aschermittwochs. Auf der Synode von Benevent (1091) empfahl Papst Urban II. diesen Brauch allen Kirchen. Die mittelalterlichen Fastenregeln erlaubten nur eine Mahlzeit am Tag, in der Regel am Abend. Der Verzehr von Fleisch, Milchprodukten, Alkohol und Eiern war verboten. Darauf geht die Tradition zurück, in den Fastnachtstagen Backwerk mit Zutaten wie Milch, Eiern, Zucker oder Schmalz herzustellen, wie etwa Krapfen, um solche Vorräte vor der Fastenzeit aufzubrauchen. Der Fastnachtsdienstag wird im französischsprachigen Raum dementsprechend Mardi Gras („fetter Dienstag“), im englischsprachigen Pancake Tuesday („Pfannkuchendienstag“) genannt. 1486 erlaubte Papst Innozenz VIII. auch den Verzehr von Laktizinien in der Fastenzeit. Gegen Zahlung des sogenannten „Butterpfennigs“ konnte bis dahin von dem Verbot, Butter und andere Milchspeisen zu verzehren, Dispens erteilt werden. Die Fastenzeit in der römisch-katholischen Kirche Die vierzigtägige Fastenzeit der römisch-katholischen Kirche ist als österliche Bußzeit bestimmt und dient der Vorbereitung auf die Feier des Todes und der Auferstehung Christi. „Katechumenen und Gläubige bereitet die Liturgie der vierzig Tage zur Feier des Ostergeheimnisses; die einen durch die verschiedenen Stufen der Aufnahme in die Kirche, die anderen durch Taufgedächtnis und tätige Buße“. „Die Fastenzeit dauert von Aschermittwoch bis zum Beginn der Messe vom letzten Abendmahl am Gründonnerstag.“ Ab Karfreitag bis zur Osternachtfeier schließt sich das Osterfasten an, als Trauerfasten zum Gedächtnis der Passion und der Grabesruhe Christi und zur Vorbereitung der Taufe oder Erneuerung der Taufversprechen in der Osternacht. Die Fastenzeit gilt als geschlossene oder „gebundene“ Zeit. Die Anforderungen der katholischen Kirche an die Fastenpraxis sind detailliert in der apostolischen Konstitution Paenitemini Papst Pauls VI. aus dem Jahr 1966 geregelt. Neben der Beachtung besonderer Speisegebote werden auch andere Formen der Askese und Buße empfohlen. Die Gläubigen sind angehalten, das Gebet intensiver zu pflegen und vermehrt an Gottesdiensten und Andachten (etwa der Kreuzwegandacht) teilzunehmen. Ebenso sollen sie mehr Werke der Nächstenliebe verrichten und Almosen geben. Ein solches Bußwerk wird, wie auch eine spürbare finanzielle Spende, die in der Fastenzeit gegeben wird, Fastenopfer genannt. An den Fastensonntagen und Hochfesten, die in die Fastenzeit fallen (etwa dem Hochfest des heiligen Josef oder dem der Verkündigung des Herrn) wird nicht gefastet. Viele katholische Pfarrgemeinden kennen die Tradition des „Fastenessens“. Unter diesem Begriff versteht man ein Solidaritätsessen zugunsten von Projekten in der Dritten Welt, für die auf den üblichen Sonntagsbraten verzichtet wird. Stattdessen wird oft ein einfacher Eintopf oder ein für das Projektland typisches Gericht verkauft oder gegen eine Spende gereicht. Die Liturgiereform in der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils überließ die Ausgestaltung der Bestimmungen zum Fasten und der Lage der Quatembertage weitgehend den einzelnen Bischofskonferenzen. Liturgie Die Fastensonntage werden nach den Anfängen der liturgischen Messfeiern benannt, den lateinischen Antiphonen zum Introitus bzw. nach dem Ritus der Palmweihe am Palmsonntag (Palmarum). In der Liturgie der Fastenzeit wird kein Halleluja gesungen, das Gloria nur an Hochfesten und Festen. Nach dem Gloria der Messe vom letzten Abendmahl am Gründonnerstag bis zum Gloria in der Osternacht werden keine Glocken geläutet, sondern stattdessen Ratschen verwendet. Auch die Orgel schweigt traditionell während des folgenden Triduum Sacrum. Ebenso ist Blumenschmuck im Altarraum während der Fastenzeit nur am vierten Fastensonntag Laetare sowie an Hochfesten und Festen erlaubt. Die liturgische Farbe der Fastenzeit ist Violett bzw. am vierten Fastensonntag Rosa (wobei auch Violet getragen werden darf). Gebotene Gedenktage werden während der Fastenzeit wie ungebotene Gedenktage behandelt, in der Messe darf vom Gedenktag nur das Tagesgebet genommen werden. In der Stundenliturgie entfällt nach dem Eröffnungsvers "O Gott komm mir zu hilfe" das Halleluja. Eine Änderung bzw. freie Wahl der Propriumstexte ist nicht gestattet. Das Te Deum wird nur an Festen und Hochfesten gesungen, das Canticum „die Hochzeit des Lammes“ aus der Offenbarung des Johannes (vgl. ) der zweiten Sonntagsvesper wird durch ein Canticum aus dem ersten Petrusbrief ersetzt (vgl. ). Die Benedictus- und Magnificat-Antiphonen beziehen sich immer auf das Evangelium des Tages. In der Lesehore wird während des ersten Lesejahres Teile des Buches Deuteronomium sowie der Hebräerbiref verlesen. Im zweiten Lesejahr werden Teile der Bücher Exodus, Levitikus und Numeri verlesen. Eine Feier der Gedenktage der Heiligen ist in Form einer Kommemoration möglich. Ab dem 5. Sonntag der Fastenzeit („Passionssonntag“) werden Kreuze und Standbilder durch violette Tücher verhüllt. Die Retabel von Triptychen und Flügelaltären sind in der Fastenzeit häufig zugeklappt und zeigen die einfacher gestaltete Rückseite der Flügel. Teilweise verhüllen Fastentücher den ganzen Chorraum. Fasten außerhalb der Fastenzeit Die Kirchengebote führen als viertes auf: „Du sollst die gebotenen Fasttage halten“. Bis zu den Reformen Papst Pauls VI. nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil galten als gebotene Fast- und Abstinenztage neben dem Aschermittwoch und dem Karfreitag auch die Freitage der Fastenzeit, der Karsamstag bis mittags und die Freitage der vier Quatemberwochen. Daneben bestand das Fasten-, nicht aber das Abstinenzgebot auch am Vigiltag verschiedener Feste: am Heiligen Abend, und den Vigiltagen von Pfingsten, Mariä Himmelfahrt und Allerheiligen. Bis in die 1960er-Jahre war Katholiken auch die Abstinenz von Fleischspeisen an den Freitagen verbindlich vorgeschrieben (Codex des Kanonischen Rechtes). Nach Maßgabe der Bischofskonferenzen einiger Länder kann dieser Verzicht auch durch einen anderen Akt der Buße und des Verzichts ersetzt werden. Manche Gläubige fasten aus persönlicher Frömmigkeit außer freitags zusätzlich auch mittwochs oder auch samstags. Zu den Verpflichtungen der Mitglieder einiger Skapulierbruderschaften, etwa der Unserer Lieben Frau auf dem Berge Karmel, gehört die Abstinenz von Fleischspeisen mittwochs, freitags und samstags. Die Fastenzeiten in den orthodoxen Kirchen In der orthodoxen Kirche gibt es vier mehrtägige Fastenzeiten: Die „heilige und große vierzigtägige Fastenzeit“ beginnt sieben Wochen vor Ostern; sie zählt die Sonntage mit und dauert somit bis zum Freitag vor dem Lazarus-Samstag an. Davor liegt eine dreiwöchige Vorfastenzeit, deren letzte Woche „Milchwoche“ oder „Käsewoche“ heißt, in der kein Fleisch mehr, aber Milch, Milchprodukte und Eier, sowie, je nach Tradition, auch Fisch verzehrt werden. An die große Fastenzeit schließt unmittelbar das Fasten des Lazarus-Samstages, des Palmsonntages und der Karwoche an. Die Apostel-Fastenzeit, in der ein leichtes Fasten gilt, dauert vom ersten Sonntag nach Pfingsten bis zum Hochfest Peter und Paul am 29. Juni. Die Dauer hängt vom Osterdatum ab; dieses Fasten fällt im Neuen Kalender in manchen Jahren auch komplett aus. Die Fastenzeit vor Mariä Entschlafung, in der streng gefastet wird, dauert vom 1. bis zum 14. August. Die Philippus-Fastenzeit, die dem westlichen Advent entspricht, dauert vom 15. November bis 24. Dezember. Fastenstufen in den orthodoxen Kirchen Je nach Tradition gibt es verschiedene Fastenstufen. Während der Fastenzeiten sollte sowohl die Anzahl der täglichen Mahlzeiten als auch deren Gehalt eingeschränkt werden. An Samstagen und Sonntagen wird das Fasten jeweils um eine „Stufe“ gelockert. Nach der in den orthodoxen Kirchen verbreiteten Ansicht gilt jedoch das Beten sowie die bestmögliche Enthaltung von Sünden als der wichtigere Teil des Fastens. Die Nahrungseinschränkung wird als Unterstützung zur Erreichung dieser eigentlichen Ziele verstanden und nicht als Selbstzweck. Jeder Gläubige sollte seine Fastenregeln mit seinem Priester oder Beichtvater abklären. Fasten „auf eigene Faust“ wird nicht empfohlen. Die genaue Beachtung der Speiseregeln wird heute nur noch von einer kleinen Minderheit von Gläubigen vollständig eingehalten, in der Karwoche jedoch ist das Fasten weiterhin verbreitet üblich. Bezüglich der Speisegebote kennen die orthodoxen Kirchen grundsätzlich drei Stufen des Fastens: Strenges Fasten: außer Honig werden keinerlei tierische Produkte verzehrt, außerdem weder Öl noch Alkohol. Leichtes Fasten: Über Stufe 1 hinaus sind Wein, Öl und Weichtiere erlaubt. Fisch: Über Stufe 2 hinaus ist auch noch Fisch erlaubt. Diese Fastenstufen können von Kirche zu Kirche verschieden gehandhabt werden. Sie können auch durch den Priester für den einzelnen Gläubigen an dessen Möglichkeiten angepasst werden. In Klöstern gibt es noch eine zusätzliche Form des Fastens, die Xerophagia, die sich durch kompletten Nahrungsverzicht bis zur neunten Stunde (15 Uhr) auszeichnet und danach nur Brot, Früchte und Wasser erlaubt. Diese Form ist für die große Fastenzeit vor Ostern vorgesehen und wird von Laien bisweilen am „Reinen Montag“ (dem ersten Fastentag) und am Karfreitag eingehalten. Fastenordnung der „großen Fastenzeit“ Fasten außerhalb der Fastenzeiten Außer in den Wochen direkt nach Ostern und Pfingsten (Oktav) und in den zwei Wochen nach Weihnachten soll an jedem Mittwoch und Freitag streng gefastet werden. Für orthodoxe Mönche gelten weitere Regeln. Allgemein fasten sie zusätzlich an jedem Montag. Die weitere Ausgestaltung ist jedoch von Kloster zu Kloster verschieden. In den strengsten Klöstern kann ein einziges gekochtes Ei pro Jahr, am Ostersonntag, das maximal Erlaubte an tierischen Lebensmitteln sein. Die Fastenzeiten in den evangelischen Kirchen „Im evangelischen Bereich heißen die vierzig Tage Passionszeit – Zeichen dafür, dass das Motiv der Passion Jesu die gesamte Vorbereitungszeit auf Ostern bestimmt. Ursprünglich war solche Prägung auf die Karwoche beschränkt.“ Die Reformatoren standen in der spätmittelalterlichen Tradition einer verinnerlichten Frömmigkeit: nicht die quantifizierbaren äußeren Akte seien wichtig, sondern die Gesinnung. In diesem Sinn äußert sich Martin Luther in seinem Sermon von den guten Werken: Deutlich wird aus diesem Zitat, dass Luther das Fasten als eine Art individuelles Trainingsprogramm versteht. Daher kann nicht das gleiche Verzichtsverhalten allen gleichermaßen empfohlen oder gar verordnet werden. Zweck des Fastens ist nach den lutherischen Bekenntnisschriften „den alten Adam zu zähmen“; das Fasten wird insbesondere zur Vorbereitung auf das Abendmahl empfohlen: „Fasten und leiblich sich bereiten ist wohl eine feine äußerliche Zucht“. Jedoch wird die Festschreibung des Fastens in kirchenrechtlichen Kategorien durchweg abgelehnt und „Freiheit in äußerlichen Ceremonien“ gefordert, programmatisch z. B. in der Augsburgischen Konfession, § 26 „Von Unterschied der Speis“: „Und wird also nicht das Fasten verworfen, sondern daß man einen notigen Dienst daraus auf bestimbte Tag und Speise, zu Verwirrung der Gewissen, gemacht hat.“ Auch Luther formulierte: „Kein Christ ist zu den Werken, die Gott nicht geboten hat, verpflichtet. Er darf also zu jeder Zeit jegliche Speise essen.“ Seine theologische Pointe lag dabei in seiner Rechtfertigungslehre, weil Luther die Gefahr sah, dass der Mensch mit seinem Handeln Gott gefallen wolle. Im traditionellen Luthertum wird am Karfreitag bis zur Todesstunde Jesu um 15 Uhr strikt gefastet. Das Evangelische Gottesdienstbuch, das für die VELKD und die UEK, also für fast alle evangelischen Landeskirchen in Deutschland, verbindlich ist, sieht vor, dass ab dem Beginn der Vorpassionszeit, also ab Septuagesimae, „das Halleluja entfällt. Von Aschermittwoch bis Karsamstag entfällt auch das Ehre sei Gott in der Höhe (Ausnahme Gründonnerstag).“ Schließlich entfallen „von Palmsonntag bis Karsamstag […] ‚Ehre sei dem Vater‘, ‚Halleluja‘ und ‚Ehre sei Gott in der Höhe‘ (Ausnahme: Gründonnerstag).“ Am anderen Ende des evangelischen Spektrums, z. B. bei Pfingstlern oder Evangelikalen, aber auch bei vielen reformierten Christen werden geschichtlich gewachsene Traditionen wie die Fastenzeit eher skeptisch gesehen, manchmal provokativ durchbrochen wie beim Zürcher Wurstessen an Invokavit 1522. Wo in den evangelischen Kirchen die Fastenzeit neu entdeckt wird, geht es generell nicht um eine Rückkehr zu überlieferten Speiseregeln, sondern um das Aufbrechen eigener Gewohnheiten, um dem Heiligen Geist Raum zu geben. Seit 1983 verbinden evangelische Christen diese geistliche Praxis auch wieder mit einer körperlichen: dem Verzicht auf liebgewonnene Gewohnheiten wie gut essen, rauchen, Alkohol trinken oder fernsehen. Kennzeichen für diese Entwicklung ist die Fastenaktion 7 Wochen Ohne der Evangelischen Kirche. Inzwischen nehmen jedes Jahr viele Menschen an dieser Aktion teil, die sich aus einer Stammtischidee des Hamburger Pressepastors Hinrich Westphal entwickelte. Fastenzeiten in anderen Religionen Auch andere Religionen wie das Judentum und der Islam kennen Zeiten des Fastens, in der sich die Gläubigen von morgens bis abends Speise und Trank enthalten. Das Judentum kennt Fastentage wie den Jom Kippur und Tischa beAv. Im Islam ist der Fastenmonat der Ramadan. Im Alevitentum fastet man im Muharrem-Monat, 20 Tage nach dem islamischen Opferfest. Im Februar findet noch das Hizir-Fasten statt, das dem Propheten al-Chidr gewidmet ist. Im Bahaitum beginnt die Fastenzeit Anfang März und endet 19 Tage darauf unmittelbar vor dem astronomischen Frühlingsanfang, wenn die Bahai das Nouruz-Fest begehen. Literatur Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (= BSLK). Göttingen 1992. Karl-Heinrich Bieritz: Der Gottesdienst im Kirchenjahr. In: Evangelisches Gottesdienstbuch / Ergänzungsband. Verlagsgemeinschaft „Evangelisches Gottesdienstbuch“, Berlin 2002, ISBN 3-7461-0158-1, S. 164–169. (historischer Überblick) Walter Dürig, Andreas Blasius, Helmut Hundsbichler, Hartmut Zapp: Fasten, Fastenzeiten, Fastendispense, A: Christlicher Bereich, Lateinischer Westen. In: Lexikon des Mittelalters. Band 4 (1989), Sp. 304–307. Franz-Rudolf Weinert: Den Osterfestkreis verstehen und feiern. Friedrich Pustet, Regensburg 2001, ISBN 978-3-7917-1689-3. Weblinks Die Fastenaktion der evangelischen Kirche – 7 Wochen Ohne Einzelnachweise Osterliturgie Osterdatum Fasten (Christentum) Liturgischer Zeitraum Passion
1789
https://de.wikipedia.org/wiki/Freistaat%20%28Republik%29
Freistaat (Republik)
Freistaat ist eine im 19. Jahrhundert in Deutschland entstandene Bezeichnung für einen freien Staat, das heißt für eine Republik. In der Weimarer Republik war der Begriff des Freistaats – neben Volksstaat – die amtliche Bezeichnung der meisten deutschen Flächenländer. Es ist heute die amtliche Bezeichnung für die Länder Bayern (seit 1945), Sachsen (seit 1990) und Thüringen (seit 1993). Vorgeschichte Bereits im Mittelalter gab es die Bezeichnung frei für Stände, Reichsstädte oder Hansestädte. Dies stand für die Gewährung bestimmter Rechte, der Steuerfreiheit oder der eigenen Gerichtshoheit. In der Neuzeit wird das Wort Freistaat im Sinn von Republik verwendet, nämlich als die Übersetzung der lateinischen Bezeichnung für die römische Republik ( ‚freier Staat‘, während oft nur allgemein ‚Staat‘ bedeutet). Im 18. Jahrhundert ist die Bezeichnung Freistaat ein von Sprachpuristen eingeführtes deutsches Synonym für Republik (lat. , ). Sie bezeichnet einen Staat, in dem die Staatsgewalt vom Volk ausgeht und insbesondere – im Gegensatz zur Monarchie – das Staatsoberhaupt direkt oder indirekt vom Volk gewählt wird. Als Synonym für Republik verwendet dieses Wort auch die Weimarer Reichsverfassung (1919), wenn sie in Art. 17 bestimmt: „Jedes Land muss eine freistaatliche Verfassung haben“. Staatsrechtslehrer wie Rolf Gröschner plädieren für die synonyme Verwendung von „freistaatlich“ und „republikanisch“ zur Bezeichnung einer verfassungsrechtlichen Ordnung, die durch Freiheit legitimiert, in Ämtern organisiert und am Gemeinwohl orientiert ist. Der Freistaat ist heute üblicherweise als parlamentarische Demokratie organisiert; die Bezeichnung ist aber zum Beispiel auch von der Münchner Räterepublik gebraucht worden. Der Schweizer Kanton Obwalden bezeichnet sich in seiner Verfassung als „demokratischer Freistaat und im Rahmen der Bundesverfassung souveräner Stand und Bundesglied der Schweizerischen Eidgenossenschaft“. Deutsche Freistaaten nach 1918 Offizielle Freistaaten in der Weimarer Republik Am Ende des Ersten Weltkrieges rief in der Nacht vom 7. zum 8. November 1918 der Sozialist Kurt Eisner in München den Freistaat Bayern aus und wurde wenig später von den Arbeiter- und Soldatenräten zum Ministerpräsidenten bestimmt. Nach der Ausrufung der Republik in Deutschland am 9. November 1918 in Berlin übernahmen neben Bayern viele der neuen deutschen Republiken – entsprechend dem Artikel 17 der Weimarer Reichsverfassung: „Jedes Land muss eine freistaatliche Verfassung haben“ – den Begriff Freistaat als offizielle Bezeichnung für Republik, nämlich Preußen, Sachsen, Braunschweig, Anhalt, Oldenburg, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Waldeck, Lippe, Schaumburg-Lippe sowie die thüringischen Kleinstaaten mit Ausnahme von Reuß. Drei andere deutsche Gliedstaaten bezeichneten sich als Volksstaat, nämlich der „freie“ Volksstaat Württemberg, der Volksstaat Hessen und der (kurzlebige) Volksstaat Reuß. Das Land Baden hieß offiziell Republik Baden. Die drei Stadtrepubliken Hamburg, Lübeck und Bremen blieben bei ihren herkömmlichen Bezeichnungen als Freie und Hansestadt Hamburg respektive Lübeck einerseits beziehungsweise Freie Hansestadt Bremen anderseits. 1919 wurde die Gründung einer Nordwestdeutschen Republik erwogen, die aus zehn sozialistischen Freistaaten bestehen sollte. 1920 schloss sich der Freistaat Coburg an Bayern an. Verschiedene thüringische Staaten gingen im neu gegründeten Land Thüringen auf, welches die Bezeichnung Freistaat (damals) nicht benutzte. 1929 schloss sich Waldeck an Preußen an, die Nationalsozialisten vereinigten 1934 die beiden mecklenburgischen Staaten zwangsweise zum Land Mecklenburg. Inoffizieller Freistaat Flaschenhals Die Besatzungssituation nach dem Ersten Weltkrieg ließ am Rhein einen schmalen Landstreifen nordöstlich von Lorch (Rheingau) frei, der jedoch vom übrigen unbesetzten Deutschland faktisch isoliert und damit zur Selbstverwaltung gezwungen war. Er bestand von 1919 bis 1923 und die 17.363 Einwohner bezeichneten ihn ironisch als Freistaat Flaschenhals. Nach dem Zweiten Weltkrieg Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1947 der Staat Preußen durch das Kontrollratsgesetz Nr. 46 förmlich aufgelöst. Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe wurden 1946 Teile des neu gegründeten Landes Niedersachsen, Lippe kam 1947 zu Nordrhein-Westfalen, Anhalt 1945/1947 zu Sachsen-Anhalt. 1952 wurde Sachsen zusammen mit den anderen Ländern der Deutschen Demokratischen Republik aufgelöst und in die Bezirke Dresden, Chemnitz (ab 1953 Karl-Marx-Stadt) und Leipzig aufgeteilt. Somit blieb von allen Ländern, die sich als Freistaaten bezeichnet hatten, allein Bayern übrig. Erst am Tag der Deutschen Einheit entstand der Freistaat Sachsen erneut, und etwa drei Jahre später beschloss die Landesregierung Thüringens, die Bezeichnung für ihr Land erstmals einzuführen. Heutige Situation Auch in der Struktur der Bundesrepublik Deutschland mit ihrem föderalen System hat die Bezeichnung Freistaat keine sonderrechtliche Bedeutung, da alle Länder der Bundesrepublik dieselbe verfassungsrechtliche Stellung besitzen. Daher ergeben sich für die Bundesländer, die sie – wie etwa der Freistaat Bayern vornehmlich aus historischen Gründen – verwenden, auch keinerlei Sonderstellungen. Auch die Existenz der Regionalpartei CSU (anstelle eines Landesverbandes der CDU) begründet keine Ausnahme in Bezug auf den Föderalismus, sondern ist lediglich Folge der – von Beginn der Parteienbildung an – eigenständigen Organisation des politischen Katholizismus in Bayern (Bayerische Patriotenpartei im Königreich und in der Weimarer Republik Bayerische Volkspartei, statt Zentrum im Kaiserreich). Heute nennen sich der Freistaat Bayern, der Freistaat Sachsen und der Freistaat Thüringen offiziell Freistaat. In Sachsen und Bayern ergibt sich aus der Benennung der Landesregierung als Staatsregierung eine weitere Besonderheit. Vergleichbare Bezeichnungen mit historischem Hintergrund führen die Freie und Hansestadt Hamburg und die Freie Hansestadt Bremen. Im Fall von Bremen ist die Bezeichnung darüber hinaus geeignet, um das Land Bremen, zu dem auch die Stadt Bremerhaven gehört, von der Stadt Bremen zu unterscheiden. Freistaat und Freie Stadt unterscheiden sich in ihrem historischen Hintergrund. Weblinks Johannes Merz, Freistaat Bayern, in: Historisches Lexikon Bayerns Einzelnachweise Politikgeschichte (Deutschland) Staatsmodell Politische Ideengeschichte (19. Jahrhundert)
1790
https://de.wikipedia.org/wiki/Geographie
Geographie
Die Geographie bzw. Geografie (von „Erdbeschreibung“; abgeleitet von „Erde“ und -graphie) oder Erdkunde ist die sich mit der Erdoberfläche befassende Wissenschaft, sowohl in ihrer physischen Beschaffenheit wie auch als Raum und Ort des menschlichen Lebens und Handelns. Sie bewegt sich dabei an der Schnittstelle zwischen den Naturwissenschaften, Geistes- und Sozialwissenschaften. Gegenstand der Geographie ist die Erfassung, Beschreibung und Erklärung der Strukturen, Prozesse und Wechselwirkungen in der Geosphäre. Die physikalische, chemische und biologische Erforschung ihrer Einzelerscheinungen ist Gegenstand spezialisierter Geowissenschaften. Schreibweise Bis zur amtlichen Neuregelung der deutschen Rechtschreibung war ausschließlich die Schreibweise Geographie richtig. Ab 1996 war auch Geografie zulässig, wobei Geographie im amtlichen Wörterverzeichnis zunächst als Hauptvariante verzeichnet war und seit 2004 keine der Schreibweisen als zu bevorzugen angegeben ist (die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenvarianten ist im amtlichen Wörterverzeichnis generell fallen gelassen worden). Im amtlichen Regelteil wird vom Rat für deutsche Rechtschreibung jedoch ausschließlich die Variante "Geografie" benutzt. Im Duden (27. Auflage) ist die Variante Geografie als „Dudenempfehlung“ gekennzeichnet. Traditionell wird in wissenschaftlichen Texten und unter Fachleuten weiterhin häufig die alte Schreibweise genutzt. So empfahl das Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Geographie im Jahr 2003 einstimmig, die Schreibweise Geographie beizubehalten. Der Hinweis auf die Empfehlung wurde jedoch 2017 kommentarlos von der Website entfernt. Geschichte Antike und Mittelalter Die Bedeutung geographischen Wissens wurde, soweit historisch überliefert, erstmals in der Antike von den Griechen erkannt. Vom Naturphilosophen Anaximander aus Milet wird berichtet, dass er als erster um 550 v. Chr. eine Karte der Erde und der Meere skizzierte. Herodot von Halikarnassos (484–424 v. Chr.) verfasste eine Vielzahl geographischer Berichte. Die Eroberungen Alexander des Großen öffneten den Blick der griechischen Gelehrten bis weit nach Asien hinein. Es entstanden Itinerarien, also Beschreibungen der Straßen und Verzeichnisse der Stationen auf Reisen, sowie Periploi, praktische Reisehandbücher für Seefahrer und Kaufleute, die oft auf persischen oder parthischen Quellen fußten. Mit zunehmender Fernreisetätigkeit nahmen auch die Versuche der Erkundung der Gesamtgestalt der Welt zu. Neben der physikalischen Geographie und der Kulturgeographie entwickelten sich Anfänge einer mathematischen Geographie. Eine Berechnung des Erdumfangs gelang erstmals Eratosthenes (ca. 273–194 v. Chr.), während der um die Zeitenwende lebende Strabon eines der heute am besten erhaltenen geographischen Werke der Antike verfasste. Der Astronom Claudius Ptolemäus (ca. 100–170) sammelte topografisches Wissen von Seefahrern und gab Anleitungen für das Zeichnen von Landkarten. Die Erkenntnisse der Griechen nutzten die Römer weiter. Während des Mittelalters geriet die Geographie, wie andere Wissenschaftszweige auch, in Europa weitgehend in Vergessenheit. Neue Impulse kamen jedoch aus dem Kaiserreich China und der aufstrebenden Geographie und Kartographie im mittelalterlichen Islam. Frühe theoretische Ansätze lieferte Albertus Magnus: In seiner Abhandlung De natura locorum beschrieb er die Abhängigkeit der Eigenschaften eines Ortes von seiner geographischen Lage. Im Anschluss daran führte der Wiener Astronom Georg Tannstetter die physikalische Geographie in den Kreis der universitären Lehrgegenstände ein (1514). Frühe Neuzeit Die neuzeitliche Geographie wurde von Bartholomäus Keckermann (1572–1608) und Bernhard Varenius (1622–1650) begründet. Sie entwickelten ein Begriffssystem, unterschieden „Allgemeine Geographie“ (geographia generalis) und die „Regionale Geographie“ beziehungsweise Länderkunde (geographia specialis). Sie sahen Völker, Staaten und Orte in einem räumlichen, historischen und auch religiösen Kontext. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts beförderten in Deutschland vor allem Johann Hübner (1668–1731) und Johann Gottfried Gregorii alias Melissantes (1685–1770) durch ihre Lehrbücher, thematischen Lexika und Atlanten die Verbreitung der Geographie in weite Teile der bildungsnahen Bevölkerung. Das Zeitalter der Aufklärung förderte Erklärungsversuche von Naturerscheinungen durch Wissenschaftler wie Johann Gottfried Herder (1744–1803) und Georg Forster (1754–1794). Anton Friedrich Büsching (1724–1793) verfasste die elfbändige Neue Erdbeschreibung mit Beschreibungen der Länder und deren Wirtschaft. Etablierung als eigenständige Disziplin Alexander von Humboldt (1769–1859) und Carl Ritter (1779–1859) begründeten schließlich die moderne wissenschaftliche Geographie, deren ursprüngliches länder- und landschaftskundliches Forschungsprogramm auf Herders Kulturtheorie basiert. Im Laufe des 19. Jahrhunderts gründeten sich zunächst vielerorts „geographische Gesellschaften“, während die universitäre Institutionalisierung des Fachs vor allem mit der Gründung des Deutschen Reichs vorangetrieben wurde. Ferdinand von Richthofen (1833–1905) definierte die Geographie zu jener Zeit als „Wissenschaft von der Erdoberfläche und den mit ihr in ursächlichem Zusammenhang stehenden Dingen und Erscheinungen“. Dieser geodeterministische Betrachtung standen das von Paul Vidal de la Blache (1845–1918) geprägte Konzept des Possibilismus sowie die von Alfred Hettner (1859–1941) formulierte Chorologie gegenüber. Einzelne Fachvertreter wie Élisée Reclus (1830–1905) knüpften früh Verbindungen zur aufkommenden Soziologie. Auch belegt etwa das Entstehen der ersten Nationalparks, dass der prägende Einfluss des Menschen auf seine Umwelt nicht nur bekannt, sondern auch von politischer Bedeutung war. Insbesondere die deutsche Geographie war aber letztendlich von sozialdarwinistisch und völkisch argumentierenden Vertretern wie Alfred Kirchhoff (1838–1907), dem als Begründer der Humangeographie geltenden Friedrich Ratzel (1844–1904) und dem Geomorphologen Albrecht Penck (1859–1945) bestimmt. Anwendung fanden diese Ansichten schließlich vor allem durch die Geopolitik, wie sie insbesondere durch Halford Mackinder (1861–1947) und Karl Haushofer (1869–1946) formuliert worden war. Neuere Entwicklungen Nach dem Zweiten Weltkrieg wandte sich die geographische Forschung im deutschsprachigen Raum zunächst Themengebieten von relativ geringer politischer Brisanz zu. Carl Troll (1899–1975), Karlheinz Paffen (1914–1983), Ernst Neef (1908–1984) und Josef Schmithüsen (1909–1984) entwickelten die Landschaftsökologie, Hans Bobek (1903–1990) und Wolfgang Hartke (1908–1997) die Sozialgeographie weiter. Eine stärker an den Erfordernissen der Raumplanung orientierte, nicht zuletzt auf den Werken von Walter Christaller (1893–1969) aufbauende Geographie wurde dagegen zunächst in Schweden durch Torsten Hägerstrand (1916–2004) und im anglo-amerikanischen Raum etabliert. Seit Ende der 1960er Jahre (Quantitative Revolution) versteht sich auch die deutschsprachige Geographie zunehmend als angewandte Wissenschaft und sucht ihre Themen im Zusammenhang mit Städtebau, Entwicklung des ländlichen Raumes, Raumplanung oder dem Umweltschutz. Gleichzeitig trägt die Entstehung einer sich als kritisch verstehenden Geographie dieser neuerlich übernommenen gesellschaftspolitischen Verantwortung Rechnung. Durch die wachsende Spezialisierung im 20. Jahrhundert entstand die Vielfalt der heutigen Teildisziplinen und die Aufteilung zwischen Physischer Geographie und Humangeographie. Ordnungsschema Das Drei-Säulen-Modell der Geographie Es existieren verschiedene Versuche, die Geographie schematisch zu ordnen. Die im heutigen Wissenschaftsbetrieb bedeutsamste ist die Einteilung in die beiden großen Teilgebiete der Physischen Geographie und der Humangeographie nebst einem interdisziplinären Bereich als dritter „Säule“. Es lassen sich jeweils diverse Unterdisziplinen identifizieren, wobei die Teilbereiche der physischen Geographie insgesamt relativ stark in die übergeordneten naturwissenschaftlichen Disziplinen integriert sind, während diejenigen der Humangeographie wiederum untereinander eng vernetzt sind. Physische Geographie Die Physische Geographie (oder Physiogeographie) beschäftigt sich in erster Linie mit den natürlichen Bestandteilen und Strukturen der Erdoberfläche. Dabei wird die Tätigkeit des Menschen zur Erklärung der Landschaftsgenese auch behandelt. Teilgebiete der Physischen Geographie sind unter anderem: Biogeographie Geobotanik (Pflanzengeographie) Phylogeographie Vegetationsgeographie Geozoologie (Zoogeographie) Bodengeographie Geomorphologie Geoökologie Landschaftsökologie Stadtökologie Hydrogeographie Klimageographie beziehungsweise Klimatologie Humangeographie Die Humangeographie (auch Anthropogeographie, selten Kulturgeographie) beschäftigt sich sowohl mit dem Einfluss des Menschen auf den geographischen Raum, als auch mit dem Einfluss des Raums auf den Menschen − beispielsweise im Zusammenhang mit der räumlichen Verteilung von Bevölkerung oder Wirtschaftsgütern. Ehemals als Teil der Geisteswissenschaften aufgefasst, hat sie sich insbesondere seit den 1980er Jahren (spatial turn) den Gesellschaftswissenschaften angenähert. Hartmut Leser (2001) definiert die Humangeographie als denjenigen „Teilbereich der Allgemeinen Geographie, der sich mit der Raumwirksamkeit des Menschen und mit der von ihm gestalteten Kulturlandschaft und ihren Elementen in ihrer räumlichen Differenzierung und Entwicklung befasst.“ Die Sozialgeographie und die Kulturgeographie gelten dabei als „Kerngebiete“ der Humangeographie, da sie alle weiteren Unterdisziplinen berühren. Teilweise werden diese Begriffe auch als Synonym für die Humangeographie im Ganzen verwendet. Auch die politische Geographie, zumal in ihrer damaligen Anwendung als Geopolitik und Militärgeographie, ist eng in die Gründungsgeschichte der Humangeographie verwoben, bildet heute aber eine eigenständige Fachrichtung. Weitere sozialwissenschaftlich orientierte Bereiche der Geographie stellen die Bevölkerungsgeographie, die Bildungsgeographie und die Religionsgeographie dar. Einige andere Unterdisziplinen, die diesem Fächerspektrum zugerechnet werden können, werden im deutschen Sprachraum allerdings nur in geringem Maß oder als Teil anderer sozialwissenschaftlicher Fachrichtungen betrieben. Dazu gehören unter anderem die Kriminalgeographie, die Sprachgeographie mit der Dialektgeographie und die Wahlgeographie. Zu den klassischen Teilgebieten der Humangeographie zählen jene Unterdisziplinen, die sich mit der vom Menschen errichteten gebauten Umwelt befassen, also die Siedlungsgeographie, die Geographie des ländlichen Raumes, die Stadtgeographie und die Verkehrsgeographie. Letztere wird teilweise auch zur Wirtschaftsgeographie gerechnet, die außerdem die Geographie des primären (Agrargeographie), sekundären (Industriegeographie) und tertiären Wirtschaftssektors (Handelsgeographie, Tourismusgeographie) umfasst. Eine Sonderstellung nimmt die Historische Geographie ein. Ursprünglich vor allem mit genetischer Siedlungsforschung beschäftigt und damit humangeographisch orientiert, ist das Fach inzwischen relativ stark interdisziplinär integriert und insbesondere eng mit der Umweltgeschichte verbunden. Klassische Anwendungsbereiche sind die Kulturlandschaftsforschung, Waldgeschichte, Wüstenbildungsforschung oder Flusslaufdokumentation. Die raum-zeitliche Ausbreitung von Phänomenen ist Gegenstand der geographischen Diffusionsforschung. Mensch-Umwelt-Beziehungen Auch wenn sich natur- und geistes- bzw. sozialwissenschaftlich orientierte Ansätze der Geographie inzwischen in ihrer methodischen Vorgehensweise stark voneinander unterscheiden, ergeben sich hinsichtlich der Fragestellungen weiterhin Überschneidungen. Da diese vor allem die Folgen menschlichen Handelns auf die Natur und deren Rückwirkung auf die Gesellschaft betreffen, wurde dieser der Humanökologie nahestehende Teilbereich teilweise als physische Anthropogeographie bezeichnet, ein Begriff von allgemeiner Verwendung existiert jedoch nicht. Eng eingebunden ist die Geographie auch in die interdisziplinäre Erforschung von spezifischen Mensch-Umwelt-Systemen wie die Gebirgs-, Küsten-, Polar-, Tropen- und Wüstenforschung. Allgemeine und Regionale Geographie Eine traditionelle Einteilung hingegen ist jene in die Allgemeine Geographie und die Regionale Geographie, wie sie etwa im länderkundlichen Schema von Alfred Hettner modellhaft dargestellt wurde. Die Allgemeine Geographie ist demnach der Teil der Geographie, welcher sich nomothetisch mit den Geofaktoren der Erdoberfläche (Geosphäre) beschäftigt. Im Mittelpunkt stehen zumeist ein Geofaktor (z. B. Wasser, Boden, Klima etc.) und dessen Wechselwirkungen mit anderen Geofaktoren. Die allgemeine Geographie beschäftigt sich somit mit allgemeinen Gesetzmäßigkeiten in der gesamten Geosphäre. Physische Geographie und Humangeographie sind dann lediglich Teile der Allgemeinen Geographie. Regionalgeographie oder Regionale Geographie (Spezielle Geographie) wird gemäß dieser Unterteilung als jener Teil der Geographie verstanden, welcher sich idiographisch oder typologisch mit bestimmten Teilgebieten der Erdoberfläche (Geosphäre) beschäftigt. Im Mittelpunkt steht somit eine Region, z. B. ein Land oder eine Landschaft, die wissenschaftlich in Bezug auf Raum und Zeit, abiotische und biotische Faktoren, den Menschen und Wechselwirkungen untersucht wird. Räumliche Elemente, Strukturen, Prozesse und Funktionsweisen (Wechselwirkungen zwischen den Geofaktoren) werden erfasst, klassiert und erklärt. Die Regionalgeographie lässt sich unterteilen in die einzelnen Fachrichtungen der Geographie (z. B. Bevölkerungsgeographie, Siedlungs- und Stadtgeographie, Biogeographie) und zudem in die Länderkunde, also die idiographische Untersuchung von Raumindividuen, und die Landschaftskunde, die typologische Untersuchung von Raumtypen. Kritik: Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein galten Länder- und Landschaftskunde als der eigentliche „Kern“ der Geographie, der dem Fach eine gewisse Identität gab. Werke mit entsprechender Thematik werden weiterhin produziert und die Regionalgeographie ist auch weiterhin wesentlicher selbstverständlicher Forschungsgegenstand an bedeutenden Universitäten, doch gibt es vereinzelt auch kritische Stimmen, welche die Regionalgeographie und ihre wissenschaftliche Bedeutung in Bezug auf die Begriffe Länderkunde und Landschaftskunde nachrangig sehen. Die Regionale Geographie erfuhr demnach einen Bedeutungswandel und beschäftigt sich, statt Regionen als Forschungsgegenstand vorauszusetzen, mit dem Regionalisierungsvorgang an sich. Damit ist sie heute Teil von Sozial- und Wirtschaftsgeographie sowie des interdisziplinären Felds der Regionalwissenschaft. Theoretische und Angewandte Geographie Die Angewandte Geographie, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Abgrenzung zur Theoretischen Geographie entstand, stellt eine normative Form der geographischen Forschung dar, die sich in allen ihren Fachgebieten wiederfindet. Gegenstand der Angewandten Geographie ist die Analyse und Planung räumlicher Strukturen und Prozesse sowie die Lösung raumbezogener Probleme. Praktische Anwendungsgebiete sind die Raumplanung oder der Umweltschutz. Insbesondere einige Forschungsbereiche der physischen Anthropogeographie sind normativ etwa auf die Paradigmen der Nachhaltigkeit und der Gesundheit hin ausgerichtet. Beispiele hierfür sind die Geographische Entwicklungsforschung, die Geographische Risikoforschung und die Medizinische Geographie. Didaktik Unter Schulgeographie versteht man das Schulfach Geographie, auch Erdkunde genannt (in Österreich Geographie und Wirtschaftskunde), und die dazugehörige Ausbildung für das Lehramt. Zentrales Anliegen dieses Zweiges ist – wie in jeder Disziplin – Wissenschaftsdidaktik in ihrer speziellen Ausprägung als Geographiedidaktik. Daher umfasst die Schulgeographie auch die Methodologie der systematischen Reduzierung, Paradigmenbildung und didaktischen Aufbau des Fachgebiets in den verschiedenen Schultypen (Erstellung von Lehrplänen und Lerninhalten). Innerhalb der Geographiedidaktik greift die Lehre und das Lernen im Fach auf sechs verschiedene Basiskonzepte zurück, die als Strukturhilfen und Leitideen fungieren. Das übergeordnete („größte“) Basiskonzept der Geographie ist das „(Mensch-Umwelt-)System“. Dieses System kann mit den Konzepten „Struktur-Funktion-Prozess“, den „Maßstabsebenen“, den „Raumkonzepten“, dem „Nachhaltigkeitsviereck“ sowie den „Zeithorizonten“ untersucht werden. Im weiteren Sinne kann die Geographiedidaktik auch in die hochschulische Lehre selbst eingreifen und auch Schulkartografie, Weiterbildung, Beratung und Information umfassen, und so zum Tätigkeitsfeld eines angewandten Geographen werden (Erstellung etwa von Lehrbüchern, Lehrsendungen, geographischen Dokumentationen, Kartenwerken, bzw. Fachberatung bei denselben. und Öffentlichkeitsarbeit.) Methodologie Allgemeines Als „Brückenfach“ zwischen natur-, geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen besteht in der Geographie generell eine große methodische Vielfalt, die die Bandbreite an möglichen Forschungsobjekten reflektiert. Während die Erstellung von Karten und die Nutzung geographischer Informationssysteme (GIS) als wichtige Darstellungs- und Forschungsmethoden in allen Teilbereichen zu finden sind, kommen außerdem den jeweiligen Nachbardisziplinen entlehnte Verfahren zur Anwendung. Vergleichende Geographie Die Vergleichende Geographie wurde schon im 19. Jahrhundert von Carl Ritter und Oskar Peschel begründet. Sie ist eine Vorgehensweise, die zwei typologische Kategorien in Bezug setzt. Geoinformatik Ein aktueller methodischer Teilbereich, der zunehmend Bedeutung in der Geographie erlangt und auch der Mathematischen Geographie zugerechnet werden kann, ist die Geoinformatik. Sie verwendet Methoden der Informatik bei der Bearbeitung geographischer Fragestellungen. Aufgabenfelder der Geoinformatik sind: Entwicklung, Erstellung und Pflege von geographischen Informationssystemen (GIS): Mit ihnen werden räumliche Daten gesammelt, verarbeitet, ausgewertet und kartografisch dargestellt. digitale Kartografie: Dieser Bereich beschränkt sich nur auf die Visualisierung räumlicher Daten. Fernerkundung: Satelliten- oder luftfahrtgestützte Beobachtung der Erde mit Hilfe elektromagnetischer Strahlung, die von Sensoren erfasst wird. Modellierung: Idealisierte Nachbildung realer Phänomene, um Prognosen zu erstellen (z. B. Klima- oder Abflussmodelle). Statistik: Verwendung von Software-Werkzeugen, um Datensätze mit statistischen Methoden auszuwerten (siehe auch: Geostatistik). Ästhetische Dimension Der kritische Geograph Gerhard Hard argumentierte nach 1968, dass der Landschaftsgeographie, die seit Alexander von Humboldt den Kern der klassischen Geographie bildet, Wahrnehmungsmuster zugrunde liegen, die aus der Landschaftsmalerei stammen. Daher bestimmten jene Forschungsrichtungen, die sich auf Landschaft beziehen wie z. B. die Landschaftsökologie, ihren Gegenstand primär auf ästhetischer Weise, der erst sekundär mit einem szientistischen Methodendesign versehen werde. Dieses führe wiederum dazu, dass die ästhetischen Implikationen innerhalb der Profession nicht bewusst reflektiert werden. Obwohl sich die Geographie immer wieder neu verstanden und ausgerichtet hat, sieht Gábor Paál ein kontinuierliches Merkmal in der ästhetischen Grundlage, die der Wissenschaft zugrunde liegt. Demnach ist es immer ein zentrales Motiv von Geographen gewesen, räumliche Muster zu erkunden und zu verstehen, und zwar insbesondere solche Muster, die sich in ihrer Größenordnung innerhalb des menschlichen Aktionsradius bewegen: Sie befasst sich mit Mustern „von der Größenordnung dessen, was das menschliche Augen ohne große Anstrengung noch erkennen kann bis zur gesamten Erdoberfläche.“ Ansätze, die sich explizit mit Umweltwahrnehmungen auseinandersetzen, werden unter der Wahrnehmungsgeographie gefasst. Siehe auch Liste der Referenzlisten/Geographie Liste geographischer Gesellschaften Liste geographischer Zeitschriften Literatur Überblicks- und Nachschlagewerke Fachgeschichte und -theorie Hanno Beck: Geographie. Europäische Entwicklung in Texten und Erläuterungen. Alber, Freiburg 1973, ISBN 3-495-47262-2 (Orbis academicus. Problemgeschichten der Wissenschaft in Dokumenten und Darstellungen. Band 2/16). Heinz Peter Brogiato: Geschichte der deutschen Geographie im 19. und 20. Jahrhundert. Forschungsstand und methodische Ansätze. In: Schenk, Winfried & Konrad Schliephake (Hrsg.): Allgemeine Geographie. (= Perthes GeographieKolleg), Gotha 2005, S. 41–81. Daniela Dueck: Geographie in der antiken Welt. Zabern, Darmstadt 2013, ISBN 978-3-8053-4610-8. Ulrich Eisel: Die Entwicklung der Anthropogeographie von einer „Raumwissenschaft“ zur Gesellschaftswissenschaft. Gesamthochschulbibliothek, Kassel 1980. Gerhard Hard: Die Geographie. Eine wissenschaftstheoretische Einführung. De Gruyter, Berlin 1973. Heiner Dürr, Harald Zepp: Geographie verstehen. Ein Lotsen- und Arbeitsbuch. Paderborn 2012. Antje Schlottmann, Jeannine Wintzer: Weltbildwechsel: Ideengeschichten geographischen Denkens und Handelns. Bern 2019. Weblinks Verbände und Institutionen Deutsche Gesellschaft für Geographie DGfG Verband für Geographie an deutschsprachigen Hochschulen und Forschungseinrichtungen VGDH Deutscher Verband für angewandte Geographie DVAG Hochschulverband für Geographie und ihre Didaktik HGD Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin Institut für Länderkunde, Leipzig Österreichische Geographische Gesellschaft ÖGG Verband der wissenschaftlichen Geographie Österreichs Verband Geographie Schweiz ASG Informationsangebote Geographie auf SwissEduc Unterrichtsmaterialien Geographisches Informationssystem inkl. Literatur-, Adress- und Linksuche sowie Web-Mapping-Anwendung Geographisches Portal – mygeo.info mit Online-Wörterbuch Deutsch Englisch Linksammlung sowie News und Buchtipps – geomagazin.net GEO-LEO – Virtuelle Fachbibliothek Geowissenschaften, Geographie, Bergbau, Thematische Karten Anmerkungen Einzelnachweise Wissenschaftliches Fachgebiet Studienfach
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gesundheit
Gesundheit
Gesundheit ist ein körperlicher und geistiger Zustand eines Menschen oder der Zustand einer Gruppe (bspw. Familiengesundheit, Bevölkerungsgesundheit). Dazu gibt es verschiedene Definitionen. Das Wiedererlangen von Gesundheit wird als Gesunden oder Genesen bezeichnet. Der gesunde körperliche Zustand wird als Salubrität bezeichnet. Etymologie Der Begriff leitet sich von althochdeutsch gisunt „wohlbehalten, lebendig, heil; Gesundheit“ her. Dieses kommt von germanisch sunto „rege, rüstig, gesund“. Es ist sprachlich verwandt mit „geschwind“, das sich von sṷento herleitet. Definitionen Gesundheit ist ein in kultureller und historischer Hinsicht vielschichtiger Begriff. Je nach wissenschaftlicher Disziplin wird er unterschiedlich verstanden, und auch der subjektive Gesundheitsbegriff jedes Einzelnen variiert stark, z. B. abhängig von Alter, Geschlecht, Bildung und kulturellem Hintergrund. Einem naturwissenschaftlich verstandenen engen Begriff von Gesundheit nach dem bio-medizinischen Modell steht ein ganzheitlicher Begriff von Gesundheit gegenüber. Gesundheit kann sich auf den einzelnen Menschen beziehen und als Zustand des körperlichen wie geistigen Wohlbefindens oder der physischen und psychischen Funktions- und Leistungsfähigkeit begriffen werden. Gesundheit (lateinisch sanitas) kann auch als Gegenbegriff zu Krankheit (früher auch Ungesundheit, lateinisch insanitas genannt) gefasst werden und beschreibt dann den wünschenswerten „Normal“-Zustand (als normatives Konzept) als Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit kann auch auf ein Kollektiv, z. B. die Bevölkerung, bezogen werden und beschreibt dann das Ausmaß einer geringen Krankheitslast in einer Population. Es gibt eine Vielzahl von Gesundheitsdefinitionen, die sich hinsichtlich ihrer grundlegenden Annahmen unterscheiden lassen. Die nachfolgende Aufzählung stellt einige davon vor: Definition der Weltgesundheitsorganisation: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ (“Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.”) Dem Philosophen Friedrich Nietzsche wird folgende Definition zugeschrieben: „Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.“ Nach dem Soziologen Talcott Parsons ist Gesundheit eine funktionale Voraussetzung von Gesellschaft. Eine andere häufig zitierte Definition von Parsons lautet: „Gesundheit ist ein Zustand optimaler Leistungsfähigkeit eines Individuums, für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben für die es sozialisiert worden ist.“ Gesundheitswissenschaftliche Definition: In den Gesundheitswissenschaften wird häufig auf Antonovsky und dessen Konzept der Salutogenese Bezug genommen. Gesundheit wird nicht als normaler, passiver Gleichgewichtszustand (Homöostase) und nicht nur als Abwesenheit von Krankheit, sondern als labiles, aktives und sich dynamisch regulierendes Geschehen (Heterostase) und als einer der extremen Pole auf dem Kontinuum von Krankheit und Gesundheit verstanden. Gesundheit besitzt eine körperliche, psychische, soziale und ökologische Dimension und kann deshalb nicht alleine durch naturwissenschaftliche und medizinische, sondern muss zusätzlich auch durch psychologische, soziologische, ökonomische und ökologische Analysen erforscht werden. Von anderen Gesundheitswissenschaftlern wird Gesundheit in Anlehnung an die Definition der WHO verstanden als „Zustand des objektiven und subjektiven Befindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich in den physischen, psychischen und sozialen Bereichen ihrer Entwicklung im Einklang mit den eigenen Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet.“ Im Verständnis von Hurrelmann ist Gesundheit ein angenehmes und durchaus nicht selbstverständliches Gleichgewichtsstadium von Risiko- und Schutzfaktoren, das zu jedem lebensgeschichtlichen Zeitpunkt immer erneut in Frage gestellt ist. Gelingt das Gleichgewicht, dann kann dem Leben Sinn und Freude abgewonnen werden, es ist eine produktive Entfaltung der eigenen Kompetenzen und Leistungspotentiale möglich, und es steigt die Bereitschaft, sich gesellschaftlich zu integrieren und zu engagieren. Hurrelmann definiert Gesundheit für das Englische an anderer Stelle als: “Health is composed of physical, psychological, and social aspects which influence each other reciprocally. Health is closely connected to individual and collective value systems and behaviour patterns which are manifest in personal life styles. It is a state of equilibrium which must be continuously maintained during the life course.” Pflegewissenschaftliche Definition: Monika Krohwinkel identifiziert Wohlbefinden und Unabhängigkeit als subjektiv empfundene Teile der Gesundheit. „Krankheit und Gesundheit sind ‚dynamische Prozesse‘, die für die Pflege als Fähigkeiten und Defizite erkennbar sind.“ Reinhard Lay hat als Teil des Modells der Gesundheitspflege eine neuere pflegewissenschaftliche Definition von Gesundheit vorgelegt: „Gesundheit bedeutet eine zufriedenstellende Entfaltung von Selbstständigkeit und Wohlbefinden in den Aktivitäten des Lebens.“ Lay versteht Pflege als Gesundheitsförderung. Die Entwicklungspsychologie beschäftigt sich mit subjektiven Gesundheitsdefinitionen von Kindern und Jugendlichen. Deren Begriff von Gesundheit ist abstrakt und wird in negativer Abgrenzung von Krankheit verstanden. Psychische Dimensionen („keine Sorgen haben“) sind jedoch bereits im Jugendalter wichtige Bestandteile des Begriffes von Gesundheit. Historische Definition von der Antike bis ins 19. Jahrhundert: Im Konzept der Humoralpathologie ist Gesundheit Eukrasie (ein Gleichgewicht wohltemperierter Körpersäfte und Temperamente). Soziale Ungleichheit und Gesundheit Sozialepidemiologische Untersuchungen belegen, dass Menschen aus sozioökonomisch besser gestellten Schichten in Deutschland gesünder sind und eine längere Lebenserwartung haben als Menschen, die über geringere Bildung, Einkommen und Berufsstatus verfügen. Es zeigen sich schichtspezifische Unterschiede beim Gesundheits- und Krankheitsverhalten, z. B. Ernährung oder Rauchen, was zu einer gesundheitlichen Ungleichheit, zu Unterschieden in der Mortalität und Morbidität führt. Die Gründe dafür liegen nach Mielck in Unterschieden in den gesundheitlichen Belastungen, z. B. Belastungen am Arbeitsplatz, Unterschieden in den Bewältigungsressourcen, z. B. soziale Unterstützung, und Unterschieden in der gesundheitlichen Versorgung, z. B. Arzt-Patient-Kommunikation. Die Frage nach einem gesunden Leben ist aus der Perspektive der Ungleichheitsforschung nicht nur eine gesundheits-, sondern stets auch eine sozialpolitische und in Bezug zur Gesundheit die „ein hohes Gut, aber keine Ware“ darstellt, auch ethische Frage. Siehe auch Folgen der globalen Erwärmung für die Gesundheit Müttergesundheit Männergesundheit Psychische Gesundheit Quartäre Prävention Literatur Aaron Antonovsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. DGVT-Verlag, Tübingen 1997. Peter Becker: Psychologie der seelischen Gesundheit. Hogrefe, Göttingen 1982. Jürgen Bengel, Regine Strittmatter, Hildegard Willmann: Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert; eine Expertise. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Köln 2001. Ilona Biendarra, Marc Weeren (Hrsg.): Gesundheit – Gesundheiten? Eine Orientierungshilfe. Würzburg 2009. Gro Harlem Brundtland (Hrsg.): Grundrecht Gesundheit. Vision: Mehr Lebensqualität für alle. Campus, Frankfurt 2000. Verena Corazza, Renate Daimler, Andrea Ernst, Krista Federspiel, Vera Herbst, Kurt Langbein, Hans-Peter Martin, Hans Weiss: Kursbuch Gesundheit. Symptome und Beschwerden. Gesundheit und Wohlbefinden. Rhythmen des Lebens. Krankheiten. Untersuchung und Behandlung. Aktualisierte Neuauflage. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, ISBN 978-3-462-03593-3. Josef W. Egger: Gesundheit - Aspekte eines komplexen biopsychosozialen Konstrukts und seine Korrelation zu Optimismus und Glückserleben. In: Psychologische Medizin 21. Jahrgang 2010, Nummer 1, S. 38–48 (PDF; 452 kB). Martin Hafen: Mythologie der Gesundheit – zur Integration von Salutogenese und Pathogenese. Carl Auer-Systeme-Verlag, Heidelberg 2007. Klaus Hurrelmann: Gesundheitswissenschaften. Springer, Heidelberg 1999. Klaus Hurrelmann, Matthias Richter: Gesundheits- und Medizinsoziologie. 8. Auflage. Beltz Juventa, Weinheim 2013. Klaus Hurrelmann, Oliver Razum (Hrsg.): Handbuch Gesundheitswissenschaften. 6. Auflage. Beltz Juventa, Weinheim 2016. Rainer Lutz, Norbert Mark (Hrsg.): Wie gesund sind Kranke? Zur seelischen Gesundheit psychisch Kranker. Hogrefe, Göttingen 1995. Wolfram Schmitt: Gesundheitsbegriff und Gesundheitsbelehrung in der alten Heilkunde. In: Ärzteblatt Baden-Württemberg. Band 8, 1978, S. 1–7. Piet van Spijk: Definitionen und Beschreibung der Gesundheit – ein medizinhistorischer Überblick. Gesellschaft für Gesundheitspolitik SGGP, Zürich 1991. Eberhard J. Wormer und Johann A. Bauer: Neues Großes Lexikon Medizin & Gesundheit, Medizin von A bis Z, Symptome von A bis Z, Labor und Diagnose, Naturheilverfahren, Anti-Aging, Heilpflanzen, Erste Hilfe, Directmedia Publishing GmbH, Berlin 2006, Digitale Bibliothek (Produkt), Band DBS 27, CD-ROM, ISBN 978-3-89853-035-4. Weblinks Bundesministerium für Gesundheit: Aufstellung der wichtigsten Internetseiten zur gesundheitlichen Information gesund.bund.de, zentrales Internetportal zu Gesundheitsfragen des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) Statistisches Bundesamt (Destatis) Themenbereich Gesundheit und Aufsätze aus der Zeitschrift „Wirtschaft und Statistik“. Abgerufen am 16. November 2017 ICF-Klassifikation, Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) Patienteninformation, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) EU-Gesundheitsportal Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Leitbegriffe der Gesundheitsförderung – Online-Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden gesundheit.gv.at – Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs, Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) Einzelnachweise Ethisches Gut Patientenorientierung
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Glaube (Religion)
Der Glaube (auch Glauben; lateinisch fides „Vertrauen, Glaube, Zutrauen“) im Kontext religiöser Überzeugungen ist eine Grundhaltung des Vertrauens in die Lehre einer Religion und der mit ihr verbundenen Personen. Im Gegensatz zum Wissen gründet die Wahrheitsvermutung eines Glaubens nicht auf Logik und Einsicht, sondern allein auf den Aussagen von Autoritäten. Der religiöse Begriff Glaube wird in den verschiedenen Religionen nicht nur unterschiedlich ausgelegt, sondern hat auch in jeder Religion einen anderen Stellenwert. Der Glaube selbst ist kein religiöses Konzept des Judentums, sondern bezieht sich auf die ganze jüdische religiöse Tradition. Statt eines inhaltlich festgelegten Glaubens steht Gerechtigkeit auf der Grundlage der universellen Nächstenliebe und Gleichheit aller Menschen im Mittelpunkt. Gemeinsam ist allen christlichen Strömungen der Glaube, dass alles Seiende durch Gott geschaffen wurde und im Dasein gehalten wird. Zentral im christlichen Glauben ist die Bejahung Gottes und seiner Autorität. Der Glaubensinhalt wird in der Dogmatik und in christlichen Glaubensbekenntnissen festgehalten, deren Glaubensinhalte sich in einigen Punkten unterscheiden. Bereits im Koran wird eine wichtige Unterscheidung getroffen, nämlich zwischen der Annahme des Islams (islām) und der Annahme des Glaubens (īmān). An derartige Aussagen knüpft sich die Vorstellung, dass derjenige, der den Islam angenommen hat, also ein Muslim ist, nicht unbedingt ein „Gläubiger“ (mu'min), sein muss. Was genau zum islamischen Glauben (Īmān) gehört, ist zwischen den verschiedenen theologischen Schulen des Islams umstritten. Der Sikhismus betont die Einheit der Schöpfung, einen gestaltlosen Schöpfergott und Gottvertrauen. Das zentrale Ziel ist es religiöse Weisheit für den Alltag nutzbar zu machen und nicht die Einhaltung unumstößlicher religiöser Dogmen. Im Buddhismus bedeutet Glaube, die Lehren des Buddha als wahr anzuerkennen, noch ehe ihr Wahrheitsgehalt durch die eigenen Erfahrungen bestätigt werden kann. Dieses Konzept ist ein wichtiger Bestandteil sämtlicher buddhistischer Traditionen, auch wenn dieser Glaube in einzelnen Schulen dann unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Vertrauen und Weisheit sind gleichermaßen wichtig. Der buddhistische Glaube grenzt sich somit vom „blinden Glauben“ ab. Im Baháʼí-Glauben sind sowohl Glaube als auch Wissen für spirituelles Wachstum erforderlich. Wortbedeutung Das deutsche Wort Glaube, von mittelhochdeutsch gloube/geloube aus althochdeutsch giloubo, gehört wie glauben (in früherer Bedeutung „gutheißen“ aus der Grundbedeutung „sich etwas lieb/vertraut machen“), dem Faktitiv zu lieb zu indogermanisch lub-/lewbʰ- (‚begehren‘, ‚lieb haben‘, ‚für lieb erklären‘, ‚gutheißen‘, ‚loben‘). Das Wort wird in dem hier behandelten Sinn verwendet als Übersetzung des griechischen Substantivs πίστις pistis mit der Grundbedeutung „Treue, Vertrauen“. Das zugehörige Verb lautet πιστεύω pisteúō „ich bin treu, vertraue“ (πιστεύειν pisteúein, „treu sein, vertrauen“). Ursprünglich gemeint war also: „Ich verlasse mich auf …, ich binde meine Existenz an …, ich bin treu zu …“. Das Wort zielt demnach auf Vertrauen, Gehorsam (vergleiche: Gelöbnis, Verlöbnis), Treue. Die Fügung „glauben an Gott“ etablierte Martin Luther. Das lateinische Wort credere (vgl. Credo und Kreditor) – von cor dare: „das Herz geben/schenken“ – ist direkt verwandt mit der altindischen Wurzel sraddha- („glauben“) und ist eine sehr alte (indogermanische) Verbalkomposition. Die Bestandteile bedeuten: „Herz“ und „setzen, stellen, legen“, zusammen also etwa „sein Herz (auf etwas) setzen“. Das unbestimmte „ich weiß nicht“ entspricht hingegen dem lateinischen Wort putare („glauben, dass“). Im Hebräischen gibt es die Vokabel aman: sich an etwas festmachen. Die Vokabel aman mit der Schreibung „Aleph-Mem-Nun“ wird nur in der Stammesmodifikation des Hif'il (Aussprache „hä’ämin“) mit dem Wort „glauben“ übersetzt. Diese Stammesmodifikation drückt im Allgemeinen einen kausativen Aspekt der Grundbedeutung aus. Die Grundbedeutung, die auch im ursprünglich hebräischen Wort Amen (vgl. auch arabisch „Īmān“) erscheint, ist „fest“ oder „unerschütterlich“, die Bedeutung im Hif'il ist also „jemanden fest sein lassen“. Das arabische Wort Īmān ist das Verbalsubstantiv der IV. Form des Stammes ʾ-m-n, welches auch in anderen semitischen Sprachen das Konzept von Vertrauen und Sicherheit zum Ausdruck bringt (siehe Amen), hat also eine doppelte Bedeutung, nämlich zum einen „Glauben“ im Sinne von „an etwas glauben“, aber auch „beschützen, sichern“. Judentum Die jüdische Religion ist die älteste der monotheistischen abrahamitischen Religionen und wird als ethischer Monotheismus bezeichnet. „Gott ist im Judentum Inbegriff ethischen Wollens.“ Nach dem jüdischen Glauben hat Mose die Zehn Worte (Gebote) vom Gott Israels (JHWH) erhalten. Sie fassen seinen Willen für das Verhalten, ihm und den Mitmenschen, gegenüber zusammen und sind als eine Reihe von Geboten und Verboten (hebr. Mitzwot) von JHWH, im Tanach der Hebräischen Bibel niedergelegt. Diese wurde als Lehre zunächst von den Gelehrten mündlich überliefert und erst von Jehuda ha-Nasi (meist einfach Rabbi genannt) in der Mischna schriftlich fixiert. Die Mischna wiederum bildet die Basis des Talmuds, in welchem Diskussionen von Rabbinern zur Mischna festgehalten wurden. Glaube selbst ist kein religiöses Konzept des Judentums. Eine hebräische annähernde Entsprechung für Glauben im religiösen Sinn ist Emuna (auch: Emunah), was meist unzureichend gemeinhin mit „Glaube“, „Zuversicht“ oder „Vertrauen in Gott“ übersetzt wird. Emuna ('E-mu-na; hebräisch: אמונה) stammt von der hebräischen Wort-Wurzel אמן, von der Amen und die hebräischen Wörter für Treue, Verlässlichkeit, Übung, Künstler, Handwerker u. a. abgeleitet werden. Der deutsche Rabbiner Samson Raphael Hirsch übersetzte es mit „Vertrauensgrund“. Im Judentum wird der positive Wert jener Emuna und der negative Status eines Apikorus (übersetzt mit „Gottesleugner“) beachtet. Emuna wird als angeboren und als Überzeugung und Erkenntnis einer tief in der Seele verwurzelten Wahrheit beschrieben. Emuna steht über dem Verstand und dem Gefühl und ist ein jüdisches Erbe von den Vorvätern und -müttern her. Apikorus ist ein jüdischer Begriff aus der Mischna. Er beschreibt eine Person, die nicht an Gott glaubt und die keinen Anteil an Olam Haba, an der zukünftigen Welt, dem Jenseits, hat: Jüdischer Glaube bezieht sich auf die ganze jüdische religiöse Tradition. „Nicht Glauben hat der Ewige von Abraham gefordert.“ (Michael Holzman, in:, S. 157) Statt eines inhaltlich festgelegten religiösen Glaubens steht nach alter – schon weit vorchristlicher – Tradition Gerechtigkeit auf der Grundlage der universellen Nächstenliebe und Gleichheit aller Menschen im Mittelpunkt, was auch im liberalen Judentum bewahrt bleibt: „Das Judentum ist nicht nur ethisch, sondern die Ethik macht sein Prinzip, sein Wesen aus.“ Der jüdische Gelehrte Franz Rosenzweig drückte es sehr einfach aus: In dieser Form ist der jüdische „Glaube“ ausgedrückt in: Gerechtigkeit und Liebe (Gottesliebe, Nächstenliebe, Feindesliebe), Tat und Erinnerung, in Freiheit zum Schutz des Lebens. Das gegenwärtige Judentum, das diese Traditionen des ethischen Monotheismus bewahrt und anpasst, wird das rabbinische Judentum genannt. Dieses umfasst die Traditionen in der Neuzeit und im Mittelalter und umfasst die Vielfalt seiner Strömungen. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang von jüdischen Glaubensprinzipien gesprochen, jedoch existiert im Judentum kein allgemeingültiger, zwingend geforderter Glaube, kein Credo. Das rabbinische Judentum hat den antiken Macht- und Hoheitszentralismus der Tempelpriesterschaft viel radikaler abgelegt als das in den christlichen Gemeinden und Kirchen der Fall ist, die „bei sich einen besonderen Priesterstand schufen, an die biblischen Vorschriften über die jüdischen Priester anknüpften“, wie sich auch in den verschiedenen christlichen Dogmatiken zeigt. Rabbiner sind keine Priester und jüdische Traditionen verwalten sich hauptsächlich in demokratischen lokalen Gemeinden. Im Gegensatz zum Christentum oder Islam kann im Judentum jeder persönliche Glaube an den ein-einzigen Gott, das ewige Wesen akzeptiert werden. In der Gegenwart werden gleichwohl verschiedene religiöse Strömungen des Judentums praktiziert, welche die Bedeutung von Überlieferungen unterschiedlich gewichten. Christentum Während der ähnliche Begriff „Religiosität“ die Ehrfurcht vor der Ordnung und Vielfalt in der Welt und die allgemeine Empfindung einer transzendenten (nicht erklär- oder beweisbaren) Wirklichkeit bezeichnet, beinhaltet „Glaube“ im Christentum das Überzeugtsein von einem konkreten Dogma. Christliche Glaubensbekenntnisse gibt es seit dem Entstehen der Kirche. Ein Glaubensbekenntnis, auch als Credo oder Symbolum (latinisiert von griech. Symbolon) bezeichnet, ist eine kurzgefasste, feststehende Zusammenfassung der Glaubensinhalte des Christentums; es wurde in der Regel auf einem kirchlichen Konzil beraten und beschlossen. Das christliche Glaubensbekenntnis gewann in zugespitzten historischen, politischen Verhältnissen etc. nicht selten die Bedeutung eines ‚Glaubenszeugnisses‘, (Martyrium). Das Christentum geht davon aus, dass der Mensch ursprünglich für das Paradies und die Gottesgemeinschaft erschaffen wurde, dass der Tod infolge des Sündenfalls von Adam und Eva über die Menschheit und die ganze Welt hereingebrochen sei. Dieser Sündenfall habe anschließend zur Verbannung aus dem Paradies und zur räumlichen Trennung von Gott zu Lebzeiten geführt. Die Christen glauben außerdem, dass Jesus Christus, der Sohn Gottes durch den Kreuzestod die Strafe für alle Sünder auf sich genommen und damit die Menschheit von dem Sündenfall erlöst hat. Die Gemeinschaft mit Gott sei somit wieder möglich und gehe über den Tod hinaus. Wer in seinem Leben an Jesus Christus glaubt, werde in die neue Welt Gottes (Himmel, Ewigkeit, Herrlichkeit, Licht) aufgenommen. Am Tage des Jüngsten Gerichts werde der Mensch wieder von Gott zum Leben erweckt (Auferstehung) und die Menschen werden nach ihren Taten belohnt oder bestraft. Die Seligen, die Gerechten, die Barmherzigen und Gnädigen gehen in das ewige Leben im Himmelreich ein. Die Feigen aber und Ungläubigen und Frevler und Mörder und Unzüchtigen und Zauberer und Götzendiener und alle Lügner, deren Teil wird in dem Pfuhl sein, der mit Feuer und Schwefel brennt; das ist der Zweite Tod. (Offenbarung des Johannes 21,8). Die vom christlichen Glauben geprägte Lebensführung wird als Frömmigkeit bezeichnet. Christlicher Glaube ist Hinwendung zum christlichen Gott und richtig verstandene Abwendung von sich selbst. Er gilt darum als unvereinbar mit Selbstruhm und dem Vertrauen auf eigenes Tun . In dieser antwortenden Hinwendung des christlichen Gläubigen liegt zugleich ein aktives, nach außen und anderen Menschen zustrebendes Moment. Der christliche Glaube kann und will zur tätigen Liebe bewegen, und zwar gegenüber den Nächsten wie gegenüber sich selbst. Der Glaubensbegriff wandelt sich in seiner Bedeutung innerhalb der christlichen Bibel. Eine mögliche Definition nimmt der neutestamentliche Autor des Hebräerbriefs vor: Für gläubige Christen gilt christlicher Glaube als keine antike oder mittelalterliche Vorstufe vom Wissen, sondern etwas vom Wesen her anderes. Damit ist auch kein bloßes Für-wahr-Halten, auch keine Vermutungsäußerung gemeint. Dann hieße es so viel wie: ‚Ich traue dir, ich vertraue dir, ich kann auf dich bauen. Ich habe eine Gewissheit, die weniger aus Berechnungen und Experimenten kommt.‘ Theologisch unterscheidet man den Glaubensakt, , einerseits, den Glaubensinhalt, , andererseits. Der Glaubensinhalt wird in den christlichen Glaubensbekenntnissen zum Ausdruck gebracht und in der Dogmatik systematisch dargelegt und theologisch untersucht. Zentral geht es beim christlichen Glauben um eine Bejahung Gottes und seiner Autorität: „Es gehört gerade zur Wahrheit des Glaubens, Gott aufgrund seiner Selbstmitteilung so zu denken, wie er ist.“ Gemeinsam ist quasi allen christlichen Strömungen der Glaube, dass alles Seiende durch Gott geschaffen wurde und im Dasein gehalten wird. Im Mittelpunkt dieser Schöpfung steht der Mensch, der aber nicht aus eigener Kraft zum Guten fähig ist (Erbsünde) und der Liebe sowie Gnade Jesu Christi bedarf, um gerettet zu werden und ewiges Leben zu erlangen. Jesus Christus ist nach der christlichen Glaubenslehre der Mensch gewordene Sohn Gottes. Die drei Personen der christlichen Gottheit, Gott der Sohn, Gott der Vater und Gott der Heilige Geist, sind dreieinig. Grundlage des Glaubens ist die Heilige Schrift der Bibel, die als von Gott inspiriert angesehen wird. Biblische Texte sind interpretationsbedürftig. Zwischen vielen Stellen, die mehr implizit zur Deutung des Glaubensbegriffs verwendbar sind, wird folgende besonders explizite Formulierung häufig diskutiert: „Es ist aber der Glaube das feste Vertrauen auf das Erhoffte, ein Überzeugtsein von dem, was man nicht sieht.“ (Hebr 11,1) Das hier mit „Überzeugtsein“ wiedergegebene griechische ἔλεγχος élegchos (elenchos) bedeutet auch so viel wie Gegenbeweis, Widerlegung oder „Überführtsein“. In diesem Sinne wird hier wohl gesprochen von einem Überführtwerden wider äußeren Anscheins. Glaube in der Bibel Altes Testament Das Christentum verehrt vor allem Abraham für seinen unerschütterlichen Glauben an Gott . Christen verstehen Abraham so, dass er damals den im ganzen Vorderen Orient bekannten Gott El verehrte, der als der Schöpfer des Alls, als der höchste Gott über allen Göttern galt und unter mancherlei Zunamen: als Höchster, als der Ewige, als der Mächtige, als der Allsehende an den verschiedensten Orten angebetet wurde. Er verehrte ihn auch als seinen Familiengott, als seinen persönlichen Gott, der so für seine Nachfahren zum Gott Abrahams und zum Gott Israels wurde und auch im Christentum eine neue Bedeutung gewann. Laut Auslegung des Alten Testaments, ist von einem Glauben an das Jenseits bei Abraham jedoch noch nicht die Rede. Ebenfalls ist nicht anzunehmen, dass Abraham die Existenz anderer Götter bestritt. Von diesem Gott El wusste er sich ganz persönlich angerufen. Sein Glaube sah dahingehend aus, dass er mit einer Verheißung beschenkt wurde. El stellte ihm Nachkommenschaft und Land in Aussicht. Ein Erklärungsansatz sieht so aus, dass der Halbnomade Abraham, nur „die Himmel“, als eine symbolische Entsprechung seines Gottes, der sich allenthalben über ihm wölbt, als seine ständige Begleitung ansah. Er vertraute sich nicht den Göttern irgendeines Landes an, sondern nur dem Gott, dem alle Lande gehören; nicht einem Ortsgott, sondern seinem Gott, der mit ihm geht und ihn persönlich kennt, ihm nahe ist von Ort zu Ort. Abraham wurde um der Zukunft willen, die ihm der Glaube verhieß, zum Heimatlosen, und fand seine Heimat gerade in der Treue zu seinem Gott. Neues Testament Biblische Autoren kennen keine besondere intellektuelle Befähigung als Voraussetzung, um zum christlichen Glauben zu kommen und diesen zu entwickeln. Texte wie oder betonen, dass der Glaube jedem offenstehe und die Gottesexistenz durch die Schöpfung bezeugt wird. Schreiber des Neuen Testaments (etwa ) betonen des Öfteren, dass Gott die Rechtfertigung durch den Glauben bewirkt, dass Christus die Erlösung vollbracht hat und damit die Gerechtsprechung durch Gott gegeben sei (und der Erlangung von Verheißungen wie ewigen Lebens). Da Christus das Gesetz bis zum Tode erfüllt hat, ist der Glaube an sein Werk bedeutend und nicht die eigene Erfüllung des Gesetzes. Denn kein Mensch ist aufgrund der Sünde fähig, die Gesetze Gottes vollständig und dauernd zu halten. Der Glaube ist eine feste Zuversicht und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. Die fünf natürlichen Sinne des menschlichen Körpers (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen) sind für die Wahrnehmung der Umgebung geschaffen, während der Glaube nicht daran zweifelt, was man nicht sieht. Der Glaube ist eine Kenntnisnahme, ein Notiznehmen der biblischen Offenbarung. Deshalb ist das Studium der Bibel eine gute Grundlage. Aus dem Erkennen der Glaubensinhalte soll ein Anerkennen folgen. Deshalb ist ein persönlicher Willensentschluss zur Anteilhabe erforderlich. Daraus folgt ein persönliches Vertrauen. Letztendlich ist biblischer Glaube immer auch auf göttliche Offenbarung gegründet und damit ein Werk Gottes im Menschen . Vorbilder im Glauben werden in genannt. Nach Paulus von Tarsus ist Glaube (neben der Hoffnung und der Liebe) eine der drei christlichen Tugenden. Glaube und Evangelische Konfession Besonders in der christlich-protestantischen Theologie wird nach Karl Barth oft Glaube gegen Religion abgegrenzt. Barth sah Religion als eigenmächtigen Weg des Menschen zu Gott an und betonte, eine Erkenntnis des Willens Gottes gebe es nur im Glauben an Jesus Christus. Das Hören auf das Evangelium sprenge alle menschlichen Begriffe von Gott, alle ethischen Irrwege. Dietrich Bonhoeffer übernahm diese Unterscheidung und radikalisierte sie in seiner Frage nach einem Christentum ohne Religion. Angesichts der grundsätzlich positiv gesehenen „mündig gewordenen Welt“, des Verlusts des „religiösen Apriori“, von Innerlichkeit, Gewissen und klassischer Metaphysik habe Barth Bonhoeffers Ziel war es dagegen, den Kern der Glaubenshaltungen im Rahmen der kirchlichen Tradition herauszustellen, den er nicht in Aussagen über einen Jenseitsgott sieht, sondern in Praxis und deren Begründung in Ethik, alt- und neutestamentlicher Geschichte und Mythologie sowie mystischer Erfahrung (als ästhetisches Bewusstwerden von Grundeinstellungen, nicht übersinnliche Erfahrung). Gerhard Ebeling betonte wie Barth die kritische Kraft des Glaubens gegen religiöse Festlegungen und Sicherheiten, sah aber Religion als Lebensbedingung des Glaubens an. In der Zeit nach der Machtergreifung Lenins in Russland 1917 empfanden prominente Christen (wie Nikolai Berdjajew, Fedor Stepun, Alexander Solschenizyn, Konrad Adenauer, Heinrich Krone, Robert Schuman, Hans Lukaschek, Gerhard Möbus und Helmut Serrand) den christlichen Glauben als „Bollwerk gegen den Kommunismus und Nationalsozialismus“ an. Islam Der Islam ist eine monotheistische Religion, die im frühen 7. Jahrhundert n. Chr. gegründet wurde und mit über 2 Milliarden die Weltreligion mit der zweitgrößten Mitgliederzahl. Bereits im Koran wird eine wichtige Unterscheidung getroffen, nämlich zwischen der Annahme des Islams (islām) und der Annahme des Glaubens (īmān). So werden im Koran z. B. die arabischen Beduinen aufgefordert, nicht zu sagen, „Wir haben den Glauben angenommen“, sondern „Wir haben den Islam angenommen“, weil der Glaube noch nicht in ihre Herzen eingegangen sei. An derartige Aussagen knüpft sich die Vorstellung, dass derjenige, der den Islam angenommen hat, also ein Muslim ist, nicht unbedingt ein „Gläubiger“ (mu'min), sein muss. Was genau zum islamischen Glauben gehört, ist zwischen den verschiedenen theologischen Schulen des Islams umstritten. Nach dem Gabriel-Hadith in der auf ʿUmar ibn al-Chattāb zurückgeführten Version umfasst der Glaube insgesamt sechs Punkte, nämlich den Glauben an 1. Gott, 2. seine Engel, 3. seine Bücher, 4. seine Gesandten, 5. den Jüngsten Tag und 6. die Vorherbestimmung, und zwar sowohl die gute als auch die schlechte. Mit Ausnahme der Vorherbestimmung werden alle diese Punkte auch in dem Koranwort in Sure 4:136 erwähnt: In einer Parallelversion des Gabriel-Hadith, die auf Abū Huraira zurückgeführt wird, besteht der Glaube nur aus fünf Punkten, nämlich dem Glauben 1. an Gott, 2. an seine Engel, 3. an die Begegnung mit Gott, 4. an seine Gesandten und 5. an die Auferstehung. Genauere Beschreibungen der Glaubenslehren der unterschiedlichen islamischen Richtungen sind in verschiedenen Glaubensbekenntnissen festgehalten, die die wichtigsten Glaubensartikel in Form von Listen katechismusartig zusammenfassen. Die erste Säule des islamischen Glaubensbekenntnisses, die Schahāda (), lautet wie folgt: Mit dieser aus zwei Teilen bestehenden Glaubens-Formel bekennt sich der Muslim eindeutig zum Monotheismus, zu Mohammeds prophetischer Sendung und zu dessen Offenbarung, dem Koran, und somit zum Islam selbst. Sikhismus Der Sikhismus ist eine im 15. Jahrhundert n. Chr. in Indien entstandene monotheistische Religion mit rund 25 bis 27 Millionen Sikhs (wörtlich Schüler), wovon die Mehrheit in Indien lebt. Der Glaube der Sikh betont die Einheit der Schöpfung und einen gestaltlosen Schöpfergott – der weder Mann noch Frau ist – sowie das Gottvertrauen. Das zentrale Ziel ist es religiöse Weisheit für den Alltag nutzbar zu machen und nicht die Einhaltung religiöser Dogmen. Das Glaubensbekenntnis ist im heiligen Buch Guru Granth Sahib festgehalten. Das Praktizieren der drei Grundprinzipien, Rezitation/Chanten und Meditation (Naam Japo/Naam Simran), die harte und aufrichtige Arbeit (Kirat Karo) und das teilen mit den weniger Begünstigten der Gesellschaft (Wand Chakko), stehen im Mittelpunkt. Der Guru Granth Sahib, beginnt mit dem „Wurzel-Mantra.“ (Mul Mantar) dem Glaubensbekenntnis: Baháʼí Das Bahaitum ist eine weltweit verbreitete und universale Religion, die Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet wurde. Im Bahaitum bedeutet Glaube erstens bewusstes Wissen und zweitens die Ausübung guter Taten, letztlich die Akzeptanz der göttlichen Autorität der Manifestationen Gottes. Nach Ansicht der Religion sind sowohl Glaube als auch Wissen für spirituelles Wachstum erforderlich. Glaube beinhaltet mehr als äußerlichen Gehorsam gegenüber dieser Autorität, sondern muss auch auf einem tiefen persönlichen Verständnis der religiösen Lehre beruhen. Der Glaube der Baháʼí basiert auf dem Prinzip, dass das Leben des Menschen von zwei Zielen geprägt ist, die wechselseitig aufeinander wirken: die eigene geistige und intellektuelle Entwicklung zu fördern und zum konstruktiven Wandel der Gesellschaft beizutragen. Mandäer Die Mandäer sind Angehörige einer monotheistischen Religionsgemeinschaft. Der Mandaismus weist als eine vorchristliche Religion Gemeinsamkeiten mit dem Zoroastrismus und dem Judentum auf. Der Glaube ist von einem stark dualistisch gefärbten Monotheismus, von strengen Reinheitsvorschriften, einer komplexen Mythologie und der Ablehnung von Askese geprägt. Der synkretistische Glaube der Mandäer enthält jüdische, christliche und gnostische Elemente. Buddhismus Der Glaube im Buddhismus (Pali: saddhā, Sanskrit: śraddhā) bezieht sich auf ein gelassenes Vertrauen in die Praxis der Lehre des Buddha und auf das Vertrauen in erleuchtete oder hochentwickelte Wesen wie Buddhas oder Bodhisattvas (diejenigen, die danach streben, ein Buddha zu werden). Shraddha bedeutet im Buddhismus, die Lehren des Buddha als wahr anzuerkennen, noch ehe ihr Wahrheitsgehalt durch die eigenen Erfahrungen bestätigt werden kann. Dieses Konzept des Glaubens ist ein wichtiger Bestandteil sämtlicher buddhistischer Traditionen, auch wenn dieser Glaube in einzelnen Schulen dann unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Vertrauen und Weisheit sind gleichermaßen wichtig auf dem Weg zur Befreiung. Der buddhistische Glaube grenzt sich somit vom „blinden Glauben“ ab. In erster Linie bezieht sich das Vertrauen auf die dreifache Zuflucht (Buddha, Dharma und Sangha). Buddhisten erkennen in der Regel mehrere Glaubensinhalte an, viele sind aber gleichzeitig einem bestimmten Glaubensinhalt, etwa einem bestimmten Buddha, besonders zugetan. Im frühen Buddhismus konzentrierte sich der Glaube auf die dreifachen Kostbarkeiten, d. h. auf Gautama Buddha, seine Lehre (den Dharma) und die Gemeinschaft der spirituell entwickelten Anhänger oder die klösterliche Gemeinschaft, die nach Erleuchtung strebt (die Sangha). Ein treuer Anhänger wurde Upāsaka oder Upāsika (Laienanhänger) genannt, wofür keine formale Erklärung erforderlich war. Im frühen Buddhismus wurde die persönliche Verifizierung bei der Erlangung der Wahrheit am höchsten bewertet, und heilige Schriften, Vernunft oder der Glaube an einen Lehrer wurden als weniger wertvolle Quellen der Autorität angesehen. So wichtig der Glaube auch war, so war er doch nur ein erster Schritt auf dem Weg zu Weisheit und Erleuchtung und wurde auf der letzten Stufe dieses Weges obsolet oder neu definiert. Der Glaube an den Buddhismus bedeutet zwar nicht „blindes Vertrauen“, aber die buddhistische Praxis erfordert dennoch ein gewisses Maß an Vertrauen, vor allem in die spirituelle Verwirklichung des Gautama Buddha. Der Glaube im Buddhismus basiert auf dem Verständnis, dass der Buddha ein erwachtes Wesen ist, auf seiner überragenden Rolle als Lehrer, auf der Wahrheit seines Dharma (spirituelle Lehren) und auf seiner Sangha (Gemeinschaft von spirituell entwickelten Anhängern). Der Glaube im Buddhismus lässt sich als Glaube an die Drei Kostbarkeiten zusammenfassen: Buddha, Dharma und Sangha. Er soll zum Ziel der Erleuchtung (bodhi) und des Nirwana führen. Freiwillig bedeutet Glaube einen entschlossenen und mutigen Akt des Willens. Er verbindet den festen Entschluss, etwas zu tun, mit dem Selbstvertrauen, dass man es tun kann. Glaubensunterschiede und Philosophie Religionsphilosophie Der Philosophieprofessor Peter Boghossian argumentiert, dass Vernunft und Beweise der einzige Weg sind, um festzustellen, welche „Behauptungen über die Welt wahrscheinlich wahr sind“. Verschiedene religiöse Traditionen stellen unterschiedliche religiöse Behauptungen auf, und Boghossian behauptet, dass der Glaube allein Konflikte zwischen diesen Behauptungen ohne Beweise nicht lösen kann. Als Beispiel nennt er den Glauben der Muslime, dass Mohammed (der im Jahr 632 starb) der letzte Prophet war, und den widersprüchlichen Glauben der Mormonen (Heiligen der Letzten Tage) dass Joseph Smith (1805–1844) ein Prophet war. Boghossian behauptet, dass der Glaube keinen „eingebauten Korrekturmechanismus“ hat. Als Beispiel für Tatsachenbehauptungen führt er den Glauben an, dass die Erde 4.000 Jahre alt ist. Da es nur den Glauben und keine Vernunft oder Beweise gibt, gibt es seiner Meinung nach keine Möglichkeit, diese Behauptung zu korrigieren, wenn sie unzutreffend ist. Boghossian plädiert dafür, den Glauben entweder als „Glauben ohne Beweise“ oder als „vorgeben, Dinge zu wissen, die man nicht weiß“ zu betrachten. Fideismus (vom lateinischen „Glaube“) ist eine religionsphilosophische Erkenntnislehre, wonach sich Glaube und Vernunft prinzipiell ausschließen und dennoch – wider die Vernunft – am religiösen Glauben festzuhalten sei. Dem Glauben wird also ein absoluter Vorrang vor der Vernunft beigemessen. Der Fideismus wurde von der katholischen Kirche offiziell verworfen, spielt aber in der evangelischen Tradition eine wichtige Rolle. Als Gegenbegriff zum Fideismus kann der Rationalismus betrachtet werden, wonach alle (auch religiöse) Erkenntnis für die menschliche Vernunft zugänglich ist. Wichtige Vertreter einer fideistischen Religionsphilosophie sind unter anderem der antiker christliche Schriftsteller Tertullian (* nach 150 – nach 220) (entsprechend dem ihm zugeschriebenen geflügelten Wort Credo, quia absurdum est) und in der evangelischen Tradition Martin Luther (Vernunft als Hure), Sören Kierkegaard (der absurde Sprung in den Glauben, Glaube als existentielles Wagnis) und der Schweizer evangelisch-reformierter Theologe Karl Barth (1886–1968). Auch Wittgenstein, einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, wird des Öfteren als Fideist verstanden. Die philosophische Apologetik gründet sich stark auf Vernunft und insbesondere der Logik. In dieser Form der Apologetik wird nicht primär das Christentum verteidigt, sondern ein logischer, vernunftgemäßer Glaube dargestellt und abgesichert bzw. für die Vernünftigkeit des Monotheismus argumentiert. Vertreter sind insbesondere Augustinus von Hippo, Thomas von Aquin, Norman Geisler, C.S. Lewis, Wolfhart Pannenberg, William Lane Craig und Ravi Zacharias. Die pascalsche Wette (oder Pascal’sche Wette) ist Blaise Pascals (1623–1662) berühmtes Argument für den Glauben an Gott. Pascal argumentiert, es sei stets eine bessere „Wette“, an Gott zu glauben, weil der Erwartungswert des Gewinns, der durch Glauben an einen Gott erreicht werden könne, stets größer sei als der Erwartungswert im Fall des Unglaubens. Unterschiede zwischen Christentum und Judentum Obgleich das Christentum einst aus dem Judentum hervorging und die jüdische Bibel in seine heiligen Schriften integrierte, bleibt der christliche Glaube vom Judentum unterscheidbar. Yecheskel Kaufmann von der Hebräischen Universität in Jerusalem fasste dies so zusammen: In der kirchlichen Glaubenslehre verliert die Ethik „(..) den zentralen Platz, den sie im Judentum gehabt hatte (..) die völlige Gefangenschaft des Menschen, die Ursünde, die ihn umfaßt, (..) wird (..) zum Wesen der [christlichen] Religion (..) ein geschlossenes System des Glaubens, in ihm ist der Unterschied zwischen Judentum und Christentum enthalten.“ (Leo Baeck in:, S. 67–69 „II. Abweichungen der christlichen Religionen vom Judentum in den Grundgedanken.“) „Das Judentum hat die Menschwerdung der Gottheit aufs entschiedenste abgelehnt.“ (Seligman Pick in:, S. 109) „Dem Judentum ist die christliche [Glaubens-]Lehre vom ‚Gottessohn‘ immer als ein unversöhnlicher Widerspruch mit dem Monotheismus erschienen.“ (Seligman Pick in:, S. 74) „Der strenge Monotheismus des Judentums hat den heiligen Geist [ruach hakkodesch] nicht zur Gottheit (zur göttlichen Person) emporgehoben.“ (Seligman Pick, in:, S. 87) Das Christentum hat seinen Glauben an die drei göttlichen Personen ihrer dreieinigen, dreiteiligen Gottheit „(..) und ist dabei von der Absicht erfüllt, die Einheit Gottes zu retten. (..) Das Judentum lehrt (..) in seinen Schriften den einzigen Gott, den strengsten Monotheismus.“ (S. Pick, in:, S. 94) Unterschied zwischen dem evangelischen und dem katholischen Glauben Ein wesentlicher Streitpunkt unter den christlichen Konfessionen ist seit der Reformation die Frage, ob der Mensch vor Gott durch seinen Glauben allein gerechtfertigt werde, wie insbesondere Martin Luther es betont hat, oder ob dazu auch die guten Werke nötig seien, weil Glaube ohne Werke tot sei, wie es im Katholizismus unterstrichen wird. Nach allgemein christlicher Überzeugung ist der Glaube die persönliche Antwort auf Gottes bzw. Jesu Wort. Dabei geschieht diese Antwort immer in der Gemeinschaft aller Glaubenden und stellvertretend für alle Menschen. Uneinigkeit besteht in der Frage, ob die volle Wirklichkeit des Glaubens sich im Herzen des Einzelnen vollzieht (so die meisten evangelischen bzw. protestantischen Denominationen) oder ob der Glaube der Kirche ontologische Priorität hat (so die katholische Lehre mit ihren „Glaubenswahrheiten“). Wissenschaftliche Erklärung religiöser Glaubensphänomene Scott Atran verfolgt in seinem Werk In Gods We Trust einen darwinistischen Ansatz. Die darwinistische Glaubensforschung sieht den Glauben nicht als anerzogen, sondern als im Bewusstsein des Menschen evolutionär verankert. Die Fähigkeit zu Religiosität und Glaube wird dabei beispielsweise als evolutionäres Nebenprodukt erklärt, es werden aber auch mögliche Selektionsvorteile untersucht. Justin Barrett dagegen sieht in einer evolutionspsychologischen Herangehensweise die Religiosität nicht als überlebenswichtige Strategie von Gemeinschaften, sondern als ein Entwicklungsstadium der menschlichen Psyche. Experimente zeigen, dass nicht nur Menschen, sondern auch andere Tierarten Verhaltensweisen entwickeln können, die als Glaube beziehungsweise Aberglaube gedeutet werden können. Beispielsweise beweist das Experiment Die abergläubische Ratte dass Religiosität evolutionär angelegt ist. Glaube in den Medien Für meinen Glauben ist ein Schweizer Fernsehfilm von Jacob Berger. Die Erstaufführung war am 28. November 2018. Die Handlung dreht sich um die Studentin Anaïs, ihre Hinwendung an einen radikalen Islam und den Umgang ihrer Familie damit. Siehe auch Aberglaube Literatur Klaus Möllering (Hrsg.): Wo mein Glaube zu Hause ist – Eine Heimatkunde für Himmelssucher, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2006, ISBN 3-374-02362-2. Christof Gestrich: Glaube und Denken. In: Theologische Realenzyklopädie. Band 13, S. 365–384. Andreas G. Weiß: Glaubensdämmerung. Was wir glauben, wenn wir glauben, Tübingen 2020, ISBN 978-3-7496-1023-5. Gunda Werner-Burggraf: Macht Glaube glücklich?: Freiheit und Bezogenheit als Erfahrung persönlicher Heilszusage. Verlag Pustet, 2005, ISBN 3-7917-1981-5. Jörg Disse: Glaube und Glaubenserkenntnis: Eine Studie aus bibeltheologischer und systematischer Sicht. Frankfurt a. M. 2006, ISBN 978-3-7820-0890-7. Andreas Grünschloß u. a.: Glaube. 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Religionspsychologie Glaubenspraxis Buddhismus Islam cs:Víra el:Πίστη hr:Vjerovanje hu:Hit (vallás) zh:信念
1798
https://de.wikipedia.org/wiki/Hermetic%20Order%20of%20the%20Golden%20Dawn
Hermetic Order of the Golden Dawn
Der Order of the Golden Dawn, besser bekannt als Hermetic Order of the Golden Dawn (Hermetischer Orden der Goldenen Dämmerung, kurz Golden Dawn), war eine magische Geheimgesellschaft. Sie wurde am 12. Februar 1888 von William Robert Woodman, Samuel Liddell MacGregor Mathers und William Wynn Westcott in England gegründet. Am 1. März 1888 erfolgte die offizielle Eröffnung des Isis-Urania Tempels No. 3 in London. Der Orden bestand bis 1900/1903 und zerfiel dann wegen innerer Streitigkeiten in diverse Nachfolgeorganisationen. Bekannte Mitglieder des Ordens waren unter anderem Aleister Crowley, Arthur Machen, Pamela Colman Smith, Arthur Edward Waite und William Butler Yeats. Im Gegensatz zur Theosophischen Gesellschaft, die sich zunehmend an östlichen Weisheitslehren orientierte, verstand sich der Golden Dawn als Fortführung der westlichen Mysterien, insbesondere der Tradition der Rosenkreuzer. Als esoterisch arbeitender Orden wurde er zum Prototyp ähnlicher Organisationen. Viele der modernen magischen oder esoterischen Strömungen wie Wicca und Thelema können bis zu diesem Orden zurückverfolgt werden. Geschichte Alle drei Gründer – Westcott, Woodman und Mathers – waren sowohl Freimaurer als auch Rosenkreuzer der Societas Rosicruciana in Anglia. Westcott und Mathers gehörten außerdem der von Anna Kingsford gegründeten Hermetic Society in London an. Das Cipher Manuscript Die Grundlagen der Lehren des Golden Dawn entnahm man dem sogenannten Cipher Manuscript, das der Ordenslegende nach unter obskuren Umständen von A.F.A Woodford entdeckt worden sein soll. Es war in einem Alphabet verfasst, das einer überlieferten Geheimschrift von Abt Trithemius ähnlich ist, und konnte daher von Westcott entschlüsselt werden. Das Manuskript enthält in skizzierter Form fünf Initiationsrituale, sowie entsprechendes Lehrmaterial, u. a. die bisher geheimen Zuordnungen des Tarots zu den hebräischen Buchstaben. Ferner soll sich auf einer der Seiten die Kontaktadresse einer gewissen Soror Sapiens Dominabitur Astris (Anna Sprengel), einer hohen Adeptin der Rosenkreuzer aus Deutschland, befunden haben. William Wynn Westcott will von ihr die Erlaubnis zur Gründung des Golden Dawn in the Outer (des äußeren Ordens der Goldenen Dämmerung) erhalten haben. Schließlich beauftragte Westcott Mathers, die Ritualskizzen zu arbeitsfähigen Ritualen auszuarbeiten. Wachstum Der Eröffnung des Isis-Urania Tempels No.3 in London im März 1888 folgten noch im selben Jahr die Gründung des Osiris Tempels No.4 in Weston-super-Mare (Somerset) und des Horus Tempel No.5 in Bradford (Yorkshire). Erst 1893 erfolgte auf Antrag einiger schottischer Mitglieder die Eröffnung des Amen-Ra Tempels No.6 in Edinburgh, gefolgt von der Einweihung des Ahathoor Tempels No.7 in Paris im Januar 1894. Zunächst wurden nur fünf Grade rituell bearbeitet, die in ihrer Gesamtheit den äußeren oder ersten Orden bildeten. Neben der rituellen Arbeit wurde nur theoretisches Grundlagenwissen über die Kabbala, Astrologie, Tarot und Alchemie vermittelt. Einzige Ausnahme war das Kleine Pentagrammritual, das gelehrt wurde, damit sich der Schüler ein erstes Bild von den unsichtbaren Kräften und deren Lenkung machen konnte. Bis Dezember 1891 existierte der zweite oder innere Orden, der die Adeptengrade umfassen sollte, nur administrativ, da es noch keine entsprechenden Initiationsrituale gab. Es wurde lediglich der sogenannte Portalgrad geschaffen, der als Bindeglied zwischen äußeren und inneren Orden fungierte. Rote Rose und goldenes Kreuz Es war Samuel Liddell MacGregor Mathers vorbehalten, diesen zweiten oder inneren Orden, den eigentlichen magischen Orden, zu schaffen, den Ordo Rosae Rubeae et Aureae Crucis (Orden der Roten Rose und des goldenen Kreuzes), auch kurz R.R. et A.C. genannt. Im Herbst 1891 erklärte Mathers, in Paris den Kontakt zu den geheimen Oberen, den Mitgliedern des innersten oder dritten Ordens, hergestellt zu haben. Von einem Frater L.E.T (Lux e tenebris) will er weitere Instruktionen für den Aufbau des zweiten Ordens erhalten haben. Er schuf daraufhin das zentrale Initiationsritual des Ordens, das des Adeptus Minor Grades. Dafür wird die in der Fama Fraternitatis geschilderte Wiederauffindung des verborgenen Grabes von Christian Rosencreutz rituell umgesetzt. Es wird eigens das Gewölbe der Adepten konstruiert, eine begehbare siebenseitige Initiationskammer. Dieses Gewölbe gilt als Widerspiegelung des Universums, unter anderem entsprechen seine farbig bemalten Seiten den sieben Planeten. Darin steht der sogenannte Pastos, ein Sarkophag, in dem der Chefadept während des Rituals liegen wird, um den Ordensgründer Christian Rosencreutz zu verkörpern. Es war Annie Horniman, die im Dezember 1891 als Erste das neue Adeptus Minor Ritual durchlief. War Westcott vorwiegend für Lehrinhalte des äußeren Ordens verantwortlich, verfasste Mathers fast alle wichtigen Instruktionen und Lehrschriften des zweiten Ordens. Gleich nach der Initiation hatte sich der Neophyt Adeptus Minor durch einen Katalog von Instruktionen und Lehrschriften zu arbeiten. Er hatte verschiedene magische Gegenstände herzustellen und zu weihen, unter anderem die vier „Elementarwaffen“ Stab, Kelch, Dolch und Pantakel. Eine andere häufig geübte Technik war das sogenannte Reisen in der Geistvision (Travelling in the Spirit Vision), einer der aktiven Imagination vergleichbaren Methode. Weiter fortgeschrittene Dokumente beschäftigen sich unter anderem mit dem frühneuzeitlichen System der henochischen Engelmagie von John Dee. Neben den offiziellen Lehrschriften zirkulierten zwischen den Mitgliedern des inneren Ordens auch noch die sogenannten Flying Rolls, Abhandlungen und Erfahrungsberichte, die von fortgeschritteneren Mitgliedern geschrieben wurden. Innere Auseinandersetzungen Nach dem Tod von William Robert Woodman im Dezember 1891, dessen Funktion nicht ersetzt wurde, kam es zu einer unterschwelligen Rivalität zwischen Mathers und Westcott, der sich 1897 schließlich ganz von allen administrativen Führungspositionen im Orden zurückzog. Mathers, der seit Mai 1892 überwiegend in Paris lebte und den Orden aus der Distanz leitete, ernannte daraufhin Florence Farr zu seiner Repräsentantin in England. Dies provozierte einige Auseinandersetzungen, da sich einige männliche Mitglieder weigerten, sich einer weiblichen Führung unterzuordnen. Darüber hinaus führte der autoritäre und zugleich inkonsistente Führungsstil von Mathers zu vielfältigen Streitigkeiten. So wurde u. a. Annie Hornimann wegen ihrer anhaltenden Kritik von ihm im Dezember 1896 wegen mangelnder Unterordnung aus dem Orden ausgeschlossen. Rebellion und Unabhängigkeit Einen Höhepunkt erreichten die Streitigkeiten Anfang 1900, als sich die Londoner Adepten weigerten, den exzentrischen Aleister Crowley in den inneren Orden aufzunehmen. In einem persönlichen Brief an seine Freundin Isabella Augusta Gregory erwähnte William Butler Yeats die Gründe, aus denen Crowley abgelehnt wurde: Er meinte, eine mystische Gesellschaft sei schließlich keine Besserungsanstalt. Daraufhin reiste Crowley nach Paris, um sich von Mathers selbst in den Grad des Adeptus Minor einweihen zu lassen, was aber von den Londoner Adepten nicht anerkannt wurde. Florence Farr war Mathers’ Verhalten überdrüssig und bot ihm ihren Rücktritt an. Dieser wollte jedoch nicht darauf eingehen, da er dahinter eine Intrige vermutete, Westcott wieder an die Spitze zu bringen. In einem persönlichen Brief an Farr behauptete er: Westcott habe zu keiner Zeit mit den geheimen Oberen des Ordens in Kontakt gestanden, weder persönlich noch brieflich. Er habe den Briefwechsel entweder gefälscht oder fälschen lassen. Alles Ordensmaterial, sowohl des inneren als auch des äußeren Ordens, stamme allein von ihm. Ausschließlich er allein stehe mit den geheimen Oberen des Dritten Ordens in Kontakt. Dies führte zum offenen Aufruhr der Londoner Adepten, die ein siebenköpfiges Komitee einsetzten, um diese Aussagen ihrem Wahrheitsgehalt nach zu untersuchen. Jedoch weigerte sich Westcott, Stellung zu den Vorwürfen zu beziehen. Nachdem auch Mathers nicht bereit dazu war, in London vor einem Komitee zu erscheinen, das er in keiner Weise billigte, wurde er von seinem Amt entbunden, was einer offenen Rebellion gleichkam. Am 17. April brach Crowley, im Auftrag von Mathers, gewaltsam in die Räumlichkeiten des zweiten Ordens ein und ließ die Schlösser austauschen, um das Gewölbe der Adepten und weiteres Material in seinen Besitz zu bringen. Dies konnte jedoch von Yeats und andern Mitgliedern des inneren Ordens durch gerichtliche Schritte verhindert werden. Mathers und Crowley wurden aus dem Orden ausgeschlossen, wodurch die Spaltung endgültig wurde. Annie Hornimann wurde rehabilitiert und zur Sekretärin ernannt, um das gesamte Material des Ordens neu zu ordnen. Wenige Monate später versammelte Edward Berridge die wenigen Mathers noch loyal gebliebenen Adepten und gründete den Isis Tempel No.11 in London, der später zum Alpha et Omega Tempel No.1 wurde. Morgenröthe Auf einer Zusammenkunft des inneren Ordens am 3. Mai 1902 wurden Percy Bullock, Robert William Felkin und John William Brodie-Innes für ein Jahr als leitende Triade bestätigt. In Folge wurde der äußere Orden in Hermetic Society of the M.R. umbenannt, wobei M.R. für "Morgenröthe" steht. Jedoch scheiterte der Versuch, die Leitung dauerhaft auf eine demokratische Basis zu stellen, an den unterschiedlichen Interessen der Mitglieder. 1903 versuchte John William Brodie-Innes seinen Führungsanspruch durchzusetzen, scheiterte jedoch an Arthur Edward Waite und seiner Fraktion. Trotz mehrfacher Treffen konnte man sich nicht auf eine leitende Triade einigen. Independent and Rectified Rite of the Golden Dawn In dieser Situation übernahmen Waite und seine Fraktion das Gewölbe der Adepten von Isis-Urania No.3 und konstituierten am 7. November 1903 den Independent and Rectified Order R.R. et A.C. als inneren Orden des Independent and Rectified Rite of the Golden Dawn. Waite und seine Fraktion bevorzugten eher die mystische Ausrichtung des Ordens und unterzogen alle Rituale einer ausführlichen Revision. Aus dem Independent and Rectified Rite ging schließlich 1916 das Fellowship of the Rosy Cross hervor. Stella Matutina Der Großteil der verbleibenden, eher magisch orientierten, Mitglieder gründeten daraufhin unter Felkin und Brodie-Innes den Amon Tempel, der zum Haupttempel der Stella Matutina wurde. Auch die Stella Matutina unterzog die Rituale des ursprünglichen Golden Dawn ausführlichen Überarbeitungen, die dadurch eine wesentliche Verbesserung und Erweiterung erfuhren. In der Folgezeit bemühte sich Brodie-Innes darum, den eingeschlafenen Amen Ra Tempel No.6 in Edinburgh wiederzubeleben. Er nahm heimlich Kontakt zu Mathers auf, mit dem er sich wieder versöhnte, und wechselte schließlich zum Alpha et Omega. Lehrinhalte Die Lehrinhalte des Golden Dawn bestanden aus zahlreichen okkulten und mystischen Traditionen, wie Kabbala und Tarot, Astrologie, Alchemie und der henochischen Magie Dees sowie aus magischen Arbeiten mit den Göttern Altägyptens und Griechenlands. Elemente des Christentums und Judentums wurden synkretistisch integriert. Das Gradsystem gliederte sich anfangs in neun, später in elf Grade, die in Zusammenhang mit den kabbalistischen zehn Sephiroth stehen. Viele heutige okkulte Organisationen bedienen sich des Studienmaterials des Golden Dawn. Zum Beispiel in einigen Wicca-Kult-Gruppen werden seine Pentagrammrituale verwendet, die unverändert dem Golden Dawn entstammen. Nachfolgeorganisationen des Golden Dawn Independent and Rectified Rite of the Golden Dawn (von 1903 bis 1914, Waite) Alpha et Omega (ab 1903 bis ca. 1940, Mathers) Stella Matutina (von 1903 bis 1978, Felkin) Von Golden-Dawn-Mitgliedern neu gegründete Organisationen Builders of the Adytum Society of the Inner Light; ehemals Fraternity of the Inner Light In der Tradition des Golden Dawn arbeitende Gruppen Tempel Licht, Liebe und Leben (EOGD-Großtempel des EOGD von Europa, Zürich) Hermetic Order of the Temple of Starlight, Niederlande Hermetischer Orden der Aufgehenden Morgenröte® (HOAM), äußerer Orden der S.e.R+C.F.T. Fraternity of the Hidden Light, Fraternitas L.V.X Occulta (FLO) Hermetic Order of the Golden Dawn (HOGD®), Äußerer Orden des Alpha et Omega®; mit Markenschutz für den Namen Hermetic Order of the Golden Dawn in der Europäischen Union und Kanada Servants of the Light (SOL) Society of the Inner Light; ehemals Fraternity of the Inner Light Splendor Lucis, ein in der Tradition des Golden Dawn arbeitender Orden mit Sitz in der Schweiz Trivia Der Order of the Golden Dawn wurde als Okkult-Forschungsgruppe, die die Thule-Parallelwelt untersucht, und gleichzeitig als Widerstandsbewegung gegen das Dritte Reich in das Computerspiel Wolfenstein (2009) integriert, obwohl weder zeitlich noch inhaltlich Parallelen nachweisbar sind. Im Anime „Black Clover“ gibt es eine Gruppe namens „die goldene Morgendämmerung“, welche Parallelen zur Geschichte aufweist, allerdings nur fiktiv verbunden sind In der Netflix-Serie „Enthüllungen zu Mitternacht“ dreht sich Folge 3 um die „Golden Dawn“ Siehe auch Liste von Ordensnamen aus Golden Dawn und Thelema Literatur Deutsch Ithell Colquhoun: Schwert der Weisheit, MacGregor Mathers und der „Golden Dawn“. Kersken-Canbaz, Bergen 1996, ISBN 3-89423-030-4. Michael D. Eschner: Die geheimen Unterweisungen des hermetischen Ordens der Goldenen Dämmerung. Band 1 und 2. Marco Frenschkowski: Die Geheimbünde. Eine kulturgeschichtliche Analyse (= MarixWissen). 5. Auflage. Marixverlag, Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-86539-926-7. Marcus M. Jungkurth: Die Flying Rolls des Golden Dawn. Kersken-Canbaz, 1986, . Israel Regardie: Elemente der Magie (= Rororo. 8798). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1991, ISBN 3-499-18798-1. Israel Regardie: Das magische System des Golden Dawn. Band 1–3. 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1800
https://de.wikipedia.org/wiki/Georges%20M%C3%A9li%C3%A8s
Georges Méliès
Georges Méliès [] (* 8. Dezember 1861 in Paris; † 21. Januar 1938 ebenda) war ein französischer Illusionist, Theaterbesitzer, Filmpionier und Filmregisseur. Méliès zählt zu den Pionieren der Filmgeschichte und gilt als Erfinder des „narrativen Films“ und der Stop-Motion-Filmtechnik. Leben Marie-Georges-Jean Méliès – dritter Sohn des wohlhabenden Schuhfabrikanten Jean-Louis-Stanislas Méliès und dessen Frau Johannah Catherine Schuering – wurde mit sieben Jahren im Lycée du Prince Impérial eingeschult. Während des Deutsch-Französischen-Krieges folgte 1870 eine Umschulung in das Lycée Louis-le-Grand, wo er 1880 sein Baccalauréat erwarb. Bereits zu dieser Zeit zeigte sich sein künstlerisches Talent. Vom November 1881 bis November 1882 leistete Méliès Militärdienst. Er hoffte anschließend die École des Beaux-Arts besuchen zu dürfen, was ihm sein Vater jedoch untersagte. Um sich auf die Arbeit in der väterlichen Manufaktur vorzubereiten und seine Englischkenntnisse zu verbessern, wurde er 1884 für ein Jahr von seinen Eltern nach London geschickt, wo er für einen Geschäftsfreund seines Vaters arbeitete. Da seine Sprachkenntnisse noch nicht genügten, Vorstellungen im Sprechtheater zu verstehen, besuchte er hier regelmäßig die magischen Vorstellungen in der Egyptian Hall von John Nevil Maskelyne und Méliès entwickelte eine Passion für die Zauberkunst. Nach der Rückkehr 1885 nach Paris trat Méliès als Aufseher über die Maschinen in den väterlichen Betrieb ein. Er entwickelte dabei technisches Geschick, das er neben seiner Arbeit beim Nachbau einiger Automaten des Zauberkünstlers Jean Eugène Robert-Houdin verfeinerte. Méliès begann zu dieser Zeit ebenfalls, magische Tricks einzuüben und absolvierte erste Auftritte im Musée Grévin sowie in der Galerie Vivienne. Im Jahr 1885 heirateten Georges Méliès und Eugénie Genin († 1913). Sein Vater zog sich 1888 aus der Arbeit in der Manufaktur zurück. Méliès verkaufte nun den Teil des möglichen Erbes an die beiden älteren Brüder. Vom Erlös erwarb er das Théâtre Robert-Houdin. Die Geschäfte am Theater gestalteten sich gerade zu Beginn schwierig: Bis 1898 erzielte Méliès keinen Gewinn. Das Programm bestand aus Zaubervorstellungen, kurzen Féerien, Pantomimen und der Vorführung einiger Automaten, die Méliès zusammen mit dem Theater erworben hatte. In den Vorstellungen traten auch bekanntere Zauberkünstler dieser Zeit auf, darunter Buatier de Kolta, der Zwerg La Fée Mab, Duppery und Legris. Zum festen Ensemble gehörte ebenfalls Jeanne d’Alcy, die später in vielen Filmen von Méliès spielte und die er in zweiter Ehe heiratete. Die Brüder Lumière hatten über dem Theater ein Atelier gemietet. Am 28. Dezember 1895 sah Méliès eine der ersten Vorführungen des Cinématographen. Den Verkauf des Apparates an Méliès verweigerten die Brüder Lumière mit der Begründung, der wirtschaftliche Erfolg dieser Erfindung sei unklar und die eigene Verwertung solle solange laufen, wie ein Interesse des Publikums bestehe. Méliès reiste daraufhin nach England, wo er von Robert William Paul einen Projektor, einige Filme von Edison und unbelichtete Negative kaufte. Am 4. April 1896 eröffnete Méliès sein Théâtre Robert-Houdin neu als Kino. Er kaufte bald einen weiteren Projektor und baute den von Paul in eine Kamera um. Zusammen mit den Geschäftspartnern Lucien Reulos und Lucien Korsten ließ Méliès im September 1896 einen Méliès-Reulos-Kinétographen patentieren. Im Sommer 1896 drehte Méliès seinen ersten Film mit dem Titel Une partie de cartes, der einem gleichnamigen Film der Lumières stark ähnelte. Anschließend filmte er zuerst nur kurze Aufnahmen von alltäglichen Szenen, ergänzte sein Repertoire aber bald auch um inszenierte Szenen, den sogenannten scènes composées. Seine Filme zeigte er nicht nur im Théâtre Robert-Houdin, sondern vertrieb sie auch an Jahrmarktskünstler, die sie zusammen mit anderen Attraktionen vorführten. Méliès errichtete 1896 Frankreichs erstes Filmstudio – neben Edisons Black Maria eines der ersten der Welt – auf dem Grundstück seiner Familie in Montreuil in der Nähe von Paris. Das Studio wurde Anfang 1897 eröffnet. Hier entstanden von nun an fast alle seine Filme. Das Studio glich in seinen Maßen dem Théâtre Robert-Houdin und wie dessen Bühne war auch seine mit Falltüren und anderen Mechanismen ausgestattet, um Bühnenillusionen zu erzeugen. Die Wände und das Dach waren wie bei einem Fotoatelier aus Glas gefertigt, um eine ausreichende Beleuchtung der Bühne zu gewährleisten. Bewegliche Jalousien erlaubten es, den Lichteinfall zu beeinflussen. Im Jahre 1905 erweiterte Méliès das Filmstudio. Im Jahr 1897 gründete Méliès die Produktionsfirma Star Film, mit der er bis 1913 über 500 Filme drehte. Zu Beginn war er mit ihnen wirtschaftlich relativ erfolgreich, doch schon bald wurde er von der Konkurrenz und Schwarzkopierern bedroht. Um in Amerika seine Filme besser vertreiben und seine Rechte wahren zu können, eröffnete die Star Film 1903 in New York ein Büro, das von Méliès’ Bruder Gaston Méliès geleitet wurde. In Frankreich erwuchs ihm insbesondere mit der Produktionsfirma Pathé ein starker Konkurrent. Als sich im Jahr 1909 deren Vertriebssystem durchsetzte, bei dem die Filme nicht mehr verkauft, sondern verliehen wurden, waren Méliès’ teuer produzierte Filme den günstigen, schnell und industriell gefertigten Filmen wirtschaftlich nicht mehr gewachsen. Ab 1911 konnte er eigene Filme nur noch im Auftrag der Pathé produzieren, 1913 kam seine Filmproduktion zum Erliegen. Während des Ersten Weltkrieges trat Méliès als Varietékünstler auf; er verlor jedoch sein gesamtes Vermögen. In seiner zweiten Ehe heiratete Georges Méliès im Jahr 1925 Jeanne d’Alcy (Fanny Manieux alias Charlotte Faës). Mit seiner Ehefrau betrieb er bis 1932 einen Spielzeugladen in der Metrostation Montparnasse. Als Filmschaffender war er zu dieser Zeit vergessen, bis 1929 einige seiner Werke auftauchten und Filmjournalisten wieder über ihn berichteten. Ab 1932 ermöglichten andere Filmschaffende ihm und seiner Frau den Aufenthalt in einer Altersresidenz in Orly. Sein Grab liegt auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise. Im Jahr 1947 benannte die neu gegründete französische Filmkritikervereinigung Association Française de la Critique de Cinéma (AFCC) ihren jährlich vergebenen Preis für die beste französische Kinoproduktion nach Méliès. Werk Das Werk von Georges Méliès zeichnet sich durch eine große Vielfalt, Phantasie und technisches Geschick aus. Von der großen Zahl seiner Filme, die er zwischen 1896 und 1913 drehte, sind etwa 200 erhalten. Die Filme stammen aus verschiedenen Genres. Sein bekanntester Film ist wahrscheinlich Le Voyage dans la Lune (Die Reise zum Mond), mit dem er 1902 in Anlehnung an den gleichnamigen Roman von Jules Verne den ersten Science-Fiction-Film schuf. Neben diesen Féeries entstanden auch kurze Dokumentationen ähnlich denen der Brüder Lumière, nachgestellte Ereignisse der Zeitgeschichte und kurze Trickfilme. Üblicherweise wird Méliès die Erfindung des Stopptricks zugesprochen. Dass er diesen entdeckte, als er während einer Aufnahme auf dem Place de l’Opera filmte und seine Kamera stockte, muss aber wahrscheinlich als Legende betrachtet werden. Mit Hilfe des Stopptricks drehte er viele Filme, die an Zauberkunststücke erinnern, wie sie im Théâtre Robert-Houdin gezeigt wurden. Neben diesem bediente er sich auch anderer filmischer Tricks wie Doppelbelichtungen und Modellaufnahmen. Einen wichtigen Platz in seinem Schaffen nehmen sogenannte Aktualitätenfilme ein, in denen er Ereignisse der Zeitgeschichte nachstellte. Unter anderem filmte er eine zwölfteilige Reihe über die Dreyfus-Affäre (L’Affaire Dreyfus, 1899) und inszenierte 1902 die Krönung Eduards VII., bevor diese überhaupt stattfand. Weil Méliès massive finanzielle Probleme hatte und keine Geldgeber für seine Filmprojekte fand, musste er nach 1923 im Anschluss an den Bankrott 1200 Filme als Rohmaterial an die Schuhindustrie verkaufen. Position Die filmgeschichtliche Position der Werke von Méliès zu bestimmen, gestaltet sich schwierig: Klassischerweise unterscheidet die Filmgeschichte Méliès’ inszenierte Stücke von den dokumentarischen Arbeiten der Lumières und sieht hierin den wichtigsten Gegensatz im frühen Film. Diese Unterscheidung wird heute jedoch nicht mehr so scharf gezogen, da auch Méliès zu Beginn hauptsächlich dokumentarisch filmte und die Brüder Lumière ebenfalls kurze Szenen inszenierten. Eine weitere Unterscheidung wird häufig zwischen den primitiven frühen Filmen, wie denen von Méliès, und dem späteren elaborierten Kino nach D. W. Griffith vorgenommen. Méliès’ Filme stehen als Beispiele für ein primitives Kino, das noch keine filmische Sprache mit Schnitten und diversen Aufnahmegrößen kannte. Auch diese Unterscheidung wurde in den letzten Jahren häufig abgelehnt und statt ihrer gefordert, das frühe Kino nicht mit den Begriffen des späteren Narrativen (Erzählerischen) zu untersuchen, sondern es als ein Kino der Attraktionen zu betrachten, welches eigenen ästhetischen Regeln folgte. Rezeption In dem Roman Die Entdeckung des Hugo Cabret (2007) erzählt Brian Selznick eine fiktive Wiederentdeckung des Werks von Georges Méliès durch den Protagonisten Hugo Cabret, wobei gegen Ende Méliès selbst aus seinem Leben und filmischen Schaffen berichtet. Den Roman verfilmte Martin Scorsese im Jahre 2011 unter dem Titel Hugo Cabret, wobei Georges Méliès durch Ben Kingsley dargestellt wurde. Einige Ausschnitte der Filme Le voyage dans la lune, Le voyage à travers l’impossible und L’éclipse du soleil en pleine lune sind im Musikvideo zu Heaven for Everyone von Queen aus dem Jahr 1995 eingearbeitet. Das Video der Band The Smashing Pumpkins zu ihrem Titel Tonight, Tonight (1995) wurde im Stil dieser Méliès-Filme gestaltet. Am Ende des Videos ist ein Schiff mit dem Namen SS Melies zu sehen. Die französische Band Air veröffentlichte 2012 ein Album mit dem Titel Le Voyage dans la Lune, eine Vertonung des gleichnamigen Films von Méliès, auf dessen Cover ein koloriertes Szenenbild aus dem gleichnamigen Film zu sehen ist. Auszeichnungen 1931: Kreuz der Ehrenlegion 2015: postume Aufnahme in die Science Fiction Hall of Fame Filme (Auswahl) Dokumentationen und Verfilmungen 1952: Le Grand Méliès. Regie: Georges Franju 2011: Hugo Cabret. Regie: Martin Scorsese (nach Brian Selznicks Kinderroman Die Entdeckung des Hugo Cabret) 2011: Le voyage extraordinaire. Regie: Serge Bromberg und Éric Lange 2012: Georges Méliès – À la conquête du cinématographie. La Cinémathèque Française/StudioCanal, Paris (3 DVDs und Begleitbuch) 2012: Georges Méliès – Die Magie des Kinos. Arthaus/Kinowelt (2 DVDs und Begleitbuch in Deutsch) 2020: Das Geheimnis Georges Méliès. (Le Mystère Méliès.) Steamboat Films, Lobster Films und Arte (TV-Dokumentation) Siehe auch Alice Guy-Blaché Literatur Autorenkollektiv: Georges Méliès. Magier der Filmkunst (= KINtop. Bd. 2). Stroemfeld u. a., Basel u. a. 1993, ISBN 3-87877-782-5. Maurice Bessy, Lo Duca: Georges Méliès, mage . Pauvert, Paris 1961. Jacques Deslandes: Le Boulevard du Cinéma à l’Époque de Georges Méliès (= 7e art. Bd. 36, ). Les Éditions des Cerf, Paris 1963. Elisabeth Ezra: Georges Méliès. The Birth of the Auteur. Manchester University Press, Manchester u. a. 2000, ISBN 0-7190-5396-X. John Frazer: Artificially Arranged Scenes. The Films of Georges Méliès. G. K. Hall, Boston MA 1979, ISBN 0-8161-8368-6. Michaela Fries: Bon Voyage, Monsieur Méliès! Die Wechselbeziehung der Künste in der Belle Époque, überprüft anhand der Ausstattung von Georges Méliès „Le voyage dans la lune“. Diplomarbeit an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, 2008 (Online-Version). Paul Hammond: Marvellous Méliès. Gordon Fraser Gallery, London u. a. 1973, ISBN 0-900406-38-0. Jörg Hartman: Der erste Raumschiffbruch der Filmgeschichte: G. Méliès Filme metaphorologisch betrachtet. In: Lars Schmeink, Hans-Harald Müller (Hrsg.): Fremde Welten. Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert. De Gruyter, Berlin u. a. 2012, ISBN 978-3-11-027673-2, S. 223–236. Pierre Jenn: Georges Méliès, cinéaste. Le montage cinématographique chez Georges Méliès. Éditions Albatros, Paris 1984. Sabine Lenk: Georges Méliès 1861–1938. In: Thomas Koebner (Hrsg.): Filmregisseure. Biographien, Werkbeschreibungen, Filmographien. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Reclam, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-15-010662-4, S. 496f. Jacques Malthête, Laurent Mannoni (Hrsg.): Méliès. Magie et cinéma. Paris musées, Paris 2002, ISBN 2-87900-598-1 (Katalog der gleichnamigen Ausstellung, 26. April bis 1. September 2002). Laurent Mannoni, Jacques Malthête: L’œuvre de Georges Méliès. Éditions de la Martinière, Paris 2008, ISBN 978-2-7324-3732-3. Georges Sadoul: Georges Méliès. Présentation et Bio-Filmographie. Choix de Textes, Correspondance et Propos de Méliès, Scénarios, Impressions et Témoignages, Bibliographie, Documents Iconographiques. Éditions Seghers, Paris 1961. Hanns Zischler: Die durchbrochene Leinwand. Georges Méliès’ „Autoportrait de l’Artiste“. In: Sigrid Weigel, Tine Kutschbach (Hrsg.): Gesichter. Kulturgeschichtliche Szenen aus der Arbeit am Bildnis des Menschen (= Trajekte). Fink, München 2013, ISBN 978-3-7705-5344-0, S. 33–36. Weblinks Georges Méliès in der Cinémathèque française (französisch) Georges Méliès – Online-Ausstellung bei Google Arts & Culture (englisch) The Georges Méliès Projekt von Pauline Duclaud-Lacoste Méliès (englisch, französisch) Benjamin Maack: Filmpionier Méliès – Der Magier mit der Kamera. In: Spiegel.de, 10. Februar 2012 Tobias Radlinger: Georges Méliès – Der Demiurg des Kinos. In: Critic.de, 30. August 2012 Einzelnachweise Filmregisseur Spezialeffektkünstler Mitglied der Magicians Hall of Fame Science Fiction and Fantasy Hall of Fame Stummfilmschauspieler Mitglied der Ehrenlegion (Ritter) Darstellender Künstler (Paris) Franzose Geboren 1861 Gestorben 1938 Mann
1801
https://de.wikipedia.org/wiki/Guy%20Ritchie
Guy Ritchie
Guy Stuart Ritchie (* 10. September 1968 in Hatfield, Hertfordshire, England) ist ein britischer Filmregisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent. Karriere Guy Ritchie begann seine Karriere 1995 als Regisseur für Werbefilme und Musikvideos. Im selben Jahr drehte er den Kurzfilm The Hard Case, mit Hilfe dessen er seinen ersten Film Bube, Dame, König, grAS finanzieren konnte, der zum Kultfilm avancierte. Der darauf folgende Film Snatch – Schweine und Diamanten bot ein größeres Starensemble mit Schauspielern wie Brad Pitt und Benicio del Toro. Außerdem hatte Ritchie für Snatch ein wesentlich größeres Budget als bei seinem Debütfilm. Mit seiner damaligen Ehefrau Madonna drehte Ritchie 2001 das kontroverse Musikvideo What It Feels Like For A Girl und den Kurzfilm The Hire: Star für BMW. Sein Spielfilm Stürmische Liebe – Swept Away (2003) mit Madonna in der Hauptrolle fiel sowohl bei den Kritikern als auch kommerziell durch. Zwei Jahre darauf folgte mit Revolver der dritte Film Ritchies mit Jason Statham in der Hauptrolle. Kommerziell konnte der Film nicht an die Erfolge von Bube, Dame, König, grAS und Snatch – Schweine und Diamanten anknüpfen, jedoch ist es der Film, mit dem Ritchie bis dato am zufriedensten war. 2008 drehte er den Film Rock N Rolla mit Gerard Butler. Im selben Jahr führte Ritchie Regie beim Nike-Werbespot Take It To The Next Level, sowie für Nespresso bei den Spots der Werbereihe What else? mit George Clooney in der Hauptrolle. Im Jahr darauf erschien Ritchies Film Sherlock Holmes mit Robert Downey Jr. als Sherlock Holmes und Jude Law als Dr. Watson in den Hauptrollen. Im Jahr 2011 wurde eine Fortsetzung mit dem Titel Sherlock Holmes: Spiel im Schatten realisiert. 2015 erschien unter seiner Regie der Film Codename U.N.C.L.E., eine Kinoadaption der Serie Solo für O.N.C.E.L. Ritchies nächster Film King Arthur: Legend of the Sword (2017) basierte auf der Artussage. Ab September 2017 arbeitete Ritchie an Aladdin, einer Live-Action-Version des gleichnamigen Animationsfilms aus dem Jahr 1992. Für die Action-Filmkomödie The Gentlemen arbeitete er mit einem Ensemble renommierter Darsteller wie Matthew McConaughey, Charlie Hunnam, Michelle Dockery, Jeremy Strong, Henry Golding, Colin Farrell, Eddie Marsan und Hugh Grant. 2017 wurde Ritchie in die Academy of Motion Picture Arts and Sciences (AMPAS) aufgenommen, die jährlich die Oscars vergibt. Privatleben Am 22. Dezember 2000 heiratete er die Sängerin Madonna. Das Paar hat einen leiblichen (* 2000) und einen 2006 gemeinsam adoptierten Sohn (* 2005). Die Ehe wurde am 21. November 2008 in London geschieden. Eine Sprecherin Madonnas gab bekannt, dass Ritchie eine Abfindung in Höhe von 50 bis 60 Millionen Pfund Sterling erhalten würde. Später gab das Paar eine gemeinsame Erklärung ab, laut der die zuerst kommunizierte Angabe „irreführend und ungenau“ gewesen sei; die Details der Vereinbarung seien privat. Seit dem Jahr 2015 ist Ritchie mit dem Model Jacqui Ainsley verheiratet. Das Paar hat zwei Söhne (* 2011, 2014) und eine Tochter (* 2012). Filmografie Spielfilme 1998: Bube, Dame, König, grAS (Lock, Stock & Two Smoking Barrels) 2000: Snatch – Schweine und Diamanten (Snatch) 2002: Stürmische Liebe – Swept Away (Swept Away) 2005: Revolver 2008: Rock N Rolla (RocknRolla) 2009: Sherlock Holmes 2011: Sherlock Holmes: Spiel im Schatten (Sherlock Holmes: A Game of Shadows) 2015: Codename U.N.C.L.E. (The Man from U.N.C.L.E.) 2017: King Arthur: Legend of the Sword 2019: Aladdin 2019: The Gentlemen 2021: Cash Truck (Wrath of Man) 2022: Operation Fortune (Operation Fortune: Ruse de Guerre) 2023: The Covenant Kurzfilme 1995: The Hard Case 2001: The Hire: Star (BMW-Werbefilm) 2007: Suspect Musikvideos 1995: The Bucketheads – The Bomb! (These Sounds Fall into My Mind) 1995: DJ Jacques O. – Rave Can Can 1995: Joelle – Upside Down 1995: Marusha – Deep 1995: C.B. Milton – A Real Love 1995: Nightcrawlers – Don’t Let the Feeling Go 1995: WestBam, Koon & Axel Stephenson – Always Music 1996: The Bucketheads – Got Myself Together 1996: Grace – Skin on Skin 1997: Ocean Colour Scene – Hundred Mile High City 2001: Madonna – What It Feels Like for a Girl Weblinks Einzelnachweise Filmregisseur Brite Geboren 1968 Mann Madonna (Künstlerin)
1802
https://de.wikipedia.org/wiki/Goldene%20Himbeere
Goldene Himbeere
Die Goldene Himbeere (, kurz Razzie) ist ein erstmals 1981 vergebener Negativ-Filmpreis. Der Razzie wurde als eine Art Anti-Oscar vom Cineasten John J. B. Wilson kreiert und wird in mehreren, teils absurden Kategorien für die jeweils schlechteste Leistung des Filmjahres traditionell am Abend vor der Oscar-Verleihung vergeben. Die materiell annähernd wertlose Sieger-Trophäe besteht aus einer Kunststoffhimbeere, die auf eine Super-8-Filmrolle aus Aluminium geklebt und mit Goldfarbe überzogen ist. Namensgeber der Auszeichnung ist die englische Redewendung to blow a raspberry im Sinne von „ein Furzgeräusch mit dem Mund erzeugen“ (wörtlich „eine Himbeere blasen“). Diese stammt ursprünglich aus dem Cockney rhyming slang, einer Londoner Varietät des Englischen, in der häufig vorkommende Wörter durch Reimwörter oder -phrasen ersetzt werden. So heißt es dort statt fart („Furz“) raspberry tart („Himbeertörtchen“), was wiederum verkürzt in to blow a raspberry auftaucht. Die Geste gilt als „Ausdruck der Missbilligung oder Verachtung“. Hinter dem Preis steht die Golden Raspberry Award Foundation (G.R.A.F.), der 2007 mehr als 750 Filmkritiker, Journalisten und Filmschaffende aus 42 US-Staaten und mehr als zwölf Ländern angehörten. Aus Deutschland benennt die Münchner Filmwerkstatt 50 Personen, die an der Abstimmung teilnehmen. Jährliche Preisvergabe Kategorien Schlechtester Film Schlechtester Schauspieler Schlechteste Schauspielerin Schlechteste Filmpaarung Schlechtester Nebendarsteller Schlechteste Nebendarstellerin Schlechteste Neuverfilmung oder Fortsetzung (siehe auch: Neuverfilmung, Prequel und Fortsetzung) Schlechteste Regie Schlechtestes Drehbuch – auch bekannt als der unehrenhafte Joe-Eszterhas-Drehbuchpreis Himbeeren-Erlöser-Preis Ältere und unregelmäßig erscheinende Kategorien Schlechtester Newcomer Schlechtester Song Schlechteste Filmmusik Schlechteste Spezialeffekte Aus besonderem Anlass vergebene Kategorien Am schlechtesten geschriebene Filme, die mehr als 100 Millionen Dollar einspielten: 1997 – Twister – Michael Crichton & Anne-Marie Martin Rücksichtsloseste Missachtung von Menschenleben und öffentlichem Eigentum: 1998 vergeben an Con Air, 2020 vergeben an Rambo: Last Blood Schlimmster Filmtrend des Jahres 1998: 58-jährige Hauptdarsteller, die um 28-jährige Hauptdarstellerinnen buhlen Meistfurzender Teeniefilm: 2003 vergeben an Jackass: The Movie Schlechtester Ersatz für einen echten Film (nur Konzept und kein Inhalt!): 2004 für Ein Kater macht Theater (The Cat-in-the-Hat) Nervendste Zielscheibe der Klatschpresse: 2006 vergeben an Tom Cruise, Katie Holmes, Oprah Winfreys Couch, den Eiffelturm und „Toms Baby“ Schlechteste Neuverfilmung oder billigster Abklatsch: vergeben 2006, 2007 und 2023. Schlechteste Entschuldigung für Familienunterhaltung: 2007 vergeben an Die Chaoscamper Schlechtestes Prequel oder Fortsetzung: vergeben 2007, 2008, 2009 und 2014 Schlechteste Entschuldigung für einen Horrorfilm: 2008 vergeben an Ich weiß, wer mich getötet hat Schlechteste Verwendung von 3D in einem Film: 2011 vergeben an Die Legende von Aang Special Rotten Tomatoes Award: The Razzie Nominee So Bad You Loved It!: 2018 vergeben an Baywatch Sonderpreisvergaben Rückblickend auf ein Jahrzehnt, werden an besonders schlechte Filmwerke und Filmschaffende nochmals Goldene Himbeeren verliehen, so geschehen für die 1980er, 1990er und 2000er Jahre. Während der Preisverleihung zur Goldenen Himbeere 2000 wurden für das 20. Jahrhundert die schlechteste Schauspielerin und der schlechteste Schauspieler des Jahrhunderts gekürt. Anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Goldenen Himbeere wurden auf der Preisverleihung 2005 Trophäen für das Schlechteste aus 25 Jahren verliehen. Seit 2015 wird der Razzie Redeemer Award („Himbeere der Erlösung“) vergeben. Diesen erhält ein Künstler, der mit der Goldenen Himbeere ausgezeichnet oder dafür nominiert war und der später eine beachtenswerte künstlerische Leistung abgeliefert hat. Sonstiges Die Gewinner nehmen den Preis nur in den seltensten Fällen persönlich entgegen: Bisher holten unter anderem Tom Green (Freddy Got Fingered), Robert Conrad (Wild Wild West), Showgirls-Regisseur Paul Verhoeven, Halle Berry (Catwoman) und Sandra Bullock (Verrückt nach Steve) ihre Himbeeren ab. Berry hatte bereits in einem Interview kurz vor der Verleihung 2005 angekündigt, sie werde sich ihren Preis auch abholen, wenn sie gewinne. Sie sagte dazu: „Wenn ich eine Himbeere bekomme, gehe ich auf jeden Fall zur Verleihung. Ich finde, wer zu den Oscars geht, sollte auch zu den Razzies kommen.“ In ihrer Rede bei der Verleihung nahm sie sich selbst – in Anspielung auf ihre Dankesrede bei der Oscarverleihung im Jahr 2002 – auf die Schippe. Adam Sandlers Film Jack und Jill erhielt 2012 mit zehn Stück die bisher meisten goldenen Himbeeren in der Geschichte des Preises. Der Film gewann zugleich als erster in allen zu vergebenden Kategorien und löste damit den bisherigen Rekordhalter Battlefield Earth ab, der bei der Goldenen Himbeere 2001 sieben von möglichen neun Auszeichnungen erhielt, sowie 2005 und 2010 je einen Spezialpreis. Kritik IndieWire kritisierte, dass die abstimmenden Mitglieder der Golden Raspberry Award Foundation für die Verleihung der Goldenen Himbeere die jeweiligen Filme gar nicht gesehen haben müssen, und bezweifelt deren Neutralität bei Abstimmungen. Das Magazin GQ bezeichnete die Entscheidungen zu den Auszeichnungen als willkürlich und wahllos. Der Daily Telegraph bemängelte unter anderem, dass immer wieder dieselben Personen und Stereotypen mit der Goldenen Himbeere ausgezeichnet werden. Weblinks razzies.com (englisch) Entire Razzie History, Year-by-Year: 1980–2011. (Liste aller Auszeichnungen seit 1980; englisch) Deutschsprachige Datenbank zur Goldenen Himbeere Einzelnachweise Filmpreis (Vereinigte Staaten) Negative Auszeichnung Erstverleihung 1981 Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Goldene%20Himbeere/Schlechtester%20Film
Goldene Himbeere/Schlechtester Film
Die Goldene Himbeere für den schlechtesten Film wird seit 1981 jährlich vergeben. Dabei bezieht sie sich auf Filme des vergangenen Jahres. So wurde beispielsweise der Preis des Jahres 2007 am 23. Februar 2008 verliehen. Schlechtester Film 1981 bis 1989 1981 Supersound und flotte Sprüche (OT: Can't Stop The Music) – Produktion: Allan Carr, Jacques Morali, Henri Belolo – Regie: Nancy Walker Außerdem nominiert: Cruising (OT: Cruising) – Produktion: Jerry Weintraub – Regie: William Friedkin Die Formel (OT: The Formula) – Produktion: Steve Shagan (?) – Regie: John G. Avildsen Freitag, der 13. (OT: Friday The 13th) – Produktion: Sean S. Cunningham (?) – Regie: Sean S. Cunningham Der Jazz-Sänger (OT: The Jazz Singer) Produktion: Jerry Leider – Regie: Richard Fleischer und Sidney J. Furie Die nackte Bombe (OT: The Nude Bomb) – Produktion: Jennings Lang – Regie: Clive Donner Hebt die Titanic (OT: Raise The Titanic) – Produktion: William Frye – Regie: Jerry Jameson Saturn-City (OT: Saturn 3) – Produktion: Stanley Donen – Regie: Stanley Donen „L“ ist nicht nur Liebe (OT: Windows) – Produktion: Michael Lobell – Regie: Gordon Willis Xanadu (OT: Xanadu) – Produktion: Lawrence Gordon – Regie: Robert Greenwald 1982 Meine liebe Rabenmutter (OT: Mommie Dearest) – Produktion: Frank Yablans – Regie: Frank Perry Außerdem nominiert: Endlose Liebe (OT: Endless Love) – Produktion: Dyson Lovell – Regie: Franco Zeffirelli Heaven’s Gate – Das Tor zum Himmel (OT: Heaven’s Gate) – Produktion: Joann Carelli – Regie: Michael Cimino Die Legende vom einsamen Ranger (OT: The Legend Of The Lone Ranger) – Produktion: Walter Coblenz – Regie: William A. Fraker Tarzan – Herr des Urwalds, Alternativtitel Tarzan – Herr des Dschungels (OT: Tarzan The Ape Man) – Produktion: John Derek – Regie: John Derek 1983 Inchon! (OT: Inchon) – Produktion: Mitsuharu Ishi im Auftrag der Vereinigungskirche des Koreaners Sun Myung Moon – Regie: Terence Young Außerdem nominiert: Annie (OT: Annie) – Produktion: Ray Stark – Regie: John Huston Butterfly – Der blonde Schmetterling, Alternativtitel Der Richter von Nevada (OT: Butterfly) – Produktion: Matt Cimber – Regie: Matt Cimber MegaForce (OT: Megaforce) – Produktion: Albert S. Ruddy – Regie: Hal Needham Pirate Movie (OT: The Pirate Movie) – Produktion: David Joseph – Regie: Ken Annakin 1984 Karriere durch alle Betten (OT: The Lonely Lady) – Produktion: Robert R. Weston – Regie: Peter Sasdy Außerdem nominiert: Herkules (OT: Hercules) – Produktion: Menahem Golan, Yoram Globus – Regie: Luigi Cozzi Der weiße Hai 3-D (OT: Jaws 3-D) – Produktion: Rupert Hitzig – Regie: Joe Alves Der rasende Gockel (OT: Stroker Ace) – Produktion: Hank Moonjean – Regie: Hal Needham Zwei vom gleichen Schlag (OT: Two Of A Kind) – Produktion: Roger M. Rothstein, Joe Wizan – Regie: John Herzfeld 1985 Ekstase (Bolero) – Produktion: Bo Derek – Regie: John Derek Außerdem nominiert: Auf dem Highway ist wieder die Hölle los (Cannonball Run II) – Produktion: Albert S. Ruddy – Regie: Hal Needham Der Senkrechtstarter (Rhinestone) – Produktion: Marvin Worth, Howard Smith – Regie: Bob Clark Sheena – Königin des Dschungels, (Sheena – Queen Of The Jungle) – Produktion: Paul Aratow – Regie: John Guillermin Beach Parties (Where The Boys Are '84) – Produktion: Allan Carr – Regie: Hy Averback 1986 Rambo II – Der Auftrag (Rambo: First Blood Part II) – Produktion: Buzz Feitshans – Regie: George Pan Cosmatos Außerdem nominiert: Jackpot (Fever Pitch) – Produktion: Freddie Fields – Regie: Richard Brooks Revolution – Produktion: Irwin Winkler – Regie: Hugh Hudson Rocky IV – Der Kampf des Jahrhunderts (Rocky IV) – Produktion: Irwin Winkler, Robert Chartoff – Regie: Sylvester Stallone Im Jahr des Drachen (Year Of The Dragon) – Produktion: Dino De Laurentiis – Regie: Michael Cimino 1987 Die Stimmauszählung ergab ein Unentschieden: Under the Cherry Moon – Unter dem Kirschmond (OT: Under The Cherry Moon) – Produktion: Bob Cavallo, Joe Ruffalo, Steve Fargnoli – Regie: Prince Howard – Ein tierischer Held (OT: Howard The Duck) – Produktion: Gloria Katz – Regie: Willard Huyck Außerdem nominiert: Blue City – Produktion: William Hayward, Walter Hill – Regie: Michelle Manning Die City-Cobra (OT: Cobra) – Produktion: Menahem Golan, Yoram Globus – Regie: George Pan Cosmatos Shanghai Surprise (OT: Shanghai Surprise) – Produktion: John Kohn – Regie: Jim Goddard 1988 Leonard 6, Alternativtitel Cosby – Die Superkanone (OT: Leonard – Part 6) – Produktion: Bill Cosby – Regie: Paul Weiland Außerdem nominiert: Ishtar (OT: Ishtar) – Produktion: Warren Beatty – Regie: Elaine May Der weiße Hai – Die Abrechnung (OT: Jaws – The Revenge) – Produktion: Joseph Sargent – Regie: Joseph Sargent Harte Männer tanzen nicht (OT: Tough Guys Don't Dance) – Produktion: Menahem Golan, Yoram Globus – Regie: Norman Mailer Who’s That Girl (OT: Who’s That Girl?) – Produktion: Rosilyn Heller, Bernard Williams – Regie: James Foley 1989 Cocktail (OT: Cocktail) – Produktion: Ted Field, Robert W. Cort – Regie: Roger Donaldson Außerdem nominiert: Caddyshack II (OT: Caddyshack II) – Produktion: Neil Canton, Jon Peters, Peter Guber – Regie: Allan Arkush Heiß auf Trab (OT: Hot To Trot) – Produktion: Steve Tisch – Regie: Michael Dinner Mick, mein Freund vom anderen Stern (OT: Mac And Me) – Produktion: R. J. Louis – Regie: Stewart Raffill Rambo III (OT: Rambo III) – Produktion: Buzz Feitshans – Regie: Peter MacDonald Schlechtester Film 1990 bis 1999 1990 Star Trek V: Am Rande des Universums (OT: Star Trek V – The Final Frontier) – Produktion: Harve Bennett – Regie: William Shatner Außerdem nominiert: Karate Kid III – Die letzte Entscheidung (OT: Karate Kid III) – Produktion: Jerry Weintraub – Regie: John G. Avildsen Lock Up – Überleben ist alles (OT: Lock-Up) – Produktion: Lawrence Gordon, Charles Gordon – Regie: John Flynn Road House (OT: Road House) – Produktion: Joel Silver – Regie: Rowdy Herrington Cannonball Fieber – Auf dem Highway geht’s erst richtig los (OT: Speed Zone) – Produktion: Murray Shostack – Regie: Jim Drake 1991 Die Stimmauszählung ergab ein Unentschieden: Ford Fairlane – Rock ’n’ Roll Detective, Alternativtitel Die Abenteuer des Ford Fairlane (OT: Ford Fairlane) – Produktion: Joel Silver, Steve Perry – Regie: Renny Harlin Mein Geist will immer nur das Eine … (OT: Ghosts Can't Do It) – Produktion: Bo Derek – Regie: John Derek Außerdem nominiert: Fegefeuer der Eitelkeiten (OT: The Bonfire Of The Vanities) – Produktion: Brian De Palma, Peter Guber, Jon Peters – Regie: Brian de Palma Graffiti Bridge (OT: Graffiti Bridge) – Produktion: Arnold Stiefel, Randy Phillips – Regie: Prince Rocky V (OT: Rocky V) – Produktion: Irwin Winkler, Robert Chartoff – Regie: John G. Avildsen 1992 Hudson Hawk – Der Meisterdieb (OT: Hudson Hawk) – Produktion: Joel Silver, Michael Dryhurst – Regie: Michael Lehmann Außerdem nominiert: Cool As Ice (OT: Cool As Ice) – Produktion: Carolyn Pfeiffer, Lionel Wigram – Regie: David Kellogg Die Show am Rande des Wahnsinns (OT: Dice Rules) – Produktion: Fred Silverstein – Regie: Jay Dubin Valkenvania – Die wunderbare Welt des Wahnsinns (OT: Nothing But Trouble) – Produktion: Robert K. Weiss – Regie: Dan Aykroyd Rückkehr zur blauen Lagune (OT: Return To The Blue Lagoon) – Produktion: William A. Graham, Frank Price – Regie: William A. Graham 1993 Wie ein Licht in dunkler Nacht (OT: Shining Through) – Produktion: Howard Rosenman, Carol Baum – Regie: David Seltzer Außerdem nominiert: Bodyguard (OT: The Bodyguard) – Produktion: Lawrence Kasdan, Jim Wilson, Kevin Costner – Regie: Mick Jackson Christopher Columbus – Der Entdecker (OT: Christopher Columbus: The Discovery) – Produktion: Alexander Salkind, Ilya Salkind – Regie: John Glen Eiskalte Leidenschaft (OT: Final Analysis) – Produktion: Tony Thomas, Charles Roven, Paul Junger Witt – Regie: Phil Joanou Die Zeitungsjungen (OT: Newsies, alternativer OT: News Boys) – Produktion: Michael Finnell – Regie: Kenny Ortega 1994 Ein unmoralisches Angebot (OT: Indecent Proposal) – Produktion: Sherry Lansing – Regie: Adrian Lyne Außerdem nominiert: Body of Evidence (OT: Body of Evidence) – Produktion: Dino De Laurentiis, Bernd Eichinger, Herman Weigel – Regie: Uli Edel Cliffhanger – Nur die Starken überleben (OT: Cliffhanger) – Produktion: Alan Marshall, Renny Harlin – Regie: Renny Harlin Last Action Hero, Alternativtitel Der letzte Action Held (OT: Last Action Hero) – Produktion: Steve Roth, John McTiernan – Regie: John McTiernan Sliver (OT: Sliver) – Produktion: Robert Evans – Regie: Phillip Noyce 1995 Color of Night (OT: Color Of Night) – Produktion: Buzz Feitshans, David Matalon – Regie: Richard Rush Außerdem nominiert: North, Alternativtitel Eltern nach Maß (OT: North) – Produktion: Rob Reiner, Alan Zweibel – Regie: Rob Reiner Auf brennendem Eis (OT: On Deadly Ground) – Produktion: Steven Seagal, Julias R. Nasso, A. Kitman Ho – Regie: Steven Seagal The Specialist (OT: The Specialist) – Produktion: Jerry Weintraub, R.J. Louis – Regie: Luis Llosa Wyatt Earp – Das Leben einer Legende (OT: Wyatt Earp) – Produktion: Jim Wilson, Kevin Costner, Lawrence Kasdan – Regie: Lawrence Kasdan 1996 Showgirls (OT: Showgirls) – Produktion: Alan Marshall, Charles Evans, Ben Myron – Regie: Paul Verhoeven Außerdem nominiert: Congo (OT: Congo) – Produktion: Kathleen Kennedy, Sam Mercer – Regie: Frank Marshall Was ist Pat? (OT: It’s Pat!) – Produktion: Charles B. Wessler, Cyrus Yavneh, Richard Wright – Regie: Adam Bernstein Der scharlachrote Buchstabe (OT: The Scarlet Letter) – Produktion: Roland Joffé, Andrew G. Vajna – Regie: Roland Joffé Waterworld (OT: Waterworld) – Produktion: Charles Gordon, John Davis, Kevin Costner – Regie: Kevin Reynolds 1997 Striptease (OT: Striptease) – Produktion: Mike Lobell – Regie: Andrew Bergman Außerdem nominiert: Barb Wire (OT: Barb Wire) – Produktion: Mike Richardson, Todd Moyer, Brad Wyman – Regie: David Hogan Ed – Die affenstarke Sportskanone (OT: Ed) – Produktion: Rosalie Swedlin – Regie: Bill Couturié DNA – Die Insel des Dr. Moreau, Alternativtitel DNA – Experiment des Wahnsinns (OT: The Island Of Dr. Moreau) – Produktion: Edward R. Pressman – Regie: John Frankenheimer Eine Familie zum Kotzen (OT: The Stupids) – Produktion: Leslie Belzberg – Regie: John Landis 1998 Postman (OT: The Postman) – Produktion: Jim Wilson, Steve Tisch, Kevin Costner – Regie: Kevin Costner Außerdem nominiert: Anaconda (OT: Anaconda) – Produktion: Verna Harrah, Leonard Rabinowitz, Carole Little – Regie: Luis Llosa Batman & Robin (OT: Batman & Robin) – Produktion: Peter MacGregor-Scott – Regie: Joel Schumacher Fire Down Below (OT: Fire Down Below) – Produktion: Julius R. Nasso, Steven Seagal – Regie: Felix Enriques Alcalá Speed 2 – Cruise Control (OT: Speed 2: Cruise Control) – Produktion: Jan de Bont – Regie: Jan de Bont 1999 Fahr zur Hölle Hollywood, Alternativtitel Die Hölle von Hollywood (OT: An Alan Smithee Film: Burn Hollywood Burn) – Produktion: Ben Myron, Joe Eszterhas – Regie: Arthur Hiller Außerdem nominiert: Armageddon – Das jüngste Gericht (OT: Armageddon) – Produktion: Jerry Bruckheimer, Gale Anne Hurd, Michael Bay – Regie: Michael Bay Mit Schirm, Charme und Melone (OT: The Avengers) – Produktion: Jerry Weintraub, Susan Ekins – Regie: Jeremiah Chechik Godzilla (OT: Godzilla) – Produktion: Dean Devlin – Regie: Roland Emmerich Spiceworld – Der Film (OT: Spice World) – Produktion: Uri Fruchtmann, Barnaby Thompson – Regie: Bob Spiers Schlechtester Film 2000 bis 2009 2000 Wild Wild West (OT: Wild Wild West) – Produktion: Barry Sonnenfeld, Jon Peters – Regie: Barry Sonnenfeld Außerdem nominiert: Big Daddy (OT: Big Daddy) – Produktion: Sid Ganis, Jack Giarraputo – Regie: Dennis Dugan Blair Witch Project (OT: The Blair Witch Project) – Produktion: Gregg Hale, Robin Cowie, Michael Monello – Regie: Daniel Myrick Das Geisterschloss – Produktion: Susan Arnold, Donna Roth, Colin Wilson – Regie: Jan de Bont Star Wars: Episode I – Die dunkle Bedrohung (OT: Star Wars: Episode I – The Phantom Menace) – Produktion: Rick McCallum – Regie: George Lucas 2001 Battlefield Earth – Kampf um die Erde (OT: Battlefield Earth) – Produktion: Jonathan D. Krane, John Travolta, Elie Samaha – Regie: Roger Christian Außerdem nominiert: Blair Witch 2 (OT: Book Of Shadows – Blair Witch 2) – Produktion: William C. Carraro – Regie: Joe Berlinger Die Flintstones in Viva Rock Vegas (OT: The Flintstones In Viva Rock Vegas) – Produktion: Bruce Cohen, Bart Brown – Regie: Brian Levant Little Nicky – Satan Junior (OT: Little Nicky) – Produktion: Robert Simonds, Jack Giarraputo – Regie: Steven Brill Ein Freund zum Verlieben (OT: The Next Best Thing) – Produktion: Linne Radmin, Richard Wright, Leslie Dixon, Marcus Viscidi, Thomas Rosenberg – Regie: John Schlesinger 2002 Freddy Got Fingered (OT: Freddy Got Fingered) – Produktion: Howard Lapides – Regie: Tom Green Außerdem nominiert: Driven (OT: Driven) – Produktion: Sylvester Stallone, Renny Harlin, Elie Samaha – Regie: Renny Harlin Glitter – Glanz eines Stars (OT: Glitter) – Produktion: Laurence Mark – Regie: Vondie Curtis-Hall Pearl Harbor (OT: Pearl Harbor) – Produktion: Michael Bay, Jerry Bruckheimer – Regie: Michael Bay Crime is King (OT: 3000 Miles To Graceland) – Produktion: Demian Lichtenstein, Richard Spero, Andrew Stevens, Elie Samaha, Eric Manes – Regie: Demian Lichtenstein 2003 Stürmische Liebe – Swept Away (OT: Swept Away) – Produktion: Matthew Vaughn – Regie: Guy Ritchie Außerdem nominiert: Not a Girl – Crossroads (OT: Crossroads) – Produktion: Robert Lee, Ann Carli, Jonathan McHugh – Regie: Tamra Davis Roberto Benignis Pinocchio (OT: Pinocchio) – Produktion: Elda Ferri, Nicoletta Braschi, Gianluigi Braschi – Regie: Roberto Benigni Star Wars: Episode II – Angriff der Klonkrieger (OT: Star Wars: Episode II – Attack Of The Clones) – Produktion: Rick McCallum – Regie: George Lucas Pluto Nash – Im Kampf gegen die Mondmafia (OT: The Adventures of Pluto Nash) – Produktion: Martin Bregman, Louis A. Stroller, Michael S. Bregman – Regie: Ron Underwood 2004 Liebe mit Risiko – Gigli (OT: Gigli) – Produktion: Martin Brest, Casey Silver – Regie: Martin Brest Außerdem nominiert: Ein Kater macht Theater (OT: The Cat in the Hat) – Produktion: Brian Grazer – Regie: Bo Welch 3 Engel für Charlie – Volle Power (OT: Charlie’s Angels: Full Throttle) – Produktion: Drew Barrymore, Leonard Goldberg, Nancy Juvonen – Regie: McG Justin & Kelly: Beachparty der Liebe (OT: From Justin to Kelly) – Produktion: Robert Engelman, John Steven Agoglia, Gayla Aspinall – Regie: Robert Iscove The Real Cancun (OT: The Real Cancun) – Produktion: Rick de Oliveira – Regie: Rick de Oliveira 2005 Catwoman (OT: Catwoman) – Produktion: Edward McDonnell, Denise Di Novi – Regie: Pitof Außerdem nominiert: Alexander (OT: Alexander) – Produktion: Thomas Schühly, Iain Smith, Oliver Stone, Moritz Borman, Jon Kilik – Regie: Oliver Stone Superbabies: Baby Geniuses 2 (OT: Superbabies: Baby Geniuses 2) – Produktion: Steven Paul – Regie: Bob Clark Wie überleben wir Weihnachten? (OT: Surviving Christmas) – Produktion: Betty Thomas, Jenno Topping – Regie: Mike Mitchell White Chicks (OT: White Chicks) – Produktion: Lee R. Mayes, Rick Alvarez, Keenen Ivory Wayans, Marlon Wayans, Shawn Wayans – Regie: Keenen Ivory Wayans 2006 Dirty Love (OT: Dirty Love) – Produktion: John Mallory Asher, BJ Davis, Rod Hamilton, Kimberley Kates, Michael Manasseri, Jenny McCarthy, Trent Walford – Regie: John Mallory Asher Außerdem nominiert: Deuce Bigalow: European Gigolo (OT: Deuce Bigalow: European Gigolo) – Produktion: John Schneider – Regie: Mike Bigelow Ein Duke kommt selten allein (OT: The Dukes of Hazzard) – Produktion: Bill Gerber – Regie: Jay Chandrasekhar House of Wax (OT: House of Wax) – Produktion: Bruce Berman, Polly Cohen, Herb Gains, Steve Richards – Regie: Jaume Collet-Serra Die Maske 2: Die nächste Generation (OT: Son of the Mask) – Produktion: Erica Huggins, Scott Kroopf – Regie: Lawrence Guterman 2007 Basic Instinct – Neues Spiel für Catherine Tramell (OT: Basic Instinct 2) – Produktion: Moritz Borman, Mario Kassar, Andrew G. Vajna – Regie: Michael Caton-Jones Außerdem nominiert: BloodRayne (OT: BloodRayne) – Produktion: Uwe Boll, Dan Clarke, Shawn Williamson – Regie: Uwe Boll Das Mädchen aus dem Wasser (OT: Lady in the Water) – Produktion: Sam Mercer, M. Night Shyamalan – Regie: M. Night Shyamalan Little Man (OT: Little Man) – Produktion: Rick Alvarez, Todd Garner, Lee R. Mayes, Joe Roth, Keenen Ivory Wayans, Marlon Wayans, Shawn Wayans – Regie: Keenen Ivory Wayans The Wicker Man (OT: The Wicker Man) – Produktion: Nicolas Cage, Randall Emmett, Norm Golightly, Avi Lerner, Joanne Sellar – Regie: Neil LaBute 2008 Ich weiß, wer mich getötet hat (OT: I Know Who killed Me) – Produktion: Tom Gores, Johnny O. Lopez – Regie: Chris Sivertson Außerdem nominiert: Der Kindergarten Daddy 2: Das Feriencamp (OT: Daddy Day Camp) – Produktion: Matt Berenson, Chris Emerson, Richard Hull – Regie: Fred Savage Bratz the Movie (OT: Bratz the Movie) – Produktion: Avi Arad, Benedict Carver – Regie: Sean McNamara Chuck und Larry – Wie Feuer und Flamme (OT: I Now Pronounce You Chuck & Larry) – Produktion: Barry Bernardi, Ryan Kavanaugh – Regie: Dennis Dugan Norbit (OT: Norbit) – Produktion: David B. Householter, Brian Robbins, Michael Tollin – Regie: Brian Robbins Star Wars: The Clone Wars – Produktion: Catherine Winder – Regie: Dave Filoni 2009 Der Love Guru (OT: Love Guru) – Produktion: Gary Barber, Roger Birnbaum – Regie: Marco Schnabel Außerdem nominiert: Disaster Movie (OT: Disaster Movie) – Produktion: Peter Safran, Aaron Seltzer, Jason Friedberg – Regie: Aaron Seltzer, Jason Friedberg Meine Frau, die Spartaner und ich (OT: Meet the Spartans) – Produktion: Paul Schiff, Aaron Seltzer – Regie: Aaron Seltzer, Jason Friedberg The Happening (OT: The Happening) – Produktion: Barry Mendel, Sam Mercer, M. Night Shyamalan – Regie: M. Night Shyamalan The Hottie & the Nottie – Liebe auf den zweiten Blick (OT: The Hottie and the Nottie) – Produktion: Jeffrey Geller, Paris Hilton – Regie: Tom Putnam Schwerter des Königs – Dungeon Siege (OT: In the Name of the King: A Dungeon Siege Tale) – Produktion: Wolfgang Herold, Dan Clarke, Shawn Williamson – Regie: Uwe Boll Schlechtester Film 2010 bis 2019 2010 Transformers – Die Rache (OT: Transformers: Revenge of the Fallen) – Produktion: Ian Bryce, Tom DeSanto, Lorenzo di Bonaventura, Don Murphy – Regie: Michael Bay Außerdem nominiert: G.I. Joe – Geheimauftrag Cobra (OT: G.I. Joe: The Rise of Cobra) – Produktion: Lorenzo di Bonaventura, Bob Ducsay, Stephen Sommers – Regie: Stephen Sommers Die fast vergessene Welt (OT: Land of the Lost) – Produktion: Marty Krofft, Sid Krofft, Jimmy Miller – Regie: Brad Silberling Old Dogs – Daddy oder Deal (OT: Old Dogs) – Produktion: Andrew Panay, Peter Abrams, Robert Levy – Regie: Walt Becker Verrückt nach Steve (OT: All About Steve) – Produktion: Sandra Bullock, Mary McLaglen – Regie: Phil Traill 2011 Die Legende von Aang (OT: The Last Airbender) – Produktion: Frank Marshall, Kathleen Kennedy, Sam Mercer, M. Night Shyamalan – Regie: M. Night Shyamalan Außerdem nominiert: Der Kautions-Cop (OT: The Bounty Hunter) – Produktion: Neal H. Moritz – Regie: Andy Tennant Sex and the City 2 – Produktion: Eric M. Cyphers, Michael Patrick King, John P. Melfi, Sarah Jessica Parker, Darren Star – Regie: Michael Patrick King Eclipse – Biss zum Abendrot (OT: The Twilight Saga: Eclipse) – Produktion: Wyck Godfrey, Greg Mooradian, Karen Rosenfelt – Regie: David Slade Beilight – Bis(s) zum Abendbrot (OT: Vampires Suck) – Produktion: Peter Safran – Regie: Jason Friedberg und Aaron Seltzer 2012 Jack und Jill – Produktion: Todd Garner, Adam Sandler, Jack Giarraputo – Regie: Dennis Dugan Außerdem nominiert: Bucky Larson: Born to Be a Star – Produktion: Barry Bernardi, Adam Sandler, Allen Covert, David Dorfman, Jack Giarraputo – Regie: Tom Brady (Filmregisseur) Happy New Year (OT: New Year's Eve) – Produktion: Mike Karz, Wayne Allan Rice, Garry Marshall – Regie: Garry Marshall Transformers 3 (OT: Transformers: Dark of the Moon) – Produktion: Lorenzo di Bonaventura, Ian Bryce, Tom DeSanto, Don Murphy – Regie: Michael Bay Breaking Dawn – Biss zum Ende der Nacht, Teil 1 (OT: The Twilight Saga: Breaking Dawn – Part 1) – Produktion: Wyck Godfrey, Karen Rosenfelt, Stephenie Meyer – Regie: Bill Condon 2013 Breaking Dawn – Biss zum Ende der Nacht, Teil 2 Außerdem nominiert: Battleship Der Chaos-Dad Noch Tausend Worte The Oogieloves in the Big Balloon Adventure 2014 Movie 43 Außerdem nominiert: Kindsköpfe 2 The Lone Ranger A Madea Christmas After Earth 2015 Saving Christmas Außerdem nominiert: Left Behind The Legend of Hercules Teenage Mutant Ninja Turtles Transformers: Ära des Untergangs 2016 Die Stimmauszählung ergab ein Unentschieden: Fantastic Four Fifty Shades of Grey Außerdem nominiert: Jupiter Ascending Der Kaufhaus Cop 2 Pixels 2017 Hillary’s America: The Secret History of the Democratic Party Außerdem nominiert: Batman v Superman: Dawn of Justice Zoolander 2 Dirty Grandpa Gods of Egypt Independence Day: Wiederkehr 2018 Emoji – Der Film Außerdem nominiert: Baywatch Fifty Shades of Grey – Gefährliche Liebe Die Mumie Transformers: The Last Knight 2019 Holmes & Watson Außerdem nominiert: Robin Hood Gotti The Happytime Murders Winchester – Das Haus der Verdammten Schlechtester Film seit 2020 2020 Cats Außerdem nominiert: The Fanatic The Haunting of Sharon Tate A Madea Family Funeral Rambo: Last Blood 2021 Absolute Proof Außerdem nominiert: 365 Tage Die fantastische Reise des Dr. Dolittle Fantasy Island Music 2022 Diana: Das Musical Außerdem nominiert: Infinite – Lebe unendlich Karen Space Jam: A New Legacy The Woman in the Window 2023 Blond Außerdem nominiert: Good Mourning The King’s Daughter Morbius Pinocchio Einzelnachweise Film Erstverleihung 1981
1806
https://de.wikipedia.org/wiki/Galileo
Galileo
Galileo steht für: Galileo (Vorname), männlicher Vorname – zu Namensträgern siehe dort GALILEO, Konferenz-, Hotel- und Ladenzentrum auf dem Hochschulgelände Garching, siehe Hochschul- und Forschungszentrum Garching #GALILEO Künstlername von Freddy Sahin-Scholl (* 1953), deutscher Sänger Galileo (Pferd) (* 1998), irisches Rennpferd Galileo-Kliffs, Kliffs auf der Alexander-I.-Insel in der Antarktis Astronomie und Raumfahrt: Galileo (Exoplanet), kreist im Doppelsternsystem Copernicus Galileo (Raumsonde), 1989 gestartet zur Erforschung des Planeten Jupiter Galileo Regio, eine dunkle Region auf dem Jupitermond Ganymed Telescopio Nazionale Galileo (TNG), Observatorium auf der Kanareninsel La Palma Technik: Galileo (Satellitennavigation), europäisches Navigationssatellitensystem Intel Galileo, Physical-Computing-Plattform für Arduino Galileo-Thermometer, Wärmemessgerät und Zimmerdekoration Unternehmen: Galileo (CRS), Computerreservierungssystem Galileo Avionica, italienisches Rüstungs- und Elektronikunternehmen Officine Galileo, ehemaliger italienischer Autohersteller Wissensvermittlung: Galileo (Fernsehsendung), Infotainmentsendung von ProSieben Galileo Press, deutscher Fachverlag, siehe Rheinwerk Verlag Museo Galileo, Museum für Wissenschaftsgeschichte in Florenz Universität Galileo, private Hochschule in Guatemala Siehe auch: Galilei Gallileo, Hochhaus in Frankfurt Galileusz
1807
https://de.wikipedia.org/wiki/Gnus
Gnus
Die Gnus (Connochaetes, das einzelne Tier das Gnu, entweder Bulle oder Kuh) sind eine Gattung afrikanischer Antilopen, die in großen Herden leben und zur Gruppe der Kuhantilopen gehören. Ursprünglich wurden als Arten innerhalb dieser Gattung nur das Weißschwanzgnu und das Streifengnu unterschieden. Mittlerweile wird den zuvor als Unterart des Streifengnus eingeordneten Östlichen Weißbartgnus, Weißbindengnus und Serengeti-Weißbartgnus ebenfalls ein Art-Status zugebilligt. Der Bestand betrug zu Beginn des 21. Jahrhunderts rund 1,5 Millionen Gnus. Damit gelten Gnus als Schlüsselart. Die häufigste Art ist das Serengeti-Weißbartgnu mit 1,3 Millionen Individuen, der Verbreitungsschwerpunkt der Gattung liegt entsprechend im Osten Afrikas. Die seltenste Art ist das Östliche Weißbartgnu, dessen Bestand zwischen 6000 und 8000 Tieren beträgt. Merkmale Der Kopf und die Hörner der Gnus haben rinderartige Merkmale. Die Hörner sind kurz, kräftig und bei beiden Geschlechtern vorhanden. Die Kopf-Rumpf-Länge beträgt etwa 2 m. Ausgewachsene Bullen des Streifengnus können eine Schulterhöhe von bis zu 156 cm erreichen. Bei den ausgewachsenen männlichen Serengeti-Weißbartgnus liegt die Schulterhöhe dagegen zwischen 110 und 134 cm. Die kleinste Art ist das Weißschwanzgnu, dessen Bullen eine Schulterhöhe von 110 bis 120 Zentimeter erreichen. Die Kühe haben im Durchschnitt eine etwas geringere Schulterhöhe als die Bullen. Bullen der größeren Gnuarten können ein Körpergewicht von bis zu 250 Kilogramm erreichen, Bullen des Weißschwanzgnus als die kleinste Gnuart erreichen ein Körpergewicht von 180 Kilogramm. Das Körpergewicht der Kühe beträgt beim Streifengnu zwischen 190 und 215 Kilogramm, bei den Serengeti-Weißbartgnus dagegen 140 bis 180 Kilogramm und beim Weißschwanzgnu durchschnittlich 155 Kilogramm. Die Fellfarbe ist je nach Art unterschiedlich. Streifengnus haben ein dunkel schiefergraues Fell mit auffälligen Querstreifen; die hellste Art ist dagegen das Serengeti-Weißbartgnu mit einem rotbräunlichen Fell. Der Sexualdimorphismus bei Gnus ist nur gering ausgeprägt. Diese Eigenschaft wird bei einer Reihe von afrikanischen Antilopenarten beobachtet, die in einem Herdenverband leben und häufig auch weite Wanderungen unternehmen. Vermutet wird, dass der geringe Geschlechterunterschied es männlichen Tieren erlaubt, in der Herde zu leben, ohne dass dies zu einer erhöhten Aggressivität mit anderen männlichen Tieren des Herdenverbands führt. Es ermöglicht insbesondere heranwachsenden männlichen Tieren, im Schutz der Herde zu leben. Verbreitungsgebiet Das Verbreitungsgebiet der Gnus erstreckt sich über den Südosten und Süden Afrikas. Das nördlichste Verbreitungsgebiet befindet sich knapp südlich vom Äquator in Zentralkenia und erstreckt sich, abgesehen von der Demokratischen Republik Kongo, über alle Staaten des Subkontinents. Der Oranje und der Übergang von der Baumsavanne zum gemäßigten Klima des Highveld stellen die südliche Verbreitungsgrenze dar. Das auf der baumlosen Ebene des Highveld lebende Weißschwanz-Gnu ist die Gnu-Art mit dem südlichsten Verbreitungsgebiet. Trotz dieses sehr weiträumigen Verbreitungsgebietes liegt das Hauptvorkommen in der Serengeti. Dort leben heute rund 85 Prozent des weltweiten Gnu-Bestands, nachdem die Bestandszahlen in den anderen Regionen des Verbreitungsgebietes seit Beginn des 20. Jahrhunderts stark zurückgegangen sind. Der Verlust an Lebensraum seit der Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents hat dazu geführt, dass in weiten Teilen des Verbreitungsgebietes anstelle größerer wandernder Herden heute überwiegend kleine, mehr sesshafte Populationen typisch sind, die in geschützten Gebieten leben. Lebensraumverluste sind vor allem auf eine landwirtschaftliche Nutzung früherer Weidegebiete sowie die Errichtung von weitläufigen Zäunen zurückzuführen, die die Übertragung von Tierkrankheiten verhindern sollen. Im Etosha-Nationalpark lebten beispielsweise bis in die 1960er Jahre in bestimmten Jahreszeiten bis zu 30.000 Streifengnus. Etwa 10.000 der Tiere waren ganzjährig in der Region des Nationalparks anzutreffen. 20.000 Gnus wanderten während der Regenzeit aus dem Ovamboland in den Nationalpark. Nachdem ein Zaun diese Wanderungsroute unterbrach, ging die Gnu-Population im Etosha-Nationalpark auf 2000 bis 3000 Individuen zurück und ist seitdem auf diesem Niveau verblieben. In Botswana wurde auf Regierungsbetreiben in den späten 1980er Jahren entlang der Nordgrenze des Ghanzi Districts ein Schutzzaun errichtet, der in dieser Region die Möglichkeiten zur Hausrindhaltung verbessern sollte. Er schnitt großräumig den Zugang von Wildtieren aus dem Zentralgebiet der Kalahari zu Wasserstellen ab und führte 1988 zum Tod von 50.000 Gnus innerhalb von vier Monaten. Gnus wurden außerdem in Regionen außerhalb ihres historischen Verbreitungsgebietes angesiedelt. So sind sie heute auch im östlichen Hochland von Simbabwe und in privaten Wildreservaten in küstennahen Regionen Namibias anzutreffen. Lebensraum Streifengnus, Östliche Weißbartgnus, Weißbindengnus und Serengeti-Weißbartgnus besiedeln die Savannenregionen mit Niederschlagsmengen zwischen 400 mm und 800 mm und kommen entsprechend in der Dornenstrauch- und Trockensavanne vor. Sie sind Arten der Ebenen und Weidegänger mit einer Präferenz für Flächen mit kurzwüchsigem Vegetationsbestand und am ehesten in solchen Regionen anzutreffen, die locker mit Akazien bestanden sind. Während der Regenzeit sind sie auch in arideren Regionen ihres Verbreitungsgebietes anzutreffen, während sie sich während der Trockenzeit in Regionen versammeln, in denen hoher Niederschlag dazu führt, dass permanent Wasserstellen zur Verfügung stehen. Oberhalb von 1800 bis 2100 Höhenmeter sind Gnus selten, jedoch überqueren sie während ihrer saisonalen Wanderbewegungen auch Grasland in Bergregionen oder Hügelland. Das Weißschwanzgnu als die südlichste Art besiedelte ursprünglich Teile von Südafrika, Swasiland und Lesotho und wurde in Swasiland und Lesotho bereits im 19. Jahrhundert durch starke Bejagung ausgerottet. Ursprünglich hielt es sich während der Trockenzeit im Grasland des klimatisch gemäßigten Highvelds auf und wanderte in der Regenzeit in die aridere Karoo. Diese Wanderungen finden heute nicht mehr statt – es kommt als sesshafte Art nur noch in Schutzgebieten vor, wurde mittlerweile jedoch in Lesotho und Swasiland wieder angesiedelt und erfolgreich in Namibia eingeführt. Lebensweise Wanderungen Gnus sind vor allem für ihre Wanderungen bekannt. Allerdings wandern nicht alle Herden, da in vielen Regionen des Verbreitungsgebietes die Zersiedelung des Lebensraumes sowie weitläufig Zaunsysteme, die Hausrindherden schützen sollen, die Wanderungen unterbinden. Auch von den in der Serengeti lebenden Serengeti-Weißbartgnus wandern nicht alle Herden; es gibt sowohl im westlichen Korridor des Serengeti-Nationalparks, in der Masai Mara und im Ngorongoro-Krater sesshafte Herden. Die Wanderung der Serengeti-Weißbartgnus, der zahlenmäßig stärksten Art innerhalb der Gattung, ist jedoch unverändert einer der auffälligsten Tierzüge der Welt. Während der Regenzeit sind die Herden dieser Gnu-Art in den mineralstoffreichen Ebenen der südöstlichen Serengeti in Tansania zu finden. Gegen Ende Mai oder Anfang Juni endet die Regenzeit, und die Gräser verwelken. Die Gnus ziehen dann in einer Kolonne nordwärts über den Mara-Fluss in die Masai-Mara-Ebene in Südkenia. Dort finden sie aufgrund von Schauern vereinzelte Regionen mit starkem Graswachstum. Das Gras hier hat jedoch einen schweren Phosphormangel, so dass die Gnus mit dem Beginn der Regenzeit gegen Ende des Jahres in die Serengeti zurückkehren. Bei der dabei notwendigen Überquerung des Mara-Flusses werden die Gnus von Krokodilen erwartet, die hunderte von ihnen erbeuten. Herdenverband Während in trockenen Habitaten Herden aus Gnus aller Altersgruppen und Geschlechter zusammengesetzt sein können, bilden Männchen und Weibchen für gewöhnlich jeweils getrennte Herden. Am ausgeprägtesten ist dies während der Zeit, in der die Kälber zur Welt kommen und sich innerhalb der Herden zahlreiche Subgruppierungen herausbilden. Tragende Kühe halten sich in dieser Zeit gewöhnlich in der Nähe anderer tragender Kühe an und schließen sich, sobald sie gekalbt haben, anderen Kühen an, die säugende Jungtiere führen. Nichttragende Weibchen dagegen sind häufig in Herden nicht territorialer Männchen zu finden. Wie bei zahlreichen anderen Antilopenarten liegen während des Tages ruhende Gnus in einer sternförmigen Anordnung, da sie sich beim Niederlegen gewöhnlich Rücken an Rücken legen. Das hat zur Folge, dass die Tiere in unterschiedliche Richtungen sehen und Prädatoren so schneller entdecken. Nachts suchen sie die am geringsten mit Bäumen und Sträuchern bestandene Flächen auf und legen sich dort in linearen Formationen, die nicht breiter sind als etwa ein Dutzend Tiere und der Abstand zwischen den einzelnen Gnus so groß ist, dass andere Gnus die Formation durchqueren können. Nach Richard D. Este ist auch dies eine Anti-Prädatoren-Strategie. Im Falle eines Angriffs beispielsweise durch Tüpfelhyänen kann jedes Gnu sofort die Flucht ergreifen, ohne durch ein anderes Tier behindert zu werden. Fortpflanzung Die Tragzeit der Gnus beträgt etwa neun Monate. Anschließend wird ein einziges Junges geboren, das für weitere neun Monate gesäugt wird. Das Geschlechterverhältnis ist zum Geburtszeitpunkt ausgeglichen: Es kommen etwa gleichviel männliche wie weibliche Kälber zur Welt. Ab dem Zeitpunkt, zu dem die Kälber sich von ihren Muttertieren absondern, verschiebt sich das Geschlechterverhältnis allmählich zu Gunsten der Weibchen. In sesshaften Populationen des Serengeti-Weißbartgnus kommen gelegentlich auf zwei Weibchen dann nur noch ein Bulle. Richard D. Estes führt dies darauf zurück, dass männliche Tiere in sesshaften Populationen einem höheren Stress ausgesetzt sind, da sie ständig um Reviere kämpfen und Junggesellengruppen sich tendenziell in den Randbereichen der Herde aufhalten, die schlechtere Lebensbedingungen bieten. Die Lebensdauer der Gnus beträgt bis zu zwanzig Jahre, allerdings werden die meisten lange vorher von Raubtieren gerissen. In einem Alter von etwa neun Monaten verlassen die Kälber ihre Muttertiere und bilden unabhängig vom Geschlecht Jährlingsgruppen. Einige der weiblichen Jährlinge und eine geringe Zahl männlicher Jährlinge bleiben allerdings in den Kuhherden und folgen noch immer ihren jeweiligen Müttern. In ihrem zweiten Lebensjahr bilden diese Jungtiere zunehmend nach den Geschlechtern getrennte Gruppen. Ab dem Beginn des dritten Lebensjahres sind Weibchen äußerlich kaum noch von nichttragenden älteren Kühen zu unterscheiden. Beim Serengeti-Weißbartgnu werden rund 80 Prozent dieser weiblichen Jungtiere während der nächsten Brunft gedeckt, sie sind dann etwa 28 Monate alt. Bullen Junge Bullen schließen sich ab ihrem zweiten Lebensjahr separaten Junggesellenverbänden an. Diese sind altersmäßig durchmischt, die jungen Bullen können von den älteren jedoch noch in ihrem dritten Lebensjahr äußerlich unterschieden werden, da ihre Hörner weniger kräftig ausgebildet sind und ihr Körperbau schlanker ist. Ihre körperliche Entwicklung schließen junge Bullen im vierten oder fünften Lebensjahr ab. Verglichen mit den Junggesellenverbänden nah verwandter Antilopenarten wie der Nordafrikanischen Kuhantilope, der Leierantilope und der Grant-Gazelle, bei denen die Bullen häufig miteinander kämpfen, sind die Angehörigen eines solchen Gnu-Junggesellenverbandes vergleichsweise wenig aggressiv untereinander. Richard D. Estes führt dies unter anderem darauf zurück, dass auch der Abstand territorialer Bullen zueinander geringer ist als bei diesen Arten und männliche Gnus daher generell toleranter gegenüber Geschlechtsgenossen sind. Bullen versuchen ein Territorium zu etablieren, da nur ein solches ihnen die Chance zur Fortpflanzung bietet. Dieses Revier wird gegen andere Männchen verteidigt; solche Zusammentreffen haben ritualisierte Drohgebärden und Kämpfe mit den Hörnern zur Folge. Betritt eine Weibchenherde einen solchen Eigenbezirk, übernimmt das Männchen die Kontrolle über sie, verteidigt sie und paart sich mit ihnen, bis sie das Revier wieder verlassen. In Regionen mit einem geringen Bestand an Weißschwanzgnus beträgt der Abstand der Bullen etwa einen Kilometer voneinander. Der minimale Revierabstand in Regionen mit einem hohen Bestand an Weißschwanzgnus beträgt dagegen etwa 180 Meter. Deutlich kleiner sind die Reviere des Serengeti-Weißbartgnus: Im Ngorongoro-Krater wurden pro Quadratkilometer zwischen 57 und 85 territoriale Bullen gezählt. Beziehung zu anderen Tierarten Zu den Fressfeinden der Gnus zählen Löwen, Leoparden, Hyänen und der Afrikanische Wildhund sowie Krokodile. Gesunde, ausgewachsene Gnus verfügen über beträchtliche Körperkraft und können Angreifern deshalb erhebliche Verletzungen zufügen. In der Regel sind es Jungtiere sowie kranke Gnus, die von Prädatoren geschlagen werden. Flucht ist jedoch das typische Verhalten bei angreifenden Fressfeinden. Fliehende Gnus erreichen eine Geschwindigkeit von bis zu 80 km/h. Ziehende Herden werden von Geiern begleitet, für die die Kadaver von Gnus eine wesentliche Nahrungsquelle darstellen. Etwa 70 Prozent der Gnu-Kadaver werden von Geiern gefressen. Der zahlenmäßige Rückgang an ziehenden Gnus hatte einen negativen Effekt auch auf die Geierpopulation. In der offenen Savanne vermischen sich Herden von Zebras und Gnus und sind auch während der Wanderungen vergesellschaftet. Häufig sind es Zebraherden, die den Gnuherden vorangehen. Es besteht dabei eine gewisse ökologische Abhängigkeit, da Zebras die hohen, nährstoffärmeren Grasstände vertilgen, die Gnus hingegen die mittleren und nährstoffreicheren. Diese Vergesellschaftung verringert außerdem das Risiko, dass Fressfeinde sich anschleichen können. Gnus reagieren auch auf die Alarmrufe anderer Tierarten. So reagieren Gnus beispielsweise auf die Alarmrufe von Pavianen und sind in der Lage, diese sehr genau von anderen, ähnlich klingenden Rufen zu unterscheiden. Systematik Die Gnus bilden eine Gattung aus der Familie der Hornträger (Bovidae). Innerhalb der Hornträger werden sie zur Unterfamilie der Antilopinae und zur Tribus der Kuhantilope (Alcelaphini) gestellt. Die nächsten Verwandten der Gnus bilden dadurch die Eigentlichen Kuhantilopen (Alcelaphus), die Leierantilopen (Damaliscus) und die Hunter-Antilope (Beatragus). Allgemein zeichnen sich Kuhantilopen durch ihren großen Körperbau mit charakteristisch hoher Lage der Schulter sowie abfallendem Rücken, durch die quer gerippten Hörner und die tiefen Drüsengruben im Gesicht aus. Weitere Merkmale finden sich in dem langen Schädel und den großen Hohlräumen in der Stirn, die bis in die Ansätze der Hörner reichen. Molekulargenetischen Untersuchungen zufolge bilden die Gnus die Schwestergruppe zu allen anderen Kuhantilopen, sie trennten sich bereits im Oberen Miozän von den anderen Linien ab. Ursprünglich wurden als Arten innerhalb dieser Gattung nur das Weißschwanzgnu und das Streifengnu unterschieden. Während einer Revision der Hornträger, die Colin Peter Groves und Peter Grubb im Jahr 2011 vorlegten, wurden einige Formen, die ursprünglich als Unterarten des Streifengnus galten, in den Artstatus erhoben. Folgende Arten werden dadurch heute anerkannt: Weißbartgnu oder Östliches Weißbartgnu (Connochaetes albojubatus , 1892) Weißschwanzgnu (Connochaetes gnou (, 1780)) Weißbindengnu oder Njassa-Gnu (Connochaetes johnstoni , 1896) Serengeti-Weißbartgnu oder Westliches Weißbartgnu (Connochaetes mearnsi (, 1913)) Streifengnu (Connochaetes taurinus (, 1824)) Die wissenschaftliche Erstbeschreibung der Gattung Connochaetes erfolgte durch Martin Lichtenstein im Jahr 1812. Lichtenstein versuchte sich in seiner Veröffentlichung an der Gliederung der Antilopen und stellte Connochaetes als langschwänzige Form mit Mähne und Tränensäcken heraus, bei der beide Geschlechter Hörner tragen. Menschen und Gnus Gnus wurden schon immer wegen ihres Fleisches und ihrer Haut gejagt; aus den Schwänzen pflegte man Fliegenwedel herzustellen. Mit der Ankunft weißer Siedler wurden die Tiere massenhaft abgeschossen, so dass die Herden kontinuierlich kleiner wurden. Insbesondere die Bestände des Weißschwanz-Gnus gingen so frühzeitig zurück, dass die Lebensweise und vor allem die Wanderbewegungen dieser Gnu-Art nie in freier Wildbahn studiert wurde. Es überlebte dank der Initiative einiger Farmer, die die Tiere auf ihrem Land schützten. Im Serengeti-Nationalpark haben sich die dortigen Serengeti-Weißbartgnus dank massiver Schutzbemühungen wieder stark vermehrt. Von 500.000 Tieren im Jahr 1970 stieg die Population wieder auf etwa 1,3 Millionen an. Allerdings ist es nicht in ganz Afrika so gut um die Gnus bestellt. In vielen Staaten sinken die Bestände weiterhin, so im südlichen Afrika, wo der Bestand des Streifengnus von 300.000 im Jahr 1970 auf 130.000 abfiel. Die Population des Weißbindengnus könnte sich auf etwa 70.000 bis 80.000 beziffern, während das Weißbartgnu möglicherweise nur noch rund 8000 Individuen umfasst. Der Name Gnu ist der Sprache der Khoikhoi entnommen. Video Africa - The Serengeti IMAX (DVD) (Schwerpunkt des Films ist die Wanderung der Gnus) Serengeti. Dokumentarfilm von Reinhard Radke. Deutschland 2011. Literatur Richard D. Estes: Genus Connochaetes Wildebeest. In: Jonathan Kingdon, David Happold, Michael Hoffmann, Thomas Butynski, Meredith Happold und Jan Kalina (Hrsg.): Mammals of Africa Volume VI. Pigs, Hippopotamuses, Chevrotain, Giraffes, Deer and Bovids. Bloomsbury, London, 2013, S. 527–546 Richard D. Estes: The Gnu's World: Serengeti Wildebeest Ecology and Life History. University of California Press, Berkeley 2014, ISBN 978-0-520-27319-1. Colin P. Groves und David M. Leslie Jr.: Family Bovidae (Hollwow-horned Ruminants). In: Don E. Wilson, Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 2: Hooved Mammals. Lynx Edicions, Barcelona 2011, ISBN 978-84-96553-77-4, S. 444–779 (S. 707–709) Robyn Stewart: Wunderwelt Serengeti. Moewig, 2004, ISBN 3-8118-1902-X Einzelnachweise Weblinks Hornträger
1809
https://de.wikipedia.org/wiki/Gold
Gold
Gold (mittelhochdeutsch golt; bereits althochdeutsch gold, zu einer indogermanischen Wurzel *ghel- ‚gelb‘) ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Au () und der Ordnungszahl 79. Gold ist ein gelbglänzendes Metall und steht im Periodensystem in der 1. Nebengruppe (Gruppe 11), zusammen mit Kupfer und Silber, der Kupfergruppe. Die drei Metalle werden auch als Münzmetalle bezeichnet. Gold gehört zu den Übergangsmetallen. Gold wird mindestens seit sechs Jahrtausenden für rituelle Gegenstände und Schmuck sowie seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. in Form von Goldmünzen als Zahlungsmittel genutzt. Die Gier nach Gold war häufig Anlass zu Raubzügen und Kriegen und der Goldabbau ist mit beträchtlichen Umwelt- und Gesundheitsschäden verbunden. Von den im Jahre 2021 geförderten etwa 3.560 Tonnen Gold wurde über die Hälfte von der Schmuckbranche verarbeitet, ein Viertel diente als Geldanlage (Investment), rund 11 % wurde von den Zentralbanken und rund 8 % von der Industrie nachgefragt. Geschichte Gold zählt zu den ersten Metallen, die von Menschen verarbeitet wurden. Wegen seiner auffallend glänzenden gelben Farbe wurde es metallisch gediegen in der Natur gefunden. Es lässt sich sehr gut mechanisch bearbeiten und korrodiert nicht. Wegen der Beständigkeit seines Glanzes, seiner Seltenheit, seiner scheinbaren Unvergänglichkeit und seiner auffallenden Schwere verwendeten es viele Kulturen vor allem für herausgehobene rituelle Gegenstände und Schmuck. Frühgeschichte, europäisches Altertum und Mittelalter, präkolumbische Kulturen Die Goldgewinnung ist seit der frühen Kupferzeit nachgewiesen. Die leichte Legierbarkeit mit vielen Metallen, die moderate Schmelztemperatur und die günstigen Eigenschaften der Legierungen machten Gold als Werkstoff sehr attraktiv. Die Goldgewinnung und -reinigung erfolgte durch Goldwäscherei, Amalgamation und Kupellation (Oxidieren unedlerer Metalle mit Blei, auch Läuterung genannt) oder in Kombination der Verfahren. Die ältesten bislang bekannten Goldartefakte der Menschheit stammen ebenfalls aus der Kupferzeit. Im Gräberfeld von Warna (Bulgarien) sind insgesamt etwa 3.000 goldene Objekte als Grabbeigaben niedergelegt worden. Sie werden zwischen 4600 und 4300 v. Chr. datiert. Aus der nur wenig späteren (ca. 4400–4200 v. Chr.) Wadi/Nahal Qana-Höhle (Palästina) stammen 8 massive Elektron-Ringe mit 70 % Goldanteil (bis 165 Gramm Gewicht). Mehr als 7.000 Goldobjekte sind aus dem 4. Jahrtausend v. Chr. aus Gräbern der osteuropäischen Maikop-Kultur bekannt. Der früheste Nachweis in Mitteleuropa liegt mit den beiden Goldscheiben im Depotfund von Stollhof (Niederösterreich) vor und stammt ebenfalls aus dem 4. Jahrtausend v. Chr. Seit dieser Zeit wurde Gold vereinzelt in Form von Schmuckgegenständen aus Südosteuropa importiert. In Mittel- und Nordeuropa traten goldene Gegenstände vermehrt erst im dritten Jahrtausend v. Chr. als Grabbeigaben auf, vor allem in der endneolithischen Glockenbecherkultur. Beispiele sind die Ohrringe und die Haarspange beim Bogenschützen von Amesbury oder die 2013 gefundenen Goldringe eines Glockenbecher-Grabes aus Wustermark, Landkreis Havelland. Berühmte Beispiele aus der nachfolgenden Bronzezeit sind die Goldauflagen der Himmelsscheibe von Nebra (Frühbronzezeit) und die vier spätbronzezeitlichen Goldhüte. Die alten Ägypter beuteten Vorkommen in Oberägypten und Nubien aus. So ist auf dem Turiner Papyrus auch die Lage einer Goldmine verzeichnet. Die Römer nutzten Fundstätten in Kleinasien, Spanien (Las Médulas), Rumänien und Germanien. Die Sage von der Fahrt der Argonauten zum Goldenen Vlies nach Kolchis wurde anscheinend von den Seereisen griechischer Goldsucher angeregt. In der Tora wird vom Goldenen Kalb erzählt, das sich die Israeliten als Götzenbild herstellten, während Moses die Zehn Gebote empfing, und vom Goldland Ophir. Das Neue Testament erwähnt Gold (neben Weihrauch und Myrrhe) als eines der Huldigungsgeschenke der Weisen aus dem Morgenland für den neugeborenen Jesus . In Südamerika und Mesoamerika wurde schon sehr früh Gold verarbeitet. So beherrschten beispielsweise die Mochica in Peru bereits Anfang des ersten Jahrtausends die Legierungsbildung (Tumbago) sowie die Vergoldung und stellten Gegenstände für rituelle Zwecke aus mehreren Kilogramm Gold her. Im europäischen Mittelalter wurde Gold durch Goldwäscherei (aus dem Rhein, aus Schwarzwald- und aus Alpenflüssen) oder im Bergbau gewonnen (in Westfalen [„Eisenberg“ bei Korbach], am hessischen Goldberg [Kassel], in Tirol [Tassul im Nons-Tal], im Fichtelgebirge [Goldkronach], in Schlesien [Reichenstein, Goldberg], im Harz [Goslar], in Böhmen [Kuttenberg], im Salzburgischen, in Niederungarn [Kremnitz] und im Siebenbürger Erzgebirge). Trotzdem war die Goldgewinnung in Europa unergiebig, Gold stammte zum großen Teil aus älteren Münzen. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Autoren, insbesondere auf dem Gebiet der Alchemie, nahmen eine Entstehung des Goldes durch Vermischung von „sauberem“ Schwefel und Quecksilber an. In der Heilkunde fand gefeiltes Gold unter anderem als Arzneimittel gegen die Epilepsie Verwendung. Neuzeit ab der Entdeckung Amerikas Die Gier nach Gold wurde mit der Vormachtstellung der europäischen Seemächte Spanien, Portugal, England und Italien zu einem maßgeblichen Grund für Kriege und Eroberungszüge der Neuzeit. Das gilt für Westafrika (Timbuktu), dessen Gold über arabische Zwischenhändler nach Europa kam. Besonders der Goldreichtum der indigenen Völker in Mittel- und Südamerika lockte nach der Entdeckung Amerikas im Jahre 1492 europäische und insbesondere spanische Eroberer (Conquistadores) an, die Gold in Galeonen nach Europa brachten. Spanien wurde so eine Zeit lang zur reichsten Nation Europas; die indigenen Kulturen wurden durch die Eroberer oder durch eingeschleppte Krankheiten zerstört. Immer wieder lockten Goldfunde große Scharen von Abenteurern an. Im 19. Jahrhundert kam es auf verschiedenen Kontinenten zu Goldrausch genannten Massenbewegungen von Goldsuchern in die Gebiete großer Goldvorkommen. Beispiele hierfür sind der kalifornische Goldrausch im Jahre 1849 und der Goldrausch des Jahres 1897 am Klondike River in Alaska. Auch in Australien (Bathurst, Temora, Teetulpa und Coolgardie) und Südafrika (Witwatersrand) kam es zum Goldrausch. Der schwankende Goldpreis führt oft zu bedeutenden sozialen Veränderungen: So führte ein fallender Goldpreis in Südafrika zu einer starken Verarmung des von der Goldförderung lebenden Bevölkerungsteils. Im brasilianischen Amazonasraum ist der informelle Goldabbau durch Garimpeiros oft mit schwerwiegenden sozialen und ökologischen Folgen verbunden. Vorkommen Der Goldanteil in der kontinentalen Erdkruste beträgt 4 ppb, also etwa 4 Gramm pro 1000 Tonnen Gestein. Der Anteil schwankt je nach Region – in Lagerstätten, die abgebaut werden, liegt der Goldanteil oft bei mehreren Gramm pro Tonne. Gold kommt auf der Erde vorwiegend gediegen, das heißt in elementarer, metallischer Form vor. Es findet sich in primären Rohstoffvorkommen als goldhaltiges Gestein (Golderz) sowie in sekundären Vorkommen unter anderem in Seifen-Lagerstätten. Etwa 43 % des 2017 geförderten Goldes stammen aus der Volksrepublik China, Australien, den Vereinigten Staaten von Amerika, Russland und Kanada. Die tiefsten Goldbergwerke der Welt befinden sich in Südafrika. Dort wird Gold fast 4000 Meter unter der Erdoberfläche abgebaut. Anfang 2011 plante das Bergbauunternehmen AngloGold Ashanti bereits Schächte in bis zu 5000 Metern Tiefe. 2016 fielen rund 17 % der geförderten Goldmengen als Nebenprodukt bei der Raffination anderer Metalle wie Kupfer, Nickel oder der anderen Edelmetalle an, sodass unter Umständen erst die Gewinnung von Gold als Nebenprodukt die Ausbeutung anderer Lagerstätten wirtschaftlich macht. Insgesamt sind weltweit bisher rund 35.000 Vorkommen für gediegenes Gold bekannt, wobei rund 40 Fundstellen als signifikant betrachtet werden (Stand 2022). Ursprung des irdischen Goldes Die meisten Elemente bis zum Eisen, aber schwerer als Wasserstoff, sind in vergangenen Sternen unter Energieabgabe durch Kernfusionen entstanden (siehe auch Nukleosynthese). Das auf der Erde vorkommende Gold ist – wie alle Elemente, die schwerer sind als Eisen – durch Supernova-Kernkollaps unter Energieaufnahme entstanden. 1994 durchgeführte Computersimulationen sagten voraus, dass bei einer Kollision von zwei Neutronensternen aus dem dabei in den Weltraum herausgeschleuderten Material und den nachfolgenden Reaktionskaskaden neben anderen schweren Elementen rund 30 Erdmassen Gold entstehen. Am 17. August 2017 erfassten die LIGO-Detektoren Gravitationswellen, die als Kollision von zwei Neutronensternen in einer Entfernung von 130 Millionen Lichtjahren gedeutet wurden. Die Reaktionen der herausgeschleuderten Materie konnten daraufhin mit optischen Teleskopen beobachtet werden. Die gemessenen Spektrallinien bestätigten die Voraussage, dass bei diesem Ereignis große Mengen an Gold und anderen schweren Elementen entstanden. Solange die frühe Erde noch keine feste Kruste hatte, ist alles Gold aufgrund seiner hohen Dichte ins Erdinnere gewandert. Wir finden nur noch Gold, das nach der Krustenbildung auf die Erde gelangt ist oder durch vulkanische Prozesse wieder an ihre Oberfläche kam. Das Vorhandensein von schweren Metallen wie Gold in der Erdkruste und im Erdmantel stellt ein geologisches Rätsel dar. Theoretisch sollten diese Metalle aufgrund ihrer hohen Dichte und Affinität zu Eisen während der Frühzeit der Erde in den Erdkern abgesunken sein. Neue Forschungen bieten jedoch plausible Erklärungen für dieses Phänomen. Eine der Theorien besagt, dass schwere Metalle wie Gold und Platin durch Einschläge von großen Planetenresten und Asteroiden auf die Erde gelangt sein könnten. Diese Einschläge fanden vor etwa 3,8 bis 3,6 Milliarden Jahren statt. Die Metallkerne dieser Himmelskörper könnten genügend Gold und andere schwere Metalle enthalten haben, um die irdischen Vorkommen anzureichern. Anhand geophysikalischer Modelle, die die Vorgänge beim Einschlag eines großen Asteroiden rekonstruieren, geht man davon aus, dass sich an der Einschlagsstelle ein lokaler Magmaozean bildet, unter dem eine dünne, halbgeschmolzene Übergangsschicht liegt. Diese Schicht dient als temporäre Falle für die Metalle aus dem Impaktor und verhindert ihr Absinken in den Erdkern. Die Metalle bleiben nicht dauerhaft in der Übergangsschicht gefangen. Durch Mantelkonvektion, einem langsamen zirkulären Fluss des Erdmantels, werden sie über Milliarden von Jahren wieder an die Oberfläche transportiert. Dieser Prozess ermöglicht es den schweren Metallen, im Erdmantel und in der Erdkruste erhalten zu bleiben, anstatt in den Erdkern abzusinken. Primäre Lagerstätten (Berggold) Die folgenden Abschnitte führen einige der wichtigsten Typen primärer Goldlagerstätten auf: Witwatersrand-Typ (Paläo-Seifenlagerstätte) Das Witwatersrand-Goldfeld in Südafrika ist mit Abstand das größte der Welt. Bislang hat diese Lagerstätte mehr als 52.000 t Gold geliefert. Die Erzkörper sind frühproterozoische (etwa 1,8 Milliarden Jahre alte) Paläo-Flussschotter, die gediegen Gold, Pyrit und lokal abbauwürdige Konzentrationen von Pechblende (Uranerz) enthalten. Die genaue Genese der Lagerstätte war lange Zeit umstritten. Mittlerweile wird die Lagerstätte als eine reine Paläo-Seifenlagerstätte interpretiert, womit sie unter die sekundären Lagerstätten fiele. Etwa 25 % des gefundenen Goldes weisen eine Form auf, die für einen Transport durch hydrothermale Lösungen typisch ist, während es sich bei 75 % des Goldes um die typischen Nuggets handelt, die für einen fluvialen Transport sprechen, wobei man heute von einer nachträglichen Mobilisation des Goldes ausgeht. Neuere Isotopenuntersuchungen legen nahe, dass eine sehr kleinräumige hydrothermale Mobilisation des Goldes von wenigen Millimetern bis Zentimetern stattfand, sodass dieses Gold wahrscheinlich ursprünglich aus den Flussschottern stammt. Das Vorhandensein von gerundeten Pyrit- und Pechblende-Klasten zeigt aber auf jeden Fall an, dass diese zum ursprünglichen Bestand der Flussschotter gehörten. Sie zeigen damit an, dass die Erdatmosphäre zu diesem Zeitpunkt nur einen geringen Gehalt an Sauerstoff besessen haben kann, da diese Minerale unter oxidierenden Bedingungen nicht stabil sind. Die Ressourcen der Lagerstätte liegen noch bei mehreren zehntausend Tonnen Gold, allerdings in erheblicher Tiefe. Hier befinden sich die tiefsten Bergwerke der Welt (nahezu 4000 m); ihr Abbau ist deshalb nur bei hohen Goldpreisen wirtschaftlich. Die Lagerstätte macht 40 % des weltweit bisher geförderten Goldes plus Ressourcen aus. Orogene Goldlagerstätten Einige der wichtigsten Goldlagerstätten der Erde gehören den orogenen (mesothermalen) Ganglagerstätten an. Diese Lagerstätten kommen meist in metamorph-überprägten und deformierten marinen Sedimenten und Magmatiten vor. Sie entstehen während der Gebirgsbildung und sind damit an alte und junge Faltengürtel gebunden. Bei der Gebirgsbildung werden aus den involvierten Gesteinen metamorphe Fluide freigesetzt, die Quarz, wenig Sulfide und Gold in Spalten absetzen. Die Fluide haben einen neutralen Charakter und Temperaturen zwischen 250 °C und 400 °C. Bei den Sulfiden handelt es sich meist um Pyrit und Arsenopyrit. Die Goldgehalte sind meist sehr hoch, mehr als 10 g/t sind keine Seltenheit. Die Lagerstätten dieses Typs bildeten sich durch die gesamte Erdgeschichte mit bedeutenden Vorkommen in den archaischen Grünsteingürteln Afrikas und Westaustraliens, während des Proterozoikums (USA, Ghana, Brasilien), den paläozoischen Lagerstätten Victorias (Australien) oder den jungen alpidischen Vorkommen in den Alpen („Tauern-Gold“). Es handelt sich meist um reine Goldlagerstätten ohne Gewinnungsmöglichkeit für andere Metalle. Einige wenige Lagerstätten enthalten allerdings solch hohe Gehalte an Arsen, dass sie zu den wichtigsten Vorkommen dieses Halbmetalls gehören. Epithermale Goldlagerstätten Epithermale Goldlagerstätten sind eng mit jungem felsischen Magmatismus an Subduktionszonen (Inselbögen, Ozean-Kontinent-Kollisionen) verbunden. Heiße hydrothermale Fluide aus den Magmen bzw. durch den Magmatismus aufgeheizte Hydrothermale Fluide transportieren das Gold und setzten es auf Gängen, in Form von Stockwerksvererzungen oder als Imprägnation im Gestein wieder ab. Es wird in „Low-sulfidation“- und „High-sulfidation“-Epi­thermallagerstätten unterschieden, die sich durch unterschiedliche Fluide und damit verbunden unterschiedliche Mineralführung auszeichnen. „Low-sulfidation“-Lagerstätten formen sich aus neutralen hydrothermalen Wässern mit Temperaturen von 200 bis 300 °C, während „High-sulfidation“-Lagerstätten aus sehr sauren und oxidierenden Fluiden mit bis über 300 °C geformt werden. Beide Typen unterscheiden sich hinsichtlich der Mineralführung. Erzgehalte liegen gewöhnlich zwischen 1 und 10 g Gold pro Tonne sowie einem Goldinhalt von wenigen 10 bis über 1000 t. Einige „High-sulfidation“-Vorkommen beinhalten große Mengen an Silber und Buntmetallen. Neuere Untersuchungen aus aktiven Hydrothermalfeldern in Neuseeland deuten darauf hin, dass sich große Lagerstätten dieses Typs mit 1000 t Goldinhalt in gerade einmal 50.000 Jahren bilden können. Bedeutende Beispiele für diesen Lagerstättentyp gibt es unter anderem in Papua-Neuguinea, Neuseeland, Mexiko, Peru und Rumänien. Carlin-Typ Bei diesem Typ handelt es sich um Lagerstätten in karbonatischen Gesteinen. Die bedeutendsten Vorkommen dieses Typs liegen in Utah und Nevada (USA). Die dortigen Lagerstätten bildeten sich in einem kurzen Intervall vor 42 bis 30 Millionen Jahren. Sie formten sich aus reduzierten, mäßig sauren Fluiden mit Temperaturen von 150 bis 250 °C in Tiefen über 2000 m. Die Erzkörper können wenige bis mehr als 100 Millionen Tonnen Erz enthalten bei Gehalten zwischen 1 und 10 g/t. Gold ist meist an feinverteilten arsenreichen Pyrit gebunden. Dadurch ist die Aufbereitung dieser Erze relativ aufwendig. IOCG-(Iron-Oxide-Copper-Gold-)Typ IOCG-Lagerstätten kommen in felsischen Magmatiten wie Graniten und Rhyolithen vor. Es handelt sich dabei um große hydrothermale Brekzienkörper mit hohen Gehalten an Eisen in Form von Hämatit und/oder Magnetit. Diese Lagerstätten entstanden vermutlich unter einem Vulkankomplex. Bei einem Ausbruch führten hydrothermale Fluide zur Bildung von Brekzien aus Magmatiten und setzten Eisenoxide, Kupfersulfide, gediegenes Gold sowie weitere Minerale ab. Die bedeutendsten Lagerstätten dieses Typs befinden sich in mesoproterozoischen Gesteinen Australiens wie Earnest Henry (Queensland), Prominent Hill und Olympic Dam (beide im Bundesstaat South Australia). Letztere stellt einen der größten Erzkörper der Erde dar mit derzeit vermuteten Ressourcen von 8,4 Milliarden Tonnen Erz. Die Erzgehalte liegen zwischen 0,5 und 2 % für Kupfer und 0,5 und 1,5 g/t für Gold. In den meisten Lagerstätten dieses Typs befinden sich reine Kupfer- und Goldvorkommen, während Olympic Dam auch Uran und Silber enthält. Diese Lagerstätte stellt die größte bekannte Uranlagerstätte der Erde dar. Porphyrische Cu-Au-Lagerstätten Solche Lagerstätten finden sich weltweit in jungen Gebirgskomplexen. Es handelt sich um große Erzkörper in intermediären bis sauren plutonischen Magmatiten. Die Erzminerale (Pyrit, Chalkopyrit, Bornit, Chalkosin, Molybdänit) kommen feinverteilt auf ein Netzwerk aus Klüften im Gestein vor. Die Erzkörper beinhalten einige 10 Millionen bis mehreren Milliarden Tonnen Erz. Die größte Lagerstätte dieses Typs ist Chuquicamata in Chile mit über 10 Milliarden Tonnen Erz. In den USA ist Bingham Canyon die bedeutendste Lagerstätte und einer der größten Goldproduzenten des Landes. Die Erzgehalte sind vergleichsweise gering mit 0,5 bis 1 % Kupfer und 0,1 bis 1 g/t Gold, aber die Größe der Erzkörper lässt eine wirtschaftliche Gewinnung zu. Oftmals sind diese Lagerstätten mit Skarnlagerstätten assoziiert und es finden sich epithermale Goldlagerstätten im weiteren Umfeld. VHMS-/SHMS-Lagerstätten Diese Lagerstätten bilden sich im marinen Bereich. Volcanic Hosted Massive Sulfides (VHMS) sind an basische Magmatite (meist Basalte) gebunden, während Sediment Hosted Massive Sulfides (SHMS) in marinen Sedimentgesteinen vorkommen. Meist handelt es sich bei diesen Lagerstätten um reine Buntmetalllagerstätten (Blei, Zink, Kupfer), einige enthalten aber auch gewinnbare Beimengungen von Gold, Silber und anderen Elementen. Die devonische SHMS-Lagerstätte Rammelsberg bei Goslar im Harz stellt mit 28 Millionen Tonnen Erz und einem Goldgehalt von 1 g/t als Beimengung zu den extrem hohen Blei- und Zinkgehalten die bedeutendste deutsche Goldlagerstätte dar. Sekundäre Lagerstätte (Waschgold/Seifengold) Fast alle europäischen Flüsse führen Spuren von Gold mit sich. Dieses Gold war zuvor in Form zumeist kleiner, dünner Blättchen in Gestein eingelagert. Durch Verwitterungsprozesse des umgebenden Gesteins wird es freigesetzt und gelangt so ins Flusswasser und wird als Fluss-Seife abgelagert. Auf den Geröllbänken des Hoch- und Oberrheines wie bei Istein finden sich davon geringe Mengen, insbesondere Flitter. Diese, als Rheingold bezeichneten Sekundärablagerungen, wurden in den vergangenen Jahrhunderten mit mäßigem Ertrag ausgewaschen (siehe dazu Flussgolddukaten). Der einzige offizielle Goldproduzent Deutschlands, ein seit 2008 zur Holcim-Gruppe gehörendes Kieswerk bei Rheinzabern, nutzt ebenfalls diese Vorkommen. Die so gewonnenen Mengen Gold sind jedoch nur gering und bewegten sich in den letzten Jahren im Bereich von 10–15 kg pro Jahr. Förderung weltweit Die Weltjahresförderung betrug 2008 noch 2.260 Tonnen, 2011 bereits 2.700 Tonnen, seit dem Jahr 2015 werden jedes Jahr bereits mehr als 3.000 Tonnen Gold abgebaut, etwa hundertmal mehr als im 19. Jahrhundert. Aktuell wird in zwei Jahren mehr Gold gefördert, als in den tausend Jahren des Mittelalters zusammen dokumentiert ist. Das meiste Gold wurde lange Zeit in Südafrika gefördert, dessen Fördermengen jedoch bereits seit den 1970er Jahren sinken. Im Jahr 2007 förderte Australien die größte Menge. Seit 2008 stammt die größte Fördermenge aus der Volksrepublik China, gefolgt von Australien. Ebenfalls seit 2008 fördern die USA mehr Gold als Südafrika, seit 2010 liegt die Fördermenge der Russischen Föderation über der von Südafrika. 2019 und 2020 waren China, Australien und Russland die führenden Goldabbauländer und produzierten jeweils über 300 t Gold. Zusätzlich zur Förderung spielt bei Gold aber auch das Recycling eine relevante Rolle. So wurden 2020 alleine in den USA 92 t Gold aus Metallschrott gewonnen. Weltweit existieren nur einige große Goldförderunternehmen, deren Aktien an den Börsen gehandelt werden. Dazu gehören etwa Agnico Eagle Mines, AngloGold Ashanti, Barrick Gold, Freeport-McMoRan Copper & Gold, Gold Fields Ltd., Goldcorp, Kinross Gold, Newmont Mining und Yamana Gold. Goldbestand weltweit In der gesamten Geschichte der Menschheit wurden bis Ende 2017 schätzungsweise 190.000 Tonnen gefördert. Dies entspricht einem Würfel mit 21 Metern Kantenlänge (rund 8800 Kubikmetern) reinem Gold, und rund 24,3 g (also etwas mehr als ein Kubikzentimeter) pro Kopf der Weltbevölkerung. Etwa 34.000 Tonnen (Stand 2019) befinden sich im Besitz von Zentralbanken, siehe auch Goldreserve. Vorkommen in Europa Die Förderung von Gold in Europa – am meisten in Finnland und Schweden – ist im internationalen Vergleich unbedeutend. Die rumänischen Golderzvorkommen sind wohl die größten in Europa. In Bulgarien finden in den stillgelegten Goldminen Zlata (aktiver Bergbau: 1939–1973) und Krushov Dol (aktiv: 1965–1974) wieder Erkundungen statt. In Barsele (in der Gemeinde Storuman) in Schweden wurde ein Vorkommen erkundet. Gold als Mineral Natürliche Vorkommen an gediegen Gold, das heißt in seiner elementaren Form, waren bereits lange vor der Gründung der International Mineralogical Association (IMA) bekannt. Gold ist daher als sogenanntes grandfathered Mineral als eigenständige Mineralart anerkannt. Die ebenfalls von der IMA/CNMNC anerkannte Kurzbezeichnung (auch Mineral-Symbol) für Gold entspricht dem Elementsymbol „Au“. Gemäß der Systematik der Minerale nach Strunz (9. Auflage) wird Gold zusammen mit Aluminium, Blei, Kupfer, Nickel und Silber unter der System-Nr. „1.AA.05“ (Elemente – Metalle und intermetallische Verbindungen – Kupfer-Cupalit-Familie – Kupfer-Cupalit-Familie – Kupfergruppe) (8. Auflage I/A.01 – Kupfer-Reihe) eingeordnet. Im Lapis-Mineralienverzeichnis nach Stefan Weiß erhielt Gold die System- und Mineral-Nr. I/A.01-40. In der Lapis-Systematik entspricht dies ebenfalls der Abteilung „Metalle und intermetallische Verbindungen“, wo Gold zusammen mit Anyuiit, Auricuprid, Bogdanovit, Cuproaurid (Mineralstatus fraglich), Hunchunit, Kupfer, Novodneprit, Silber, Tetra-Auricuprid und Yuanjiangit eine unbenannte Gruppe bildet. Die vorwiegend im englischsprachigen Raum verwendete Systematik der Minerale nach Dana führt das Element-Mineral unter der System-Nr. „01.01.01.01“ (Goldgruppe). In der Natur findet sich Gold üblicherweise in Form von abgerundeten Nuggets, als Schuppen oder Flocken sowie in dendritischen (baumartigen) oder haar- bis drahtförmigen Aggregaten. Selten entwickelt Gold grobkristalline Stufen mit oktaedrischen, dodekaedrischen und würfeligen Kristallen. Es kann mit verschiedenen Mineralen vergesellschaftet sein wie unter anderem Altait, Ankerit, Arsenopyrit, Calaverit, Chalkopyrit, Krennerit, Pyrit, Pyrrhotin, Quarz, Scheelit, Sylvanit (Schrifterz), Tetradymit und Turmalin. Da Gold ein reaktionsträges Element ist, behält es gewöhnlich seinen Glanz und Farbe und ist daher in der Natur leicht zu erkennen. Dennoch wird es immer wieder mit farblich ähnlichen Mineralen wie Pyrit (Katzengold, Narrengold) und Chalkopyrit verwechselt. Gold ist zudem ein Bestandteil verschiedener Mineralarten. Beispiele für Minerale mit den höchsten Goldgehalten sind unter anderem Bezsmertnovit ((Au,Ag)4Cu(Te,Pb); 78,56 % Au), Tetra-Auricuprid (CuAu; 75,61 % Au), Maldonit (Au2Bi; 65,34 % Au) und Yuanjiangit (AuSn; 62,40 % Au). Insgesamt sind bisher 33 Goldminerale bekannt (Stand 2017). Gewinnung Unterscheidungskriterien Im Gegensatz zu den meisten anderen Metallen kommt das chemisch inerte Gold meist gediegen vor und muss nicht durch Reduktion aus Erzen gewonnen werden, wie beispielsweise Eisen. Es wird zunächst nur mechanisch aus dem umgebenden Gestein gelöst. Da Gold chemisch wenig reaktiv ist und somit nur schwierig in lösliche Verbindungen überführt werden kann, werden spezielle Verfahren zur Goldgewinnung angewendet. Dabei ist die Gewinnung von Gold entweder in industriell betriebenen, großen Minen oder im sogenannten Kleinbergbau möglich. Böden, in denen Gold enthalten ist, werden vor der Gewinnung zunächst gerodet. Ohne Lupe direkt sichtbares Gold, sogenanntes „Freigold“ in Form von Nuggets oder Goldstaub, ist eine Rarität. Das größte bekannte Goldnugget wurde im September 2018 von Henry Dole in Australien gefunden, mit rund 2400 Unzen (74 kg) Goldanteil. Der zweitgrößte Goldnugget, „Welcome Stranger“ genannt, wurde 1869 in Australien gefunden und wog 2284 Feinunzen (rund 71 kg). Das meiste Gold in den Vorkommen liegt in kleinsten Partikelchen im umgebenden Gestein fein verteilt vor und entgeht somit den Versuchen, es mit einfachen Verfahren manuell zu sammeln. Um Gold abzubauen, kommen häufig hochgiftige Chemikalien wie Arsen, Quecksilber und Zyanid zum Einsatz. In der Praxis werden meist mehrere Verfahren miteinander kombiniert, um die gewünschte hohe Ausbeute zu erhalten. Durch Fortschritte in den Gewinnungsmethoden, Vernachlässigung der Abfallproblematik und bei hohem Marktpreis lohnt sich sogar der Abbau von Erz, das nur ein Gramm Gold pro Tonne enthält. Alte Abraumhalden ehemaliger Goldvorkommen werden deshalb mittels verbesserter Technik nochmals aufgearbeitet. Gold fällt als Nebenprodukt bei der Raffination anderer Metalle an und wird in großem Umfang wiedergewonnen. Mehr als zehn Prozent des weltweit abgebauten Goldes wird im Kleinbergbau gewonnen. Es wurde geschätzt, dass 20 % bis 30 % des weltweit geförderten Goldes durch nicht industrielles Schürfen, also von Goldsuchern gewonnen wird. Insbesondere illegal, im Kleinbergbau abgebautes Gold sollte als Konfliktrohstoff betrachtet werden, der eine negative Auswirkung auf die dort lebende Bevölkerung hat und zum sogenannten Ressourcenfluch führt. In Brasilien sind beispielsweise viele Speisefische im Amazonas extrem mit Quecksilber und anderen Schwermetallen belastet, was auf den illegalen Goldabbau in der Amazonasregion zurückzuführen ist. Da die Hauptproteinquelle der dort lebenden Menschen Fisch ist, sind gesundheitliche Probleme die Folge. Goldwaschen Das sogenannte Goldwaschen als einfachstes Verfahren zur Goldgewinnung nutzt die hohe Dichte des Metalls. Dabei wird goldhaltiger Sand mit Wasser aufgeschlämmt. Da Gold schwerer ist als der umgebende Sand, setzt es sich schneller am Boden ab und kann abgetrennt werden. Gold aus Flussablagerungen wird so gewonnen. Hobby-Goldsucher wenden meist dieses Verfahren an. Dessen Nachteil besteht jedoch in der geringen Ausbeute bei großem Zeitaufwand des Suchenden. Der Vorteil dieser Methode ist die zuverlässige Ausbeute an groben Goldteilchen, die bei der Cyanidlaugung nicht vollständig erfasst werden. Es lässt durch das Einbringen von Fellen in die abströmende Flüssigkeit verbessern, in dem sich kleinste Goldpartikelchen in den Fellhaaren verfangen und die Ausbeute erhöhen. Goldwaschen wird mitunter teilmechanisiert an Land durchgeführt oder mit Schwimmbaggern mit integrierter Wäsche direkt im Fluss. Minentechnisch gewonnenes Erz wird zuvor mechanisch auf geeignete Korngrößen zerkleinert und das zermahlene Gestein in ähnlicher Weise bearbeitet. Dieses Verfahren geht der nachfolgend beschriebenen weiteren Ausnutzung der goldführenden Sande und Schlämme voraus. Amalgamverfahren Beim Amalgamverfahren wird die Legierungsbildung zwischen Gold und Quecksilber zu Amalgam genutzt. Zur Goldgewinnung und -reinigung werden goldhaltige Sande und Schlämme intensiv mit Quecksilber vermischt. Das Gold, aber auch eventuell andere vorhandene gediegene Metalle wie Silber lösen sich dabei im Quecksilber. Goldamalgam hat eine silberne Farbe; je nachdem, wie viel Quecksilber im Überschuss vorliegt, ist es flüssig bis pastös teigig und der Schmelzpunkt der Legierung ist geringer als der von Gold. Amalgam und Quecksilber sammeln sich wegen der hohen Dichte am Gefäßgrund, das Quecksilber fließt dann ab. Durch Erhitzen des verbleibenden Amalgams (wie bei Feuervergoldung detailliert beschrieben) verdampft das Quecksilber und zurück bleibt kompaktes Rohgold. Die entstehenden Quecksilberdämpfe stellen eine gesundheitliche Gefahr dar (siehe Quecksilbervergiftung), wenn sie nicht durch eine geschlossene Destillationsanlage oder Absaugung und Abfilterung mit Aktivkohle aufgefangen werden. Private Goldschürfer erhitzen das Amalgam oft in offenen Blechgefäßen mithilfe von Lötlampen und sonstigen Gasbrennern. Das Quecksilber (Siedepunkt 357 °C) dampft dabei in die Umgebungsluft ab und kondensiert umgehend. Dadurch werden Böden, Flüsse und Menschen in der Umgebung mit Quecksilber belastet. Durch das Minamata-Übereinkommen sollen Alternativen zum Amalgamverfahren gefördert werden. Das Amalgamverfahren wurde bereits in der Antike angewendet. Cyanidlaugung Bei größeren Vorkommen, die eine industrielle Erschließung erlauben, wird seit Ende des 19. Jahrhunderts die Cyanidlaugung angewendet. Vor dem Hintergrund, dass sich Gold in sauerstoffhaltiger Natriumcyanid-Lösung (Natriumsalz der Blausäure HCN) als Komplexverbindung löst, werden die metallhaltigen Sande staubfein gemahlen, aufgeschichtet und im Rieselverfahren mit der Extraktionslösung unter freiem Luftzutritt versetzt. Die kleinsten Metallteilchen werden hierbei zuerst aufgelöst, weil sie die relativ größte Reaktionsoberfläche haben. 2Au + H2O + 1/2O2 + 4NaCN -> 2Na[Au(CN)2] + 2NaOH Das Edelmetall findet sich chemisch gebunden im hochgiftigen Sickerwasser. Nach Filtration und Ausfällung mit Zinkstaub wird es als brauner Schlamm erhalten, aus dem nach Waschen und Trocknen durch Reduktion Rohgold wird. 2Na[Au(CN)2] + Zn -> Na2[Zn(CN)4] + 2Au Hier schließt sich die Reinigung des Rohgoldes an. Raffiniert zu Feingold ist es dann standardisiert und marktreif. Die Cyanidlaugen werden in Kreislaufprozessen wiederverwendet. Dennoch entweichen Blausäure und ihre Salze (Cyanide) in die Umwelt, teilweise in größeren Mengen, etwa bei Unglücken, Fehlfunktionen der Anlage oder bei Überschwemmungen. Alle diese Stoffe sind hochgiftig, allerdings leicht zersetzbar. Im Stoffkreislauf der Natur werden sie relativ schnell oxidativ abgebaut oder durch Hydrolyse zersetzt. Diese Art der Goldgewinnung hinterlässt enorme Abraumhalden und Stäube mit Cyanidspuren. Weitere Umweltschäden entstehen dadurch, dass Schlamm in Ländern mit geringer Umweltüberwachung unkontrolliert in Flüsse abgeleitet wird oder Schlammabsetzbecken bersten, wie im Jahr 2000 im rumänischen Baia-Mare. Boraxverfahren Ein umweltfreundlicheres Verfahren stellt die Goldextraktion und -reinigung mithilfe von Borax (Natriumborat) dar. Der Zusatz von Borax als schlackenbildendes Flussmittel beim Schmelzen von verunreinigtem Gold setzt Schmelzpunkt und Viskosität der Schmelze aus Oxiden und Silikaten der Begleitstoffe (nicht des Goldes, wie es oft fälschlicherweise angegeben wird) herab. Dadurch kann das Schmelzen mit einfacheren, kostengünstigen Brennern erfolgen (mit Zusatz von Holzkohle und extra Luftzufuhr unter Verwendung eines Haartrockners und eines Verlängerungsrohrs bis in die Esse oder eines Blasebalgs), wobei die Ausbeute der Extraktion erhöht wird. Das Gold (oder bei Anwesenheit von Silber eine Gold-Silber-Legierung) setzt sich dabei am Boden der Schmelzpfanne ab, die Oxide schwimmen auf. Gelegentlich werden andere Flussmittel zugesetzt (beispielsweise Calciumfluorid, Natriumcarbonat, Natriumnitrat oder Mangandioxid). Würden alle Goldschürfer auf der Welt dieses Verfahren anwenden, könnte die Emission von rund 1000 Tonnen Quecksilber pro Jahr vermieden werden, das sind etwa 30 % der weltweiten Quecksilber-Emissionen. Gewinnung aus Anodenschlamm Gold wird häufig aus Anodenschlämmen gewonnen, die bei der Raffination anderer Metalle, vor allem von Kupfer, zurückbleiben. Während der Elektrolyse von Kupfer entsteht Anodenschlamm mit beispielsweise 45 bis 50 % Silbergehalt. Das Silber wird nun aufgereinigt und seinerseits zu Elektrolyse-Anoden gegossen und bei dessen Raffination fällt im sich unter der Anode ansammelnden Schlamm Gold und andere Edelmetalle wie Platin und Palladium an. Kupfererze enthalten oft so viel Edelmetalle, dass Kupferhersteller damit bedeutende Nebenerlöse erzielen. Wiedergewinnung aus Reststoffen (Recycling) Eine wichtige Quelle des Edelmetalls ist die Aufbereitung von Dental- und Schmuckverarbeitungsabfällen sowie von alten edelmetallhaltigen Materialien, wie selektierter Elektronikschrott und Galvanikschlämme. Die Wiederaufbereitung stellte 2016 rund 30 % des gesamten Goldangebots. In städtischem Klärschlamm ist Gold in Spuren enthalten, die von der Nutzung, der Verarbeitung und dem Verschleiß von Goldlegierungen (Abrieb von Zahnfüllungen, Schmuckkettenglieder, Verlust und so weiter) stammen. Eine Untersuchung verschiedener Proben aus Arizona ergab neben verschiedenen anderen Edelmetallen einen Gehalt von durchschnittlich 0,3 Gramm Gold pro Tonne Klärschlamm. 2017 konnten in einer Schlackensortieranlage in der Schweiz 65 Kilogramm Gold im Wert von 2,1 Millionen Franken gewonnen werden. Im September 2013 berieten Österreichs Krematorienbetreiber, wie rechtlich korrekt mit dem Gold verbrannter Verstorbener umzugehen wäre, das bislang verklumpt mit Knochenasche in der Urne den Hinterbliebenen ausgefolgt wird. Versuche zur Goldgewinnung aus dem Meer Fritz Haber versuchte in den 1920er Jahren, Gold aus dem Meerwasser zu gewinnen, womit die deutschen Reparationen bezahlt werden sollten. Es wurde damals angenommen, dass Meerwasser zwischen 3 und 10 Milligramm Gold pro Tonne enthält. Der durchschnittliche Gehalt war aber mit 4,4 Mikrogramm Gold pro Tonne Meerwasser etwa um den Faktor 1000 niedriger und für eine wirtschaftliche Verwertung deutlich zu gering. Durch moderne Messmethoden wurde festgestellt, dass der Atlantik und der nordöstliche Pazifik 50–150 Femtomol (fmol) Gold pro Liter Wasser beinhaltet. Das entspricht 0,010–0,030 µg/m³. Im Tiefenwasser des Mittelmeeres lassen sich eher höhere Werte von 100–150 fmol Gold pro Liter Meerwasser messen. Insgesamt ergibt das 15.000 Tonnen Gold in den Weltmeeren. Goldsynthese Die Hoffnung, Gold künstlich herstellen zu können, wurde von vielen Kulturen über Jahrhunderte gehegt. Dabei entstand unter anderem die Sage vom sogenannten Stein der Weisen, der Gold aus unedlen Metallen entstehen lassen sollte. Die Alchemie wurde gelegentlich als „künstliche Darstellung von Silber und Gold“ oder schlicht als „Goldmacherei“ aufgefasst. Beispielsweise wird in zwei ostmitteldeutschen Handschriften des 15. Jahrhunderts ein Nikolaus von Paris genannt, nach dessen alchemistischem Traktat Von silber unde von golde Gold hergestellt werden könne, indem Silber und „rotes Eisen“ mit Salmiak versetzt werden, diese Mischung eine Woche in heißem Pferdemist belassen wird, danach gefiltert und auf die Hälfte eingedampft wird und mit der dadurch entstandenen Substanz Silber in 12-karätiges Gold transmutiert werden könne. Wenn dann ein Teil dieses Goldes mit vier Teilen natürlichem Gold gemischt wird, solle 20-karätiges Gold entstehen. Tatsächlich entsteht Gold allein bei verschiedenen kerntechnischen Prozessen (Kernfusion beziehungsweise Kernfission) in winzigen Mengen. Dem amerikanischen Wissenschaftler Glenn Seaborg, nach dem eines von nur zwei jemals von IUPAC nach einer zum Zeitpunkt der Benennung lebenden Menschen benanntes Element benannt wurde, gelang in den 1980er Jahren die Herstellung von Gold aus anderen Elementen mittels Teilchenbeschleuniger. Allerdings überstieg der Preis der dafür benötigten Energie den Wert des erzeugten Goldes um Größenordnungen. Da Gold lediglich ein stabiles Isotop hat, kämen für allfällige Transmutationsreaktionen nur wenige Nuklide infrage. Der unmittelbare „linke Nachbar“ des Goldes im Periodensystem der Elemente – Platin – ist je nach Situation auf dem Platinmarkt gelegentlich etwas teurer oder etwas billiger als Gold, weswegen eine Transmutation von Platin zu Gold wenig attraktiv erscheint. Möglich wäre sie dennoch – durch Neutroneneinfang in 196Pt (gut ein Viertel der Platinatome sind 196Pt) wird 197Pt gebildet. 197Pt ist ein verhältnismäßig kurzlebiger Betastrahler, welcher mit einer Halbwertszeit von 19,8915 Stunden zu Gold zerfällt. Anders verhält es sich beim „rechten Nachbar“ des Goldes, dem Quecksilber. Quecksilber ist um Größenordnungen billiger als Gold und gilt aufgrund seiner chemischen Giftigkeit in vielen Kontexten als unerwünscht. Möglich wäre ein Neutroneneinfang in 196Hg mit anschließendem Betazerfall des resultierenden 197Hg (Halbwertszeit: 64,14 Stunden) zu Gold. Problematisch hierbei ist der niedrige Gehalt an 196Hg in Quecksilber, welcher mit 0,15 % noch niedriger ist als jener von 235U in Uran vor der Urananreicherung und sogar den verbleibenden Gehalt von 235U in üblichem abgereichertem Uran unterschreitet. Eine andere Möglichkeit wäre die Photodesintegration von 198Hg mit wiederum anschließendem Zerfall von 197Hg. Hierbei muss ein Gammaquant von rund 10 Megaelektronenvolt (höchster Wirkungsquerschnitt rund 500–600 Millibarn bei 14 MeV) auf einen 198Hg-Kern treffen, wobei ein Neutron frei wird. Es handelt sich also um eine (γ,n)-Reaktion. Obwohl 198Hg mit über 10 % Anteil an Quecksilber deutlich einfacher verfügbar ist als 196Hg, ist die hohe benötigte Energiemenge ein praktisches Hindernis. Makroskopisch gesehen entsprechen 10 Megaelektronvolt pro Atom rund 96,5 Gigajoule pro Mol. Bei einer molaren Masse von Gold von etwa 197 Gramm wären also pro Gramm rund 490 Megajoule nötig, was etwa 136 Kilowattstunden entspricht. Pro Feinunze entsprechend rund 4,2 Megawattstunden. All diese Zahlen verstehen sich jeweils ohne Berücksichtigung etwaiger Verluste im Verfahren durch Ineffizienz oder Interaktionen zwischen Gammaquanten und Atomkernen, welche nicht zur (γ,n)-Reaktion führen. Angesichts gängiger Energiepreise für 4,2 MWh Strom weit oberhalb des Preises einer Feinunze Gold ist dieses Verfahren auch bei – praktisch unmöglicher – perfekter Effizienz nicht wirtschaftlich. In einem Kernreaktor werden starke Gammastrahlen frei, welche teilweise auch die Größenordnung 10 MeV erreichen. Prinzipiell wäre es also denkbar als Koppelprodukt Gold aus Quecksilber zu „brüten“. Obwohl Quecksilber als Kühlmittel für Kernreaktoren denkbar wäre und in der Vergangenheit zum Beispiel bei Clementine praktisch erprobt worden ist, ist heute das Interesse an derartigen Reaktoren deutlich geringer als jenes an anderen flüssigmetall- oder flüssigsalzgekühlten Konzepten. Zu nennen sind hier Natrium, NaK und Blei-Bismut sowie verschiedene Fluorid- und Chloridsalze. Ein Problem jeglicher mit einem – zumal flüssigen – Neutronengift, wie es 196Hg ist, gekühlten Reaktoren ist der positive Dampfblasenkoeffizient, welcher allgemein als unerwünscht gilt, und in einigen Jurisdiktionen einer Betriebsgenehmigung explizit entgegensteht. Ungeachtet all dessen ist die Zerstörung von Gold derzeit häufiger als seine nukleare Erzeugung, denn Gold-198, ein radioaktives Isotop des Goldes, welches üblicherweise durch Neutroneneinfang in 197Au erzeugt wird, ist ein relativ häufig verwendetes Radiopharmakon. Bei seinem Zerfall entsteht Quecksilber, sodass Menschen sogar – wenn auch in geringem Maßstab – die Gesamtmenge irdischen Goldes leicht verringert haben. Umweltauswirkungen Da Gold in heutigen Minen fast nur noch in Spuren enthalten ist, fallen alleine zur Produktion eines einzigen Goldrings 20 Tonnen Schutt an, was zu einer beträchtlichen Zerstörung ganzer Landschaften führt. Beträchtliche Mengen von hochgiftigem Quecksilber, schon bei der Goldgewinnung mit ausgeschwemmt oder beim Verdampfen wissentlich in die Umwelt freigesetzt, vergiften zudem große Gebiete und Flussläufe dauerhaft. Da Goldgewinnung oft improvisatorische Züge trägt und fernab von effektiver behördlicher Überwachung stattfindet, werden Umweltaspekte häufig untergeordnet behandelt oder ignoriert. Die negativen Umweltauswirkungen führen häufig zu Konflikten zwischen den Goldschürfern und der einheimischen Bevölkerung. Es gibt jedoch erste Projekte ökologischen Goldabbaus, wie das Oro Verde in Kolumbien. Für Barren, deren Gold aus dieser Mine stammt, wurde im Februar 2011 erstmals das Fair-Trade-Siegel vergeben. Europas erste Lieferanten für Faires Gold waren in Frankreich und Großbritannien, seit einiger Zeit ist es auch in Österreich erhältlich. Außerdem treten Goldvorkommen häufig zusammen mit radioaktiven Materialien wie Uran auf, was nicht nur die Risiken beim Abbau, sondern auch die Belastung für Luft und Boden und die Gewässerverschmutzung erhöht. Durch die Nahrungskette erreicht diese Schadstofflast schließlich auch die Menschen vor Ort. Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Gold besteht aus nur einem stabilen Isotop, gehört damit zu den 22 Reinelementen und lässt sich leicht mit vielen Metallen legieren. Das Schwermetall ist unlegiert weich wie Zinn mit einer Mohshärte von 2,5 bis 3 (VHN10 = 30–34; silberhaltig 44–58). Gold lässt sich aufgrund seiner enormen Duktilität und Dehnbarkeit zu hauchdünnem Blattgold schlagen und zu besonders dünnen Folien von etwa 2000 Atomlagen und 100 Nanometern Stärke auswalzen. Dies entspricht nur ca. 1/10 der Wellenlänge des roten Lichtes und ergibt eine durchscheinende Folie, die im Durchlicht blaugrün erscheint. Ernest Rutherford verwendete Goldfolie für seinen Streuversuch. Aus einem Gramm Gold kann ein 24 km langer Faden gezogen werden. Gold kristallisiert ausschließlich in einem kubisch flächenzentrierten Raumgitter und weist damit eine kubisch dichteste Kugelpackung mit der auf. Der Gitterparameter beträgt bei reinem Gold 0,4078 nm (entspricht 4,078 Å) bei 4 Formeleinheiten pro Elementarzelle. Bei Versuchen in der Hochdruckforschung konnte allerdings nachgewiesen werden, dass Gold bei sehr schnell erfolgender Kompression eine andere Struktur annimmt und sogar flüssig wird. Während der Hochdruckversuche wurden kleine Goldproben mithilfe von Laserschocks innerhalb von Nanosekunden extrem stark zusammengepresst. Ab 220 Gigapascal wandelt sich dabei die kubisch flächenzentrierte Struktur in die weniger kompakte kubisch-raumzentrierte Struktur. Bei weiterer Erhöhung des Drucks auf 330 Gigapascal beginnt das Gold zu schmelzen. Der Theorie des Forschungsleiters Richard Briggs vom Lawrence Livermore National Laboratory zufolge soll Gold einen Tripelpunkt oberhalb von etwa 220 Gigapascal haben, bei dem die flächenzentrierte, raumzentrierte und flüssige Phase nebeneinander existieren können. Reines Gold hat eine metallisch-sattgelbe Farbe, die entsprechend als „goldgelb“ bekannt ist und eine ebensolche Strichfarbe. In feiner Verteilung ist es je nach Korngröße gelblich, ockerbraun bis purpurviolett und wird dann als Goldpurpur bezeichnet. Mit zunehmender Temperatur verliert Feingold an Farbintensität und ist hellgelb glühend, bevor es schmilzt. Das geschmolzene Metall ist zitronengelb, leicht grünlich und erhält seine intensive gelborange Farbe erst wieder, wenn es vollständig abgekühlt ist. Vor dem Lötrohr ist Gold leicht schmelzbar zu einer vollkommenen Kugel. Beimengungen von Kupfer lassen es rosa oder rötlich erscheinen, senken die Schmelztemperatur und steigern zugleich Härte, Festigkeit und Polierbarkeit beträchtlich. Steigende Silberanteile verändern die Farbe des reinen Goldes über hellgelb nach hellgrün und schließlich zu weiß; Schmelztemperatur und Härte verändern sich dabei nur sehr wenig. Die meisten Metalle, so auch die bekannten Platinmetalle, Quecksilber und die Eisenmetalle, führen als Beimischungen dagegen in steigenden Anteilen zu einer Entfärbung in Form einer eher schmutziggelbgrauen bis grauweißen Legierung. So variiert die Farbe von palladiumhaltigem Gold (Porpezit) zwischen lohfarben und hellbraun. Einige der ungewöhnlichen Eigenschaften wie die goldgelbe Farbe und hohe Duktilität werden aktuell mit dem Einfluss von relativistischen Effekten auf die Elektronenorbitale erklärt. So entsteht die gelbliche Farbe durch Absorption im Frequenzbereich der Komplementärfarbe Blau. Ursache dafür ist die auf Grund relativistischer Effekte vergleichsweise kleine Bandlücke zwischen dem 6s- und den 5d-Orbitalen. Während energiereiche blaue Photonen absorbiert werden und zu Elektronenübergängen führen, werden die anderen, weniger energiereichen Photonen (grün, gelb, rot) aus dem Spektrum sichtbaren Lichts reflektiert, wodurch die gelbe Färbung entsteht. In der Oberflächenchemie werden verschiedene Flächen von Au-Einkristallen u. a. in der Rastertunnelmikroskopie eingesetzt (siehe Abbildung). Die spezifische Verdampfungsenthalpie ΔHv von Gold ist mit 1,70 kJ/g wesentlich geringer als beispielsweise diejenige von Wasser (mit 2,26 kJ/g) oder Eisen (6,26 kJ/g, alle für die Siedetemperatur bestimmt). Bei überhitzten Goldschmelzen können daher (wie auch bei anderen Schmelzemanipulationen etwa in der Stahlindustrie) beträchtliche Rauch- und Verdampfungsverluste auftreten, sofern der Schmelzvorgang ohne Abdichtung oder Absaugung und Abscheidung in Aktivkohle erfolgt. Chemische Eigenschaften Gold wird von gewöhnlichen (Mineral-)Säuren nicht angegriffen. Lediglich einige stark oxidierende Säuren wie Königswasser (einem Gemisch aus Salzsäure und Salpetersäure) oder Selensäure lösen Gold. In Königswasser bildet sich Tetrachloridogoldsäure: 2Au + 9HCl + 5HNO3 -> 2HAuCl4 + 4NO2 + 6H2O + NOCl Die Halogene Chlor, Brom und Iod vermögen Gold zu lösen, letzteres sogar in alkoholischer Lösung. In wässrigen Cyanidlösungen ist Gold leicht unter Oxidation durch Sauerstoff als Kaliumdicyanidoaurat(I) löslich. In heißen, sauren hydrothermalen Lösungen ist Gold relativ gut physikalisch löslich. Demzufolge wird es oft in Quarzgesteinen mit vorgefunden. Es wurde beobachtet, dass einige Huminsäuren in der Lage sind, Gold anzulösen. Verwendung Rund die Hälfte des am Markt gehandelten Goldes wird zu Schmuck verarbeitet, etwa ein Drittel wird von institutionellen und privaten Investoren erworben (ohne Zentralbanken), 9 % werden in der Industrie einschließlich Zahntechnik verwendet (Durchschnittswerte für 2010–2014). Die Aufkäufe durch Zentralbanken haben stark zugenommen: von 2 % der weltweiten Nachfrage im Jahr 2010 auf 14 % im Jahr 2014. Schmuck, Dekoration und Lebensmittelzusatzstoff Der größte Teil des gewonnenen Goldes wird in der Schmuckindustrie verwendet. Goldschmiede verarbeiten Gold und andere Edelmetalle zu Ringen, Ketten, Armbändern und anderem Schmuck. Der Edelmetallgehalt wird durch die Repunze beglaubigt. Einige Orden sind aus Gold gefertigt (Kutusoworden). Indien und China sind die beiden größten Märkte für Goldschmuck, zusammen sorgen sie für über 50 % der Nachfrage nach Gold in diesem Bereich. Goldfolie, auch Blattgold genannt, gibt nichtmetallischen Gegenständen, wie Bilderrahmen, Büchern (Goldschnitt), Mobiliar, Figuren, Architekturelementen, Stuck und Ikonen das Aussehen von echtem Gold. Seit der Antike wird Blattgold von Goldschlägern aus hochgoldhaltigen Legierungen hergestellt. Dabei wird Gold dünner als die Wellenlänge des sichtbaren Lichtes gewalzt und geschlagen. Im Auflicht glänzt die Folie goldgelb, im Gegenlicht scheint die Lichtquelle grünlich-blau durch und bildet das Schlagmuster des Metalls ab. Der Vergolder präpariert die Unterlage zunächst mit einem Klebemittel und legt anschließend die Goldfolie auf. Mit 1 Gramm Blattgold kann ein halber Quadratmeter Fläche überzogen werden. Dekorativ findet Gold vielfältige Anwendungen, zum Beispiel in galvanischen Beschichtungen von Metallen und Kunststoffen. Auf Porzellanglasuren, Zahnersatzkeramiken und Glas lassen sich Goldpigmente einbrennen. Historisch war die Feuervergoldung von Metallen mit Hilfe der Gold-Quecksilber-Legierungen, sogenannter Amalgame, nachweislich schon in der Antike die einzig brauchbare Methode, um dauerhafte Vergoldungen auf Silber, Bronze oder unedlen Metallen herzustellen. Mit der Entwicklung galvanischer Vergoldungsbäder im späten 19. Jahrhundert und 20. Jahrhundert wurde dieser Bereich in den Möglichkeiten qualitativ erweitert und ersetzt. Goldpigmente wurden historisch in der Glasherstellung seit dem 16. Jahrhundert eingesetzt (Goldrubinglas), werden allerdings weitgehend durch preiswertere Verfahren ersetzt. Im Speisenbereich wird Gold als Lebensmittelzusatzstoff verwendet. In Form von Blattgold und Blattgoldflocken dient es zum Vergolden von Speisen, zum Beispiel für Überzüge von Süßwaren und zur Verzierung von Pralinen. In Getränken wird es für Danziger Goldwasser und Schwabacher Goldwasser verwendet. Metallisches Gold gilt als ungiftig, reichert sich im Körper nicht an und wird mit dem Rest der verdauten Nahrung wieder ausgeschieden. Wertanlage und Währung Gold dient in Form von Goldmünzen und Barrengold als Wertanlage und als internationales Zahlungsmittel. Gold wird von vielen Zentralbanken der Welt als Währungsreserve eingelagert, obwohl die Währungen nicht mehr durch Goldreserven gedeckt sind. Anlagegold Private und institutionelle Anleger investieren in Gold und in Wertpapiere, die den Goldkurs abbilden. In Krisenzeiten (Inflation oder Wirtschaftskrise) wird Gold als stabile Wertanlage gesehen, die Wertsteigerungen relativ zu anderen Wertanlagen erfahren kann. Gold hat kein Ausfallrisiko wie die meisten anderen Geldanlagen, bei denen sich die Verzinsung unter anderem nach dem wahrgenommenen Ausfallrisiko der Marktteilnehmer richtet. Bei dieser Betrachtung ist allerdings zu beachten, dass der Goldpreis im Zeitablauf starken Schwankungen ausgesetzt ist. Goldpreis Der Preis des Goldes wird auf dem offenen Markt bestimmt. Das geschieht seit dem 17. Jahrhundert am London Bullion Market. Seit dem 12. September 1919 treffen sich wichtige Goldhändler in einer Rothschild-Bank in London, um den Goldpreis formal zu fixieren (siehe Goldfixing). Seit 1968 gibt es ein weiteres tägliches Treffen in der Bank um 15 Uhr Londoner Zeit, um den Preis zur Öffnungszeit der US-Börsen erneut festzulegen. Für den standardisierten Goldhandel an Rohstoffbörsen wurde „XAU“ als eigenes Währungskürzel nach ISO 4217 vergeben. Es bezeichnet den Preis einer Feinunze Gold. Am 17. März 1968 wurde der Goldpreis gespalten und ein zweigliedriges System eingeführt. Der eine Preis konnte sich frei dem Markt anpassen, der andere war fix. 1973 wurde der Goldpreis freigegeben, und der Besitz von Gold war in den USA wieder erlaubt. China hat den Privatbesitz von Gold 1983 wieder erlaubt (siehe Goldverbot). In Deutschland und einigen anderen Staaten gibt es Restriktionen z. B. durch die Mehrwertsteuer, die den Preis für den Endverbraucher erhöhen. Der Goldpreis ist unter anderem von den aktuellen Fördermengen, vom Ölpreis und vom Kurs des US-Dollars abhängig, da Gold zumeist in US-Dollar gehandelt wird. Er kann von den Zentralbanken beeinflusst werden, die zusammen etwa 35.516 Tonnen Gold besitzen, das sind rund 17,3 % der weltweit geförderten Goldmenge von bisher 205.238 Tonnen (Stand Dezember 2021). Gold als Währung oder Währungsdeckung Historisch wurde Gold seit Jahrtausenden als Währung eingesetzt. Eine Geldeinheit entsprach einer bestimmten Menge Gold. In Deutschland war während des Deutschen Reichs von 1871 bis 1918 das gesetzliche Zahlungsmittel die Goldmark (siehe auch Kurantmünze), wobei 2,79 Goldmark einem Gramm Gold entsprachen und die Reichsbank gegen Vorlage einer Banknote die entsprechende Menge in physisches Gold eintauschte. Die Golddeckung wurde zu Beginn des Ersten Weltkrieges aufgehoben; und konnte danach nicht wieder eingeführt werden wegen der Reparationen, die die Goldreserven des Deutschen Reiches verschlangen, und wegen der Vervielfachung der in Umlauf gebrachten Papiergeldmenge. Diese faktische Umstellung auf nicht-goldgedecktes Geld (Vertrauenswährung oder Fiat Money) führte bereits während des Krieges zur Abwertung der Mark und ermöglichte die Hyperinflation der 1920er Jahre. Lange Zeit entsprachen in den Vereinigten Staaten 20,67 US-Dollar einer Unze Gold. 1934 fand eine Abwertung des US-Dollars durch die Neufestlegung des Goldpreises auf 35 US-Dollar je Feinunze statt. Das neue Verhältnis wurde im Bretton-Woods-System von 1944 bestätigt. Um Gold als Währungsalternative auszuschließen und um die Währungsreserven (Goldreserve) zu erhöhen, war der Goldbesitz in den USA zeitweise verboten. Von 1933 bis 1973 war Goldbesitz nur in Form von Schmuck und Münzsammlungen erlaubt. Präsident Franklin D. Roosevelt ließ Gold über die Executive Order 6102 konfiszieren. Präsident Richard Nixon beendete 1971 das Bretton-Woods-System und schaffte dessen Versprechen ab, dass alle Nationalbanken eine Feinunze Gold für 35 US-Dollars von der US-Notenbank verlangen können. Da der Goldstandard die herausgegebene Geldmenge und die Höhe der Staatsverschuldung beschränkt, waren die Regierungen daran interessiert, ihre Währungen vom Gold zu lösen. In beiden Weltkriegen wurde der Goldstandard aufgegeben, da die benötigten Geldmittel zur Kriegsproduktion nur per Inflation aufzubringen waren. Heutzutage sind sämtliche Währungen der Welt vom Gold losgelöst, und erst dadurch war die extreme Ausweitung der heutigen Geldmengen und Schulden möglich. Die vorhandene Goldmenge würde zu den aktuellen Kursen nicht als Wertdeckung für eine bedeutsame Währung ausreichen. Das im Januar 2006 vorhandene Gold entsprach einem Marktwert von 2,5 Billionen € und wäre hypothetisch somit gerade einmal geeignet gewesen, die damaligen Staatsschulden Deutschlands und Spaniens zu decken. Im Falle einer erneuten Deckung von bedeutenden Währungen müsste der Goldkurs auf ein Vielfaches ansteigen. Elektronik Die Elektronikindustrie verwendet Gold u. a. aufgrund der guten Verarbeitbarkeit und hervorragenden Kontaktgabe (hohe Korrosionsbeständigkeit, leichte Lötbarkeit): Bonden: Bonddrähte (Verbindungsdrähtchen zwischen den Chips und den Anschlüssen Integrierter Schaltkreise) sowie Bondinseln und Leiterstrukturen werden teilweise aus reinem Gold gefertigt: ein Gramm lässt sich zu einem Bonddraht von mehr als drei Kilometern Länge ziehen. Aus Kostengründen werden zunehmend Bonddrähte aus Aluminium oder Kupfer eingesetzt. Die Montage (Chipbonden) von mikroelektronischen und Laserdioden-Chips erfolgt auf vergoldeten Flächen Leiterplatten (ihre Kupferleiterbahnen und Kontaktierungsstellen) mit Direkt-Steckverbindern werden häufig vergoldet Schaltkontakte für Signalschalter und Relais Vergolden von Steckverbindern und Kontaktflächen („Hauchvergolden“ oder bis 1 µm Schichtdicke) Medizin Wegen seiner Korrosionsbeständigkeit und ästhetischen Qualitäten wird es in der Zahnprothetik als Füll- oder Ersatzmaterial für defekte oder fehlende Zähne eingesetzt. Dabei kommen Legierungen zum Einsatz, da reines Gold zu weich wäre. Diese bestehen meist zu rund 80 % aus Gold und zu 20 % aus Beimetallen wie Platin. Die Popularität von Goldzähnen hat in westlichen Ländern zugunsten unauffälligerer Kunststoffimplantate abgenommen, während sie in vielen anderen Teilen der Erde nach wie vor häufig verwendet werden. Einige Goldsalze werden (intramuskulär verabreicht) heilend zur Rheumatherapie eingesetzt, etwa Aurothioglucose (Aureotan) als langsamwirkendes Langzeittherapeutikum. Die Goldsalze Natriumaurothiomalat und Auranofin werden als Basismedikamente gegen rheumatoide Arthritis (chronische Polyarthritis) angewendet. Goldtherapien erreichen ihre volle Wirkung erst nach mehreren Monaten und sind mit Nebenwirkungen verbunden. Es kann zu allergischen Reaktionen und bei unsachgemäßer Anwendung zu einer Schädigung von Leber, Blut und Nieren kommen. Etwa 50 % der Therapien mit Goldsalzen werden aufgrund der unerwünschten Wirkungen abgebrochen. In neuerer Zeit verdrängen preisgünstigere Medikamente mit besserem Nebenwirkungsprofil die Behandlung mit goldhaltigen Therapeutika. 1913 ließ der Arzneimittelhersteller Madaus das homöopathische Präparat Essentia Aurea: Goldtropfen patentieren, das unter der Marke „Herzgold“ verkauft und gegen Herz- und allgemeine Schwächezustände angewandt wurde. Seit dem Mittelalter waren, zuerst bei den Arabern, wohl auch vergoldete Pillen in Gebrauch. Meist wurden unter „Goldenen Pillen“ (pillae aureae, pillulae aureae, güldîn körnlîn) jedoch aus verschiedenen Zutaten hergestellte Pillen bezeichnet, die im salernitanischen Antidotarium Nicolai aufgeführt und als „wertvoll wie Gold“ angeboten wurden. In der 1485 veröffentlichten Kompilation Gart der Gesundheit nennt sich deren Verfasser, Johann Wonnecke von Kaub, „im Zusammenhang mit einem Goldtrank, den er selbst schon oft verordnet hatte“. Um 1935 wurden Versuche unternommen, die vor Einführung der Antibioka wenig erfolgreiche Syphilis-Therapie durch Anwendung von Goldpräparaten zu verbessern. Mitte der 1970er Jahre entwickelte der amerikanische Tierarzt Terry Durkes die Goldimplantation zur Schmerztherapie arthrotischer Gelenke bei Hunden und Pferden, die seit 1996 auch in der Humanmedizin als alternativmedizinisches Verfahren angewandt wird. Ein wissenschaftlicher Wirkungsnachweis liegt nicht vor, das Verfahren ist in keiner Leitlinie genannt. Optik Gold reflektiert Infrarot sehr gut (98 % bei Wellenlängen > 700 nm). Deshalb und wegen dessen Korrosionsbeständigkeit werden reflektierende Beschichtungen auf Gläsern, Strahlteilern und Spiegeln – auch Laserspiegel für Laser im mittleren Infrarot – sowie auf Hitzeschutzvisieren (Feuerwehr, Gießereien usw.) aus Goldschichten hergestellt (Sputtern, Bedampfen, ohne oder mit Schutzschicht). Gold ist ein Dotand von Germanium (Germanium-Gold, kurz Ge:Au) – einem Halbleiter zum Nachweis von Infrarot von 1 bis etwa 8 µm Wellenlänge bei Kühlung auf 77 K nach dem Prinzip der Photoleitung. Die Spiegelsegmente des am 25. Dezember 2021 gestarteten Weltraumteleskops James-Webb sind mit Gold bedampft, um Infrarot möglichst gut zu reflektieren. Nanopartikel Nanoskopisch vorliegende metallische Goldpartikel, also solche mit einer Größe im Nanometer-Maßstab, sind in jüngster Zeit Schwerpunkt intensiver Forschung geworden, weil ihre Verwendung als heterogene Katalysatoren in organisch-chemischen Reaktionen neue, lösungsmittelfreie Verfahren zulässt. Dies ist Teil eines Prozesses der Umgestaltung der chemischen Produktionsweisen in Richtung einer grünen Chemie. Weiterhin werden Gold-Nanopartikel als inertes Trägermaterial mit verschiedenen Molekülen beschichtet, etwa zur Verwendung in einer Genkanone. In diesem Zusammenhang wurde entdeckt, dass Gold-Nanopartikel nach Adsorption chiraler Substanzen selbst chirale Strukturen aufweisen können. Die Chiralität dieser Partikel kann durch die Enantiomere der Adsorbentien gesteuert werden, bleibt jedoch erhalten, wenn in achiraler (racemischer) Umgebung verfahren wird. Reinheit und Echtheit Feingehalt Die Reinheit von Gold wird historisch in Karat (abgekürzt kt) angegeben. 24 Karat entsprechen purem Gold (Feingold). Mit Einführung des metrischen Systems wurde die Umstellung auf Promille-Angaben vorgenommen. So bedeutet der Stempeleindruck „750“ in Goldware, dass das Metall von 1000 Gewichtsanteilen 750 Anteile (d. h. ¾) reines Gold enthält, entsprechend 18 Karat („585“ entspricht 14 Karat, „375“ entspricht 9 Karat und „333“ entspricht 8 Karat). Bullionmünzen haben entweder 916,6 Promille (American Eagle, Britannia (bis 2012), Krugerrand) oder 999,9 Promille Gold (American Buffalo, Britannia (seit 2013), Maple Leaf, Nugget, Wiener Philharmoniker). Die Reinheit kann mit einer Dezimalzahl angegeben werden, zum Beispiel als 0,999 oder 1,000 (Feingold). Hochwertiger Schmuck wird international üblicherweise aus Goldlegierungen mit einem Feingehalt von 750 oder höher angefertigt. Dabei ist die Wahl des verwendeten Feingehaltes von regionalen und kulturellen Vorlieben beeinflusst. So werden auf dem amerikanischen Kontinent vor allem Legierungen mit 585 ‰ Goldanteil verwendet, während im Nahen Osten sattgelber Goldschmuck ab Feingehalten von etwa 20 bis 22 kt (833–916 ‰) aufwärts besonders geschätzt wird. In Südostasien und im chinesisch, thailändisch und malaiisch beeinflussten Kulturkreis geht dies traditionell sogar bis hin zum Schmuck aus reinem Feingold, der in der dortigen Kultur als besonders hochwertig betrachtet wird. Die Anteile an eventuell enthaltenen anderen Edelmetallen (Silber, Palladium, Platin, Rhodium, Iridium u. a.) wird bei der Stempelung nicht berücksichtigt. Goldimitate Vor allem aufgrund des hohen Preises von Gold wurden Legierungen aus unedlen Metallen entwickelt, die als Goldimitat benutzt werden oder als Unterlage bei der Herstellung von Doublé Verwendung finden. Dies sind in den meisten Fällen ungenormte Kupferlegierungen mit den verschiedensten Zusätzen. Eine Legierung aus mindestens 50 % Kupfer und Zink als Hauptlegierungsanteil (bis über 44 %) ist als Messing bekannt. Die Zugabe von Blei (bis zu 3 %) erhöht die Zerspanbarkeit des Messings. Wichtige Messingsorten sind Tombak (über 67 % Kupfer) und Sondermessing (enthält weitere Metalle). Eine solche Legierung muss mit Lack vor Oxidation geschützt werden, um ihr goldglänzendes Aussehen zu behalten. Die Plasmabeschichtung mit Titannitrid führt zu sehr harten goldglänzenden Oberflächen, die neben technischen Anwendungen auch als Goldersatz dienen. Prüfmethoden Die Prüfung von Gold auf dessen Echtheit und Reinheit und somit die Wertbestimmung erfolgt durch verschiedene Methoden: Wiegen nach Archimedischem Prinzip: Feststellung des spezifischen Gewichts durch die Messung von verdrängtem Wasser und Vergleich mit offiziellen Listen. Eine einfache Methode mit einer Feinwaage, die aber bei vergoldetem Wolfram versagt. Strichprobe und Säuretest: Probierstriche werden mit Probiersäuren (meist Salpetersäure) in unterschiedlicher Konzentration betupft. Mit dieser Methode behelfen sich Goldschmiede, Münzsammler zur annähernden Bestimmung des Feingehaltes im Alltag. Beim Säuretest muss ein Teil des Prüflings abgerieben werden, so wird ein Materialverlust in Kauf genommen. Röntgenfluoreszenzspektrometer: Abtastung mit Röntgenstrahlen im Labor und Auswertung mit einem Computerprogramm. Sehr exakte Bestimmung des Feingehalts von Edelmetallen ohne Materialverlust, jedoch muss die notwendige Ausstattung vorhanden sein. Leitfähigkeitsanalyse mit der Wirbelstromprüfung: Mit Hilfe einer Spule wird ein wechselndes Magnetfeld erzeugt, welches Wirbelströme im Material induziert. Ein Sensor misst die elektrische Leitfähigkeit im Inneren des Metalles, welche mit dem Sollwert abgeglichen wird. Dies ist eine zerstörungsfreie Methode, um auch Münzen oder kleine Barren überprüfen zu können. Magnetwaage: Gold wird als diamagnetisches Material von einem externen Magnetfeld abgestoßen. Diese Kräfte lassen sich am besten mit einer Magnetwaage messen, wodurch man z. B. Gold von Wolfram-Imitaten unterscheiden kann, die sich paramagnetisch verhalten und damit in das Magnetfeld hineingezogen werden. Goldlegierungen Allgemeines Klassische Goldlegierungen für Schmuck gehören dem Dreistoffsystem Gold-Silber-Kupfer an. Ein Grund dafür ist, dass diese Metalle natürlich miteinander vorkommen und es bis ins 19. Jahrhundert in Europa verboten war, Gold mit anderen Metallen als Kupfer und Silber zu legieren. Das Farbspektrum derartiger Goldlegierungen reicht von sattgelb über hellgrün und lachsrosa bis hin zu silberweiß. Diese Legierungen sind leicht herstellbar und gut zu verarbeiten. Je nach Anforderung werden durch Zusatz weiterer Metalle die Legierungseigenschaften wie erwünscht beeinflusst. So senken beispielsweise kleinere Zusätze von Zink, Indium, Zinn, Cadmium oder Gallium die Schmelztemperaturen und die Oberflächenspannung der Metallschmelze bei nur geringfügiger Änderung der Farbe der Legierung. Dies ist eine Eigenschaft, die der Verwendung als Lotlegierungen für andere Goldwerkstoffe entgegenkommt. Andere Zusätze wie Platin, Nickel oder höhere Kupferanteile erhöhen beträchtlich die Härte der Metallmischung, verändern aber die Farbe. Zusätze wie Blei (bleihaltiges Lötzinn), Bismut und viele Leichtmetalle machen Goldlegierungen spröde, sodass diese nicht mehr verformbar sind. Doch nicht nur die Art, sondern auch die Menge der zugesetzten Metalle verändert die Goldlegierungen in gewünschter Weise. Ist eine satte Eigenfarbe erwünscht, sind bei sehr edlen Goldlegierungen mindestens drei Viertel Massenteile Gold erforderlich. Höchste Festigkeit und Härte werden bei den eher blasseren Goldlegierungen mit einem Feingehalt um 585 erreicht, weshalb dieses empirisch gefundene Legierungsverhältnis seit langem verwendet wurde. Legierungen mit einem deutlich geringeren Feingehalt als diese sind hingegen bei unedlen Beimischungen durch langfristige Korrosionseffekte bedroht. Weiterhin ist zu unterscheiden, ob die Legierungen als Gussmaterial verarbeitet werden sollen oder wie herkömmlich als Knetlegierungen, also schmiedbar, zur Kaltverformung geeignet sein müssen. Erstere beinhalten Kornfeinungszusätze im Zehntelpromillebereich, die beim langsamen Erstarren der Schmelze in der Gussform das Kristallwachstum günstig beeinflussen, Zusätze von etwas Silicium unterdrücken die Oberflächenoxidation beim Erhitzen in der Luft, verschlechtern aber die Kaltbearbeitungsfähigkeit und Lötbarkeit. Legieren bedeutet in diesem Zusammenhang letztlich ein „Verdünnen“ des reinen Goldes, und es werden seine Eigenschaften wie Farbe, Korrosionsfestigkeit, Preis, Dichte, mechanische Festigkeit und Polierfähigkeit verändert. Edelmetallanteile und Eigenschaften Die Eigenschaften – insbesondere das „Edle“ der Goldlegierungen – werden durch das Verhältnis von Edelmetallatomen zur Gesamtanzahl der Atome in der Legierung bestimmt. Dazu gehören Korrosionsfestigkeit und Farbwirkung. Zum Beispiel Gold mit der Atommasse 197 und Kupferatome mit 63,5 (nur rund ein Drittel) bilden eine Legierung mit dem Atomverhältnis 1:1. Der Massenanteil von umgerechnet 756 Teilen Feingold – üblich sind jedoch nur 750 – suggeriert einen hohen Edelmetallgehalt, obwohl dieser über den Anteil der Goldatome (die Stückzahl) nur 50 % beträgt. Somit sind bei den üblicherweise verwendeten 750er-Goldlegierungen weniger als die Hälfte der Atome Gold. Ein extremes Beispiel ist eine 333er-Goldlegierung, denn hier käme ein Goldatom auf 6 Kupferatome. Teilweise werden aber bis zu 9 andere Metalle verwendet. Dies erklärt die manchmal sehr unedlen Eigenschaften dieses Materials, wie hohe Anlaufneigung und geringe Farbtiefe. Viele Goldschmiede und Länder, wie die Schweiz, lehnen es daher ab, diese Legierung noch als „Gold“ aufzufassen. Farbgoldlegierungen Die Zahlangabe 750/ooo – egal ob bei Weißgold, Rotgold oder Gelbgold – besagt immer, dass dieselbe Menge Feingold in der jeweiligen Legierung enthalten ist. Kupfer, Silber oder Palladium und andere Legierbestandteile können jedoch – je nach der gewünschten Farbe der Goldlegierung – in ihrer mengenmäßigen Zusammensetzung wechseln. Tönung und Farbintensität können theoretisch stufenlos und beliebig gewählt werden. Rotgold Rotgold ist eine Goldlegierung, bestehend aus Feingold, Kupfer und gegebenenfalls etwas Silber, um die mechanische Verarbeitbarkeit zu verbessern. Der relativ hohe Kupferanteil, der deutlich über dem des Silbers liegt, ist für die namensgebende „rote“ Färbung und Härte des Materials verantwortlich. Der Farbton ist kupferähnlich. Regional sind bestimmte Goldfarbtönungen beliebt; so werden im Osten und Süden Europas eher dunklere und farbstarke rötlichere Goldlegierungen verwendet. Umgangssprachlich wurde Rotgold in der DDR als Russengold bezeichnet; teilweise ist in Süddeutschland noch der Begriff Türkengold gebräuchlich. Russengold hat den ungebräuchlichen Feingehalt von 583 und ist daran sehr gut zu erkennen. Die Färbung ist etwas heller als bei Rotgold anderer Herkunft. Helles, ins Rosa gehendes Gold mit geringem Kupferanteil, das dafür neben Silber auch Palladium enthalten kann, wird als Roségold angeboten. Gelbgold Dabei handelt es sich um eine dem Feingold ähnelnde gelbe Goldlegierung aus Feingold mit Silber und Kupfer. Mit abnehmendem Goldgehalt reduziert sich die Tiefe des Gelbtons sehr schnell. Üblicherweise ist das Verhältnis der dem Gold zugesetzten Metalle untereinander ca. 1:1; Die Farbe reicht von hellgelb mit deutlichem Silberanteil bis zu gelborange mit dem umgekehrten Verhältnis zum Kupferzusatz. Gelbgold ist durch ihren hohen Erkennungswert weltweit mit Abstand die beliebteste Goldfarbe. Grüngold Grüngold ( Green Gold) ist eine grünlichgelbe Goldlegierung ohne Kupferzusatz. Die Farbe entsteht durch Annäherung an das Atomverhältnis Gold:Silber 1:1 was im optimalen Fall einem Goldanteil von 64,6 % entspricht, bei dem der deutlichste Grünton auftritt. Da in diesem Falle der Silberanteil schon rund 35,4 % beträgt, ist der Farbton relativ hell. Üblich sind in den USA Massenverhältnisse bei Gold:Silber von 3:2 (als 18 Karat bezeichnet), aber auch Zusätze geringer Anteile Kupfer bis etwa 10 %. Bis zur Hälfte des Silbers lässt sich durch Cadmium ersetzen, was in England üblich war und den Grünton intensiviert, die günstigen Anlaufeigenschaften und die Schmelztemperatur allerdings reduziert; die Legierungen werden sehr weich und wenig farbstark, weshalb mit einem Goldanteil von 75 % gearbeitet wird. Grüngold wird zum Beispiel auch zur Darstellung von Laubblättern oder ähnlichem verwendet. Weißgold und Graugold Weißgold als Sammelbegriff bezeichnet Goldlegierungen, die durch Beimischung deutlich entfärbender Zusatzmetalle eine weiß-blassgetönte Goldlegierung ergeben. Als Legierungszusätze werden hauptsächlich das Platinnebenmetall Palladium, (früher sehr häufig) Nickel oder Silber verwendet. Der Rest, der dann noch bis zum berechneten Gesamtvolumen fehlt, wird oft aus Kupfer oder Silber gestellt. Im frankophonen Sprachraum sind diese Werkstoffe treffender als or gris, „Graugold“, bekannt. Viele Metalle bilden mit Gold „weiße“ Legierungen, so Quecksilber oder Eisen (durch die Legierung mit dem Edelmetall Gold wird Eisen nicht rostfrei). Platin bildet mit Gold eine schwere und sehr gut aushärtbare Legierung. Die in präkolumbischer Zeit in Südamerika hergestellten Platinobjekte bestehen aus diesem weißlich-beige bis schmutzig-grau aussehenden Material. Nickelhaltiges Weißgold (eine Gold-Kupfer-Nickel-Zink-Legierung mit variablen 10–13 % Nickelanteil) kann als durch den Nickel­zusatz entfärbte Rotgoldlegierung aufgefasst werden; demzufolge ist es relativ hart und kann bis zur Federhärte gewalzt, gezogen oder geschmiedet werden. Die hohe Grundfestigkeit ermöglicht beispielsweise geringere Wandstärken bei gleicher Stabilität. Weitere Eigenschaften wie hervorragende Zerspanbarkeit und Polierbarkeit sind von großem Vorteil. Dazu kommen noch der niedrige Schmelzpunkt und günstigere Preis, der wiederum daraus resultiert, dass keine weiteren Edelmetalle im Zusatz enthalten sind und die Dichte geringer ist als beim palladiumlegierten Pendant. Für mechanisch beanspruchte Teile wie Broschierungen, Nadeln, Scharniere und Verbindungsteile wird dieses Material von den Schmuckherstellern und Juwelieren aufgrund der Festigkeit sehr geschätzt. Nickelweißgold ist die Basis von weißgoldenen Lotlegierungen. Da jedoch der Nickelanteil auf der Haut allergische Reaktionen hervorrufen kann, wird es mittlerweile in fast allen modernen Schmucklegierungen weitestgehend vermieden. Die edlere Alternative ist palladiumhaltiges Weißgold, eigentlich treffender als Graugold zu bezeichnen. Es ist vergleichsweise weich, wobei es unterschiedliche Rezepturen von harten bis weichen Legierungen gibt. Es handelt sich um Mehrstofflegierungen mit bis zu sechs Komponenten. Der Grundfarbton der palladiumbasierten Goldmischungen ist allgemein dunkler, eben „grauer“ als der des nickelbasierten Weißgoldes. Der Palladiumzusatz mit ca. 13–16 % muss höher als beim Nickelweißgold gewählt werden, um die Gesamtmischung vergleichbar zu entfärben. Üblicherweise werden diese Weiß-/Graugoldlegierungen nach der Bearbeitung meist rhodiniert. Daher ist es weniger wichtig, dass die Legierung ganz farbrein weiß oder hellgrau erscheint, und es wird bewusst am Palladiumzusatz gespart, welcher den Preis deutlich auftreibt und zudem die Mischung nachteilig dunkler färbt. Nativ sehen diese Werkstoffe demzufolge oft leicht beige aus. Der Vergleich mit Platin oder Silber ist augenfällig. Die Verarbeitungseigenschaften, wie Zerspanbarkeit, die bei maschinellem Drehen beispielsweise von Trauringen gefordert ist, stellen andere Anforderungen an die Werkzeuge. Die Gießeigenschaften (höherer Schmelzpunkt und höhere Oberflächenspannung der Schmelze) unterscheiden sich vom nickelbasierten Pendant. Eine strukturelle Zähigkeit der Legierungen erhöht den Aufwand der Hochglanzpolitur in ungewohnter Weise. Nachteilig ist der erhöhte Preis durch den nicht unbeträchtlichen Palladiumanteil und die höhere Dichte des Materials. Positiv zeigen die Legierungen ihren hohen Anteil an Edelmetallen (Gold-Palladium-Silber) in deren Eigenschaften. Ein Schmuckstück in Palladiumweißgold war im Januar 2007 ca. 20 % teurer als das vergleichbare aus Gelbgold bei gleichem Feingehalt. Anbieter von Goldlegierungen entwickeln immer wieder neuartige Werkstoffe. So gibt es Weißgoldlegierungen mit Cobalt, Chrom, Mangan-Germanium und anderen Metallen. Verarbeitungsprobleme, Preisentwicklungen oder mangelnde Akzeptanz der Kunden lassen solche neuen Goldlegierungen häufig schnell wieder vom Markt verschwinden. Da sich „weißes“ Gold nicht elektrochemisch abscheiden lässt, werden Schmuckerzeugnisse aus Weißgold in der Regel auf galvanischem Wege rhodiniert. Dieser Überzug mit Rhodium, einem Platin-Nebenmetall, bewirkt eine Farbverbesserung hin zu einem reinen, silberartigen Weiß sowie eine verbesserte Kratzfestigkeit gegenüber der unbeschichteten Metalloberfläche aus reinem Weißgold. Dieser Rhodiumüberzug muss nicht explizit angegeben werden. Durch Abtragen dieses Überzuges kommt das eigentliche Weiß- oder Graugold wieder zum Vorschein, was bei Trauringen oft zu optischen Beeinträchtigungen führt. In den letzten Jahren werden daher Weißgoldringe bewusst in ihrer Naturfarbe verkauft, um Enttäuschungen beim Verbraucher zu vermeiden. Titan-Gold-Legierung Eine aushärtbare Titan-Gold-Legierung mit 99 % Gold und 1 % Titan wird in der Trauringherstellung und Medizintechnik eingesetzt. Der hohe Edelmetallanteil in Verbindung mit hoher Festigkeit machen den Werkstoff interessant. Die gelbe Farbe ist vergleichbar mit der von 750 Gelbgold, jedoch „grauer“. Durch den Titanzusatz ist die Legierung beim Schmelzen sehr empfindlich und reagiert mit Sauerstoff und Stickstoff. Verbindungen Gold kommt in seinen Verbindungen hauptsächlich in den Oxidationsstufen +1 und +3 vor. Daneben ist −1-, +2- und +5-wertiges Gold bekannt. Goldverbindungen sind sehr instabil und zersetzen sich bei Erwärmung leicht unter Entstehung von elementarem Gold. Gold(III)-oxid (Au2O3) ist aufgrund des edlen Charakters des Elements nicht durch Verbrennung mit Sauerstoff zugänglich. Stattdessen wird von in wässriger Lösung stabilem Trichlorogold-Hydrat (AuCl3(H2O)) (als Säure eigentlich mit Hydrogentrichlorohydroxidoaurat(III) H[AuCl3(OH)] zu bezeichnen) ausgegangen, das, mit Lauge versetzt, als Gold(III)-hydroxid ausfällt. Beim Trocknen spaltet dieses Wasser ab und ergibt Gold(III)-oxid. Oberhalb von 160 °C zerfällt das Oxid wieder in die Elemente. Gold(III)-chlorid (AuCl3) entsteht beim Behandeln von Goldstaub mit Chlor bei ca. 250 °C oder aus HAuCl4 und SOCl2. Es bildet dunkelorangerote Nadeln, die in Wasser, Alkohol und Ether löslich sind. Wasser zersetzt AuCl3 zu Hydroxotrichlorogold(III)-säure, H[Au(OH)Cl3]. Tetrachloridogoldsäure, H[AuCl4] Das Tetrahydrat bildet zitronengelbe, lange, an feuchter Luft zerfließliche Kristallnadeln, die sich in Wasser und Alkohol sehr leicht lösen; bei Lichteinwirkung treten violettbraune Flecken auf. HAuCl4 entsteht, wenn die braunrote Gold(III)-chlorid-Lösung mit Salzsäure versetzt wird oder Gold in Königswasser gelöst und mit Salzsäure eingedampft wird. Es wird in der Medizin als Ätzmittel sowie in der Photographie (Goldtonbäder) und in der Galvanotechnik (Vergoldung) verwendet. Das Goldchlorid des Handels ist meist HAuCl4, das gelbe „Goldsalz“ dagegen Natriumgoldchlorid, Na(AuCl4) · 2 H2O. Gold(I)-sulfid und Gold(III)-sulfid Goldcyanide, Natrium- bzw. Kaliumdicyanidoaurat(I), (Na- bzw. K[Au(CN)2]), die beim Vergolden und in der Cyanid-Laugerei eine Rolle spielen. Gewonnen werden sie durch Auflösen von Gold in einer Kalium- oder Natriumcyanidlösung: 2Au + 1/2O2 + H2O + 4KCN -> 2K[Au(CN)2] + 2KOH Eine ähnliche Reaktion tritt auf, wenn Gold in einer Thioharnstofflösung gelöst wird. Beispiel anhand der Abwasseraufbereitung: 2Au + 4{Thioharnstoff (TH)} + Fe2(SO4)3 -> [Au(TH)2]2SO4 + 2FeSO4 Caesiumaurid ist ein Beispiel für Gold als Anion mit der formalen Oxidationsstufe −1: CsAu = Cs+Au− Gold(V)-fluorid ist ein Beispiel für eine Goldverbindung, die Gold in der Oxidationsstufe +5 enthält. Gold(II)-sulfat, AuSO4, ist eine der wenigen Verbindungen mit Gold in der Oxidationsstufe +2. In der Biologie wird Gold-Thioglucose verwendet, um bei Nagetieren experimentell Fettleibigkeit auszulösen. Goldverbindungen können aufgrund der Giftigkeit des Verbindungspartners zum Teil sehr giftig sein, etwa Tetrachloridogoldsäure und die Goldcyanide. Biologische Bedeutung Gold und Goldverbindungen sind für Lebewesen nicht essenziell. Da Gold in Magensäure unlöslich ist, ist beim Verzehr (etwa als Dekoration) von reinem, metallischem Gold keine Vergiftung zu befürchten. Reichern sich hingegen Gold-Ionen, zum Beispiel bei übermäßiger Aufnahme von Goldsalzen, im Körper an, kann es zu Symptomen einer Schwermetallvergiftung kommen. Die meisten Pflanzenwurzeln werden durch Gabe (hoher Mengen) an Goldsalzen geschädigt. Bei Goldfüllungen und goldhaltigem Zahnersatz können die in den Goldlegierungen enthaltenen anderen Bestandteile, beispielsweise Zink, allergieauslösend sein. Metaphorische Verwendung und Symbolik Mit Gold, das für wertvoll und kostbar steht, werden andere wertvolle Sachen ebenfalls bezeichnet. Meist wird ein Adjektiv hinzugesetzt, wie „Schwarzes Gold“ für Öl. Wörter und Redewendungen, in denen Gold vorkommt, sind zudem in ihrer Bedeutung meist positiv oder euphemistisch besetzt. Beispiele: Schwarzes Gold – Öl, Kohle, Reifen (Rennsport), Kaviar, Shakudō, Kaffee, Sklaven, Trüffel Weißes Gold – Marmor, Speisesalz, Kokain, Baumwolle, Porzellan, Elfenbein, Spargel Blaues Gold – Trinkwasser (in wasserarmen Gebieten) Rotes Gold – Wein, Safran, Tomate Grünes Gold – Zuckerrohr, Jade Flüssiges Gold – Honig, Whisky, Bier Gold des Meeres (Meeresgold) – Korallen Gold des Nordens – Bernstein Ackergold – Kartoffel Katzengold oder Narrengold – Pyrit Trompetengold – scherzhafte Bezeichnung für Messing Nasengold – Kokain, Nasensekret (Popel) Hüftgold – energiereiche Nahrungsmittel bzw. Fettpolster am Körper Betongold – Immobilien goldrichtig – absolut richtig sich eine goldene Nase verdienen – bei Geschäften finanziell sehr erfolgreich sein Goldener Oktober – milde, sonnige Wetterperiode im Oktober eines Jahres, so genannt wegen des goldgelb gefärbten Laubes. Herz aus (purem) Gold – Wesenszug, der durch Fürsorglichkeit, Mitmenschlichkeit und Aufopferung gekennzeichnet ist. goldene Hände haben – handwerklich besonders begabt sein goldene Mitte, Goldener Mittelweg – Kompromisslösung Goldener Schnitt – harmonisch wirkende Teilung einer Strecke, Rechteck mit harmonischem Seitenverhältnis Goldene Hochzeit Es gibt zu diesen positiv besetzten Ausdrücken Gegenbeispiele, so sind goldene Wasserhähne nicht nur Zeichen von großem Luxus, sondern Sinnbild für Dekadenz. Als „Blutgold“ wurden illegal ausgeführte Goldmengen während des Zweiten Kongokriegs bezeichnet, mit denen die beteiligten Milizen ihre Waffenkäufe finanzierten (vgl. auch →Blutdiamanten). Schrottsammler bezeichnen Kupfer als „Gold“, da sie unter den gängigen Metallen für Kupfer den höchsten Preis erzielen. Heraldik Die heraldische Bezeichnung „Gold“ steht für Gelb (wie „Silber“ für Weiß). Gelb und Weiß werden in der Heraldik als „Metalle“ bezeichnet und sollten, wenn beide im gleichen Wappen vorkommen, durch eine „Farbe“ (etwa Rot, Blau, Grün, Schwarz) voneinander getrennt sein (siehe Tingierung). Siehe auch Gold/Tabellen und Grafiken (statistische und geographische Daten) Kolloidales Gold (Lösung oder Gel mit winzigen Goldpartikeln, tiefrot gefärbt) Goldelektrolyt Literatur Weblinks Einzelnachweise Grandfathered Mineral Kubisches Kristallsystem Elemente (Mineralklasse) Lebensmittelfarbstoff Elektrotechnischer Werkstoff Zahlungsmittel Wikipedia:Artikel mit Video Lebensmittelzusatzstoff (EU)
1810
https://de.wikipedia.org/wiki/Gallium
Gallium
Gallium ist ein selten vorkommendes chemisches Element mit dem Elementsymbol Ga und der Ordnungszahl 31. Im Periodensystem steht es in der 4. Periode und ist das dritte Element der 3. Hauptgruppe, 13. IUPAC-Gruppe, oder Borgruppe. Es ist ein silberweißes, leicht zu verflüssigendes Metall. Gallium kristallisiert nicht in einer der sonst häufig bei Metallen anzutreffenden Kristallstrukturen, sondern in seiner stabilsten Modifikation in einer orthorhombischen Struktur mit Gallium-Dimeren. Daneben sind noch sechs weitere Modifikationen bekannt, die sich bei speziellen Kristallisationsbedingungen oder unter hohem Druck bilden. In seinen chemischen Eigenschaften ähnelt das Metall stark dem Aluminium. In der Natur kommt Gallium nur in geringem Umfang und meist als Beimischung in Aluminium-, Zink- oder Germaniumerzen vor; Galliumminerale sind sehr selten. Gallium wird auch als Nebenprodukt bei der Produktion von Aluminium oder Zink gewonnen. Der größte Teil des Galliums wird zum III-V-Verbindungshalbleiter Galliumarsenid weiterverarbeitet, der vor allem in der Hochfrequenztechnik, beispielsweise für HF-Transistoren, und in der Optoelektronik, beispielsweise für Leuchtdioden, verwendet wird. Geschichte Erstmals wurde ein dem später Gallium genanntem entsprechendes Element 1871 von Dmitri Mendelejew vorausgesagt. Er prognostizierte mit Hilfe des von ihm entwickelten Periodensystems ein neues, Eka-Aluminium genanntes Element und sagte auch einige Eigenschaften dieses Elementes (Atommasse, spezifisches Gewicht, Schmelzpunktlage und Art der Salze) voraus. Der französische Chemiker Paul Émile Lecoq de Boisbaudran, der Mendelejews Voraussagen nicht kannte, hatte herausgefunden, dass in der Linienabfolge im Linienspektrum von Elementfamilien bestimmte Gesetze herrschen, und versuchte, diese für die Aluminiumfamilie zu bestätigen. Dabei erkannte er, dass zwischen Aluminium und Indium ein weiteres, noch unbekanntes Element stehen müsse. 1875 gelang es ihm schließlich, im Emissionsspektrum von Zinkblende-Erz, das er in Säure gelöst und mit metallischem Zink versetzt hatte, zwei violette Spektrallinien nachzuweisen, die er dem unbekannten Element zuordnete. Anschließend konnte Lecoq de Boisbaudran aus einigen hundert Kilogramm Zinkblende eine größere Menge Galliumhydroxid gewinnen. Daraus stellte er durch Lösen in einer Kaliumcarbonatlösung und Elektrolyse erstmals elementares Gallium dar. Lecoq de Boisbaudran benannte das Element nach Gallien, der lateinischen Bezeichnung seines Heimatlandes Frankreich. Nachdem die Eigenschaften des neuen Elementes bestimmt waren, erkannte Mendelejew schnell, dass es sich dabei um das von ihm vorausberechnete Eka-Aluminium handeln müsse. Viele Eigenschaften stimmten sehr genau mit den vorausberechneten Werten überein. So wich der theoretisch ermittelte Wert der Dichte von 5,9 nur sehr wenig vom experimentellen von 5,904 ab. Vorkommen Gallium ist auf der Erde ein seltenes Element. Mit einem Gehalt von 19 ppm in der kontinentalen Erdkruste ist seine Häufigkeit vergleichbar mit derjenigen von Lithium und Blei. Es kommt nicht elementar, sondern nur gebunden vor, vorwiegend in Aluminium-, Zink- oder Germaniumerzen. Zu den galliumreichsten Erzen zählen Bauxite, Zinkblende-Erze und Germanit. Die Galliumgehalte sind meist gering; so enthält der in Surinam gefundene Bauxit mit dem höchsten bekannten Gehalt nur 0,008 % Gallium. Die weltweit in Bauxit befindlichen Galliumreserven werden auf 1,6 · 106 Tonnen geschätzt. Höhere Gehalte mit bis zu 1 % Gallium kommen in Germanit vor. Lediglich in der Apex-Mine im US-Bundesstaat Utah kommen so hohe Gehalte in den Erzen vor, dass ein Abbau zur Galliumgewinnung versucht wurde. Dies scheiterte jedoch nach kurzer Zeit aus Rentabilitätsgründen. Nur wenige Galliumminerale sind bekannt; zu diesen zählen die vorwiegend in Tsumeb in Namibia gefundenen Gallit (CuGaS2), Söhngeit (Ga(OH)3) und Tsumgallit (GaO(OH)). Gewinnung und Darstellung Gallium wird als Nebenprodukt bei der Aluminiumherstellung aus Bauxit im Bayer-Verfahren gewonnen. Als Ausgangsprodukt dient das dabei in Natronlauge gelöste Gemisch von Natriumaluminat und Natriumgallat. Durch verschiedene Verfahren kann hieraus Gallium vom Aluminium getrennt werden. Eine Möglichkeit ist die fraktionierte Kristallisation mit Hilfe von Kohlenstoffdioxid, wobei zunächst bevorzugt Aluminiumhydroxid ausfällt, während sich das leichter lösliche Natriumgallat in der Natronlauge anreichert. Erst nach weiteren Prozessschritten wird Galliumhydroxid gefällt, vermischt mit Aluminiumhydroxid. Anschließend wird das Gemisch in Natronlauge gelöst und Gallium durch Elektrolyse gewonnen. Da dieses Verfahren energie- und arbeitsaufwendig ist, wird es nur in Ländern mit geringen Kosten dafür, etwa der Volksrepublik China, angewendet. Gallium kann auch direkt durch Elektrolyse aus der Natronlauge gewonnen werden. Dazu werden Quecksilberkathoden eingesetzt, wobei sich bei der Elektrolyse ein Galliumamalgam bildet. Auch das Versetzen der Lösung mit Natriumamalgam ist möglich. Mit Hilfe spezieller Hydroxychinoline als Chelatliganden ist es möglich, Gallium aus der Natronlauge mit Kerosin zu extrahieren und so vom Aluminium zu trennen. Weitere Elemente, die dabei ebenfalls extrahiert werden, können mit verdünnten Säuren abgetrennt werden. Anschließend wird die verbliebene Galliumverbindung in konzentrierter Salz- oder Schwefelsäure gelöst und elektrolytisch zum Metall reduziert. Im Labormaßstab lässt sich Gallium durch Elektrolyse einer Lösung von Galliumhydroxid in Natronlauge an Platin- oder Wolfram-Elektroden darstellen. Für viele technische Anwendungen wird sehr reines Gallium benötigt; für Halbleiter beispielsweise darf es mitunter nur ein Hundertmillionstel an Fremdstoffen enthalten. Mögliche Reinigungsverfahren sind Vakuumdestillation, fraktionierte Kristallisation oder Zonenschmelzen. Die Menge an produziertem Gallium ist gering, aber aufgrund der zunehmenden Verwendung in der Halbleiterindustrie stark steigend. 2008 betrug die Weltprimärproduktion 95 Tonnen, im Jahr 2021 schon geschätzt 430 Tonnen, davon 225 t hochreines Gallium. Hauptproduktionsland von primärem Gallium mit fast 97 % Weltmarktanteil im Jahr 2020 war China. Da es nach 2012 zu einem Überschuss an Gallium und damit Preisverfall kam, stellten damals viele Länder die Primärproduktion von Gallium ein. Kasachstan z. B. 2013, Ungarn 2015, Deutschland 2016, Großbritannien 2018 und die Ukraine 2019. Wegen steigender Preise 2020 und 2021 kündigte Deutschland eine Wiederaufnahme der Primärproduktion von Gallium für Ende 2021 an. Eine weitere wichtige Quelle ist das Wiederaufbereiten von galliumhaltigen Abfällen, daraus wurden 2008 weitere 135 Tonnen Gallium gewonnen. Galliumrecycling findet in den Vereinigten Staaten, Japan, der Slowakei, Deutschland, der Volksrepublik China und Kanada statt. Die weltweiten Reserven an Gallium sind unbekannt. Durchschnittlich enthalten Bauxit und manche Zinkerze ca. 50 ppm Gallium. Somit ergibt sich rechnerisch aus den weltweit bekannten Bauxitreserven eine Menge von ca. 1 Mio. Tonnen Gallium, wovon aber nur 10 % als gewinnbar gelten. Die Produktion von Gallium ist sehr energieintensiv. Laut Angaben der Rohstoffallianz ERMA ist das ein Grund, warum etwa 80 Prozent aus der VR China kommen. Die Volksrepublik China hat im Juli bekanntgegeben, dass ab dem 1. August 2023 Genehmigungen für den Export von Gallium und Germanium nötig sein werden. Die staatlichen Förderkonzerne der DR Kongo und Russlands haben angekündigt, ihre Fördermengen auszuweiten. Kasachstan hat in der Vergangenheit schon bis zu 40 Prozent des Galliumbedarfs auf der Welt abgedeckt. Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Gallium ist ein silberweißes, weiches (Mohs-Härte: 1,5) Metall. Es hat einen für Metalle ungewöhnlich niedrigen Schmelzpunkt, der bei 29,76 °C liegt. Es ist damit nach Quecksilber und Caesium das Metall mit dem niedrigsten Schmelzpunkt, der auch deutlich unter denjenigen der benachbarten Elemente Aluminium und Indium liegt. Verantwortlich hierfür ist wahrscheinlich die ungewöhnliche Kristallstruktur, die im Gegensatz zu den Strukturen anderer Metalle keine hohe Symmetrie aufweist und daher nicht sehr stabil ist. Da der Siedepunkt mit 2400 °C vergleichsweise hoch liegt, besitzt Gallium einen ungewöhnlich großen Bereich, in dem es flüssig ist. Auf Grund der schwierigen Kristallisation lässt sich flüssiges Gallium leicht unter den Schmelzpunkt abkühlen (Unterkühlung) und kristallisiert bei der Bildung von Kristallisationskeimen schlagartig. Typische Werte der Unterkühlung liegen bei Temperaturunterschieden von 40 bis 70 °C. Schmelzpunkt und Gefrierpunkt werden durch Verminderung der Größe verringert, so weist ein 35 nm großer Partikel Gallium eine Schmelztemperatur von ca. −14,7 °C und eine Gefriertemperatur von ca. −128,3 °C auf. Die physikalischen Eigenschaften verändern sich durch den fest-flüssigen Phasenübergang. So sinkt die elektrische Leitfähigkeit am Phasenübergang von ca. 0,71 · 105 S/cm (Feststoff) auf 0,38· 105 S/cm (Flüssigkeit). Weiterhin besitzt Gallium – wie Silicium, einige andere Elemente und Wasser – eine Dichteanomalie; seine Dichte ist im flüssigen Zustand um etwa 3,2 % höher als in fester Form und liegt bei ca. 6,09 g/cm³. Dies ist typisch für Stoffe, die im festen Zustand molekulare Bindungen besitzen. Weitere wichtige Parameter für Flüssigkeiten sind die Oberflächenspannung und die Viskosität. Die Oberflächenspannung wurde von vielen Wissenschaftlern gemessen und man hat sich auf einen Wert von ca. 711 mN/m geeinigt (zum Vergleich liegt die Oberflächenspannung von Wasser bei ca. 72,7 mN/m). Die Oberflächenspannung sinkt durch Oxidation (Gallium oxidiert an der Luft spontan und schnell) auf etwa die Hälfte des ursprünglichen Wertes (ca. 360 mN/m), ist jedoch schwer zu messen, da sich die Oxidschicht wie ein Feststoff verhält und somit eine Fließgrenze entsteht. Die Viskosität von flüssigem Gallium liegt bei ca. 2,0 mPa·s. Gallium ist im festen Zustand diamagnetisch, wird jedoch im flüssigen Zustand paramagnetisch (χm = 2,4 · 10−6 bei 40 °C). Charakteristisch für seine Strukturen ist das Ausbilden von Gallium-Gallium-Bindungen. Es sind verschiedene Modifikationen bekannt, die sich bei unterschiedlichen Kristallisationsbedingungen (vier bekannte Modifikationen, α- bis δ-Gallium, unter Normaldruck) und unter Druck bilden (insgesamt drei weitere Hochdruckmodifikationen, Ga-II, Ga-III, Ga-IV). Die bei Raumtemperatur stabilste Modifikation ist das α-Gallium, das in einer orthorhombischen Schichtstruktur kristallisiert. Dabei bilden jeweils zwei über eine kovalente Bindung aneinander gebundene Atome ein Dimer. Jedes Galliumatom grenzt zusätzlich an sechs weitere Atome anderer Dimere. Zwischen den einzelnen Dimeren herrschen metallische Bindungen. Die Galliumdimere sind so stabil, dass sie auch beim Schmelzen zunächst erhalten bleiben und auch in der Gasphase nachweisbar sind. Weitere Modifikationen bilden sich bei der Kristallisation von unterkühltem, flüssigem Gallium. Bei −16,3 °C bildet sich β-Gallium, das eine monokline Kristallstruktur besitzt. In der Struktur liegen parallel angeordnete Zickzackketten aus Galliumatomen vor. Tritt die Kristallisation bei einer Temperatur von −19,4 °C ein, bildet sich trigonales δ-Gallium, in dem vergleichbar mit α-Bor verzerrte Ikosaeder aus zwölf Galliumatomen vorliegen. Diese sind über einzelne Galliumatome miteinander verbunden. Bei −35,6 °C entsteht schließlich γ-Gallium. In dieser orthorhombischen Modifikation bilden sich Röhren aus miteinander verbundenen Ga7-Ringen aus, in deren Mitte eine lineare Kette aus weiteren Galliumatomen liegt. Wird Gallium bei Raumtemperatur unter hohen Druck gesetzt, so bilden sich bei Druckerhöhung nacheinander verschiedene Hochdruckmodifikationen. Ab 30 kbar ist die kubische Gallium-II-Modifikation stabil, bei der jedes Atom von jeweils acht weiteren umgeben ist. Wird der Druck auf 140 kbar erhöht, kristallisiert das Metall nun als tetragonales Gallium-III in einer Struktur, die derjenigen des Indiums entspricht. Wird der Druck weiter auf etwa 1200 kbar erhöht, bildet sich schließlich die kubisch-flächenzentrierte Struktur des Gallium-IV. Chemische Eigenschaften Die chemischen Eigenschaften von Gallium ähneln denen des Aluminiums. Wie dieses ist Gallium durch die Bildung einer dichten Oxidschicht an der Luft passiviert und reagiert nicht. Erst in reinem Sauerstoff bei hohem Druck verbrennt das Metall mit heller Flamme unter Bildung des Oxides. Ähnlich reagiert es auch nicht mit Wasser, da sich hierbei das unlösliche Galliumhydroxid bildet. Ist dagegen Gallium mit Aluminium legiert und das Eutektikum bei Raumtemperatur flüssig, so reagiert es sehr heftig mit Wasser. Auch mit Halogenen reagiert Gallium schnell unter Bildung der entsprechenden Salze GaX3. Gallium ist amphoter und sowohl in Säuren als auch in Basen unter Wasserstoffentwicklung löslich. In Säuren bilden sich analog zu Aluminium Salze mit Ga3+-Ionen, in Basen Gallate der Form [Ga(OH)4]−. In verdünnten Säuren löst es sich dabei langsam, in Königswasser und konzentrierter Natronlauge schnell. Durch Salpetersäure wird Gallium passiviert. 2NaOH + 2Ga + 6H2O -> 2Na[Ga(OH)4] + 3H2 ^ Reaktion von Gallium mit Natronlauge Die meisten Metalle werden von flüssigem Gallium angegriffen. Es wird meist in Kunststoffbehältern, z. B. aus Polystyrol, aufbewahrt. Als Reaktionsgefäße kommen Behälter aus Glas, Quarz, Graphit, Aluminiumoxid, Wolfram bis 800 °C und Tantal bis 450 °C zum Einsatz. Isotope Es sind insgesamt 31 Galliumisotope zwischen 56Ga und 87Ga und weitere elf Kernisomere bekannt. Von diesen sind zwei, 69Ga und 71Ga stabil und kommen auch in der Natur vor. In der natürlichen Isotopenzusammensetzung überwiegt 69Ga mit 60,12 %, 39,88 % sind 71Ga. Von den instabilen Isotopen besitzt 67Ga mit 3,26 Tagen die längste Halbwertszeit, die übrigen Halbwertszeiten reichen von Sekunden bis maximal 14,1 Stunden bei 72Ga. Zwei Galliumisotope, 67Ga und das mit 67,71 Minuten Halbwertszeit kurzlebige 68Ga werden in der Nuklearmedizin als Tracer für die Positronen-Emissions-Tomographie genutzt. 67Ga wird dabei in einem Cyclotron erzeugt, während bei der Erzeugung von 68Ga kein Cyclotron nötig ist. Stattdessen wird das längerlebige Germaniumisotop 68Ge durch Bestrahlung von 69Ga mit Protonen erzeugt. Dieses zerfällt zu 68Ga, wobei das entstandene 68Ga in einem Gallium-68-Generator extrahiert werden kann. Für Untersuchungen wird das Gallium in der Regel in einem Komplex mit einem stark chelatisierenden Liganden wie 1,4,7,10-Tetraazacyclododecan-1,4,7,10-tetraessigsäure (DOTA) gebunden. → Liste der Gallium-Isotope Verwendung Auf Grund der Seltenheit des Elementes wird Gallium nur in geringem Umfang verwendet. Aus dem größten Teil des produzierten Galliums werden verschiedene Galliumverbindungen hergestellt. Die mit Abstand ökonomisch wichtigsten sind die mit Elementen der 5. Hauptgruppe, vor allem Galliumarsenid, das unter anderem für Solarzellen und Leuchtdioden benötigt wird. Im Jahre 2003 wurden 95 % des produzierten Galliums hierzu verarbeitet. Daneben dient es auch als Material zur Dotierung von Silicium (p-Dotierung). Der große Temperaturbereich, in dem das Element flüssig ist, und der gleichzeitig niedrige Dampfdruck werden für den Bau von Thermometern (als Bestandteil von Galinstan) ausgenutzt. Galliumthermometer lassen sich bis zu Temperaturen von 1200 °C einsetzen. Flüssiges Gallium kann als Sperrflüssigkeit zur Volumenmessung von Gasen bei höheren Temperaturen sowie als flüssiges Elektrodenmaterial bei der Gewinnung von Reinstmetallen wie Indium verwendet werden. Gallium besitzt eine hohe Benetzbarkeit und ein gutes Reflexionsvermögen und wird darum als Beschichtung für Spiegel eingesetzt. Zudem wird es in Schmelzlegierungen, für Wärmetauscher in Kernreaktoren und als Ersatz für Quecksilber in Lampen eingesetzt. Legierungen von Gallium mit anderen Metallen haben verschiedene Einsatzgebiete. Magnetische Werkstoffe entstehen durch Legieren mit Gadolinium, Eisen, Yttrium, Lithium und Magnesium. Die Legierung mit Vanadium in der Zusammensetzung V3Ga ist ein Supraleiter mit der vergleichsweise hohen Sprungtemperatur von 16,8 K. In Kernwaffen wird es mit Plutonium legiert, um Phasenumwandlungen zu verhindern. Viele Galliumlegierungen wie Galinstan sind bei Raumtemperatur flüssig und können das giftige Quecksilber oder die sehr reaktiven Natrium-Kalium-Legierungen ersetzen. Legierungen von Indium oder Gallium mit Gold können eine blaue Farbe aufweisen. Aufgrund seines niedrigen Schwellenwerts für den Neutrinoeinfang von nur 233,2 keV eignet sich Gallium als Detektormaterial zum Nachweis solarer Neutrinos (vgl. Sonnenneutrinoexperiment GALLEX). Außerdem spielt Gallium eine Rolle in der medizinischen Diagnostik: Bei der Gallium-68-Dotatate-PET-CT-Ganzkörperuntersuchung wird das Element genutzt, um neuroendokrine Tumoren zu diagnostizieren. Nachweis Gallium lässt sich mit verschiedenen typischen Farbreaktionen qualitativ nachweisen. Dazu zählen die Reaktion mit Rhodamin B in Benzol, das bei Zusatz von Gallium orangegelb bis rotviolett fluoresziert, Morin, das wie bei der Reaktion mit Aluminium eine grüne Fluoreszenz zeigt, und Kaliumhexacyanidoferrat(III), mit dem Gallium einen weißen Niederschlag aus Galliumhexacyanidoferrat(III) bildet. Zudem ist ein spektroskopischer Nachweis über die charakteristischen violetten Spektrallinien bei 417,1 und 403,1 nm möglich. Quantitative Nachweise können über komplexometrische Titrationen, beispielsweise mit Ethylendiamintetraessigsäure oder über die Atomabsorptionsspektrometrie, erfolgen. Toxikologie und biologische Bedeutung Für Galliummetall existieren keine toxikologischen Daten; es wirkt jedoch reizend auf Haut, Augen und Atemwege. Die Verbindungen Gallium(III)-nitrat Ga(NO3)3 und Gallium(III)-oxid Ga2O3 besitzen orale LD50-Werte im Grammbereich: 4,360 g/kg für das Nitrat und 10 g/kg für das Oxid. Gallium wird daher als gering toxisch angesehen und spielt, soweit bekannt, als Spurenelement keine Rolle für den Menschen. Verbindungen Gallium kommt in Verbindungen fast ausschließlich in der Oxidationsstufe +3 vor. Daneben sind seltene und meist sehr instabile Gallium(I)-Verbindungen bekannt sowie solche, die sowohl ein- als auch dreiwertiges Gallium enthalten (formal Gallium(II)-Verbindungen). Verbindungen mit Elementen der Stickstoffgruppe Die technisch wichtigsten Verbindungen des Galliums sind diejenigen mit den Elementen der Stickstoffgruppe. Galliumnitrid, Galliumphosphid, Galliumarsenid und Galliumantimonid sind typische Halbleiter (III-V-Halbleiter) und werden für Transistoren, Dioden und andere Bauteile der Elektronik verwendet. Insbesondere Leuchtdioden verschiedener Farben werden aus Gallium-Stickstoffgruppen-Verbindungen hergestellt. Die von der Bandlücke abhängige Farbe kann dabei durch das unterschiedliche Verhältnis der Anionen oder auch durch das Ersetzen von Gallium durch Aluminium oder Indium eingestellt werden. Galliumarsenid wird darüber hinaus für Solarzellen verwendet. Insbesondere bei Satelliten werden diese eingesetzt, da Galliumarsenid widerstandsfähiger gegen ionisierende Strahlung als Silicium ist. Halogenide Galliumhalogenide der Form GaX3 ähneln in vielen Eigenschaften den entsprechenden Aluminiumverbindungen. Mit Ausnahme des Gallium(III)-fluorides kommen sie als Dimer in einer Aluminiumbromidstruktur vor. Als einziges Halogenid hat Gallium(III)-chlorid eine geringe wirtschaftliche Bedeutung. Es wird als Lewis-Säure in Friedel-Crafts-Reaktionen eingesetzt. Weitere Verbindungen Gallium(III)-oxid ist wie Aluminiumoxid ein farbloser, hochschmelzender Feststoff. Es kommt in fünf verschiedenen Modifikationen vor, von denen die monokline β-Modifikation am stabilsten ist. Organische Galliumverbindungen existieren als Gallane GaR3, Gallylene GaR und als höhere Gallane, die Gallium-Gallium-Bindungen enthalten. Sie sind wie viele andere metallorganische Verbindungen instabil gegen Luft und Hydrolyse. Eine der wenigen galliumorganischen Verbindungen mit wirtschaftlicher Bedeutung ist Trimethylgallium, das als Dotierungsreagenz und für die Erzeugung dünner Schichten an Galliumarsenid und Galliumnitrid in der metallorganischen Gasphasenepitaxie eingesetzt wird. Einen Überblick über Galliumverbindungen gibt die :Kategorie:Galliumverbindung. Literatur J. F. Greber: Gallium and Gallium Compounds. In: Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry. 7. Auflage. Wiley-VCH, Weinheim 2005, . Weblinks Video: Schmelzendes Gallium Einzelnachweise
1811
https://de.wikipedia.org/wiki/Gadolinium
Gadolinium
Gadolinium ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Gd und der Ordnungszahl 64. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Lanthanoide und zählt damit auch zu den Metallen der Seltenen Erden. Geschichte Das Element wurde erstmals 1880 vom Schweizer Chemiker Jean Charles Galissard de Marignac entdeckt. Er untersuchte dabei die Bestandteile von Samarskit und ihre unterschiedliche Löslichkeit in Kaliumsulfat-Lösungen. Es bildeten sich je nach Löslichkeit mehrere Fraktionen. In einer der Fraktionen fand er im Absorptionsspektrum die Spektrallinien eines unbekannten Elements. Dieses nannte er, da er nicht ausreichend Material für eine exakte Bestimmung erhalten konnte, Yα. Daneben fand er in einer weiteren Fraktion das ihm ebenfalls unbekannte Yβ, hierbei stellte sich jedoch schnell heraus, dass es sich um das schon von Marc Delafontaine und Paul Émile Lecoq de Boisbaudran gefundene Samarium handelte. Nachdem die Existenz von Yα von William Crookes und Paul Émile Lecoq de Boisbaudran bestätigt werden konnte, nannte Lecoq de Boisbaudran am 19. April 1886 das neue Element in Absprache mit Marignac Gadolinium, zu Ehren des finnischen Chemikers Johan Gadolin, mit dem Symbol Gd. Metallisches Gadolinium wurde erstmals 1935 von Félix Trombe gewonnen. Er nutzte dafür die elektrolytische Reduktion einer Schmelze aus Gadolinium(III)-chlorid, Kaliumchlorid und Lithiumchlorid bei 625–675 °C an Cadmiumelektroden. Kurze Zeit später entdeckte er zusammen mit Georges Urbain und Pierre-Ernest Weiss den Ferromagnetismus des Elements. Vorkommen Gadolinium ist auf der Erde ein seltenes Element, sein Anteil an der kontinentalen Erdkruste beträgt etwa 6,2 ppm. Das Element kommt in vielen Mineralen der Seltenerdmetalle in unterschiedlichen Gehalten vor. Besonders hoch ist der Gadoliniumgehalt in Mineralen der Yttererden wie Xenotim. In Xenotimvorkommen aus Malaysia beträgt der Gadoliniumanteil etwa 4 %. Aber auch Monazit enthält je nach Lagerstätte 1,5 bis 2 % des Elements, in Bastnäsit ist der Anteil mit 0,15 bis 0,7 % dagegen geringer. Es ist nur ein einziges Mineral bekannt, in dem Gadolinium das Seltenerdmetall mit dem höchsten Anteil ist. Dabei handelt es sich um das sehr seltene Uranylcarbonat Lepersonnit-(Gd) mit der chemischen Zusammensetzung Ca(Gd,Dy)2(UO2)24(SiO4)4(CO3)8(OH)24 · 48H2O. Gewinnung und Darstellung Aufgrund der nur geringen Mengen des in den Erzen enthaltenen Gadoliniums und der Ähnlichkeit mit den anderen Lanthanoiden ist dessen Separierung schwierig. Nach dem Aufschluss der Ausgangsmaterialien wie Monazit oder Bastnäsit mit Schwefelsäure oder Natronlauge sind verschiedene Wege zur Abtrennung möglich. Neben Ionenaustausch ist besonders ein auf der Flüssig-Flüssig-Extraktion basierendes Verfahren wichtig. Dabei wird bei Bastnäsit als Ausgangsmaterial zunächst das Cer in Form von Cer(IV)-oxid abgetrennt und die verbleibenden Seltenen Erden in Salzsäure gelöst. Daraufhin werden mit Hilfe einer Mischung von DEHPA (Di(2-ethylhexyl)phosphorsäure) und Kerosin in Flüssig-Flüssig-Extraktion Europium, Gadolinium, Samarium und die schwereren Seltenerdmetalle von den leichten getrennt. Ersteres lässt sich chemisch durch Reduktion zu zweiwertigem Europium und Fällung als schwerlösliches Europium(II)-sulfat abtrennen. Für die Trennung von Gadolinium, Samarium und dem Rest wird wiederum die Flüssig-Flüssig-Extraktion genutzt. Die Mischung wird in verdünnter Salzsäure gelöst, mit einer Mischung von DEHPA und Trimethylbenzolen (Shellsol A) behandelt und in einer Mixer-Settler-Apparatur getrennt. Die Gewinnung elementaren Gadoliniums ist über die Reduktion von Gadolinium(III)-fluorid mit Calcium möglich. 2 GdF3 + 3 Ca -> 2 Gd + 3 CaF2 Gadolinium wird nur in geringerem Umfang produziert und benötigt. Wichtigster Produzent ist, wie bei allen Seltenerdmetallen, die Volksrepublik China. Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Das silbrigweiß bis grauweiß glänzende Metall der Seltenen Erden ist duktil und schmiedbar. Es kristallisiert in einer hexagonal-dichtesten Kristallstruktur mit den Gitterparametern a = 363 pm und c = 578 pm. Oberhalb von 1262 °C geht die Struktur in eine kubisch-raumzentrierte Struktur über. Neben dieser Hochtemperaturphase sind mehrere Hochdruckphasen bekannt. Die Abfolge der Phasen entspricht dabei der der anderen Lanthanoide (außer Europium und Ytterbium). Auf die hexagonale Struktur folgt (jeweils bei Raumtemperatur) bei Drücken über 1,5 GPa eine Struktur vom Samarium-Typ, oberhalb von 6,5 GPa ist eine doppelt-hexagonale Kristallstruktur stabil. Eine kubisch-flächenzentrierte Packung ist bei Drücken zwischen 26 und 33 GPa am stabilsten. Bei noch größeren Drücken sind noch eine doppelt-kubisch-flächenzentrierte Struktur sowie das monokline Gd-VIII bekannt. Gadolinium ist neben Dysprosium, Holmium, Erbium, Terbium und Thulium eines der Lanthanoide, das ferromagnetisch ist. Mit einer Curie-Temperatur von 292,5 K (19,3 °C) besitzt es die höchste Curie-Temperatur aller Lanthanoide, nur Eisen, Cobalt und Nickel besitzen höhere. Oberhalb dieser Temperatur ist es paramagnetisch mit einer magnetischen Suszeptibilität χm von 0,12. Aufgrund dieser magnetischen Eigenschaften hat Gadolinium auch eine sehr stark temperaturabhängige Wärmekapazität. Bei tiefen Temperaturen (unter 4 K) dominiert zunächst, wie bei Metallen üblich, die elektronische Wärmekapazität Cel (wobei Cel = γ·T mit γ = 6,38 mJ·mol−1·K−2 und T der Temperatur). Für höhere Temperaturen ist die Debyesche Wärmekapazität (mit der Debye-Temperatur ΘD = 163,4 K) ausschlaggebend. Unterhalb der Curie-Temperatur nimmt die Wärmekapazität dann stark zu, was auf das Spinsystem zurückzuführen ist. Sie erreicht 56 J·mol−1·K−1 bei 290 K, um bei höheren Temperaturen fast schlagartig auf unter 31 J·mol−1·K−1 einzubrechen. Gadolinium ist Bestandteil keramischer Hochtemperatur-Supraleiter des Typs Ba2GdCu3O7-x mit einer Sprungtemperatur von 94,5 K. Das reine Element ist nicht supraleitfähig. Gadolinium hat mit 49.000 barn wegen seines enthaltenen Isotops Gd-157 (mit 254.000 barn) den höchsten Einfangquerschnitt für thermische Neutronen aller bekannten stabilen Elemente. Nur das radioaktive Xe-135 erreicht mit 2,65 Millionen barn reichlich das Zehnfache von Gd-157. Die hohe Abbrandrate (burn-out-rate) schränkt eine Verwendung als Steuerstab in Kernreaktoren aber erheblich ein. Chemische Eigenschaften In trockener Luft ist Gadolinium beständig, in feuchter Luft bildet es eine nichtschützende, lose anhaftende und abblätternde Oxidschicht aus. Mit Wasser reagiert es langsam. In verdünnten Säuren löst es sich auf. Stäube von metallischem Gadolinium sind feuer- und explosionsgefährlich. Verwendung Gadolinium wird zur Herstellung von Gadolinium-Yttrium-Granat für Mikrowellenanwendungen verwendet. Oxysulfide dienen zur Herstellung von grünem Leuchtstoff für nachleuchtende Bildschirme (Radar). Gadolinium-Gallium-Granat wurde zur Herstellung von Magnetblasenspeichern genutzt. Auch in der Herstellung von wiederbeschreibbaren Compact Discs findet es Anwendung. Zusätze von 1 % Gadolinium erhöhen die Bearbeitbarkeit und die Hochtemperatur- und Oxidationsbeständigkeit von Eisen- und Chromlegierungen. Entsprechende Gadolinium-Eisen-Kobalt-Legierungen können zur optomagnetischen Datenspeicherung eingesetzt werden. Gadolinium könnte, da es einen Curie-Punkt nahe der Zimmertemperatur besitzt, in Kühlgeräten, die nach dem Prinzip der adiabatischen Magnetisierung funktionieren, Verwendung finden. Solche Kühlgeräte würden ohne Ozonschicht-schädigende Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) auskommen und besäßen keine verschleißenden mechanischen Teile. Umgekehrt lässt sich ein Motor durch Versorgung mit warmem und kaltem Wasser betreiben. Dadurch ließe sich z. B. die Restenergie aus warmen industriellen Abwässern gewinnen. Gadolinium wird in Form von Gadoliniumoxid in modernen Brennelementen als abbrennbares Absorbermaterial verwendet, das nach einem Brennelementewechsel zu Beginn des Betriebszyklus die durch einen Überschuss an Kernbrennstoff entstehende zu hohe Reaktivität des Reaktors begrenzt. Mit zunehmendem Abbrand der Brennelemente wird auch das Gadolinium abgebaut. Durch Neutroneneinfang werden dabei immer schwerere Isotope des Gadoliniums gebildet bis schließlich Transmutation erfolgt. Mit Terbium dotiertes Gadolinium-Oxysulfid (Gd2O2S:Tb) ist ein in der Röntgentechnik häufig eingesetzter Szintillator. Gd2O2S:Tb emittiert Licht mit einer Wellenlänge von 545 nm. Medizinische Verwendung: MRT Intravenös injizierte Gadolinium(III)-Verbindungen wie Gadopentetat-Dimeglumin dienen als Kontrastmittel bei Untersuchungen im Kernspintomographen. Dazu werden wegen der hohen Giftigkeit von freien Gadolinium-Ionen Komplexierungsmittel mit hoher Komplexierungskonstante, wie die Chelate DTPA (Diethylentriaminpentaessigsäure) und DOTA (1,4,7,10-Tetraazacyclododecan-1,4,7,10-tetraessigsäure, mit Gd = Gadotersäure), verwendet. Durch die sieben ungepaarten Elektronen in der f-Schale sind Gadoliniumionen stark paramagnetisch. Das Kontrastmittel ermöglicht so den umgebenden Protonen – im Wesentlichen Wasser – schneller zu relaxieren. Dies erhöht die Kontrastunterschiede zwischen verschiedenen Geweben in einer MRT-Aufnahme erheblich. Aber Gadolinium kann sich nach Angaben der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA im Gehirn ablagern. Der Berufsverband Deutscher Nuklearmediziner (BDN) rät, die Mittel vorerst nur bei unvermeidbaren Untersuchungen einzusetzen. Gadolinium wird intravenös verabreicht, um bspw. Tumoren und entzündliche Veränderungen im Gehirn darzustellen. Bei Störungen der Blut-Liquor-Schranke kommt es zu einer Anreicherung im verdächtigen Bereich und liefert somit wichtige diagnostische Informationen. Verbindungen Gadolinium(III)-oxid Gd2O3 Gadolinium(III)-fluorid GdF3 Gadolinium(III)-chlorid GdCl3 Gadolinium(III)-bromid GdBr3 Gadolinium(III)-iodid GdI3 Gadolinium(II)-iodid GdI2; schwarze Substanz, die ferromagnetisch ist. Gadolinium(III)-nitrat Gd(NO3)3 Gallium-Gadolinium-Granat Ga3Gd5O12 Gadotersäure Gadopentetat-Dimeglumin Physiologie Es ist keine biologische Funktion des Gadoliniums bekannt. Toxizität Freie Gadolinium-Ionen verhalten sich ähnlich wie Calcium-Ionen, das heißt, sie werden vorwiegend in der Leber und im Knochensystem eingebaut und können dort über Jahre verbleiben. Freies Gadolinium beeinflusst außerdem als Calciumantagonist – die Ionenradien von Calcium und Gadolinium sind nahezu gleich – die Kontraktilität des Myokards und hemmt das Gerinnungssystem. Intravenös applizierte Lösungen von freien Gadolinium-Ionen wirken akut toxisch. Von der Toxizität betroffen sind unter anderem die glatte und die quergestreifte Muskulatur, die Funktion der Mitochondrien und die Blutgerinnung. Die Toxizität von freiem Gadolinium ist als hoch einzustufen. In komplexierter Form, so wie das Gadolinium in den zugelassenen Kontrastmitteln vorliegt, ist es dagegen unter Berücksichtigung der Kontraindikationen im Allgemeinen gut verträglich. Seit 2006 gibt es zunehmend Berichte, dass es bei niereninsuffizienten Patienten nach Gabe verschiedener Chelate des Gadoliniums, insbesondere Gd-DTPA, zum Krankheitsbild der nephrogenen systemischen Fibrose kommen kann. Eine neue Studie liefert Hinweise darauf, dass Gadolinium in Kontrastmitteln nach mehrmaligen MRTs zu Ablagerungen und eventuell auch Strukturschädigungen im Gehirn führen könnte. Ob es wirklich zu einer Schädigung kommt, konnte jedoch noch nicht festgestellt werden. Weblinks MRT-Kontrastmittel in Berliner Trinkwasser Ärzte Zeitung online, 7. Oktober 2010 Einzelnachweise Kontrastmittel
1812
https://de.wikipedia.org/wiki/Germanium
Germanium
Germanium (von ‚Deutschland‘, nach dem Land, in dem es zuerst gefunden wurde) ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Ge und der Ordnungszahl 32. Im Periodensystem steht es in der 4. Periode und in der 4. Hauptgruppe (14. IUPAC-Gruppe, p-Block und Kohlenstoffgruppe). Es wurde erstmals 1886 im Mineral Argyrodit nachgewiesen. Geschichte Als 1871 Dmitri Mendelejew das Periodensystem entwarf, stieß er auf eine Lücke unterhalb des Siliciums und postulierte ein bis dahin unbekanntes Element, das er als Eka-Silicium bezeichnete. Mendelejew machte Vorhersagen über die Eigenschaften des Eka-Siliciums und dessen Verbindungen, die von der Wissenschaft jedoch abgelehnt wurden. 1885 fand Clemens Winkler (1838–1904), ein Chemiker an der Bergakademie Freiberg, als er mit dem neu entdeckten Mineral Argyrodit arbeitete, dass dessen quantitative Analyse stets einen Fehlbetrag von rund sieben Prozent lieferte. So oft die Analyse wiederholt wurde, blieb der Fehlbetrag etwa konstant und Winkler vermutete schließlich, dass das Mineral ein bis dahin unbekanntes Element enthielt. Nach vier Monaten Arbeit gelang ihm schließlich am 6. Februar 1886 die Isolierung eines weißen Sulfid-Niederschlages, der sich im Wasserstoffstrom zu einem metallischen Pulver reduzieren ließ. In Anlehnung an den zuvor entdeckten Planeten Neptun wollte Winkler das neue Element zunächst Neptunium nennen. Da dieser Name jedoch bereits für ein anderes vermutetes Element verwendet worden war, nannte er es nach dem Entdeckungsort Germanium. Winkler vermutete zunächst, dass es sich beim Germanium um das von Mendelejew postulierte Eka-Stibium handelte, während Mendelejew es zunächst eher als Eka-Cadmium und nicht als Eka-Silicium einstufen wollte. Nachdem weitere Eigenschaften ermittelt worden waren, bestätigte sich, dass es sich wohl um das vorhergesagte Element Eka-Silicium handelte. Mendelejew hatte dessen Eigenschaften aus seinem Periodensystem abgeleitet, so dass dieser Fund zur Anerkennung des Periodensystems beitrug: Die Herkunft und Etymologie des Namens Germanium könnte auch aus einem semantischen Missverständnis in Zusammenhang mit seinem Vorgängerelement Gallium herrühren, denn für die Namensgebung von Gallium gibt es zwei Theorien. Nach der Ersten benannte der französische Chemiker Paul Émile Lecoq de Boisbaudran das Element nach Gallien, der lateinischen Bezeichnung seines Heimatlandes Frankreich. Die Zweite gibt das ebenfalls lateinische Wort (Hahn) als Quelle des Namens an, das im Französischen („der Hahn“) heißt. Paul Émile Lecoq de Boisbaudran hätte das neue Element demnach nach seinem eigenen Namen benannt. Winkler nahm an, dass das vorherige Element Gallium nach der Staatsangehörigkeit des französischen Entdeckers benannt wurde. So nannte er das neue chemische Element „Germanium“ zu Ehren seines Landes (lateinisch für Deutschland). Vorkommen Germanium ist weit verbreitet, kommt aber nur in sehr geringen Konzentrationen vor. Der Clarke-Wert, also der Durchschnittsgehalt in der Erdkruste beträgt etwa 1,5 g/t. In der Natur kommt es meist in Form von Sulfiden bzw. Thiogermanaten vor und wird oft als Begleiter in Kupfer- und Zinkerzen gefunden, unter anderem im Mansfelder Kupferschiefer. Die wichtigsten Minerale sind Argyrodit (Ag8GeS6), Canfieldit, Germanit (Cu6FeGe2S8) und Renierit. Einige Pflanzen reichern Germanium an. Gewinnung und Herstellung Laut United States Geological Survey lag die Jahresproduktion 2014 bei geschätzten 165 t, davon 120 t in China, 2020 betrug die Raffinerieproduktion von Germanium weltweit ca. 140 t, wobei die USA ihre Produktionsmengen als Geschäftsgeheimnis nicht veröffentlichen. Der Preis für 1 kg Germanium betrug 2021 ca. 1.315 USD. Laut EU lag der Preis 2003 bei 300 USD je kg und stieg bis 2009 auf 1.000 USD. Zur Darstellung von Germanium sind insbesondere die Germaniumoxid (GeO2) enthaltenden Rauchgase der Zinkerzaufbereitung geeignet. Angereichert wird das Germanium aus dem Rauchgas durch das Lösen des Flugstaubs in Schwefelsäure. Nach Fällung des gelösten GeO2 und ZnO erfolgt die weitere Aufarbeitung durch Destillation der Metallchloride. Die Hydrolyse führt dann wieder zum Oxid, welches mit Wasserstoff zum Germanium reduziert wird. Die Darstellung von hochreinem Germanium kann z. B. durch das Zonenschmelzverfahren erfolgen. Die weltweiten Produktionsmengen verteilen sich wie folgt: Eigenschaften Germanium steht im Periodensystem in der Serie der Halbmetalle, wird aber nach neuerer Definition als Halbleiter klassifiziert. Elementares Germanium ist sehr spröde und an der Luft bei Raumtemperatur sehr beständig. Erst bei starkem Glühen in einer Sauerstoff-Atmosphäre wird es zu Germanium(IV)-oxid (GeO2) oxidiert. GeO2 ist dimorph und wird bei 1033 °C von der Rutil-Modifikation (CN = 6) in die β-Quarz-Struktur (CN = 4) überführt. In Pulverform kann es leicht entzündet werden und brennt nach Entfernen der Zündquelle weiter. In kompakter Form ist es nicht brennbar. Germanium kann zwei- oder vierwertig sein. Germanium(IV)-Verbindungen sind am beständigsten. Von Salzsäure, Kalilauge und verdünnter Schwefelsäure wird Germanium nicht angegriffen. In alkalischen Wasserstoffperoxid-Lösungen, konzentrierter heißer Schwefelsäure und konzentrierter Salpetersäure wird es dagegen unter Bildung von Germaniumdioxidhydrat aufgelöst. Gemäß seiner Stellung im Periodensystem steht es in seinen chemischen Eigenschaften zwischen Silicium und Zinn. Germanium zeigt als einer von wenigen Stoffen eine Dichteanomalie. Seine Dichte in festem Zustand ist niedriger als in flüssigem. Germanium ist ein indirekter Halbleiter. Seine Bandlücke beträgt bei Zimmertemperatur ca. 0,67 eV. Wafer aus Germanium sind erheblich zerbrechlicher als Wafer aus Silicium. Verwendung Elektronik Als Halbleiter war Germanium in Einkristall-Form das führende Material in der Elektronik bis in die 1970er Jahre, vor allem zur Herstellung der ersten am Markt erhältlichen Dioden und Bipolartransistoren, bis es von Silicium in diesen Bereichen verdrängt wurde. Anwendungen finden sich heute in der Hochfrequenztechnik (z. B. als Siliciumgermanium-Verbindungshalbleiter) und Detektortechnologie (z. B. als Röntgendetektor). Für Solarzellen aus Galliumarsenid (GaAs) werden zum Teil Wafer aus Germanium als Trägermaterial verwendet. Die Gitterkonstante von Germanium ist der von Galliumarsenid sehr ähnlich, so dass GaAs epitaktisch auf Germanium-Einkristallen aufwachsen kann. Gläser und Fasern Germanium wird für Infrarotoptiken in Form von Fenstern und Linsen aus monokristallinem Germanium eingesetzt. Einsatzgebiete für Germaniumlinsen sind Nachtsichtgeräte und Wärmebildkameras. Die früher übliche Verwendung als Fokussierlinse für die Laser-Materialbearbeitung mittels Kohlendioxid-Lasern sowie deren Austrittsfenster ist jedoch durch Zinkselenid abgelöst worden. Mit seinem hohen Brechungsindex von etwa 4 wird einkristallines Germanium auch in der FTIR/ATR-Spektroskopie (ATR-Infrarotspektroskopie) eingesetzt. Optische Gläser mit Infrarotdurchlässigkeit (Chalkogenidglas für Lichtwellenleiter) sind eine weitere Anwendung für Germanium als Bestandteil. Eine weitere Verwendung ist die Herstellung von Lichtwellenleitern: mit Hilfe von Germaniumtetrachlorid wird bei der chemischen Gasphasenabscheidung eine Anreicherung von Germaniumdioxid im inneren Faserkern erzeugt, wodurch im Vergleich zum Fasermantel ein höherer Brechungsindex im Kern gewährleistet wird. Bei der Polyester-Herstellung kommt Germaniumdioxid als Katalysator bei der Fertigung von Polyesterfasern und -granulaten zum Einsatz, speziell für PET-Flaschen. Nuklearmedizin und Kerntechnik 68Ge wird beim Gallium-68-Generator als Mutternuklid zur Herstellung von Gallium-68 verwendet. Ebenso findet 68Ge als Quelle zur Detektorkalibration bei der Positronen-Emissions-Tomographie Anwendung. Als hochreiner Einkristall wird Germanium als Strahlendetektor eingesetzt. Germanium in Nahrungsergänzungsmitteln Die Substanz Bis(carboxyethyl)germaniumsesquioxid (Ge-132) ist als Nahrungsergänzungsmittel zur Anwendung bei einer Reihe von Erkrankungen einschließlich Krebs, chronischem Müdigkeitssyndrom, Immunschwäche, AIDS, Bluthochdruck, Arthritis und Lebensmittelallergien angepriesen worden. Positive Wirkungen auf den Krankheitsverlauf wurden bisher wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Gemäß der europäischen Richtlinie 2002/46/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Nahrungsergänzungsmittel soll Germanium nicht in Nahrungsergänzungsmitteln verwendet werden. In vielen Ländern der EU, die ihre nationalen Rechtsvorschriften bereits angeglichen haben, so auch Deutschland und Österreich, ist daher der Zusatz von Germanium als Mineralstoffquelle in Nahrungsergänzungsmitteln nicht erlaubt. Die zuständigen Behörden warnen ausdrücklich vor dem Verzehr von Ge-132, da schwere Gesundheitsschäden und Todesfälle nicht auszuschließen sind. Arzneiliche Verwendung von Germanium Eine therapeutische Wirksamkeit der antineoplastischen Substanz Spirogermanium bei Krebserkrankungen wurde nicht nachgewiesen. Zugelassene Fertigarzneimittel mit dem Wirkstoff Spirogermanium gibt es nicht. In Deutschland gelten germaniumhaltige Arzneimittelanfertigungen (Rezepturen), abgesehen von homöopathischen Verdünnungen ab D4, als bedenklich. Ihre Herstellung und ihre Abgabe sind daher verboten. Germanium metallicum gibt es in Form homöopathischer Mittel. Als Bestandteil homöopathischer Zubereitungen wird di-Kalium-Germanium-citrat-lactat beschrieben. Physiologie Germanium und seine Verbindungen weisen eine relative geringe akute Toxizität auf. Spuren von Germanium sind in den folgenden Nahrungsmitteln enthalten: Bohnen, Tomatensaft, Austern, Thunfisch und Knoblauch. Es ist nach dem Stand der Wissenschaft kein essentielles Spurenelement. Es ist keine biologische Funktion für Germanium bekannt. Es sind keine Germanium-Mangelerkrankungen bekannt. Toxizität Gesundheitsschäden durch Germanium traten bei Menschen mehrfach nach längerer Einnahme von Germaniumverbindungen als Nahrungsergänzungsmittel auf. Dabei kommt es zu Funktionsstörungen der Niere bis hin zum (irreversiblen) Nierenversagen, das für den Patienten letal sein kann. Periphere Neuropathie und andere neurologische Schäden als Folgeerkrankung sind ebenfalls berichtet. Aus Tierversuchen ist bekannt, dass Germanium eine geringe akute orale Toxizität hat. Bei Ratten liegt der LD50-Wert (die Dosis, bei der die Hälfte der Versuchstiere sterben) bei 3700 mg pro Kilogramm Körpergewicht. Nach derzeit vorliegenden Daten aus Tierversuchen ist Germanium nicht fruchtschädigend oder kanzerogen. Der Mechanismus der Toxizität von Germanium ist noch nicht vollständig geklärt. Spezifische pathologische Effekte an den Mitochondrien von verschiedenen Zellen wurden jedoch beobachtet. Wechselwirkungen Es wird ebenfalls diskutiert, ob Germanium evtl. Wechselwirkungen mit Silicium im Knochen-Metabolismus zeigt. Es kann die Wirkung von Diuretika blockieren und die Aktivität einer Reihe von Enzymen herabsetzen bzw. blockieren, wie beispielsweise Dehydrogenasen. Im Tierversuch zeigen Mäuse eine erhöhte Hexabarbital-induzierte Schlafdauer, wenn sie zusätzlich mit Germaniumverbindungen behandelt wurden. Dies lässt darauf schließen, dass die Cytochrom-P450-Aktivität ebenfalls eingeschränkt wird. Es gibt Berichte über organische Germaniumverbindungen, welche das Entgiftungsenzym Glutathion-S-Transferase blockieren. Bioverfügbarkeit und Metabolismus Germanium wird bei oraler Aufnahme sehr leicht vom Körper aufgenommen. Es verteilt sich dabei über das gesamte Körpergewebe, vornehmlich in den Nieren und der Schilddrüse. Organogermane akkumulieren dabei im Gegensatz zu anorganischen Germaniumverbindungen nicht im menschlichen Körper. Allerdings gibt es nur wenige Studien über den Germanium-Metabolismus. Es wird im Wesentlichen über den Urin ausgeschieden. Ausscheidung über Galle und Fäzes findet ebenso statt. Verbindungen Germanium bildet Ge(II)- u. beständigere Ge(IV)-Verbindungen, nur wenige besitzen technische Bedeutung. Von den Germaniumhalogeniden sind ebenfalls Ge(II)- u. Ge(IV)-Vertreter bekannt. Germaniumtetrachlorid, (GeCl4), eine Flüssigkeit mit einem Siedepunkt von 83 °C, bildet sich bei Einwirkung von Chlorwasserstoff auf Germaniumoxide und ist ein wichtiges Zwischenprodukt bei der Germanium-Gewinnung. Hochreines GeCl4 wird bei der Herstellung von Lichtwellenleitern aus Quarzglas eingesetzt, um auf der Innenseite der Quarzfasern eine hochreine Germanium(IV)-oxid Schicht zu erzeugen. Zur Erzeugung von hochreinen Germaniumschichten kann auch die Disproportionierung von Germanium(II)-iodid unter Bildung von Germanium und Germanium(IV)-iodid eingesetzt werden: Germanate sind Verbindungen des Germaniums, die sich von dessen Oxid ableiten. In fast allen Germanium-haltigen Mineralien liegt das Germanium als Germanat vor. Germane werden die Wasserstoffverbindungen des Germaniums genannt, die eine homologe Reihe verschieden langer Kettenmoleküle bilden. Monogerman oder Germaniumhydrid (GeH4) ist ein Gas und wird in der Halbleiterindustrie zur Epitaxie und zum Dotieren verwendet. Literatur Mike Haustein: Die Lücke im Periodensystem: Germanium. In: Chemie in unserer Zeit. Band 45, Heft 6 (2011), S. 398–405 (doi:10.1002/ciuz.201100549). Weblinks (englisch, PDF, 47 KiB) Einzelnachweise Halbleiter
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gramm
Gramm
Ein Gramm ist eine physikalische Einheit für die Masse, sein Einheitenzeichen ist g. Ein Gramm beträgt ein Tausendstel eines Kilogramms (kg), der SI-Basiseinheit für die Masse. In dieser Art, als 0,001 kg, ist das Gramm in nationalen Einheitengesetzen und in Normen definiert. Namensherkunft Der Name stammt von das wiederum von abgeleitet wurde. Ein griechisches Gramma entsprach zwei Oboloi. In römischer Zeit wurde das Gramma dem römischen Skrupel gleichgesetzt, das Unze entsprach. Definition Das Kilogramm und damit das Gramm sind dadurch festgelegt, dass der Planck-Konstante h ein fester Wert zugewiesen ist. Eine erste Definition von Gramm und Kilogramm stammen aus der Zeit des revolutionären Frankreichs und beziehen sich auf Wasser, das in metrischen Volumeneinheiten zu messen ist (ein Liter für das Kilogramm). Präzise formuliert: Ein Gramm destilliertes Wasser nimmt bei einer Temperatur von 3,98 °C und einem Luftdruck von 101,325 kPa das Volumen eines Kubikzentimeters bzw. eines Milliliters ein. 1889 wurde der tausendste Teil des Urkilogramms, welches bei Paris aufbewahrt wird, als ein Gramm festgelegt. Diese Definition galt bis zur Revision des Internationalen Einheitensystems im Jahr 2019. Dezimale Vielfache Abweichend von den sonstigen Regeln im SI bildet man dezimale Teile und Vielfache von Masseeinheiten mit SI-Präfixen nicht ausgehend von der kohärenten Einheit Kilogramm, sondern durch Herleitung vom Gramm. Beispiele: 1 mg = ein Milligramm = ein tausendstel Gramm = 10−3 g 1 μg = ein Mikrogramm = ein millionstel Gramm = 10−6 gWenn der griechische Buchstabe nicht verfügbar ist, wird manchmal „ug“ oder „mcg“ verwendet – siehe Vorsätze für Maßeinheiten#Typografie. Für größere Masse ist auch die Nicht-SI-Einheit Tonne (1 t = 1000 kg = 1 Mg) üblich, die ihrerseits mit Präfixen wie „Kilo“ versehen werden kann. Beispiele: 1 t = eine Tonne = 1000 kg = eine Million Gramm = ein Megagramm = 1 Mg 1 kt = eine Kilotonne = eine Million Kilogramm = eine Milliarde Gramm = ein Gigagramm = 1 Gg Siehe auch: Liste von Größenordnungen der Masse (mit allen gebräuchlichen Präfixen) Im Wirtschaftsleben Dekagramm Das Dekagramm hat das SI-konforme Einheitenzeichen „dag“. In Österreich ist das Dekagramm (= 10 Gramm) vor Entstehung des SI durch Gesetz vom 5. Juli 1950 als gesetzliches Maß für die Masse mit dem Zeichen „dkg“ eingeführt worden, wobei „Deka“ mit „dk“ abgekürzt wurde. 1973 wurde das Zeichen entsprechend den Regeln im SI zu „dag“ geändert. Das ursprüngliche Zeichen blieb bis zum 31. Dezember 1977 übergangsweise zulässig. In Österreich (und auch den anderen Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns) wird vor allem beim Einkauf von Lebensmitteln und in Rezepten die Maßeinheit Dekagramm häufig verwendet und dabei umgangssprachlich oft zu „Deka“ verkürzt. In gewisser Weise setzt es das metrische Lot fort. Hektogramm In Italien ist das Hektogramm (, umgangssprachlich zu , Plural , verkürzt = 100 Gramm) eine beim Einkaufen von Lebensmitteln verwendete Maßeinheit. Dezigramm und Centigramm Apotheker verwendeten früher auch Wägestücke, die auf Dezigramm (1 dg = 0,1 g) und Centigramm (1 cg = 0,01 g) lauteten, wobei bereits Ende des 19. Jahrhunderts angeraten wurde, diese Namen bei ärztlichen Verordnungen (ebenso wie Milligramm) zu vermeiden und die Masse als Kommazahl in Gramm auszudrücken. Siehe auch Liste von Größenordnungen der Masse Weblinks Einzelnachweise Masseneinheit
1814
https://de.wikipedia.org/wiki/Grad%20Celsius
Grad Celsius
Das Grad Celsius ist eine Maßeinheit der Temperatur, die nach Anders Celsius benannt wurde. Definition Die Celsius-Temperatur ist über die absolute Temperatur (thermodynamische Temperatur) mit der Einheit Kelvin (K) wie folgt definiert: . Das heißt, die Zahlenwerte bei Verwendung der Celsius- bzw. Kelvin-Skala unterscheiden sich um den konstanten Wert 273,15. Zum Beispiel bezeichnen 293,15 K und 20 °C dieselbe Temperatur, und der absolute Nullpunkt bei 0 K entspricht −273,15 °C. Durch diese Definition der Celsius-Skala liegen der Schmelz- und der Siedepunkt von Wasser sehr nahe bei 0 °C und 100 °C (bei 0,002519 °C und 99,9839 °C (99,9743 °C nach ITS-90)). Als Formelzeichen für die Celsius-Temperatur ist nach SI das kleine t normgerecht, alternativ ist auch das (theta) üblich. Die Verwendung des großen T ist falsch, da T der absoluten Temperatur in Kelvin vorbehalten ist. Geschichte Die Celsius-Skala geht auf den schwedischen Astronomen Anders Celsius zurück, der 1742 eine hundertteilige Temperaturskala vorstellte. Als Fixpunkte nutzte er die Temperaturen von Gefrier- und Siedepunkt des Wassers bei Normaldruck (später definiert als Luftdruck von 1013,25 Hektopascal oder 760 Millimeter Quecksilbersäule). Der Bereich zwischen diesen Fixpunkten, gemessen mit einem Quecksilberthermometer, ist in 100 gleich lange Abschnitte eingeteilt, die als Grad bezeichnet sind. Dies führte zu der historischen Bezeichnung des „hundertteiligen Thermometers“. Anders als bei der modernen Celsius-Skala ordnete Celsius jedoch dem Siedepunkt von Wasser den Wert 0 °C und dem Gefrierpunkt den Wert 100 °C zu. Somit nahm der Temperaturwert eines Körpers beim Erwärmen ab. Die moderne Celsius-Skala, bei der dem Siedepunkt von Wasser der Wert 100 °C und dem Gefrierpunkt der Wert 0 °C zugeordnet wird, wurde von Carl von Linné, einem Freund Celsius’, kurz nach dessen Tod im Jahr 1744 eingeführt. Die Invertierung der Celsius-Skala war 1743 durch den französischen Physiker Jean-Pierre Christin vorgeschlagen worden. Im Zuge der französischen Revolution wurde die hundertteilige Skala des Celsius per Dekret in Frankreich eingeführt. Später übernahmen besetzte oder verbündete Länder diese Einteilung. In der damaligen deutschen Schreibweise nannte man diese nun „Centigrade“ und kürzte dies mit C ab. Der Skalenabstand, zunächst „Zentigrad“ oder „Zentesimalgrad“ genannt, bekam 1948, ca. 200 Jahre nach der Einführung der Skala, von der 9. internationalen Generalkonferenz für Maß und Gewicht zu Ehren Celsius’ den Namen „Grad Celsius“. 1954 wurde die Kelvin-Skala und, darauf basierend, die Definition des Grad Celsius über den Tripelpunkt (fest/flüssig/gasförmig) von Wasser definiert. Gefrier- und Siedepunkt des Wassers verloren damit ihre Rolle als Fixpunkte der Celsius-Skala. Seit 2019 ist das Kelvin, und damit das Grad Celsius, über die Boltzmann-Konstante und somit direkt über die thermische Energie definiert. Symbol Das Symbol für die Maßeinheit ist eine Kombination aus dem Gradzeichen und dem Großbuchstaben „C“. Diese sind als Einheit zu betrachten und dürfen nicht getrennt werden. Der Zahlenwert steht davor, wie bei Maßeinheiten üblich getrennt durch ein Leerzeichen. Aus Gründen der Kompatibilität enthält der Unicode-Standard in Unicodeblock „Buchstabenähnliche Symbole“ zusätzlich die Darstellung durch ein Zeichen ℃ (U+2103), das Unicode-Konsortium rät aber von der Verwendung ab. Nach Regeln der Organe der internationalen Meterkonvention darf das Grad Celsius auch zusammen mit SI-Vorsätzen benutzt werden. Diese Regelung wurde jedoch nicht in die nationale deutsche Norm des Deutschen Instituts für Normung (DIN 1301-1, DIN 1345) übernommen und ist daher nach deutschem Einheitenrecht nicht zulässig. Temperaturdifferenz Die Temperaturdifferenz ist der Unterschied in der Temperatur von zwei Messpunkten, die sich in der Zeit oder der räumlichen Position unterscheiden. Da die Kelvin- und die Celsius-Skala um einen festen Wert gegeneinander verschoben sind, stimmen die Zahlenwerte von Temperaturdifferenzen bei der Verwendung der Einheiten Kelvin und Grad Celsius überein: Als Einheit für Temperaturdifferenzen wird von der DIN in Anpassung an das Internationale Einheitensystem (SI) mit der Norm DIN 1345 (Ausgabe Dezember 1993) das Kelvin empfohlen. Die DIN ergänzt dazu: Hier wird also der Einheitenname Grad Celsius als besonderer Name für das Kelvin benutzt. Beispiel: Die Differenz zwischen der Temperatur (entspricht ) und der Temperatur () beträgt . Dies darf auch als geschrieben werden. Für Vielfache und Quotienten sind Angaben in Grad Celsius nicht sinnvoll. Vergleich mit anderen Skalen Umrechnung Temperaturen in Grad Celsius lassen sich über eine Zahlenwertgleichung wie folgt exakt umrechnen: {| | Kelvin: || || ||   || |- | Grad Fahrenheit: ||   || ||   || |- | Grad Rankine: || || || || |} Fixpunkte Anmerkungen Einzelnachweise Celsius Anders Celsius
1815
https://de.wikipedia.org/wiki/Gau%C3%9F%20%28Einheit%29
Gauß (Einheit)
Gauß (in der Schweiz oder unter englischsprachigem Einfluss auch Gauss; Einheitenzeichen: Gs, G; nach Carl Friedrich Gauß) ist die Einheit der magnetischen Flussdichte im elektromagnetischen CGS-System und im Gaußschen CGS-System: In Deutschland ist das Gauß seit 1970 keine gesetzliche Einheit im Messwesen, wird aber vor allem in der Astrophysik weiterhin verwendet. Konvertierungen Die gesetzliche Einheit der magnetischen Flussdichte in der EU und in der Schweiz ist die SI-Einheit Tesla (T): Das „entspricht“-Zeichen (≙) zeigt an, dass Gauß und Tesla zu unterschiedlichen Größensystemen gehören. Parallel zum Gauß existierte für die magnetische Flussdichte die Einheit Gamma: Das Gauß wird oft mit der Gaußschen CGS-Einheit der magnetischen Feldstärke H verwechselt, dem Oersted, das sich im Gaußschen Einheitensystem und in elektromagnetischen CGS-Systemen ebenfalls darstellen lässt als Der Grund für diese formale Gleichheit ist, dass magnetische Flussdichte und magnetische Feldstärke in o.g. Einheitensystemen von gleicher Dimension sind (anders als im SI, wo sich die beiden Größen stets um die magnetische Permeabilität bzw. um die magnetische Feldkonstante als Proportionalitätsfaktor unterscheiden). Die entsprechende Einheit im elektrostatischen CGS-Einheitensystem (esE) ist das Stattesla (statT), das aber kaum je Verwendung fand. Die Konvertierung lautet: , wobei der Zahlenwert der Lichtgeschwindigkeit in cm/s ist. Historisches „Gauß“ als Name der elektromagnetischen CGS-Einheit für die magnetische Feldstärke wurde im Jahre 1900 auf dem 5. Internationalen Elektrizitätskongress in Paris festgelegt. Infolge eines Missverständnisses nahmen die amerikanischen Delegierten jedoch an, „Gauß“ sei als Name für die elektromagnetische CGS-Einheit der magnetischen Flussdichte vereinbart worden. Diese Mehrdeutigkeit wurde 1930 auf der IEC-Tagung in Stockholm und Oslo zugunsten der amerikanischen Auffassung bereinigt. 1933 legte das IEC auf einer Sitzung in Paris fest, dass 1 cm−1/2g1/2s−1 als elektromagnetische CGS-Einheit der magnetischen Feldstärke „Oersted“ heißen soll. Das Einheitenzeichen „Gs“ für das Gauß wurde vom IEC 1935 auf einer Konferenz in Scheveningen festgelegt. Einzelnachweise Carl Friedrich Gauß als Namensgeber
1817
https://de.wikipedia.org/wiki/Grad%20Fahrenheit
Grad Fahrenheit
Grad Fahrenheit ist eine Maßeinheit der Temperatur. Sie wurde nach dem deutschen Physiker Daniel Gabriel Fahrenheit (1686–1736) benannt. Fahrenheits Festlegungen Fahrenheit entwickelte seine Temperaturskala nach einem Besuch bei dem dänischen Astronomen Ole Rømer in Kopenhagen. Rømer war der Erste, der ein Thermometer entwickelte, das mit Hilfe zweier Fixpunkte kalibriert wurde. In der Rømer-Skala liegt der Gefrierpunkt des Wassers bei ca. 7,5 °Rø, der Siedepunkt bei 60 °Rø und die durchschnittliche Körpertemperatur eines Menschen bei ca. 26,9 °Rø. Fahrenheit verwendete demgegenüber als Nullpunkt seiner Skala die tiefste Temperatur, die er mit einer Mischung aus Eis, Wasser und Salmiak (= Ammoniumchlorid) oder Seesalz (Kältemischung) erzeugen konnte: −17,8 °C, welche 0 °F entsprechen. Dadurch wollte er in seiner Skala negative Werte vermeiden, wie sie bei der Rømer-Skala bei Temperaturen unter −14,3 °C auftreten. Als zweiten und dritten Fixpunkt legte Fahrenheit 1714 den Gefrierpunkt des reinen Wassers (Eispunkt) bei 32 °F und die Körpertemperatur eines „gesunden Menschen“ bei 96 °F fest. Allerdings entsprechen 96 °F rund 35,6 °C; dieser Wert liegt, verglichen mit heute üblichen Messmethoden, unterhalb des menschlichen Normaltemperaturbereichs. Weiterentwicklung Der Nachteil dieser Skala bestand darin, dass mit der verbesserten Genauigkeit von Messungen im 19. Jahrhundert insbesondere der untere und der obere Fixpunkt nicht hinreichend genau reproduzierbar waren. Es wurde damit eine Neudefinition der Skala nötig. Zur Definition einer Temperaturskala benötigt man zum einen nur zwei verschiedene, dafür aber möglichst genau reproduzierbare Temperaturen, zum anderen die willkürliche Festlegung eines Skalennullpunktes und der Einteilung der Differenz zwischen den Fixpunkten in Skalenteile. Seit den 1860er Jahren versuchte man, die hergebrachten Einheiten (customary units) des angloamerikanischen Maßsystems an die Definitionen des internationalen metrischen Systems anzubinden. Seit dieser Zeit war die Fahrenheit-Skala durch die Skala des hundertteiligen Thermometers definiert, hatte damit also als Fixpunkte den Gefrierpunkt (gleich 32 °F) und den Siedepunkt des Wassers (gleich 212 °F). 1893 wurde sie mit der Mendenhall Order in den Vereinigten Staaten gesetzlich eingeführt. Seit 1948, als man das hundertteilige Thermometer in Celsius-Skala umbenannte und neu definierte, ist die Fahrenheitskala indirekt durch die Kelvin-Skala definiert. Die Fahrenheit-Skala war im 18. und frühen 19. Jahrhundert auch in Europa verbreitet (neben anderen, nun gänzlich unüblichen Skalen); erst mit der Durchsetzung des metrischen Systems seit dem mittleren 19. Jahrhundert hat sich in Kontinentaleuropa die Celsius-Skala durchgesetzt. In Großbritannien blieb die Fahrenheit-Skala länger in Gebrauch. Dort wurde sie zudem auch für die Definition gewisser anderer imperialer Maßeinheiten verwendet; so war etwa im Weights and Measures Act von 1855 das Yard definiert anhand eines Norm-Yards aus Bronze und Gold bei einer Temperatur von 62 °F. Kopien dieses Norm-Yards, die herstellungsbedingt leichte Abweichungen aufwiesen, wurden durch die Angabe von leicht abweichenden Temperaturen geeicht (zwischen 61,94 und 62,16 °F). Die offizielle Einführung des metrischen Systems (metrication) wurde in Großbritannien bereits ab 1818 diskutiert und zwischen 1965 und 1980 aktiv vorangetrieben, dann aber wieder aufgegeben. Zwingend wurde die Einführung erst mit der Mitgliedschaft im Europäischen Binnenmarkt ab 1993 umgesetzt. In inoffiziellen Publikationen, besonders in Wetterprognosen, wurde die Fahrenheit-Skala in Großbritannien auch nach 1995 verwendet, allerdings mit abnehmender Tendenz. Offizielle Verwendung findet die Fahrenheit-Skala nur noch in den USA und ihren Außengebieten, in Belize sowie auf den Bahamas, den Cayman Islands und in Liberia. Vergleich mit anderen Skalen Umrechnung Temperaturen in Grad Fahrenheit lassen sich über eine Zahlenwertgleichung wie folgt exakt umrechnen: {| | Grad Celsius: ||   || ||   || |- | Kelvin: || || ||   || |- | Grad Rankine: || || || || |} Fixpunkte Postwertzeichen Zum 300. Jahrestag der Einführung der Fahrenheitskala gab die Deutsche Post AG am 3. November 2014 ein Sonderpostwertzeichen im Wert von 60 Eurocent heraus, entworfen von den Grafikern Thomas und Martin Poschauko. Weblinks Fahrenheit in Celsius – Umrechnung Einzelnachweise Fahrenheit
1819
https://de.wikipedia.org/wiki/Gallone
Gallone
Die Gallone () ist eine Raumeinheit (Flüssigkeits- und Trockenmaß) des angloamerikanischen Maßsystems. Das Einheitenzeichen ist je nach genauer Volumendefinition Imp.gal., US.liq.gal. oder US.dry.gal. Volumenmaße Imperiales Maßsystem 1 Imp.gal. = 4 Imp.qt. = 8 Imp.pt. = 16 Imp.cup = 32 Imp.gi. = 160 Imp.fl.oz. = 4,54609 Liter (exakt per Definition) =  inch³ ≈ 277,41945 inch³ 1 Imp.gal. = US.liq.gal. ≈ 1,20095 US.liq.gal. Die britische (imperiale) Gallone basiert auf einem mittelalterlichen englischen Biermaß. Im Jahr 1824 wurde sie auf physikalischer Basis neu definiert als das Volumen von 10 englischen Pfund destillierten Wassers bei 62 °F (17 °C), gemessen mit Messinggewichten einer bestimmten Zusammensetzung bei festgelegtem Luftdruck, ebenso galt die Definition 1 Gallone = 277,42 Kubikzoll. Im Jahr 1985 wurde nach kanadischem Vorbild eine auf dem metrischen Liter basierende Neudefinition eingeführt, wodurch eine Gallone nun etwas weniger als 277,42 Kubikzoll umfasst. US-amerikanisches Maßsystem 1 US.liq.gal. = 4 liquid qt. = 8 US.liq.pt. = 16 US.cup = 32 US.liq.gi. = 128 US.fl.oz. = 231 inch³ = 3,785411784 Liter Die US-amerikanische Gallone basiert auf einem mittelalterlichen englischen Weinmaß, das ursprünglich als ein Zylinder mit einer Höhe von 6 Zoll (engl. inch) und einem Durchmesser von 7 Zoll definiert wurde. Die Kreiszahl π wurde damals üblicherweise mit 22/7 approximiert. Im Jahr 1706, während der Herrschaft von Königin Anne, wurde die Weingallone daher redefiniert als ein Quader mit einer Abmessung von 3 inch × 7 inch × 11 inch, was dem alten Zylindervolumen, berechnet mit der erwähnten Näherung für π, entspricht. Diese Definition ist in den USA bis heute in Gebrauch, in Großbritannien selbst wurde sie jedoch durch die aus dem Bierhandel stammende Imperial Gallon verdrängt. Da das Inch heute mit 1 inch = 25,4 mm über den Meter definiert ist, kann das Volumen der US-amerikanischen Gallone in Litern exakt angegeben werden. Ferner ist 1 petroleum barrel = 42 US.liq.gal. = 9702 inch³ = 158,987294928 Liter Volumeneinheit für trockene Ware 1 US.dry.gal. = 4 US.dry.qt = 8 US.dry.pt = 268,8025 inch³ = 4,40488377086 Liter 1 US.dry.gal. =   US.liq.gal. ≈ 1,1636 US.liq.gal. 1 US.bushel = 4 peck = 8 US.dry.gal. = 2150,42 inch³ ≈ 35,239 Liter Als Trockenmaß für Weizen, Mehl und anderes ist sie heute weder in den Vereinigten Staaten noch im Vereinigten Königreich eine gesetzliche Einheit, doch war sie noch im 19. Jahrhundert geläufig. Wortherkunft Englisch gallon stammt von altnormannisch (altnordfranzösisch) galon, das seinerseits unklarer (vielleicht keltischer) Herkunft ist. Im Englischen ist das Flüssigkeitsmaß erstmals im Jahr 1300 (im konkreten Fall für Bier), als Trockenmaß erstmals 1684 (für Weizen) bezeugt. Literatur Johann Samuel Traugott Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Band 6, E. B. Schwickert, Leipzig 1836, S. 1309. Johann Friedrich Krüger: Vollständiges Handbuch der Münzen, Masse und Gewichte aller Länder der Erde. Verlag Gottfried Basse, Quedlinburg/Leipzig 1830, S. 104. Einzelnachweise Weblinks Altes Maß oder Gewicht (Vereinigtes Königreich) Angloamerikanische Volumeneinheit
1820
https://de.wikipedia.org/wiki/Gill
Gill
Gill () war ein englisches Volumenmaß und als ein Trocken- und Flüssigkeitsmaß in Anwendung. Das Maß war mit Ausnahme von Bier in den britischen Kolonien und den USA etwa 6⅗ Kubikzoll (preuß.) oder ⅒ Quart (preuß.). Ein Gill liegt zwischen 0,11 und 0,14 Liter. In britischen Bars wurde der Schnaps früher in Mengen von ⅙ Gill verkauft, was in etwa 2,3 cl entsprach. Heute sind in Großbritannien 2,5 oder 3,5 cl üblich. Einheitenzeichen: Imp. gi., Imp. gi., US liquid gi., US liquid gi., US. liq. gi. Die Maßkette ist: 1 gallon = 4 quart = 8 pint = 16 cup = 32 gill 1 Gill = ¼ Pint 1 Imp. gi. = 5 Imp. fl. oz = 40 Imp. fl. dr. = 2400 Imp. min. = inch³ ≈ 8,669 inch³ 1 Imp. gi. = 142,065 312 500 cm³ ≈ 0,142 Liter 1 US. liq. gi. = 4 US. fl. oz = 32 US. fl. dr. = 1920 US. min. = 7,21875 inch³ = 118,294 118 250 cm³ ≈ 0,118 Liter 1 Imp. gi. = US. liq. gi. ≈ 1,20095 US. liq. gal. Siehe auch Angloamerikanisches Maßsystem Literatur Friedrich Frank: Münzen, Maße und Gewichte aller Länder der Erde zurückgeführt auf deutsche. Schulbuchverlag, Langensalza 1856, S. 49. Einzelnachweise Altes Maß oder Gewicht (Vereinigtes Königreich) Angloamerikanische Volumeneinheit Biermaß Hohlmaß (Branntwein) Lebensmittelmaß (Vereinigtes Königreich) Lebensmittelmaß (Vereinigte Staaten)
1821
https://de.wikipedia.org/wiki/Gran%20%28Einheit%29
Gran (Einheit)
Das Gran (lateinisch „Korn“), auch Grän, ist eine alte Maßeinheit der Masse. Das Einheitenzeichen ist gr. Römisches Gran Das römische Gran – wohl ein Gerstenkorn (mit etwa 0,065 Gramm; im Mittelalter z. B. auch ein Weizenkorn mit etwa 0,05 Gramm) – ist: der (12 × 576 =) 6912. Teil der römischen Libra bzw. der (16 × 576 =) 9216. Teil der Mina bzw. recht genau 47 mg. Englisches Grain Das Grain ist die kleinste klassische englische Masseeinheit und allen drei in der Neuzeit verbreiteten englischen Systemen gemein (Avoirdupois, Troy und apothecaries’ weight). So zählt das übliche (Avoirdupois-)Pound 7000 grains, das Apotheker- und Troy-Pfund dagegen jeweils genau 5760 grains. 1 englisches Grain = exakt 64,79891 mg 1 Gramm ≈ 15,43236 englische Grain. Daneben wurden auch einige traditionelle Masseeinheiten in englischen Kolonien anhand des Grains neu definiert, etwa das indische Tola zu 180 Grain. Die Einheit wird zunehmend durch Karat bzw. Milligramm ersetzt. Jedoch werden die Massen von Hand- und Faustfeuerwaffengeschossen, von Pfeilspitzen sowie von Treibladungspulver bei Munition weiterhin allgemein in englischen Grain angegeben. Französisches Grain Das französische Grain war der 9216. Teil des alten französischen Pfundes. 1 französisches Grain ≈ 53,1148 mg Im Jahre 1799 wurde das definitive, dezimale Kilogramm als 18.827,15 französische Grain festgestellt. Deutsches Gran Bei den deutschen Münzgewichten gab es ebenfalls die Einheit Gran. Das Goldgran war 1/288 Kölner Mark. Es wog auch sechzehn Korngrän. Das sind etwa 812 mg.In Grammateus Ayn new kunstlich buech welches gar gewiß vnd behend lernet … türfftig rechnung auff kauffmanschafft (Nürnberg 1518) heißt es (E 1b): „lautter goldt hielt am strich 24 karat, welcher karat ains hielt 4 gran“ und in der meißnischen land vnd berg-chronica des Petrus Albinus (1590), S. 126: „ein marck fein goldt ist 24 karat, ein karat ist 12 gren, drei gren sind ein gran, 288 gren ist ein marck fein goldt“ In den Nürnberger Apothekergewichten ist das Gran (wie andernort auch) der 20. Teil eines Scrupels und der 5760. Teil des Apothekerpfundes, also etwa 62 mg.Als kleinstes Apothekergewicht nach dem Skrupel taucht das Gran im 12. Jahrhundert erstmals im Antidotarium Nicolai des Nicolaus Salernitanus auf, der das Medizinalgewicht Skrupel in 20 Grana (Körner) unterteilte, und kurz darauf in der Practica brevis von Johannes Platearius dem Jüngeren.In Wirsungs Artzneybuch von 1588 heißt es (30c): „gran, braucht man gerstenkörner schwer dafür, sind also gebildet Ga. in diesen werden gemeiniglich zwentzig für ein scrupel gerechnet. weil man aber bey vns wunderselten die gersten so vollkommen findet, sonder dasz hart dreiszig, etwa viertzig, ein scrupel wegen (= wiegen), so schickt sich basz, dasz ein vollkommen pfefferkorn für I Ga genommen werde, da dann zwentzig gar gleich mit eim Э (d. h. scrupel) zutreffen“ Laut Duden wiegt ein Gran meist etwa 65 mg. Nach der Kölnischen Mark entfielen auf das (Probier-)Gran 12,7 mg. Selten auch als Längen-, Flächen- und Körpermaß (wohl auf der Grundlage der Breite eines Korns) mit abweichenden Maßangaben: 1 Gran = 1/144 Schuh = 2,03 mm (17. Jh.), vgl. Fischer, Schwäbisches Wörterbuch, Bd. III 3, 788 und Wolff, Mathematisches Lexicon (1747), S. 601: „gran … in der geometrie ist er im längenmaaß der zehende theil eines zolles, der hunderte theil eines schuhes, und der tausende theil einer ruthe … im flächenmaaß ist er der zehende theil eines riemenzolles … im cörperlichen maaß ist er der zehende theil von einem balkenzoll … man pfleget einen gran auch eine linie zu nennen“ Siehe auch Angloamerikanisches Maßsystem Geschichte von Maßen und Gewichten Schrot und Korn Granotine Anmerkungen Altes Maß oder Gewicht (Europa) Masseneinheit
1822
https://de.wikipedia.org/wiki/Goethe%20%28Begriffskl%C3%A4rung%29
Goethe (Begriffsklärung)
Goethe steht für: Goethe (Familie), die Verwandtschaft des deutschen Dichterfürsten Goethe (Schiff), Seitenradschiff der Köln-Düsseldorfer auf dem Rhein Goethe (Schiff, 1873), 1876 gestrandetes Passagier-Dampfschiff Goethe (Schiff, 1966), Fahrgastschiff Goethe!, deutscher Spielfilm (2010) Goethe! (Musical), Musicalfassung des Spielfilms Goethe! (3047) Goethe, Asteroid des Hauptgürtels Goethe oder Göthe ist der Familienname folgender Personen: Alma von Goethe (1827–1844), Enkelin von J. W. Goethe August von Goethe (1789–1830), Sohn von J. W. Goethe Burkhart Goethe, KMD, Orgelsachverständiger der Evangelischen Landeskirche in Württemberg Catharina Elisabeth Goethe (1731–1808), Mutter von J. W. Goethe Christiane von Goethe (1765–1816), Ehefrau von J. W. Goethe Dietrich Goethe (* 1948), deutscher Fußballspieler Friedrich Georg Göthe (1657–1730), Schneidermeister, Großvater von J. W. Goethe Hermann Goethe (1837–1911), deutsch-österreichischer Önologe und Pomologe Hugo Goethe (* 1923), deutscher Fußballspieler Oliver Goethe (* 2004), dänisch-deutscher Automobilrennfahrer Ottilie von Goethe (geb. von Pogwisch; 1796–1872), Gemahlin von August von Goethe Roald Goethe (* 1960), deutscher Unternehmer und Autorennfahrer Roland Goethe (* 1959), Schweizer Politiker Rudolf Goethe (1843–1911), deutscher Önologe und Pomologe Susanne Feust-Göthe (1836–1886), deutsche Theaterschauspielerin, Komikerin und Sängerin (Sopran) Walther Wolfgang von Goethe (1818–1885), deutscher Kammerherr und Komponist, Enkel von J. W. Goethe Wolfgang Maximilian von Goethe (1820–1883), deutscher Jurist und preußischer Legationsrat, Enkel von J. W. Goethe Siehe auch: Johann Wolfgang von Goethe (Schiff), Binnenfahrgastschiff Göde Göte Goette Götte
1823
https://de.wikipedia.org/wiki/Giordano%20Bruno
Giordano Bruno
Giordano Bruno (* Januar 1548 in Nola als Filippo Bruno; † 17. Februar 1600 in Rom) war ein italienischer Priester, Dichter, Mönch, Philosoph und Astronom. Er wurde durch die Inquisition der Ketzerei und Magie für schuldig befunden und im Jahr 1600 vom Gouverneur von Rom zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Am 12. März 2000 erklärte Papst Johannes Paul II. nach Beratung mit dem päpstlichen Kulturrat und einer theologischen Kommission, die Hinrichtung sei nunmehr auch aus kirchlicher Sicht als Unrecht zu betrachten. Bruno ist bekannt für seine kosmologischen Vorstellungen, die das damals neue kopernikanische Modell gedanklich erweiterten: So schlug er vor, dass die Sterne ferne – von ihren eigenen Planeten umgebene – Sonnen seien und stellte die Möglichkeit in den Raum, dass diese Planeten eigenes Leben hervorbringen könnten. Bruno bestand auch darauf, dass das Universum unendlich sei und kein „Zentrum“ habe. Darüber hinaus postulierte er die Unendlichkeit des Weltraums und eine ewige Dauer des Universums. Damit stellte er sich der damals herrschenden Meinung einer in Sphären untergliederten geozentrischen Welt entgegen. Diese Auffassungen spielten jedoch im Inquisitionsprozess keine Rolle, obwohl Bruno sie selber im Verlauf des Prozesses äußerte. Schwer wogen allerdings die Unvereinbarkeit seiner pantheistischen Thesen mit der Lehre der Dreifaltigkeit, dem christlichen Gottesbegriff und der Menschwerdung Christi. Leben Jugend Giordano Bruno wurde im Jahre 1548 unter dem Namen Filippo Bruno in Nola bei Neapel geboren. Von seinem Heimatort ist seine spätere Selbstbezeichnung „Nolano“ (der Nolaner) abgeleitet. Sein Vater war Giovanni Bruno, ein Soldat, seine Mutter Fraulissa (Flaulisa?) Savolino. Bruno studierte zunächst ab 1562 in Neapel (privat und in öffentlichen Vorlesungen) und trat am 15. Juni 1565 in den Orden der Dominikaner ein, und zwar in das Kloster San Domenico Maggiore, wo er den Taufnamen Filippo ablegte und den Ordensnamen Jordanus/Giordano (nach dem zweiten Ordensmeister Jordan von Sachsen) annahm. Bald darauf (1566/67) geriet er in Konflikt mit der Ordensleitung, da er sich der Marienverehrung verweigerte und alle Heiligenbilder aus seiner Klosterzelle entfernte. Doch wurde dies als jugendliche Verirrung aufgefasst und blieb zunächst folgenlos. 1572 empfing er die Priesterweihe. Er studierte als Mönch ab 1566 Philosophie und absolvierte 1570 bis 1575 ein Studium der Theologie, das er mit einer Verteidigung der Summa contra gentiles von Thomas von Aquin und der Sentenzen von Petrus Lombardus abschloss. Verbannter Flucht aus Italien 1576 geriet er zum ersten Mal unter Verdacht der Ketzerei und musste Neapel verlassen. Grund waren Zweifel an der Inkarnation von Christus und arianische Ansichten und die Lektüre der Kirchenväter in der Ausgabe von Erasmus von Rotterdam. Er floh nach Rom, um sich dem Papst zu Füßen zu werfen. Als dort jedoch bekannt wurde, dass Bruno bei seiner Flucht aus dem Kloster Schriften des Kirchenvaters Hieronymus in die Latrine geworfen hatte, musste er auch aus Rom fliehen. Er trat aus dem Mönchsorden aus und reiste nach Noli und Savona (Ligurien), dann nach Turin, Venedig (wo er seine verlorene Abhandlung De segni de tempi veröffentlichte) und Padua weiter. Er wohnte dabei oft bei Dominikanern und erteilte Privatunterricht in Astronomie. Brunos Leben wurde fortan zu einer Wanderschaft durch Europa. Die wiederentdeckten Ideen der antiken Naturphilosophie übten große Anziehung auf ihn aus. Zu dieser Zeit begann sich das von Nikolaus Kopernikus postulierte heliozentrische Weltbild durchzusetzen. Hierdurch ermutigt, entwickelte Bruno im Laufe der folgenden Jahre seine eigene Philosophie. Genf, Frankreich, England 1578 hatte Giordano Bruno Italien, wo er zuletzt in Mailand war, verlassen und machte sich auf den Weg nach Lyon. Über Chambéry erreichte er im Spätherbst 1578 Genf, wo seit Johannes Calvins Tod Théodore de Bèze dessen Nachfolge angetreten hatte. Bruno arbeitete als Korrektor bei einem Drucker und wurde im Mai 1579 an der Universität registriert. Durch Calvin war die Stadt zu einem protestantischen Zentrum geworden. Bruno trat der calvinistischen Kirche bei und hoffte, so Schutz vor der römischen Inquisition zu finden. Infolge unüberbrückbarer theologischer Differenzen wurde Bruno im August 1579 für kurze Zeit inhaftiert und mit Maßnahmen der calvinistischen Kirchenzucht belegt. Denn einige Positionen des Calvinismus fanden seine Kritik, so verfasste und verbreitete er eine Streitschrift gegen den Philosophieprofessor Antoine de La Faye (1540–1615), einen führenden Calvinisten, letztlich die Ursache seiner kurzzeitigen Inhaftierung. Um freizukommen, widerrief er. Bruno verließ schließlich Genf und zog 1579 nach Toulouse, wo er zunächst Privatvorlesungen in Astronomie abhielt. Er erwarb seinen Magister artium und wurde Ordentlicher Lektor für Philosophie an der Universität von Toulouse. Unter anderem hielt er Vorlesungen über Aristoteles (De Anima) ab. Zu dieser Zeit begann sein phänomenales Gedächtnis Furore zu machen – Bruno arbeitete offenbar mit einer speziellen Mnemotechnik. Zeitgenossen erklärten sich seine Fähigkeiten freilich mit magischen Fähigkeiten. Als 1581 die Konflikte zwischen Hugenotten und Katholiken (Hugenottenkriege bzw. Siebter Hugenottenkrieg) wieder heftiger wurden, verließ Bruno Toulouse und ging nach Paris. Dort blieb er bis 1583 und wurde von König Heinrich III. gefördert. Er hielt private Vorlesungen über die Attribute Gottes. Mit einem Empfehlungsschreiben Heinrichs III. an den französischen Botschafter Michel de Castelnau (um 1520–1592) ging er 1583 nach England, versuchte zunächst in Oxford zu lehren, verursachte mit seinen Angriffen auf Aristoteles und wegen eines Plagiatsvorwurfs jedoch einen Skandal und erhielt keinen Lehrstuhl. Bis Mitte 1585 lebte er dann im Haus seines Freundes und Förderers Michel de Castelnau in London. Er machte Bekanntschaft mit Philip Sidney und mit Mitgliedern von John Dees hermetischem Zirkel. Ob Bruno John Dee persönlich begegnete, bleibt ungewiss. Seine Ansichten setzten in Oxford eine intensive Kontroverse in Gang, an der John Underhill, der Rektor des Lincoln College und spätere Bischof von Oxford, sowie George Abbot, der spätere Erzbischof von Canterbury, beteiligt waren. Dort veröffentlichte er seine „italienischen Dialoge“, darunter Cena de le Ceneri (Das Aschermittwochsmahl, 1584), in denen er schonungslose Polemik gegen den Oxforder Gelehrtenstand übte und das Londoner Geistesleben heftig karikierte, sowie De l’Infinito, Universo e Mondi (Über die Unendlichkeit, das Universum und die Welten). In letzterem Werk erklärte er die Sterne damit, dass sie wie unsere Sonne seien, dass das Universum unendlich sei, es eine unendliche Anzahl von Welten gebe und diese mit einer unendlichen Anzahl intelligenter Lebewesen bevölkert seien. Bruno konnte in England nicht die erhoffte Förderung durch Philip Sidney oder die Königin erhalten und ging 1585 im Gefolge des Botschafters Castelnau wieder nach Paris, die Stimmung dort war aber nicht so aufgeschlossen wie noch zwei Jahre zuvor. Nach Tumulten, die durch seine 120 Thesen gegen die aristotelische Naturlehre und ihre Vertreter entfacht wurden, über die er am Collège de Cambrai eine öffentliche Disputation organisiert hatte, und nach einer Schmähschrift gegen den Mathematiker Fabrizio Mordente musste er Paris verlassen. Deutschland, Prag, Genf, Zürich Bruno reiste nach Deutschland (Mainz, Wiesbaden) weiter und versuchte vergeblich, einen Lehrstuhl in Marburg zu erhalten. Im Sommer 1586 kam Bruno nach Wittenberg. Auf Fürsprache des Rechtsgelehrten Alberico Gentilis fand er Aufnahme als Extraordinarius an der Artistenfakultät der Universität Wittenberg. Er erhielt das Recht auf freie Vorträge über Philosophie. In seinen Vorlesungen behandelte er das Organon des Aristoteles, Mathematik, Logik, Physik und Metaphysik. In Wittenberg entstanden 1587 zwei Bücher über Logik und Gedächtniskunst – ein Thema, das später Gottfried Wilhelm Leibniz fortsetzen sollte –, die Bruno dem Kanzler der Universität Georg Mylius widmete. Als 1588 in Wittenberg Streitigkeiten zwischen Gnesiolutheranern und Philippisten ausbrachen, verließ Bruno am 8. März die Stadt und ging für ein halbes Jahr nach Prag. Zwar gewann er die Gunst Kaiser Rudolfs II., erhielt aber keinen Lehrauftrag. Mit einer finanziellen Unterstützung von 300 Talern von Rudolf II. reiste er über Zwischenstationen, darunter Tübingen, nach Helmstedt weiter, wo er eine Professur an der Academia Julia erhielt. Hier sammelte er, wie in Noli, in der Stille seine Kräfte und bereitete die Frankfurter Schriften vor, die sein philosophisches Vermächtnis werden sollten. Es hielt ihn nicht lange; nach den Calvinisten in Genf exkommunizierten ihn jetzt die Lutheraner. Wo auch immer Bruno wirkte, versuchte er, einen festen Lehrstuhl zu erhalten – erfolglos. Brunos Talent, sich in der Welt der komplizierten Machtverhältnisse der Renaissance zu behaupten, könnte zwiespältiger nicht interpretiert werden: Auf der einen Seite gelang es ihm immer wieder, mächtige Gönner auf seine Seite zu ziehen. Auf dem theologisch-philosophischen Kampfplatz schuf er sich Feinde mit rücksichtsloser Polemik, beißendem Spott und insbesondere mit der Ablehnung der Gottessohnschaft Christi und mit seiner kompromisslosen Gegnerschaft zu Aristoteles. Ab Juli 1590 lebte er in Frankfurt am Main. In der Freien und Reichsstadt kam es aber zu Auseinandersetzungen u. a. mit Johannes Münzenberger, der seit 1574 Kustos und ab 1580 Prior am Karmeliterkloster Frankfurt war, aber auch mit den Stadtoberen aus dem Rat der Stadt, die ihn im Februar 1591 auswiesen. Er plante, in der freien Reichsstadt zunächst bei dem Verleger und Drucker Johann Wechel († 1593) zu wohnen. Die Stadtherren lehnten Brunos Ansinnen ab. Johann Wechel fand für Bruno eine Unterkunft im Karmeliterkloster. Es folgt ein Kurzaufenthalt in Zürich. Rückkehr nach Italien und Verhaftung Während seiner Frankfurter Zeit erfasste ihn wohl Heimweh. In Italien war freilich die Inquisition mächtig und die katholische Kirche kämpfte mit allen Mitteln gegen die Reformation. Schließlich waren es der Tod des konservativen Papstes Sixtus V. und die Vakanz eines Lehrstuhls für Mathematik an der Universität Padua, die den Ausschlag gaben, dass Bruno nach Italien zurückkehrte. Während eines Aufenthalts auf der Buchmesse in Frankfurt erreichte ihn eine Einladung von Mocenigo nach Venedig, die er jedoch ablehnte. Er lehrte zunächst in Padua, doch wurde der Lehrstuhl bald an Galileo Galilei vergeben. Bruno nahm danach eine Einladung nach Venedig an. Sein Gastgeber, Zuane Mocenigo (1531–1598), Provveditore Generale di Marano, wollte in die Gedächtniskunst eingeweiht werden; doch es ist viel wahrscheinlicher, dass er sich von Bruno Einblick in weit „magischere“ Künste erhoffte. Wohl aus Enttäuschung, dass diese Erwartungen nicht erfüllt wurden, kam es zu Streitigkeiten. Während Bruno noch überlegte, Venedig zu verlassen, wurde er von Mocenigo denunziert und am 22. Mai 1592 von der Inquisition verhaftet. Im venezianischen Kerker widerrief er nach sieben Verhören. Die Macht der Inquisition traf in Venedig auf wenig Widerstand, da sich Venedig für Bruno als nicht zuständig erachtet haben dürfte. Einerseits war Venedig zuerst nicht geneigt, Bruno nach Rom auszuliefern, andererseits war er nach damaliger Rechtsauffassung ein geflohener Mönch, der ausgeliefert werden musste. Zudem wurde er ein Opfer der damaligen politischen Ränkespiele. Kerkerhaft in Rom und Hinrichtung Anfang 1593 wurde Giordano Bruno nach Rom gebracht und in der Engelsburg gefangengesetzt. In den folgenden sieben Jahren wurde der Prozess gegen ihn vorbereitet. Er versuchte vergeblich, eine Audienz bei Papst Clemens VIII. zu erreichen, und war sogar bereit, teilweise zu widerrufen. Doch dies genügte der Inquisition nicht. Als sie den vollständigen Widerruf seiner ketzerischen Thesen (nicht jedoch seiner Ideen auf Basis des kopernikanischen Modells) forderte, reagierte Bruno hinhaltend und schließlich trotzig: An der Ablehnung der Gottessohnschaft Christi und des Jüngsten Gerichts sowie an seiner Behauptung vieler ‚Welten‘ hielt er fest. Aber auch die Inquisition hatte sich bewegt und ihre ursprüngliche Forderung, acht theologische Lehrsätze zu widerrufen, auf schließlich nur noch zwei reduziert. Auch die Tatsache, dass ihm wiederholt lange Bedenkzeiten gegeben wurden, was den Prozess in eine untypische Länge hinauszögerte, scheint ein prinzipielles, zunächst vorhandenes Wohlwollen der Inquisitionsbehörden Bruno gegenüber auszudrücken. Am 8. Februar 1600 wurde das Urteil der Römischen Inquisition verlesen: Giordano Bruno wurde wegen Ketzerei und Magie aus dem Orden der Dominikaner und aus der Kirche ausgestoßen und dem weltlichen Gericht des Gouverneurs in Rom überstellt, mit der herkömmlichen Bitte, dieser möge die Strenge des Gesetzes mildern und keine Strafen gegen Leib oder Leben verhängen. Außerdem wurden alle seine Schriften verboten, seine Werke sollten öffentlich zerrissen und verbrannt werden. Bruno reagierte auf das Urteil mit seinem berühmt gewordenen Satz: „Mit größerer Furcht verkündet ihr vielleicht das Urteil gegen mich, als ich es entgegennehme“ (). Von dem weltlichen Gericht des römischen Gouverneurs wurde Bruno anschließend zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Von fast achtjähriger Kerkerhaft körperlich gebrochen, wurde der 52-jährige Giordano Bruno am 17. Februar 1600 auf dem Campo de’ Fiori auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. Die jahrhundertelang verbreitete Behauptung, dass Bruno aufgrund seiner kosmologischen (kopernikanischen) Vorstellungen von der Inquisition verurteilt wurde, ist seit der Zugänglichmachung seiner Inquisitionsakte im Jahr 1942 eindeutig widerlegt. Philosophie Brunos Philosophie Pantheismus Für Bruno stammte alles aus der Natur von der göttlichen Einheit von Materie und Dunkelheit ab. Zum einen trennte er Gott von der Welt und zum anderen tendierte er zu einem dazu entgegengesetzten Pantheismus. Bruno verband die These, dass Gott allem innewohne, mit dem Glauben, dass die Realität der Vorstellung entspringe. Damit nahm er die Gedanken von Gottfried Wilhelm Leibniz und Baruch de Spinoza vorweg. Er stellte sich gegen das geozentrische Weltbild, nahm stattdessen an, dass die Welt und die Menschen ein einmaliger Unfall einer einzelnen lebenden Weltsubstanz seien, und bekannte sich zur kopernikanischen Theorie. Weiterhin postulierte er die Monade, die als eine unteilbare Einheit ein Element des Weltaufbaus darstellt. Der Begriff Monade wurde von Gottfried Wilhelm Leibniz übernommen. Bruno ist einer der wichtigsten Vertreter einer panpsychistischen Weltanschauung, der zufolge überall im Kosmos geistige Eigenschaften vorhanden sind. Von den christlichen Kirchen wurde Atheismus und Pantheismus lange Zeit gleichgesetzt. Die Vorstellungen Giordano Brunos stehen im Gegensatz zum materialistischen Weltbild. Sie stehen in der Tradition des neuplatonischen Idealismus sowie der Mystik, die er vor allem durch die Werke von Avicenna, Averroes, Nikolaus von Kues rezipiert hat. Zwar hat Bruno viele Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften vorweggenommen. Dies verdankt sich jedoch eher einem „naturphilosophischen Ganzheitsdenken“ als einem physikalisch-analytischen Zugang, wie er etwa für seinen Zeitgenossen Galileo Galilei kennzeichnend war. Dies wird besonders klar in Brunos Erkenntnistheorie, verdeutlicht etwa in seiner Interpretation des Aktaion-Mythos in den Heroischen Leidenschaften. Mit dem nach Wahrheit Suchenden verhält es sich laut Bruno wie mit dem griechischen Jäger Aktaion. Dieser hatte auf der Jagd die nackte Göttin Diana beim Bad überrascht und wird in einen Hirsch verwandelt, der von seinen eigenen Hunden gejagt und zerrissen wird. Diana ist hier ein Sinnbild für die Natur, deren Erkenntnis sich dem Menschen entziehen will. Bruno schreibt, es sei „das letzte Ziel und das Ende dieser Jagd [nach der Wahrheit] […], in den Besitz jener flüchtigen und scheuen Beute zu gelangen, durch die der Beutemacher zur Beute, der Jäger zum Gejagten wird.“ Das Göttliche wird im Pantheismus Brunos nicht etwa in die Natur hineingelegt, die dann ein vom Erkenntnissubjekt unabhängiger, objektiver Forschungsgegenstand wäre. Vielmehr wird auch das Erkenntnissubjekt als Teil des Kosmos begriffen. Es löst sich in seiner Individualität auf, sobald es die Erfahrung der pantheistischen Einheit macht, die bei Bruno mystischen, übersinnlichen Charakter hat. So heißt es in Brunos Interpretation des Aktaion-Mythos: „So verschlingen die Hunde, die Gedanken an göttliche Dinge, diesen Aktaion, so dass er nun für das Volk, die Menge tot ist, gelöst aus den Verstrickungen der verwirrten Sinne, frei vom fleischlichen Gefängnis der Materie. Deshalb braucht er seine Diana nun nicht mehr gleichsam durch Ritzen und Fenster zu betrachten, sondern ist nach dem Niederreißen der Mauern ganz Auge mit dem gesamten Horizont im Blick.“ Geozentrisches Weltbild In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts stellte Nikolaus von Kues die damals weit verbreitete Philosophie des Aristotelismus in Frage und stellte sich stattdessen ein unendliches Universum vor, dessen Zentrum überall und dessen Rand nirgends liegt und das zudem von unzähligen Sternen bevölkert ist. Er sagte auch voraus, dass weder die Rotationsbahnen kreisförmig noch ihre Bewegungen gleichmäßig sind. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts begannen sich die Theorien von Kopernikus (1473–1543) in Europa zu verbreiten. Kopernikus bewahrte die Vorstellung von Planeten, die auf festen Sphären fixiert sind, hielt aber die scheinbare Bewegung der Sterne für eine Illusion, die durch die Drehung der Erde um ihre Achse verursacht wird; er behielt auch die Vorstellung eines unbeweglichen Zentrums bei, aber es war die Sonne und nicht die Erde. Kopernikus vertrat auch die Ansicht, dass die Erde ein Planet sei, der die Sonne einmal im Jahr umkreist. Er hielt jedoch an der ptolemäischen Hypothese fest, dass die Bahnen der Planeten aus perfekten Kreisen – Deferenten und Epizyklen – bestehen und dass die Sterne auf einer unbeweglichen äußeren Kugel fixiert sind. Trotz der weit verbreiteten Veröffentlichung von Kopernikus' Werk De revolutionibus orbium coelestium hielten zu Brunos Zeiten die meisten gebildeten Katholiken an der aristotelischen geozentrischen Auffassung fest, wonach die Erde der Mittelpunkt des Universums sei und sich alle Himmelskörper um sie drehten. Nur wenige Astronomen zu Brunos Zeiten akzeptierten das heliozentrische Modell von Kopernikus. Zu denen, die es akzeptierten, gehörten die Deutschen Michael Maestlin (1550–1631), Christoph Rothmann (um 1555–1601), Johannes Kepler (1571–1630), der Engländer Thomas Digges (ca. 1546–1595) und der Italiener Galileo Galilei (1564–1642). Unendlichkeit des Weltalls Den Prinzipien seiner Naturphilosophie folgend, glaubte Bruno nicht nur, dass das Weltall unendlich ist, sondern dass es auch unendlich viele Lebewesen auf anderen Planeten im Universum gibt. Diese Schlussfolgerungen zog er aus dem Gedanken, dass einer allmächtigen und unendlichen Gottheit auch nur ein unendliches Universum entsprechen kann, denn alles andere wäre einer unendlichen Gottheit nicht würdig. Giordano Bruno kann in seiner Philosophie aber nicht einfach „hinter“ Kopernikus oder Galilei eingereiht werden. Er teilte deren in erster Linie auf der Beobachtung der Natur basierende Überlegungen nicht. Er zweifelte an der Kompetenz der Mathematik und setzte an deren Stelle seine spezifische naturphilosophische Betrachtungsweise. In seiner Gesamtheit kann Brunos Denken in die Philosophia perennis eingeordnet werden, der er einen neuen naturphilosophischen Zugang sowie revolutionären und kämpferischen Aspekt hinzufügte. Verwerfung der Auffassung von der Zweigeteiltheit der Welt Zwar übernahm Bruno zunächst von Aristoteles die Vorstellung, die riesigen Räume zwischen den unendlich vielen Sonnensystemen seien mit Äther erfüllt, weil leerer Raum nicht existieren könne, doch entwickelte er schließlich in De immenso die Konzeption eines Vakuums. Zudem brach er mit der bis dahin gängigen Auffassung des Aristoteles von der Zweigeteiltheit der Welt in den translunaren und den sublunaren Bereich. Der Bereich über der Mondsphäre galt als der heilige Bereich, von dem allein ein verlässliches Zeitmaß abgenommen werden konnte. Dies galt aber nicht für den Bereich unterhalb der Mondsphäre, den sublunaren Bereich, in dem sich die Erde befand, so dass es vor Giordano Bruno nicht denkbar war, ein irdisches Zeitmaß anzugeben. Durch die Aufhebung dieser Grenze zwischen sublunarem und translunarem Bereich durch Giordano Bruno wurde die Erde in den göttlichen Bereich einbezogen, so dass auch auf der Erde gültige Zeitmaßstäbe denkbar wurden. Brunos Kosmologie unterscheidet zwischen „Sonnen“, die ihr eigenes Licht und ihre eigene Wärme erzeugen und von anderen Körpern umkreist werden, und „Erden“, die sich um die Sonnen bewegen und Licht und Wärme von ihnen empfangen. Bruno schlug vor, dass einige, wenn nicht alle Objekte, die klassischerweise als Fixsterne bekannt sind, in Wirklichkeit Sonnen sind. Nach Ansicht des Astrophysikers Steven Soter war er der erste, der begriff, dass „Sterne andere Sonnen mit eigenen Planeten sind“. Virtuelle Raumfahrten In De immenso entwarf Bruno eine erste Idee der Raumfahrt. „Mit den Flügeln des Geistes“ unternahm er Reisen zum Mond und anderen Gestirnen, führte Gedankenexperimente zur planetaren Perspektive durch und fragte nach den Gründen für die Fähigkeit des Menschen, begrenzte Horizonte überwinden zu können. Einflüsse auf Giordano Bruno Sein Denken wurde von Platon, Epikur, Lukrez, Thomas von Aquin, Johannes Scotus Eriugena, Nikolaus von Kues und Ramon Llull beeinflusst. Er war ein ausgeprägter Kritiker der Lehren des Aristoteles. Untersuchungsergebnissen der Kulturhistorikerin Frances Yates zufolge war Bruno auch von Marsilio Ficino und der hermetischen Literatur beeinflusst. In England vertrat vor ihm auch schon der frühe Kopernikaner Thomas Digges die These der Unendlichkeit des Weltraums und veröffentlichte das, was Bruno beeinflusst haben könnte. Rezeption Einflüsse durch Giordano Bruno Bruno beeinflusste eine Reihe von Philosophen und Schriftstellern stark, unter anderem Pierre Gassendi, Baruch de Spinoza, Lucilio Vanini, Friedrich Schelling, Galileo Galilei, Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Nietzsche. Gottfried Wilhelm Leibniz übernahm von ihm den Begriff der Monade. Rehabilitation Seine Bücher wurden auf den Index der verbotenen Schriften gesetzt, wo sie bis zu dessen Abschaffung 1966 im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils blieben. Im Jahr 2000 erklärte Papst Johannes Paul II. nach Beratung mit dem päpstlichen Kulturrat und einer theologischen Kommission die Hinrichtung Giordano Brunos für Unrecht: Selbst Männer der Kirche seien im Namen des Glaubens und der Sittenlehre mitunter Wege gegangen, „die nicht im Einklang mit den Evangelien stehen“. Eine vollständige Rehabilitierung des Gelehrten Giordano Bruno durch die katholische Kirche fand aber nicht statt, da der Pantheismus nicht mit der katholischen Lehre vereinbar sei. Märtyrer der Wissenschaft? Einige Autoren haben Bruno als „Märtyrer der Wissenschaft“ bezeichnet und Parallelen zur Galilei-Affäre, die um 1610 begann, angedeutet. „Man sollte nicht annehmen“, schreibt A. M. Paterson über Bruno und sein „heliozentrisches Sonnensystem“, dass er „seine Schlussfolgerungen durch eine mystische Offenbarung erreicht hat.... Sein Werk ist ein wesentlicher Teil der wissenschaftlichen und philosophischen Entwicklungen, die er angestoßen hat.“ Paterson schließt sich Hegel an, wenn er schreibt, dass Bruno „eine moderne Erkenntnistheorie einführt, die alle natürlichen Dinge im Universum als vom menschlichen Geist durch dessen dialektische Struktur erfasst begreift“. Ingegno schreibt, Bruno habe sich die Philosophie des Lukrez zu eigen gemacht, „die darauf abzielt, den Menschen von der Furcht vor dem Tod und den Göttern zu befreien“. Die Charaktere in Brunos „Cause, Principle and Unity“ streben danach, „die spekulative Wissenschaft und die Kenntnis der natürlichen Dinge zu verbessern“ und eine Philosophie zu erreichen, „die die Vervollkommnung des menschlichen Intellekts am leichtesten und vorzüglichsten herbeiführt und der Wahrheit der Natur am meisten entspricht“. Andere Wissenschaftler widersprechen solchen Ansichten und halten Brunos Märtyrertum für die Wissenschaft für übertrieben oder sogar für falsch. So heißt es von Frances Yates: Während die „[...] Liberalen des neunzehnten Jahrhunderts [...]“ über Brunos Kopernikanismus „in Ekstase“ gerieten, „[...] drängt Bruno die wissenschaftliche Arbeit von Kopernikus zurück in ein vorwissenschaftliches Stadium, zurück in den Hermetizismus, indem er das kopernikanische Schaubild als Hieroglyphe göttlicher Mysterien interpretiert [...]“. Dem Historiker Mordechai Feingold zufolge „sind sich Bewunderer und Kritiker Giordano Brunos im Grunde darin einig, dass er aufgeblasen und arrogant war, seine Meinungen hoch bewertete und wenig Geduld mit jedem zeigte, der ihm auch nur ansatzweise widersprach". In Bezug auf Brunos Erfahrung der Ablehnung, als er die Universität Oxford besuchte, deutet Feingold an, dass "eher Brunos Verhalten, seine Sprache und seine Selbstherrlichkeit als seine Ideen“ Anstoß erregt haben könnten. Literatur Aus der großen Zahl von literarischen Verarbeitungen des Lebens Brunos zwei Beispiele: 1841 veröffentlichte Leopold Schefer die Novelle Göttliche Komödie in Rom über den Prozess und die Hinrichtung Giordano Brunos. Bertolt Brecht schrieb die Erzählung Der Mantel des Ketzers. Gian Maria Volonté verkörperte 1973 Giordano Bruno in dem Spielfilm Der Mönch von San Dominico (Giordano Bruno) von Giuliano Montaldo. Denkmäler und Namensnennung Auf dem Campo de’ Fiori in Rom erinnert ein Denkmal der Freimaurer des Grande Oriente d’Italia, das von der laizistisch regierten Stadtgemeinde 1889 gegen den Willen des damaligen Papstes Leo XIII. (1878–1903) errichtet wurde, an Giordano Bruno. Nach Giordano Bruno ist der Asteroid (5148) Giordano und ein 22 km durchmessender Mondkrater benannt, 103° östl. Länge, 36° nördl. Breite. Im deutschsprachigen Raum trägt seinen Namen die 2004 gegründete Giordano-Bruno-Stiftung, die sich dem evolutionären Humanismus und der Förderung der Religionskritik widmet und insbesondere den Religionskritiker Karlheinz Deschner förderte. Außerdem ist die Giordano-Bruno-Gesamtschule in Helmstedt nach ihm benannt. Seit 2008 gibt es am Potsdamer Platz in Berlin ein Giordano-Bruno-Denkmal. Bibliographie Einzelwerke Ein erheblicher Teil der Werke Brunos ist erst postum erschienen. In diesem Fall erscheint das Jahr des Abfassens einer Schrift in Klammern, gefolgt von Ort und Jahr der Erstpublikation. Candelaio. Paris 1582. Deutsch: Der Kerzenzieher. Hrsg. von Sergius Kodera (= Philosophische Bibliothek. Band 544). Meiner, Hamburg 2003, ISBN 3-7873-1795-3. Weitere Ausgabe: Candelaio – Kerzen, Gold und Sprachgelichter. Komödie in fünf Akten. Aus dem Italienischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Johannes Gerber (= Materialien des ITW Bern. Nr. 4). Editions Theaterkultur, Basel 1995. Cantus Circaeus. Paris 1582. De compendiosa architectura et complemento artis Lullii. Paris 1582 De umbris idearum. Ars memoriae. Paris 1582 Ars reminiscendi. Triginta sigilli. England 1583. Triginta sigillorum explicatio. England 1583. Sigillus sigillorum. England 1583. Deutsch: Das Siegel der Siegel. Norderstedt 2017, ISBN 978-3-7448-1304-4. Spaccio della bestia trionfante. London 1584. Deutsch: Die Vertreibung der triumphierenden Bestie.Übersetzt von Paul Seliger. Magazin-Verlag Jacques Hegner, Berlin/Leipzig 1904, . La cena de le ceneri. London 1584. Deutsch: Das Aschermittwochsmahl. Übersetzt von Ludwig Kuhlenbeck. Diederichs, 1904, . Neuübersetzung: Das Aschermittwochsmahl (= Insel-Taschenbuch. 548). Hrsg. von Hans Blumenberg. Insel, Frankfurt am Main 1981, ISBN 3-458-32248-5. De la causa, principio et uno. London 1584. Deutsch: Von der Ursache, dem Princip und dem Einen. Übersetzung von Adolf Lasson. Heimann, Berlin 1872, . Erste deutsche Übersetzung in: Thaddä Anselm Rixner, Thaddäus Siber: Leben und Lehrmeinungen berühmter Physiker am Ende des XVI. und am Anfange des XVII. Jahrhunderts. Heft 5: Jordanus Brunus. Seidel, Sulzbach 1824. De l'infinito, universo e mondi. London 1584. Deutsch: Über das Unendliche, das Universum und die Welten. Reclam, Ditzingen 1994, ISBN 3-15-005114-2. Cabala del cavallo pegaseo. London 1585. Deutsch: Die Kabbala des Pegasus (= Philosophische Bibliothek. Band 528). Hrsg. von Kai Neubauer. Meiner, Hamburg 2000, ISBN 3-7873-1543-8, . De gli eroici furori. London 1585. Deutsch: Von den heroischen Leidenschaften (= Philosophische Bibliothek. Band 398). Übers. und hrsg. von Christiane Bacmeister Meiner, Hamburg 2018, ISBN 978-3-7873-1807-0. Die heroische Leidenschaft, übersetzt von Erika Rojas, BOD, ISBN 978-3-7534-5411-5. De la causa, principio e uno. 1584. Deutsch: (PDF-Datei; 502 kB). Hrsg. von Paul Richard Blum (= Philosophische Bibliothek. Band 21). 7. Auflage. Meiner, Hamburg 1993, ISBN 3-7873-1147-5. Weitere Ausgabe: Über die Ursache, das Prinzip und das Eine. Anhang: Akten des Prozesses der Inquisition gegen Giordano Bruno. Reclam, Ditzingen 1986, ISBN 3-15-005113-4. Weitere Ausgabe: Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen. Hrsg. von Bruno Kern. Wiesbaden 2015 (deutsch). Centum et viginti articuli de natura et mundo adversus peripateticos. Paris 1586. Figuratio Aristotelici physici auditus. Paris 1586. Dialogi duo de Fabricii Mordentis Salernitani prope divina adinventione. Paris 1586. Idiota triumphans - De somnii interpretatione. Paris 1586. Mordentius - De Mordentii circino. Paris 1586. De magia / De vinculis in genere. 1586–1591. Deutsch: Die Magie / Die verschiedenen Arten des Bannens und Bezauberns. Peißenberg 1999. Erstmals 1891 in Florenz erschienen. ISBN 978-3-7431-7569-3 De lampade combinatoria lulliana. Wittenberg 1587. Lampas triginta statuarum (1587), Neapel 1891. Deutsch: Die Fackel der dreißig Statuen. Peißenberg 1999. ISBN 978-3-7504-0832-6. Animadversiones circa lampadem lullianam. (1587), Augsburg 1891. Artificium perorandi (1587), Frankfurt 1612. De progressu et lampade venatoria logicorum. Wittenberg 1588. Camoeracensis Acrotismus seu rationes articulorum physicorum adversus peripateticos. Wittenberg 1588 (Neufassung von Centum et viginti articuli). Oratio valedictoria. Wittenberg 1588. Libri physicorum Aristotelis explanati (1588), Neapel 1891. De specierum scrutinio et lampade combinatoria Raymundi Lullii. Prag 1588. Articuli centum et sexaginta adversus huius tempestatis mathematicos atque philosophos. Prag 1588. Oratio consolatoria. Helmstedt 1589. De magia (1590), Florenz 1891. De magia mathematica (1590), Florenz 1891. De rerum principiis et elementis et causis (1590), Florenz 1891. Medicina lulliana (1590), Florenz 1891. Theses de magia (1590), Florenz 1891. De imaginum, signorum et idearum compositione. Frankfurt 1591. De monade, numero et figura. Frankfurt 1591. Deutsch: Über die Monas, die Zahl und die Figur als Elemente einer sehr geheimen Physik, Mathematik und Metaphysik. Hrsg. von Elisabeth von Samsonow (= Philosophische Bibliothek. Band 436). Meiner, Hamburg 1991, ISBN 3-7873-1008-8. Weitere Ausgabe: Giordano Bruno, Das Buch über die Monade, die Zahl und die Figur. Einleitung, Übersetzung, Kommentar, hrsg. von Wolfgang Neuser, Michael Spang, Erhard Wicke. Bautz, Nordhausen 2010, ISBN 978-3-88309-558-5. Il triplici minimo et la misura ad trium speculativarum scientiarum et multarum activarum. Frankfurt 1591. Deutsch: Das dreifache Minimum und das Maß. Peißenberg 2002. ISBN 978-3-7412-2847-6. De innumerabilibus, immenso et infigurabili. Frankfurt 1591. Deutsch: Das unermessliche Universum und die zahllosen Welten. ISBN 978-3-7460-2764-7 Peißenberg 1999. De vinculis in genere (1591), Florenz 1891. Summa terminorum metaphysicorum (1591), Zürich 1595. Summa terminorum metaphysicorum. Accessit eiusdem Praxis descensus seu applicatio entis (1591), Marburg 1609. Werkausgaben Werke. Hrsg. von Thomas Leinkauf u. a. Meiner, Hamburg 2007 ff. (7 Bände, Italienisch-Deutsch mit ausführlicher Einleitung, Kommentar, Bibliographie, Namen- und Sachregister sowie Glossar). Bd. 1: Der Kerzenzieher / Candelaio. 2013. Bd. 2: Das Aschermittwochsmahl / La cena de le ceneri. 2018. Bd. 3: Über die Ursache, das Prinzip und das Eine / De la causa, principio et uno. 2007. Bd. 4: Über das Unendliche, das Universum und die Welten / De l’infinito, universo et mondi. 2007. Bd. 5: Austreibung des triumphierenden Tieres / Spaccio della bestia trionfante. 2009. Bd. 6: Die Kabbala des pegaseischen Pferdes / Cabala del cavallo pegaseo. 2008. Bd. 7: Von den heroischen Leidenschaften / De gl’heroici furori. 2019. Gesammelte Werke. 6 Bde. Hrsg. und übersetzt von Ludwig Kuhlenbeck. Diederichs, Leipzig 1904–1909. Bd. 1: Das Aschermittwochsmahl. 1904. Bd. 2: Die Vertreibung der triumphierenden Bestie. 1904. Bd. 3: Zwiegespräche vom unendlichen All und den Welten. 1904. Bd. 4: Von der Ursache, dem Anfangsgrund und dem Einen. 1906. Bd. 5: Eroici furori: (Zwiegespräche vom Helden und Schwärmen). 1907. Bd. 6: Kabbala, Kyllenischer Esel, Reden, Inquisitionsakten. 1909. Dialoghi italiani. Dialoghi metafisici e dialoghi morali. Nuovamente ristampati con note da G. Gentile. 3. Aufl. Hrsg. von Giovanni Aquilecchia. Sansoni, Florenz 1958. Jordani Bruni Nolani opera latine conscripta publicis sumptibus edita [Lateinische Schriften]. Hrsg. von Francesco Fiorentino und Felice Tocco. 3 Bände in 8 Teilen. Moreno, Neapel & Florenz 1879–1891. Nachdruck: Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962, . Bd. 1.1: Oratio valedictoria / Oratio consolatoria / Acrotismus Camoeracensis / De Immenso et Innumerabilibus (Lib. 1–3). Bd. 1.2: De Immenso et Innumerabilibus (Lib. 4–8) / De Monade, Numero et Figura. Bd. 1.3: Articuli adversus Mathematicos / De triplici minimo et mensura.. Bd. 1.4: Summa terminorum metaphysicorum / Figuratio physici auditus Aristotelis / Mordentius et de Mordentii circino. Bd. 2.1: De Umbris Idearum / Ars Memoriae / Cantus Circaeus. Bd. 2.2: De Architectura Lulliana / Ars reminiscendi, Triginta sigilli etc, Sigillus Sigillorum / Centum et viginti Articuli de natura et mundo / De Lampade combinatoria et De specierum Scrutinio / Animadversiones in Lampadem Lullianam ex codice Augustano nunc primum editae. Bd. 2.3: De lampade venatoria / De imaginum compositione / Artificium perorandi. Bd. 3: Lampas triginta statuarum / Libri physicorum Aristotelis explanati / De magia et Theses de magia / De magia mathematica / De principiis rerum, elementis et causis / Medicina Lulliana / De vinculis in genere. Le opere italiane de Giordano Bruno da Paolo Lagarde. (2 Bände). Dieterichsche Universitätsbuchhandlung Göttingen 1888 Literatur Christoph Becker: Giordano Bruno - Die Spuren des Ketzers. Ein Beitrag zur Literatur-, Wissenschafts- und Gelehrtengeschichte um 1600 Band I - III, ibidem, Stuttgart, 2007, ISBN 3-89821-305-6. Mathias Behmann: Naturkrise und Einheitsmetaphysik. Giordano Bruno und Martin Heidegger im Kontext der Kritischen Patriarchatstheorie. Lang, Frankfurt am Main 2021, ISBN 978-3-631-85198-2. Paul Richard Blum: Giordano Bruno. Beck, München 1999, ISBN 3-406-41951-8. Hans Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976, ISBN 3-518-07774-0. Angelika Bönker-Vallon: Metaphysik und Mathematik bei Giordano Bruno. Akademie-Verlag, Berlin 1995, ISBN 3-05-002679-0. Jens Brockmeier: Die Naturtheorie Giordano Brunos. Erkenntnistheoretische und naturphilosophische Voraussetzungen des frühbürgerlichen Materialismus. Campus, Frankfurt am Main u. a. 1980, ISBN 3-593-32674-4. (letzte Änderung: 16. 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Übersetzungen lateinischer Werke von Giordano Bruno von Erika Rojas Informationen über Bruno Giordano Bruno – Webseite der Anhänger des Philosophen von Nola Al Van Helden: Giordano Bruno (1548–1600), Galileo-Projekt der Rice University, 1995 (englisch) Informationsblog über die Naturphilosophie Brunos von Studenten der Georg-August-Universität Göttingen Frank Gaglioti: Giordano Bruno, Philosoph und Wissenschaftler, wurde vor 400 Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt. World Socialist Website, 11. März 2000 Rolf Cantzen: Gott ist alles, was ist. Radio-Sendung zu Brunos Leben und Werk (SWR2 Wissen-Aula, Produktion 1997) Martin Schramm: Giordano Bruno - Nichts unter der Sonne ist neu Bayern 2 Radiowissen. Ausstrahlung am 7. Dezember 2020 (Podcast) Einzelnachweise Mystiker Dominikanerbruder Hochschullehrer (Leucorea) Hochschullehrer (Helmstedt) Philosoph der Frühen Neuzeit Literatur (Neulatein) Astronom (16. Jahrhundert) Römisch-katholischer Geistlicher (16. Jahrhundert) Naturphilosoph Pantheismus Hermetiker Hingerichtete Person (16. Jahrhundert) Hingerichtete Person (Kirchenstaat) Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Historische Person (Italien) Geboren 1548 Gestorben 1600 Mann Kosmologe (16. Jahrhundert)
1827
https://de.wikipedia.org/wiki/Gregor%20Gysi
Gregor Gysi
Gregor Florian Gysi [] (* 16. Januar 1948 in Berlin) ist ein deutscher Rechtsanwalt, Politiker der Partei Die Linke, Autor und Moderator. Im Dezember 1989 wurde Gysi zum Vorsitzenden der SED gewählt und verblieb nach der Umbenennung der Partei in PDS bis 1993 in dieser Funktion. Nach der erstmals freien Volkskammerwahl 1990 führte er ihre Fraktion in der Volkskammer der DDR noch von März bis Oktober 1990, bis zur formellen deutschen Wiedervereinigung, an. Daran anschließend war er von 1990 bis 1998 Vorsitzender der Bundestagsgruppe der PDS und von 1998 bis 2000 Vorsitzender der PDS-Bundestagsfraktion. Im Jahr 2002 war er fünf Monate einer der stellvertretenden Bürgermeister und Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen in einer „rot-roten“ Koalition zwischen SPD und PDS im von Klaus Wowereit angeführten Senat von Berlin. 2005 wurde Gysi wieder Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 2005 bis 2015 war er Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion. Während des dritten Kabinetts Merkel war er von Dezember 2013 bis Oktober 2015 zusätzlich Oppositionsführer in der Legislaturperiode des 18. Bundestags. Später war er von 2016 bis 2019 Präsident der Europäischen Linken. Von 2020 bis 2023 war er außenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke im Bundestag. Gregor Gysi war und ist eine der zentralen und prominentesten Persönlichkeiten der PDS bzw. der Partei Die Linke und wirkte prägend auf das politische Geschehen in der Bundespolitik seit der politischen Wende von 1989/1990 ein. Zu seinen politischen Erfolgen zählt die Transformation der vormaligen DDR-Staatspartei SED (der er ab 1967 angehört hatte) zur PDS und nach deren 2007 erfolgten Fusion mit der SPD-Abspaltung WASG schließlich zur Linken. Mit ihren zwischenzeitlich zunehmenden Wahlerfolgen und Mandaten in überregionalen Parlamenten auch in den westdeutschen Ländern trug Gysi maßgeblich zur bundesweiten Etablierung der links von SPD und Bündnisgrünen positionierten Partei bei. Herkunft und familiäres Umfeld Gregor Gysi wurde als Sohn des Kulturpolitikers und zeitweisen DDR-Diplomaten Klaus Gysi (1912–1999) und seiner Frau Irene, geb. Lessing (1912–2007), ebenfalls DDR-Kulturpolitikerin und Leiterin des Verlags Kultur und Fortschritt, in Berlin geboren. Väterlicherseits entstammt er einer Berliner Familie, deren Stammvater, der Seidenfärber Samuel Gysin (* 1681), im frühen 18. Jahrhundert aus Läufelfingen (Schweiz) eingewandert war. Einer seiner Vorfahren väterlicherseits war der Begründer der deutschen Rassegeflügelzucht, Robert Oettel. Gysi hat einen jüdischen Urgroßvater mütterlicherseits und eine jüdische Großmutter väterlicherseits. Gregor Gysis Vater war somit nach der Halacha jüdisch, Gregor Gysi selbst hingegen nicht. „Nach den Nürnberger Rassegesetzen bin ich nur zu 37,5 Prozent jüdisch, nach den jüdischen Gesetzen bin ich überhaupt kein Jude, weil ich keine jüdische Mutter habe.“ Er selbst sei überhaupt kein religiöser Mensch. Der Vater Klaus Gysi, studierter Ökonom, trat 1931 der KPD bei und arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR. Er war unter anderem als Geschäftsleiter des Aufbau-Verlags tätig, später als Botschafter in Italien, als DDR-Kulturminister und Staatssekretär für Kirchenfragen. Er war auch für die Staatssicherheit als „IM Kurt“ tätig. Mütterlicherseits stammen Gregor Gysis Vorfahren aus der jüdischen Kaufmannsfamilie Lessing, die aus der Nähe von Bamberg kam und zeitweise in Sankt Petersburg lebte und tätig war. Sein Urgroßvater war der nach St. Petersburg ausgewanderte Industrielle Anton Lessing, sein Urgroßonkel der Gründer der Bamberger Hofbräu AG Simon Lessing. Gysis Großvater mütterlicherseits, Gottfried Lessing, Anton Lessings Sohn, ein in Russland lebender Hütteningenieur, heiratete die deutsch-russische Adelige Tatjana von Schwanebach. Dieser Ehe entstammten zwei Kinder: Gregor Gysis Mutter Irene und Gottfried Lessing (1914–1979), der in zweiter Ehe mit der späteren Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing (1919–2013) verheiratet war und als Botschafter der DDR in Kampala (Uganda) erschossen wurde. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde die Familie aufgrund ihrer deutschen Herkunft nach Deutschland ausgewiesen. Die Eltern von Gregor Gysi hielten sich während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland auf. Das Paar war im Auftrag der KPD im Widerstand gegen den Nationalsozialismus und heiratete nach Kriegsende 1945; die Ehe wurde 1958 geschieden. Irene Gysi war im Kulturministerium der DDR für den Austausch mit dem Ausland zuständig und leitete später die ostdeutsche Filiale des Internationalen Theaterinstituts. Leben Ausbildung Gregor Gysi wurde in Berlin-Lichtenberg geboren. Er wuchs in Ost-Berlin im Stadtteil Johannisthal auf. Dort besuchte er von 1954 bis 1962 eine Polytechnische Oberschule, von 1962 bis 1966 die Erweiterte Oberschule „Heinrich Hertz“ (ab 1965 Schule mit mathematischem Schwerpunkt) im Stadtteil Adlershof. Hier erwarb er 1966 das Abitur und gleichzeitig den Abschluss als Facharbeiter für Rinderzucht im VEG Blankenfelde. Anschließend absolvierte Gysi ab 1966 ein Studium der Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, das er 1970 als Diplom-Jurist beendete. Juristische Karriere als Anwalt in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland 1970 bis 1971 war Gysi Richterassistent. Ab 1971 war Gysi einer der wenigen freien Rechtsanwälte in der DDR. In dieser Funktion verteidigte er auch Systemkritiker und Ausreisewillige wie Robert Havemann, Rudolf Bahro, Jürgen Fuchs, Bärbel Bohley und Ulrike Poppe. 1976 erfolgte seine Promotion zum Dr. jur. mit der Arbeit Zur Vervollkommnung des sozialistischen Rechtes im Rechtsverwirklichungsprozeß. Von April 1988 bis Dezember 1989 war er Vorsitzender des Kollegiums der Rechtsanwälte in Ost-Berlin und gleichzeitig Vorsitzender des Rates der Vorsitzenden der 15 Kollegien der Rechtsanwälte in der DDR. Diese Funktion war eine Nomenklaturkaderposition, die nur mit Zustimmung des ZK der SED besetzt werden durfte. Am 12. September 1989 war er zusammen mit dem Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel in Prag, um die DDR-Flüchtlinge in der deutschen Botschaft zur Rückkehr in die DDR aufzufordern. Im Herbst 1989, vor der politischen Wende in der DDR, setzte Gysi sich als Anwalt für die Zulassung des oppositionellen Neuen Forums ein. Von August 2002 bis zu seiner Wiederwahl als Abgeordneter des Bundestages im Jahre 2005 sowie nach seinem Rücktritt als Fraktionsvorsitzender der Linkspartei im Deutschen Bundestag 2016 widmete sich Gysi wieder seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt in Berlin. Dabei vertrat er 2022 einen Aktivisten der Letzten Generation. Politische Karriere als Vorsitzender von SED, PDS und der Partei Die Linke Seit seinem 20. Lebensjahr (1967) war Gysi Mitglied der SED. Als er 22 Jahre später (1989) in den Blickpunkt der Öffentlichkeit trat, arbeitete er an einem Reisegesetz mit. Am 4. November 1989 sprach Gysi vor 500.000 Menschen auf der Massenkundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz und forderte ein neues Wahlrecht sowie ein Verfassungsgericht. Zugleich warb er um Vertrauen für den neuen SED-Generalsekretär Egon Krenz und erkannte der SED weiterhin eine führende Rolle in der DDR zu. Seine Eloquenz und rhetorische Begabung ließen ihn schnell zu einem der Medienstars des Herbstes 1989 werden. Ab dem 3. Dezember 1989 gehörte er dem Arbeitsausschuss zur Vorbereitung des außerordentlichen Parteitages der SED an und war Vorsitzender eines parteiinternen Untersuchungsausschusses. Auf dem Sonderparteitag der SED-PDS am 8. Dezember 1989 lehnte Gysi die von vielen Delegierten geforderte Auflösung und Neugründung der SED als „in hohem Maße verantwortungslos“ ab. Er begründete dies mit der Gefahr möglicher Rechtsstreitigkeiten über das Parteivermögen und drohender Arbeitslosigkeit für die 44.000 hauptamtlichen Mitarbeiter der SED. Deswegen wurde der Parteiname auch nicht ersetzt, sondern nur ergänzt. Am 16. Dezember 1989 sprach sich Gysi auf der Fortsetzung des Sonderparteitages der SED-PDS für eine Zusammenarbeit beider deutscher Staaten bei voller Wahrung ihrer Souveränität aus. Zugleich trat er entschieden gegen die „Diskriminierung“ und „Verfolgung“ bisheriger Stasi-Mitarbeiter und ihrer Familien auf. „Unsere Partei“, so Gysi, „wird sich stets auch für die Interessen der Staatsbürger in Uniform einsetzen.“ Auf dem Sonderparteitag am 9. Dezember 1989 wählten ihn 95,3 Prozent der Delegierten zum Vorsitzenden der SED. Gysi war als Parteivorsitzender der SED-PDS im Winter 1989/90 daran beteiligt, dass die SED nicht aufgelöst wurde und ihr Parteivermögen sowie Arbeitsplätze innerhalb der Partei erhalten blieben. Den Parteivorsitz der PDS hatte Gysi bis zum 31. Januar 1993 inne. Danach wirkte er zunächst als stellvertretender Parteivorsitzender, dann als Mitglied im Parteivorstand weiter mit, bis er im Januar 1997 endgültig aus dem Parteivorstand ausschied. Am 23. Dezember 2005 wurde er auch Mitglied der WASG, ebenso wie Oskar Lafontaine auch Mitglied in der Linkspartei PDS wurde. Damit machten beide demonstrativ von der Möglichkeit einer Doppelmitgliedschaft in der Linkspartei und in der WASG Gebrauch. Seit ihrer Gründung am 16. Juni 2007 ist Gysi Mitglied der Partei Die Linke; ebenso ist er Mitglied der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Dezember 2016 wurde er zum Vorsitzenden der Europäischen Linken gewählt. Mandate 1990–2002 Mitglied der Volkskammer der DDR und des Deutschen Bundestags: Von März bis Oktober 1990 war Gysi Abgeordneter der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR, dort Fraktionsvorsitzender der PDS. Als solcher wurde er am 3. Oktober 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages und als solches mehrfach wiedergewählt. Aus dem Bundestag schied er aus am 1. Februar 2002, um das Amt des Wirtschaftssenators in Berlin anzutreten. Er war von 1990 bis 1998 Vorsitzender der PDS-Bundestagsgruppe und danach bis zum 2. Oktober 2000 Vorsitzender der PDS-Bundestagsfraktion. 2001–2002 Abgeordneter und Stadtsenator in Berlin: 2001 wurde Gysi Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin. Am 17. Januar 2002 wurde er Bürgermeister und Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen des Landes Berlin in dem vom Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit geführten Senat Wowereit II. Am 31. Juli 2002 trat er im Rahmen der Bonusmeilen-Affäre von allen Ämtern zurück. Seit 2005 Abgeordneter zum Deutschen Bundestag: Für die Bundestagswahl 2005 kehrte Gysi als Spitzenkandidat der Linkspartei in die Bundespolitik zurück. Er war Direktkandidat für den Wahlkreis 85 Treptow-Köpenick und führte die Landesliste der Linkspartei Berlin an. Bei der Wahl konnte er sich gegen seinen Konkurrenten Siegfried Scheffler von der SPD durchsetzen und zog mit 40,4 Prozent der abgegebenen Erststimmen direkt in den Bundestag ein. Gemeinsam mit Oskar Lafontaine wurde er am 23. September 2005 zum Fraktionsvorsitzenden der Linksfraktion gewählt. Auch bei der Bundestagswahl 2009 trat er als Spitzenkandidat der Berliner Landesliste an. Sein Erststimmen-Ergebnis in seinem Wahlkreis Berlin-Treptow-Köpenick konnte er jedoch auf 44,4 Prozent verbessern und zog somit erneut per Direktmandat in den Bundestag ein. Nach dem Verzicht Oskar Lafontaines wurde Gysi am 9. Oktober 2009 mit 94,7 Prozent zum alleinigen Fraktionsvorsitzenden der Bundestagsfraktion der Linken bestimmt und 2011 mit 81,3 Prozent im Amt bestätigt. Bei der Bundestagswahl 2013 gelang es Gysi – wiederum Spitzenkandidat der Berliner Landesliste – trotz leichter Einbußen von 2,2 Prozentpunkten sein Direktmandat mit 42,2 Prozent erneut zu verteidigen. Wie schon 2011 wies er Sahra Wagenknechts Ambitionen auf eine Doppelspitze in der Fraktion erfolgreich zurück und wurde am 9. Oktober 2013 auf einer Fraktionsklausur im brandenburgischen Bersteland erneut zum alleinigen Fraktionsvorsitzenden gewählt. Aufgrund der regierenden Großen Koalition war er damit Oppositionsführer. Am 7. Juni 2015 gab er bekannt, dass er nicht erneut für den Fraktionsvorsitz der Linken kandidieren werde. Entsprechend schied er am 12. Oktober 2015 aus beiden Ämtern aus. Seine Nachfolger im Fraktionsvorsitz und damit auch in der Oppositionsführung wurden Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht. Bei der Bundestagswahl 2017 gewann Gysi erneut das Mandat als Direktkandidat im Bundestagswahlkreis Berlin-Treptow – Köpenick und ließ sich nicht über die Landesliste absichern. Am 5. Mai 2020 wurde er von seiner Fraktion als Nachfolger von Stefan Liebich zum außenpolitischen Sprecher gewählt, nachdem er bereits im April 2020 dessen Platz im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags übernommen hatte. Dieses Amt gab Gysi im September 2023 wieder ab. In der 19. Legislaturperiode erhielt er (Stand August 2020) mindestens 470.000 Euro aus Nebentätigkeiten. Zur Bundestagswahl 2021 wiederholte er seine Direktkandidatur in seinem Wahlkreis ohne gleichzeitige Aufstellung in der Landesliste. Er gewann unter anderem gegen die Olympiasiegerin und Bundespolizistin Claudia Pechstein (CDU). Gysis erfolgreiche Kandidatur gehört zu den drei Direktmandaten, die seine Partei durch Abs. 3 Satz 1 des Bundeswahlgesetzes in den Bundestag bringen konnten, obwohl die Partei bei der Wahl an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte. Kritiken nach der Wiedervereinigung Deutschlands Vorwurf der Verschleierung des SED-Vermögens Auf dem Sonderparteitag der SED vom 8./9. und 16./17. Dezember 1989 unterstützte Gregor Gysi den Fortbestand der SED unter neuem Namen („SED-PDS“) unter anderem mit dem Argument, eine Auflösung und Neugründung würde juristische Auseinandersetzungen um das Parteivermögen nach sich ziehen und sei eine ernste wirtschaftliche Bedrohung für die Partei. Aus diesem Eintreten machte ihm die Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR den Vorwurf, er sei aktiv an der Verschleierung des SED-Parteienvermögens beteiligt gewesen und habe im Putnik-Deal versucht, mit Hilfe der KPdSU SED-Gelder ins Ausland zu verschieben, um sie vor dem Zugriff staatlicher Stellen zu sichern. Der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages 1998 zum Verbleib des SED-Parteienvermögens gab an, dass Gysi bei seiner Befragung geschwiegen und damit zusammen mit weiteren PDS-Funktionären die Arbeit des Ausschusses behindert habe. Eine aktive Beteiligung konnte ihm jedoch nicht nachgewiesen werden. Linke Abgeordnete werden vom Verfassungsschutz beobachtet Im Januar 2012 wurde bekannt, dass Gregor Gysi als einer von 27 Bundestagsabgeordneten der Linken unter Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz stand, was von Politikern aller Fraktionen kritisiert wurde. Nachdem diese Überwachung Anfang 2014 eingestellt worden war, stellte das Verwaltungsgericht Köln in einem Anerkenntnisurteil im September 2014 fest, dass die Personalakte Gysis zu vernichten sei. Vorwürfe einer aktiven Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit Im Zusammenhang mit der Kandidatur Gysis für höhere politische Ämter wurde eine Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR geprüft. Eine solche konnte jedoch nie gerichtsfest nachgewiesen werden. – Im Abschlussbericht des Immunitätsausschusses des Deutschen Bundestages heißt es unter anderem, Gysi habe Gregor Gysi bezog zu diesen Aussagen im Abschlussbericht wie folgt Stellung: Die Feststellungen des Immunitätsausschusses hatten keine Auswirkungen auf Gysis Arbeit als Abgeordneter, der im Abschlussbericht selbst der Beschuldigung widersprach und auf „wesentliche Mängel und Fehler“ im Verfahren hinwies. Die PDS und die FDP stimmten dem Papier nicht zu. Gegen diese Aussagen im Bericht der Kommission legte Gysi erneute Klage ein. Er räumte die Kooperation mit der Staatsanwaltschaft und dem Zentralkomitee der SED „im Interesse und mit Wissen seiner Klienten“ ein und ging mehrmals erfolgreich gerichtlich gegen die mediale Verbreitung der Behauptung vor, er wäre IM Gregor / IM Notar gewesen. 1998 untersagte das Landgericht Hamburg dem Magazin Der Spiegel zu behaupten, Gregor Gysi habe für die Stasi-Spionageabteilung gearbeitet und dort den Decknamen IM Notar geführt, weil der Spiegel seine Behauptungen nicht habe beweisen können. Nachdem das ZDF am 27. Mai 2008 ein Interview mit Marianne Birthler ausgestrahlt hatte, in dem sie Gysi eine Stasi-Tätigkeit vorwarf, ging Gysi mit einem Unterlassungsbegehren gegen den Sender vor. Im Mai 2008 unterlag Gysi vor dem Berliner Verwaltungsgericht mit einer Klage gegen die Veröffentlichung mehrerer Protokolle über seinen ehemaligen Klienten Robert Havemann sowie den – laut diesen Berichten – zur DDR-Führung „negativ eingestellt[en]“ Thomas Klingenstein, geb. Erwin. Gregor Gysi bestreitet nach wie vor, als IM tätig gewesen zu sein: Er sei erstmals 1980 von der Stasi wegen der Möglichkeit einer inoffiziellen Mitarbeit überprüft und 1986 abschließend „zur Aufklärung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit nicht geeignet“ befunden worden. „Im September 1980 legte die Stasi einen Vorlauf an, um zu prüfen, ob ich als IM infrage käme. Wozu einen solchen Vorlauf im Jahr 1980, wenn ich angeblich 1979 bereits IM war?“ Eine „inhaltliche Weitergabe des Gesprächs mit Thomas Erwin, allerdings nicht an die Stasi, sondern an das ZK der SED“, schließt Gysi aber nicht mehr aus. Er habe außerdem „erhebliche Verbesserungen für Havemann wie die Aufhebung des Hausarrestes oder die Verhinderung weiterer Anklagen erreicht“. Havemanns Sohn Florian hat Gysi in der Angelegenheit ausdrücklich verteidigt. Am 28. Mai 2008 erklärte er in einem Interview: „Unabhängig von der Frage, ob Herr Gysi IM war, was ich nicht beurteilen kann, hat er im Sinne unseres Vaters gehandelt.“ Havemanns Ehefrau Katja trat dagegen anhand der Stasi-Aktenlage mit der persönlichen Ansicht an die Öffentlichkeit, dass Gysi sich eindeutig hinter IM Gregor und IM Notar verberge. Gysi hinterfragte die Glaubwürdigkeit der Akten: Die Bundesbeauftragte habe in einem anderen Fall erklärt, „dass sie die Diskrepanzen zwischen dem Akteninhalt und tatsächlichen Begebenheiten nicht untersuchen dürfe. Die Behörde sei auch nicht befugt, Unterlagen zu bewerten und auch nicht, Wahrheitsfeststellungen zu treffen.“ Am 28. Mai 2008 befasste sich der Bundestag auf Verlangen von CDU/CSU und SPD in der Aktuellen Stunde mit dem „Bericht aus den Unterlagen der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, über vertrauliche Gespräche, die Gregor Gysi 1979/1980 als DDR-Rechtsanwalt mit Mandanten geführt hat“. In der Debatte forderten Abgeordnete der CDU, SPD, Grüne und FDP sowohl Konsequenzen in Form einer Entschuldigung bei den Opfern als auch den Ämterverzicht Gysis. Der Vorsitzende der Linksfraktion, Oskar Lafontaine, forderte als Konsequenz aus den Äußerungen von Marianne Birthler deren Entlassung. Birthler bekräftigte dagegen, dass die Aktenlage zweifelsfrei zeige, dass Gysi wissentlich und willentlich Informationen an die Stasi geliefert habe. Dies sei gemäß Stasi-Unterlagengesetz entscheidend, als Stasi-Spitzel zu gelten, „unabhängig davon, ob eine Verpflichtungserklärung existiere oder nicht“. Gegen den entsprechenden ZDF-Beitrag setzte sich Gysi beim Landgericht Hamburg mit einer einstweiligen Verfügung auf Unterlassung und Gegendarstellung zur Wehr. Nachdem das Hamburger Landgericht in erster Instanz gegen Gysi entschied, hob das Hanseatische Oberlandesgericht den Entscheid der Vorinstanz auf. Begründet wurde dies mit einer unzulässigen Verdachtsberichterstattung und unzureichenden Recherchen im Vorfeld. Gegen dieses Urteil wurden durch das ZDF Rechtsmittel eingelegt. Am 4. September 2009 fällte das Landgericht Hamburg im Hauptsacheverfahren das Urteil, das dem ZDF untersagt, durch die im „heute-journal“ vom 22. Mai 2008 erfolgte Berichterstattung den Verdacht zu erwecken, Gysi habe „wissentlich und willentlich an die Stasi berichtet“. Damit hat das Landgericht Hamburg kein grundsätzliches Verbreitungsverbot im Hinblick auf die streitige Äußerung von Frau Birthler verhängt, sondern den Verbotstenor ausschließlich auf die konkrete Darstellungsform in der Sendung „heute-journal“ vom 22. Mai 2008 beschränkt. Im Berufungsverfahren zum weitergehenden Antrag Gysis auf einstweilige Verfügung bestätigte das Oberlandesgericht Hamburg am 8. September 2009 sein Urteil, in welchem dem ZDF überhaupt verboten wird, die Äußerungen Birthlers bestätigend zu verbreiten. In der darauf folgenden Berufungsverhandlung wurde im Urteil vom 23. März 2010 vom OLG Hamburg dieses Verbot bestätigt und eine Revision nicht zugelassen. Eine Beschwerde des ZDF gegen die Nichtzulassung dieser Revision wurde am 20. September 2011 vom Bundesgerichtshof zurückgewiesen. Der Rechtsstreit um den ersten Film Die Akte Gysi, der im Januar 2011 in der ARD ausgestrahlt wurde, endete mit einem Vergleich, in dem sich der NDR verpflichtete, ihn nicht mehr zu zeigen. Die NDR-Autoren Hans-Jürgen Börner und Silke König setzten ihre Recherchen fort und legten weitere Einzelheiten zu Gysis DDR-Vergangenheit vor – unter anderem zu Gysis Rolle in Fällen von Rudolf Bahro, Robert Havemann, Thomas Klingenstein, Rolf Henrich – ihren zweiten Film Gysi und die Stasi strahlte die ARD im Dezember 2013 aus. Ermittelt wurde wegen einer möglicherweise falschen eidesstattlichen Versicherung. Gysi hatte erklärt, „zu keinem Zeitpunkt über Mandanten oder sonst jemanden wissentlich und willentlich an die Staatssicherheit berichtet zu haben“. Nach Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung erteilte der Hamburger Generalstaatsanwalt Lutz von Selle die Weisung, Gregor Gysi anzuklagen. Anklagepunkt war der Verdacht, die von ihm am 18. Januar 2011 abgegebene eidesstattliche Versicherung sei unwahr. Die Ermittlungen hatten Anfang 2013 begonnen. Ausgangspunkt waren Anzeigen Vera Lengsfelds und eines ehemaligen Richters. Der zuständige ermittelnde Staatsanwalt weigerte sich, Anklage zu erheben, weil kein hinreichender Tatverdacht vorliege und damit die Weisung unrechtmäßig sei. Die Hamburger Justizbehörde unter Justizsenator Till Steffen, bei der sich der Staatsanwalt beschwert hatte, hob die Weisung des Generalstaatsanwalts auf. Georg Mascolo und Hans Leyendecker von der Süddeutschen Zeitung und andere Journalisten bezeichneten die Vorgänge als in der Justizgeschichte einmaligen Eklat. Im Juni 2016 wurde das Verfahren gegen Gysi von der Hamburger Staatsanwaltschaft eingestellt. Die eidesstattliche Erklärung, in der er die Mitarbeit bei der Stasi bestritt, ließ sich durch die Staatsanwaltschaft nicht widerlegen. Zwar konnten in den Unterlagen Hinweise auf eine mögliche Tätigkeit für die Stasi unter den Decknamen Gregor oder Notar gefunden werden, doch ließen diese unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Interpretationen zu. Weder unter den Zeugenaussagen noch bei den Aufzeichnungen des Generalbundesanwaltes sei eindeutig belastendes Material gefunden worden. Politische Positionen Der politische Schwerpunkt Gysis liegt im Bereich soziale Gerechtigkeit, sowohl im innenpolitischen als auch im außenpolitischen Sinne. Zudem gilt er als Verfechter einer diplomatischen, nicht kriegerischen Außenpolitik. Im Wahlkampf 2013 behauptete Gysi, in Deutschland gelte noch immer das Besatzungsstatut. So forderte Gysi im Interview mit dem Deutschlandfunk ein Ende der Besatzung Deutschlands und die Aufhebung des Besatzungsstatuts, damit Deutschland endlich als Land souverän werden könne. Gysi wiederholte diese Forderungen in Interviews mit dem Tagesspiegel, bei Phoenix und bei TV Berlin. Im Jahr 2015 antwortete er auf die Frage, ob Deutschland noch besetzt sei, mit „nein“ und äußerte, dass die Bundesrepublik Deutschland ein souveräner Staat sei, sich aber nicht so benehme, nahm in diesen Zusammenhängen aber nicht zum Besatzungsstatut Stellung. Gysi forderte im Zuge der Diskussion um das Berlin/Bonn-Gesetz, die Hauptstadt ausschließlich nach Berlin zu verlegen, da dies ein Symbol der „nationalen Glaubwürdigkeit und der internationalen Reputation“ sei, außerdem gebe es keine Stadt, in der sich die Wiedervereinigung so unmittelbar vollziehe. Im März 2012 setzte sich Gysi in einem Schreiben an Bundestagspräsident Norbert Lammert für die Benennung des neuen Abgeordnetenbürohauses des Bundestags in der Wilhelmstraße 65 in Berlin nach der Kommunistin Clara Zetkin ein. „Ihr konsequenter Kampf gegen Krieg und vor allem gegen den erstarkenden Nationalsozialismus“ spreche für diese Ehrung. Im Vorfeld der Toilettenaffäre verbot Gysi eine israelkritische Veranstaltung in den Fraktionsräumen; parteiintern und auch in zahlreichen Medien wurde das als Positionierung in der damals in der Partei herrschenden Antisemitismusdebatte gewertet. Gysi kritisierte 2013 die Bundesregierung scharf, dass sie nichts dagegen unternehme, dass die Five Eyes in Deutschland Bürger, Politiker und Unternehmen ausspähten. Edward Snowden habe den Friedensnobelpreis verdient. Diese Rede im Bundestag wurde von der Universität Tübingen als „Rede des Jahres 2013“ ausgezeichnet. Im Jahr 2014 vertrat Gysi die Ansicht, dass die Sanktionen gegen Russland wegen der Besetzung und Annexion der Krim die Krise nur verschärften und Diplomatie benötigt werde. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine distanzierte sich Gysi von Sahra Wagenknecht und dem linken Parteiflügel, die den Angriff seiner Meinung nach relativierten und wandte sich in einer in russisch gehaltenen emotionalen Rede an die russische Bevölkerung und rief diese dazu auf, gegen den Krieg zu protestieren. Nach dem Giftanschlag auf Alexei Nawalny im August 2020 äußerte Gysi, es könne auch „ein einzelner Mann vom Geheimdienst“ gewesen sein, „der durchgedreht ist“, es könne jedoch „auch sein, dass es ein Gegner der Erdgasleitung nach Deutschland war“. Er glaube nicht, dass Putin es angeordnet habe, da dieser kein Interesse an einer Verschlechterung der Beziehungen zum Westen haben könne. Als Grund, warum er sich auch für die Bundestagswahl 2021 für ein Direktmandat zur Wahl stellte, gab Gysi an, dass die „Gleichstellung von Ost und West noch nicht vollendet“ und damit sein „Job noch nicht erledigt“ sei. Nach der Veröffentlichung der Xinjiang Police Files über die Unterdrückung der Uiguren in China sprach sich Gysi als einer der wenigen Politiker gegen Sanktionen gegen China aus. Stattdessen müsse die EU mit mehr Diplomatie und „über Angebote statt über Sanktionen“ etwas erreichen. Bei der Abstimmung im Bundestag zur Anerkennung des Holodomors als Völkermord im November 2022 enthielt sich die Linksfraktion. Gysi verurteilte zwar den Holodomor als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, warnte aber davor, dass nicht der Eindruck entstehen solle, dass Stalin und Hitler gleichgestellt werden könnten. Weiterhin betonte er die Rolle der Sowjetunion beim Sieg über die Nationalsozialisten. Gesprächsreihen und Moderation Gemeinsam mit Lothar Späth moderierte er ab dem 20. Januar 2003 die Talkshow Gysi und Späth im MDR. Im vierwöchigen Turnus wurde aus dem Leipziger Hauptbahnhof gesendet. Nach drei Folgen wurde die Sendung wieder abgesetzt. Gysi moderierte von 2003 bis 2009 am Deutschen Theater Berlin die Gesprächsreihe „Gregor Gysi trifft Zeitgenossen“. Seit 2015 moderiert er jährlich die Jahresrückblickssendung Gysi und … – Der n-tv Jahresrückblick auf n-tv. Seit 2015 moderiert er mit Harald Schmidt die Sendung Gysi & Schmidt, die zunächst als Jahresrückblick, später halbjährlich ausgestrahlt wurde. Seit 2016 spricht Gysi im Rahmen der Gesprächsreihe Missverstehen Sie mich richtig! als Gastgeber mit prominenten Gästen. Die Veranstaltungen finden vor Publikum in verschiedenen Theatern Berlins statt. Privates Als Kind wurde Gysi zeitweise als Synchronsprecher eingesetzt, z. B. in Totò und Marcellino. Seine ältere Schwester Gabriele Gysi ist Schauspielerin. Sie verließ die DDR 1984 per Ausreiseantrag und zog in die Bundesrepublik. Gysis erste Ehe endete mit einer Trennung Anfang der 1970er-Jahre. In zweiter Ehe war Gysi ab 1996 mit der Rechtsanwältin und Politikerin Andrea Gysi verheiratet, von der er ab November 2010 getrennt lebte und 2013 geschieden wurde. Er hat drei Kinder; einen Sohn aus erster Ehe, eine Tochter aus zweiter Ehe und einen Adoptivsohn, den seine erste Ehefrau in die Ehe mitbrachte. Nachdem Gysi im Jahr 2004 bereits zwei Herzinfarkte erlitten hatte, musste er sich im November 2004 wegen eines Hirnaneurysmas einer Operation unterziehen. Infolge dieses Eingriffs erlitt er einen dritten Herzinfarkt. Gysi ist Mitglied des 1. FC Union Berlin. Auszeichnungen (Auswahl) 2013: Auszeichnung als bester Redner des Wahlkampfs für die Bundestagswahl 2013 durch den Verband der Redenschreiber deutscher Sprache. 2016: Weinritter des Weinfests der Stadt Oppenheim 2017: Orden wider den tierischen Ernst 2017: Morenhovener Lupe 2018: Goldene Henne (Ehrenpreis Politik) Schriften Zur Vervollkommnung des sozialistischen Rechtes im Rechtsverwirklichungsprozeß. Humboldt-Universität zu Berlin, 1975 (Dissertation). (Hrsg.): Handbuch für Rechtsanwälte. Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1990, ISBN 3-329-00606-4. (Hrsg.): Wir brauchen einen dritten Weg. Selbstverständnis und Programm der PDS. Konkret-Literatur-Verlag, Hamburg 1990, ISBN 3-922144-95-0. Irene Runge und Uwe Stelbrink: Gregor Gysi: „Ich bin Opposition“. 2 Gespräche mit Gregor Gysi. Dietz, Berlin 1990, ISBN 3-320-01687-3. mit Thomas Falkner: Sturm aufs große Haus. Der Untergang der SED. Edition Fischerinsel, Berlin 1990, ISBN 3-910164-07-2. Einspruch! Gespräche, Briefe, Reden. Alexander-Verlag, Berlin 1992, ISBN 3-923854-65-X; erneut unter dem Titel Einspruch! Aufsätze, Reden, Briefe, Gespräche. Schwarzkopf und Schwarzkopf, Berlin 2002, ISBN 3-89602-392-6. (Hrsg.): Zweigeteilt. Über den Umgang mit der SED-Vergangenheit. VSA-Verlag, Hamburg 1992, ISBN 3-87975-609-0. Das war’s. Noch lange nicht! Autobiographische Notizen. ECON, Düsseldorf 1995, ISBN 3-430-13689-X. Ingolstädter Manifest. Wir – mitten in Europa. Plädoyer für einen neuen Gesellschaftsvertrag. PDS, Berlin 1995. Freche Sprüche. Schwarzkopf und Schwarzkopf, Berlin 1996, ISBN 3-89602-041-2. Nicht nur freche Sprüche. Schwarzkopf und Schwarzkopf, Berlin 1998, ISBN 3-89602-141-9. Über Gott und die Welt. Gregor Gysi im Gespräch mit Daniela Dahn, Lothar de Maizière, Hans Otto Bräutigam und Lothar Bisky. Schwarzkopf und Schwarzkopf, Berlin 1999, ISBN 3-89602-315-2. Neue Gespräche über Gott und die Welt. Gregor Gysi im Gespräch mit Peter-Michael Diestel, Guido Westerwelle und Gabriele Zimmer/Oliver Schwarzkopf im Gespräch mit Gregor Gysi. Schwarzkopf und Schwarzkopf, Berlin 2000, ISBN 3-89602-351-9. Neueste Gespräche über Gott und die Welt. Gregor Gysi im Gespräch mit Günter Gaus, Angelica Domröse, Christoph Hein und Roland Claus. Schwarzkopf und Schwarzkopf, Berlin 2001, ISBN 3-89602-366-7. Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn. Hoffmann und Campe, Hamburg 2001, ISBN 3-455-09338-8. () Was nun? Über Deutschlands Zustand und meinen eigenen. Hoffmann und Campe, Hamburg 2003, ISBN 3-455-09369-8. () mit Harry Rowohlt und Anna Thalbach: Marx & Engels intim. Hörbuch, Random House Audio, Köln 2009, ISBN 3-8371-0006-5. mit Birgit Rasch (Hrsg.): Offene Worte: Gysi trifft Zeitgenossen. Neues Leben, Berlin 2011, ISBN 978-3-355-01789-3. Wie weiter? Nachdenken über Deutschland. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2013, ISBN 978-3-360-02164-9. mit Friedrich Schorlemmer: Was bleiben wird: Ein Gespräch über Herkunft und Zukunft. Aufbau Verlag, Berlin 2015, ISBN 978-3-351-03599-0. mit Stephan Hebel: Ausstieg links? Eine Bilanz. Westend, Frankfurt am Main 2015, ISBN 978-3-86489-116-8. Ein Leben ist zu wenig. Die Autobiographie. (in Zusammenarbeit mit Hans-Dieter Schütt), Aufbau Verlag, Berlin 2017, ISBN 978-3-351-03684-3. Marx & wir. Warum wir eine neue Gesellschaftsidee brauchen. Aufbau, Berlin 2018, ISBN 978-3-351-03720-8. mit Gabriele Gysi: Unser Vater. Ein Gespräch. Aufbau, Berlin 2020, ISBN 978-3-351-03842-7. Was Politiker nicht sagen … weil es um Mehrheiten und nicht um Wahrheiten geht. Econ, Düsseldorf 2022, ISBN 978-3-430-21043-0. Literatur Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) zu dem Überprüfungsverfahren des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi gemäß § 44 b Abs. 2 Abgeordnetengesetz (Überprüfung auf eine Tätigkeit oder eine politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik.) Bundestagsdrucksache 13/10893 vom 29. Mai 1998. Wolfgang Brinkschulte, Hans Jörgen Gerlach, Thomas Heise: Freikaufgewinnler. Die Mitverdiener im Westen. Ullstein, Frankfurt und Berlin 1993, ISBN 3-548-36611-2. Wolfgang Sabath: Gregor Gysi. Elefanten-Press, Berlin 1993, ISBN 3-88520-481-9. Thomas Falkner, Dietmar Huber: Aufschwung PDS. Rote Socken – zurück zur Macht? Droemer Knaur, München 1994, ISBN 3-426-80063-2. Jens König: Gregor Gysi. Eine Biographie. Rowohlt, Berlin 2005, ISBN 3-87134-453-2. Rezension von Olaf Leitner, Deutschlandradio Kultur, 12. August 2005. Rezension von Otto Langels, Deutschlandfunk, 15. August 2005. Hubertus Knabe: Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur. Propyläen, Berlin 2007, ISBN 978-3-549-07302-5. Dokumentarfilme Hans-Jürgen Börner, Silke König: Die Akte Gysi, NDR 2010/11, 45 Minuten, Erstausstrahlung ARD am 20. Januar 2011, 23:30 Uhr. Hans-Jürgen Börner, Silke König: Gysi und die Stasi. NDR 2013, 45 Minuten, Erstausstrahlung ARD am 16. Dezember 2013, 23:55 Uhr Nicola Graef, Florian Huber: Gysi, MDR, 89 Minuten, Erstausstrahlung MDR vom 14. Januar 2018, 20:15 Uhr. Weblinks Persönliche Webseite von Gregor Gysi Findbuch Dr. Gregor Gysi (1990 bis 2002). (PDF; 2,5 MB) Archiv Demokratischer Sozialismus der Rosa-Luxemburg-Stiftung Gregor Gysi – Profil. Linksfraktion.de Gysi-Biografie bei Who’s Who Einzelnachweise Rechtsanwalt (DDR) Rechtsanwalt (Deutschland) Parteivorsitzender der PDS Die-Linke-Mitglied Vorsitzender der Die-Linke-Bundestagsfraktion WASG-Mitglied SED-Funktionär Gregor Bürgermeister von Berlin Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin Senator von Berlin Abgeordneter der Volkskammer Bundestagsabgeordneter (Berlin) Politiker (21. Jahrhundert) Bestsellerautor (Deutschland) Ritter des Ordens wider den tierischen Ernst DDR-Bürger Zootechniker (DDR) Deutscher Geboren 1948 Mann
1828
https://de.wikipedia.org/wiki/Gabriele%20Zimmer
Gabriele Zimmer
Gabriele „Gabi“ Zimmer (* 7. Mai 1955 in Ost-Berlin) ist eine deutsche Politikerin (Die Linke). Von 2000 bis 2003 war sie Bundesvorsitzende der PDS, zuvor war sie bereits von 1990 bis 1998 Landesvorsitzende der PDS Thüringen und von 1999 bis 2000 PDS-Fraktionsvorsitzende im Thüringer Landtag. Sie war von 2004 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlamentes. Leben und Beruf Nach dem Abitur absolvierte Gabi Zimmer ab 1973 ein Studium in der Sektion Theoretische und Angewandte Sprachwissenschaften an der Karl-Marx-Universität Leipzig in der russischen und der französischen Sprache, welches sie 1977 als Diplom-Sprachmittlerin beendete. Danach begann sie eine Tätigkeit als Sachbearbeiterin beim VEB Jagd- und Sportwaffenwerk Ernst Thälmann in Suhl. Von 1981 bis 1987 war sie hier Redakteurin der betriebseigenen Zeitung und gehörte dann von 1987 bis 1989 der Parteileitung der SED dieses Betriebes an. Gabi Zimmer ist konfessionslos, verheiratet und hat zwei Kinder. Partei Gabi Zimmer wurde 1981 Mitglied der SED. Im November 1989 wurde sie zur SED-Parteisekretärin ihres Betriebes gewählt. Im Februar 1990 wurde sie zur PDS-Bezirksvorsitzenden in Suhl gewählt und war von Juli 1990 bis Dezember 1998 PDS-Landesvorsitzende in Thüringen. Von 1997 bis 2000 war sie stellvertretende Parteivorsitzende. Am 14. Oktober 2000 wurde sie als Nachfolgerin von Lothar Bisky Bundesvorsitzende der PDS. Nach dem Scheitern der Partei an der Fünf-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl 2002 und den anschließenden Flügelkämpfen zwischen Parteilinken und Parteirechten kündigte sie am 7. Mai 2003 auf einem Sonderparteitag der PDS an, nicht erneut zu kandidieren. Am 28. Juni 2003 wurde schließlich Lothar Bisky wieder zum Parteivorsitzenden gewählt. Abgeordnete Von 1990 bis 2004 war sie Mitglied des Thüringer Landtags. Sie war Spitzenkandidatin ihrer Partei bei den Landtagswahlen 1994 und 1999. Nach der Landtagswahl 1999 wurde sie Vorsitzende der PDS-Landtagsfraktion, gab dieses Amt aber nach ihrer Wahl zur PDS-Bundesvorsitzenden am 1. November 2000 an Werner Buse ab. Bei den Europawahlen 2004, 2009 und 2014 wurde sie zum Mitglied des Europäischen Parlaments gewählt. Dort gehörte sie der Fraktion GUE/NGL an und war Stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten sowie Mitglied in der Konferenz der Präsidenten und in der Delegation in der Paritätischen Parlamentarischen Versammlung AKP-EU. Von 2012 bis 2019 war sie zudem Fraktionsvorsitzende. Zur Europawahl 2019 trat sie nicht mehr an. Sonstiges Sie gehört gemeinsam mit Peter Brandt, Michael Brie, Antje Vollmer, Dieter Klein, Ingo Schulze und Ludger Volmer der Gruppe Neubeginn an. Veröffentlichungen (Auswahl) zusammen mit Antje Vollmer et al.: Neubeginn. Aufbegehren gegen Krise und Krieg. Eine Flugschrift. VSA Verlag, Hamburg 2022, ISBN 978-3-96488-138-0. Literatur Hans-Dieter Schütt: Zwischen Baum und Basis. Gespräche mit Gabriele Zimmer. Berlin 2000, ISBN 3-320-02008-0. Weblinks Gabi Zimmer bei der Europäischen Linken Einzelnachweise Fraktionsvorsitzender (Die Linke Thüringen) Parteivorsitzender (Thüringen) Mitglied des Europäischen Parlaments für Deutschland SED-Mitglied Parteivorsitzender der PDS Die-Linke-Mitglied DDR-Bürger Deutscher Geboren 1955 Frau Politiker (20. Jahrhundert) Politiker (21. Jahrhundert)
1829
https://de.wikipedia.org/wiki/Greenpeace
Greenpeace
Greenpeace [] (deutsch: „grüner Frieden“) ist eine 1971 gegründete, transnationale politische Non-Profit-Organisation, welche sich für Umwelt-, Natur- und Klimaschutz sowie Frieden einsetzt und nach eigenen Aussagen „mit direkten gewaltfreien Aktionen für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen von Mensch und Natur und Gerechtigkeit für alle Lebewesen kämpft“. Die Organisation wurde von Friedensaktivisten in Vancouver, Kanada gegründet und durch Kampagnen gegen Kernwaffentests und Aktionen gegen den Walfang bekannt. Später konzentrierte sich die Organisation darüber hinaus auf weitere Themen wie Überfischung, die globale Erwärmung, die Zerstörung von Urwäldern, Atomenergie und Gentechnik. Zudem weist Greenpeace auch auf Alternativen durch technische Innovationen hin. Greenpeace hatte nach eigenen Angaben 2021 weltweit rund dreieinhalb Millionen Fördermitglieder und beschäftigte rund 3.300 Mitarbeiter. Greenpeace Deutschland hat rund 632.000 Fördermitglieder. Es gibt in über 55 Staaten weltweit Greenpeace-Büros und 26 regionale Büros. Geschichte Die Organisation entstand Anfang der 1970er-Jahre im kanadischen Vancouver aus der Formation Don’t Make a Wave Committee, die von US-amerikanischen und kanadischen Atomkraftgegnern und Pazifisten gegründet worden war. Dieses Komitee kam in der Absicht zusammen, eine Serie von Atombombentests zu verhindern. Benefizkonzert 1970 Am 16. Oktober 1970 fand ein Benefizkonzert von Joni Mitchell, James Taylor und Phil Ochs im Pacific Coliseum in Vancouver statt, dessen Erlöse (Eintritt: 3 Dollar pro Person) einer kleinen Gruppe friedensbewegter Menschen zugutekam, die den Plan hatten, mit einem Schiff vor der Küste Alaskas gegen den anstehenden Atomtest auf Amchitka zu protestieren. Der Name der geplanten Aktion lautete Greenpeace. Irving Stowe organisierte das Konzert und wurde von Joan Baez unterstützt; Baez konnte damals nicht am Konzert teilnehmen, stellte aber die Verbindung zwischen Stowe und Mitchell her und Mitchell lud ihren damaligen Freund James Taylor zum Konzert ein. Das Konzert wurde 1970 auf Band aufgezeichnet und die Bänder von Familie Stowe verwahrt. Die Stowes hatten nie das Geld, aber immer die Hoffnung gehabt, das Konzert irgendwann veröffentlichen zu können. Somit konnte die Familie die erforderlichen Restaurierungen nicht selbst durchführen und wusste auch nicht, wie man sich die Rechte am Mitschnitt sichern könnte. Das änderte sich 2006, als John Timmins, Bruder eines Cowboy-Junkies-Mitgliedes, als „Foundation Officer“ zu Greenpeace kam. Als Timmins von den Bändern erfuhr, besuchte er Barbara Stowe, Irvings Tochter, die ihm diese Geschichte erzählte. Timmins gelang es danach, Joni Mitchell und James Taylors Vertreter zu kontaktieren, die erforderliche Erlaubnis zur Restaurierung der Bänder zu erhalten und die Rechte zur Veröffentlichung der Aufnahmen zu sichern. Das Benefizkonzert wurde dann im November 2009 durch Greenpeace als CD und Download-Album mit dem Namen Amchitka, the 1970 concert that launched Greenpeace veröffentlicht und wird seither über eine eigene Website vertrieben. Aktion Greenpeace 1971 Die Aktivisten des Don’t Make a Wave Committee charterten am 15. September 1971 den von John Cormack befehligten Fischkutter „Phyllis Cormack“ mit der Absicht, den angesetzten zweiten Atomtest zu stören und die Zündung der Bomben zu verhindern. Das Schiff wurde in Greenpeace umbenannt und setzte die Segel in Richtung des Testgeländes nach Amchitka. Doch die US Coast Guard fing die Phyllis Cormack mit ihrem Küstenwachschiff Confidence ab und zwang sie, zum Hafen zurückzukehren. Auf ihrer Rückkehr nach Alaska erfuhr die Mannschaft, dass in allen größeren Städten Kanadas Proteste stattgefunden und die USA den zweiten unterirdischen Test auf den November verschoben hatten. Die Versuche, mit einem zweiten gecharterten Schiff in die Testzone zu fahren, schlugen zwar fehl, dennoch fanden bei Amchitka keine weiteren Atomtests mehr statt. Später änderte auch die Organisation ihren Namen in „Greenpeace“. Mururoa-Atoll und das Rammen der Vega 1972/73 Im Mai 1972 veröffentlichte die neu gegründete Greenpeace-Stiftung einen Appell an verständnisvolle Kapitäne, um ihnen beim Protest gegen die Atomtests der französischen Regierung im Pazifik-Atoll Mururoa zu helfen. Eine Antwort kam hierbei von David McTaggart, einem Kanadier und früheren Unternehmer, der zu diesem Zeitpunkt in Neuseeland lebte. McTaggart verkaufte seine Geschäftsinteressen und zog in den Südpazifik. Sein Handeln war eine Reaktion auf eine Gasexplosion, die einen Angestellten in einer seiner Skihütten ernsthaft verletzt hatte. Entrüstet darüber, dass jede Regierung ihn von jedem Teil des Pazifiks ausschließen könnte, stellte er aus dem Grund seine Jacht, die Vega, zur Verfügung und machte sich daran, eine Mannschaft zusammenzustellen. 1973 fuhr McTaggart die Vega in die Ausschlusszone um Mururoa, damit sein Schiff von der französischen Marine gerammt wurde. Als er den Protest im Folgejahr wiederholte, bestiegen französische Seeleute die Vega und schlugen ihn zusammen. Später veröffentlichte die Marine organisierte Fotos, wie sich McTaggart mit oberen Marineoffizieren eine Schlägerei liefert, und verlangte von den beiden gegnerischen Parteien mehr Zurückhaltung. In einem anderen Licht erschien der Sachverhalt, als in den Medien Fotos erschienen, die McTaggart während der Schlägerei zeigen, die das Mannschaftsmitglied Anne-Marie Horne aufnahm und aus der Jacht schmuggelte. Die Kampagne zeigte Wirkung, als die französische Regierung eine Unterbrechung der oberirdischen Tests bekannt gab, wenngleich sie diese fortan unterirdisch durchführte. Auch in der Folgezeit veranstaltete Greenpeace Kampagnen gegen die Tests im Pazifik, bis die Franzosen ihr Testprogramm 1995 zu Ende brachten. Greenpeace International 1979 1975 gab es 15–20 verschiedene Gruppen mit dem Namen Greenpeace, erst später wurden sie in einer Organisation zusammengefasst, die am 14. Oktober 1979 unter dem Namen Greenpeace International gegründet wurde. Prominente Gründungsmitglieder waren unter anderem David McTaggart, Robert Hunter und Patrick Moore. Auf Initiative McTaggarts wurde das Hauptquartier nach Europa verlegt, wo es gut organisierte Ableger gab, welche finanziell besser aufgestellt waren als die kanadische Organisation. Die Versenkung der Rainbow Warrior 1985 1985 sollte die Rainbow Warrior zum Mururoa-Atoll in Französisch-Polynesien fahren, um gegen die dort stattfindenden französischen Atomtests zu protestieren. Im neuseeländischen Hafen von Auckland vor Anker liegend wurde sie am 10. Juli 1985 durch Agenten des französischen Auslands-Nachrichtendienstes (DGSE) versenkt. Dabei ertrank der Greenpeace-Fotograf Fernando Pereira. Aktivitäten Ein zentrales Element der Greenpeace-Arbeit ist die Aktion. Hierbei begeben sich Aktivisten an einen Ort, der ihrer Auffassung nach symbolisch für Umweltzerstörung steht und protestieren dort meistens mit Transparenten. Mittels oft spektakulärer Auftritte direkt am Ort des Geschehens versucht die Organisation, die Öffentlichkeit aufmerksam zu machen, um meist große Industriekonzerne oder Regierungen durch öffentlichen Druck zum Einlenken zu bewegen. Diese Art des Auftretens machte die Organisation in den 1980er-Jahren bekannt. Neben eher konventionellen Methoden von Umweltorganisationen wie Beeinflussung von Politikern und Anwesenheit bei internationalen Organisationen verfolgt Greenpeace noch die ausdrückliche Methodik direkter Aktionen ohne Gewaltanwendung. Die Methode, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken, wurde vom „Bearing Witness“ (Zeugnis ablegen) der Quäker abgeleitet. Dabei geht es Greenpeace nach eigenen Angaben darum, „Zeugnis abzulegen“ über Unrecht, das der Meinung der Organisation nach geschieht. So positionieren sich beispielsweise Mitglieder öffentlichkeitswirksam zwischen der Harpune der Walfänger und deren Beute oder dringen in Atomkraftwerke ein. Um ihre Standpunkte wissenschaftlich belegen beziehungsweise neue Standpunkte entwickeln zu können, beauftragt Greenpeace wie andere Umweltschutzorganisationen Wissenschaftler mit dem Anfertigen von Studien. Außerdem ist Greenpeace in vielen internationalen Gremien beratend tätig. Von anderen Umweltschutzorganisationen grenzt sich Greenpeace unter anderem durch die Beschränkung auf bestimmte, meist weltweit verfolgte, öffentlichkeitswirksame Themengebiete ab wie zum Beispiel Atomkraft, Globale Erwärmung, Biodiversität und Artenschutz, Grüne Gentechnik, Biopatente und Chemie. Bereits seit längerem plädiert die Umweltschutzorganisation gegen den Import von Atomstrom. Eine weitere Kampagne der Organisation richtet sich beispielsweise gegen H&M. Der Modehersteller verwende zu viele chemische Zusätze in Kleidungsstücken. Nach langem Hin und Her beugte sich H&M und sicherte Greenpeace die Verringerung der chemischen Zusätze zu. Themen wie Verkehr oder Hausmüll spielen höchstens eine untergeordnete Rolle in einigen Greenpeace-Länderbüros. Auch ist Greenpeace entgegen weitläufigen Annahmen keine Tierschutzorganisation. Seit 1998 richtet der Schweizer Ableger Solarcamps zur Beschleunigung der Energiewende und MINT-Bildung aus. Bekannte Kampagnen Die Umwandlung von Greenpeace von einem losen Netzwerk hin zu einer weltweiten Organisation geht hauptsächlich auf Ideen von McTaggart zurück. Dieser fasste seine Vorstöße in einer Mitteilung von 1994 folgendermaßen zusammen: Die Brent-Spar-Kampagne 1995 erreichte Greenpeace durch die Besetzung des schwimmenden Öltanks Brent Spar, dass die Betreiberfirmen Shell und Exxon von der geplanten Versenkung im Nordatlantik Abstand nahmen und die Anlage stattdessen an Land entsorgen ließen. Die Kampagne führte zu einem Verbot der Versenkung von Ölplattformen im Nordatlantik. Im Zuge der Kampagne hatte Greenpeace grob falsche Schätzungen zur Menge der Ölrückstände auf der Plattform veröffentlicht. Die Organisation hat sich für die falschen Zahlen bei Shell und der Öffentlichkeit entschuldigt. Für Organismen auf dem Meeresboden wäre die Versenkung der Brent Spar sogar vorteilhaft gewesen. Kampagnen gegen Mahagoni-Holz 2001 organisierte Greenpeace eine Aktion gegen die US-Importe von brasilianischem Mahagoni-Holz im Wert von zehn Millionen US-Dollar, nachdem die brasilianische Regierung eine Wartefrist für Exporte von Mahagoni-Holz verhängt hatte. Am 12. April 2002 enterten zwei Vertreter von Greenpeace das Schiff und trugen das Mahagoni-Holz, um ein Transparent mit der Aufschrift „Präsident Bush, stoppen Sie die illegale Abholzung“ aufzuhängen. Die beiden Vertreter wurden zusammen mit vier anderen, die ihnen halfen, verhaftet. Nachdem sie sich schuldig bekannt und ein Ordnungsgeld gezahlt hatten, wurden sie zu einem Wochenende Gefängnis verurteilt. Am 18. Juli 2003 verwendete das Justizministerium der USA den Vorfall dazu, die gesamte Organisation Greenpeace an sich unter das 1872 verabschiedete und relativ unbekannte „Sailormongering-Gesetz“ zu stellen, das 1890 zuletzt angewendet worden war. Die Berufung auf dieses Gesetz, was den Zweck hatte, gewaltlose Demonstranten kriminell einstufen und strafrechtlich verfolgen zu können, löste auf der ganzen Welt Proteste aus. Zu den Kritikern dieser strafrechtlichen Verfolgung gehörten Al Gore, Patrick Leahy, die National Association for the Advancement of Colored People, die ACLU of Florida und die People For the American Way. Das Ministerium stellte dies später beim Bundesgericht in Miami am 14. November 2003 auf eine überarbeitete Anklageschrift um, indem es die Aussage, dass Greenpeace fälschlicherweise behauptet hätte, dass das Mahagoni-Holz auf dem betroffenen Schiff Schmuggelware sei, fallen ließ. Am 16. Mai 2004 entschied der zuständige Richter Adalberto Jordan zugunsten von Greenpeace und kam zu dem Ergebnis, dass „die Anklage eine seltene – und wohl auch beispiellose – strafrechtliche Verfolgung einer rechtlich legalen Gruppe“ darstellt, deren Verhalten zur freien Meinungsäußerung gehöre. Kampagnen gegen IT-Hersteller In den letzten Jahren haben es sich Greenpeace-Aktivisten zur Aufgabe gemacht, Hersteller der IT-Industrie durch Kampagnen zu umweltbewussterem Handeln im Sinne von Green IT zu bewegen. Zum Beispiel blockierten 2004 niederländische Greenpeace-Aktivisten in diesem Zusammenhang das Utrechter Büro der Firma Hewlett-Packard und im Mai 2005 wurde vor der Genfer Zentrale eine LKW-Ladung Elektronikschrott abgeworfen. Im Dezember 2005 demonstrierten erneut Aktivisten vor dem Hauptquartier in Palo Alto, weil die Firma als führendes Unternehmen der Branche weitaus mehr gefährliche Stoffe bei der Produktion verwendet als die Konkurrenzunternehmen. 2006 rief Greenpeace im Internet im Rahmen einer Mitmachkampagne die Apple-Nutzer zur kreativen Beteiligung auf, um den Hersteller dazu zu bewegen, weniger giftige Chemikalien bei der Herstellung seiner Geräte zu verwenden. Ferner wurde hierbei das eingeschränkte Rücknahme- und Recyclingprogramm für Altgeräte von Apple kritisiert. Für diese Aktion wurde Greenpeace 2007 von der International Academy of Digital Arts and Sciences bei der 11. Verleihung des Webby Awards mit einem Preis in der Sparte „Aktivismus“ ausgezeichnet. Kampagnen gegen gefährliche Textilchemikalien Im Juli 2011 begann Greenpeace mit der Kampagne Detox, die sich gegen den Einsatz gefährlicher Chemikalien in der Textilindustrie richtet. Textilchemikalien verschmutzen das Trinkwasser in China und zahlreichen Entwicklungsstaaten. Vielerorts gelangt dieses verschmutzte Wasser in das Trinkwasser der Anwohner dieser Gewässer. Viele der Chemikalien sind langlebig. Kampagnen gegen Kohlepolitik Zuletzt im Herbst 2014 machte Greenpeace durch eine Aktion mit einem Schaufelrad auf der SPD-Zentrale in Berlin auf die Kohlepolitik der Bundesregierung aufmerksam, verbunden mit der Botschaft an den Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel „Kohle zerstört das Klima!“. TTIPleaks Anfang Mai 2016 gelangte Greenpeace in Besitz einer großen Menge Abschriften von geheimen Verhandlungsdokumenten zum geplanten Freihandelsabkommen zwischen den USA und der Europäischen Union. Die Dokumente wurden vom NDR und der Süddeutschen Zeitung verifiziert und veröffentlicht. Greenpeace stellte in den Folgetagen vor dem Brandenburger Tor in unmittelbarer Nähe zum Reichstagsgebäude in Berlin einen auf einen LKW aufgebockten gläsernen Lesesaal auf, in dem die Dokumente frei einsehbar waren. Nach einer repräsentativen Umfrage von „gut eintausend“ Bürgern durch ARD-Deutschlandtrend kurz nach den Veröffentlichungen äußerten 79 % der Befragten Zweifel am Erhalt des Verbraucherschutzes und an der Geheimniskrämerei der Verhandlungen. Kurz nach der Veröffentlichung äußerte der französische Präsident François Hollande, er werde ein Freihandelsabkommen „im derzeitigen Zustand“ ablehnen. Alle 28 EU-Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament müssen dem Abkommen zustimmen. Bisherige Erfolge Zu den Erfolgen der Organisation zählen unter anderem das Ende des kommerziellen Walfangs seit 2002, die Einrichtung eines Schutzgebietes in der Antarktis und der vorzeitige Stopp vieler Atombombentestreihen. Zu den bedeutendsten Erfolgen, die die Organisation ihrem Einfluss zuschreibt, gehören unter anderem die Einstellung von Atomtests auf Amchitka in Alaska (1972) und die Verlängerung des Antarktisvertrages (1991), der die Besitznahme der Antarktis durch andere Staaten oder aus kommerziellen Interessen verbietet. Um letzteres zu sichern, wurde in der Antarktis die World Park Base errichtet, die von 1987 bis 1991 in Betrieb war. Bereits 1983 war ein Weltpark Antarktis gefordert worden. Nach sechs Jahren Verhandlungen unterzeichnete Japan als letzter von 26 Vertragsstaaten das Protokoll des Umweltschutzabkommens, welches somit ab 14. Januar 1998 in Kraft trat. In einem Patentstreit mit dem Neurobiologen Oliver Brüstle erwirkte Greenpeace 2011 durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg ein Urteil, das das Patentieren menschlicher embryonaler Stammzellen verbietet. Der Bonner Forscher hatte 1997 ein Patent für nervliche Vorläuferzellen angemeldet, die er aus menschlichen embryonalen Stammzellen herstellte. Greenpeace machte ethische Bedenken gegen die Patente des Wissenschaftlers geltend. Das Bundespatentamt erklärte das Patent daraufhin für nichtig und verwies auf den Schutz der Menschenwürde und des menschlichen Lebens. Als nächste Instanz war der Bundesgerichtshof mit der Sache befasst. Dieser verwies die Frage an den EuGH. Organisation Greenpeace Deutschland Die Handlungsfähigkeit der Organisation beruht im Wesentlichen auf den rund 632.000 Fördermitgliedern (Stand: 2021; nach 608.000 im Jahr 2019), die Greenpeace zu einer der größten deutschen Umweltschutzorganisationen machen. Als finanzstärkstes Länderbüro schultert Greenpeace Deutschland schon seit Jahren den Großteil der Ausgaben für internationale Greenpeace-Kampagnen. Ende Oktober 2013 bezog das Länderbüro Deutschland seinen neuen Sitz in der Hamburger HafenCity. Organisation Greenpeace Deutschland ist ein als gemeinnützig anerkannter, eingetragener Verein. Die Mitgliederversammlung, das oberste Beschlussgremium, besteht laut Satzung aus 40 stimmberechtigten Mitgliedern – zusammengesetzt aus 10 Mitarbeitern von Greenpeace Deutschland, 10 Mitarbeitern von ausländischen Greenpeace-Büros, 10 Personen aus dem öffentlichen Leben sowie 10 ehrenamtlichen Mitgliedern. Diese Begrenzung auf 40 Mitglieder hat Greenpeace den Vorwurf eingebracht, eine undemokratische Organisationsstruktur zu haben. Die Organisation verweist hingegen auf die höhere Effizienz, Schnelligkeit und Unabhängigkeit dieser Organisationsform. Bei basisdemokratischen Mitgliederversammlungen sei meistens nur ein Bruchteil der Wahlberechtigten anwesend, was es Splittergruppen oder Industrielobbyisten leicht machen würde, ihre Stimmmacht zu missbrauchen. Zu den Geschäftsführern von Greenpeace Deutschland zählten Gerd Leipold (1981 bis 1987) Thilo Bode (1989 bis 1995), Birgit Radow (1995 bis 1998), Brigitte Behrens (1999 bis 2016), Sweelin Heuss (2016 bis 2019), Martin Kaiser (seit 2016) und Roland Hipp (seit 2016) sowie Sophie Lampl (seit 2022), Nina Treu und Nina Schoenian (seit 2023). Finanzierung 2021 erhielt Greenpeace Deutschland Spenden in der Höhe von ca. 80,6 Mio. €. Im Vergleich zu den Vorjahren wurden ca. 71,0 Mio. € (2019), 55,5 Mio. € (2015) bzw. 47,7 Mio. € (2010) eingenommen. Für Kampagnen wurden 2021 mit 51,7 Mio. € lediglich 64 % des Budgets ausgegeben. Der Rest wurde in mittelbare und unmittelbare Spendenwerbung sowie die Verwaltung investiert, wobei alleine die unmittelbare Spendenwerbung (Werbekosten, Betreuung der Fördernden) ca. 9,5 % der Einnahmen kostete. Der damalige deutsche Kommunikationsdirektor der Umweltschutzorganisation Michael Pauli bestätigte 2014, dass die Organisation insgesamt rund 90 Millionen Euro für Fundraising ausgebe – „um 300 Millionen Euro Einnahmen weltweit zu erhalten. Wir sehen das positiv.“ Geschichte Die erste Aktion von Greenpeace in Deutschland fand am 13. Oktober 1980 statt, als ein Schiff der Firma Kronos Titan an der Verklappung von Dünnsäure in die Nordsee gehindert wurde. Greenpeace Deutschland wurde als Verein am 17. November 1980 in Bielefeld von William Parkinson, Gerhard Dunkel, Dirk Rehrmann u. a. gegründet. Ende Januar 1981 entschied eine Gruppe um David McTaggart, das deutsche Büro nach Hamburg zu verlegen, ohne Rücksprache mit den Bielefelder Aktiven und Vorstandsmitgliedern zu halten. Die Organisation erlangte in Deutschland eine große Bekanntheit mit ihren Protesten gegen die Dünnsäureverklappung und gegen die Luftverschmutzung mit Dioxinen durch den Chemiekonzern Boehringer. Greenpeace erreichte, dass Boehringer sein Werk 1984 in Hamburg schließen musste. Ebenso gaben die Hersteller von Titandioxid ihr Einverständnis, die Dünnsäureverklappung zu beenden. 1983 starte Greenpeace Deutschland unter der Führung von Gerd Leipold medienwirksam eine Heißluftballonfahrt über die Mauer der damaligen Zonengrenze in DDR nach Ost-Berlin, wobei in einer Höhe von maximal 70 Metern vom Ballon gut lesbar in mehreren Sprachen auf einem Banner stand: "Frieden" und "Atomteststopp". 1995 konnte Greenpeace den Konzern Shell dazu bewegen, auf die Versenkung des schwimmenden Öltanks Brent Spar im Atlantik zu verzichten und dass im Jahr darauf international ein Versenkungsverbot für Ölplattformen im Nordatlantik festgeschrieben wurde. Greenpeace hat im Laufe dieser Kampagne eine stark überhöhte Angabe zur Ölmenge an Bord des Tanks gemacht und dies später der Öffentlichkeit gegenüber auf einen Messfehler zurückgeführt. Greenpeace-Jugend Seit 1997 gibt es Jugendaktionsgruppen (JAG) der Greenpeace-Jugend (Alter 14 bis 19 Jahre). In rund 40 Städten sind über 700 Jugendliche auf diese Art und Weise aktiv und richten sich mit ihren Aktionen auch an die Öffentlichkeit und die Politik. Themenschwerpunkte sind dieselben wie die der Greenpeace-Mutterorganisation. Für Kinder zwischen 10 und 14 Jahren gibt es bei Greenpeace die Möglichkeit so genannte Greenteams zu gründen. Hier können sich die Kinder – mit ein wenig Hilfe von Erwachsenen – auch schon für den Umweltschutz engagieren und eigene Aktionen gestalten. Ozeaneum Stralsund Greenpeace arbeitet mit der Stralsunder Stiftung Deutsches Meeresmuseum zusammen. Die Organisation gestaltet eine Ausstellung im Ozeaneum Stralsund mit, in der unter dem Titel 1:1 Riesen der Meere in einer 18 Meter hohen Halle lebensgroße Modelle verschiedener Walarten präsentiert werden. Weitere Projekte Ein weiteres wichtiges Standbein sind die über 100 Ortsgruppen mit ihren rund 10.000 Ehrenamtlichen. Neben dem Verein gibt es noch andere Organisationen mit dem Namen Greenpeace in Deutschland: Die Greenpeace Stiftung ist verbunden mit dem Bergwaldprojekt, das 1987 durch Greenpeace Schweiz gegründet wurde. Außerdem gibt es das Greenpeace-Magazin, das von der Greenpeace Media GmbH herausgegeben wird und neben Umweltschutz ebenso soziale und wirtschaftliche Themen behandelt. Die Redaktion ist unabhängig vom Verein Greenpeace. Im Laufe der Jahre versuchte die Organisation verstärkt, Alternativen aufzuzeigen und Antworten auf Umweltfragen vorzustellen: Entgegen allen Bedenken von Papierherstellern und Zeitschriftenverlagen gelang es Greenpeace, die Entwicklung von chlorfrei gebleichtem Papier voranzutreiben. Am 1. März 1991 zeigten Aktivisten vor dem Spiegel-Verlagsgebäude anhand eines „Das Plagiat“ getauften Nachdrucks, dass man sehr wohl chlorfrei gebleichtes Papier herstellen kann, das hochwertig genug ist, um im Tiefdruckverfahren bedruckt zu werden. 1993 brachte Greenpeace in Zusammenarbeit mit dem Hersteller Foron und dem von Harry Rosin geleiteten Dortmunder Hygieneinstitut mit dem Greenfreeze den weltweit ersten Kühlschrank auf den Markt, der ohne Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) oder Fluorkohlenwasserstoffe (FKW) als Kühlmittel auskam. Vorher war behauptet worden, ein Ersatz dieser Stoffe zu günstigen Preisen sei nicht möglich. Greenpeace stellte 1996 einen Pkw vor, den Twingo Smile, der bei 90 km/h weniger als drei Liter Benzin auf 100 Kilometer verbraucht. Mit einem Kredit von Greenpeace baute dafür die Schweizer Firma Wenko einen serienmäßigen Renault Twingo mit Benzinmotor so um, dass der Kraftstoffverbrauch halbiert wurde. Die Konzeptstudie traf bei den Fahrzeugherstellern und Verbrauchern aber auf geringes Interesse. Auf Initiative des Greenpeace e. V. wurde 1999 die Genossenschaft Greenpeace Energy (heute Green Planet Energy) als finanziell und organisatorisch von Greenpeace e. V. unabhängiges Energieversorgungsunternehmen gegründet. Green Planet Energy umfasst etwa 28.000 Mitglieder und verkauft Strom aus regenerativen Stromquellen an etwa 202.000 Kunden (Stand: Juni 2021). Gemeinnützigkeit Einige Kritiker stellen deren steuerliche Begünstigung in Frage, in den USA etwa die von ExxonMobil finanzierte und ausschließlich zur Beobachtung von Greenpeace gegründete Public Interest Watch (PIW). Im März 2006 bestätigte die Steuerbehörde IRS, dass Greenpeace USA zu Recht die Steuervorteile einer Non-Profit-Organisation besitzt. In Deutschland gab es mehrere Versuche, die Gemeinnützigkeit abzuerkennen, die jedoch bislang nicht erfolgreich waren. Im Dezember 2004 untersuchte das Finanzamt Hamburg, ob Greenpeace gegen Gesetze verstoßen hatte und dem Verein deshalb der Status der Gemeinnützigkeit für 2003 aberkannt werden sollte. 2004 und 2005 forderten Unternehmer und Politiker aus Sachsen-Anhalt und Bayern den Entzug der Steuerprivilegien und die Aberkennung der Gemeinnützigkeit. Der damalige Finanzminister Sachsen-Anhalts Karl-Heinz Paqué begründete seine Forderung damit, dass Greenpeace Gesetzesverstöße wie Feldzerstörungen oder Castor-Blockaden begangen habe bzw. solche rechtswidrigen Aktionen billige. 1989 wurde in Kanada das Steuerrecht für gemeinnützige Organisationen geändert. Greenpeace und andere Organisationen verloren dadurch den Status der Gemeinnützigkeit. Am 6. Mai 2011 wurde die Berufung im Zuge eines abgewiesenen Antrags von Greenpeace of New Zealand Inc. auf Gemeinnützigkeit durch den High Court of New Zealand abgelehnt, da die Organisation durch ihr Lobbying zu politisch orientiert sei. In diesem Zusammenhang wurden auch potentiell illegale Aktivitäten durch Greenpeace als Begründung genannt. Greenpeace weltweit Greenpeace arbeitet mit 27 nationalen und 15 regionalen Büros. Die Arbeiten der einzelnen Greenpeace-Sektionen sind untereinander koordiniert, die internationalen Kampagnen und Arbeitsgebiete werden unter Federführung von Greenpeace International entwickelt und für alle Länderbüros vorgeschlagen. Vom 1. August 2019 bis zum 28. Februar 2022 war Jennifer Morgan Geschäftsführerin von Greenpeace International. Chair of the Board von Greenpeace International ist seit April 2017 Ayesha Imam. Die internationale Greenpeace-Organisation ist die Stiftung Greenpeace Council, eine Stiftung nach niederländischem Recht mit Sitz in Amsterdam. Sie ist unter der Nummer 41200415 der Handelskammer Amsterdam registriert. Die Greenpeace-Organisationen sind in den verschiedenen Staaten in unterschiedlichen Rechtsformen organisiert: In Deutschland als eingetragener Verein, in der Schweiz als eine Stiftung. Der Schweizer Ableger von Greenpeace wurde im November 1984 in Zürich gegründet. 2019 erhielt Greenpeace Schweiz Spenden in der Höhe von rund CHF 24,2 Mio. In Österreich hatten Umweltschützer 1982 die Vereinigung „Freunde von Greenpeace“ gegründet. Greenpeace-Schiffe Seit Greenpeace gegründet wurde, spielen Hochseeschiffe in den jeweiligen Kampagnen eine sehr große Rolle. 1978 stellte Greenpeace die Rainbow Warrior in Dienst, einen 40 Meter langen früheren Fisch-Trawler. Einer der ersten Einsätze der Rainbow Warrior wandte sich gegen isländischen Walfang. Zwischen 1978 und 1985 engagierten sich Mitglieder der Mannschaft direkt bei friedlichen Aktionen gegen das Abladen von giftigem und radioaktivem Müll in Ozeanen, gegen die Jagd auf die Kegelrobbe auf den Orkney-Inseln und gegen Atomtests im Pazifik. 1985 sollte Rainbow Warrior in den Gewässern um das Mururoa-Atoll demonstrieren, wo Frankreich gerade Atomtests durchführte. Bei der Versenkung des Schiffes (siehe Versenkung der Rainbow Warrior) mit zwei Bomben durch den französischen Geheimdienst kam auch der Fotograf Fernando Pereira ums Leben. 1989 gab Greenpeace den Auftrag, ein Ersatzschiff zu beschaffen, das Rainbow Warrior genannt wurde. Es war das Flaggschiff der Greenpeace-Flotte, bis es am 16. August 2011 in Singapur der NGO Friendship übergeben wurde. Am 4. Juli 2011 setzte sich durch den Stapellauf der Rainbow Warrior die Namenstradition fort. Das neue Schiff hat Platz für 32 Besatzungsmitglieder und einen Helipad. Vornehmlich als Segler konzipiert, hat es dennoch einen effizienten Dieselmotor mit Katalysator, was bei Schiffsmotoren unüblich ist. Der Preis für das werftneue Schiff betrug 23 Millionen Euro. Weitere Schiffe, die sich im Besitz von Greenpeace befinden, sind die Sirius (seit 1981), die Arctic Sunrise (seit 1996), die Esperanza (seit 2002) und die Beluga II (seit 2004). 1995 erregte das gecharterte Greenpeace-Schiff Altair erhebliches Aufsehen in den Medien, erst als es am 30. April die Tank- und Verladeplattform Brent Spar in der Nordsee besetzte, um deren Versenkung im Atlantik zu verhindern, und dann ein zweites Mal, als es am 25. Oktober im italienischen Brindisi von der Besatzung einer französischen Fregatte geentert und beschädigt wurde. Am 19. September 2013 wurde die Arctic Sunrise von Beamten des russischen Grenzschutzes gestürmt. Greenpeace-Aktivisten hatten am Vortag versucht, die Ölplattform Priraslomnaja des russischen Staatskonzerns Gazprom in der Petschorasee zu besetzen. Rezeption Lob Greenpeace wurde bei den Save The World Awards 2009, die in Zwentendorf/NÖ überreicht wurden, ein Preis für sein weltweites Engagement zum Schutz des Weltklimas verliehen. Frank Zelko sieht vor dem Hintergrund eines auf Eigeninteressen ausgerichteten Wirtschaftssystems die globale Bürgerpolitik von Greenpeace, das heißt die Erzeugung ökologischer Sensibilität durch gewaltfreie direkte Aktion als das bedeutendste Vermächtnis der Organisation. Harald Lesch sieht die Arbeit von Greenpeace gerade auch im Hinblick auf die Folgen der Klimaerwärmung als wichtiges Korrektiv zur Haltung von Politik und Industrie, die oftmals von Blockade und Profitinteressen geprägt ist. Die Aktionen von Greenpeace können Menschen ermutigen, sich für Umwelt- und Klimabelange auch auf politischer Ebene einzusetzen. Die spektakulären Aktionen, mit denen Umweltverbrechen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, haben gemäß Lesch zu nationalen und internationalen Umweltschutzbestimmungen geführt. Als Beispiel führt er das Versenkungsverbot für Ölplattformen im Nordostatlantik 1998 oder das 2001 erlassene Verbot des Schiffsanstrichs TBT an. Er hebt den lösungsorientierten Ansatz der Organisation hervor, indem er auf das von Greenpeace entwickelte Energiekonzept Plan oder den klimafreundlichen Kühlschrank Greenfreeze verweist. Klaus Moegling stellt zusammenfassend fest, dass Greenpeace bei aller Kritik "ein wichtiger Faktor im Kampf gegen Umweltverbrechen von Konzernen und Staaten" war. Es ist der Organisation zu verdanken, dass der kommerzielle Walfang weitgehend zum Stillstand gekommen ist, Atomwaffentests deutlich reduziert wurden wie auch die Öffentlichmachung der Praxis, Textilchemikalien in Gewässer ärmerer Staaten einzuleiten. Weiter geht er davon aus, dass die "direkte und wirksame Aktivitätskultur" von Greenpeace Aktionsformen von Bewegungen wie Extinction Rebellion oder Foodwatch beeinflusst haben. Angela Merkel Am 30. August 2021 hielt Angela Merkel in Stralsund die zentrale Rede auf der Feier zum 50. Jubiläum von Greenpeace International. Kritik Undemokratische Strukturen Undemokratische Strukturen werden der Organisation immer wieder vorgeworfen. Im Gegensatz zu den meisten anderen großen Umweltorganisationen haben die Basis-Aktivisten und Förderer bei Greenpeace nur wenige bzw. keine Mitwirkungsrechte, so spricht der Spiegel von einem „nicht eben demokratische[n] Verbandsaufbau“. Bereits in den 1980er-Jahren spaltete sich die Organisation Robin Wood „unter anderem aus Protest gegen den als undemokratisch empfundenen ‚Öko-Multi‘ Greenpeace“ ab. Greenpeace argumentiert, dass eine international handlungsfähige Organisation nicht jede einzelne Entscheidung basisdemokratisch treffen könne, und verweist auf die höhere Effizienz, Schnelligkeit und Unabhängigkeit seiner Organisationsform. Unwissenschaftlichkeit Patrick Moore, ehemaliger Präsident und Mitgründer von Greenpeace International, hat sich inzwischen von der Organisation abgewandt. Er wirft der Organisation ideologische Verblendung vor, die in einer rigorosen Protesthaltung gipfelte und bei der sich die Organisation weigere, Konsens in Bezug auf Ökologie zu schaffen. So sagte der heute für die Forstwirtschaft arbeitende Moore in einem Interview: Zelko kommt zum Ergebnis, dass Greenpeace allenfalls vorgeworfen werden kann, sich auf wissenschaftliche Studien zu beziehen, die den eigenen Interessen am besten dienen. Dies gelte gleichermaßen für den Kritiker Patrick Moore. Ein konkretes Beispiel für den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit ist die Ablehnung des Goldenen Reises. Moore warf der Organisation im Zusammenhang mit deren Lobby-Tätigkeit gegen die Zulassung von Goldenem Reis eine Mitschuld am Tod von Kindern in Entwicklungsstaaten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Laut Ingo Potrykus, dem Mitbegründer des Projekts Goldener Reis hätte Greenpeace Probleme, wenn die Menschen erkennen würden, dass die Angst vor dem genetisch veränderten Reis unbegründet sei und dass die Technologie zur Rettung von Menschenleben eingesetzt werden könnte. Paul Watson war 1972 eines der ersten Mitglieder von Greenpeace und hatte die Organisation schon vor deren offizieller Gründung unterstützt. 1977 verließ Watson Greenpeace im Streit und gründete die Sea Shepherd Conservation Society. Ihm war die Organisation Greenpeace zu passiv und zu ineffizient. Nach seinen Worten hat sich Greenpeace zur größten „Wohlfühlorganisation“ der Welt entwickelt. Er sagt, dass Menschen Greenpeace beitreten, um sich gut zu fühlen. Sie wollen sich als Teil der Lösung fühlen und nicht als Teil des Problems. Nach der Meinung von Paul Watson ist Greenpeace ein Geschäft. Dieses Geschäft verkaufe den Menschen ein gutes Gewissen. Im Januar 2016 kritisierte Watson den Arktis-Experten Jon Burgwald und forderte dessen Rücktritt, nachdem dieser in einem Interview die indigene Robbenjagd als „ethisch“ und „nachhaltig“ bezeichnete. Finanzen Im Juni 2014 wurde bekannt, dass durch Devisentermingeschäfte eines Mitarbeiters der Greenpeace-Zentrale in Amsterdam zur Absicherung von Währungsschwankungen Verluste in Höhe von insgesamt 3,8 Millionen Euro entstanden. Das Geld sei ursprünglich für den Aufbau neuer Staatenorganisationen gedacht gewesen, der Verlust sei laut einem Greenpeace-Sprecher „gravierend, aber nicht existenzbedrohend“, aktuelle Kampagnen seien nicht gefährdet. Greenpeace International hat nach eigenen Angaben allein 2012 rund 270 Millionen Euro eingenommen, die Gelder stammten auch hier größtenteils aus Spenden. Vorsatz und persönliche Motive konnten laut Greenpeace ausgeschlossen werden. Der mittlerweile entlassene Finanzmitarbeiter für den internationalen Bereich hatte offenbar eine Firma damit betraut, Organisations-Gelder anzulegen. Dass Makler auf dem Finanzspekulationsmarkt, mit fortwährenden globalen Schäden, mit Greenpeace-Geldern „zocken“, wird kritisiert und stattdessen mehr Geldanlage in ökologische Unternehmen gefordert. Nach dem Bekanntwerden der Millionenverluste hat Greenpeace in Österreich rund 200 und in Deutschland rund 700 Förderer verloren. Ein Sprecher von Greenpeace Österreich sagte, es habe gerade in dieser schwierigen Situation auch viele zusätzliche Spenden gegeben – aus Solidarität. Kurz nach den Devisenverlusten wurde bekannt, dass Programmdirektor Pascal Husting seit 2011 bis zum Bekanntwerden des Skandals jede Woche von Luxemburg nach Amsterdam geflogen ist. Greenpeace International hat sich entschuldigt, und Pascal Husting pendelte seitdem mit dem Zug. Für Kampagnen wurden 2019 mit 46,5 Mio. € nur 68 % der Spendeneinnahmen ausgegeben. Aufruf der Nobelpreisträger 2016 Ende Juni 2016 unterzeichneten mehr als ein Drittel der weltweit lebenden Nobelpreisträger eine gemeinsame Erklärung, in der Greenpeace in scharfen Worten dazu aufgerufen wird, die Ablehnung der grünen Gentechnik zu überdenken. Abwrackung der Rainbow Warrior II Die Rainbow Warrior II wurde nach ihrem Verbleiben als Versorgungsschiff trotz Vetorechts, von welchem Greenpeace keinen Gebrauch machen wollte, in Bangladesh abgewrackt, unter sowohl für die Angestellten wie auch für die Umwelt bedenklichen Bedingungen. "Unerwünschte Organisation" in Russland Im Mai 2023 erklärte Russland Greenpeace zur "unerwünschten Organisation". Gesetzesverstöße und Folgen Sachbeschädigung und Nötigung Im Februar 1998 wurden zwei Mitglieder von Greenpeace wegen versuchter Nötigung in Tateinheit mit Sachbeschädigung und wegen Beihilfe zur versuchten Nötigung in Tateinheit mit Sachbeschädigung verurteilt, nachdem sie im April 1996 an einer Gleisblockade teilgenommen hatten. Protest gegen das US-Raketen-Abwehr-Programm in Los Angeles Am 14. Juli 2001 drangen 15 Greenpeace Mitglieder, darunter 2 Deutsche, friedlich von der Meeresseite aus schwimmend in die Sicherheitszone des kalifornischen Raketentestgeländes auf der Vandenberg Air Force Base in Los Angeles ein und verzögerten einen Raketenstart um etwa 40 Minuten. Greenpeace protestierte mit dieser Aktion gegen das auch "Star Wars" genannte Projekt der USA. Zum damaligen Zeitpunkt verstießen die US-Pläne gegen den ABM-(Anti Ballistic Missile)-Vertrag von 1972 zwischen Russland und USA, der eine gegenseitige Begrenzung der Zahl und Art von Abfangsystemen festschrieb. Die Beteiligten wurden festgesetzt und später wegen unbefugtem Eindringen in die Sicherheitszone eines Raketentest- bzw. Militärgeländes, Verschwörung und Nichtbefolgen von Anweisungen der Küstenwache angeklagt. Während des Prozesses wurden die Anklagepunkte beibehalten, aber von der Staatsanwaltschaft auf ein minderschweres Vergehen reduziert. Aktion UN-Klimagipfel 2009 in Kopenhagen Im Dezember 2009 gelang es elf Greenpeace-Aktivisten, sich kurz vor Ende des UN-Klimagipfels in Kopenhagen in ein Gala-Essen von Staatsoberhäuptern aus aller Welt einzuschleusen und ein Transparent mit der Beschriftung 'Die Politiker reden – die Führer handeln' zu entrollen. Ein Greenpeace-Aktivist blieb als «Staatsoberhaupt im Smoking» gemeinsam mit einer Frau, die ein rotes Abendkleid trug, von diversen Sicherheitskontrollen im Kopenhagener Schloss Christiansborg unentdeckt. Die Aktivisten wurden in Dänemark wegen Hausfriedensbruch, Amtsanmaßung und Fälschung öffentlicher Urkunden angeklagt. (vgl. Gamillscheg 2011). Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung KKW Neckarwestheim 2012 wurden 59 Mitglieder von Greenpeace wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung verurteilt, nachdem sie 2011 in das Gelände der beiden Kernkraftwerke in Neckarwestheim eingedrungen waren. Beschädigung von UNESCO-Weltkulturerbe Im Dezember 2014 platzierten Greenpeace-Aktivisten während der Weltklimakonferenz in Lima Stofftücher in unmittelbarer Nähe der Kolibri-Figur der Nazca-Linien, welche den Schriftzug „Time for change! The future is renewable!“ sowie das Greenpeace-Logo darstellten. Die peruanische Regierung verurteilte die Aktion an der empfindlichen archäologischen Stätte und ersuchte um die Festnahme der 20 Beteiligten, was jedoch von einem lokalen Gericht zurückgewiesen wurde. Nach Ana María Cogorno, der Vorsitzenden der Nazcalinien-Schutzorganisation Asociación María Reiche, sind die durch Greenpeace am UNESCO-Weltkulturerbe verursachten Schäden irreparabel. Britische Unterhauswahl 2015 Im April 2017 wurde in Großbritannien ein Bußgeld von 30.000 britischen Pfund (ca. 36.000 €) gegen Greenpeace verhängt, weil die Organisation sich vor der Unterhauswahl 2015 bewusst nicht als „drittbeteiligte Kampagnenorganisation“ registriert hatte. Damit ist Greenpeace die erste Organisation, die nach dem 2014 in Kraft getretenen britischen Lobbygesetz (Transparency of Lobbying, Non-Party Campaigning and Trade Union Administration Act) sanktioniert wurde, welches die Einflussnahme von Dritten auf den Wahlausgang beschränken soll. Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr Im Juni 2018 hatten Greenpeace-Aktivisten 3500 Liter gelbe Farbe im Kreisverkehr um die Siegessäule in Berlin verteilt, um von oben betrachtet eine Sonne als „strahlendes Symbol für die Energiewende“ entstehen zu lassen. Die Aktion zog den Sturz eines Motorradfahrers und einer Radfahrerin nach sich, zudem sei es zu Auffahrunfällen mit Sachschaden gekommen. Durchsuchungen des Hauptsitzes, eines Aktionsmittellagers in Berlin, der Greenpeace Media GmbH in Hamburg sowie der Wohnungen mehrerer Aktivisten wie in Halle und Bamberg sollen gefolgt sein. Eine fünfstellige Rechnung der Berliner Stadtreinigung wurde erhoben. Für die Reinigung der Fahrbahn wurden 135.000 Liter Wasser aufgebraucht, welches anschließend von einer Spezialfirma entsorgt werden musste. Greenpeace-Sprecher Martin Bussau bezeichnete die Vorwürfe als „nahezu absurd“ und vermutete, dass versucht werde, die Organisation einzuschüchtern. Sprühaktion am Flughafen Charles de Gaulle Im März 2021 drangen neun Aktivisten von Greenpeace in das Gelände des Pariser Flughafens Charles de Gaulle ein und haben dort eine Boeing 777-200 der Air France mit grüner Farbe besprüht, um „so Greenwashing in der Branche an[zu]prangern.“ Der französische Transportminister sprach von einem gravierenden Sicherheitsvorfall. Im Juni 2021 wurden die Beteiligten wegen Sachbeschädigung und Störung von Flughafeneinrichtungen angeklagt. Diebstahl von VW-Autoschlüsseln Auf dem Gelände des Seehafens Emden entwendeten Greenpeace-Aktivisten im Mai 2021 die Autoschlüssel von über 1.000 zu verladenden Neuwagen der Volkswagen AG, um gegen deren Unternehmenspolitik zu demonstrieren. Die Polizei stellte die Schlüssel auf der Zugspitze sicher. Verfolgt wird der „strafrechtliche Vorwurf des Hausfriedensbruchs und des besonders schweren Falls des Diebstahls“. Körperverletzungen bei Fußball-EM-Spiel 2021 Kurz vor Anpfiff des Fußball-Europameisterschaft-Spiels Frankreich gegen Deutschland in München am 15. Juni 2021 wollte ein Aktivist trotz Flugverbots über der Allianz Arena einen großen, gelben Ball mit einer Protestaufschrift über dem Stadion abwerfen. Doch der Gleitschirmflieger stürzte mit seinem elektrisch angetriebenen Motorschirm ab und musste auf dem Spielfeld notlanden. Dabei traf er verschiedene technische Einrichtungen und verletzte zwei Personen, die beide mit Kopfverletzungen in Münchner Krankenhäuser gebracht wurden. Der Pilot, ein in Rosenheim arbeitender Chirurg aus Pforzheim, wurde vorläufig festgenommen. Die Polizei prüft mehrere strafrechtlich relevante Delikte wie gefährliche Körperverletzung, Hausfriedensbruch sowie Delikte nach dem Luftverkehrsgesetz. Die UEFA sprach von einer rücksichtslosen und gefährlichen Aktion, der DFB verurteilte die Aktion als nicht hinnehmbar. Der Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz bezeichnete dies als „wichtiges Thema, aber krass idiotische und unverantwortliche Aktion“. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann nannte den Piloten einen unverantwortlichen Abenteurer, „der seine Flugkünste selbst maßlos überschätzt hat und dadurch Leib und Leben von Zuschauern im Stadion ernsthaft gefährdet hat“. Der Journalist Friedrich Küppersbusch kommentierte, die Aktion sei „der dümmste Absprung über einem Stadion seit Jürgen W. Möllemann und das schlimmste EM-Eigentor von allen“ gewesen. Laut Greenpeace hatte die Aktion nie die Absicht, das Spiel zu stören oder Menschen zu verletzen. Newsletter und Zeitschrift Der Verein versendet Newsletter zu aktuellen Kampagnen und Aktionen und viermal pro Jahr kostenfrei die Zeitschrift Greenpeace Nachrichten () an seine Förderer. Literatur Ivar A. Aune, Nikolaus Graf Praschma: Greenpeace: Umweltschutz ohne Gewähr (Neumann-Neudamm, Melsungen 1996), ISBN 3-7888-0696-6. Michael Brown, John May: The Greenpeace Story (1989; London and New York: Dorling Kindersley, Inc., 1991), ISBN 1-879431-02-5. Robert Hunter, Rex Weyler: Rettet die Wale. Die Fahrten von Greenpeace. 1. Auflage. Kübler Verlag, Lampertheim 1979, ISBN 3-921265-20-7. Robert Hunter: Warriors of the Rainbow: A Chronicle of the Greenpeace Movement (New York: Holt, Rinehart and Winston, 1979), ISBN 0-03-043736-9. Michael King: Death of the Rainbow Warrior (Penguin Books, 1986), ISBN 0-14-009738-4. David McTaggart, Robert Hunter: Greenpeace III: Journey into the Bomb (London: William Collins Sons & Co., 1978), ISBN 0-688-03385-7. David Robie: Eyes of Fire: The Last Voyage of the Rainbow Warrior (Philadelphia: New Society Press, 1987), ISBN 0-86571-114-3. Frank Zelko: Greenpeace. Von der Hippiebewegung zum Ökokonzern. Aus dem Englischen von Birgit Brandau, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, 358 S., ISBN 978-3-525-31712-9. Frank Zelko: Scaling Greenpeace: From Local Activism to Global Governance, in: Historical Social Research 42 (2017) 2: 318–342. DOI 10.12759/hsr.42.2017.2.318-342. Dokumentarfilme Jagdzeit – Den Walfängern auf der Spur (2009) Greenpeace: From hippies to lobbyists. Al Jazeera World, Juni 2012 (Video, englisch, 47 Min.) Die Greenpeace-Story (Video, deutsch, 40 Minuten) How to change the world (2015) Weblinks Greenpeace International (englisch) Greenpeace Deutschland Greenpeace Österreich Greenpeace Schweiz Thomas Deichmann: Gemeinnützig oder gemeingefährlich? Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 20, Mittwoch, 24. Januar 2007 Einzelnachweise Umweltstiftung Organisation (Klimapolitik) Internationale Organisation (Amsterdam) Organisation mit Österreichischem Spendengütesiegel Konrad-Lorenz-Preisträger Non-Profit-Organisation Gegründet 1971 Organisation (Vancouver) Eingetragen im Lobbyregister des Deutschen Bundestags
1830
https://de.wikipedia.org/wiki/Graz
Graz
Graz (früher auch Gracz, Greze, Grätz oder Bayrisch-Grätz) ist die Landeshauptstadt der Steiermark und mit  Einwohnern (Stand: ) die zweitgrößte Stadt der Republik Österreich. Die Stadt liegt an beiden Seiten der Mur, am Austritt der Mur aus den Alpen (bzw. dem Steirischen Randgebirge) in das geologisch jüngere Vorland, im Grazer Becken. Die Metropolregion Graz ist mit 642.134 Einwohnern (Stand 2020) nach den Metropolregionen Wien und Linz die drittgrößte Metropolregion Österreichs. Der Großraum Graz war in den letzten zehn Jahren der am schnellsten wachsende Ballungsraum Österreichs. Das Grazer Feld war in der römischen Kaiserzeit eine dicht besiedelte Agrarlandschaft. Im 6. Jahrhundert wurde hier eine Burg errichtet, von der sich der Name Graz ableitet (slowenisch gradec bedeutet kleine Burg). Das Stadtwappen erhielt Graz 1245. Von 1379 bis 1619 war die Stadt habsburgische Residenzstadt und widerstand in diesem Zeitraum mehreren osmanischen Angriffen. 2003 war Graz Kulturhauptstadt Europas; 2015 wurde es Reformationsstadt Europas. Graz hat sich zu einer Universitätsstadt mit insgesamt fast 60.000 Studenten (Stand: 2. Jänner 2017) entwickelt. Sie wurde zur Menschenrechtsstadt erkoren und ist Trägerin des Europapreises. Die Altstadt von Graz und das Schloss Eggenberg gehören seit 1999 bzw. 2010 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Graz ist Bischofssitz der Diözese Graz-Seckau. Seit März 2011 ist Graz als UNESCO City of Design Teil des Creative Cities Network. Geografie Lage und Stadtgliederung Graz liegt rund 150 km südwestlich von Wien, an beiden Seiten der Mur, wo diese ihren Durchbruch durch das Grazer Bergland beendet und in das Grazer Becken eintritt. Die Stadt füllt den nördlichen Teil des Grazer Beckens von Westen bis Osten fast vollständig aus und ist an drei Seiten von Bergen umschlossen, die das bebaute Stadtgebiet um bis zu 400 m überragen. Nach Süden öffnet sich das Stadtgebiet ins Grazer Feld. Der höchste Punkt in Graz ist der Plabutsch mit im Nordwesten der Stadt, die tiefste Stelle, mit etwa , befindet sich dort, wo die Mur die Stadt im Süden verlässt. Innerhalb von Graz gibt es zwei markante Erhebungen, den Grazer Schloßberg mit dem gut sichtbaren Grazer Uhrturm und den Austein mit dem Kalvarienberg. Die nächste Stadt mit überregionaler Bedeutung ist Maribor (Marburg an der Drau) in Slowenien, rund 60 km südlich von Graz gelegen. Die beiden Städte verbinden immer enger werdende kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen. Die Europaregion Graz-Maribor ist ein Beispiel dafür. Bezirke und Stadtteile Für die ausführliche Beschreibung der Stadtbezirke siehe den Das Stadtgebiet von Graz ist in 17 Stadtbezirke und weiters in Stadtteile (Stt) gegliedert. Östlich der Mur liegt in der Altstadt der 1. Bezirk Innere Stadt (Stt), rundherum reihen sich entgegen dem Uhrzeigersinn 2. St. Leonhard (Stt), 3. Geidorf (Stt) mit Landeskrankenhaus Graz, 4. Lend (Stt), 5. Gries (Stt) und 6. Jakomini (Stt). Abgesehen von der Altstadt sind fünf der sechs Kernbezirke historisch gewachsen. Innerstädtische Zentren, von denen das Wachstum ausging, waren der Murplatz, heute Südtiroler Platz in der ehemaligen Murvorstadt, der Jakominiplatz, die ehemals eigenständige Vorstadt Geidorf, die sich um die Leechkirche gebildet hatte, und der Guntarn-Hof, ein historischer Hof auf dem Areal der Leonhardkirche, der als zweites Grazer Siedlungsgebiet gilt. In der Murvorstadt entwickelten sich die Bezirke Gries um den Griesplatz und Lend um den Lendplatz. Die restlichen Bezirke bilden den äußeren Ring von Graz: 7. Liebenau (Stt) mit Engelsdorf (Stt), Murfeld (Stt), Neudorf (Stt) und Thondorf (Stt) 8. Sankt Peter (Stt) mit Hofstatt, Messendorf (Stt), Messendorfberg, Petersbergen, Peterstal und Tiefental 9. Waltendorf (Stt) mit Ruckerlberg 10. Ries (Stt) mit Innere Ragnitz (Stt), Rohrbach, Stifting (Stt) und Zach 11. Mariatrost (Stt) mit Fölling (Stt), Grafenhofsiedlung, Kroisbach, Mariagrün, Neusitz, Rettenbach, Teichhof und Wenisbuch 12. Andritz (Stt) mit Neustift, Sankt Gotthard und Schirmleiten 13. Gösting (Stt) mit Raach 14. Eggenberg (Stt) mit Algersdorf (Stt) und Baierdorf (Stt) 15. Wetzelsdorf (Stt) mit Krottendorf 16. Straßgang (Stt) mit Am Katzelbach, Hart (Stt), Kehlberg, Landes-Sonderkrankenhaus/Psychiatrie und Webling (Stt) 17. Puntigam (Stt) mit Rudersdorf (Stt) Der gesamte äußere Ring der Vorstadtgemeinden wurde 1938 in Stadtbezirke umgewandelt. Es kam zur Bildung von „Groß-Graz“ und zu einem dadurch bedingten Bevölkerungsanstieg; die Abspaltung Puntigams von Straßgang erfolgte 1988. Katastralgemeinden Für die Fläche der Katastralgemeinden siehe den Graz ist in 28 Katastralgemeinden aufgeteilt: Die Bezirke Innere Stadt, St. Leonhard, Geidorf, Lend, Gries, Jakomini, Wetzelsdorf, Gösting sowie Waltendorf bilden je eine Katastralgemeinde. Einige äußere Bezirke bestehen aus Katastralgemeinden, die mit dem jeweiligen Bezirk nicht deckungsgleich sind. Diese sind Engelsdorf, Messendorf (teilweise), Thondorf, Liebenau, Murfeld und Neudorf in Liebenau; Stifting und Ragnitz in Ries; Wenisbuch und Fölling in Mariatrost; Andritz, St. Veit ob Graz und Weinitzen in Andritz; Algersdorf und Baierdorf in Eggenberg; Straßgang (teilweise) und Webling (teilweise) in Straßgang; sowie Gries (teilweise), Rudersdorf, Straßgang (teilweise) und Webling (teilweise) in Puntigam. In einigen Katastralgemeindenamen ist der Hinweis auf die alte, dörfliche Struktur erhalten geblieben. Drei Beispiele: Algersdorf war ein eigenständiges Dorf außerhalb des Stadtgebietes, so wie Thondorf im heutigen Liebenau oder Wenisbuch in Mariatrost. Andere Dörfer und Orte wie St. Johann oder Kroisbach im Bezirk Mariatrost, die vor der Eingemeindung einen geschlossenen Siedlungskern bildeten, werden nicht als Katastralgemeinden geführt. Nachbargemeinden Graz ist umgeben vom Bezirk Graz-Umgebung, in dem sich alle benachbarten Gemeinden befinden: Klima Graz liegt im Bereich der illyrischen Klimazone. Die Lage am südöstlichen Alpenrand bewirkt eine gute Abschirmung gegenüber den in Mitteleuropa vorherrschenden Westwetterlagen. Größere Niederschlagsmengen dringen daher vorwiegend aus dem mediterranen Bereich ein. Die Durchschnittstemperaturen betragen am Flughafen Graz–Thalerhof 8,7 °C und bei der Universität Graz 9,4 °C. Der mittlere Jahresniederschlag ergibt bei durchschnittlich 92,1 Niederschlagstagen (Messpunkt Universität Graz) eine Gesamtmenge von 818,9 mm. Die geschützte Lage hat ein mildes Klima zur Folge, sodass in den Parkanlagen und auf dem Schloßberg Pflanzenarten gedeihen, die sonst erst in Südeuropa anzutreffen sind. Der mediterrane Einfluss zeigt sich in mehr als 2100 Sonnenstunden jährlich und einer durchschnittlichen Julitemperatur von 21,3 °C im 30-jährigen und 22 °C im zehnjährigen Mittel. Die Beckenlage hat vor allem in den Wintermonaten klimatische Nachteile: Im Winter entsteht gelegentlich eine Inversionswetterlage, die einen Luftaustausch im Grazer Becken erschwert und zu Überschreitungen des zugelassenen Grenzwerts für Feinstaub führen kann. Graz wurde 2021 zur Klima-Innovationsstadt ausgezeichnet. Geologie Das Gebirgsland nördlich von Graz auf beiden Seiten des engen Murtals ist geologisch zweigeteilt: Unmittelbar südlich der Längstalfurche von Mur- und Mürztal befinden sich die letzten östlichen Ausläufer der zentralalpinen Ketten, die sanft gerundeten Berge der Stub-, Glein- und Koralpe westlich und der Fischbacher Alpen östlich des Murquertals, das von Bruck an der Mur als Durchbruchstal nach Süden zieht. Südlich davon und unmittelbar nördlich des Grazer Beckens befindet sich das eigentliche Grazer Bergland, das überwiegend aus Kalk besteht und mit der Lurgrotte und anderen Höhlen alte Karst-Phänomene zeigt. Eingelagert in diese Kalkzone ist beispielsweise die Kristallin-Insel von St. Radegund und dem dort angrenzenden Grazer Hausberg, dem Schöckl. Die zentralalpinen Ausläufer aus kristallinen Schiefern, die die Mur-Mürz-Längstalfurche begleiten, gehören zur mittelostalpinen Einheit (MOA). Im ganzen Grazer Bergland überwiegen ehemalige paläozoische Sedimente und Vulkanite, die bei der variszischen und alpinen Gebirgsbildung unter mehreren Kilobar Druck und einigen Hundert Grad Celsius zu metamorphen Gesteinen wurden. So entstand aus fossilführenden Kalken fossilfreier Marmor, aus sandig-tonigen Sedimenten Glimmerschiefer oder Paragneis und aus einem basischen Vulkanit ein Amphibolit. Im Stadtgebiet von Graz selbst bilden die jüngsten Sedimente (des Holozäns) die Flussaue der Mur, ihnen schließt sich westlich und östlich die Niederterrasse aus Ablagerungen der letzten Kaltzeiten (Pleistozän) an, die nacheiszeitlich durch lineare Erosion zerschnitten wurde; diese Niederterrasse ist im Westen breiter ausgebildet als im Osten. Reste einer altpleistozänen Hochterrasse finden sich nur in einem schmalen Saum östlich oberhalb der Niederterrasse. Westlich und östlich fortschreitend, am Rande des Grazer Beckens erscheinen ältere Gesteine, darunter sind sowohl Fest- als auch Lockergesteine; im westlichen Stadtgebiet überwiegen dabei Gesteine aus den Schichten des Neogen, im östlichen Stadtgebiet stehen dagegen eher Gesteine des Paläozoikums an. Hydrologie Das Stadtgebiet von Graz wird von der Mur auf 15,87 km Länge durchflossen. Neben diesem gibt es noch eine Reihe von Fließgewässern. Siehe Liste der Fließgewässer in Graz. Bevölkerung Bevölkerungsentwicklung Die Bevölkerungszahl von Graz überschritt etwa im Jahr 1870, in der sogenannten Gründerzeit, die 100.000er-Marke. In der Folge stieg die Einwohnerzahl bis in die 1970er Jahre stetig an – teilweise durch natürlichen Zuwachs und Zuwanderung, teilweise durch Eingemeindung von Nachbarorten im Jahre 1938 nach dem Anschluss Österreichs durch die Nationalsozialisten. Von Ende der 1970er Jahre bis 2001 verringerte sich die Zahl wieder, da viele Grazer in die Umlandgemeinden zogen. Obwohl in diesen Jahren die Zahl der Bewohner mit Hauptwohnsitz abnahm, gab es zeitgleich eine Zunahme an Bewohnern mit Zweitwohnsitz und seit 2001 wieder eine Zunahme von Einwohnern mit Hauptwohnsitz. Hinzu kommen in Graz wohnende jüngere Werktätige, die ihren Hauptwohnsitz bei den Eltern außerhalb von Graz haben. Das stellt Graz vor finanzielle Probleme, da die Stadt die Infrastruktur für alle in und um Graz wohnenden Menschen bereitstellen muss, vom Bund jedoch nur Geld für die Bewohner mit Hauptwohnsitz erhält. Andererseits profitieren der Wirtschaftsstandort und die Bauwirtschaft von den meist jüngeren Leuten, die in Graz ihren Zweitwohnsitz haben. Graz ist somit die am schnellsten wachsende Stadt Österreichs. Es gibt zirka 110.000 Haushalte mit einem Frauenanteil von 52 Prozent. Am 1. Jänner 2021 hatten 294.236 Personen ihren Hauptwohnsitz in Graz. Inklusive Nebenwohnsitze kommt man auf 331.264 Einwohner. Nicht in den Zahlen enthalten sind die 298 gemeldeten Obdachlosen in der Stadt. Am 1. Jänner 2023 hatte Graz nur mehr 298.623 Einwohner, nachdem Graz im Oktober zuvor erstmals die Marke von 300.000 Einwohnern überschritten hatte und somit fast so bevölkerungsreich ist wie das Burgenland. Prognose Bevölkerungsstruktur nach Geschlecht, Alter und Nationalität Am 1. Jänner 2021 waren: 50,64 % der Grazer Frauen, 16,23 % der Grazer unter 20 Jahre alt 68,72 % zwischen 20 und 65 15,04 % über 65 Jahre alt 219.738 der Menschen (74,68 %) mit Hauptwohnsitz in Graz sind österreichische Staatsbürger, 37.226 sonstige EU-Bürger (12,65 %) und 37.272 Nicht-EU-Bürger (12,67 %). Von den Nicht-EU-Bürgern stammen: 16.740 aus Asien 2.959 aus Afrika 2.330 aus Russland 1.760 aus Nord- oder Südamerika 104 aus Australien und Ozeanien und insgesamt 25.356 aus Nicht-EU-Staaten Europas. 728 Grazer sind staatenlos. Am 1. Jänner 2021 lebten jeweils mindestens 500 Menschen aus folgenden Staaten in Graz: Geschichte Erste Besiedlungen des Gebiets sind bereits für die Zeit um 3000 v. Chr. belegt. Die erste gesicherte Erwähnung von Graz stammt aus dem Jahre 1140, als Udalrich von Graz eine Schenkung bezeugte. In die Zeit um 1160 fällt die Gründung des großen Grazer Marktes auf dem Boden des heutigen Hauptplatzes. 1379 wurde Graz eine Residenz der Habsburger. Graz widerstand im 16. und 17. Jahrhundert mehreren osmanischen Angriffen. 1585 wurde die erste Universität von Erzherzog Karl II. von Innerösterreich gegründet. Die Reformation wurde mit der Vertreibung der evangelischen Prediger 1598 und der Schließung der evangelischen Schulen 1599 zurückgedrängt. 1619 übersiedelte der gesamte Habsburger Hofstaat in die Wiener Hofburg. Graz blieb aber Hauptort des Herzogtums und späteren Kronlandes Steiermark. Graz wurde während der Napoleonischen Kriege mehrfach von den Franzosen besetzt. Nach deren Abzug prägten kulturelles Leben, wirtschaftliche Initiativen und neue technische Errungenschaften die schnelle Entwicklung der Stadt bis zum Ende der Monarchie 1918. Um 1850 wurde Graz Statutarstadt. Mit dem Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye wurde Graz nach 1918 jedoch faktisch von einer Binnenstadt eines Großstaates zur Grenzstadt eines Kleinstaates herabgestuft. Am 7. Juni 1920 entlud sich eine „Kirschenrummel“ genannte Hungerrevolte. Im Zuge des „Anschlusses“ 1938 übernahmen die lokalen Nationalsozialisten bereits vor dem Eintreffen der deutschen Truppen die Kontrolle in der Stadt. Von allen österreichischen Städten verzeichnete Graz im Zweiten Weltkrieg die meisten Luftangriffe – insgesamt 56. 1945 zogen sowjetische Truppen, später britische Truppen in Graz ein, die bis zum Abschluss des Staatsvertrags 1955 blieben. 2003 war Graz Kulturhauptstadt Europas. 2015 wurde Graz Reformationsstadt Europas. Politik Organisationsform und Verwaltung Graz ist eine Statutarstadt. Das bedeutet, dass die Gemeindeorganisation durch ein eigenes Landesgesetz (Statut der Landeshauptstadt Graz aus dem Jahr 1967) geregelt wird und die Gemeindeorgane (insbesondere der Magistrat) neben den üblichen Aufgaben einer Gemeinde die der Bezirksverwaltungsbehörde innehaben. Die Grazer Gemeinderatswahlen finden nicht gleichzeitig mit den steirischen Gemeinderatswahlen statt. Graz ist Sitz des Landtages Steiermark (im Landhaus), der Steiermärkischen Landesregierung und aller Landesbehörden, der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung, der Wirtschafts-, Landwirtschafts- und Arbeiterkammer Steiermark, der Landespolizeidirektion Steiermark, der Bezirksgerichte Graz-Ost (zuständig für den 1.–3. und 6.–12. Stadtbezirk sowie den Süden von Graz-Umgebung) und Graz-West (zuständig für den 4., 5. und 13.–17. Stadtbezirk sowie den Norden von Graz-Umgebung), der Landesgerichte für Zivilrechtssachen Graz und Strafsachen Graz, des Oberlandesgerichtes Graz (mit Zuständigkeit für Steiermark und Kärnten), des Bundesfinanzgerichtes (Außenstelle Graz) und von zwei Standorten (Graz-Ost und Graz-West) des Arbeitsmarktservices. Bezirksvertretungen Graz ist neben Wien die einzige Stadt Österreichs mit gewählten Bezirksvertretungen; diese Kollegialorgane werden in Graz Bezirksräte genannt und bestehen seit 1993. Die Wahlberechtigten jedes Stadtbezirks wählen gleichzeitig mit dem Gemeinderat ihren Bezirksrat (der einzelne Abgeordnete wird Mitglied des Bezirksrats genannt); dieser wählt den Bezirksvorsteher und die zwei Bezirksvorsteherstellvertreter. Der mandatsstärksten im Bezirksrat vertretenen Partei steht dabei das Vorschlagsrecht für den Bezirksvorsteher zu; die zweit- respektive die drittstärkste Fraktion darf den 1. beziehungsweise den 2. Bezirksvorsteherstellvertreter vorschlagen. Der Bezirksrat besteht in Stadtbezirken unter 10.500 Einwohnern aus sieben Mitgliedern; diese Zahl erhöht sich je 1500 zusätzliche Bezirksbewohner um ein weiteres Mitglied, wobei die Höchstzahl 19 beträgt und derzeit (Stand: 2021) nur in den Bezirken Lend und Jakomini erreicht wird. Mitglieder des Bezirksrats verrichten ihre Funktion (im Gegensatz zu Grazer Gemeinderatsmitgliedern oder Bezirksräten in Wien) ehrenamtlich, den Bezirksvorstehern und Bezirksvorsteherstellvertretern steht ein monatlicher Bezug zu. Aufgabe der 17 Bezirksräte ist es, bezirksbezogene Interessen gegenüber den Organen und Einrichtungen der Stadt zu vertreten. Sie verfügen über Anhörungs- und Informationsrechte sowie eine Art suspensives Veto (Qualifizierter Widerspruch – wird dem Widerspruch nicht Rechnung getragen, muss dies vom entscheidungsbefugten Organ der Stadt begründet werden). Darüber hinaus handelt der Bezirksrat in den ihm vom Gemeinderat übertragenen speziellen Aufgabenbereichen (etwa Grün- und Sportanlagengestaltung, Hebung der Verkehrssicherheit, Stadtbildverschönerung, Vergabe von Förderungen) autonom und verfügt über ein eigenes Bezirksbudget. Zur Durchführung von Maßnahmen nach den entsprechenden Beschlüssen bedient sich der Bezirksrat der Magistratsabteilungen und den Servicestellen (ehemals Bezirksämter) der Stadt Graz. Da die Bezirksbudgets vergleichsweise gering sind (Stand 2021: 1 €/Einwohner, zuzüglich Sonderbudget „Klima-Euro“ in Höhe von 10.000 € plus 0,50 €/Einwohner) und den Bezirksräten nur in geringem Maß Kompetenzen übertragen wurden, ist der Handlungsspielraum der Bezirksvertretungen relativ gering. Der Menschenrechtsbeirat der Stadt Graz empfiehlt auf Basis von 13 befragten Bezirksvertretungen, die Rechte der Bezirksräte zu stärken (verpflichtende Antwortfristen, Ausweitung der Auskunftspflicht und mehr Entscheidungskompetenz) sowie die Bezirksbudgets zu erhöhen. Gemeinderat Ab den 1970er Jahren kam es innerhalb der Grazer Kommunalpolitik zu einigen Besonderheiten: Das in Graz traditionell politisch starke deutschnationale Lager, vertreten durch die FPÖ, erhielt überdurchschnittlich viele Wählerstimmen und stellte zwischen 1973 und 1983 mit Alexander Götz den Bürgermeister. Danach fiel die FPÖ auf wenige Mandate zurück. Zur gleichen Zeit war Graz die erste Großstadt in Österreich, in der die Grünen – als Alternative Liste Graz (ALG) – in den Gemeinderat einzogen (1983). Nachdem in der folgenden Legislaturperiode die Mehrheitsverhältnisse nicht eindeutig waren, teilten sich zwei Bürgermeister die Amtszeit, zuerst Franz Hasiba (ÖVP) und anschließend Alfred Stingl (SPÖ), der nach der Wahl 1988 bis 2003 Bürgermeister blieb. In der folgenden Amtsperiode wurde die KPÖ mit über 20 % der Stimmen drittstärkste politische Kraft. Dieser Erfolg wird dem sozialen Engagement des damaligen KPÖ-Spitzenkandidaten und Gemeinderates Ernest Kaltenegger zugeschrieben. Nachdem Kaltenegger für die KPÖ-Steiermark bei den Landtagswahlen (Oktober 2005) antrat und in den Landtag einziehen konnte, verließ er den Grazer Gemeinderat. Seine Nachfolgerin Elke Kahr setzte dieses Engagement fort, und aus der Gemeinderatswahl 2017 ging die KPÖ als zweitstärkste Kraft hervor. Bei der Gemeinderatswahl 2021 wurde die KPÖ mit 28,8 % der gültigen Stimmen stärkste Partei. Stadtsenat Der Stadtsenat stellt die Stadtregierung dar und umfasst sieben Mitglieder – Bürgermeister, Bürgermeisterstellvertreter und fünf Stadträte – die gemäß den Gemeinderatswahlergebnissen proportional auf die (derzeit: sechs) im Gemeinderat vertretenen Parteien aufgeteilt werden. Aufgrund der geringen Anzahl der Stimmen gehen dabei die SPÖ und die NEOS leer aus. Das Statut der Stadt Graz sieht vor, dass der Bürgermeister sowie der Bürgermeisterstellvertreter die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen müssen. Die Stadträte können auch Personen sein, die nicht dem Gemeinderat angehören, jedoch in den Gemeinderat wählbar sind (Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedstaats, nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen und Hauptwohnsitz in Graz). Bürgermeister Der erste gewählte Grazer Bürgermeister in der Nachkriegszeit war Eduard Speck (SPÖ), welcher sein Amt bis 1960 ausübte. Er wurde von seinem Parteikollegen Gustav Scherbaum (SPÖ) abgelöst, dieser regierte bis 1973. Nach dem Erstarken des rechtsnationalen Lagers unter der FPÖ wurde 1973 Alexander Götz Bürgermeister; er übte das Amt bis 1983 aus. Auf ihn folgten Franz Hasiba (ÖVP) und Alfred Stingl (SPÖ), welche sich zunächst eine fünfjährige Amtsperiode aufteilten, Stingl behielt das Bürgermeisteramt jedoch bis 2003. Auf ihn folgte Siegfried Nagl (ÖVP), der bei den Gemeinderatswahlen 2008, 2012 und 2017 nochmals als Bürgermeister bestätigt wurde. 2021 wurde er von Elke Kahr (KPÖ) abgelöst. E-Government Auf der Plattform graz.at können Behördenwege mithilfe von Online-Verfahren von zu Hause erledigt werden. Bei einem Teil dieser Formulare, wie zum Beispiel dem Förderungsantrag auf Fernwärme oder auch dem Kirchenaustritt, ist eine elektronische Signatur mit der Bürgerkarte notwendig. Städtepartnerschaften Graz unterhält Städtepartnerschaften mit folgenden Städten: , Vereinigtes Königreich seit 1948 (Vertrag von 1957) , Vereinigte Staaten seit 1950 , Niederlande seit 1964 , Deutschland seit 1968 , Norwegen seit 1968 , Kroatien seit 1972 , Italien seit 1973 , Rumänien seit 1982 , Slowenien seit 1987 , Ungarn seit 1989 , Kroatien seit 1994 , Slowenien seit 2001 Den meisten Städten, mit denen Städtepartnerschaften eingegangen werden, sind im Stadtgebiet einige Straßen- und Wegnamen gewidmet: Am häufigsten vertreten sind Alleebezeichnungen: Coventryallee, Dubrovnikallee, Montclairallee, Pécsallee sind Wege im Grazer Stadtpark, der Groningenplatz ist eine Freifläche im Bereich der Burgringkurve, die St.-Petersburg-Allee befindet sich im Augarten. Die Darmstadtgasse und die Trondheimgasse sind Wohn- und Parallelstraßen im Bezirk Lend. Der Pula-Kai ist ein Murkai zwischen Augartenbrücke und Berta-von-Suttner-Friedensbrücke in Jakomini, der Marburger Kai in der Innenstadt, sowie die Marburger Straße beim ORF-Landesstudio. Die Triester Straße ist eine der Grazer Fernstraßen und erhielt ihren Namen bereits im frühen 19. Jahrhundert. Keine Entsprechung im Straßennetz haben die Städte Temeswar und Ljubljana. Die seit 2001 bestehende Städtepartnerschaft mit Sankt Petersburg wurde nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 1. März 2022 „eingefroren“. Stadtwappen „Die Fahne der Stadt zeigt ein weiß-grünes Feld mit dem Wappen der Stadt.“ Medien Zeitungen Graz ist eine Stadt mit langer Zeitungstradition. Gab es zu Zeit Kaiser Josefs II. fünf Zeitungen in der Stadt, reduzierte sich deren Anzahl unter Erzherzog Johann auf eine, die „Grätzer Zeitung“, die einer strengen Kontrolle unterlag. Ein wichtiger Grazer Medienkonzern ist die Styria, die neben der regionalen „Kleinen Zeitung“, mit einer Reichweite von 50 % in den Bundesländern Steiermark und Kärnten, die „Presse“ und andere Zeitschriften und Zeitungen in Österreich, Slowenien und Kroatien herausgibt. Historisch erschienen in Graz vier Tageszeitungen: neben der „Kleinen Zeitung“, der einzigen, die das Zeitungssterben der 1970er Jahre überlebt hat, die Parteizeitungen „Neue Zeit“ (sozialdemokratisch), die „Südost-Tagespost“, Sprachrohr der steirischen ÖVP, und die „Wahrheit“ der steirischen KPÖ. Jede österreichweit erscheinende Tageszeitung verfügt über eine eigene Redaktion in Graz. Die „Kronen Zeitung“ produziert in Graz eine eigene Steiermark-Ausgabe, die sogenannte „Steirerkrone“. Kostenlos wöchentlich verteilt werden an die Wohnungstür: die „Woche“ und der „(Neue) Grazer“, beides Zeitungen der Regionalmedien Austria, sowie seit Mitte 2014 „(Kleine Zeitung) Wohin“ mit Veranstaltungsprogramm (als Nachfolger von „G7“ nun über Entnahmefächer an Straßenbahnhaltestellen). Monatlich erscheint „BIG“ (Bürgerinformation Graz der Stadtverwaltung), das „Grazer Stadtblatt“ der KPÖ, und die FPÖ-Zeitschrift „Wir Grazer“. Die „Woche“ betreibt eine Online-Ausgabe mit Beiträgen von „Regionauten“ aus dem Publikum. Seit etwa 2015 gibt Styria auch die sich an Studenten richtende Gratis-Wochenzeitung Futter, erhältlich an Straßenbahnhaltestellen-Säulen, heraus. Seit Oktober 1995 erscheint monatlich die Straßenzeitung „Megaphon“ mit den Schwerpunkten Sozialpolitik und Integration im Straßenverkauf. Die Wochenzeitung „Falter“ betrieb von März 2005 bis etwa 2010 eine Steiermark-Redaktion. Rundfunk In Graz gibt es, wie in fast jeder Landeshauptstadt (Ausnahme: ORF Vorarlberg in Dornbirn), ein ORF-Landesstudio. Von dort aus wird das 24-Stunden-Vollprogramm Radio Steiermark gesendet. Die tagesaktuelle TV-Sendung Steiermark heute wird im Landesstudio produziert und im Vorabendprogramm auf ORF 2 ausgestrahlt. Bevor das Landesstudio in der Marburger Straße errichtet wurde, sendete der ORF sein Programm aus der Villa Ferry in der Zusertalgasse im Bezirk Geidorf. Mit Steiermark 1 und MemaTV, einem Sender der nur gelegentlich Programm sendete, gab es bis 2013 in Graz zwei weitere TV-Anstalten. Der erste Radiosender, der sich neben den ORF-Radios etablieren konnte, ist die Antenne Steiermark. Sie war 1995 der erste Privatsender Österreichs und hatte ihren Sitz am Sender Dobl bei Graz und ist Ende 2014 ins neue Styria-Gebäude in der Conrad-von-Hötzendorf-Straße übersiedelt. Mit Radio Soundportal, Welle 1 Graz und dem freien Radio Helsinki können in Graz drei weitere regionale Radiokanäle empfangen werden. Das österreichweit gesendete Radio Kronehit hat ebenfalls eine Zweigstelle in Graz. Auf dem Grazer Hausberg, dem Schöckl, steht die gleichnamige Rundfunk-Sendeanlage, die Graz, die gesamte Südsteiermark, das Südburgenland und benachbarte Gebiete mit Radio- und Fernsehprogrammen versorgt. Tourismus Der deutsche Reiseschriftsteller Johann Gottfried Seume gelangte auf seiner berühmten Reise nach Syrakus im Jahre 1802 auch nach Graz. Er schrieb: Heute setzt Graz im Tourismus vor allem auf die historische Substanz der Altstadt und auf die südliche Atmosphäre. Die offiziellen Auszeichnungen der Stadt als Kulturhauptstadt 2003 und als Weltkulturerbe rechtfertigen diese Marketingstrategie. Im gleichen Jahr entstanden aber auch mit der Realisierung des Kunsthauses Graz, dem „Friendly Alien“ und der Grazer Murinsel zwei neue Wahrzeichen für das moderne Graz. 2012 erhob die Agrarmarkt Austria Marketing GesmbH Graz zur „Genuss-Hauptstadt“ Österreichs. Grund dafür war der „Grazer Krauthäuptel“, eine besondere Form des Kopfsalats, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus Krain in die Steiermark gekommen ist. Große Bedeutung kommt Graz auch als Kongressstadt zu. Graz verfügt aktuell (Stand 2018) über rund 5000 Gästebetten im gewerblichen Bereich, dazu kommen weitere circa 1000 Gästebetten im nicht gewerblichen Bereich (inkl. Camping, Jugendherbergen und Privatzimmer). Rund 50 % aller Nächtigungen sind Geschäftsreisenden zuzurechnen. Etwa 13 % entfallen auf Kongress- und Seminartourismus. 37 % entfallen auf klassischen Städte- und Kulturtourismus. Dieses Segment weist in den letzten Jahren die stärksten Wachstumsraten auf. So wurden im Jahr 2014 mehr als eine Million Nächtigungen verzeichnet. Das Krisenjahr 2009 konnte Graz mit rund 788.000 Nächtigungen abschließen, was gegenüber dem Jahr zuvor einen Rückgang von 1 % bedeutete. Die Gästestruktur weist einen hohen Anteil an Inlandsgästen (rund 47 %) aus, gleichzeitig einen stark internationalen Mix. Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise setzte sich die positive Entwicklung fort und erreichte mit 1.061.095 Nächtigungen (2017) den bisherigen Höchstwert. Die Internationalisierung setzt sich weiter fort, denn der Anteil an Inlandsgästen fiel mit 44,8 % auf unter 45 %. Die Nächtigungsentwicklung in Graz: Sehenswürdigkeiten Grazer Altstadt Allgemeines Die historische Grazer Altstadt und ihre Dachlandschaft wurden 1999 wegen ihres perfekten Erhaltungszustandes und der Sichtbarkeit der baugeschichtlichen Entwicklung im Altstadtbild zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt und 2010 auf „Stadt Graz – Historisches Zentrum und Schloss Eggenberg“ erweitert. Diese Auszeichnung ist verbunden mit der Verpflichtung, das historische Erbe mit seinem seit der Gotik gewachsenen Bauensemble zu erhalten und neue Architektur harmonisch einzufügen. Die meisten Grazer Sehenswürdigkeiten befinden sich in der Altstadt. Diese erstreckt sich über den gesamten Bezirk Innere Stadt. Auch außerhalb der Altstadt gibt es viele historische Gebäude, hauptsächlich in den Bezirken St. Leonhard (II.) und Geidorf (III.). Schloßberg und Umgebung Im geografischen Zentrum der Stadt liegt der Schloßberg, der zwischen 1125 und 1809 als Festung diente. Nach der erfolgreichen Verteidigung der Anlage gegen die Truppen Napoleons unter dem Kommando von Genieoberst Franz Xaver Hackher zu Hart und dem Friedensschluss erfolgte die Sprengung der Schloßbergfestung. Die Grazer Bürger kauften den Uhrturm und den Glockenturm frei, sodass beide bis in die Gegenwart erhalten sind. Ab 1839 begann der Ausbau des kahlen Felsens zur Parkanlage. Neben den beiden Türmen sind noch einige Festungsreste und denkmalgeschützte Bauwerke aus der Zeit erhalten geblieben, unter ihnen die Reste der Thomaskapelle, Bürger- und Stallbastei und die Kasematten (ehemaliges Verlies, heute Veranstaltungsort). Zu erreichen ist das Schloßbergplateau mit seinen Denkmälern, von denen nicht alle freigelegt sind, über den Kriegssteig, die Schloßbergbahn, den Lift und über einige Fußwege. Im Berg selbst befinden sich einige Kilometer lange Stollensysteme, die im Zweiten Weltkrieg Schutzbunker bei Luft- und Bombenangriffen waren. In der Gegenwart wird ein Teil davon für Veranstaltungen („Dom im Berg“) oder als Märchenbahn („Die Grazer Märchenbahn“) genutzt. Das Montan- und Werksbahnmuseum im Berg ist derzeit wegen feuerpolizeilicher Auflagen für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Der Schloßberg ist über ein Weg- und Straßennetz umrund- und erschließbar. Der Rundgang beginnt mit dem äußeren Paulustor in der gleichnamigen Paulustorgasse, dem einzigen erhaltenen Stadttor des Renaissance-Befestigungsgürtels, der von Domenico dell’Allio ausgeführt wurde. Das nächste Bauwerk stadteinwärts ist die Palmburg mit ihrer mächtigen Auffahrtsrampe. Unmittelbar daneben befindet sich das Volkskundemuseum und die unscheinbare Antoniuskirche. Der Sakralbau wurde von 1600 bis 1602 errichtet, nachdem im Jahr 1600 über 10.000 protestantische Bücher an seinem Standort verbrannt wurden. Dieser Bereich heißt Paulustorvorstadt. Den Eingang zur Sporgasse, einem steil abfallenden und engen Gassenzug, beherrscht das Palais Saurau mit seinem wuchtigen Portal und der Halbfigur eines Türken unterhalb der Dachkante. Es folgen das ehemalige Gasthaus „Zur goldenen Pastete“ mit seinem in Graz einmaligen Runderker, das ehemalige Augustinereremitenkloster und die Stiegenkirche, das Deutschritterordenshaus und einige repräsentative Bürgerhäuser mit Geschäftslokalen, bevor die Gasse in den Hauptplatz mündet. Die Stiegenkirche, die über einen Stiegenaufgang erreichbar ist, war Teil der Paulsburg, des ältesten Teils der Grazer Stadtbefestigung. Vom Hauptplatz führt die Sackstraße nach Norden. Am Beginn des Straßenzugs steht das „Hotel Erzherzog Johann“, danach folgen das Warenhaus Kastner & Öhler, die Landschaftsapotheke, die älteste Grazer Apotheke, das Gasthaus „Zum Roten Krebsen“, das Palais Kellersberg, das Witwenpalais und die Palais Attems, Herberstein und Khuenburg. Das Palais Attems mit seiner Prunkfassade ist „das bedeutendste Adelspalais der Steiermark“, an seiner Rückseite angebaut ist der Admonterhof. Das Palais Herberstein beherbergt das „Museum im Palais“; im Palais Khuenburg, dem Geburtsort des 1914 in Sarajewo ermordeten Habsburger Thronfolgers Franz Ferdinand, sind das Grazer Stadtmuseum und das Apothekermuseum untergebracht. Unmittelbar daneben steht der Reinerhof, das älteste urkundlich erwähnte Grazer Gebäude. Vom Schloßbergplatz aus sind der Kriegssteig und der Schloßbergstollen, eine direkte Verbindung zum Karmeliterplatz, zu sehen. Der Platzanlage gegenüber liegt die Dreifaltigkeitskirche. Sie gehört zum Gebäudekomplex der Schulschwesternschule. Die Sackstraße mündet in den Kaiser-Franz-Josef-Kai, ein Straßenzug, der anstelle einer abgebrochenen Häuserzeile das Murufer säumt. Die Grazer Sackstraße bestand ursprünglich aus drei „Säcken“, also abgeschlossenen Verbauungszonen. Mit der Zeit durchbrachen insgesamt drei nicht mehr bestehende Sacktore die Mauern, um Wohnraum zu gewinnen. Dieses Gebiet galt lange Zeit als das am dichtesten besiedelte in Graz. Am Kai, der in die stark befahrene Wickenburggasse mündet, liegen die Talstation der Schloßbergbahn und Bürgerhäuser. Es sind noch Reste der alten Bastei des dritten Sacktores erkennbar. Historische Stadtansichten Grazer Stadtkrone Am Fuß des Schloßberges befindet sich die Grazer Stadtkrone. Sie besteht aus vier Monumentalbauten: dem gotischen Dom (Domkirche St. Ägidius), dem bedeutenden manieristischen Bau des Mausoleums mit der integrierten Katharinenkirche aus dem 17. Jahrhundert, der alten Jesuiten-Universität und der Grazer Burg. Dom Der Grazer Dom ist seit 1786 Domkirche der Diözese Graz-Seckau und Pfarrkirche der Grazer Dompfarre. Der außen unscheinbar anmutende Sakralbau mit schlichtem Dachreiter diente von 1577 bis 1773 den Grazer Jesuiten als Ordenskirche. Er ist das kunst- und kulturhistorisch bedeutendste innerstädtische Sakralbauwerk, wurde unter Friedrich III. im 15. Jahrhundert errichtet und war Hofkirche der römisch-deutschen Kaiser. Der Dom war einst mit einem Verbindungsgang mit der Grazer Burg verbunden. Der Hauptaltar ist ein bedeutendes barockes Gesamtkunstwerk. In den beiden Seitenschiffen befinden sich die Brauttruhen von Paola Gonzaga aus dem Herrschergeschlecht von Mantua – geschaffen von Andrea Mantegna in der italienischen Frührenaissance. Die Außenwand des Doms schmückt ein Fresko, das sogenannte Landplagenbild. Katharinenkirche und Mausoleum Unmittelbar neben dem Dom steht die Katharinenkirche mit dem Mausoleum, ein Gebäude des Manierismus. Es ist die Grabstätte von Kaiser Ferdinand II. (1578–1637) und der größte Mausoleumsbau der Habsburger. Zwischen Domkirche und Mausoleum steht auf einem Sockel eine Bronzeskulptur des Kirchenpatrons Ägidius, die nach der Vorlage des Grazer Künstlers Erwin Huber gegossen wurde. Burg Graz war von 1379 bis 1619 Residenzstadt der Habsburger. Eng mit der Grazer Geschichte verbunden ist der Jesuitenorden. Gegenüber der alten und ersten Grazer Universität bewohnten die Mönche den Domherrenhof.Die Grazer Burg mit dem Burggarten ist der Sitz der steirischen Landesregierung. Ihr Bau wurde 1438 unter Herzog Friedrich V. begonnen und unter Erzherzog Karl II. und seinem Sohn, Kaiser Ferdinand II., weitergeführt. Ein Relikt aus der ersten, gotischen Bauphase ist die außergewöhnliche Doppelwendeltreppe von 1499. In das Gebäude integriert ist das Burgtor, neben dem äußeren Paulustor das letzte erhaltene Stadttor von Graz. Im März 2023 präsentierte der deutsche Historiker Konstantin Langmaier eine schlüssige Erklärung des jahrhundertealten „A.E.I.O.U.-Rätsels“. Diese Buchstabenfolge, die viele historische Gebäude in ehemals habsburgisch regierten Teilen Mitteleuropas zieren, ließ Friedrich III. auch am Dom und in der Grazer Burg mehrfach in Stein meißeln. Zentrum Das Grazer Zentrum besteht aus dem Hauptplatz, der Herrengasse, Färberplatz und Mehlplatz, Teilen der Burggasse und Bürgergasse, der Schmiedgasse, Raubergasse, Neutorgasse, dem Marburger Kai, Andreas-Hofer-Platz und dem Franziskanerviertel mit den jeweiligen Nebengassen. Der Hauptplatz ist eine unregelmäßige und historisch gewachsene Anlage mit Marktfunktion, die sich früher nach Süden bis zur Landhausgasse erstreckte. Er wird von allen Straßenbahnlinien der Stadt durchfahren. An der Südseite steht das neoklassizistische Grazer Rathaus, zwischen 1889 und 1895 nach Plänen der Architekten Alexander Wielemans und Theodor Reuter über einem älteren Rathaus aus dem Jahr 1807 errichtet. Es ist heute Sitz des Grazer Gemeinderats. In der Mitte des Platzes steht der Erzherzog-Johann-Brunnen, ein 1878 enthülltes Werk des Wiener Kunstgießers Franz Pönninger. Das überlebensgroße Bronze-Standbild des Erzherzogs Johann überragt einen imposanten metallenen Sockel, an dessen Ecken vier weibliche Statuen Allegorien der Flüsse Mur, Enns, Drau und Sann darstellen. Den Hauptplatz säumen Bürgerhäuser und Stadtpalais: das Weißsche Haus, die Adler-Apotheke, die beiden stuckverzierten Luegg-Häuser an der Ecke zur Sporgasse, das Weikhard-Haus mit der gleichnamigen Standuhr und das Palais Stürgkh. Zwischen dem Hauptplatz und dem zweiten zentralen Platz, dem Jakominiplatz, verläuft die Herrengasse, eine barocke Prunkstraße. Hier stehen das Landhaus mit seinem Renaissancearkadenhof, das Landeszeughaus mit der größten frühneuzeitlichen Waffensammlung der Welt, das sogenannte „Gemalte Haus“ und die Stadtpfarrkirche, die Grazer Hauptpfarrkirche. Bevor die Herrengasse in die Ringstraße mündet, durchquert sie den Platz Am Eisernen Tor mit seinem Brunnen und der Mariensäule. Das namensgebende Eiserne Tor war bis ins 19. Jahrhundert ein Stadttor des Renaissance-Befestigungsgürtels. Im südlichen Teil der Herrengasse befand sich, geographisch von Kaiserfeldgasse und Schmiedgasse begrenzt, bis 1439 das Grazer Judenghetto. Von der Stadtkrone erreicht man das 1776 eröffnete Grazer Schauspielhaus am Freiheitsplatz und über Hofgasse und Bürgergasse das Gassensystem um den Glockenspielplatz mit dem Glockenspielhaus. Am Ende der Engen Gasse kann man durch die Stempfergasse, eine Einkaufsstraße, in die Herrengasse gelangen oder beim Bischofplatz das Bischöflichen Palais sehen. Die Franziskanerkirche, die zweitgrößte Grazer Kirche, steht am Ostufer der Mur und ist Mittelpunkt des Franziskanerviertels. Wegen ihrer einstigen Insellage ist die erste Grazer Klosterniederlassung schräg gestellt. Der Verlauf der sogenannten „Kot(h)mur“, eines Abwasserkanals, trennte das Areal vom Rest der Innenstadt. Vom Franziskanerviertel ist das Joanneumviertel erreichbar, zwischen Raubergasse, Landhausgasse und Andreas-Hofer-Platz gelegen. Es besteht aus zwei Monumentalbauten und beherbergt das Haupthaus des größten steirischen Museums, des Joanneums. Im neu gestalteten Innenhof befand sich einst der alte botanische Garten, der nach Geidorf ausweichen musste. An der Stelle des neuen Joanneums und des Postamtsgebäudes von Friedrich Setz stand das 1884 abgebrochene Neutor. Das Magistratsgebäude der Stadt Graz beherrscht das Straßenbild der Schmiedgasse. Am Südende des Marburger Kais steht das Oberlandesgericht Graz. An wenigen oberirdischen Stellen ist die alte Stadtmauer sichtbar: die Glacisstraße und der Stadtpark erinnern namentlich und räumlich an die Freifläche vor der Stadtfestung; im Pfauengarten und im Stadtpark ist je ein Mauerrest erhalten geblieben. Die Anlage der Ringstraße folgt ungefähr dem Verlauf des ehemaligen Wassergrabens; an einigen Ecken ist aus der Luft die Lage der ehemaligen Basteien zu sehen. Der Grazer Stadtpark, der den Großteil des alten Glacis bedeckt, ist der größte innerstädtische Grünraum. Neben zahlreichen Denkmälern befinden sich in ihm das Forum Stadtpark, die Halle für Kunst Steiermark, der Musikpavillon, der Stadtparkbrunnen und einige Naturdenkmäler. Im Jahr 1869 begann die Anlage des Parks, 1873 eröffnete sie Bürgermeister Moritz Ritter von Franck. Außerhalb des Stadtparks und auf dem Gebiet der Innenstadt wurde das 1899 eröffnete Opernhaus Graz errichtet. Brücken und Gewässerbezogenes Die Beschreibung der Grazer Brücken und Stege beschränkt sich auf jene, die den Murfluss überqueren oder in einem Fall auch nur begleitet. (Zu anderen Gewässern siehe auch: Grazer Mühlgang.) Zwei Seilfähren, zuletzt 1958, sind Geschichte; Personenschifffahrt gab es nur von 1888 bis zum Zerbrechen des Dampfschiffs Styria (vormals Kühbeck) 1889 an der Radetzkybrücke. Seit dem Kulturhauptstadtjahr 2003 ist eine bei niedrigem Wasserstand am Grund aufsitzende „Murinsel“, eigentlich ein Ponton-Steg, eine technische Kuriosität. Am linken Ufer etwa 70 m oberhalb der Keplerbrücke wurde Dezember 2016 der Pegel Graz mit einem interaktiven Bildschirm ausgestattet. Die Stadt veröffentlicht Pegelstände der Grazer Bäche insbesondere zur Beobachtung von Hochwassergefahr. Historisch zweimal gab es die Idee, entlang und über dem Fluss eine Seilbahn für Personentransport zu bauen. An der nördlichen Gemeindegrenze zu Gratkorn überquert die A9 Pyhrnautobahn die Mur. Etwa zwei Kilometer flussabwärts staut das Kraftwerk Weinzödl (seit 1982 in Betrieb) und speist rechts den Mühlgang. 500 m weiter quert die 1922 eröffnete und unter Denkmalschutz stehende, schmale Weinzöttlbrücke – aus Beton, mit einem Anschlussgleis in der Fahrbahn, ursprünglich mit Gasleuchten. Es folgen der Pongratz-Moore-Steg und die 1989/90 erbaute Kalvarienbrücke mit einem aufragenden, blauen Dreiecksrahmen aus Stahl zwischen den Tragwerken. Rechtsufrig an der Kalvarienbrücke am Haus Kalvariengürtel 1 (Ecke Floßlendstraße) findet sich an der westseitigen Fassade die Putzmalerei Floßlend um 1870 von Toni Hafner aus 1969, darstellend ein Floß aus mit Ketten verzurrten Holzstämmen mit einem Seil zu einem Poller am Ufer, dahinter (flussaufwärts) eine frühere Holzbrücke aus zumindest fünf Bögen. Linksufrig 700 m oberhalb der Kalvarienbrücke (nur wenig unterhalb der rechtsufrigen Kalvarienkirche) und 1 m östlich des uferbegleitenden Rad-Gehwegs () weist eine Stele (zwischen hohen Büschen) auf die ehemals hier 1934–1958 betriebene hölzerne Seilfähre „Überfuhr“ hin. An der linken Uferböschung sind hier noch sechs Betonstufen mit vier Eisenverankerungen als Relikte zu sehen, am rechten Ufer weniger. Laut Beschriftung hat zuvor von „1864 bis zum Hochwasser 1873/74“ etwa 200 m unterhalb eine andere Überfuhr bestanden. Die nordwestlich des Schlossbergs gelegene Ferdinandsbrücke, benannt nach Kaiser Ferdinand I., war die erste Kettenbrücke der Steiermark und die größte Österreichs, ab Herbst 1833 vom Pächter der Überfuhr, Franz Strohmayer, erbaut nach den Plänen des Wiener Architekten Johann Jäckl, eingeweiht am 19. April 1836 von Fürstbischof Roman Sebastian Zängerle. Sie wurde 1920 in Keplerbrücke umbenannt, zu Ehren von Johannes Kepler, der hier sechs Jahre lebte und forschte. 1963 erfolgte ein Brückenneubau mit Stahlträgern, dessen unterwasserseitiger Gehsteig um 1993 für Radfahrer geöffnet und auf Kosten der Fahrbahn verbreitert wurde. 2006 wurde die stark genutzte Route für Rad- und Fußverkehr entlang des linken Ufers hier kreuzungsfrei durch das längste Grazer Brückenbauwerk unterführt und nach einer der ersten Grazer Radfahrerinnen Elise-Steininger-Steg benannt. Die Stahlträgerelemente sind mit Epoxidharz-Quarzsand rutschfest beschichtet. Eines der Elemente der Südrampe ist waagerecht, so dass Rollstuhlfahrer und Fußgänger pausieren können. Die Elemente weisen jedoch bis zu 30 mm breite Dehnfugen auf. Die in der unübersichtlichen Nord-Kurve noch breiter geratene Fuge wurde durch ein rutschig glattes NiRo-Blech abgedeckt, später durch ein geriffeltes ersetzt, der stoßende Buckel bleibt. Das NiRo-Geländer mit senkrechten Streben weist einen Handlauf mit laserscharf geschnittenen Halterungen auf, die die Haut von Fingern zerschneiden. Flussabwärts liegt die Murinsel. Die als Sehenswürdigkeit beliebte und teilweise überdachte „Insel“ ist eigentlich eine Pontonbrücke aus Stahl mit einem großen ovalen Schwimmkörper, der bei Niedrigwasser auf Kufen am Grund aufsitzt. Damit auch in diesem Fall die „Insel“ ganz von Wasser umgeben ist, wurde etwas unterhalb eine kleine Sohlschwelle quer über den ganzen Fluss errichtet. Vom rechten Ufer führt ein geschwungener Steg zum Bug des Schwimmkörpers, der – länglich-oval, in Flussmitte – oben an einem Stahlseil hängt, das im Fluss verankert ist und etwa jährlich von einem Taucher überprüft wird. Vom Heck führt ein gegenläufig geschwungener Steg zum linken Ufer. In Flussachse gesehen laufen die Stege bei Niedrigwasser V-förmig zur Flussmitte nach unten. Der Schwimmkörper hebt sich mit Hochwasser, im Extremfall höher als die Brückenköpfe der Stege an den Ufern. Der Querschub der Stege verdreht dabei die Insel etwas um die Hochachse. Die Stege sind per Treppen, links auch per Lift, von rechts auch per Rampe erreichbar und als Fußweg beschildert. Knapp danach – in der Verlängerung des Schlossbergplatzes – folgt der Erich-Edegger-Steg. Dieser Rad-Fuß-Steg wurde 2003 nach dem Kommunalpolitiker und Kämpfer für sanfte Mobilität benannt und erhielt erst um 2010 ausreichende Schwingungstilger und wurde 2020 generalsaniert. Dann kommt die Erzherzog-Johann-Brücke (bis um 2013: Hauptbrücke). Die ehemalige Furt hier war die erste und über 400 Jahre einzige Grazer Murbrücke. 1843 errichtete die Stadt eine Kettenbrücke, die 1892 durch eine Eisenkonstruktion ersetzt wurde. 1918 wurde die Franz-Carl-Kettenbrücke in Hauptbrücke umbenannt. Ein schlichter Neubau der Hauptbrücke mit breiter Fahrbahn erfolgte 1964 noch mit der Absicht, eine Häuserzeile der engen Murgasse abzureißen und Kfz-Verkehr über den Hauptplatz zu führen. Die Figuren der Austria und Styria, die auf der Brücke standen, befinden sich im Stadtpark, Bronze-Verzierungen gelangten in Privathand und wurden um 2003 und 2014 wiederum der Stadt zum Kauf angeboten. Ein Bronze-Schmuckelement ist seit etwa 2003 am linken Ufer unter der Brücke ausgestellt, sowie eines aus Stein, das aus der Mur geborgen wurde. Hier wurde um 2002 eine Terrasse betoniert, von der unterwasserseitig eine markante Treppe bis nahe zum linken Brückenkopf hinaufführt, flussabwärts führt die als Gehweg mit Steinbänken ausgebaute Murpromenade. Die moderne Hauptbrücke wurde um 2006 generalsaniert: Die Geländer wurde aus NiRo-Stahl als sanft gewölbt profilierte Reling plus Drahtseilnetz ausgeführt, das mittlerweile voll von „Liebesschlössern“ hängt. Die Gehsteige wurden verbreitert, die Stufe des oberwasserseitigen auf 3 cm abgesenkt und die Straßenbahntrasse radfreundlicher entlang der südlichen Gehsteigkante parallel geführt. Erst um 2013 wurde die fast autofreie Brücke auf Erzherzog-Johann-Brücke umbenannt. An einer unterwasserseitig zwischen Mittelpfeiler und linkem Ufer durch Steinschlichtung erzeugten breiten Wasserwalze fand 2003 die Paddel-Rodeo-WM statt. 2018–2019 wurde das Murkraftwerk Graz in Puntigam und der Zentrale Speicherkanal (ZSK) (links) längs im Bett der Mur mit mehreren Speisekanälen quer unter der Mursohle etwa bis hinauf zur Tegetthoffbrücke gemeinsam gebaut. Eine Widerstandsbewegung von Murschützern, die Camps und Baumhäuser errichtete und eine Volksbefragung forderte, konnte sich nicht durchsetzen. Damit bei dem hier etwa um 5 m angehobenem Wasserstand die Mur für die Feuerwehr befahrbar bleibt, musste 2019 der Puchsteg aus etwa 1940 (zwischen Lager Liebenau und Puchwerk) abgerissen werden. Etwa 100 m oberhalb auf Höhe Sturzgasse wurde 2019/2020 ein neuer, überdachter Puchsteg errichtet. Radlobby Argus erreichte, dass gegenüber der Planung von 2,50 m die Fahrbahnbreite auf 3,50 m vergrößert gebaut wurde. Links unterhalb wurde eine Flachwasserzone mit zwei Betonpiers errichtet. In derselben Zeit wurde die Augartenbucht errichtet. Oberhalb des Augartenstegs wurde links ein kleiner Nebenarm geschaffen, die steile Uferböschung abgetragen und der Park hier etwa arenaförmig abgesenkt. Die Hauptradroute wurde verlegt, erfährt einen Knick und Umweg. Ab der Stauwurzel wird die Strömungsgeschwindigkeit reduziert, was Flussaufwärtspaddeln und Rudern erleichtert, doch zur Ablagerung von Sediment im Fluss führt. Im Herbst 2020 wurde mit dem Neubau des alten Bootshauses beim Marburgerkai begonnen. Statt auf Kosten der Kraftwerksleistung links des Kraftwerks Puntigam ist angedacht links unterhalb der Murinsel Gefälle zu nutzen, um Schießwasser mit einer Walze für Playboating zu erzeugen. Flussabwärts folgt die 1975 fertiggestellte Tegetthoffbrücke und die denkmalgeschützte Radetzkybrücke. Mit Unterstützung eines von der Gehradweg-(GRW)-Brücke abgehängten Seils wird seit etwa 2000 in der linken Flusshälfte bei passender Wasserführung in einer Walze sowohl auf Brettern gesurft als auch Playboating betrieben. Das 2017 baubegonnenes Murkraftwerk Puntigam wird diese Walze, wie auch die Stelle an der Erzherzog Johann-Brücke weiter oben stillstauen, schon Mitte Dezember 2017 wurde mit dem Errichten der Baustraße am linken Flussufer für den Zentralen Speicherkanal (ZSK) hinauf bis etwa zur Radetzkybrücke ein Bootsfahrverbot bis über das Bootshaus am Marburgerkai ausgedehnt, sodass das Weihnachtspaddeln des Kanu Clubs Graz (KCG) am 16. Dezember 2017 ab Kraftwerk Weinzödl erstmals schon vor der Erzherzog-Johann Brücke per Ausstieg am Murbeach endete. Darunter folgt die Augartenbrücke als letzte bestehende Betonbogenbrücke und der besonders aufwendig konstruierte Augartensteg für Fuß- und Radverkehr, der zur Kosteneinsparung 2003 ohne das von den Architekten für das linke Ufer geplante Anschlussbauwerk errichtet wurde. Das Tragwerk wurde als Ganzes am rechten Ufer auf Rollen gelagert, durch Kranzug unterstützt vorne von einem Schreitwerk über den Fluss gebracht. Nach Auflagerung auf die Brückenköpfe wurden die vier etwas schräg gestellten Bögen mittels zwei über der Flussmitte und jeweils rechts und links etwas unter der Fahrbahn liegenden auf stählerne Druckstreben wirkenden Hydraulikzylindern, die zuletzt per Schweißnaht fixiert wurden, in sich verspannt. Erst um 2010 wurde dieser Steg um eine Schotterwegachse Richtung Osten durch den Park ergänzt, auf der sogar Radverkehr erlaubt wurde. Nach dem auf den Augarten folgenden Augartenbad führt die erst (um) 1984 so benannte Berta-von-Suttner-Friedensbrücke über die Mur. Sie ist vierspurig, wird stark mit Kfz befahren und ist rechtsufrig mit einer Schleife und Unterführung kreuzungsfrei angeschlossen. Unterwasserseitig weist sie unter der Hauptfahrbahn mit Gehsteig einen Radweg auf, der sich am linken Ufer durch unfallträchtig schlechte Sichtbeziehung auszeichnet und am rechten Ufer durch fehlenden Radverkehrsanschluss flussaufwärts. Von Polizei und Straßenbehörde wird seit Jahrzehnten toleriert, dass hier auch der Großteil des Fußverkehrs abläuft. Nur eine Schrottplatzlänge (nahe dem linken Ufer) weiter und nach der Schneesturzstelle rechts quert die Eisenbahnbrücke der steirischen Ostbahn. Für Bootfahrer und Schwimmer – die Mur hat seit Jahrzehnten schon gute Badequalität – gefährlich im Bereich eines ehemaligen Mittelpfeilers aufragende Stahlprofile wurden um 2009 von der Feuerwehr entfernt. Etwa 1 km flussabwärts führt der für die Öffentlichkeit gesperrte Rohrsteg der Steweag/Steg zwei isolierte Fernwärmerohre plus Hochspannungskabel vom 1963 in Betrieb gegangenen Fernheizkraftwerk (Puchstraße) die Mur. Fast 1 km weiter und etwas südlich der Sturzgasse lief der Puchsteg über den Fluss. Mit Trägern und Geländer aus Stahl, beides holzbeplankt, wurde er wohl 1942/1943 für die Zwangsarbeiter des 1940 entstandenen Lagers V zum schnelleren Erreichen des westlich der Mur gelegenen Puchwerks errichtet, obwohl er als „erbaut 1949“ beschildert war. Er wurde 1949 für die öffentliche Benutzung nach einer Generalüberholung freigegeben und um 2013 als Fußgänger- und Radfahrerbrücke saniert. Der Steg war etwa 75 m lang, die Mur hier bei Mittelwasser etwa 45 m breit, die Brückenköpfe wurden durch in der Draufsicht U- bis trapezförmige Eisenbetonfundamentmauern und kurze Straßenrampen mit 10–15 % Steigung gebildet. Die zwei Pfeiler aus lackierten Stahlgitterstützen standen im Wasser, waren fast zweidimensional-trapezförmig – aus Sicht der Wasseranströmung wenige Dezimeter schmal, aus Sicht der Stegachse oben so breit wie der Steg – etwa 2,5 m, unten im Wasser etwa 10 m breit. An der oberwasserseitigen, schrägen Stirnkante und einem Teil der Seiten trugen die Pfeiler Holzverplankungen als Schutz vor direktem Stoß und Verhaken von eventuellem Treibgut, Eis im Winter oder Bäumen bei Hochwasser. 2017 wurde bis 15. März der Baumbewuchs beider Ufer auf einer Strecke um den Puchsteg gerodet um ein weiteres Murkraftwerk auf Höhe Olympiawiese zu errichten. Bis Dezember 2017 wurde am linken Ufer flussaufwärts bis etwa zur Radetzkybrücke die Baustraße für den Zentralen Speicherkanal im Wasser errichtet, dazu auch eine mit 90 t belastbare Brücke bis in Flussmitte etwas unterhalb der Radetzkybrücke. In diesem Zusammenhang wurde der Puchsteg im Juni 2019 abgerissen. Die ursprünglich für den Sommer 2019 geplante Eröffnung eines neuen Steges über die Mur musste wegen Verzögerung bei den Nutzungsvereinbarungen der dafür erforderlichen Grundstücke verschoben werden und wurde schließlich am 10. Juli 2020 vorgenommen. Allerdings ist der Nutzungsvertrag mit dem Eigentümer der Seifenfabrik vorläufig auf fünf Jahre befristet. Das Kraftwerk bietet seit 2021 einen weiteren Übergang für Fußgänger und Radfahrer, legt am linken Ufer die Radroute jedoch auf einen etwas vom Fluss entfernten Umweg. Der oberhalb des geplanten Kraftwerkorts liegende Puchsteg lag für eine geforderte Unterfahrbarkeit mit Feuerwehrbooten in Bezug auf die Stauhöhe zu niedrig, daher musste er abgetragen werden. Der Neubau befindet sich um etwa 220 m weiter nördlich in der Flucht der Sturzgasse und wurde deutlich angehoben, wodurch in Verbindung mit dem Murkraftwerk die flussquerenden Netzmaschen für Fuß- und Radverkehr in Zukunft in diesem Bereich etwas verdichtet werden. Es folgt die Puntigamer Brücke, eine vierspurige Straßenbrücke, die 1995/96 neu errichtet wurde und mit dem Südgürtel (Baustart 2014, Eröffnung am 19. Mai 2017) noch mehr Autoverkehr tragen wird. Südseitig ist sie mit Geh- und Radweg auf Niveau der Fahrbahn ausgestattet, getrennt von dieser durch eine abgestufte, orange verflieste Betonmauer. Bruckstücke des Vorgängerbaus liegen flussabwärts der Brücke, wo wilderes Wasser, Schwälle und an einer Stelle etwas rechts der Flussmitte sogar ein Kehrwasser auftritt. (Stand 2017, mit einer Räumung und Eintiefung für das Unterwasser des kommenden Kraftwerks ist zu rechnen.) Etwa 500 m südlich auf Höhe Auer-von-Welsbach-Gasse, an der ein Stadtgaswerk lag, führt der eiserne, ebenfalls holzbeplankte Gasrohrsteg (errichtet 1951) mit zwei Pfeilern für Radfahrer und Fußgänger über den Fluss, linksufrig, mit einer rechtwinkelig flussaufwärts abgeknickten Rampe an den Uferweg (GRW nur flussaufwärts) und die parallele Murfelderstraße angebunden. Am rechten Ufer endet hier die legale Möglichkeit zu skaten, eigentlich wäre ab hier nur Rollsteigen am Rand der gehsteiglosen Fahrbahn erlaubt. Hier liegt in etwa die Stauwurzel des erst 2012 in Betrieb gegangene Murkraftwerks Gössendorf. Die bald folgende Autobahnbrücke liegt schon knapp südlich der Stadtgrenze in Gössendorf bzw. Feldkirchen bei Graz, genau 1 km weiter das genannte Kraftwerk. Stadttore Von den insgesamt elf Grazer Stadttoren sind zwei erhalten geblieben: Das Burgtor als Abschnitt der Grazer Burg und das äußere Paulustor am Ende der Paulustorgasse. Während das Paulustor das einzig erhalten gebliebene Walltor des historischen Spätrenaissance-Befestigungsgürtels ist, der von Festungsbaumeister Domenico dell’Allio geplant worden war, ist das Burgtor weder der mittelalterlichen, noch der neuzeitlichen Stadtbefestigung zuzuordnen. Von der mittelalterlichen Mauer ist nichts mehr erhalten. Die beiden Murtore in der Murgasse wurden 1837 abgetragen, 1846 folgte das innere Paulustor in der Sporgasse, die drei Sacktore in der Sackstraße sind seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr vorhanden. Am Platz zum Eisernen Tor stand das gleichnamige Stadttor der Renaissance-Mauer. Es ähnelte, wie das Neutor 1884 als letztes der alten Tore abgebrochen, dem äußeren Paulustor. Am kürzesten bestand das Franzenstor an der Mündung der Burggasse in den Roseggergarten. Der 1835 errichtete Zierbogen wurde 1856 wieder entfernt. Die Abrisse der Grazer Stadttore wurden durch das erhöhte Verkehrsaufkommen und durch die gestiegene Bautätigkeit legitimiert. Nach der Schleifung der Festungswerke Mitte des 19. Jahrhunderts verloren sie ihre Schutzfunktion. Bis zum Anschluss Österreichs im März 1938 wurde an den Grazer Stadttoren ein Pflasterzoll erhoben (diese Maut war im 19. Jahrhundert fast überall in Europa abgeschafft worden). Sehenswürdigkeiten außerhalb der Altstadt Schloss Eggenberg Das Schloss Eggenberg und der Schlosspark sind mit jährlich mehr als einer Million Besuchern die meistfrequentierte Sehenswürdigkeit außerhalb der Grazer Innenstadt. Eggenberg gilt als die bedeutendste barocke Schlossanlage der Steiermark. Seine Geschichte reicht bis ins Mittelalter zurück. Ab 1625 wurde es im Auftrag Hans Ulrichs von Eggenberg (1568–1634) und unter der Leitung des Hofarchitekten Giovanni Pietro de Pomis zur repräsentativen Vierflügelanlage ausgebaut. Das Schloss war direkt über die Eggenberger Allee mit der Innenstadt verbunden; von der Prachtstraße sind nur mehr ein kleiner Abschnitt mit Alleebestand unmittelbar in Schlossnähe und ein Straßenname übrig geblieben. Schloss Eggenberg ist nach einer kosmischen Zahlensymbolik entworfen. Die vier Ecktürme stehen für die vier Himmelsrichtungen und die vier Elemente. Die Anlage besitzt 365 Außenfenster für die Tage eines Jahres. Im zweiten Stock, der Beletage, befinden sich 52 Außenfenster für die Wochen eines Jahres. Jedes Stockwerk im Haus hat 31 Räume für die maximale Anzahl der Tage eines Monats. Im zweiten Stock sind außen ringförmig 24 Prunkräume angeordnet, die die Stunden eines Tages symbolisieren. Das Konzept soll an die Gregorianische Kalenderreform von 1582 erinnern. Ein Zyklus von 24 Prunkräumen mit originaler Ausstattung aus dem 17. und 18. Jahrhundert gehört zu den bedeutendsten Ensembles historischer Innenräume Österreichs. Selten hat sich eine Raumausstattung von vergleichbarer Qualität so vollständig erhalten. Ihr Mittelpunkt ist der stuckverzierte Planetensaal mit dem Gemäldezyklus von Hans Adam Weissenkircher. Der öffentlich zugängliche Schlosspark wurde zusammen mit dem Schloss konzipiert. Im Verlauf der Geschichte wechselte er häufig sein Aussehen. Er ist einer der wenigen historischen Gärten Österreichs, die unter Denkmalschutz stehen. An der Nordecke befindet sich der seit 2000 neu angelegte Planetengarten. Im Schlosspark leben frei laufende Pfauen. Sakralbauten In Graz gibt es, wie in den meisten Städten im katholisch geprägten Österreich, zahlreiche Sakralbauten. Die ältesten Kirchen der Stadt sind die Leechkirche nahe der Universität Graz, die Stiegenkirche als Teil der historischen Paulsburg in der Sporgasse und die Rupertikirche in Straßgang. Die höchsten Kirchenbauten sind die neugotische aus Backstein erbaute Herz-Jesu-Kirche und die Franziskanerkirche – deren Turmunterteil einst Teil der Grazer Stadtmauer war. Die Herz-Jesu-Kirche ist mit 109,6 m die dritthöchste Kirche Österreichs und das höchste Gebäude von Graz. Im selben Bezirk befindet sich gegenüber dem LKH Graz die 1361 erstmals urkundlich erwähnte Pfarrkirche St. Leonhard. An dieser Stelle stand mit dem Meierhof Guntarn im Mittelalter die erste Grazer Siedlung außerhalb der Innenstadt. In Graz existieren zahlreiche Ordensniederlassungen, von denen viele im Zuge der Josephinischen Reformen von 1783 aufgelöst wurden. Es blieben hauptsächlich Klöster bestehen, die sich der Krankenpflege und der Bildung widmeten. In der Innenstadt hat sich seit dem 13. Jahrhundert ein Franziskanerkloster erhalten, am gegenüberliegenden Murufer liegt das Minoritenkloster mit der barocken Mariahilferkirche. In der Sackstraße, gegenüber dem Schloßbergsteig, befindet sich die Dreifaltigkeitskirche, bis 1900 die Kirche des ehemaligen Ursulinenkonvents. In der Paulustorgasse steht neben dem Volkskundemuseum die Antoniuskirche. Zu den größeren Anlagen auf Grazer Stadtgebiet gehören der Dominikanerkonvent in der Münzgrabenstraße, das Lazaristenkloster in der Mariengasse, und unmittelbar daneben das Kloster der Barmherzigen Schwestern. Die Barmherzigen Brüder unterhalten in Graz zwei Krankenhäuser: eines in der Marschallgasse (weiterer Ausbau ab 2019) und eines in Eggenberg. Frauenorden, die sich der Krankenpflege widmen, sind die Elisabethinen im Bezirk Gries und die Kreuzschwestern mit Konvent und Privatklinik in Geidorf. Im Schulbetrieb tätig sind die Ursulinen in der Leonhardstraße, die Schulschwestern am Fuße des Schloßberges und in Eggenberg, sowie Schule und Kloster des Sacré Coeur Graz. In Geidorf befindet sich die Grabenkirche als Klosterkirche der Ordensniederlassung der Kapuziner, die Erlöserkirche auf dem Gelände des LKH Graz und die Kirche Maria Schnee als Teil des Karmelitenklosters in der Grabenstraße. Neben dem Männerkloster steht als Pendant das Karmelitinnenkloster mit der Kirche zum Hl. Josef, deren erstes Konvent am ehemaligen Fischplatz (heute Andreas-Hofer-Platz) 1782 aufgelöst wurde, das Gebäude wurde 1934 abgebrochen. Neben der Kreuzschwesternkirche mit der Privatklinik ist in Geidorf mit der Salvatorkirche ein moderner Sakralbau erhalten. Der Grazer Kalvarienberg befindet sich im vierten Bezirk Lend. Die Anlage auf dem Austein wurde im 16. Jahrhundert gegründet und von den Jesuiten verwaltet. Besonders sehenswert sind die hochbarocke Kalvarienbergkirche mit der Heiligen Stiege und der Ecce-Homo-Bühne und die zahlreichen Kapellen. Im selben Bezirk sind außerdem die Barmherzigenkirche und die Marienkirche in der Nähe des Grazer Hauptbahnhofs erwähnenswert. In Gries stehen mit der Kirche St. Andrä, der Welschen Kirche am Griesplatz und der Bürgerspitalkirche bedeutende gotische und barocke Kirchenbauten. Neben der barocken Karlauerkirche und der Zentralfriedhofskirche im neugotischen Backsteinstil gibt es einige moderne Kirchenbauten: St. Lukas mit seiner ungewöhnlichen Innenausstattung, St. Johannes als Teil der Triestersiedlung, sowie Kirche und Pfarrzentrum Don Bosco, in deren Gebäude eine Mautstelle und ein Pulvermagazin untergebracht waren. Der Bezirk Jakomini ist vor allem durch den modernen Kirchenbau der Münzgrabenkirche und durch die Josefkirche geprägt. Ein sakrales Zentrum in Graz ist der Außenbezirk Mariatrost. Die Basilika Mariatrost, eine überregional bekannte und barocke Wallfahrtskirche auf dem Purberg, ist offiziell seit 1714 Ziel großer Pilgerströme. Verehrt wird eine wundertätige Marienstatue aus dem Stift Rein in Eisbach. Die Errichtung des Sakralbaus dauerte von 1714 bis 1779. Nach den Josephinischen Reformen wurden die Klostertrakte als Stallungen zweckentfremdet. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts nahmen die Franziskaner die Wallfahrtstradition bis 1996 wieder auf. Im selben Jahr ernannte Papst Johannes Paul II. Mariatrost zur Basilica minor. 1968 kam es in der Wallfahrtskirche zur Veröffentlichung der Mariatroster Erklärung. Neben der Basilika Mariatrost befinden sich zwei weitere Sakralbauten im Stadtbezirk: zum einen die Mariagrüner Kirche, die als bedeutendste kirchliche Stiftung eines Bürgers der Stadt Graz gilt. Louis Bonaparte, ein Bruder Napoleons, besuchte auf seinen Spaziergängen oftmals den Kirchenbau. 1873 heiratete der steirische Schriftsteller Peter Rosegger seine erste Frau in der Mariagrüner Kirche. Zum anderen die moderne Maria Verkündigungskirche in Kroisbach, die, in eine Wohnsiedlung integriert, 1974 geweiht wurde. Im Stadtbezirk St. Peter steht weithin sichtbar die Pfarrkirche St. Peter. Im Nordosten von Graz kann man die Kirche St. Ulrich samt dazugehörigem Quellheiligtum, die Pfarrkirche St. Veit und die Kirche Heilige Familie in Andritz besichtigen. In zwei Stadtbezirken gibt es jeweils einen Sakralbau: St. Paul in der Eisteichsiedlung in Waltendorf und die Bruder-Klaus-Kirche nahe der Satelliten-Stadt am Berliner Ring in der Ragnitz. Am rechten Murufer sind in den Bezirken Gösting und Eggenberg die Kirche St. Anna, die Schlosskirche des Schlosses Eggenberg, der Vierzehn-Nothelfer-Kirche, die moderne Schutzengelkirche, die Vinzenzkirche und auf einem Bergkamm in Wetzelsdorf die Kirche St. Johann und Paul zu sehen. Im südlichen Stadtteil Straßgang befinden sich mit der Kirche Maria im Elend, der Schlosskirche St. Martin, der etwas entlegenen Florianikirche auf dem Florianiberg, der Elisabethkirche und der erwähnten Rupertikirche weitere Grazer Sakralbauten. Im jüngsten Grazer Bezirk Puntigam gibt es die 1967 erbaute Pfarrkirche St. Leopold und die Anstaltskirche des Standorts Süd im LKH Graz Süd-West. Die Heilandskirche, in der Nähe des Grazer Opernhauses gelegen, ist die größte evangelische Kirche der Stadt Graz. Der heute bestehende Bau wurde im historistischen Stil ab 1853 errichtet, nachdem sich an dieser Stelle seit 1824 ein evangelisches Bethaus befunden hatte. Er ist Teil eines Gebäudekomplexes mit Pfarrgebäuden und dem Martin-Luther-Haus. Zur evangelischen Konfession zählen auch die Kreuzkirche am Rande des Volksgartens, deren Pfarrheim das Mühl-Schlössl ist, die Christuskirche in Eggenberg, die Evangelische Johanneskirche in Andritz und die Erlöserkirche in Liebenau. Neben den katholischen und evangelischen Kirchenbauten findet man in Graz in der Kernstockgasse die altkatholische Kirche, in der Wiener Straße die koptische Kirche und über das Stadtgebiet verstreut Zentren diverser Konfessionen, darunter in Eggenberg ein Gemeindehaus der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen). Graz besitzt auch eine Synagoge. Die alte Grazer Synagoge wurde im Jahr 1892 errichtet und gehörte zur jüdischen Gemeinde mit ihren 2500 Mitgliedern. Sie war ein Nachfolgebau der Synagoge im ehemaligen Judenviertel in der Grazer Innenstadt. In der sogenannten Reichskristallnacht vom 9. zum 10. November 1938 wurde das Gebetshaus niedergebrannt und das gesamte Areal eingeebnet, um die Erinnerung an die Synagoge auszulöschen. Sämtliche Grazer Juden wurden nach Wien deportiert und Graz zur ersten „judenfreien“ Großstadt der Ostmark erklärt. Bis ins Jahr 1998 befand sich an der Stelle der zerstörten Synagoge nur eine Rasenfläche mit einem Gedenkstein. Unter Verwendung des alten Ziegelwerks wurde die neue Grazer Synagoge nebst Gemeindehaus 1998 erbaut. Im August 2020 wurden an beiden Gebäuden propalästinensische Schmierereien angebracht und Fenster eingeworfen. Der Gemeindepräsident wurde mit einem Baseballschläger attackiert. Profanbauten Am nördlichen Grazer Stadtrand befindet sich die Burgruine Gösting, eine Ruine mit sehr gutem Überblick, von der aus das Murtal nördlich von Graz einst kontrolliert wurde. An jener Stelle befand sich im 10. und 11. Jahrhundert eine Vorgängeranlage auf dem Frauenkogel, deren Reste wie die Burg denkmalgeschützt sind. Die Burg Gösting selbst ist im 12. Jahrhundert datiert und war Teil eines Kreidfeuer-Warnsystems, das die Bevölkerung vor Bedrohungen warnen sollte. 1723 wurde die Burg durch Blitzschlag zerstört, heute ist die Ruine ein Ausflugsziel. Nach der Zerstörung erbauten die Grafen Attems als neuen Sitz das Barockschloss Gösting. Der größte Jugendstilbaukomplex Österreichs liegt im Osten der Stadt, das LKH-Universitätsklinikum Graz. Es „galt damals als das modernste Krankenhaus des Kontinents und wurde vielfach sogar als Weltwunder bezeichnet“. Die relativ weite Entfernung vom Stadtzentrum erregte jedoch den Unmut der Grazer Bürgerschaft. Der Gebäudekomplex ist durch ein unterirdisches Tunnelsystem verbunden. Jede medizinische Abteilung besitzt ihr eigenes Gebäude. Im Laufe der Zeit wurden Modernisierungsmaßnahmen ausgeführt. In der Nähe des Krankenhauses findet man auch die Rettenbachklamm, eine ganzjährig begehbare Klamm im Stadtgebiet, das Naherholungsgebiet Leechwald, den künstlich angelegten Hilmteich mit einem Schlössl und die Hilmwarte. Außerhalb der Innenstadt sind relativ wenige Palais vorhanden, die meisten sind Eigentum der öffentlichen Hand. In St. Leonhard steht am Stadtparkrand das Palais Kees, ein Bauwerk des Spätklassizismus. Es beherbergte unter anderem das k.u.k. Korpskommando. Seit einer Renovierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird es als Studentenheim genutzt. Das Palais Meran, der ehemalige Stadtsitz Erzherzog Johanns, findet seit 1963 als Hauptgebäude der Grazer Kunstuniversität Verwendung. Die Elisabethstraße ist mit zahlreichen Palais und Villenanlagen eine der Grazer Prachtstraßen aus der Gründerzeit. Zu erwähnen sind die Palais Apfaltrern, Auersperg, Kottulinsky, Kübeck und Prokesch-Osten und die Meranhäuser. In den Räumlichkeiten des Palais Mayr-Melnhof ist das Grazer Literaturhaus untergebracht. Etwas stadtauswärts liegen (in Auswahl) die Villen Kollmann und Lazarini. Das Geidorfer Villenviertel erstreckt sich von der Elisabethstraße über die Leechgasse bis zur Schubertstraße. Das Palais Thinnfeld im Bezirk Lend ist direkt das Grazer Kunsthaus angeschlossen. Eine Besonderheit am Palais Wertl von Wertlsberg ist sein schlossähnlicher Charakter, der durch zwei polygonale Ecktürme und einen Eck-Erker erzielt wird. Am Eingang zur Dominikanergasse steht mit dem Palais Gleispach das einzige Palais im Bezirk Gries. In allen anderen Grazer Stadtbezirken existieren keine Palais, sondern Schlösser und Edelhöfe. Da Graz während der Monarchie ein beliebter Sitz von Adeligen und höheren Beamten war, findet man auf dem Stadtgebiet viele Schlösser und Palais. Neben den zahlreichen Innenstadtpalais sind es vor allem Schlösser und Edelhöfe die das Grazer Erscheinungsbild in den Randbereichen prägen. Neben dem Schloss Eggenberg mit seiner Parkanlage, dem Barockschloss Gösting und der Grazer Burg sind einige Bauten erwähnenswert. Inmitten von Geidorf steht das Meerscheinschlössl, ein barocker Bau mit ehemals weitläufigem Park. Das Hallerschloss und das Schloss Lustbühel mit integriertem Kindergarten liegen in Waltendorf. Im ehemaligen Schloss Liebenau war eine Kadettenschule untergebracht, seit den 1970er Jahren befindet sich in den Räumlichkeiten das HIB Liebenau. Zu den innerstädtischen Schlössern zählen das Messe-Schlössl, das Metahof-Schlössl in Bahnhofsnähe, das Mühl-Schlössl beim Volksgarten oder das Tupay-Schlössl in der ehemaligen Schönau. In den Randbezirken stehen an prominenter Lage Schloss St. Martin und das St. Veiter Schlössl, etwas verborgen Schloss Algersdorf, Schloss Reinthal, Schloss Moosbrunn oder Schloss Kroisbach. Neben den Grazer Schlössern gibt es einige erhaltene Edelhöfe, also Ansitze, die häufig von Steuern befreit waren und als Gutsbetrieb geführt wurden. Ein Beispiel ist der Weisseneggerhof am Esperantoplatz. Die meisten Anlagen befinden sich in Privatbesitz. Eine Besonderheit ist das ehemalige Jagdschloss Karlau. Es war in das ursprüngliche Gebiet der Karl-Au eingebettet und von einem Tiergarten und dem kaiserlichen Jagdgebiet umgeben. Im Tiergarten wurden neben Wassergeflügel und Rotwild auch Falken, Reiher und Fasanen gezüchtet, in den Mur-Auen ausgesetzt und bejagt. Noch heute erinnern etliche Straßennamen (Tiergartenweg, Rebhuhnweg, Reiherstadlgasse, Falkenturmgasse, Fasangartengasse, Auf der Tändelwiese) in der Umgebung an Tiergarten und Jagdgebiet. „Tändel“ zum Beispiel ist eine alte Bezeichnung für Rotwild. Im Laufe seiner Geschichte nutzte man das Schloss als Kriegsgefangenenhaus, ab 1769 als Arbeitshaus, bis 1803 die Einrichtung zum Provinzialstrafhaus erfolgte. Nach vielen Aus- und Umbauten ist vom Schloss nur mehr der Kern der Justizanstalt Graz-Karlau erhalten geblieben. Denkmäler und Brunnen Graz besitzt eine Fülle an Denkmälern. Die prominentesten (in Auswahl): die Mariensäulen (1666–1670) am Eisernen Tor, am Karlauplatz (1762) und am Marienplatz (1680), die Pestsäulen am Karmeliterplatz (1680), Lendplatz (1680) und Griesplatz (1680), die als Votivsäulen nach Pestepidemien oder Feindinvasionen von der Bürgerschaft gestiftet wurden. das Pestdenkmal „Am Damm“, ein Denkmal in Kapellenform von 1680. Die verstärkte Errichtung solcher Pestsäulen und -denkmäler um das Jahr 1680 entsprang der Dankbarkeit wegen des Endes einer Pestepidemie in Graz, die mit über 3.500 Todesopfern ungefähr ein Fünftel der Stadtbevölkerung das Leben kostete. Der Erzherzog-Johann-Brunnen (1878) am Hauptplatz mit einem überlebensgroßen Bronze-Standbild des Erzherzogs Johann und den allegorischen Darstellungen der vier Flüsse Mur, Enns, Drau und Sann wurde von Franz Pönninger entworfen und am 8. September 1878 enthüllt. An den vier Ecken sind Brunnenschalen eingefasst. Die Sockel sind mit allegorischen Bronzereliefs verziert. Ursprünglich sollte der Brunnen im Joanneumsgarten oder am Eisernen Tor aufgestellt werden. Das Erscheinungsbild einiger Grazer Plätze und Parks ist durch Brunnen geprägt. Das Major-Hackher-Denkmal („Hackher-Löwe“, 1909) am Schloßberg ist dem gleichnamigen Oberst gewidmet, der 1809 den Schloßberg erfolgreich gegen die Truppen Napoleons verteidigte. 1909 schuf Otto Jarl zum hundertjährigen Gedenken die erste Löwenplastik, die nach ihrer Einschmelzung 1943 erst 1966 durch eine Bronzeplastik Wilhelm Gössers ersetzt wurde. Einige Plätze der Grazer Innenstadt sind mit exponierten Persönlichkeitsdenkmälern versehen. Das überlebensgroße Denkmal Kaiser Franz I. (1838/41) steht auf dem Freiheitsplatz, eine Bronzebüste Josephs II. (1887) am Opernring, das Persönlichkeitsdenkmal Peter Roseggers von Wilhelm Gösser und der Rosariumbrunnen befinden sich im Roseggergarten. Im Stadtpark, auf dem Schloßberg und in Opernnähe sind zahlreiche Denkmäler und Büsten aufgestellt, wie das Welden-Denkmal. In der Nähe des Stadtparkbrunnens (1873), der für die Wiener Weltausstellung gefertigt wurde, am Platz der Menschenrechte stehen die Bronzefiguren der Austria und Styria von Hans Brandstätter, die sich auf der ehemaligen Hauptbrücke (gegenwärtig: Erzherzog-Johann-Brücke) befanden. Ebenfalls im Stadtpark steht das Moritz-Ritter-von-Franck-Denkmal. Das Denkmal des Admirals Wilhelm von Tegetthoff steht auf dem Tegetthoffplatz, das Maria-Grüner-Denkmal, eine Säule mit bekrönender Terrakotta-Vase und Versen von Louis Bonaparte, Castelli und Anastasius Grün, befindet sich in unmittelbarer Nähe zur Mariagrüner Kirche. Sonstiges Auf Teilen des ehemaligen Glacis gründete der Grazer Bürgermeister Moritz Ritter von Franck einen großen Park, der heute den Stadtpark bildet. Am Südrand des Stadtparks liegt das Opernhaus Graz, das zweitgrößte Opernhaus Österreichs, welches Ende des 19. Jahrhunderts wie viele andere Operntheater der Monarchie von den Wiener Architekten Fellner und Helmer erbaut wurde. Direkt neben dem Opernhaus steht eine moderne Stahlskulptur, das „Lichtschwert“. Am Westufer der Mur befinden sich moderne Gebäude, so das Kunsthaus, im Fluss liegt die Murinsel. Weitere wichtige Gebäude in den altstadtnahen Bezirken am Ostufer der Mur sind der Hauptbau der Karl-Franzens-Universität, der Technischen Universität und das Palais Meran, mit moderneren Zubauten verschiedener Epochen Sitz der Universität für Musik und darstellende Kunst, schließlich die Leechkirche, die älteste Kirche in Graz (1202). Unweit der Karl-Franzens-Universität liegt der Botanische Garten. Museen Universalmuseum Joanneum in Graz Das Universalmuseum Joanneum in der Steiermark ist nicht nur das älteste und – nach dem Kunsthistorischen Museum in Wien – das zweitgrößte Museum Österreichs, sondern seiner Vielfalt und des Umfanges der Sammlungsbestände wegen auch das bedeutendste unter den österreichischen Landesmuseen. Namensgeber des Museums ist Erzherzog Johann, der im Jahr 1811 seine privaten Sammlungen stiftete mit dem Auftrag, „das Lernen zu erleichtern und die Wissbegierde zu reizen“. Der Erzherzog legte besonderes Gewicht auf Technik und Naturwissenschaften. Die Idee zu einer naturwissenschaftlichen Lehranstalt stammte 1775 vom ehemaligen Jesuiten Leopold Biwald. Neben dem Unterhalt eines Lyzeums und den Ankauf des Lesliehofes, das fortan als Altes Joanneum bekannt war, war die Gründung eines Landesarchivs Primärziel von Erzherzog Johann. Seine Sammlertätigkeit ermöglichte dessen Eröffnung, der erste Joanneumsarchivar Josef Wartinger konnte eine erste Kurzgefasste Geschichte der Steiermark verfassen. Den Gründungsstatuten des Erzherzogs zufolge erfüllt das Universalmuseum Joanneum – gemäß der Idee des Sammelns, Forschens, Bewahrens und Vermittelns – nach wie vor die Aufgabe, ein umfassendes Bild der Entwicklungen von Natur, Geschichte, Kunst und Kultur in der Steiermark zu zeigen. Weitere Museen Die wichtigsten von sechzehn Ausstellungsorten in Graz: Die Alte Galerie im Schloss Eggenberg, die über bedeutende Bestände europäischer Kunst von der Romanik und Gotik über die deutsche und italienische Renaissance bis zu reich bestückten Kennerkabinetten des Barock verfügt. Die Neue Galerie umfasst bedeutende Sammlungen bildender Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Sie befindet sich seit 2011 im Joanneumsviertel, das mit den multimedialen Sammlungen sowie dem im März 2013 eröffneten Naturkundemuseum zwei weitere Museen beherbergt. Schloss Eggenberg, die bedeutendste barocke Schlossanlage der Steiermark, zählt mit seiner erhaltenen Ausstattung, dem weitläufigen Landschaftsgarten sowie mit den im Schloss untergebrachten Sammlungen (Alte Galerie, Münzkabinett und Archäologiemuseum) zu den wertvollsten Kulturgütern Österreichs. Außerhalb des renovierten Joanneumviertels befindet sich das als „Friendly Alien“ bekannte Kunsthaus. Die Paulustorgasse beherbergt das Volkskundemuseum die älteste und umfangreichste volkskundliche Sammlung der Steiermark. Das Landeszeughaus in der Herrengasse ist als Museum für Rüstungen und Waffen aus einem Arsenal hervorgegangen und mit zirka 32.000 Einzelstücken (im Originalzustand) die größte historische Waffensammlung der Welt. Kleinere Museen Stadtmuseum Graz im Palais Khuenburg und die Expositur Garnisonsmuseum auf dem Schloßberg mit historischer Apotheke Camera Austria im Kunsthaus Diözesanmuseum Literaturhaus Museum der Wahrnehmung Kindermuseum FRida&freD Tramwaymuseum Hans-Gross-Kriminalmuseum Hanns Schell Collection – Schloss- und Schlüsselmuseum (die umfangreichste Sammlung dieser Art auf der Welt) Johann Puch Museum Graz Kabinett physikalischer Kostbarkeiten am Physikinstitut der Uni Graz Robert-Stolz Museum, Färberplatz 1 Friedhöfe Ursprünglich wurden die Friedhöfe rund um die Kirchen angelegt. Das Bevölkerungswachstum erzwang ab dem 16. Jahrhundert die Anlage von Friedhöfen auch außerhalb der Stadtmauern. Kaiser Joseph II. erließ im Rahmen der Sanitätsreform 1782 ein generelles Verbot für innerstädtische Beisetzungen. In der Folge wurden die innerstädtischen Friedhöfe aufgelassen und neue außerhalb der Stadt angelegt. Die Grazer Friedhöfe sind alle im kirchlichen Besitz, ausgenommen der Urnenfriedhof, welcher der Stadt Graz (Grazer Bestattung) gehört, und der Jüdische Friedhof in Wetzelsdorf. Mit einem Alter von rund eintausend Jahren ist der an der südlichen Stadtgrenze gelegene Friedhof Feldkirchen bei Graz der älteste bestehende Friedhof, der von der „Grazer Bestattung“ zu den Grazer Friedhöfen gezählt wird. Er besitzt auch ein eigenes Beinhaus mit den Gebeinen von 1.767 Menschen aus Galizien und der Bukowina, welche 1936 nach Schleifung des Internierungslagers und des dazugehörenden Friedhofs im Bereich des heutigen Flughafens Graz-Thalerhof, hierher überführt worden sind. Architektur und Stadtentwicklung Überblick Das Stadtbild der inneren sechs Bezirke ist, wie für eine mitteleuropäische Stadt typisch, vor allem durch eher niedrige, gleichmäßige Verbauung sowie durch zahlreiche Sakralbauten geprägt. Die restlichen Bezirke von Graz sind ein Gemisch der Baustilen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Außerhalb der Altstadt lässt sich an den vorherrschenden Baustilen der Stadtteile die Epoche, in denen sie ihren größten Ausbau und Bevölkerungszuwachs erfuhren, erkennen. So werden die direkt an die Altstadt angrenzenden inneren fünf Stadtbezirke vom Baustil der Gründerzeit, dem Historismus charakterisiert. Ganze bisher vorstädtische Stadtviertel wurden mit mehrgeschoßigen Zinshäusern verbaut, die reichen Fassadenstuck aufweisen. Für die neu entstandene Klasse der Großindustriellen entstanden auch mehrere vornehme Villenviertel. In der Zwischenkriegszeit war die Bautätigkeit aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage gedämpft. Trotzdem gelang es der Stadt, einige Wohnsiedlungen und öffentliche Gebäude zu bauen. Die stärkste Veränderung des Stadtbildes fand in der Zeit zwischen 1950 und 1980 statt, da die vielen kriegszerstörten Häuser oft durch Hochhäuser ersetzt wurden und zugleich mit dem Bau von großen Hochhaussiedlungen in den Außenbezirken die Wohnungsnot bekämpft wurde. Außerdem wurden auch weite Teile der Außenbezirke mit einem „Teppich“ aus Einfamilienhäusern verbaut. Das Bauerbe des Historismus wurde nach dem Krieg vielfach als geschmacklos empfunden und bei vielen Häusern wurden (bei Renovierungen auch aus Kostengründen) die Stuckfassaden abgeschlagen, selbst wenn sie den Krieg unbeschädigt überstanden hatten. Das geschah vor allem in jenen Stadtteilen, die der Bombenkrieg stark in Mitleidenschaft gezogen hatte. In den Stadtteilen Geidorf und St. Leonhard, die den Bombenkrieg fast unbeschädigt überstanden hatten, gibt es noch ganze Viertel mit Häusern deren Fassadenstuck intakt ist. 1972 wurde die Altstadt unter Schutz gestellt, um den geplanten Abriss von ganzen Häuserzeilen zu verhindern. 1974 wurde ein Hochhausbauverbot für die gesamte Innenstadt erlassen, als Reaktion auf den oft unsensiblen Umgang der Investoren mit dem Stadtbild. Weiterhin wurden auch Teile der Außenbezirke als Grüngürtel unter Schutz gestellt, und die Bebauungsdichte im gesamten Stadtgebiet wurde drastisch gesenkt. Während die Unterschutzstellung der Altstadt und des Grüngürtels heutzutage als großer Erfolg gewertet werden, wurden das Hochhausverbot und die niedrige Bebauungsdichte inzwischen teilweise revidiert. Die Stadtplaner hatten das Problem der Zersiedlung erkannt; heute ist der Bau von Hochhäusern in mehreren Gebieten außerhalb der Altstadt und der Gründerzeitviertel wieder erlaubt. Mit dem Bau des Südgürtels (2014 bis 2017) ist mehrere Jahre viel Geld (> 100 Mio. Euro) in Strukturen für den Autoverkehr geflossen. Das relativ zentrumsnahe große Gelände der ehemaligen Brauerei Reininghaus im XIV. Bezirk Eggenberg wird von Investoren in den nächsten Jahren bebaut werden. Großer Bedarf an Wohnungen führt derzeit zur Bebauung von Baulücken und Ausbauten von bestehenden Häusern. Die Ansiedlung von jungen Wirtschaftstreibenden auch in Form von Co-Working-Space findet seit einigen Jahren insbesondere um Mariahilfergasse und Lendplatz statt. Moderne Architektur Die Geschichte der neueren modernen Architektur in der Steirischen Landeshauptstadt ist eng mit dem Begriff der Grazer Schule (nicht zu verwechseln mit der Grazer Schule der Philosophie) verbunden, die seit Ende der 1960er Jahre in Erscheinung tritt. „War sie eine Gruppe oder eine Szene, eine Bewegung oder Strömung? Fest steht, dass sie einige außergewöhnliche Bauwerke hinterlassen hat?“ „Das Phänomen der Grazer Schule ist in seinen Merkmalen so charakteristisch wie eigenständig, dass es in der Geschichte der Architektur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen unangreifbaren Platz einnimmt.“ (Zitat Friedrich Achleitner) „Bei der ursprünglichen Benennung bezeichnete der Begriff eine kleine, programmatisch homogene, an der Grazer Technischen Hochschule angesiedelte Gruppe… 1981 erfolgte allerdings eine Umetikettierung, eine Erweiterung dieses Begriffs auf sämtliche bemerkenswerte Architektur, die seit den 1960er Jahren von Grazer Architekten hervorgebracht worden war.“ Frühe international bekannte Protagonisten einer progressiven Architekturauffassung waren die Grazer TU-Absolventen Raimund Abraham und Friedrich St. Florian, gefolgt von Günther Domenig und Szyszkowitz + Kowalski. Eindeutig der „Grazer Schule“ zuzurechnen sind mehrheitlich Bauten außerhalb der Altstadt-Schutzzonen, wie z. B. der Speisesaal im Innenhof eines Klosters in Graz-Eggenberg (Domenig und Huth, 1973–77) „mit seiner frei geformten animalisch anmutenden Struktur aus Spritzbeton“ (Zitat: Friedrich Achleitner) und eine Reihe von Gebäuden im Bereich der Grazer Universitäten. Dazu zählen u. a. die Gewächshäuser von Volker Giencke, das RESOWI-Zentrum und der Erweiterungsbau (1994) für die Technische Universität Graz, von Günther Domenig. Ein weiteres Beispiel der ist die International Bilingual School in Graz-Eggenberg (1967) ebenfalls von Domenig und Huth. 2003 bestärkte Graz als Kulturhauptstadt Europas seinen Ruf mit mehreren neuen Bauten, darunter der Stadthalle von Klaus Kada, dem Kindermuseum, der Helmut-List-Halle, dem Kunsthaus von Peter Cook und Colin Fournier und der Murinsel von Vito Acconci. Letztere sind keine einheimischen Architekten und Künstler, ähneln in ihrer architektonischen Grundhaltung aber der Grazer Schule. 2007, zeitgleich mit der „Frog Queen“ der Künstlergruppe „Splitterwerk“, wurde das Wohnbauprojekt Rondo von Markus Pernthaler fertiggestellt und seit 2009 besitzt die Kunstuniversität mit dem sogenannten „Mumuth“ von Ben van Berkel einen modernen Veranstaltungsort. Weitere Highlights sind der Science Tower der in Entstehung befindlichen Smart City Graz, der Grazer Hauptbahnhof und das „MP09 Headquarter“, ein 2010 fertiggestelltes Gebäude von GS Architects. Beim Gebäude der Kunstuniversität Graz und den Neubauten auf dem Campus der MedUni Graz ging es weniger um die Form, als um die Wiedererkennbarkeit durch Konstruktion und Material der Fassade. Mit dem „Argos“ transportíerte die Pritzker-Preis-Trägerin Zaha Hadid beides, Form und Fassade, provokant in die Grazer Altstadt. Das technisch innovative Wohnungsprojekt zwischen Burg und der Oper entstand in der Baulücke des ehem. Kommod-Hauses und ist ein weiteres spektakuläres Bauwerk, das sich dem bestehenden Kontext entgegenstellt. Das Gebäude mit gestapelten „serviced apartments“ ist das Ergebnis eines internationalen, geladenen Wettbewerbs, an dem sich u. a. Dietmar Feichtinger und Coop Himmelb(l)au beteiligt hatten. Die Planungs- und Bauzeit betrug 17 Jahre und wurde von Protesten begleitet. „Das Gebäude sei ein Fremdkörper inmitten der Altstadt, so die Kritiker“. Einen wichtigen Beitrag zur modernen, bzw. zeitgenössischen Architektur leistet der 1998 gegründete gemeinnützige Verein Haus der Architektur (HDA), der im barocken Palais Thinnfeld neben dem Kunsthaus Graz untergebracht ist. Grünanlagen und Parks 70 Prozent der Stadtfläche von Graz werden von Grünflächen eingenommen, wobei die Gärten der zahlreichen Einfamilienhäuser einen großen Teil dieser Flächen ausmachen. Der Grüngürtel, der unter besonderem Schutz steht, nimmt den ganzen westlichen, nördlichen und östlichen Stadtrand ein. Es gibt zahlreiche Parkanlagen in Graz. Neben dem Stadtpark, dem größten Park in Graz, sind auch noch Volksgarten, Augarten, Schlosspark Eggenberg, Eustacchio Naturpark und Burggarten nennenswert. Auch der Schloßberg wurde nach der Schleifung der Burg im 19. Jahrhundert begrünt und dient seitdem als Erholungsraum. Gründerzeitliche Vorgärten Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts – der Gründerzeit – wurden in den damals ländlich geprägten Vororten Geidorf, Jakomini und St. Leonhard nach einem die Urbanität fördernden Gestaltungskonzept bei der Errichtung von Wohnhäusern Vorgärten als Bindeglied zwischen Haus und öffentlichem Raum angelegt. Schmiedeeiserne Zäune und Zierpflanzen, wie Flieder, Magnolien, Rosen und Hortensien zählten zu den wesentlichen Merkmalen dieser Visitenkarte der Hausbesitzer. Vorgärten besitzen einen historischen, kulturellen und ästhetischen Wert, sie vermitteln eine städtebaulich-räumliche Qualität und erfüllen auch eine nicht unwesentliche ökologische Funktion. Die im Auftrag der Grazer Stadtplanung vom Naturschutzbund Steiermark im Jahre 2003 erstellte Fotodokumentation ergibt die Anzahl von 800 gründerzeitlichen Vorgärten, die seit dem Jahre 2008, wie die Fassade des Gebäudes und der Innenhof, nach dem Grazer Altstadterhaltungsgesetz geschützt sind. Ausflugsziele Die Berge, die das Grazer Becken von Westen bis Nordosten umschließen (Buchkogel, Hohe Rannach, Leber, Lustbühel, die Platte, der Leechwald und der Plabutsch), ermöglichen Spaziergänge und Wanderungen mit Ausblicken auf die Stadt; zudem sind sie vom Zentrum aus leicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. Das im Jahr 2021 durchgeführte Sportjahr der Stadt Graz brachte mit den 7-Summits-Graz einen weiteren Höhepunkt des wunderbaren Graz hervor. Dabei gilt es die 7 wichtigsten Erhebungen in und direkt an Graz zu erwandern. Darüber hinaus gibt es ein immer dichter werdendes Netz von Mountainbike-Routen mit den Hauptgebieten Schöckl und Plabutsch. Das nordöstlich anschließende Grazer Bergland – das sich vom Grazer Hausberg Schöckl (1445 m) bis hin zum Hochlantsch (1720 m) erstreckt – erweitert diese Möglichkeiten nochmals um Klammen und Höhlen wie die Bärenschützklamm, die Kesselfallklamm oder die Lurgrotte. Für historisch Interessierte bieten sich Tagesausflüge zum Österreichischen Freilichtmuseum im rund 20 Kilometer nördlich der Stadt gelegenen Stübing oder beispielsweise zum Bundesgestüt Piber an, in dem die Lipizzaner für die Spanische Hofreitschule in Wien gezüchtet und dressiert werden. Im Großraum Graz stehen auch Kirchen, die österreichische Künstler neu gestaltet haben: in Bärnbach die Hundertwasserkirche (von Friedensreich Hundertwasser) und im Vorort Thal die St. Jakob-Kirche mit dem Zubau und der Ausstattung von Ernst Fuchs. In Bärnbach wurde ein Brunnen von Ernst Fuchs errichtet. Kultur Überblick Die Stadt Graz hat wegen ihrer Lage am Schnittpunkt europäischer Kulturen eine jahrhundertealte Tradition als internationales Kulturzentrum. Durch die Funktion als Hauptstadt Innerösterreichs ab 1379 gewann Graz größeren Einfluss im Alpen-Adria-Raum. Die romanischen und slawischen Einflüsse sind bis in die Gegenwart primär durch die Bauwerke der Altstadt sichtbar. 1993 fand in Graz der „Europäische Kulturmonat“ statt. Am 1. Dezember 1999 wurde Graz für seine Altstadt von der UNESCO in die Liste der Weltkulturerbe aufgenommen. 2003 war Graz Kulturhauptstadt Europas. Seit 2010 zählt das Barockschloss Eggenberg zum Weltkulturerbe. Veranstaltungsorte Zu den wichtigsten Grazer Veranstaltungsorten zählen seit 2002 die Stadthalle Graz auf dem Messegelände, die 11.030 Menschen Platz bietet, der Stephaniensaal im „Congress Graz“, die Helmut-List-Halle mit Platz für 2.400 Besucher, das Veranstaltungszentrum Seifenfabrik, 2003 in einer ehemaligen Seifenfabrik eröffnet. Eine der ältesten Spielstätten ist das Grazer Orpheum. Es gehört neben der Kasemattenbühne auf dem Schloßberg und dem Dom im Berg zu den sogenannten „Grazer Spielstätten“. Das Orpheum, die Geburtsstätte des Circus Roncalli, ist der 1950 errichtete Nachfolgebau des alten Grazer Varieté Orpheum, das zwischen 1899 und 1936 bestand. Der „Dom im Berg“ wurde für die Landesausstellung 2000 in den Schloßbergstollen errichtet und bietet 600 Personen Platz. Die Schloßbergbühne Kasematten ist eine überdachte Freilichtbühne, die zur Bestandszeit der Festung als Vorratskeller oder Kerker diente. Seit 2005 steht für Veranstaltungen die Alte Universität Graz in der Hofgasse zur Verfügung. Veranstaltungen und Festivals Der 1967 gegründete „Steirische Herbst“ ist ein internationales Mehrsparten-Festival für zeitgenössische Kunst; die „styriarte“ ist ein Musikfestival für Klassik und Barock, das „springfestival“ eine Veranstaltung für elektronische Kunst und Musik und das „Aufsteirern“ ein Fest der Volkskultur. Zu den wichtigsten Grazer Veranstaltungen gehört die Diagonale, ein jährlich stattfindendes Filmfestival, das Elevate Festival mit Schwerpunkt zeitgenössischer Musik, Kunst und politischen Diskurs, sowie La Strada, eine internationale Veranstaltungsreihe für Straßen- und Figurentheater. Seit 1987 wird in Graz der Grazer Kleinkunstvogel vergeben, ein Preis, der als ältestes deutschsprachiges „Sprungbrett“ für den Kabarett- und Kleinkunst-Nachwuchs gilt. Seit 1986 findet das Berg- und Abenteuerfilmfestival Graz statt. Einen gesellschaftlichen Höhepunkt des Jahres bildet, ähnlich wie in Wien der Opernball, seit 1999 die Opernredoute im Grazer Opernhaus. Film Die österreichische Filmproduktion ist auf Wien zentriert. In Graz entstanden 1919 die Kurzstummfilme (600 bis 800 Meter) Der Sprung in die Ehe mit Ernst Arnold als Hauptdarsteller und Die Zwangsjacke mit Sängern des Opernhauses Graz als Darsteller. Beide stammten von der Grazer „Alpin-Film“. Ebenfalls in Graz produzierte man die Filme Czaty, Die schöne Müllerin und Schwarze Augen. Alle drei Filme inszenierte Ludwig Loibner und wurden von der Mitropa-Musikfilm produziert. Besonderheit dieser Stummfilme war, dass es keine Zwischentitel gab, da stattdessen Sänger und Orchester den Film begleiteten, wozu Adolf Peter Balladen von Carl Loewe und Lieder von Franz Schubert bearbeitete. Problematisch war natürlich die Abstimmung von Orchester und Sänger auf die Geschwindigkeit des Films, weshalb abgesehen von der Premiere der Filme am 19. September 1921 keine weiteren Aufführungen belegt sind. Ebenfalls in der Steiermark stellte der Dokumentarfilmpionier Bruno Lötsch, Vater von Umweltschützer und Museumsdirektor Bernd Lötsch, seine ersten Aufnahmen für das ab 1920 erschienene „Steiermärkische Filmjournal“ her, eine Wochenschau im Grazer Kinovorprogramm. Im März 2004 wurde die CINESTYRIA laut Eigendefinition als eine regionale, nationale und internationale Schnittstelle für Filmförderung, Information, Service und Support steiermarkrelevanter Film- und TV-Projekte eingesetzt. Die verbesserte Kunst- und Nachwuchsförderung führte zu neuen Impulsen in der lokalen Filmszene. Die Nachwuchsfilmgruppe LOOM drehte 2005 in Graz ihren Kinofilm Jenseits (2006, Regie Stefan Müller, u. a. mit Andreas Vitásek), u. a. in den Bezirken Mariatrost, Liebenau und St. Leonhard. Zwei jüngere Fernsehproduktionen, die in Graz spielen und gedreht wurden, sind: Die Liebe hat das letzte Wort (2004, Regie Ariane Zeller, u. a. mit Günther Maria Halmer und Ruth Maria Kubitschek), sowie Die Ohrfeige (2005, Regie Johannes Fabrick, u. a. mit Alexander Lutz und Julia Stemberger). Auch der Handlungsort des dreifachen Gewinners des Österreichischen Filmpreises 2011 Die unabsichtliche Entführung der Frau Elfriede Ott ist Graz. Im Jahr 2014 wurde in Graz nach der Buchvorlage von Wolf Haas Das ewige Leben (Regie: Wolfgang Murnberger) gedreht. Musik Die bekannteste Grazer Band ist Opus mit dem Welthit Live Is Life aus dem Jahr 1985. Wilfried (Wilfried Scheutz) vertrat Österreich beim Eurovision Song Contest 1988 mit Lisa Mona Lisa. Mit dem bekanntesten österreichischen Popsänger Falco ist Graz durch dessen Ex-Ehefrau verbunden. In den Jahren 2004 und 2005 konnten die Bands Shiver und Rising Girl, deren Bandmitglieder aus Graz kommen, in der österreichischen Hitparade Platzierungen landen. Weitere Bands, die im regionalen Bereich sowie teilweise österreichweit und auch in Deutschland Beachtung finden, sind Binder & Krieglstein, Jerx, Antimaniax, The Staggers, Facelift und Red Lights Flash. Im Jahr 2002 formierte sich ein Orchester neu: Das Recreation – Großes Orchester Graz, welches oft auch in kleiner Besetzung auftritt. Auch die World Choir Games fanden einmal in Graz statt. Im Jahre 2015 wurde in Graz die Mundart-Band Granada gegründet, die vor allem durch den Titelsong des Films Planet Ottakring und ihr 2018 erschienenes Album Ge bitte! bekannt geworden ist. Literatur Die Literaturzeitschrift manuskripte erscheint seit 1960 in Graz, die Perspektive seit 1977 und die Lichtungen seit 1979. Wichtige Örtlichkeiten der Literaturszene sind das Forum Stadtpark und ist das Grazer Literaturhaus in der Elisabethstraße. Mit Graz verbunden sind der Schriftstellerverbände der Grazer Autorinnen Autorenversammlung und der Grazer Gruppe. Zeitgenössische Kunst Seit 2013 wird das Künstlerhaus – Halle für Kunst und Medien im Stadtpark vom unabhängig agierenden und gemeinnützigen „Kunstverein Medienturm im Künstlerhaus“ geleitet, mit dem Ziel, zeitgenössische internationale Kunst, sowie herausragende lokale Künstler einem breiten Publikum präsentieren zu können. Kunst im öffentlichen Raum Die auffälligsten Objekte sind das monumentale „Lichtschwert“ von Hartmut Skerbisch vor dem Opernhaus Graz und der „Uhrturmschatten“ von Markus Wilfling, ein dreidimensionales abstraktes Abbild des Originals auf dem Schloßberg, der in das Einkaufszentrum Seiersberg „entsorgt“ wurde. Innerhalb der Stadt befinden sich außerdem insgesamt 29 Kunstobjekte (Stand Juli 2023) von bekannten Künstlern, u. a. Werke von Manfred Erjautz, Jochen Gerz, Anna Jermolaewa, Joseph Kosuth, Brigitte Kowanz, Esther Stocker und Lois Weinberger. Ausführliche Information zu den Projekten und ihre Standorte werden vom Institut für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark zur Verfügung gestellt. Sport Der mit Abstand größte Grazer Sportverein ist die Sektion Graz des Österreichischen Alpenvereins mit etwas mehr als 22.900 Mitgliedern (Stand 31. Dezember 2022). Sie wurde 1870 gegründet und betreibt sieben Schutzhütten und zwei Aussichtswarten in Österreich. Mit dem SK Sturm und dem GAK, die sich über Jahrzehnte auf Augenhöhe duelliert haben, stellt die Stadt zwei der großen Traditionsvereine des österreichischen Fußballs. Während Sturm aktuell in der Fußball-Bundesliga spielt, musste der GAK 2012 Konkurs anmelden; der Nachfolgeverein GAK 1902 startete neu in der untersten Liga. Durch die Graz 99ers ist Graz in der höchsten Spielklasse der österreichischen Eishockeyliga vertreten, durch den ATSE Graz zudem auch in der steirischen Eliteliga. Im American Football sind die Graz Giants in der Austrian Football League aktiv. Auch der Laufsport ist unter den Bürgern der steirischen Landeshauptstadt sehr beliebt. Die Stadt bzw. die nähere Umgebung bieten eine Vielzahl an Trainingsmöglichkeiten. So bieten der Murradweg und die Naherholungszentren Leechwald (21,5 km Laufwege) und Platte beschilderte und vermessene Laufwege. Diese Wege sind auch unter Mountainbikern und Nordic-Walkern beliebt. Höhepunkte der Laufsaison sind der Graz-Marathon (Ende Oktober), der Grazer Volkslauf, welcher am 17. April 1983 erstmals ausgetragen wurde und somit der älteste Volkslauf Österreichs ist, weiterhin der Business-Lauf und der Frauenlauf und schließlich als Jahresabschluss der Grazer Silvesterlauf. Bekannt ist auch der sogenannte USI-Lauf oder Kleeblatt-Lauf, der einmal jährlich vom Sportinstitut der Grazer Universität abgehalten wird. Er wird jedes Jahr begleitet vom USI-Fest, das stets abends auf den Kleeblattlauf folgt und mit bis zu 25.000 Besuchern als das größte Studentenfest Europas gilt. Graz ist auch Zentrum des Orientierungslaufs mit drei ansässigen Klubs (Sportunion Schöckl Graz, OLC Graz und HSV Graz), die regelmäßig nationale, aber auch internationale Wettkämpfe veranstalten. Mit der Sportunion Triathlonverein Steiermark ist Österreichs größter Triathlonverein in Graz beheimatet. Rund um Graz gibt es zahlreiche Wanderwege, mit dem steirischen Mariazellerweg auch einen österreichischer Weitwanderweg. Weiters umrundet der Grazer Umland-Weg die Stadt. Die 7-Summits-Graz (Schlossberg, Lustbühel, Stephanienwarte, Fürstenstand, St. Johann und Paul, Rudolfswarte und Schöckl) bilden – entweder als Tagesausflüge oder als 7-Summits-Extrem als Eintagesevent Wandermöglichkeiten für alle Alters- und Leistungsgruppen. Internationale Aufmerksamkeit brachte das 1984–2007 insgesamt 24 Mal am Dienstag nach der Tour de France durchgeführte „Grazer Altstadtkriterium“, ein Radrennen mit kurviger Streckenführung durch die engen, auch steilen und gepflasterten Gassen der Grazer Altstadt, an dem internationale Spitzenradsportler wie Lance Armstrong oder Jan Ullrich teilnahmen. 2020 war ein Revival geplant; Coronavirus-Pandemie-bedingt wird am 12. September stattdessen ein Rennen auf einem 5,1 km langen Kurs am Flugplatz gefahren. Am 26. Juli 2022 fand die Neuauflage wieder durch das Burgtor statt, erstmals auch mit Handbikerennen. Das in Graz für indoors entwickelte Altbau(rad)kriterium führt um einen sehr beengten Rundkurs, typisch in einer Wohnung. Juli 2018 wird ein MTB-Rennen ab Freiheitsplatz starten. Einradfahren und Artistik wird von Kindern und Jugendlichen sommers in Kursen der Zirkusschulen gelernt. Als Spezialität wird auch Municycling und Rad-Trial betrieben. Von etwa 1964 bis etwa 1989 und etwa 2005 wurden Bergsprint-Radrennen auf den Grazer Schloßberg gefahren; seit 2015 wird hier ein ähnliches Bergeinzelzeitfahren, der Schlossbergman veranstaltet. Seit 2001 findet auch in Graz etwa im Sommerhalbjahr freitagabends, bei trockenen Witterungsverhältnissen, ein 20-km-Cityskating statt, bis 2016 ab Tummelplatz, seit 2017 ab OBI Baumarktparkplatz, Conrad-von-Hötzendorfstraße. Auf Marktplätzen und bei Einrichtungen wie Halfpipes treffen sich Skateboarder. Im Sommer bietet die Stadt zahlreiche Bade- und Schwimmmöglichkeiten. Die Freibäder der Grazer Freizeitbetriebe Augarten (Jakomini), Eggenberg, Margarethen (Geidorf), Stukitz (Andritz) und Straßgang werden jeden Sommer von Badegästen besucht. Auch die in Graz-Umgebung gelegenen Badeseen in Kumberg (Well-Welt), das Schwarzl-Freizeitzentrum in Premstätten und die Copacabana in Kalsdorf bei Graz ziehen jedes Jahr hauptsächlich Grazer Gäste an. In den Freizeitzentren, aber auch in den Freibädern, gibt es ein reichhaltiges Sportangebot (Beachvolleyball, -soccer, Paddle, Minigolf und so weiter). 2003 fand an einer Walze unter der Hauptbrücke die Paddel Rodeo WM statt. Mit dem Kraftwerksbau Graz Puntigam ab 2017 wird die Mur hinauf bis fast zur Murinsel aufgestaut und drei dieser mit natürlichem Wasserstrom über mit Baggern bei Niedrigwasser eingelegte Steinblöcke funktionierenden Wasserwalzen stillgelegt. Wärmer werdende Winter ließen in den letzten Jahren kaum mehr Natureis-Eislaufen auf dem Hilmteich, dem Teich im Volksgarten oder im Schatten des Kirchbergs in Mariatrost zu. Die einzige Kunsteisbahn befindet sich in der Liebenauer Eishalle. Als kostenlose Attraktion wenige Wochen um den Jahreswechsel wird in den letzten Jahren eine Kunsteisbahn, nun am Karmeliterplatz aufgebaut. Eislaufen und Eiskunstlaufen haben in Graz und in der Steiermark eine längere Tradition. So wurde der Steirische Eislaufverband mit dessen ersten Präsidenten Leo Scheu bereits 1923 gegründet. Zu Ehren von Scheu wird in Graz jährlich eine große Eislaufveranstaltung, die Icechallenge (das Leo Scheu Memorial) veranstaltet. Diese Veranstaltung mit jährlich bis zu 150 Sportlern wurde seit dem Jahr 1971 insgesamt bereits 35 Mal in der Liebenauer Eishalle durchgeführt. Der Steirische Eislaufverband konnte sportlich einige Erfolge verbuchen. In den letzten fünf Jahren wurde bei den Damen durch Karin Brandtstätter 2005, Kathrin Freudelsperger 2007 (beide vom Grazer Eislaufverein) und durch Denise Kögl 2008 (Eissportclub) insgesamt drei Österreichische Staatmeistertitel gewonnen. Zudem wurden mit Kathrin Freudelsperger 2007 und Denise Kögl 2008 erstmals steirische Einzelsportler im Eiskunstlaufen zu Weltmeisterschaften entsandt. Auch Ultimate Frisbee wird in Graz professionell gespielt. Drei österreichische Nationalspieler trainieren in Graz. Das österreichische Nationalteam wurde im Sommer 2004 in Portugal Weltmeister. Als bekannte Sportler, die aus Graz stammen, sind an oberster Stelle die Medaillengewinner bei Olympischen Spielen zu nennen: Harald Winkler (Gold, Viererbob 1992), Franz Brunner und Walter Reisp (Silber, Handball 1936), und Ine Schäffer (Bronze, Leichtathletik 1948) sowie Marion Kreiner (Bronze, Snowboard 2010). Die 11. Special Olympics World Winter Games fanden von 14. bis 25. März 2017 in Graz, Schladming und Ramsau statt. Es nahmen rund 2700 Athleten aus 107 Nationen teil. Hinzu kamen 5000 Angehörige und Trainer. Graz beherbergte die Hallenwettbewerbe und die Schlussfeier. Die Veranstaltungsorte in der Stadt waren die Stadt- und Messehalle Graz, das Eisstadion Liebenau und das Stadion Liebenau. Wirtschaft Graz hat durch seine günstige Lage im Südosten Österreichs eine wichtige Standort-Funktion für internationale wie nationale Unternehmen. Der Zentralraum Graz erwirtschaftet mehr als ein Drittel der industriellen Wertschöpfung des Bundeslandes Steiermark und bietet mehr als 40 % der steirischen Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz. Graz und die Steiermark sind Österreichs Innovationszentrum und Technologiefabrik, jede dritte High-Tech-Innovation in Österreich kommt aus dieser Region. 2003 arbeiteten in Graz 184.135 Personen in 10.692 Arbeitsstätten, rund 70 % davon im Dienstleistungssektor (besonders öffentlicher Dienst, Handel, Geld- und Versicherungswesen). Zum Vergleich: Im Jahr 2001 waren es noch 158.268 Personen. 2003 wurden 996 neue Grazer Unternehmen gegründet. Seit 1906 finden in Graz jährlich die Grazer Herbstmesse und zahlreiche Fachmessen im Messecenter Graz statt, bei denen häufig mehr als 200.000 Besucher registriert werden. Aufgrund der großen wirtschaftlichen Anziehungskraft der Stadt sind mehr als 75.000 der Arbeitnehmer Einpendler. Mehr als 40 % der gesamten steirischen Wirtschaftsleistung werden im Zentralraum Graz erwirtschaftet. Unternehmen und Wirtschaftsgeschichte Graz ist Sitz bedeutender, global wie national agierender Unternehmen und wichtigster Wirtschaftsstandort der Region und Südösterreichs. Zu den großen und bekannten Arbeitgebern zählen der Anlagenbauer Andritz AG, der Automobilhersteller Magna Steyr, ein vom Austro-Kanadier Frank Stronach gegründeter und international tätiger Konzern, der sich auf dem Gelände des ehemaligen Eurostar Automobilwerkes befindet. Das Vorgängerunternehmen war Steyr Daimler Puch. Die Fabriken der Puch-Werke in Thondorf wurden von Steyr adaptiert. Der Grazer Unternehmer Johann Puch hatte seine Fabrik 1899 in der Grazer Strauchergasse gegründet; das Werk wurde während des Zweiten Weltkrieges nach Thondorf verlegt, um für die Rüstungsindustrie produzieren zu können. Graz ist weltweit bekannt für hochspezialisierte, insbesondere im KMU-Bereich angesiedelte Unternehmen des Maschinenbaus und der Umwelttechnik. Das Schuhhandelshaus Stiefelkönig wurde 1919 in Graz gegründet. Die AVL List unter der Leitung von Helmut List sowie Anton Paar haben ihren Sitz in Graz, ebenso wie der Versicherungskonzern der Grazer Wechselseitigen und die Merkur Versicherung, zahlreiche Banken, sowie verschiedenste Mittel-, Klein- und Kleinstbetriebe aus Gewerbe und Industrie. In Puntigam befindet sich die gleichnamige Brauerei, die mittlerweile Teil des Heineken-Konzerns ist. Bis zu ihrer Stilllegung im Jahr 1947 gab es in Eggenberg die Brauerei Reininghaus. Das Reininghaus-Bier wird in Puntigam abgefüllt. Im Laufe der langen Geschichte entstanden viele historisch interessante Unternehmen auf dem Grazer Stadtgebiet. Ehemalige Grazer Unternehmen sind, in Auswahl, die Maschinen- und Motorenfabrikanten Simmering-Graz-Pauker, der Automobilhersteller Ditmar & Urban, der von 1924 bis 1925 bestand und nur ein Modell herstellte, die 1825 gegründete und Ende des 19. Jahrhunderts geschlossene Grazer Zuckerfabrik, die erste steirische Sektkellerei und Weingroßhandlung der Brüder Kleinoscheg oder die Hutfabrik Josef Pichler & Söhne. Westlich an der Südbahn waren Stahlhändler Kovac, heute ein Baumarktparkplatz und Shopping Nord, sowie Stahlbau Waagner-Biro, heute Helmut-List-Halle angesiedelt. Das Schrott schmelzende Elektrostahlwerk Marienhütte liefert noch heute Betonbewehrungsstahl und speist Abwärme ins Fernwärmenetz. Autocluster Der stark wachsende Autocluster Steiermark (oder „ACstyria“) ist ein Zusammenschluss von mehr als 180 steirischen Unternehmen, die in der Autozulieferindustrie tätig sind. Das Zentrum des Autoclusters ist Graz. Größtes Unternehmen und Leitbetrieb ist der Magna-Konzern. Im Autocluster arbeiteten im Jahr 2006 zirka 44.000 Menschen, die einen Umsatz von 9,6 Mrd. Euro und eine Wertschöpfung von 1,6 Mrd. Euro erwirtschafteten. KTM fertigt seinen Sportwagen X-Bow im neu erbauten Werk in Graz (Bezirk St. Peter). Darüber hinaus entwickeln sich innerhalb der Stadtgrenzen Branchen wie Nano- und Biotechnologie, Umwelttechnologie, Medizintechnik und Flugzeugbau in rasantem Tempo. Einkaufsstraßen und Shoppingzentren Graz ist eine überregionale Einkaufsstadt, deren Einzugsgebiet sich weit über die Stadtgrenzen und das Umland hinaus bis ins südliche Burgenland, nach Slowenien, Ungarn und Kroatien erstreckt. Eine beliebte Einkaufsstraße ist die Herrengasse in der Inneren Stadt. Die Annenstraße, welche vom Hauptplatz nach Westen Richtung Hauptbahnhof führt, war früher eine sehr belebte Einkaufsstraße. Sie hat mittlerweile, trotz einiger Revitalisierungsversuche, viel von ihrer einstigen Bedeutung verloren. Weitere Einkaufsstraßen sind die Sackstraße, wo viele kleine Galerien und Kunstgewerbegeschäfte zu finden sind, die Sporgasse sowie die Murgasse. Das Groß- bzw. „Alpenlandkaufhaus“ Kastner & Öhler, das älteste Grazer Kaufhaus, steht in der Sackstraße. In und um Graz gibt es eine Reihe von Einkaufszentren: Das „Shopping-Center West“ am Weblingergürtel, das Einkaufszentrum Murpark an der Liebenauer Tangente, den „Citypark“ am Lazarettgürtel sowie das Einkaufszentrum „Shopping Nord“ in Gösting, an der Kreuzung Wiener Straße – Autobahnzubringer Nord. In der Grazer Nachbargemeinde Seiersberg-Pirka liegt das größte Einkaufszentrum, die Shopping City Seiersberg. In Planung befindet sich ein Outletcenter in Puntigam. Seit der Eröffnung des „Shopping Nord“ im März 2008 weist Graz die höchste Dichte an Einkaufszentren in Österreich auf. Damit kommt auf jeden Einwohner der Stadt mindestens ein Quadratmeter Einkaufszentrum. Landwirtschaft Graz ist die größte Landwirtschaftsgemeinde der Steiermark. Etwa 7.600 Rinder, Schweine, Schafe, Hühner und sonstiges Geflügel sowie Ziegen und Zuchtwild werden in etwa 340 Betrieben im Stadtgebiet gehalten. Auf 14 verschiedenen Bauernmärkten bieten die Landwirte das ganze Jahr über Kulinarisches aus Eigenproduktion an. Die Märkte am Kaiser-Josef-Platz und am Lendplatz zählen zu den größten und ältesten Grazer Märkten. Von einem reichhaltigen Angebot an frischen Lebensmitteln aus biologischem Anbau profitiert auch die berühmte und stark expandierende Spitzengastronomie der Stadt. Infrastruktur Strom, Wasser, Wärme und Abfallentsorgung Graz besitzt eine ausgeprägte Fernwärmeversorgung mit einer Anschlussleistung von mehr als 500 MW. Im Winter wird die Wärme überwiegend aus Abwärme der Stromerzeugung genutzt, im Sommer stammt die Energie teils aus industrieller Abwärme und Gaskesseln. Graz beschreitet technologisch neue Wege: Thermische Solaranlagen mit mehreren Tausend Quadratmeter Kollektorfläche liefern mehrere Megawatt Wärme: auf dem Dach der Trainingshalle des Eisstadions Graz-Liebenau (direkt neben der Merkur Arena) mit 700 kW Leistung, auf der Siedlung Berliner Ring (1300 kW), beim Fernheizkraftwerk und auf den Dächern der städtischen AEVG (Abfall-Entsorgungs- und Verwertungs-GmbH, 3000 kW) und beim Wasserwerk der Graz AG (2000 kW). 2016 war „Big Solar“ geplant. Die Energie Steiermark wollte mit weiteren Unternehmen, den Anteil an solarer Fernwärme deutlich aufstocken. Dazu sollte ein Wärmekollektor-Solarpark auf (15–)45 ha Fläche und dazu ein Saison-Wärmespeicher errichtet werden. Circa 230 GWh/Jahr Wärme und damit etwa 20 % des Grazer Fernwärmebedarfes sollten so aufgebracht werden. Der Wasser-Wärmespeicher hätte als abgedeckter Teich ein Volumen von circa 1,8 Mio. Kubikmetern, die Kosten wurden auf 200 Mio. € geschätzt. Geothermie wurde 2014 noch nicht als konkurrenzfähig gesehen. Vor dem Hintergrund starker Erdgas- und Öllastigkeit der Fernwärmeaufbringung sieht eine 2021 von Stadt und Land beauftragte Studie nun Potenzial für die Nutzung von Erdwärme. Die Wasserversorgung in Graz stellen die Grazer Stadtwerke bereit. Die Wasserwerke in Friesach (in den Gemeinden Peggau und Gratkorn) und im Stadtbezirk Andritz fördern Grundwasser aus quartären Schotterfüllungen des Murtales. Die Quelle in St. Ilgen liegt am Berg Hochschwab. Das Verteilsystem in Graz hat eine Länge von 835 km; inklusive der etwa 30.000 Hausanschlüssen 1.273 km. Die Grazer Stadtwerke verfügen über 23 Trinkwasserhochbehälter mit einem Gesamtspeichervolumen von 34.742 m³. Die Abfallentsorgung in Graz wird seit 1984 von der AEVG wahrgenommen. Sie ist ein Unternehmen der Grazer Stadtwerke und der Stadt Graz. Jährlich entsorgt das Unternehmen zirka 135.000 t Müll, davon landen etwa 20.000 t auf einer Deponie. Der Betrieb trägt das Emas-Gütesiegel für geprüftes Umweltmanagement. Die Grazer Abwässer werden in einer Kläranlage in Gössendorf südlich der Stadt vollbiologisch gereinigt und nach insgesamt 20-stündiger Verweilzeit in Kanalnetz und Klärwerk der Mur zugeführt. Vor einem geplanten Ausbau ist die Anlage mit Stand 2018 auf 500.000 Einwohnerwerte ausgelegt. Die Länge des städtischen Kanalnetzes beträgt 858 km. Im Zug des Baus des Murkraftwerks Graz-Puntigam wurde um 2014/2016 am Grund der Mur nahe dem linken Ufer ein Speicherkanal zum Einspeichern bei Regen anschwellenden Abwassers gebaut. Gesundheitswesen Kliniken In Graz decken sieben Krankenhäuser, mehrere Privatkliniken/Sanatorien sowie über 40 Apotheken und zahlreiche niedergelassene Ärzte die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ab. Das LKH-Universitätsklinikum Graz ist ein Krankenhaus der Maximalversorgung mit über 1500 Betten und 7190 Mitarbeitern. Es deckt die Versorgung des östlichen Teils von Graz ab und ist Tertiärversorger für Patienten aus der gesamten Steiermark und umliegender Regionen. Das LKH Graz II hat in Graz zwei Standorte – den Standort Süd und den Standort West. Der Standort Süd ist eine öffentliche Sonderkrankenanstalt in Straßgang, hier werden Patienten mit psychischen, psychosomatischen und neurologischen Erkrankungen ambulant und stationär betreut. Für diese stehen 780 Betten zur Verfügung. Der Standort West befindet sich in Eggenberg und verfügt über 280 Betten und rund 500 Mitarbeiter. Das Unfallkrankenhaus der AUVA mit 180 Betten und rund 440 Mitarbeitern befindet sich in Eggenberg. Weiters bestehen im Grazer Westen das geriatrische Krankenhaus Albert Schweitzer Klinik in Gries mit über 300 Betten, das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder I in Lend mit etwa 220 Betten, das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder II in Eggenberg mit 260 Betten und das Krankenhaus der Elisabethinen in Gries mit rund 180 Betten. Es gibt in Graz einige Privatkliniken: die Privatklinik Kastanienhof, die Privatklinik Leech, die Privatklinik der Kreuzschwestern, das Sanatorium St. Leonhard, das Sanatorium Hansa und die Privatklinik Graz Ragnitz. Seit 2017 besteht das VinziDorf-Hospiz für Obdachlose. Rettungsdienst Den Rettungsdienst deckt in Graz das Österreichische Rote Kreuz mit zwei Notarzteinsatzfahrzeugen, zwei Notfallwagen (Jumbo) und mehr als 30 Rettungswagen (RTW) ab. Die „Jumbo“ genannten Notfallwagen sind eine Grazer Besonderheit und im österreichischen Rettungsdienst einmalig, da sie besetzt mit sogenannten Rettungsmedizinern des Medizinercorps (Ärzten oder Medizinstudenten kurz vor Studienabschluss) zwischen Rettungs- und Notarztwagen einzuordnen sind. Weiteres ist Graz der Standort der Landesleitstelle des steirischen Roten Kreuzes. Neben dem Roten Kreuz sorgen der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), die Malteser und das Grüne Kreuz für den Krankentransport. Zusätzlich ist am Flughafen Graz-Thalerhof der Christophorus Notarzthubschrauber C12 stationiert. In Graz gibt es einen Ärztenotdienst, der außerhalb der Praxisöffnungszeiten eine allgemeinmedizinische Versorgung in und um Graz bietet. Sicherheit Polizei Als Sicherheitsbehörde für die Stadt fungiert die Landespolizeidirektion Steiermark mit Sitz in der Straßganger Straße. Ihr beigegeben als Dienststelle des Wachkörpers für das Stadtgebiet mit 13 Polizeiinspektionen ist das Stadtpolizeikommando Graz. Stadtpolizeikommandant ist seit April 2022 Brigadier Thomas Heiland. Ordnungswache Als Ergänzung zur Polizei dient die städtische Ordnungswache. Sie dient der Überwachung der örtlichen Sicherheit, darf aber keine gerichtlich strafbaren Taten verfolgen und führt auch keine Überwachungstätigkeiten im Gebiet des Straßenverkehrs durch. Feuerwehr Wie fast alle anderen großen österreichischen Städte verfügt auch Graz über eine hauptberufliche Feuerwehr. Mit insgesamt drei Wachen in den Bezirken Lend, St. Leonhard und Puntigam wird die Stadt im Regeldienst durch die Berufsfeuerwehr abgedeckt, zusätzlich gibt es noch eine Feuerwache der Freiwilligen Feuerwehr Graz im Bezirk Mariatrost. Die Freiwillige Feuerwehr fungiert als Ergänzung zur Berufsfeuerwehr, die im Bedarfsfall alarmiert wird. Der Großteil der Fahrzeuge der Freiwilligen Feuerwehr ist im Sinne der Nutzung von Synergieeffekten in der Feuerwache Süd der Berufsfeuerwehr stationiert. Eine Besonderheit bildet die Feuerwache Mariatrost, die von der Berufsfeuerwehr aufgelassen und an die Freiwillige Feuerwehr übergeben wurde. Seitdem wird diese Wache ausschließlich von der Freiwilligen Feuerwehr besetzt, eine Lösung die steiermarkweit einmalig ist. Verkehr Der Binnenverkehr in Graz wird vor allem durch den motorisierten Individualverkehr geprägt, durch den knapp 42 % der Wege zurückgelegt werden. Der öffentliche Personennahverkehr erreicht rund 20 %, jeweils etwa 19 % werden mit dem Fahrrad und zu Fuß zurückgelegt. Der folgende Graph zeigt einen Vergleich der österreichischen Landeshauptstädte in sieben umwelt-relevanten Bereichen, welcher 2020 durch die Umweltorganisation Greenpeace durchgeführt wurde (je mehr Punkte umso besser): Verkehrsmittelwahl: Anzahl der Wege im Personenverkehr, die umweltfreundlich zu Fuß, per Rad oder mit öffentlichem Verkehr zurückgelegt werden. Luftqualität: Belastung mit Stickstoffdioxid und Feinstaub. Radverkehr: Länge des Radnetzes, Anzahl der City-Bikestationen, Anzahl der Verkehrsunfälle. Öffentlicher Verkehr: Preis, zeitliche und räumliche Abdeckung. Parkraum: Preis für das Parken, Anteil der Kurzparkzonen. Fußgänger: Flächen der Fußgängerzonen und der verkehrsberuhigten Zonen, Anzahl der Verkehrsunfälle. Auto-Alternativen: Anzahl Elektro-Autos, Anzahl der Elektro-Ladestationen, Anzahl der Car-Sharing-Autos. Durchschnitt: Summe der sieben Einzelwertungen geteilt durch sieben. Fußgänger und Radverkehr Die Grazer Innenstadt ist von großflächigen Fußgängerzonen geprägt. Die Erweiterung wird von der Stadtplanung vorangetrieben. Dennoch ist ein Anstieg des motorisierten Individualverkehrs zu verzeichnen. Für die positive Entwicklung des Grazer Radfahrnetzes war das Engagement Erich Edeggers entscheidend. 1980 markierten Aktivisten einen Radfahrstreifen mit einem Radfahrsymbol. Sie wurden polizeilich abgestraft; jedoch kaufte Vizebürgermeister Edegger die Schablone des Symbols auf. Die Markierungsart wurde übernommen, auch das Befahren der Fußgängerzone in der Schmiedgasse und das Fahren gegen die Einbahn wurden gesetzlich geregelt. Nach Edeggers Tod 1992 stockten seine begonnenen Initiativen. Der Fußgänger- und Radfahrsteg zwischen Schloßbergplatz und Mariahilferplatz ist nach dem Stadtpolitiker benannt. Graz ist eine relativ radfahrerfreundliche Stadt, auf deren Gebiet rund 120 km Radverkehrsanlagen angelegt sind. Erklärtes Ziel der städtischen Verkehrsplaner ist es, den Radverkehrsanteil von 14 % (2007) zu steigern. Ein Beschluss aus dem Jahr 1980, ein Netz aus 190 km Radverkehrsanlagen zu errichten, dürfte erst 2035 realisiert sein. Neben dem Bau dreier Stege über die Mur gibt es an beiden Ufern Rad- und Fußwege. Befragungen zum Fahrradverhalten der Bürger führt die Stadt in regelmäßigen Abständen mit einem Fahrradklimatest durch. Die 365 km lange „Murradweg“, eine touristische Radroute und nach dem „Donauradweg“ der zweithäufigstfrequentierte Radweg Österreichs, sowie die Mountainbike-Route „Alpentour“ führen durch Graz. Die nähere Umgebung kann man über die gebirgige Radroute „Rund um Graz“ erkunden. In der aus dem Verkehrsclub Steiermark um 1995 hervorgegangene Radlobby ARGUS Steiermark engagieren sich ehrenamtliche Aktivisten seit den 2000er Jahren um Berücksichtigung und Förderung von Radverkehr. In Kooperation mit Fahrradküche und critical mass werden seit etwa 2013 Geisterräder als weiße Mahnmale für getötete Radfahrer aufgestellt. Als April 2015 zwei Radfahrer an geöffneten Autotüren zu Tode kamen, wurde die Kampagne für ausreichenden Abstand intensiviert. Radfahrer sollen demnach 1,20 m Abstand von Autotüren einhalten, überholende Autofahrer 1,50 m von Radfahrern. Seit 2007 fordert die Protestinitiative critical mass mehrfach mehr Platz für Radfahren in der Stadt. Seit die grüne Vizebürgermeisterin Lisa Rücker das Verkehrsressort übernommen hatte, ist eine Forcierung des Radnetzausbaus zu beobachten. Dazu gehört eine Liberalisierung des Radfahrens im Zentrum (Fußgängerzonen, Parks, Einbahnen), die Qualitätshebung von Radwegen, das Werben für Radfahren als gesunde Bewegungsform, sowie die Berücksichtigung von Wünschen der Nutzer (Aktion Radfalle), neben einer deutlichen Reduktion des Autoverkehrsanteils. Auf Entwicklungsarbeiten der Forschungsgesellschaft Mobilität (FGM) geht zurück, dass in Kindergärten Laufräder genutzt werden, Kinder mit 10–12 Radfahrtraining auf den Straßen in der Gegend ihrer Schule und die Fahrradprüfung absolvieren. Dank Ankaufsförderungen für Betriebe, Vereine und Private wurden in den Jahren 2015–2020 Transporträder (2- und 3-rädrig, ohne und mit E-Motor) zum Alltagsbild auf den Straßen. Juli oder August 2020 wurde Am Wagrain von der Kapellenstraße bis kurz vor der Ulmgasse die erste Fahrradstraße in Graz. Motorisierter Individualverkehr Graz besitzt ein Straßennetz von rund 1000 km. Als eine der ersten österreichischen Städte begann am 1. September 1992 ein Modellversuch „Tempo 30“, es kam zu einer deutlichen Reduktion der Unfallzahlen, Rund 80 % vom Grazer Straßennetz sind heute „Tempo 30“ Zonen. Nach massivem Bau von Tiefgaragen in der Innenstadt, unter anderem aufwändig unter dem historischen Gebäude des Kaufhauses Kastner & Öhler, wurden bis 2007 bei Kaufhäusern, Großbetrieben und am Stadtrand Auto-Parkflächen ausgebaut. Mit der zweiten Röhre im Plabutschtunnel, der Nordspange (Gürtel-Unterführung) und Ausbauten am Südgürtel wurden großräumig wirksame Kapazitäten geschaffen. Das gesamte Stadtzentrum plus angrenzende Stadtteile sind gebührenpflichtige Kurzparkzonen, diese werden in blaue und grüne Zonen unterteilt. Für die blaue Zone ist zumindest ein Euro für 30 Minuten und für die maximale Parkdauer von drei Stunden sechs Euro zu bezahlen. Die Mindestgebühr in der grünen Zone ist 0,80 Euro für ebenfalls 30 Minuten, es können aber auch Tagestickets für neun Euro erworben werden. Die Abrechnung erfolgt mittels Parkscheinautomaten, an denen innerhalb von zehn Minuten ein Parkticket gelöst dann zum Auto gebracht und gut sichtbar hinter der Windschutzscheibe platziert werden muss. Eine Überzahlung wird nicht refundiert; das Ticket darf auch nicht weitergegeben werden. Ein zweites Bezahlsystem nutzt das Mobiltelefon („Handyparken“). Das System wird durch stadteigene Überwachungsorgane sehr dicht überwacht. Es wird neuerdings ein Park&Ride-System, mit Parkhäusern an wichtigen Einfallsstraßen und Autobahnzubringern, propagiert. Im Tarif ist eine Tageskarte für eine Person für die öffentlichen Verkehrsmittel enthalten; dieses Tages-Kombiticket kostet 9 Euro. Die ersatzlose Schließung eines kleineren niveaugleichen Bahnübergangs in Gösting erfolgte um 2013 trotz Protests von Anrainern. Für das Stadtentwicklungsgebiet Reininghaus soll eine zusätzliche Bahnunterführung in westlicher Verlängerung der Josef-Huber-Gasse in den nächsten Jahren gebaut werden, wogegen sich Widerstand formiert, um Klima und Stadtraum zu schützen. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung wird nötig. Öffentlicher Verkehr Graz verfügt über ein relativ gut ausgebautes öffentliches Verkehrsnetz, das Teil des Steirischen Verkehrsverbunds ist. Sechs reguläre Straßenbahnlinien und viele Buslinien durchziehen das Stadtgebiet. Das Netz ist dicht ausgebaut und wird gut genutzt (66,4 km Straßenbahn und 250 km Bus). Die Graz Linien betreiben mit der Grazer Schloßbergbahn eine Standseilbahn, die mit gewöhnlichen Fahrscheinen zu benutzen ist, und einen kostenpflichtigen Aufzug auf den Schloßberg. In den Nächten von Freitag auf Samstag und von Samstag auf Sonntag, sowie in den Nächten vor Feiertagen verkehren Nachtbuslinien. Die ursprünglichen Pferdebahnen (1878–1895) wurden durch elektrische Garnituren ersetzt. Die erste Grazer Straßenbahnlinie führte vom alten Südbahnhof (heute Hauptbahnhof) über eine Strecke von 2,2 km zum Jakominiplatz. Nach stetigem Ausbau des Liniennetzes bis nach dem Zweiten Weltkrieg fiel ein Teil der Strecken in den 1950er- und 1960er-Jahren dem verstärkten Aufkommen des Individualverkehrs zum Opfer. Betroffen war die nicht mehr existierende Ringlinie 2. Sie wurde ersatzlos gestrichen und wird in der Liniennummerierung nicht geführt. Exponate, die an die historische Entwicklung der Grazer Straßenbahn erinnern, sind im Tramway-Museum bei der Mariatroster Endhaltestelle ausgestellt. Den wichtigsten Knotenpunkt des innerstädtischen öffentlichen Verkehrs bilden der Jakominiplatz, an dem alle Straßenbahnlinien, zehn Buslinien und alle Nachtbuslinien zusammentreffen, und der Europaplatz vor den Toren des Grazer Hauptbahnhof, der als Umsteigeknoten zwischen unzähligen Stadt- und Regionalbuslinien dient. Der größte Knotenpunkt im Regionalbussektor ist jedoch der Andreas-Hofer-Platz. Zwischen 2005 und 2007 wurden die Straßenbahnlinien 4, 5 und 6 verlängert – die erste nennenswerte Erweiterung (insgesamt 3,5 km), seit in der Nachkriegszeit fast die Hälfte des Straßenbahnnetzes eingestellt worden war. Der Ausbau des Straßenbahnnetzes Richtung Südwesten zum Nahverkehrsknoten Don Bosco und zum Stadtentwicklungsgebiet Reininghaus, sowie der Bau einer Innenstadt-Entflechtungstrecke wurden vom Gemeinderat beschlossen. Weitere Projekte, etwa eine Nordwestlinie oder die Anbindung der Karl-Franzens-Universität, wurden aus finanziellen Gründen vorerst aufgeschoben. In der jüngsten Gegenwart sorgt die hohe Lautstärke (Luft- und Bodenschall) der neuen – schwereren und etwas breiteren – Variobahn-Triebwagen für Aufregung. Im Auftrag der Grazer Stadtkoalition (ÖVP und FPÖ) wurde im April 2019 die mit einem Budget in Höhe von einer Million Euro ausgestattete Projektgesellschaft „Moderne Urbane Mobilität 2030+“ durch einen Aufsichtsratsbeschluss des Kommunalversorgers Holding Graz gegründet. Diese Gesellschaft präsentierte am 17. Februar 2021 Pläne für den Bau einer „Metro“ genannten U-Bahn mit zwei Linien. Das Projekt wird von der Grazer SPÖ und KPÖ aus Kostengründen kritisiert, die Grünen befürworten stattdessen einen S-Bahn Ring. Der Grazer Stadtrechnungshof kritisierte zuvor die Gründung dieser Gesellschaft ohne Einbindung der zuständigen Stadträtin beziehungsweise der zuständigen Fachabteilung und die Vermengung von Partei- und Stadtregierungsagenden. Nachdem die bisherige Stadtkoalition aus ÖVP und FPÖ nach der Gemeinderatswahl 2021 die Mehrheit verloren hatte, wurde unter der neuen Koalition aus KPÖ, Grünen und SPÖ 2022 die Einstellung der Planungen für die U-Bahn zugunsten einer innerstädtischen unterirdischen S-Bahn-Strecke sowie des Ausbaus des Straßenbahnnetzes beschlossen. Bahnverkehr Der Grazer Hauptbahnhof, für seine funktionale Innenarchitektur mit dem Brunel Award ausgezeichnet und bei VCÖ-Passagier-Umfragen 2003 und 2004 als schönster Bahnhof Österreichs bewertet, liegt an der Südbahn. Er ist der Ausgangspunkt der steirischen Ostbahn und der Köflacherbahn (GKB). Von ihm fahren S-Bahnen in alle Teile der Steiermark sowie direkte InterCity-Züge nach Wien, Linz, Salzburg und Innsbruck ab. EuroCity-Züge verbinden Graz direkt mit Marburg an der Drau und Laibach in Slowenien, Zagreb in Kroatien, Brünn und Prag in Tschechien, Zürich in der Schweiz, sowie Frankfurt am Main und Saarbrücken in Deutschland. Zürich ist auch per EuroNight direkt erreichbar, Budapest in Ungarn mit grenzüberschreitenden IC-Verbindungen. Die im Bau befindliche Koralmbahn soll die historisch und geographisch bedingte schlechte Anbindung von Graz an das europäische Eisenbahnnetz deutlich verbessern und Graz direkt mit Italien verbinden. Im Grazer Stadtgebiet gibt es sechs Bahnhöfe (Stand 2016), sowie weitere Haltestellen für den S-Bahn-Betrieb. Neben dem Hauptbahnhof Graz, der im Zweiten Weltkrieg durch Luftangriffe zerstört und danach wieder aufgebaut wurde, sind das der Ostbahnhof, ein im Jahr 1873 eröffneter Backsteinbau, der nun unter Denkmalschutz steht, und der Köflacherbahnhof, sowie drei weitere Bahnhöfe (Don Bosco, Puntigam, Straßgang), die unter anderem im Zuge des Ausbaus der S-Bahn-Steiermark an der Südbahn und an der in Bau befindlichen Koralmbahn errichtet wurden und als Netzknoten der Verbundlinien (Bahn, Bus, Straßenbahn) fungieren. Ein Jahr nach Inbetriebnahme der Koralmbahn mit dem Koralmtunnel soll auch der Semmering-Basistunnel, der sich seit 2016 in allen Bauabschnitten in Vortrieb befindet, fertiggestellt sein. Voraussichtlich ab 2026 könnte die Fahrzeit auf der Schiene zwischen Graz und Wien von 2,5 auf 2 Stunden verkürzt werden. Von Graz nach Klagenfurt würde sich die Fahrzeit auf 1 Stunde reduzieren. Für den Güterverkehr entfallen mit Inbetriebnahme des Semmeringbasistunnels die auf der Bestandstrecke der Semmeringbahn zu bewältigenden betrieblichen Einschränkungen und Erschwernisse. Die S-Bahn Steiermark wurde im Dezember 2007 mit sechs Linien eröffnet und ist in der Ausbauphase. An diesem Projekt wird seit 1998 gearbeitet. Die Teilinbetriebnahme erfolgte am 9. Dezember 2007. Mit 11. Dezember 2016 gingen weitere zwei S-Bahn-Linien in Betrieb. Das S-Bahn-Netz soll mit der Inbetriebnahme der neuen Koralmbahn und des Koralmtunnels in Vollbetrieb sein und der Großraum Graz von neun S-Bahn-Linien in einem verdichteten Taktverkehr erschlossen werden. Die S-Bahn bietet derzeit stündlich mehrere Verbindungen. Im Vollbetrieb sollen die Taktintervalle auf allen Linien je nach Infrastruktur verdichtet werden. Die S-Bahn ist eine Kooperation zwischen den Bahngesellschaften ÖBB, STLB und GKB. Der Neu- und Umbau zu einem Nahverkehrsknoten Hauptbahnhof wurde 2016 abgeschlossen. Die Umstiegsmöglichkeiten zwischen den Zügen und den städtischen Verkehrsmitteln wurden adaptiert und die Straßenbahn mit einer Unterführung des Eggenbergergürtels und einer Unterflurtrasse mit Doppelhaltestellen in Tieflage an den Hauptbahnhof angebunden. Fernbusse Die meisten Fernbuslinien starten mehrmals täglich und am Hauptbahnhof Graz, vielfach in Stockbussen, mit WC und WLAN. Die ÖBB bieten den Intercitybus (Option: 1. Klasse) nach (Wolfsberg und) Klagenfurt (Fahrtzeit 2:00; Anschluss nach Venedig) an, Westbus/Blaguss bedient über St. Michael Wien (2:45) und Klagenfurt (3:00). Mit Flixbus – u. a. ab Girardigasse 1 – erreicht man Linz, Wien, Triest, Maribor und Ljubljana. Nur Dr. Richard/MeinFernbus.de fährt (seit 26. November 2014) ab Jakominiplatz und Murpark in knapp 2:30 nach Wien. Am längsten, doch teilweise nur zum Wochenende, bestehen Busverbindungen auf den Gastarbeiterstrecken: Über Varaždin täglich nach Zagreb (in 4:15; von Wien) durch Blaguss/Eurolines/AP-Varaždin mit Abfahrt am Hauptbahnhof jedoch vor dem alten Postamt. Fahrten in 22 bis 30 Stunden von Wien nach Istanbul bieten Bosfor (mit Ulusoy über Budapest, Belgrad und Sofia) und Imperial Reisen. Flughafen Graz Etwa 10 km südlich vom Stadtzentrum befindet sich in den Gemeindegebieten von Feldkirchen und Kalsdorf der Flughafen Graz. Er ist über Bus- und Bahnverbindungen von Graz erreichbar. Der Flughafen ist in Bezug auf Frachtaufkommen nach den Flughäfen Wien-Schwechat und Linz der drittgrößte österreichische Flughafen. Am Flughafen befindet sich seit 1981 das österreichische Luftfahrtmuseum. Im Jahr 2021 nutzten 226.562 Passagiere (2019: 1.036.929) den Flughafen. Im Linienverkehr bieten Austrian Airlines Verbindungen nach Düsseldorf, Frankfurt, Stuttgart und Wien an, EasyJet nach Berlin, KLM nach Amsterdam, Laudamotion nach Palma de Mallorca, Lufthansa nach München, Swiss nach Zürich und Turkish Airlines nach Istanbul. Ziele des Charterverkehrs sind vor allem Mittelmeer-Destinationen. Fernstraßen Graz liegt am Kreuzungspunkt der Pyhrn Autobahn A 9 und der Süd Autobahn A 2, die sich beim Knoten Graz-West schneiden. Die A 9 verläuft auf Stadtgebiet beinahe komplett unterirdisch durch den zehn Kilometer langen Plabutschtunnel im Grazer Westen. Pläne, eine Stadtautobahn durch besiedeltes Gebiet zu führen, wurden nach Bürgerprotesten aufgegeben. Die A 2 ist von Graz aus über den Autobahnzubringer Graz-Ost erreichbar. Weiterhin quert die Grazer Straße B 67 im Westen die Stadt von Nord nach Süd; sie ist durchgehend vierspurig ausgebaut und eine wichtige innerstädtische Transitstraße. Von ihr zweigen drei Teilstücke ab, die B 67a, die B 67b und die B 67c. Diese stellen Verbindungen zu drei Landesstraßen (ehemalige Bundesstraßen) her: die Gleisdorfer Straße B 65 (beginnend an der Kreuzung Elisabethstraße/Merangasse), die Weizer Straße B 72 (beginnend am Geidorfplatz) und die Kirchbacher Straße B 73 (beginnend am Übergang Münzgrabenstraße/Liebenauer Hauptstraße). Außerdem zweigt bei der Gürtelturmkreuzung die Packer Straße B 70 ab. Die Landesstraße B 67a (Grazer Ringstraße) führt von Andritz über den Geidorfplatz und die Plüddemanngasse nach Graz-Messendorf und dann als Südgürtel weiter über Puntigam zum Verteilerkreis Webling. In diesem Abschnitt wurde am 19. März 2017 die Unterflurtrasse „Südgürtel“ nach langer Planungs- und Bauzeit für den Verkehr freigegeben. Damit ist der südliche Teil der B 67a durchgehend vierspurig befahrbar. Straßennamen Die Schreibweise der Namen der Grazer Verkehrsflächen folgt den Grundsätzen der Wiener Nomenklaturkommission. Karl A. Kubinzky publiziert exemplarisch in Zeitungen aus seinem Werk über die Straßennamen. Im Juli 2014 beauftragte der Gemeinderat die Prüfung sämtlicher Grazer Straßennamen. Eine 14-köpfige Kommission unter Leitung von Stefan Karner untersuchte 1630 Grazer Straßen und Plätze hinsichtlich ihres Namens. Im März 2018 wurde der rund 1000 Seiten umfassende Abschlussbericht präsentiert. Darin wurden 82 Straßennamen als historisch „kritisch“ eingestuft und 20 als „höchst bedenklich“. Nach einem Jahr Bedenkzeit beschloss die damalige Grazer Stadtregierung, dass aufgrund dieses Berichtes keine Straßen umbenannt werden. Allerdings wurde bestimmt, in den nächsten zehn Jahren zunächst bei den als 82 „kritisch“ eingestuften Namen und später auch für alle anderen nach Persönlichkeiten benannten Straßen, Informationstafeln anzubringen und die Ergebnisse der Historikerkommission im Internet zu veröffentlichen. Im März 2022 wurde seitens der neuen, kommunistisch geführten Stadtregierung bekannt gegeben, dass die als belastet eingestuften Straßennamen nun doch umbenannt werden. Allenfalls anfallende Kosten für die Anrainer sollen von der Stadt übernommen werden. Bildung Kindergärten und Schulen Die Stadt ist in erster Linie für die Kindergärten und Pflichtschulen verantwortlich, für die sie die Infrastruktur zur Verfügung stellt. Es gibt 53 Volksschulen, 23 Mittelschulen, zehn Sonderschulen für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, eine Realschule und eine Polytechnische Schule in Graz. Mit dem Wachstum der Stadt werden seit 2018 die Kapazitäten in den Bezirken Innere Stadt, St. Leonhard, Lend, Andritz, Straßgang und Puntigam ausgebaut, 2019 wurde die VS Leopoldinum (Smartcity) eröffnet. Daneben arbeitet die Stadt mit den vom Bund betriebenen Allgemein- und Berufsbildenden Höheren Schulen zusammen. In Graz existieren 25 Bundesgymnasien (zum Beispiel das BRG Kepler), davon ein eigenständiges internationales Gymnasium (Graz International Bilingual School) und vier katholische Privatschulen, darunter das Bischöfliche Gymnasium. In Graz gibt es acht höhere technische Lehranstalten (HTL), vier Handelsakademien/Handelsschulen (HAK/HASCH), acht Schulen für wirtschaftliche Berufe (HBLA) und zehn Fachschulen, unter anderem die Chemie-Akademie. Das Schulzentrum St. Peter umfasst neben zwei Gymnasien vier Landesberufsschulen in Graz. Hochschulen Graz ist mit knapp 60.000 Studierenden, vier Universitäten, zwei pädagogischen Hochschulen und zwei Fachhochschulen nach Wien der zweitgrößte Hochschulstandort Österreichs. Etwa jeder sechste Einwohner ist ein Student. Die im Bezirk Geidorf gelegene Karl-Franzens-Universität (Carola-Franciscea) wurde 1585 gegründet und ist somit nach der Universität Wien die zweitälteste Universität Österreichs. Mit 32.000 Studenten ist die Universität Graz auch die zweitgrößte Universität des Landes und bietet eine Vielzahl an Studienrichtungen und -fächern an. 16.000 Studenten besuchen die Technische Universität (Erzherzog-Johann-Universität) und weitere 4300 sind an der Medizinischen Universität (Leopold-Auenbrugger-Universität) immatrikuliert. Auch diese beiden Universitäten sind damit die zweitgrößten des jeweiligen Fachbereiches in Österreich. Ergänzt wird die Reihe der Grazer Universitäten durch die Universität für Musik und darstellende Kunst mit 1880 Studenten (2.196 einschließlich Mitbelegern). Mit über 40 Studentenverbindungen zählt Graz zu den „Verbindungshochburgen“ Österreichs. Graz ist das größte österreichische Fachhochschulzentrum mit der Fachhochschule Joanneum, welche mit 4417 Studenten die zweitgrößte Fachhochschule in Österreich darstellt, und dem Campus 02 Fachhochschule der Wirtschaft, welcher 1272 Studenten ausbildet. Neben diesen sind die pädagogischen Hochschulen (vor dem Wintersemester 2007 noch Akademien) Pädagogische Hochschule Steiermark sowie die Private Pädagogische Hochschule Augustinum in Graz ansässig. Für die Musikausbildung unterhalb des Hochschulniveaus ist das Johann-Joseph-Fux-Konservatorium des Landes Steiermark zuständig. Weiters existiert das Konservatorium für Kirchenmusik der Diözese Graz-Seckau. Darüber hinaus gibt es in Graz auch eine Schule für allgemeine Gesundheits- und Krankenpflege. Erwachsenenbildung Die Österreichische Urania für Steiermark bietet allgemeine Erwachsenenbildung in Zusammenarbeit mit Universitäten, Museen und anderen Kultureinrichtungen an. Anbieter berufsorientierter Weiterbildung sind das Wirtschaftsförderungsinstitut (WIFI), das Berufsförderungsinstitut (BFI), das Berufsförderungsinstitut Steiermark, das Bildungszentrum der Sicherheitsakademie Graz, die Volkshochschule Steiermark, das Gymnasium für Berufstätige Graz, die BHAKB Bundeshandelsakademie für Berufstätige, die Bulme Höhere Technische Bundeslehranstalt, FH Johanneum und FH Campus 02. Bibliotheken Neben der Steiermärkischen Landesbibliothek stehen der breiten Öffentlichkeit die Stadtbibliothek Graz mit sechs Zweigstellen, einer Mediathek, einem Bücherbus und dem Zustellservice in alle Grazer Postfilialen sowie die Bibliothek der Arbeiterkammer Graz zur Verfügung. Seit 1998 besteht die HörBibliothek Mariahilf. Auf dem wissenschaftlichen Sektor sind jene Bibliotheken zu nennen, die an allen Hochschulen, Universitäten und Fachhochschulen eingerichtet sind. Die älteste, bedeutendste und umfangreichste ist die 1573 gegründete Bibliothek der Universität Graz mit mehr als drei Millionen Medien. Wissenschaft Die Wissenschaftsstadt Graz ist in hohem Maß von der Lehre und Forschung an ihren vier Universitäten geprägt. Neben den akademischen Bildungsstätten gibt es eine große Zahl von wissenschaftlichen Projekten und Institutionen. Dazu zählt in erster Linie die Joanneum Research GmbH, die mit circa 20 Instituten und 400 Mitarbeitern die zweitgrößte außeruniversitäre Forschungseinrichtung Österreichs darstellt und ihre Zentrale sowie einige Institute in Graz hat. Ebenfalls vertreten ist die Österreichische Akademie der Wissenschaften mit ihrem Institut für Weltraumforschung und circa 85 Mitarbeitern. Weitere außeruniversitäre Einrichtungen sind: IFZ – Interuniversitäres Forschungszentrum für Technik, Arbeit und Kultur Akustikkompetenzzentrum Angewandte Biokatalyse-Kompetenzzentrum das Europäische Fremdsprachenzentrum des Europarates Der Strafrechtler und Kriminologe Hans Gross lebte und wirkte 1847–1915 in Graz. Er gilt als Begründer der Kriminalistik, der Lehre von den Mitteln und Methoden der Bekämpfung einzelner Straftaten und des Verbrechertums. Ihm und seiner Arbeit ist im Keller des Hauptgebäudes der Karl-Franzens-Universität ein eigenes Museum gewidmet. Persönlichkeiten Gebürtige Grazer Zu den bekanntesten in Graz geborenen Personen zählen: die beiden Kaiser Ferdinand II. und Ferdinand III., der Barockbaumeister Johann Bernhard Fischer von Erlach, der Orientalist Joseph von Hammer-Purgstall (1774–1856), der 1914 in Sarajevo ermordete Erzherzog Franz Ferdinand der Adelige Roman von Ungern-Sternberg, der Feldmarschallleutnant Christian zu Leiningen-Westerburg (1812–1856) Katharina Prato (1818–1897), eine der ersten Kochbuchautorinnen der Orgelbauer Johannes Mitterreither (1733–1800), wurde in Oegstgeest beerdigt In der jüngeren Geschichte haben Graz als Geburtsort: der Kantor Leo Roth der Autor Gerhard Roth der Komponist und Musikpädagoge sowie Inhaber einer Musikschule Jakob Stolz die Komponistin Olga Neuwirth der Komponist Robert Stolz der Komponist und Dirigent Leopold Stolz der Dirigent Karl Böhm der Schauspieler Rudolf Lenz der ehemalige Rennfahrer und jetzige Motorsportberater von Red Bull Racing Helmut Marko der Zeitungsherausgeber Hans Dichand die Architektin Anna Popelka der Wissenschaftler und Hochschullehrer Edgar Mörath der Architekt Friedrich St. Florian der Filmproduzent Curt Faudon der ehemalige österreichische Bundespräsident Heinz Fischer die international bekannte Modedesignerin Lena Hoschek die Fotografin Inge Morath die Künstlerin Susanne Wenger Maria Schaumayer – von 1990 bis 1995 Präsidentin der Österreichischen Nationalbank und in dieser Funktion die erste Frau weltweit die Kabarettistin Lore Krainer (wirkte in der Ö1-Sendung Der Guglhupf von 1978 bis zu deren Einstellung im Jahr 2009 mit) der Fotograf und Drehbuchautor Jan Frankl der Mathematiker Wilhelm Blaschke der Naturwissenschaftler und Hochschullehrer Edgar Mörath der Historiker und Kulturwissenschaftler Dieter-Anton Binder Persönlichkeiten, die mit Graz verbunden sind Ivo Andrić, Literatur-Nobelpreisträger, studierte in Graz Slawistik und promovierte daselbst 1924. Anton Ausserer, Naturforscher und Arachnologe, war ab 1874 Professor am 1. Staatsgymnasium in Graz. Karl Böhm, Dirigent, wurde 1894 in Graz, im Böhm-Schlössl, geboren und studierte in Graz sowie Wien Klavier und Musiktheorie. Karlheinz Böhm, Schauspieler, kam 1946 mit seinen Eltern nach Graz und maturierte in der steirischen Landeshauptstadt. Maria Cäsar, Widerstandskämpferin, Zeitzeugin, kam 1950 nach Graz und lebte hier bis zu ihrem Tod 2017. Mimi Coertse, Opern- und Konzertsängerin, sie war in den 1960er Jahren die Grazer Lucia und Norma. Franz von Egger, Jurist, lehrte von 1789 bis 1803 an der Universität Graz. Karl von Frisch, Verhaltensforscher und Nobelpreisträger, (Professur an Uni Graz 1946–1950). Nikolaus Harnoncourt, Musiker, wuchs in Graz auf und wirkte alljährlich bei der Styriarte mit. Franz Xaver von Hlubek, wirkte von 1840 bis 1867 als Agronom am Grazer Joanneum. Hans Hollmann (Regisseur), geboren und aufgewachsen in Graz, promovierte daselbst 1956. Karl von Holtei, wirkte als Schriftsteller und Schauspiellehrer etwa zwischen 1845 und 1866 in Graz. Erzherzog Johann wirkte hier von 1811 bis zu seinem Tod. Johann Ritter von Kalchberg, Lyriker, Dramatiker, Novellist und Historiker wurde in Graz ausgebildet und wirkte am Aufbau des Joanneum mit. Thomas Kenner, Arzt, lehrte und forschte in Graz. Johannes Kepler lehrte und forschte von 1594 bis 1600 in Graz. Richard von Krafft-Ebing, deutsch-österreichischer Psychiater und Rechtsmediziner, wirkte und starb in Graz. Hieronymus Lauterbach (1531–1577), Astronom, Mathematiker, Kalendermacher und Humanist, ab 1561 Lehrer und Landschaftsmathematiker in Graz Otto Loewi, Pharmakologe und Medizin-Nobelpreisträger (Dozentur an Uni ab 1909). Carl O’Lynch of Town (1869–1942), akademischer Maler, wurde auf dem Zentralfriedhof Graz in einer Gruft zu Grabe gelegt. August Musger, der als Erfinder der Zeitlupe gilt, erwarb ab 1879 seine Ausbildung in Graz und starb in der Stadt. Josef Netzer (1808–1864), Tiroler Komponist und Kapellmeister am Musikverein für Steiermark und am Ständischen Theater Graz, dirigierte dort mit Tannhäuser die Erstaufführung einer Oper Richard Wagners in Österreich-Ungarn. Johann Nestroy trat zwischen 1826 und 1833 als Schauspieler in Graz auf und starb auch in dieser Stadt. Fritz Pregl, Nobelpreisträger für Chemie, wirkte ab 1913 am Institut für medizinische Chemie in Graz und verfeinerte die Methode der Elementaranalyse für kleinste Probenmengen. Adalbert Johann Polsterer (1798–1839), Chefredakteur der Grazer Zeitung, verfasste eine Topografie der Stadt Jochen Rindt, Formel-1-Weltmeister, wuchs bei seinen Großeltern in Graz auf. Peter Rosegger, steirischer Dichter und Publizist, verbrachte in der Stadt einen Großteil seines Lebens. Leopold von Sacher-Masoch studierte Jus, Mathematik und Geschichte an der Universität Graz. Er stiftete am 28. Oktober 1863 mit sechs weiteren Personen das Corps Teutonia Graz. Friedrich Schmiedl entwickelte in den 1920er und 1930er Jahren in Graz seine Postraketen. Erwin Schrödinger, Physik-Nobelpreisträger (Professur an der Uni Graz 1946–1950). Peter Handke, Literatur-Nobelpreisträger, 1961 bis 1965 Studium in Graz. Hugo Schuchardt, Romanist und Sprachforscher, Erforscher des Baskischen. Professor an der Karl-Franzens-Universität Graz ab 1876. Joseph Schumpeter, Ökonom (Professur an der Uni Graz 1910–1920). Arnold Schwarzenegger, Bodybuilder, Schauspieler und von 2003 bis 2011 Gouverneur von Kalifornien, besuchte in Graz die Schule, leistete den Militärdienst ab und begann in der Stadt mit seinem Training. Oskar Stocker, Künstler, „Facing Nations“ zeigt 124 großformatigen Porträts von Grazern unterschiedlicher Nationalität. Diese Bilder wurden zunächst 2008 in Graz, dann 2009 im Wiener UN-Gebäude und schließlich 2010 im UN-Hauptquartier in New York gezeigt anlässlich des 60. Jubiläums der Menschenrechte. Karl Ritter von Stremayr: Nach ihm wurde am 7. Juni 1905 die Stremayrgasse benannt. Nikola Tesla erhielt seine Ausbildung 1876 bis 1878 an der Technischen Universität Graz. Alfred Wegener, Begründer der Kontinentalverschiebungstheorie (Professur an der Uni Graz ab 1924). Vinzenz Zusner, Dichter und Unternehmer, produzierte und verkaufte Schuhwichse und wurde danach einer der beliebtesten deutschösterreichischen Lyriker seiner Zeit. Ehrenringträger und Ehrenbürger Von der Stadt Graz zu Ehrenbürgern und Ehrenringträgern ernannt wurden unter anderem: Karlheinz Böhm, Nikolaus Harnoncourt, David Herzog, Helmut List, Fritz Popelka, Grete Schurz, Arnold Schwarzenegger – er gab den Ehrenring am 19. Dezember 2005 zurück – und Heinz Fischer. Mit der Verleihung des Grazer Bürgerbriefs an fünf weitere Frauen und sechs Männer haben mit 12. Mai 2016 insgesamt 121 Persönlichkeiten diese Auszeichnung erhalten. Am 19. Jänner 2023 wurde der Bürgerbrief an neun Persönlichkeiten, Stefanie Werger, Christa Tax, Karin Steffen, Doris Pollet-Kammerlander, Karin Schmidlechner-Lienhart, Josef Wilhelm, Ernest Kaltenegger, Berndt Luef und Harald Korschelt, verliehen. Sonstiges Der Hauptgürtelasteroid (2806) Graz wurde nach der steirischen Landeshauptstadt benannt. Panoramabilder Siehe auch Liste der Straßennamen von Graz Literatur Walter Brunner im Auftrag der Stadt Graz, Kulturamt (Hrsg.): Geschichte der Stadt Graz. 4 Bände. Eigenverlag der Stadt Graz, Graz 2003, ISBN 3-902234-02-4. Peter Cede, Gerhard Lieb: Die inneren Stadtbezirke von Graz – die citynahen Wohn- und Gewerbeviertel des II. bis VI. Bezirks. In: Geograz. Heft 65, 2019, S. 30–39 (uni-graz.at [PDF; 11,7 MB]). Alois Kölbl, Wiltraud Resch: Wege zu Gott. Die Kirchen und die Synagoge von Graz. Styria, Graz/Wien 2004, ISBN 3-222-13105-8. Fritz Posch: Die Besiedelung des Grazer Bodens und die Gründung und früheste Entwicklung von Graz. In: Wilhelm Steinböck (Hrsg.): 850 Jahre Graz 1128–1978. Styria, Graz 1978, ISBN 3-222-11040-9. Andrea Kleinegger, Gertraud Prügger: Ein Blick in Grazer Vorgärten. Naturschutzbund Steiermark. Weishaupt Verlag, Gnas 2003, ISBN 3-7059-0182-6. Alfred Schierer: Graz – Eine kurze Geschichte der Stadt. Ueberreuter, Graz 2003, ISBN 3-8000-3997-4. Stadt Graz (Hrsg.): . Graz ab 1968 jährlich. Claudia Friedrich, Eva Klein: Große Schau der Reklame. Reklame in Graz zwischen Umbruch und Kontinuität. Unipress, Graz 2009, ISBN 978-3-902666-04-8. Stefan Rothbart: Der Grazer Schlossberg (Die geheime Geschichte von Österreichs Kulturdenkmälern. Band 3). Pichler, Wien 2013, ISBN 978-3-85431-633-6. Ottfried Hafner: Verborgenes in Graz. H. Weishaupt, Graz 1989, ISBN 3-900310-65-3 (austria-forum.org). Weblinks www.graz.at Offizielle Website der Stadt Graz www.graztourismus.at Tourismus und Fremdenverkehr kultur.graz.at Kulturserver der Stadt Graz mit Veranstaltungskalender www.vrgraz.at/panorama Panorama-Rundgang durch die Grazer Sehenswürdigkeiten Stadtplan mit Straßensuche Steiermark360, 360°-Panorama Graz (Luftaufnahme, 1,5 Gigapixel) Einzelnachweise Sonstige Anmerkungen Österreichische Landeshauptstadt Ort in der Steiermark Statutarstadt (Österreich) Bezirk in Österreich Bezirkshauptstadt in Österreich Ehemalige Hauptstadt (Österreich) Ort an der Mur Träger des Europapreises Hochschul- oder Universitätsort in Österreich Weinbaugemeinde in der Steiermark Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden
1831
https://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried%20Wilhelm%20Leibniz
Gottfried Wilhelm Leibniz
Gottfried Wilhelm Leibniz (* in Leipzig, Kurfürstentum Sachsen; † 14. November 1716 in Hannover, Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg) war ein deutscher Philosoph, Mathematiker, Jurist, Historiker und politischer Berater der frühen Aufklärung. Er gilt als der universale Geist seiner Zeit und war einer der bedeutendsten Philosophen des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts sowie einer der wichtigsten Vordenker der Aufklärung. In frühen Schriften anderer Autoren wurde sein Nachname – analog zu demjenigen seines Vaters, Friedrich Leibnütz, und dessen väterlichen Vorfahren – auch „Leibnütz“, teils auch „Leibnitz“ (franz. Godefroi Guillaume Leibnitz) geschrieben. Sein Name wurde auch in verschiedenen Versionen latinisiert, z. B. als Godefridus Guilelmus Leibnitius. Ab 1671 wählte er die Schreibweise „Leibniz“ für seinen Familiennamen. In der älteren Literatur, bei manchen Korrespondenzpartnern und bisweilen sogar in der ersten Person wird der Name teils mit dem Adelsprädikat „von“ oder einem Freiherrntitel verbunden; eine tatsächliche Nobilitierung ist jedoch nicht belegt. Leben Leibniz wurde nach dem damals in den protestantischen Territorien des Heiligen Römischen Reiches gültigen Julianischen Kalender am 21. Juni 1646 in Leipzig geboren und am 23. Juni in der Leipziger Nikolaikirche getauft. Sein Vater war der aus Altenberg im Erzgebirge stammende Jurist, Notar und Professor für Moralphilosophie (Ethik) Friedrich Leibnütz (1597–1652), seine Mutter Catharina war die Tochter des Leipziger Professors und Rechtswissenschaftlers Wilhelm Schmuck. In zweiter Ehe war der Vater mit der Tochter eines Buchhändlers verheiratet gewesen. Im Nachlass des Vaters und dessen beider Schwiegerväter gab es dementsprechend eine umfangreiche und vielfältige Bibliothek, zu der der frühe Tod des Vaters dem jungen Leibniz weitgehend unbeaufsichtigten Zugang gab: „Nicht nur die Anwesenheit der Bücher, sondern auch die Abwesenheit ihres Besitzers“ legten also den Grundstein für Leibniz’ Bildung. Als Achtjähriger lernte er in dieser Bibliothek autodidaktisch die lateinische und die griechische Sprache; als Zwölfjähriger entwickelte er beim Durchdenken logischer Fragestellungen die Anfänge einer mathematischen Zeichensprache. Leibniz besuchte von 1655 bis 1661 die Nikolaischule in Leipzig, die im Original erhalten und saniert ist. 1661 immatrikulierte er sich an der Leipziger Universität und betrieb philosophische Studien beim Theologen Johann Adam Schertzer und dem Philosophietheoretiker Jakob Thomasius. 1663 wechselte er an die Universität von Jena, um sich dort unter Anleitung des Mathematikers, Physikers und Astronomen Erhard Weigel pythagoreischen Gedanken zu öffnen. 1666, noch im Alter von 19 Jahren, veröffentlichte Leibniz sein erstes Buch De Arte Combinatoria (Über die Kunst der Kombinatorik). Mit dem ersten Teil dieses Buches Disputatio arithmetica de complexionibus wurde er im März des Jahres von Jakob Thomasius und Erhard Weigel in Philosophie promoviert. Später im selben Jahr, mit 20 Jahren, wollte sich Leibniz zum Doktor der Rechte promovieren lassen, doch die Leipziger Professoren lehnten ihn als zu jung ab. So ging er nach Nürnberg, um dort an der Universität Altdorf das Verwehrte nachzuholen. Vorübergehend stand er in Verbindung zu einer dortigen alchimistischen Geheimgesellschaft, deren Experimente er jedoch schon bald verspottete. Nach Leibniz’ eigener Darstellung bot ihm die Altdorfer Universität nach der Promotion eine Professur an, die Leibniz jedoch ablehnte. Stattdessen trat er bis 1672 in den Dienst des Mainzer Erzbischofs Johann Philipp von Schönborn. Er lebte während seiner Mainzer Zeit im Boyneburger Hof, der Wohnstätte des kurmainzischen Oberhofmarschalls Johann Christian von Boyneburg, der ihm eine Stelle als Mitarbeiter des Hofrats Hermann Andreas Lasser verschafft hatte. Mit Lasser arbeitete er im Auftrag des Kurfürsten an einer Reform des römischen Rechts (Corpus juris reconcinnatum). Sein Werk Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae („Eine neue Methode, die Jurisprudenz zu lernen und zu lehren“) erlangte in einschlägigen Kreisen starke Rezeption. Im Jahre 1670 stieg Leibniz trotz seiner lutherischen Konfession zum Rat am kurfürstlichen Oberrevisionsgericht auf. 1671 erschienen zudem zwei Traktate zur Physik. Entwürfe und Fragmente zur Metaphysik – die im Sinne der traditionellen Natürlichen Theologie Grundthesen des christlichen Glaubens philosophisch belegen sollte – und zur Politik zeigen die große Spannweite des intellektuellen Projekts, in dem diese Schriften verortet waren. 1672 reiste Leibniz auf eigenen Wunsch nach Paris, wo er als Hofmeister für Boyneburgs jungen Sohn tätig war. Dort wollte er dem „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. einen Plan für einen Eroberungsfeldzug gegen Ägypten unterbreiten, um ihn von den geplanten Eroberungskriegen in Europa abzubringen. Doch Leibniz traute sich nicht, den Plan zu übergeben; über einhundert Jahre später jedoch setzte Napoleon Bonaparte ihn in der Ägyptischen Expedition um. 1672/73 vollendete Leibniz Arbeiten an seiner Rechenmaschine mit Staffelwalze für die vier Grundrechenarten, führte diese vor der Royal Society in London vor und wurde auswärtiges Mitglied dieser berühmten Gelehrtengesellschaft. Seit 1675 war er auch Mitglied der Académie des sciences in Paris. Das von Leibniz weiterentwickelte duale Zahlensystem legte den Grundstein zur rechnergestützten Informationstechnologie des 20. Jahrhunderts. Schon Jahre zuvor, ab 1668, hatte sich unterdessen der welfische Herzog Johann Friedrich bemüht, Leibniz als Bibliothekar an seine Residenzstadt Hannover zu berufen. Doch erst nach mehreren Absagen sagte Leibniz, mittlerweile in finanziellen Nöten, dem Herzog schließlich im Jahr 1676 zu. Auf der – sehr ausgedehnten – Rückreise aus Paris besuchte er seinen Freund Henry Oldenburg in London und seinen philosophischen Lieblingsfeind Spinoza in Den Haag. In Hannover wurde Leibniz rund zwei Jahre später auch zum Hofrat ernannt. Mit Kurfürstin Sophie von der Pfalz stand er dort in regem Gedankenaustausch. Neben der Arbeit als Bibliothekar hatte er eine Vielzahl von Aufgaben: 1682–1686 beschäftigte sich Leibniz mit technischen Problemen der Bergwerke im Oberharz. Er hielt sich häufig in Osterode und Clausthal auf, erprobte dort neue mechanische Vorrichtungen und machte zahlreiche Vorschläge zur Verbesserung des Oberharzer Bergbaus. Leibniz hatte im Oberharz unter anderem eine horizontale Windmühle entwickelt, um damit die Grubenentwässerung zu optimieren. Viele seiner Ideen werden heute noch eingesetzt wie etwa das Endlosseil oder die konische Seiltrommel. Ab 1685 reiste Leibniz im Auftrag des Welfenhauses durch Europa, um eine Geschichte der Welfen zu schreiben – ein Projekt, das er bis zu seinem Lebensende nicht abschließen konnte. An politischen Erfolgen der Hannoveraner Welfen wie der Erhebung in den Kurfürstenstand 1692 und den Gewinn der britischen Königskrone 1714 war Leibniz durch juristische Gutachten beteiligt. 1698 bezog Leibniz das heute nach ihm benannte Leibnizhaus in Hannover. Hier ließ Leibniz bald darauf für Jahre seinen Schüler und Sekretär, den späteren Gelehrten Rafael Levi, ebenfalls wohnen. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Leibnizhaus zerstört und 1983 an anderer Stelle mit rekonstruierter Fassade neu gebaut. Leibniz stand in engem Kontakt zu anderen Fürsten und bemühte sich um eine bezahlte Stellung. Unter Ernst August wurde Leibniz 1691 auch Bibliothekar der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Leibniz trug Kaiser Leopold I. seine Pläne für eine Münzreform, zum Geld-, Handels- und Manufakturwesen, zur Finanzierung der Türkenkriege, zum Aufbau eines Reichsarchives und vieles andere vor. Doch es wurde ihm nur wohlwollende Aufmerksamkeit zuteil. 1713 verlieh ihm der Kaiser den Titel eines Reichshofrats mit einer kleinen Pension; seine Bemühungen um den Posten eines Kanzlers von Siebenbürgen scheiterten. Die ihm angebotene Bibliothekarsstelle im Vatikan musste Leibniz ebenso ausschlagen wie die eines Kanzlers im Hochstift Hildesheim: Diese Stellen hätten seine Konversion zum Katholizismus verlangt. Als Leibniz’ Dienstherr Herzog Georg Ludwig König von Großbritannien wurde, schlug er Leibniz den Wunsch ab, ihn an seinen neuen Hof in London begleiten zu dürfen: Leibniz blieb bis an sein Lebensende in Hannover. Erfolgreicher waren seine Verbindungen zum brandenburgisch-preußischen Hof, wo Leibniz oft zu Gast war: Mit Königin Sophie Charlotte, Schwester seines Hannoveraner Dienstherrn, pflegte Leibniz einen engen intellektuellen Austausch. Mit Unterstützung Sophie Charlottes konnte 1700 in Berlin eine Kurfürstlich Brandenburgische Societät der Wissenschaften nach englischem und französischem Vorbild gegründet werden, die nach der Krönung von Kurfürst Friedrich III. zum König Friedrich I. in Preußen 1701 in Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften umbenannt wurde. Leibniz wurde ihr erster Präsident. Um diesen Erfolg auszudehnen, führte er 1704 in Dresden und 1713 in Wien Verhandlungen über die Gründung einer sächsischen bzw. kaiserlichen Akademie; auch Zar Peter dem Großen schlug er die Gründung einer Russischen Akademie der Wissenschaften vor, die dieser 1724 ins Werk setzte. Der Akademiegedanke verkörperte Leibniz’ Wissenschaftsideal, in systematischer Kooperation theoria cum praxi, Theorie und Praxis zu verbinden, und steht damit im Zentrum seines intellektuellen Projekts. Kurz vor seinem Tod kühlten die Beziehungen zum Haus Hannover ab, das nun unter der Leitung von Georg I. Ludwig stand. Leibniz starb vereinsamt am 14. November 1716 im Alter von 70 Jahren in Hannover und wurde dort in der Neustädter Hof- und Stadtkirche St. Johannis beigesetzt. Umstritten ist der Rahmen der Begräbnisfeier. Vielfach wird behauptet, nur sein Sekretär sei beim Begräbnis anwesend gewesen und kein Geistlicher habe die Beisetzung begleitet. Dagegen berichten Johann Georg von Eckhart (Leibniz’ langjähriger Sekretär und Mitarbeiter) und Johann Hermann Vogler (sein letzter Assistent und Amanuensis), die Beisetzung habe am 14. Dezember 1716 durch Oberhofprediger David Rupert Erythropel stattgefunden. Eckhart, der wenige Tage nach Leibniz’ Tod zum Hofrat und dessen Nachfolger als Bibliothekar und Historiograph des Hauses Hannover ernannt worden war, berichtet aber auch, dass alle Kollegen, die Beamten des Hofes, zum Begräbnis eingeladen worden seien, aber nur Hofrat von Eckhart selbst als einziger „von Stand“ erschienen sei. Auf dem Sarg ließ Hofrat von Eckhart ein Ornament anbringen, das eine Eins innerhalb einer Null zeigte, mit der Inschrift OMNIA AD UNUM (deutsch: „Alles (bezieht sich) auf das Eine“), als Hinweis auf das von Leibniz entwickelte binäre Zahlensystem und dessen theologische Deutung: Für Leibniz stand die 1 für Gott und die 0 für das Nichts. Im Auftrag von Friedrich Simon Loeffler, dem Neffen und Erben von Gottfried Wilhelm Leibniz, erstellte der Bibliothekar Daniel Eberhard Baring ein Verzeichnis der von dem Universalgelehrten privat aufgebauten „Leibniz-Bibliothek“. Letzter Universalgelehrter Leibniz notierte über sich auf Französisch: „Mir kommen morgens manchmal so viele Gedanken während einer Stunde, die ich noch im Bett liege, dass ich den ganzen Vormittag und bisweilen den ganzen Tag und länger brauche, um sie klar zu Papier zu bringen.“ Sein handschriftlicher Nachlass, der im Arbeitskatalog der Leibniz-Edition verzeichnet wird, ist dementsprechend umfangreich und umfasst mehr als 40.000 Schriften und Briefe. Leibniz zählt zur Frühaufklärung und wird oft als letzter Universalgelehrter bezeichnet. Er hatte einen starken Einfluss auf die nachfolgenden Aufklärer, die klassische deutsche Philosophie, den deutschen Idealismus und die Literatur der Weimarer Klassik. Seine Entdeckungen in den Naturwissenschaften und seine philosophischen und historischen Schriften werden bis heute von Gelehrten beachtet. Er repräsentierte als letzter großer Denker den vor dem 18. Jahrhundert praktizierten Wissenschaftsstil der vielfältigen Verknüpfung von Zusammenhängen. Einige seiner Forschungsergebnisse und Initiativen waren: Beschreibung des Dualsystems Entwicklung der Dezimalklassifikation Pläne für ein Unterseeboot Verbesserung der Technik von Türschlössern Gerät zur Bestimmung der Windgeschwindigkeit Rat an Ärzte zur regelmäßigen Fiebermessung Gründung einer Witwen- und Waisenkasse Beweis für das Unbewusste des Menschen Infinitesimalrechnung (Integralrechnung und Differentialrechnung) Matrizen und Determinanten Erfindung der Staffelwalze für eine mechanische Rechenmaschine Entwicklung der Endloskette zur Erzförderung im Bergbau Als Freund, Fachkollege und Ermunterer der damaligen europäischen Schriftgelehrten und Verfasser sprachkundlich einflussreicher Schriften war er einer der wesentlichen Initiatoren zur Begründung der modernen Sprachwissenschaft, insbesondere der Indogermanistik. Leibniz betrachtete die Wissenschaft als eine Einheit. Seine Erkenntnisse in der Integralrechnung, die Theorie der unendlichen Reihen, seine neuartige Geometrie, die Theorien der Kombinatorik, die Vorstellung über die Grundlagen der Mathematik und die Wahrscheinlichkeitsrechnung entwickelten sich in enger Verbindung mit seinen philosophischen Ansichten. Das Gleiche trifft auf seine Erkenntnisse der Dynamik, auf die biologischen und geologischen Konzeptionen sowie auf die Forschungen im Bereich der praktischen Politik und der theoretischen Geschichtswissenschaft zu. Das philosophische Schaffen von Leibniz gruppiert sich um drei große Problemkreise: die Monadologie, die Determinationskonzeption und die erkenntnistheoretisch-logischen Ansichten. Philosophie Leibniz hat sein Denken kontinuierlich revidiert. Eine komprimierte Darstellung wichtiger Ideen zur Metaphysik findet sich in seiner Monadologie (1714), der zufolge die Welt aus Monaden konstituiert ist. In seiner Begriffslehre geht Leibniz davon aus, dass sich alle Begriffe auf einfache, atomare Konzepte zurückführen lassen. Er beschäftigte sich damit, wie man diesen Konzepten Zeichen zuordnen könnte und so wiederum daraus alle Begriffe ableiten könnte. So ließe sich eine ideale Sprache aufbauen. Neben anderen haben die Philosophen Russell und Wittgenstein diese Idee aufgegriffen und weitergeführt. Mit der Ars combinatoria (1666) versuchte Leibniz eine Wiederaufnahme des Projektes der Heuristik. Metaphysik Theodizee Der berühmte Satz, die gegebene Welt sei „die beste aller möglichen Welten“ ist oft missverstanden worden, unter anderem hat ihn Voltaire in seinem Roman Candide parodiert. Die Vorstellung der „besten aller möglichen Welten“ soll nicht in naiver Weise tatsächliches und großes Übel in der Welt leugnen oder schönreden. Vielmehr weist Leibniz auf einen notwendigen Zusammenhang zwischen Gutem und Üblem hin: Es gebe nämlich Gutes, das nur zum Preis der Existenz von Übel zu haben ist. Die wirkliche Welt ist die beste u. a. in dem Sinne, dass das Gute in ihr auch von Gott nicht mit einem geringeren Maß an Übel verwirklicht werden kann. Außerdem ist die „beste aller möglichen Welten“ dynamisch gedacht: Nicht der derzeitige Zustand der Welt ist der bestmögliche, sondern die Welt mit ihrem Entwicklungspotential ist die beste aller möglichen Welten. Gerade dieses Entwicklungspotential ermöglicht es, den derzeitigen Zustand zu verbessern, nicht hin auf einen utopischen Endpunkt, sondern immer weiter, in einem nicht endenden Prozess der ständigen sich überbietenden Entwicklung. Die in der Welt vorkommenden Übel unterscheidet Leibniz nach drei Typen: 1. Metaphysisches Übel Das metaphysische Übel bzw. Elend besteht in der Endlichkeit der Welt. Dieses wäre wohl nicht zu vermeiden, wenn Gott eine perfekte Welt schaffen wollte. 2. Physisches Übel Leiden und Schmerzen gehen mit einer gewissen Notwendigkeit aus dem metaphysischen Übel hervor, da geschaffene Wesen zwangsläufig unvollkommen sind. 3. Moralisches Übel Ein geschaffenes Wesen hat die Möglichkeit zu fehlen bzw. theologisch formuliert zu sündigen, da Gott ihm die Gabe des freien Willens bzw. der Freiheit verliehen hat. Leibniz argumentiert zur Verteidigung Gottes als Schöpfer der Welt (Theodizee), einerseits, dass einige der Übel nur scheinbar sind, bzw. dass weniger Übel an einer Stelle ein Mehr an anderer Stelle notwendig machen würde. Auch führt er zum Beispiel die Vielfalt an, die die Qualität der Welt ausmache. Es gibt aber auch einen logischen Grund, warum diese die beste aller möglichen Welten sein muss. Wenn nämlich Gott eine Welt aus dem Möglichen ins Wirkliche überführen möchte, so braucht er einen zureichenden Grund, da er nicht willkürlich wählen kann. Das einzige Kriterium, das eine Welt aber qualitativ von allen anderen unterscheidet, ist, die beste zu sein. Im Gegensatz etwa zu Descartes vertritt Leibniz die Ansicht, dass Gott logische Wahrheiten nicht schaffen oder ändern kann. Die Summe aller möglichen Welten findet Gott ebenso vor wie mathematische Sätze. Er hat darum auf den Zustand und die Geschehnisse innerhalb einer Welt keinen Einfluss. Selbst wenn er – Naturgesetze außer Kraft setzend – ein Wunder wirkt, so ist dieses Wunder mit der Auswahl der möglichen Welt schon ein für allemal festgelegt. Gott hat also nach Leibniz unter allen möglichen Welten die beste geschaffen. Somit kann Gott in Leibniz Konzeption allmächtig, allwissend und allgütig sein (ein wichtiger Streitpunkt der Scholastik). Nach Leibniz gibt es keinen Widerspruch zwischen Determinismus und Freiheit. Obwohl mit der Wahl der Welt jede Handlung eines Menschen zum Beispiel vollständig unverrückbar festliegt, so ist die Tatsache, dass sich ein Mensch in einer Situation so und nicht anders verhält, völlig frei (im Sinne von unvorhersehbar). Dass sich ein Mensch so verhält (so verhalten würde), ist gerade der Grund, warum die Welt gewählt wurde. Ein anderes Verhalten wäre entweder logisch nicht möglich (nicht kompossibel mit dem Rest der Welt) oder würde eine moralisch schlechtere Welt bedingen. Die Ausführungen über die beste aller möglichen Welten können als Antizipation moderner Modallogiken (z. B. die von Saul Kripke oder David Kellogg Lewis) gesehen werden. Monadologie Leibniz entwickelt seine Metaphysik in kritischer Auseinandersetzung mit sehr unterschiedlichen philosophischen Schulen seiner Zeit – etwa der platonischen und aristotelisch-scholastischen Tradition und der dualistischen Substanzmetaphysik Descartes’. Wichtig ist zudem das mechanistische Weltbild vieler Philosophen seiner Zeit: Diesem zufolge lassen sich alle sinnlichen Eigenschaften der Dinge (Farben, Töne etc.) und alle Naturerscheinungen auf geometrische Modifikationen (unterschiedliche Größe, Gestalt, Bewegung) einer in sich homogenen Materie zurückführen. Leibniz tritt zwar einerseits zeitlebens für eine mechanistische Erklärung der Naturerscheinungen ein. Andererseits macht er dem mechanistischen Standpunkt den Vorwurf, nicht die Bereitschaft aufzubringen, über die bloß mechanistische Erklärung bis zu den höchsten Gründen der Natur vorzudringen. Deswegen nennt er sie eine „faule“ und „oberflächliche Philosophie“. Eine Letztbegründung der mechanischen Körperwelt sei nur möglich, wenn man sie selbst auf ein noch grundlegenderes metaphysisches Prinzip zurückführe, das geistiger Natur sein müsse. In immer wieder neuen Anläufen versucht er, eine Metaphysik zu entwickeln, die diesen Ansprüchen genügt. Den bekanntesten Ansatz dazu stellt der zentrale Begriff der Monade dar, den Leibniz ab Mitte der 1690er Jahre verwendet. Er übernimmt diesen Begriff – der wörtlich „Einheit“ bedeutet – aus der neuplatonischen Tradition. Bei Leibniz sind Monaden einfache, nicht ausgedehnte und daher unteilbare und ewige Substanzen, die äußeren mechanischen Einwirkungen unzugänglich sind. Er bezeichnet sie als „die eigentlichen Atome der Natur“, die jede für sich einen „lebendigen Spiegel“ des gesamten Universums darstellten. Als solche vereinen sie die Vielheit aller möglichen „Wahrnehmungen“ der Welt (perceptiones) in einer Einheit. Da aber nichts auf sie einwirken kann, bringen sie diese Perzeptionen, einem inneren Ordnungsgesetz folgend, durch eine ihnen inhärente, metaphysische Kraft aus sich selbst hervor. Leibniz nennt diese Kraft wörtlich das „Begehren“ (appetition) der Monaden. Da sich in jedem Stück Materie solche Monaden fänden, die „etwas der [menschlichen] Seele Analoges an sich“ hätten, gebe es demnach nichts im eigentlichen Sinne Unbelebtes im Universum. Leibniz vertritt damit eine panpsychistische Weltanschauung. Eine jede Monade bildet stets das gesamte Universum ab – allerdings in unterschiedlichen Deutlichkeitsgraden, die ihre individuelle Perspektive ausmachen. Insofern sie alle dasselbe Universum wahrnehmen, sind ihre inneren Aktivitäten vollkommen miteinander koordiniert, obwohl die Monaden ja in sich abgeschlossen sind und keinerlei direkten Kontakt zur Außenwelt haben. Diese Koordination ist aus Leibnizens Sicht möglich, weil Gott mit der Schöpfung eine jede Monade so gestaltet habe, dass die Wahrnehmungen des Universums, die sie aus sich selbst hervorbringe, denen der anderen Monaden stets entsprechen. Leibniz nennt dieses System eine „prästabilierte Harmonie“. Sie ist zugleich sein Lösungsvorschlag für das Problem der Wechselwirkung von Seele und Materie, wie es sich aus dem System René Descartes’ ergibt. Die Monaden sind bei Leibniz das ontologische Fundament der Körperwelt und insofern – nach Gott – das zentrale metaphysische Prinzip. Ob und in welchem Sinne Leibniz auch der Körperwelt Realität zugesteht und wie genau ihr Verhältnis zu den Monaden aussieht, konnte in der Leibniz-Forschung nicht abschließend geklärt werden. Zeit und Raum Entgegen Newtons absoluter Zeit- und Raumauffassung, die diese Existenzformen der Materie mit einem leeren Gefäß vergleichen, vertritt Leibniz eine Konzeption, in der Raum und Zeit Ordnungsbeziehungen in der materiellen Welt sind. Der Raum ist die Ordnung der zur gleichen Zeit existierenden Dinge, die Zeit die Ordnung ihrer kontinuierlichen Veränderungen. Psychologie Leibniz verwendet den von Johann Thomas Freigius eingeführten Begriff psychologia noch relativ selten. In seiner Monadologie und in seinen Neuen Essays behandelt er jedoch dezidiert viele psychologische Themen. Innerhalb der philosophischen Fachliteratur gibt es jedoch kaum Bezüge zu diesem Interessengebiet von Leibniz. Mit den Begriffen Perzeption und Apperzeption bezeichnete Leibniz den Übergang von einer unbemerkten Sinnesempfindung zur bewussten Wahrnehmung und deren Aufnahme in das individuelle (Selbst-)Bewusstsein. Dies entspricht seiner Lehre vom Kontinuitätsgesetz der minimalen Veränderungen in der Physik. Die Annahme eines Kontinuums mit bestimmten Sinnesschwellen wurde ein Leitgedanke der experimentellen Psychologie und Psychophysik von Gustav Theodor Fechner und Wilhelm Wundt. Zum Verhältnis von Seelischem und Körperlichem in ihrem parallelen Ablauf (Psychophysischer Parallelismus) postulierte Leibniz, dass seelische Vorgänge dem Zweckprinzip (Teleologie), körperliche Vorgänge dem Kausalprinzip folgen. Er schrieb: „Die Seelen handeln gemäß den Gesetzen der Zweckursachen durch Strebungen, Ziele und Mittel. Die Körper handeln gemäß den Gesetzen der Wirkursachen oder der Bewegungen. Und die zwei Reiche, das der Wirkursachen und das der Zweckursachen, stehen miteinander in Harmonie.“ Leibniz’ Prinzipienlehre und seine Lehre von der Willenstätigkeit (Streben, Verlangen) hatten, abgelöst von den theologischen Letztbegründungen, einen grundlegenden Einfluss auf das Denken und auf die Forschung Wilhelm Wundts, der international als der wichtigste Begründer der modernen Psychologie gilt. Leibniz prägte den Begriff der Perspektive (Perspektivismus) am Beispiel verschiedener Ansichten derselben Stadt. Die Bereitschaft und Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, d. h. einander wechselseitig ergänzender Betrachtung, bilden einen Grundgedanken von Wundts Wissenschaftstheorie der Psychologie. Praktische Philosophie Rechtsphilosophie Gottfried Wilhelm Leibniz gehört zu jenen Denkern, die heute wieder zunehmend in den Fokus der Rechtswissenschaften treten. Leibniz’ Schriften des juristischen und rechtsphilosophischen Genres werden häufig ergänzend zu modernen Werken herangezogen. Leibniz gilt als Vordenker der modernen Kodifikationsidee und auch die von Leibniz entwickelte Methodologie des Rechts entfaltete große Wirkungsmacht. Leibniz selbst studierte Rechtswissenschaften und wurde mit der Arbeit De casibus perplexis zum Doctor juris promoviert. Der Titel seiner Doktorarbeit war dabei überaus aussagekräftig: Sie handelt von den verwickelten, dunklen, unklaren Fällen, deren Lösung nicht einfach aus den Gesetzen abgeleitet werden kann. Der junge Leibniz befasste sich aber nicht nur mit Methodologie oder Rechtsphilosophie, sondern auch mit juristischer Dogmatik. Bereits vor seiner Promotion hatte er ein zivilrechtliches Werk über die Lehre von den Bedingungen (doctrina conditionum) zum Abschluss gebracht. Angesichts dieser Arbeit erhielt er 1667 den Ruf auf eine Professur für Rechtswissenschaften. Gleichwohl lehnte Leibniz den Ruf ab und fand 1668 eine erste Anstellung am Hof des Kurfürsten von Mainz, wo er seine Tätigkeit als Jurist verfeinerte. Insbesondere die Arbeit „Neue Methode, Jurisprudenz zu lernen und zu lehren“ (Nova methodus discendes docendaeque Jurispruedentia) empfahl Leibniz für den Hof des Kurfürsten. In Mainz ging er vornehmlich zwei juristischen Tätigkeiten nach: Zum einen war er Revisionsrat am Oberappellationsgericht. Zum anderen war er Mitverfasser der ersten modernen Kodifikation, des sogenannten Corpus Iuris Reconcinnatum. In Hannover war Leibniz Hofrat in der Justizkanzlei. Dabei entstanden Schriften, die, wie Relationen oder Urteile, unmittelbar seine Tätigkeit als Richter entsprungen sind, aber auch wichtige rechtshistorische, rechtsdogmatische und rechtsphilosophische Arbeiten. Reform der Jurisprudenz Leibniz eigentliches Anliegen war eine Reform der Jurisprudenz. Wiederholt klagt er über die unübersichtliche Stoffanordnung des corpus iuris, veraltete Vorschriften und kaum noch überschaubare Interpretationen, die den geltenden Normenbestand zu einer Quelle von Ungerechtigkeit machen würden. Ihm fehle, was von jeder Gesetzgebung zu erwarten sei: Klarheit und Kürze. Leibniz wollte eine Vereinfachung des geltenden Rechts dadurch erreichen, dass das Recht auf seine Prinzipien reduziert werde. In Anlehnung an den berühmten Mathematiker Euklid nennt er diese Prinzipien „Elemente“, die kombiniert werden können und deren Summe dem Gesetzgeber alle regelungsbedürftigen Fälle vor Augen führt. Leibniz trifft eine strenge Unterscheidung zwischen Gesetz und Recht, zumal in der Praxis stets neue Fälle auftauchen, die der Gesetzgeber so nicht hat vorhersehen können. Leibniz will einen „Leitfaden“ (compendium discendorum) verfassen, der knapp und klar formuliert sein muss, damit „man die unendlichen Sonderfälle auf einen Schlag“ lernen kann. Insofern nahm Leibniz die Idee eines „Allgemeinen Teils“ mit elementaren Regelungen für alle Rechtsmaterien schon vorweg. Politische Philosophie Leibniz’ Reformbestrebungen beschränkten sich nicht auf das Privatrecht, sondern erfassen auch das Öffentliche Recht. Insbesondere mit den folgenden Problemfeldern befasste sich Leibniz: Da ist einmal das deutsche Reich mit seinen Spannungen zwischen den Souveränitätsansprüchen der Territorialfürsten und dem Majestätsrecht des Kaisers. Hinzu kommen die machtpolitischen Kämpfe in Europa, die das Verhältnis der Nationen aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Ferner untersucht Leibniz die Bedrängnis, in welcher die Kirche in Bezug auf den Streit der Konfessionen leidet in rechtlicher Hinsicht. Aus heutiger Sicht interessieren vor allem Leibniz’ Vorschläge zur Lösung des Souveränitätsproblems. Während die Begründer der modernen Staatsrechtslehre, Jean Bodin, Thomas Hobbes oder Samuel Pufendorf, unter Souveränität die Fähigkeit zu ausschließlicher rechtlicher Selbstbestimmung verstehen, gliedert Leibniz das deutsche Reich in eine Vielzahl souveräner Einzelstaaten. Obwohl alle Fürsten dem Majestätsrecht des Kaisers höchste Ehrerbietung schulden, bleibe ihr Souveränitätsrecht dadurch unberührt. Es ist also die Idee einer geteilten Souveränität, die Leibniz’ Staatsrechtslehre von den zentralistischen Vorstellungen des aufgeklärten Absolutismus unterscheidet und ihn zu einem Vordenker des modernen Rechtspluralismus macht. Leibniz Ideen über den Staat, Europa und die Welt mit rechtlichen Bezügen hätten einen Platz im Klassikerkanon des politischen Denkens darstellen können. Doch es kam anders, der Rechtsgelehrte Leibniz ist rasch in Vergessenheit geraten. Noch im 20. Jahrhundert herrschte die Auffassung, Leibniz sei ein genialer Wissenschaftler gewesen, der aus Mangel an politischem Urteilsvermögen die Zeichen der Zeit verkannt habe. Nicht nur im anbrechenden Zeitalter des Absolutismus war also kein Platz für ein juristisches Werk, das im Widerspruch zur Lehre vom zentralisierten Flächenstaat steht. Mathematik Analysis situs Leibniz begründete eine Mathematik räumlicher Lage- und Ortsbeziehungen, die nicht wie die Algebra auf Zahlen und Größen basieren sollte, sondern auf rein qualitativen Eigenschaften. Er nannte seine neue Wissenschaft Analysis situs, verwendete aber auch andere Bezeichnungen wie Geometria situs, Calculus situs, Nouvelle characteristique oder Analyse géometrique. Daraus entstand später die Topologie, die von Johann Benedict Listing in Auseinandersetzung mit der Leibnizschen Analysis Situs entwickelt wurde. Logik Leibniz befasste sich intensiv mit Logik und propagierte erstmals eine symbolische Logik in Kalkülform. Seine Logikkalkül-Skizzen veröffentlichte er allerdings nicht; erst sehr verspätet (1840, 1890, 1903) wurden sie publiziert. Seine charakteristischen Zahlen aus dem Jahr 1679 sind ein arithmetisches Modell der Logik des Aristoteles. Seinen Hauptkalkül entwickelte er in den Generales Inquisitiones von 1686. Er entwarf dort die erste Gleichungslogik und leitete in ihr fast zwei Jahrhunderte vor der Boole-Schule die Gesetze der booleschen Verbandsordnung ab. Innerhalb dieses Kalküls formulierte er die traditionelle Begriffslogik bzw. Syllogistik auf gleichungslogischer Grundlage. Er erfand die Mengendiagramme lange vor Leonhard Euler und John Venn und stellte mit ihnen die Syllogistik dar. Das Leibniz’sche Gesetz geht auf ihn zurück. Leibniz versuchte zeitlebens, die Idee einer Universalsprache (characteristica universalis) umzusetzen: Die „[…] Idee eines ‚Alphabets des menschlichen Denkens‘, dessen ‚Buchstabenkombinationen‘ alle menschlichen Begriffe mechanisch auf Grundbegriffe zurückführt, mit denen man alle wahren Sätze mechanisch erhält.“ Dieses universelle Logikkalkül soll dabei nicht nur über alle Begriffe in der Wissenschaft verfügen, sondern überdies zur Verständigung aller Menschen dienen. Leibniz verknüpfte mit der Konzeption einer solchen Sprache die Hoffnung, man könne die Philosophie auf ein festeres rationalistisches Fundament (im Sinne einer Mathesis universalis) stellen und Übereinkunft über die Wahrheit von Aussagen erlangen: Infinitesimalrechnung Während eines Parisaufenthalts in den Jahren 1672 bis 1676 trat Leibniz in Kontakt zu führenden Mathematikern seiner Zeit. Ohne sichere theoretische Grundlage lernte man damals, unendliche Folgen und Reihen aufzusummieren. Leibniz fand ein Kriterium zur Konvergenz alternierender Reihen (Leibniz-Kriterium), aus dem insbesondere die Konvergenz der sogenannten Leibniz-Reihe folgt. Mittels geometrischer Überlegungen fand er auch deren Grenzwert . Durch Summation von Reihen gelangte Leibniz 1675 zur Integral- und von dort zur Differentialrechnung; er dokumentierte seine Betrachtungen 1684 mit einer Publikation in den acta eruditorum. Nach heutigen Maßstäben (Priorität der Erstveröffentlichung) würde er als alleiniger Urheber der Infinitesimalrechnung gelten; diese Interpretation ist jedoch anachronistisch, da wissenschaftliche Kommunikation im 17. Jahrhundert primär mündlich, über den Zugang zu Manuskripten und per Briefwechsel erfolgte. Bleibendes Verdienst von Leibniz ist insbesondere die heute noch übliche Notation von Differentialen (mit einem Buchstaben „d“ von lateinisch differentia), Differentialquotienten und Integralen (; das Integralzeichen ist abgeleitet aus dem Buchstaben S von lateinisch summa). Prioritätsstreit Der englische Naturwissenschaftler Sir Isaac Newton hatte die Grundzüge der Infinitesimalrechnung bereits 1666 entwickelt. Jedoch veröffentlichte er seine Ergebnisse erst 1687. Daraus entstand Jahrzehnte später der vielleicht berühmteste Prioritätsstreit der Wissenschaftsgeschichte. Die ersten Pamphlete, in denen Leibniz beziehungsweise Newton beschuldigt wurden, den jeweils anderen plagiiert zu haben, erschienen 1699 und 1704. Im Jahr 1711 brach der Streit in voller Schärfe aus. Die Royal Society verabschiedete 1712 einen Untersuchungsbericht, der von Newton selbst fabriziert worden war; Johann I Bernoulli antwortete 1713 mit einem persönlichen Angriff auf Newton. Der Streit wurde über Leibniz’ Tod hinaus fortgeführt und vergiftete die Beziehungen zwischen englischen und kontinentalen Mathematikern über mehrere Generationen hinweg. Schaden nahm vor allem die Entwicklung der Mathematik in England, die lange an den technisch unterlegenen newtonschen Notationen festhielt. Heute ist sich die Forschung einig, dass Leibniz und Newton ihre Kalküle unabhängig voneinander entwickelt haben. Matrix und Dyadik Bei der Beschäftigung mit der Matrizen-Rechnung fand der Mathematiker die sogenannte Leibniz-Formel zur Berechnung der Determinante für eine allgemeine -Matrix: Er entwickelte auch die Dyadik (Dualsystem) mit den Ziffern 0 und 1 (Dualzahlen), die für die moderne Computertechnik von grundlegender Bedeutung ist. Dieses ist für ihn auch ein Gleichnis für das Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung: So wie eine einzige positive Ziffer (1) ausreicht, um in Kombination mit Leerstellen (0) jede Zahl darstellen zu können, so lassen sich auch alle Dinge auf Gott als einzigen Ursprung zurückführen. Dieses Sinnbild des christlichen Glaubens wollte Leibniz sogar in der Chinamission als Argument für den Monotheismus einsetzen. Die Leibniz’sche Rechenmaschine Viele bedeutende Erfindungen stammen von Leibniz, zum Beispiel eine Rechenmaschine sowie Erfindungen zur Nutzung des Windes bei der Grubenentwässerung im Oberharzer Bergbau. Leibniz’ Rechenmaschine (von der es fünf aufeinanderfolgende Versionen gibt) war ein historischer Meilenstein im Bau von mechanischen Rechenmaschinen. Das von ihm erfundene Staffelwalzenprinzip, mit dem Multiplikationen auf mechanische Weise realisiert werden konnten, hielt sich über 200 Jahre als unverzichtbare Basistechnik. Die feinmechanischen Probleme, die es beim Bau einer solchen Maschine zu überwinden galt, waren jedoch so immens, dass berechtigte Zweifel daran bestehen, ob zu Leibniz’ Lebzeiten jemals eine fehlerfrei arbeitende Maschine realisiert werden konnte. Eine fehlerfrei arbeitende Replik nach Leibniz’ Konstruktionsplan konnte erst 1990 durch Nikolaus Joachim Lehmann (Dresden) realisiert werden. Zitat von Leibniz: Im weiteren Sinne war Leibniz wegbereitend für die Rechenmaschine im heutigen Sinne, den Computer. Er entdeckte, dass sich Rechenprozesse viel einfacher mit einer binären Zahlencodierung durchführen lassen, und ferner, dass sich mittels des binären Zahlencodes die Prinzipien der Arithmetik mit den Prinzipien der Logik verknüpfen lassen (siehe De progressione Dyadica, 1679; oder Explication de l’Arithmetique Binaire, 1703). Die hier erforschten Prinzipien wurden erst 230 Jahre später in der Konstruktion von Rechenmaschinen eingesetzt (z. B. bei der Zuse Z1). Leibniz hatte beim Bau einer Rechenmaschine, anders als frühere Erfinder, eher philosophische Motive. Mit dem viel bemühten Zitat, es sei „ausgezeichneter Menschen unwürdig, gleich Sklaven Stunden zu verlieren mit Berechnungen“, wird eine Grenze zwischen Mensch und Maschine gezogen. Dem Erfindergeist (Freiheit, Spontaneität und Vernunft) als dem spezifisch Menschlichen wird das Mechanische der technisch-natürlichen Kausalität gegenübergestellt. Leibniz Erfindung sollte daher eng im Zusammenhang mit den etwa zeitgleich erschienenen Arbeiten zur Monadologie gesehen werden, statt in Verbindung mit praktischen, d. h. kaufmännischen, technischen und mathematischen Interessen. Die Machina deciphratoria Eine weitere „Rechenmaschine“ von Leibniz blieb Konzept: die Machina deciphratoria, ein kryptologisches Gerät. Bereits in den späten 1670er-Jahren hat er die Chiffriermaschine erfunden, allerdings erst 1688 in einem Schriftsatz für eine Audienz bei Kaiser Leopold I. in Wien beschrieben. „Damit nahm er um reichlich 200 Jahre das Prinzip der Rotor-Schlüsselmaschine von Arvid Damm (1869–1927) vorweg, nach dem die erste Generation der mechanischen Chiffriermaschinen (ab 1918) funktionierte.“ In den Jahren 2010–2011 hat Nicholas Rescher das Prinzip aus Leibniz’ Aufzeichnungen rekonstruiert und Klaus Badur den Entwurf in Detailkonstruktionen umgesetzt, aufgrund der das funktionierende Gerät 2014 von der Firma G. Rottstedt in Garbsen gebaut wurde. Kaiser Leopold hat Leibniz’ Angebot nicht weiter erwogen, da seine Berater ihre damaligen Verfahren (fälschlich) für sicher hielten. Zur Funktionsweise: „Für die leibnizsche Maschine besteht der Schlüssel aus a) einem Sortiment von sechs Chiffrieralphabeten, die mitsamt den zugehörigen Dechiffrieralphabeten auf die Trommel aufzubringen sind; b) der Angabe, welches von zwölf möglichen Lückenzahnrädern zum Einsatz kommt; c) der Anfangsposition dieses Lückenzahnrads. Für die sechs Chiffrieralphabete hat man im Prinzip die Auswahl aus 26! = 1 × 2 × … × 26 ≈ 4 × 1026 Möglichkeiten. Realistischerweise hätte man dem Diplomaten wohl kaum mehr als 50 Alphabetpaare in den Geheimkoffer gegeben. Aber solange der Spion nicht an den Koffer kommt, muss er das komplette Sortiment der Möglichkeiten in Betracht ziehen. Und selbst mit 50 Alphabetpaaren bleiben 50!/(50 – 6)! = 11.441.304.000 Möglichkeiten, sie auf der Trommel zu montieren – die Reihenfolge der Streifen mitgerechnet.“ Geschichtswissenschaft Im Streit um das historische Ausgangsgebiet der germanischen Sprachen bzw. Völker vertraten schwedische Forscher wie Olof Rudbeck d. Ä. bereits im 17. Jahrhundert die Theorie, Skandinavien sei die „Urheimat“ der Germanen (Gothizismus). Leibniz widersprach dieser Theorie im Jahre 1696 in seiner Dissertatio de origine Germanorum, wobei er – seiner Zeit weit voraus – mit dem Befund der Gewässernamen (Hydronymie) argumentierte. In dem bis heute nicht abschließend entschiedenen Gelehrtenstreit neigt Anfang des 21. Jahrhunderts (wieder) eine wachsende Zahl von Prähistorikern (u. a. Rolf Hachmann) und Linguisten (u. a. Jürgen Udolph, Wolfram Euler) der von Leibniz vertretenen Position zu. Philologie Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung über die Herkunft des Germanischen widersprach Leibniz zudem der von zeitgenössischen schwedischen Gelehrten vertretenen Ansicht, ein archaisches Schwedisch sei die Urform der germanischen Sprachen. Ebenso wies er die damals noch weit verbreitete Ansicht zurück, Hebräisch sei die erste Sprache der gesamten Menschheit. Im Zuge seiner intensiven philologischen Studien arbeitete er über die Frage der Ursprünge der slawischen Sprachen, erkannte die linguistische Bedeutung des Sanskrit und war vom klassischen Chinesisch fasziniert. Ebenfalls als ein intensiver Teil seiner Studien im Bereich der Albanologie lieferte Leibniz als erster in der deutschsprachigen Literatur (1646–1716) die Erkenntnis und seine Rückschlüsse über die Identität der Albaner als direkte Nachfahren der Illyrer. Viele Forscher schlossen sich Leibniz’ These vor allem nach dem zielstrebigen und erfolgreichen Zusammentragen der damals schwer zugänglichen und oft durch die Besatzungszustände der albanischsprachigen Gebiete unterdrückten, albanologischen Literatur an. Naturgeschichte Als im Juni 1692 in einem Steinbruch bei Thiede, heute ein Stadtteil von Salzgitter, ein riesiges prähistorisches Skelett freigelegt wurde, wies Leibniz anhand eines Zahnes nach, dass man nicht die Überreste eines „Riesen“, sondern das Knochengerüst eines Mammuts oder See-Elefanten gefunden habe. Johann Georg von Eckhart machte den Inhalt des erst 1749 posthum veröffentlichten Werkes Protogaeae durch eigene Nachforschungen zur Genese der Welt und Mitteilungen an die Französische Akademie dem Inhalt nach bekannt. Im Gegenzuge waren die Würzburger Lügensteine des Johann Beringer vermutlich eine Intrige der Jesuiten gegen das von Eckhart in Würzburg vertretene Geschichtsmodell. Durch die „Protogaea“ gilt Leibniz als Pionier der Höhlenkunde und als Mitbegründer der Paläontologie, da er darin Fossilien nicht als Naturspiele betrachtete, sondern als Versteinerungen früherer Organismen, die durch große Umwälzungen in anderen Teilen der Erde verschwunden seien oder verändert wurden. Leibniz hatte auch erste Vorstellungen zu einem evolutiven Artenwandel und vermutete beispielsweise, dass die verschiedenen Raubkatzenarten von einer gemeinsamen ursprünglichen Katzenart abstammen könnten. Einige Stücke seiner Sammlungen haben sich bis heute an der Universität Göttingen im Geowissenschaftlichen Museum der Universität Göttingen erhalten. Briefwechsel Leibniz war einer der wichtigsten interdisziplinären Gelehrten seiner Epoche. Ein großer Teil seines Wirkens ist in Briefen dokumentiert. Aus der Zeit zwischen 1663 und 1716 sind über 20.000 Briefe an Leibniz überliefert, die er von rund 1.100 Korrespondenten aus 16 Ländern erhalten hat. Im Leibniz-Archiv sind rund 15.000 Briefe dokumentiert. Zu seinen Korrespondenten zählen die Naturwissenschaftler Christiaan Huygens und Lambert van Velthuysen, Juristen und Staatsmänner wie Samuel von Pufendorf, Magnus von Wedderkop oder Veit Ludwig von Seckendorff, die Philosophen Thomas Hobbes, Baruch de Spinoza und Jakob Thomasius und der Theologe Antoine Arnauld. Er war ein „homo societatis“. Leibniz erhielt nach der Erfindung seiner Rechenmaschine eine Zeichnung von dem Jesuiten Joachim Bouvet, der sich damals in China unter anderem mit dem Studium des I Ging beschäftigte, und auf welcher die Anordnung der Hexagramme nach Fu Xi (dem Autor des I Ging) gezeigt ist. Auf dieser Zeichnung trug Leibniz handschriftlich die numerischen Zahlen korrespondierend zu dem abgebildeten Binärcode ein. Seine Korrespondenz ging in die 1697 veröffentlichten Novissima Sinica (Neueste Nachrichten aus China) ein, mit denen Leibniz dazu beitrug, den Blick seiner Zeitgenossen über Europa hinaus zu weiten. Er war einer der ersten, die von einer damals herrschenden „Gewissheit“ abrückten, nämlich von der Vorstellung, Europa sei die einzige bestehende Hochkultur. Im Vorwort der Novissima Sinica schrieb Leibniz: „Wer hätte einst geglaubt, dass es auf dem Erdkreis ein Volk gibt, dass uns, die wir doch nach unserer Meinung so ganz und gar zu feinen Sitten erzogen sind, gleichwohl in den Regeln des kultivierten Lebens übertrifft?“ Zu den aufschlussreichsten Quellen zur Arbeit, den persönlichen und finanziellen Verhältnissen Leibniz’ sowie der Situation am kurfürstlichen Hof von Hannover gehört der intensive Briefwechsel mit seinem Amanuensis Johann Friedrich Hodann (1674–1745), dem in den Zeiten der oft jahrelangen Abwesenheit von Hannover die Aufsicht und Verwaltung des Hauses in der Schmiedestraße und der Gärten übertragen wurde. Gedenken Benannte Methoden und Phänomene Leibniz-Kriterium, mathematisches Konvergenzkriterium Leibnizregel, siehe Produktregel Leibniz-Reihe zur Annäherung an die Kreiszahl Satz von Leibniz in der Ebenen Geometrie Satz von Newton-Leibniz, siehe Fundamentalsatz der Analysis Sektorformel von Leibniz zur Berechnung von Flächeninhalten Leibniz-Formel, siehe Determinante Briefwechsel als UNESCO-Weltdokumentenerbe Das Deutsche Nominierungskomitee hat den in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover aufbewahrten Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz 2006 für das UNESCO-Programm Weltdokumentenerbe (Memory of the World) vorgeschlagen. Im Herbst 2007 entschied der Generaldirektor der UNESCO abschließend über den Neueintrag in das Memory of the World-Register. Damit erklärte die UNESCO den Briefwechsel als Bestandteil des Weltgedächtnisses und damit als besonders schützenswert. Der Briefwechsel enthält rund 15.000 Briefe mit 1100 Korrespondenten. Er ist Bestandteil des in Hannover aufbewahrten Leibniz-Nachlasses mit ca. 50.000 Nummern mit rund 200.000 Blättern. Zum Nachlass gehören auch die Bibliothek von Leibniz und das einzig erhaltene Exemplar der von ihm konstruierten Vier-Spezies-Rechenmaschine. Denkmäler Das Leibnizdenkmal im Innenhof der Universität Leipzig zeigt Leibniz als überlebensgroße Statue. In Hannover erinnern zwei Denkmäler im öffentlichen Raum an Leibniz. Der Leibniztempel im Georgengarten wurde 1790 geweiht; es handelt sich um das erste einem Nichtadeligen gewidmete Bauwerk in Deutschland. Am Opernplatz befindet sich ein von Stefan Schwerdtfeger geschaffener bronzener Schattenriss von Leibniz’ Kopf, der am 27. November 2008 eingeweiht wurde. Die 2,5 m hohe Skulptur auf einem Granitsockel wurde von zehn Sponsoren für 110.000 Euro gestiftet. Eine Seite bildet das Leibniz-Zitat Unitas in multitudine (Einheit der Vielfalt) ab, die andere Seite zeigt das von Leibniz entwickelte binäre Zahlensystem. Patronat und Institutionen Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover (Umbenennung der Universität Hannover am 1. Juli 2006) Leibniz-Akademie in Hannover Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft Hannover Leibniz-Gemeinschaft, ein Zusammenschluss deutscher Forschungsinstitute unterschiedlicher Fachrichtungen mit Sitz in Berlin. Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin Leibniz Kolleg Tübingen Leibniz-Rechenzentrum Garching Leibniz-Gymnasien in ganz Deutschland Preisvergaben Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis Leibniz-Ring-Hannover Leibniz-Medaille der Preußischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften der DDR und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Leibniz-Medaille der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Medaille der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin Gedenktag 1. Juli: Der Leibniz-Tag am Geburtstag von Leibniz wird seit 2006 unter der Schirmherrschaft des hannoverschen Oberbürgermeisters in Kooperation mit der Leibnizschule Hannover und der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung veranstaltet. 14. November im Evangelischen Namenkalender, der Todestag von Leibniz Ausstellungen 1945, 1. Juli – 1946 (?): Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716). Ausstellung zu seinem 300. Geburtstag. Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek 1966: Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716). Ausstellung zu seinem 250. Todestage. Hannover, Leibnizhaus 1987, 10. Juni – 22. Juli: Leibniz in Berlin. Berlin, Schloss Charlottenburg. Veranstalter: Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten in Berlin in Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Archiv der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover 1988, Juni: Leibniz und Europa (Ausstellung aus Anlass eines Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft). Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek. Kurator: Albert Heinemann 1990–2007: Gottfried Wilhelm Leibniz. Das Wirken des großen Universalgelehrten als Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker (mehrfach überarbeitete Wanderausstellung, die insgesamt elf Mal im In- und Ausland gezeigt wurde und 2008 an der Universität Hannover als Dauerausstellung fest installiert wurde). Erstausstellung: Hannover, Universität (1990). Weitere Ausstellungsstationen: Bonn (1990), Minden (1990), Hannover (2000), Kassel (2000), Berlin (2001), Wien (2002), Altdorf (2005), Hannover (2006). Wolfenbüttel (2007). Kurator: Erwin Stein [u. a.] 1996: Der junge Leibniz und Leipzig. Ausstellung zum 350. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz. Leipzig, Altes Rathaus. Kurator: Detlef Döring 1996: Gottfried Wilhelm Leibniz. Eine Ausstellung zu Leben und Werk in Büchern und Dokumenten. Köln, Universitäts- und Stadtbibliothek 2006: Leibniz und seine Bücher (Ausstellung anlässlich des Leibniz-Sommers 2006). Hannover, Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek 2008 ff.: Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) (aus der Wanderausstellung 1990–2007 hervorgegangene Dauerausstellung). Hannover, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität. Kurator: Erwin Stein 2010 ff.: Leibniz Virtuell (Virtuelle Ausstellung über Leben und Werk von G. W. Leibniz im Rahmen von „LeibnizCentral – Das Wissensportal zu Gottfried Wilhelm Leibniz“). Verantwortlich: Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek, Hannover 2016, 7. Jan. – 19. Juni: Leibniz in bester Gesellschaft. Hannover, Neues Rathaus. Koproduktion der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, des Leibniz-Archivs, des hannoverschen Künstlers Tobias Schreiber, der Hannover Marketing & Tourismus Gesellschaft sowie der Landeshauptstadt Hannover 2016, 15. Feb. – 31. Dez.: Leibniz als Mathematiker. Ausstellung zum 300. Todestag von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716). Würzburg, Teilbibliothek des Instituts für Mathematik der Universität Würzburg. Kurator: Hans-Joachim Vollrath 2016, 15. Apr. – 2017, 26. Jan.: Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716). Leben, Werk, Wirkung. Eine Ausstellung historischer Bücher und Dokumente anlässlich des 300. Todestages des Universalgelehrten. Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek. Kuratoren: Kirsten Gerth, Uwe B. Glatz 2016, 21. Juni – 31. Dez.: 1716 – Leibniz’ letztes Lebensjahr. Unbekanntes zu einem bekannten Universalgelehrten. Hannover, Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek. Kurator: Michael Kempe 2016, 22. Juni – 2017, Jan.: II00II0III0 – Leibniz. Schönste aller Welten. Foto-Ausstellung. Ein Projekt von Olaf Martens. Leipzig, Alte Nikolaischule 2016, 30. Juni – 2017, 5. Feb.: Leibniz und die Leichtigkeit des Denkens. Historische Modelle: Kunstwerke, Medien, Visionen. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum. Kurator: Frank Matthias Kammel 2016, 9. Juli – 30. Okt.: Leibniz. Das Universalgenie in Alltag und Comic. Hannover, Wilhelm Busch – Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst. Konzeption: Georg Ruppelt 2016, 5. – 18. Okt.: Im Leibniz. Über Leibniz. Mathe und mehr. Ausstellung anlässlich des 350. Jubiläums der Immatrikulation von Gottfried Wilhelm Leibniz an der Universität Altdorf. Altdorf, Leibniz-Gymnasium. Veranstalter: Leibniz-Gymnasium Altdorf 2016, 11. Nov. – 2017, 2. Apr.: Leibniz – das Universalgenie im „Mosaik“. Leipzig, Deutsches Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek Sonstiges Pastor Kranold von der Neustädter Kirche ließ 1906 zwei Fotografien des Schädels von Leibniz durch Georg Alpers junior anfertigen. Leibnitz (Mondkrater), bei 38° 18′ S, 179° 12′ O (5149) Leibniz, 1960 entdeckter und 1993 benannter Hauptgürtelasteroid Nach dem Philosophen Leibniz ist auch eine Pflanzengattung Leibnitzia aus der Familie der Korbblütler (Asteraceae) benannt. Leibniz Butterkeks der „Hannoverschen Cakes-Fabrik H. Bahlsen 1891“ Pik Leibniz, Berg im kirgisischen Pamir-Gebirge Gottfried ist der Name des Supercomputers HLRN-III des Norddeutschen Verbunds für Hoch- und Höchstleistungsrechnen am Standort Hannover Leibnizallee, Weimar Leibnizufer, sechsspurige Straße entlang der Leine in der hannoverschen Innenstadt Leibnizstraße in Berlin-Charlottenburg Gottfried-Leibniz-Straße in Berlin-Adlershof Leibnizstraße in Leipzig Leibnizstraße in Magdeburg Leibnizgasse in Wien Europamarke vom 8. Mai 1980 Literatur Werke Disputatio Metaphysica De Principio Individui. Leipzig 1663. (Zusammen mit Jakob Thomasius.) Digitalisat der SLUB-Dresden. Disputatio Inauguralis De Casibus Perplexis In Jure. [Altdorf] 1666. Digitalisat der SLUB-Dresden. Nova Methodus Discendae Docendaeque Iurisprudentiae. Frankfurt 1667. Digitalisat der SLUB-Dresden. Dialogus de connexione inter res et verba. 1677. De vera proportione circuli ad quadratum circumscriptum in Numeris rationalibus expressa. 1682. Nova Methodus Pro Maximis Et Minimis. Leipzig 1684. Metaphysische Abhandlung (Originaltitel: Discours de métaphysique). 1686. Ars Combinatoria. [Jena] 1690 (digital.slub-dresden.de). Système nouveau de la nature. 1695. Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (Originaltitel: Nouveaux Essais sur L’entendement humain). 1704. Scriptores rerum Brunsvicensium. 3 Bände. Hannover 1707–1711, (Von Leibniz bzw. Godefrid Guilelmus Leibnitius herausgegebene Quellensammlung zur welfischen und niedersächsischen Geschichte). Digitalisat der ULB Düsseldorf Theodizee (Originaltitel: Essais de Théodicée). Amsterdam 1710. Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade (Originaltitel: Principes de la nature et de la Grâce fondés en raison). 1714. Monadologie (Originaltitel: La Monadologie). 1714 (erschienen 1720). Protogaea oder Abhandlung von der ersten Gestalt der Erde und den Spuren der Historie in Denkmalen der Natur. Leipzig 1749 (posthum). Digitalisat Textausgaben Zu den von Eduard Bodemann herausgegebenen Ausgaben, siehe dort. Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe. Herausgegeben von der Preußischen (jetzt Deutschen) Akademie der Wissenschaften, 1923 – Informationen und teils Voreditionen online (wird ergänzt). Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. Herausgegeben von C. I. Gerhardt, 7 Bde., 1875–1890 (wiederholt nachgedruckt). Leibnizens mathematische Schriften. Herausgegeben von C. I. Gerhardt, 7 Bde., 1849–1863. Opuscules et fragments inédits de Leibniz. Herausgegeben von Louis Couturat, 1903. Textes Inédits. Herausgegeben von Gaston Grua. Presses Universitaires de France, Paris 1948. Generales inquisitiones de analysi notionum et veritatum. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Franz Schupp. Hamburg 1982, ISBN 3-7873-0533-5. Ermahnung an die Deutschen. Von deutscher Sprachpflege. Unveränderter reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1916. 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Ausgewählt und vorgestellt Reihe: Philosophie jetzt! dtv, München 2000 (zuerst: Eugen Diederichs, ebd. 1996) ISBN 3-423-30691-2 (bis S. 38: Einführung & Lebenslauf. Ab S. 39–498 Auszüge aus allen Schriften & Anmerkungen dazu. Ferner: Literatur & ausführliches Stichwortverzeichnis). Michael-Thomas Liske: Gottfried Wilhelm Leibniz. Beck, München 2000, ISBN 3-406-41955-0. Hans Poser: Gottfried Wilhelm Leibniz zur Einführung. 3., korrigierte Auflage. Junius, Hamburg 2016, ISBN 978-3-88506-613-2. Werner Schneiders: Gottfried Wilhelm Leibniz: Das Reich der Vernunft. In: Josef Speck (Hrsg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit I. Göttingen 1979, S. 139–175. Rechenmaschine Ernst-Eberhard Wilberg: Die Leibniz’sche Rechenmaschine und die Julius-Universität in Helmstedt. Braunschweig 1977 (Beiträge zur Geschichte der Carolo-Wilhelmina 5). Johann Stephan Pütter: Leibnitz’ Rechenmaschine. 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Weblinks Leibniz-Bibliographie der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek Literatur über Gottfried Wilhelm Leibniz in der Niedersächsischen Bibliographie Leibniz im Internet Archive Arbeitskatalog der Leibniz-Edition Nachweis von mehr als 67.000 Textzeugen von Schriften und Briefen von Leibniz und seinen Korrespondenten, zum Großteil mit Links auf Scans der Handschriften, wird von der Leibniz-Edition Potsdam ständig aktualisiert Digitalisierter Leibniznachlass in den Digitalen Sammlungen der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Basiswissen Gottfried Wilhelm Leibniz auf der Homepage der Universität Hannover (PDF; 1,9 MB) Personen- und Korrespondenz-Datenbank der Leibniz-Edition Diese frei zugängliche Datenbank wird unter Federführung des Leibniz-Archivs Hannover laufend aktualisiert. Kumuliertes Sachregister der Akademie-Ausgabe der Leibniz-Edition Potsdam Universität Münster Forschungsstelle Leibniz Stanford Encyclopedia of Philosophy: Internet Encyclopedia of Philosophy: Werke Nachweise von lateinischen Werken im Internet Akademie Ausgabe Online Kleine Auswahl in der Biblioteca Augustana Physikalische Schriften Jürgen Schmidhuber: Der erste Informatiker In: faz.net, 19. Mai 2021, abgerufen am 26. Mai 2021 Einzelnachweise Universalgelehrter Person des evangelischen Namenkalenders Person (Hannover) Gründer einer Organisation Rationalist Auswärtiges Mitglied der Royal Society Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Académie des sciences Vertreter der Philosophie des Geistes Philosoph der Frühen Neuzeit Philosoph (17. Jahrhundert) Erkenntnistheoretiker Mathematiker (17. Jahrhundert) Logiker Physiker (17. Jahrhundert) Physiker (18. Jahrhundert) Aufklärer Geheimrat Bibliothekar (Hannover) Erfinder Bibliothekar (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) Kulturpolitiker Christlicher Philosoph Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Reichspublizistik Geschichte der Informatik Literatur (Neulatein) Quantitative Linguistik Walhalla Deutscher Absolvent der Universität Altdorf Namensgeber für eine Universität Geboren 1646 Gestorben 1716 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Garbage%20Collection
Garbage Collection
Die Garbage Collection, kurz GC ( für Müllabfuhr, auch automatische Speicherbereinigung oder Freispeichersammlung genannt) bezeichnet in der Software- und Informationstechnik eine automatische Speicherverwaltung, die zur Vermeidung von Speicherproblemen beiträgt; der Vorteil wird mit einem erhöhten Ressourcenverbrauch erkauft. Unter anderem wird der Speicherbedarf eines Computerprogramms minimiert. Dabei wird zur Laufzeit versucht, nicht länger benötigte Speicherbereiche automatisch zu identifizieren, um diese dann freizugeben. Manche automatischen Speicherbereinigungen führen darüber hinaus die noch verwendeten Speicherbereiche zusammen (Defragmentierung). Motivation In vielen Softwaresystemen wird benötigter (Arbeits-)Speicher dynamisch (bei Bedarf) reserviert. Wird er nach Abarbeitung eines Programmteils nicht weiter verwendet, so sollte der Speicher wieder freigegeben werden, um eine Wiederverwendung dieser Ressource zu ermöglichen. Bei einer expliziten, manuellen Speicherverwaltung geschieht dies durch Festlegen der Speicherreservierung und -freigabe im Programm durch den Programmierer, ein schnell komplex und damit potenziell fehlerträchtig werdendes Vorgehen. Neben dem Vergessen einer Freigabe, das längerfristig zu Speicherknappheit führen kann, führt das zu frühe Freigeben von (anderswo) noch benötigtem Speicher meist schnell zum Programmabsturz. Vergessene Speicherfreigaben führen oft nicht sofort zu Auffälligkeiten im Programmablauf – zumindest nicht während der typischerweise nur kurzen Programmläufe während der Entwicklung, sondern erst, wenn das fertige Programm vom Endanwender oft über Stunden und Tage ununterbrochen betrieben wird. Bei manueller Speicherverwaltung ist es oft nicht möglich oder sehr aufwendig, den Speicher zu defragmentieren. Stark fragmentierter Speicher kann dazu führen, dass eine Speicherreservierung des Programms fehlschlägt, da kein ausreichend großer zusammenhängender Bereich verfügbar ist. Beschreibung Bei der automatischen Speicherbereinigung ist die Idee, diese Aufgabe durch eine Garbage Collector genannte Routine automatisch erledigen zu lassen, ohne Zutun des Programmierers. D. h. das Speichermanagement wird von einer expliziten Festlegung zur Programmerstellungszeit (Compile-Zeit) zu einer dynamischen Analyse des Speicherbedarfs zur Laufzeit des Programms verschoben. Üblicherweise läuft eine solche automatische Speicherbereinigung im Hintergrund (bzw. nebenläufig) in mehr oder minder regelmäßigen Zeitabständen (z. B. während Pausen im Programmablauf) und wird nicht explizit durch das Programm ausgelöst. GC kann jedoch häufig auch zusätzlich direkt ausgelöst werden, um dem Programm etwas Kontrolle über die Bereinigung zu geben, z. B. in einer Situation von Speichermangel (Out-Of-Memory). Ansätze Es gibt verschiedene Ansätze, um eine automatische Speicherbereinigung zu implementieren. Gewünschte Anforderungen können ein möglichst geringer Speicherverschnitt, eine maximale Allozierungsgeschwindigkeit, eine Reduktion der Speicherfragmentierung und viele weitere mehr sein, die sich durchaus auch widersprechen und zu Zielkonflikten führen können. D. h. je nach Anwendungsfall kann eine automatische Speicherbereinigung sehr unterschiedlich aussehen und sicher viele Anforderungen erfüllen, manche aber auch nicht. Typischerweise werden jedoch alle diese Varianten zwei Grundtypen von Speicherbereinigungen zugeordnet: Konservative und nicht-konservative Speicherbereinigung. Konservative automatische Speicherbereinigung Unter einer konservativen automatischen Speicherbereinigung versteht man eine, die nicht zuverlässig alle nicht-referenzierten Objekte erkennen kann. Diese hat meistens keine Informationen darüber, wo sich im Speicher Referenzen auf andere Objekte befinden. Zur Speicherbereinigung muss sie den Speicher auf mögliche Referenzen durchsuchen. Jede Bitfolge, die eine gültige Referenz in den Speicher sein könnte, wird als Referenz angenommen. Es kann dabei nicht festgestellt werden, ob es sich dabei nicht doch um ein Zufallsmuster handelt. Daher erkennen konservative Kollektoren gelegentlich Objekte als referenziert, obwohl sie es eigentlich nicht sind. Da eine automatische Speicherbereinigung niemals Objekte entfernen darf, die noch gebraucht werden könnten, muss sie konservativ annehmen, dass es sich bei der erkannten Bitfolge um eine Referenz handelt. Insbesondere wenn eine automatische Speicherbereinigung auch dringlichere Ressourcen als Speicher freigeben muss (siehe Finalisierung), kann ein konservativer Kollektor ein Risiko darstellen. Im Allgemeinen findet man konservative GCs dort, wo interne Pointer (also Pointer auf unterschiedliche Teile eines Objektes) erlaubt sind, was eine Implementierung der automatischen Speicherverwaltung erschwert. Beispiele dafür sind die Sprachen C und C++. Hier sei anzumerken, dass dies nicht für die verwalteten Typen in C++/CLI gilt, da dort eigene Referenztypen für die automatische Speicherbereinigung eingeführt wurden, die es nicht erlauben, direkt die Adresse eines Objekts auszulesen. Nicht-konservative automatische Speicherbereinigung Unter einer nicht-konservativen automatischen Speicherbereinigung (manchmal auch als exakte Speicherbereinigung bezeichnet) versteht man eine, der Metadaten vorliegen, anhand derer sie alle Referenzen innerhalb von Objekten und Stackframes auffinden kann. Bei nicht-konservativer Speicherbereinigung wird zwischen Verfolgung (tracing garbage collectors) und Referenzzählung unterschieden. Verfolgende Algorithmen Mark-and-Sweep-Algorithmus Bei diesem Verfahren der Speicherbereinigung wird von bekanntermaßen noch benutzten Objekten ausgehend allen Verweisen auf andere Objekte gefolgt. Jedes so erreichte Objekt wird markiert. Anschließend werden alle nicht markierten Objekte zur Wiederverwendung freigegeben. Die Freigabe kann zur Speicherfragmentierung führen. Das Problem ist hierbei jedoch etwas geringer als bei manueller Speicherverwaltung. Während bei manueller Speicherverwaltung die Deallozierung immer sofort erfolgt, werden bei Mark-and-Sweep fast immer mehrere Objekte auf einmal beseitigt, wodurch größere zusammenhängende Speicherbereiche frei werden können. Mark-and-Compact-Algorithmus Der Mark-and-Compact-Algorithmus benutzt ebenso wie Mark-and-Sweep das Prinzip der Erreichbarkeit in Graphen, um noch referenzierte Objekte zu erkennen. Diese kopiert er an eine andere Stelle im Speicher. Der ganze Bereich, aus dem die noch referenzierten (man spricht hier auch von „lebenden“) Objekte herauskopiert wurden, wird nun als freier Speicherbereich betrachtet. Nachteil dieser Methode ist das Verschieben der „lebenden“ Objekte selber, denn Zeiger auf diese werden ungültig und müssen angepasst werden. Hierzu gibt es grundsätzlich wenigstens zwei Verfahren: Jedes Objekt wird über zwei Indirektionen (Umleitungen) angesprochen (über einen Zeiger auf einen Zeiger auf das Objekt), so dass beim Verschieben nur noch der Zeiger, der direkt auf das Objekt zeigt, angepasst werden muss. Alle Referenzen verweisen direkt auf das Objekt, um aufwändige Dereferenzierungen zu vermeiden, und werden nach einer Verschiebung geeignet angepasst. Das Verschieben der Objekte hat allerdings den Vorteil, dass jene, die die Bereinigung „überlebt“ haben, nun alle kompaktiert zusammenliegen und der Speicher damit praktisch defragmentiert ist. Auch ist es möglich, sehr schnell zu allozieren, weil freier Speicherplatz nicht aufwändig gesucht wird. Anschaulich: Werden die referenzierten Objekte an den „Anfang“ des Speichers verschoben, kann neuer Speicher einfach am „Ende“, hinter dem letzten lebenden Objekt, alloziert werden. Das Allozieren funktioniert damit vergleichsweise einfach, ähnlich wie beim Stack. Generationell Generationelle GCs verkürzen die Laufzeit der Speicherfreigabe. Dazu wird die Situation ausgenutzt, dass in der Praxis die Lebensdauer von Objekten meist sehr unterschiedlich ist: Auf der einen Seite existieren Objekte, die die gesamte Laufzeit der Applikation überleben. Auf der anderen Seite gibt es eine große Menge von Objekten, die nur temporär für die Durchführung einer einzelnen Aufgabe benötigt werden. Der Speicher wird bei generationellen GCs in mehrere Teilbereiche (Generationen) aufgeteilt. Die Langlebigkeit wird durch einen Zähler quantifiziert, welcher bei jeder Garbage-Collection inkrementiert wird. Mit jeder Anwendung des Freigabe-Algorithmus (zum Beispiel Mark-and-Compact oder Stop-And-Copy) werden langlebige Objekte in eine höhere Generation verschoben. Der Vorteil liegt darin, dass die Speicherbereinigung für niedrige Generationen häufiger und schneller durchgeführt werden kann, da nur ein Teil der Objekte verschoben und deren Zeiger verändert werden müssen. Höhere Generationen enthalten mit hoher Wahrscheinlichkeit nur lebende (bzw. sehr wenige tote) Objekte und müssen deshalb seltener bereinigt werden. Die Anzahl der Generationen wird heuristisch festgelegt (zum Beispiel drei in .NET, zwei für junge Objekte (auch Young-Generation genannt) und einer für alte Objekte (Tenured-Generation) in der Java-VM von Sun). Zudem können für jede Generation unterschiedliche Algorithmen verwendet werden. In Java beispielsweise wird für die niedrigste Generation ein modifizierter Stop-And-Copy-Algorithmus angewandt, für die höhere Mark-And-Compact. Referenzzählung Bei diesem Verfahren führt jedes Objekt einen Zähler mit der Anzahl aller Referenzen, die auf dieses Objekt zeigen. Fällt der Referenzzähler eines Objektes auf null, so kann es freigegeben werden. Ein besonderes Problem der Freispeichersammlung mit Referenzzählung liegt in so genannten zyklischen Referenzen, bei denen Objekte Referenzen aufeinander halten, aber sonst von keinem Konsumenten im System mehr verwendet werden. Nehmen wir beispielsweise an, Objekt A halte eine Referenz auf Objekt B und umgekehrt, während der Rest des Systems ihre Dienste nicht mehr benötigt. Somit verweisen beide Objekte gegenseitig (zyklisch) aufeinander, weshalb die automatische Speicherbereinigung nicht ohne weiteres erkennen kann, dass sie nicht mehr benutzt werden. Die Folge hiervon ist, dass der Speicher somit für die Dauer der Programmausführung belegt bleibt. Es gibt unterschiedliche Algorithmen, die solche Situationen erkennen und auflösen können, zumeist nach dem Prinzip der Erreichbarkeit in Graphen. Eigenschaften Mit einer Garbage Collection können einige häufig auftretende Programmierfehler, die beim Umgang mit dynamischer Speicherverwaltung oft gemacht werden, ganz oder zumindest teilweise vermieden werden. Besonders zu erwähnen sind hierbei Speicherlecks, die doppelte Freigabe von Ressourcen und die Dereferenzierung von versehentlich zu früh freigegebenen Ressourcen (Hängende Zeiger). Eine Freigabe noch referenzierter Objekte führt zu hängenden Zeigern, welche oft zu Programmabstürzen und undeterministischem Verhalten führen. Als Folge des Satzes von Rice kann nicht festgestellt werden, ob noch referenzierte Objekte jemals wieder benutzt werden. Darum gibt eine automatische Speicherbereinigung nur vom Programm nicht mehr referenzierte Objekte frei; sie verhindert keine „Speicherlecks“ der Sorte, dass das Programm auf den Speicherbereich noch eine Referenz hält, den Inhalt jedoch nie wieder nutzt. Derartige Speicherlecks stellen normalerweise Logische Fehler oder Designfehler (Fehler im Grundkonzept, falsche Anforderungen an die Software, Softwaredesign-Fehler) dar und können auch bei nicht-automatischer Speicherverwaltung entstehen. Zusätzlich behebt Garbage Collection das Problem der Speicherfragmentierung, das kein Programmierfehler im eigentlichen Sinne ist, jedoch auf ungünstigem Programmdesign basieren kann. Dieses Problem kann zu nur schwer reproduzierbaren Programmabstürzen führen. Das Problem der Speicherfragmentierung wird von explizitem/manuellem Speichermanagement im Allgemeinen nicht gelöst. Leistungsfähigkeit Ob eine automatische Speicherbereinigung Programme insgesamt beschleunigt oder ausbremst, ist umstritten. In einigen Kontexten, wie z. B. wenn Speicher erst dann freigegeben wird, wenn die Systemanforderungen gerade niedrig sind oder wenn die Speicherverwaltung des Systems durch Defragmentierung entlastet wird, kann sie zu Leistungssteigerungen führen. Es existieren Microbenchmarks, welche belegen, dass bei Programmiersprachen mit automatischer Speicherbereinigung die Anlage/Freigabe von Objekten in Summe schneller vonstattengeht als ohne, jedoch auch Microbenchmarks, die insgesamt einen überwiegend negativen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit sehen. Eine Veröffentlichung von 2005 gibt an, dass die Leistungsfähigkeit von Garbage Collection nur dann gleich gut wie oder leicht besser als beim expliziten Speichermanagement sei, wenn der Garbage Collection fünfmal so viel Speicher zusteht, wie tatsächlich benötigt wird. Bei dreimal so viel Speicher liefe Garbage Collection im Schnitt 17 % langsamer, bei doppelt so viel Speicher 70 % langsamer als bei explizitem Speichermanagement. Speicherverbrauch Beim Speicherverbrauch führt eine automatische Speicherverwaltung und -bereinigung zu einem Overhead gegenüber einem expliziten, händischen Speichermanagement aufgrund der zeitverzögerten Bereinigung. Eine wissenschaftliche Veröffentlichung von 1993 schätzt den Overhead bei konservativer Speicherbereinigung (wie beispielsweise für die Sprache C erhältlich) auf typischerweise 30–150 %. Andererseits ist eine korrekte Implementierung manueller Speicherfreigabe in nicht trivialen Programmen komplex umzusetzen, was Fehlerquellen für Speicherlecks bei manueller Speicherfreigabe schafft. Beispielsweise kann die oft angewandte Methode der Referenzzählung keine zyklischen Referenzen erkennen und führt ohne Ergänzung durch komplexe Algorithmen zu Speicherlecks. Determinismus Indem der Programmierer die Entscheidung über den Freigabezeitpunkt nicht explizit festlegt, gibt er auch einen Teil der Kontrolle über den Programmfluss auf. Da die automatische Speicherbereinigung i. d. R. nebenläufig stattfindet, hat das Programm selbst keine Information darüber, wann Speicherbereiche wirklich freigegeben bzw. Objekte finalisiert werden. Dadurch ist der Programmfluss potentiell nicht mehr deterministisch. Konkret können folgende Formen nicht-deterministischen Verhaltens auftreten: Der Zeitpunkt der Finalisierung ist unbestimmt: Selbst wenn ein Objekt als nicht mehr benötigt erkannt und zur Bereinigung ausgewählt wurde, ist der Zeitpunkt der Finalisierung unbestimmt, dadurch ist auch der Programmfluss nicht mehr deterministisch. Das ist insbesondere dann ein Problem, wenn das Objekt gemeinsam genutzte Ressourcen verwendet oder abschließende Berechnungen durchführt. Derartiges im Zuge der Finalisierung zu machen gilt in der Programmierung als Anti-Pattern. Die Laufzeit – sowohl des gesamten Programms als auch nur von einzelnen Abschnitten – kann durch die Unterbrechungen durch den Garbage Collector nicht-deterministisch werden. Das stellt speziell für Echtzeitsysteme ein Problem dar. So ist es in Echtzeitsystemen nicht hinnehmbar, dass die Programmausführung zu unvoraussehbaren Zeitpunkten durch die Ausführung der Speicherbereinigung unterbrochen wird. Für Echtzeitsysteme arbeitet, wie beispielsweise bei Real-Time Java, eine automatische Speicherbereinigung präemptiv (zum Beispiel im Leerlaufprozess) und inkrementell. Einfache inkrementelle Verfahren arbeiten zum Beispiel mit der sogenannten Dreifarb-Markierung. Defragmentierung Mittels kompaktierender Algorithmen kann Garbage Collection eine Fragmentierung des Speichers verhindern. Siehe dazu Mark and Compact. Damit werden Lücken im Speicher vermieden, die aufgrund zu großer neuer Objekte nicht aufgefüllt werden könnten. Defragmentierung führt zwar zu einer längeren Verzögerung beim Freigeben von Speicher, reduziert allerdings die Allozierungsdauer. Um die Speicherfreigabe möglichst schnell durchführen zu können, wird darauf geachtet, dass möglichst selten große Speicherbereiche aufgeräumt werden müssen. Deshalb werden diese Algorithmen bevorzugt in Kombination mit generationellen Verfahren eingesetzt. Defragmentierung des Speichers führt zu folgenden Vorteilen: Es wird der gesamte zur Verfügung stehende Speicher genutzt. Das Allozieren von Speicher dauert kürzer, da die Datenstrukturen, über die der Heap verwaltet wird, weniger komplex werden. Das Suchen nach einer freien Speicherstelle von passender Größe gestaltet sich einfacher. Nacheinander allozierte Objekte stehen meist nebeneinander im Speicher (man spricht hierbei von guter Speicherlokalität). Untersuchungen haben gezeigt, dass nacheinander erzeugte Objekte oft gleichzeitig für eine bestimmte Operation gebraucht werden. Wenn sie nahe genug beieinander liegen, erfolgen die Zugriffe auf den schnellen Cache-Speicher und nicht auf den dahinterliegenden, langsameren Speicher. Finalisierung Als Finalisierung () bezeichnet man in objekt-orientierten Programmiersprachen eine spezielle Methode, die aufgerufen wird, wenn ein Objekt durch den Garbage Collector freigegeben wird. Anders als bei Destruktoren sind Finalisierungsmethoden nicht deterministisch: Ein Destruktor wird aufgerufen, wenn ein Objekt explizit durch das Programm freigegeben wird. Die Finalisierungsmethode wird jedoch erst aufgerufen, wenn der Garbage Collector entscheidet, das Objekt freizugeben. Abhängig vom Garbage Collector kann dies zu einem beliebigen Zeitpunkt geschehen, wenn festgestellt wird, dass das Programm das Objekt nicht mehr verwendet – möglicherweise auch nie bzw. am Ende der Laufzeit (siehe auch Abschnitt Determinismus). Die Finalisierung kann in der Praxis zu Problemen führen, wenn sie für die Freigabe von Ressourcen verantwortlich ist: Objekte, die Ressourcen verwalten, sollten diese nicht erst im Zuge der Finalisierung freigeben. Ansonsten könnte das zu blockierenden Zuständen innerhalb des Programmablaufs führen, da der Zeitpunkt der Finalisierung nicht vorhersagbar ist. Finalisierung erzeugt zusätzliche Rechenlast für die automatische Speicherbereinigung, welche möglichst rasch und ohne den Rest des Programmablaufes zu stören durchgeführt werden sollte. Es gibt keine definierte Finalisierungsreihenfolge. Daher kann es geschehen, dass während der Finalisierung auf andere Objekte zugegriffen wird, die ebenfalls der Finalisierung unterworfen sind, zu diesem Zeitpunkt aber überhaupt nicht mehr existieren. Es gibt je nach Implementierung (beispielsweise in der Programmiersprache Java) keine Garantie dafür, dass die Finalisierungsroutine von der automatischen Speicherbereinigung überhaupt aufgerufen wird. In der Programmiersprache Java verfügen Objekte über eine spezielle Methode namens finalize(), die für diesen Zweck überschrieben werden kann. Aus den oben genannten Gründen wird für Java empfohlen, komplett auf Finalisierung zu verzichten und stattdessen eine explizite Terminierungsmethode zu verwenden. Der automatischen Speicherbereinigung fällt dann also ausschließlich die Aufgabe der Speicherverwaltung zu. Verbreitung Einige ältere (APL, LISP, BASIC) und viele neuere Programmiersprachen verfügen über eine integrierte automatische Speicherbereinigung. Für Programmiersprachen wie C, bei denen die Programmierer die Speicherverwaltung von Hand erledigen müssen, gibt es teilweise Bibliotheken, die eine automatische Speicherbereinigung zur Verfügung stellen, was bei der Programmierung aber leicht umgangen werden kann, beziehungsweise bei systemnaher Programmierung sogar umgangen werden muss. Aus diesem Grund können in einigen Programmiersprachen systemnah programmierte Module von der automatischen Speicherbereinigung ausgenommen werden, indem sie explizit gekennzeichnet werden (zum Beispiel in C# mit der Option /unsafe oder in Component Pascal mit der obligatorischen Anweisung IMPORT SYSTEM). Weitere Beispiele für Programmiersprachen mit einer automatischen Speicherverwaltung sind Smalltalk, Haskell, Oberon, Python, Ruby, OCaml, Perl, Visual Objects, ABAP, Objective-C (ab Version 2.0), D sowie alle Sprachen, die auf der Java Virtual Machine (JVM) ablaufen (Java, Groovy, Clojure, Scala, …) sowie die für die Common Language Runtime von .NET entwickelt wurden (zum Beispiel C# oder VB.NET). Apple Ökosystem Apple führte 2007 mit der Veröffentlichung von Mac OS X Leopard (10.5) Garbage Collection als die „wichtigste Veränderung“ für Objective-C 2.0 ein, die gemäß Apple „Objective-C dieselbe Leichtigkeit der Speicherverwaltung wie bei anderen modernen Sprachen“ brachte. 2012 mit OS X Mountain Lion (10.8) wurde allerdings Garbage Collection als veraltet deklariert und die Verwendung des mit Mac OS X Lion (10.7) eingeführten automatischen Referenzzählungsmechanismus (engl. Automatic reference counting, ARC) zur Kompilierungszeit auf Basis des gerade eingeführten CLANG/LLVM 3.0 Compilers forciert. Bei dieser automatisierten Referenzzählung wird durch den Compiler Code zum Erkennen und Entfernen nicht mehr benötigter Objekten mittels Referenzzählung an geeigneten Stellen eingebaut. Im Gegensatz zu GCs mit Referenzzählung läuft die automatisierte Referenzzählung seriell und an zur Compilezeit festgelegten Zeitpunkten und damit deterministisch. Allerdings enthält ARC keine Möglichkeit, zyklische Referenzen zu erkennen; Programmierer müssen daher die Lebensdauer ihrer Objekte explizit managen und Zyklen manuell auflösen oder mit schwachen oder unsicheren Referenzen arbeiten. Laut Apple haben Mobil-Apps ohne GC eine bessere und vorhersagbarere Leistungsfähigkeit. Das GC-freie iOS als Basis ermöglicht Apple, mobile Geräte mit weniger Speicher als die GC-basierende Konkurrenz zu bauen, welche trotzdem eine gleiche oder bessere Leistungsfähigkeit und Akku-Laufzeit aufweisen; ein Ansatz, der auch in der Fachpresse als architektonischer Vorteil beschrieben wurde. Literatur Richard Jones, Rafael Lins: Garbage Collection. Algorithms for automatic dynamic memory management. John Wiley, Chichester 1996, ISBN 0-471-94148-4. Richard Jones, Anthony Hosking, Eliot Moss: The Garbage Collection Handbook. The Art of Automatic Memory Menagement. (Chapman & Hall Applied algorithms and data structures series). CRC Press, Boca Raton, Fla. 2011, ISBN 978-1-4200-8279-1. Weblinks Wie funktioniert Garbage Collection? – JavaSPEKTRUM, Mai und Juli 2006 Klaus Kreft & Angelika Langer (Alternativer Download: CiteSeerX) Garbage Collection im .NET Framework (englisch) Java SE 6 HotSpot Virtual Machine Garbage Collection Tuning (englisch) A garbage collector for C and C++ (englisch) Einzelnachweise Speicherverwaltung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Galileo%20Galilei
Galileo Galilei
Galileo Galilei (* 15. Februar 1564 in Pisa; † in Arcetri bei Florenz) war ein italienischer Universalgelehrter, Physiker, Astrophysiker, Mathematiker, Ingenieur, Astronom, Philosoph und Kosmologe. Viele seiner Entdeckungen – vor allem in der Mechanik und der Astronomie – gelten als bahnbrechend. Er entwickelte die Methode, die Natur durch die Kombination von Experimenten, Messungen und mathematischen Analysen zu erforschen, und wurde damit einer der wichtigsten Begründer der neuzeitlichen exakten Naturwissenschaften. Berühmt wurde er auch dadurch, dass die katholische Kirche ihn verurteilte, weil einige seiner Theorien ihrer damaligen Auslegung der Bibel widersprachen; 1992 rehabilitierte sie ihn. Leben und Werk Herkunft und Lehrjahre Galileo Galilei stammte aus einer verarmten Florentiner Patrizierfamilie. Sein Familienzweig hatte den Namen eines bedeutenden Vorfahren angenommen, des Arztes Galileo Bonaiuti (15. Jahrhundert). Galileis Vater Vincenzo war vorübergehend nach der Heirat mit Giulia Ammannati (Pisa, 1562) Tuchhändler, ansonsten aber Musiker, Komponist und Musiktheoretiker und hatte mathematische Kenntnisse und Interessen; er lebte ab den 1570er Jahren ständig in Florenz. Dort untersuchte er unter anderem den Klang einer schwingenden Saite und entdeckte den quadratischen Zusammenhang zwischen den Veränderungen von Spannung bzw. Länge der Saite, wenn die Tonhöhe sich um ein bestimmtes Intervall ändern soll. Galilei wurde als Novize im Kloster der Vallombrosaner erzogen und zeigte Neigung, in den Benediktinerorden einzutreten, wurde aber von seinem Vater nach Hause geholt und 1580 zum Medizinstudium nach Pisa geschickt, wo sich Galileo 1581 einschrieb; dort war einer seiner Dozenten Andrea Camuzio. Nach vier Jahren brach er sein Studium ab und ging nach Florenz, um bei Ostilio Ricci, einem Gelehrten aus der Schule von Nicolo Tartaglia, Mathematik zu studieren. Er bestritt seinen Lebensunterhalt mit Privatunterricht, beschäftigte sich mit angewandter Mathematik, Mechanik und Hydraulik und begann, in den gebildeten Kreisen der Stadt mit Vorträgen und Manuskripten auf sich aufmerksam zu machen. Vor der Accademia Fiorentina glänzte er mit einem geometrisch-philologischen Referat über die Topografie von Dantes Hölle (Due lezioni all’Accademia fiorentina circa la figura, sito e grandezza dell’Inferno di Dante, 1588). 1585/86 veröffentlichte er erste Ergebnisse zur Schwere fester Körper (Theoremata circa centrum gravitatis solidorum) (in der Tradition von Archimedes’ Schrift darüber) und löste ein in einer Anekdote über Archimedes überliefertes antikes Problem (Krone des Hieron II.) durch Konstruktion einer hydrostatischen Waage zur Bestimmung des spezifischen Gewichts (La bilancetta, Manuskript). Seine 1587 erfolgte Bewerbung um eine Professorenstelle für Mathematik an der Päpstlichen Universität von Bologna hatte keinen Erfolg, obwohl er sich in der Bewerbung drei Jahre älter machte. Man zog den älteren Giovanni Antonio Magini vor, der außerdem dort studiert hatte. Die Gutachter vermuteten auch einen Fehler in den von Galilei der Bewerbung beigegebenen mathematischen Schriften. Danach schuf er sich aber einen Ruf als Mathematiker in Florenz unter anderem durch öffentliche Vorlesungen in der Akademie über die Architektur-Maße der Hölle (1588) und durch ein Manuskript über die Theorie der Schwerpunkte in der Tradition von Archimedes (1587), das er zirkulieren ließ. Hochschullehrer in Pisa, 1589–1592 Im Jahr 1589 erhielt Galilei für drei Jahre eine Stelle als Hochschullehrer und Inhaber des Lehrstuhls für Mathematik an der Universität Pisa. Er unterrichtete Euklids Elemente und elementare Astronomie sowie Astrologie für Mediziner. Die Bezahlung war allerdings gering; dennoch gelang es ihm, vorzügliche Instrumente zu bauen und zu verkaufen. Auch entwickelte er ein – noch sehr ungenau arbeitendes – Thermometer. Er untersuchte die Pendelbewegung und fand, dass die Periode nicht von der Auslenkung oder dem Gewicht des Pendels, sondern von dessen Länge abhängt. Bis in seine letzten Lebensjahre beschäftigte ihn das Problem, wie man diese Entdeckung zur Konstruktion einer Pendeluhr nutzen kann. Ausgehend von der Bewegung des Pendels führte Galilei als Versuchsanordnung zur Untersuchung der Fallgesetze die schiefe Ebene mit anschließender horizontaler Bahn ein. Die schiefe Ebene diente ihm zur „Verdünnung“ der Schwerkraft, weil die Messung der Fallgeschwindigkeit damals noch zu ungenau war. Galilei benützte in diesen Experimenten Kugeln aus verschiedenen Materialien. Das erlaubte es erstmals, den langsam anrollenden Kugeln eine bestimmte Geschwindigkeit zu erteilen und diese zu messen. So entdeckte er die Beschleunigung und die Tatsache, dass diese etwas von der Geschwindigkeit völlig verschiedenes ist. Dies wiederum ließ sich am besten in der Formelsprache der Mathematik darstellen. Am deutlichsten formulierte Galilei diese neue Einstellung zur Physik 1623 im Saggiatore: Galileis Schüler und erster Biograf Vincenzo Viviani behauptete, Galilei habe in Pisa auch Fallversuche vom Schiefen Turm unternommen. In Galileis eigenen Schriften und Aufzeichnungen findet sich jedoch kein Hinweis auf solche Versuche. Davon zu unterscheiden ist das Turmargument als Gedankenexperiment, auf das Galilei in seinem Hauptwerk Dialogo eingeht. Galilei fasste die Ergebnisse seiner mechanischen Untersuchungen in einem Manuskript zusammen, das heute als De motu antiquiora zitiert wird und erst 1890 gedruckt wurde. Darin enthaltene Angriffe auf Aristoteles nahmen seine aristotelisch geprägten Kollegen in Pisa unfreundlich auf. Galileis Anstellung wurde 1592 nicht verlängert. Seine materielle Situation war zusätzlich dadurch verschärft, dass 1591 sein Vater gestorben war und er nun als ältester Sohn auch für seine Geschwister (einen Bruder und drei Schwestern) und Mutter Verantwortung übernehmen musste. Professor in Padua, 1592–1610 Dank guter Protektion aus florentinischen Kreisen wurde Galilei 1592 auf den Lehrstuhl für Mathematik an der Universität Padua berufen, auf den sich auch Giordano Bruno Hoffnungen gemacht hatte. In Padua, das zur reichen und liberalen Republik Venedig gehörte, blieb Galilei 18 Jahre lang. Obwohl seine Stelle wesentlich besser dotiert war als die vorige in Pisa, besserte Galilei sein Gehalt auf, indem er neben seinen akademischen Vorlesungen vornehmen Schülern Privatunterricht erteilte, darunter zwei späteren Kardinälen. Ferner vertrieb Galilei ab 1597 einen Proportionszirkel. Für die Fertigung dieses Vorläufers des Rechenschiebers, der Compasso genannt wurde und dessen Konstruktion er erheblich verbessert hatte, beschäftigte er einen eigenen Mechaniker. Bereits in diesem Jahr ließ er in einem Brief an Johannes Kepler deutlich erkennen, dass er das heliozentrische Weltsystem gegenüber dem vorherrschenden Glauben an das geozentrische Weltbild favorisierte: „… unser Lehrer Copernicus, der verlacht wurde“. Die heute nach Kepler benannte Supernova von 1604 veranlasste ihn zu drei öffentlichen Vorträgen, in denen er die aristotelische Astronomie und Naturphilosophie angriff. Aus der Tatsache, dass keine Parallaxe festgestellt werden konnte, schloss Galilei wie bereits 1572 Tycho Brahe, dass der neue Stern weit von der Erde entfernt sei und sich deshalb in der Fixsternsphäre befinden müsse. Nach herrschender Lehre wurde diese Sphäre für unveränderlich gehalten und Galilei vertrat damit ein weiteres Argument gegen die Anschauungen der Peripatetiker, wie man die Aristoteles-Schüler auch nannte. Seine Untersuchungen zu den Bewegungsgesetzen setzte er in diesen Jahren fort. 1609 erfuhr Galilei von dem im Jahr zuvor in Holland von Jan Lipperhey erfundenen Fernrohr. Er baute aus käuflichen Linsen ein Gerät mit ungefähr vierfacher Vergrößerung, lernte dann selbst Linsen zu schleifen und erreichte bald eine acht- bis neunfache, in späteren Jahren bis zu 33-fache Vergrößerung. Aus dieser Zeit stammt auch ein in der Nationalbibliothek von Florenz entdeckter Einkaufszettel, der Einblick gibt, wie Galilei seine diesbezüglichen Erkenntnisse in die Praxis umsetzte. Am 25. August 1609 führte Galilei sein Instrument, dessen militärischer Nutzen auf der Hand lag und das im Gegensatz zum wenig später entwickelten Kepler-Fernrohr eine aufrecht stehende Abbildung lieferte, der venezianischen Regierung – der Signoria – vor. Das Instrument machte einen tiefen Eindruck und Galilei überließ der Signoria das völlig illusorische alleinige Recht zur Herstellung solcher Instrumente, woraufhin sein Gehalt erhöht wurde. Verschiedentlich wurde behauptet, Galilei habe die Erfindung des Fernrohrs wider besseres Wissen für sich beansprucht, so durch Brecht im Drama Leben des Galilei und durch Hans Conrad Zander, der sich auf das Galilei-Zitat zu einem „neulich von ihm erfundenen Fernrohr“ aus dem Sidereus Nuncius beruft. Dagegen hat Galilei die Grundidee des Teleskops wohl nicht als seine eigene Erfindung ausgegeben, eine Gehaltskürzung (-suspension) im folgenden Jahr deutet aber an, dass sich die Signoria durchaus hinters Licht geführt fühlte. Als einer der ersten Forscher nutzte Galilei ein Fernrohr zur Himmelsbeobachtung. Dies bedeutete eine Revolution in der Astronomie, denn bis dahin waren die Menschen auf Beobachtungen mit dem bloßen Auge angewiesen. Er stellte fest, dass die Oberfläche des Mondes rau und uneben ist, mit Erhebungen, Klüften und Kratern. Er erkannte zudem, dass die dunkle Partie der Mondoberfläche von der Erde aufgehellt wird (sog. Erdschein) und dass die Planeten – im Gegensatz zu den Fixsternen – als Scheiben zu sehen sind. Er entdeckte die vier größten Monde des Jupiter, die er in Vorbereitung seines Wechsels an den Medici-Hof die Mediceischen Gestirne nannte und die heute als die Galileischen Monde bezeichnet werden. Unabhängig von ihm gelang dies fast gleichzeitig Simon Marius. Der chinesische Astronom Gan De schreibt bereits im Jahr 365 v. Chr., einen Begleiter des Jupiter gesehen zu haben. Vermutlich war dies Ganymed, der unter idealen Bedingungen für das bloße Auge sichtbar ist. Galilei beobachtete, dass es sich bei der Milchstraße nicht um ein nebliges Gebilde (wie es dem bloßen Auge vorkommt), sondern um „nihil aliud quam innumerarum Stellarum coacervatim consitarum congeries (nichts anderes als eine Anhäufung zahlloser Sterne)“ handelt. Diese Entdeckungen und seine Federzeichnung der Mondoberfläche wurden im Sidereus Nuncius (Sternenbote bzw. Nachricht von den Sternen) von 1610 veröffentlicht und machten Galilei auf einen Schlag berühmt. Obwohl Galilei darin die Abbildung eines unübersehbar nichtexistenten großen Mondkraters am Terminator publizierte, war der Sidereus Nuncius innerhalb weniger Tage vergriffen. Hofmathematiker in Florenz, ab 1610 Im Herbst 1610 ernannte der Großherzog der Toskana und ehemalige Schüler Galileis Cosimo II. de’ Medici ihn zum Hofmathematiker, Hofphilosophen und zum ersten Mathematikprofessor in Pisa ohne jede Lehrverpflichtung. Galilei bekam damit volle Freiheit, sich ganz seinen Forschungen zu widmen. Bereits 1605 war Galilei zum Mitglied der Florentiner Accademia della Crusca gewählt worden, nach seiner Übersiedlung übernahm er in ihr auch Führungsaufgaben. 1658 beschloss die Akademie, seine Opere in der nächsten Ausgabe des Vocabolario (1691 veröffentlicht) als eine der Textgrundlagen für mathematische und philosophische Terminologie zu benutzen. Spätestens bei der Umsiedlung nach Florenz trennte sich Galilei von Marina Gamba, seiner Haushälterin, mit der er drei Kinder hatte: Virginia (Ordensname: Maria Celeste; 1600–1634), Livia (Ordensname: Arcangela; 1601–1659) und Vincenzio (1606–1669). Mit Hilfe eines Bewunderers, des Kardinals Maffeo Barberini und späteren Papstes Urban VIII., brachte Galilei seine Töchter noch vor Erreichen des Mindestalters in einem Kloster unter, denn sie hatten als uneheliche Kinder kaum Aussichten auf eine standesgemäße Heirat. Der Sohn wurde 1613 zu seinem Vater nach Florenz geschickt, nachdem Marina Gamba einen Mann namens Giovanni Bartoluzzi geheiratet hatte. Galilei legitimierte ihn später. Weitere astronomische Entdeckungen Galilei setzte seine astronomischen Beobachtungen fort und beobachtete Ende 1610, dass der Planet Venus Phasengestalten wie der Mond zeigt, wobei sich – im Gegensatz zum Mond – die Größe der Planetenscheibe ändert. Die Venussichel und die volleren Phasen interpretierte er derart, dass die Venus zeitweise zwischen Sonne und Erde steht, zu anderen Zeiten aber jenseits der Sonne. Darüber korrespondierte er mit den römischen Jesuiten um Christophorus Clavius (mit diesem hatte er bereits 1587 eine kontroverse Diskussion geführt), welche die Phasengestalt der Venus bereits unabhängig von ihm entdeckt hatten. Über die kosmologischen Konsequenzen und darüber, dass das ptolemäische Weltbild nicht mehr länger haltbar war, waren sich beide mehr oder weniger im Klaren. In seiner Begeisterung über seine wissenschaftlichen Erkenntnisse sandte er in seiner Werkstatt gefertigte Fernrohre an Freunde und andere Wissenschaftler. Jedoch erreichten nur wenige Exemplare das gewünschte Auflösungsvermögen. So konnte es geschehen, dass manche die Jupitermonde und andere seiner Entdeckungen nicht erkennen konnten und ihm Täuschungsabsichten unterstellten. Im Jahr 1611 besuchte Galilei Rom. Er wurde für seine Entdeckungen hoch geehrt und machte mittels seines Teleskops seinen Freunden – darunter auch Jesuiten – unverzüglich „le cose nuove del cielo“ (die neu entdeckten Gegenstände am Himmel) zugänglich: den Jupiter mit seinen vier Begleitern, den gebirgigen, zerklüfteten Mond, die „gehörnte“, d. h. sichelförmige Venus und den „dreifachen“ Saturn. Er wurde daraufhin zum sechsten Mitglied der Accademia dei Lincei ernannt. Diese Ehre war ihm so wichtig, dass er sich fortan Galileo Galilei Linceo nannte. Bei diesem Aufenthalt hatte er eine Audienz bei Papst Paul V. und traf seinen alten Bewunderer Maffeo Barberini. Ein Jahr später war Barberini dabei, als Galilei eine weitere, unhaltbare Behauptung des Aristoteles mit einem simplen, aber überzeugenden Experiment widerlegte: Eis schwimmt auf Wasser nicht deswegen, weil es zwar schwerer, aber flach ist, sondern weil es leichter ist. Zwischen Ende 1610 und Mitte 1611 beobachtete Galilei erstmals mit dem Teleskop dunkle Flecken auf der Sonnenscheibe. Diese Entdeckung der Sonnenflecken verwickelte ihn in eine Auseinandersetzung mit dem Jesuiten Christoph Scheiner: Man stritt sowohl um die Priorität als auch um die Deutung. Um die Vollkommenheit der Sonne zu retten, nahm Scheiner an, dass die Flecken Satelliten seien, wogegen Galilei die Beobachtung anführte, dass Sonnenflecken entstehen und vergehen. Er veröffentlichte diese Erkenntnis 1613 in Lettere solari, einem der ersten wissenschaftlichen Werke, die nicht in lateinischer Sprache, sondern in Umgangssprache verfasst wurden. Für Galilei war es offensichtlich, dass seine astronomischen Beobachtungen das heliozentrische Weltbild des Nikolaus Kopernikus stützten, aber keinen zwingenden Beweis lieferten: Sämtliche Beobachtungen wie etwa die Venusphasen waren auch mit dem Weltmodell des Tycho Brahe vereinbar, wonach sich Sonne und Mond um die Erde, die übrigen Planeten aber um die Sonne drehen. Tatsächlich gelang es erst James Bradley im Jahre 1729, mit der stellaren Aberration die Eigenbewegung der Erde gegenüber der Fixsternsphäre nachzuweisen. Galilei hielt sich bei der Interpretation seiner astronomischen Beobachtungen zunächst zurück. Jedoch war ihm wohl schon in seiner Zeit in Pisa der Gedanke gekommen, die Drehungen (revolutiones) der Erde um ihre Achse und um die Sonne seien die Ursache für die Gezeiten: „die Gewässer würden dabei beschleunigt und hin- und herbewegt“. Damit glaubte er, einen Beweis für das kopernikanische Weltbild in Händen zu haben, insbesondere für die bewegte Erde. Doch diese Erklärung war falsch, Hauptursache der Gezeiten sind die räumlich variierenden Anziehungskräfte von Mond und Sonne, wie erst durch Isaac Newton im Jahre 1687 zutreffend beschrieben wurde. Kontroverse Diskussionen am Florentiner Hof veranlassten Galilei zu erklären, dass astronomische Angaben in der Bibel nicht wörtlich zu nehmen seien, mithin eine mit dem kopernikanischen System verträgliche Bibelauslegung möglich sei, und dass die Forschung frei sein sollte von der Kirchendoktrin (Brief an seinen Schüler und Nachfolger in Pisa, Benedetto Castelli, 21. Dezember 1613, der in Kopie am 7. Februar 1615 durch den Dominikaner Niccolò Lorini der Inquisition zugespielt wurde). Galileo schickte am 16. Februar 1615 eine abgeschwächte, weniger ketzerisch formulierte Version des Briefes als angebliches Original an seinen Freund Piero Dini in Rom mit der Bitte, es im Vatikan zu verbreiten. Von beiden Versionen wurden viele Kopien erstellt und es war lange unklar, ob Galileos Schutzbehauptung zutraf. Das von Galileo mit zahlreichen Streichungen und Ergänzungen versehene Original, das Castelli ihm zurückgesandt hatte, wurde erst im Sommer 2018 in der Bibliothek der Royal Society wiederentdeckt; es war im Katalog fehldatiert auf den 21. Oktober 1613. Im März 1614 gelang es Galilei, das spezifische Gewicht der Luft als ein 660stel des Gewichts des Wassers zu bestimmen – herrschende Meinung war damals, Luft hätte kein Gewicht. Dies war eine weitere Widerlegung aristotelischer Anschauungen. In dieser Zeit war er häufig als Gutachter für den Großherzog in technisch-physikalischen Fragen tätig. Als Forscher beschäftigte er sich insbesondere mit Hydrodynamik, Lichtbrechung in Glas und Wasser sowie Mechanik mit der mathematischen Beschreibung der Beschleunigung beliebiger Körper. In den Jahren 1610–1614 hielt er sich häufig auf dem Landgut seines Freundes Filippo Salviati auf, um seine seit Jahren angeschlagene Gesundheit wiederherzustellen. Das Verfahren von 1616 Im Jahr 1615 veröffentlichte der Kleriker Paolo Antonio Foscarini (circa 1565–1616) ein Buch, das beweisen sollte, dass die kopernikanische Astronomie nicht der Heiligen Schrift widersprach. Daraufhin eröffnete die Römische Inquisition nach Vorarbeit des bedeutenden Kirchenlehrers Kardinal Robert Bellarmin, einer zentralen Persönlichkeit der Kurie und der Inquisition, ein Untersuchungsverfahren. 1616 wurde Foscarinis Buch gebannt. Zugleich wurden einige nichttheologische Schriften über kopernikanische Astronomie, darunter auch ein Werk von Johannes Kepler, auf den Index Librorum Prohibitorum gesetzt. Das Hauptwerk des Kopernikus, De revolutionibus orbium coelestium, in dessen Todesjahr 1543 erschienen, wurde nicht verboten, sondern „suspendiert“: Es durfte fortan bis 1822 im Einflussbereich der Römischen Inquisition nur noch in Bearbeitungen erscheinen, die betonten, dass das heliozentrische System ein bloßes mathematisches Modell sei. An diesem Verfahren, das nicht zu den Inquisitionsprozessen gezählt werden kann, war Galilei offiziell nicht beteiligt. Seine Haltung war jedoch ein offenes Geheimnis, auch wenn das Schreiben an die Großherzogin-Mutter noch nicht veröffentlicht war. Wenige Tage nach der förmlichen Index-Beschlussfassung schrieb Bellarmin an Galilei einen Brief mit der Versicherung, Galilei habe keiner Lehre abschwören müssen; gleichzeitig jedoch enthielt dieses Schreiben die nachdrückliche Ermahnung, das kopernikanische System in keiner Weise als Tatsache zu verteidigen, sondern allenfalls als Hypothese zu diskutieren. Dieser Brief wurde im Prozess von 1632/33 als Beweis für Galileis Ungehorsam zitiert. Allerdings gab es in den Akten zwei verschiedene Fassungen, von denen nur eine korrekt unterschrieben und zugestellt war, weshalb im 19. und 20. Jahrhundert einige Historiker annahmen, die Inquisitionsbehörde habe 1632 zu Ungunsten Galileis einen Beweis gefälscht. Galilei hielt sich von nun an mit Äußerungen in der Öffentlichkeit zum kopernikanischen System zurück. Ab 1616 beschäftigte er sich intensiv mit der Möglichkeit, die Bewegungen der Jupitermonde als Zeitmesser zu nutzen, um das Längengradproblem zu lösen. Allerdings blieb er damit erfolglos. Saggiatore 1623 wurde Galileis alter Förderer, Kardinal Maffeo Barberini, zum Papst gewählt (Urban VIII.). Galilei widmete ihm sogleich seine Schrift Saggiatore (italienisch = die Goldwaage), eine Polemik gegen den Jesuitenpater Orazio Grassi über die Kometenerscheinungen von 1618–1619, über atomistische und methodologische Fragen. In diesem Buch, an dem er seit 1620 gearbeitet hatte, äußerte Galilei seine berühmt gewordene Überzeugung, die Philosophie (nach dem Sprachgebrauch der Zeit ist damit die Naturwissenschaft gemeint) stehe in dem Buch der Natur, und dieses Buch sei in mathematischer Sprache geschrieben: Ohne Geometrie zu beherrschen, verstehe man kein einziges Wort. Unabhängig von Galileis eigener Position zu Alchemie und Astrologie gilt er seither als Begründer der modernen, mathematisch formulierten und an überprüfbaren Fakten orientierten Naturwissenschaften. Im Saggiatore griff er auf eine Theorie des Aristoteles über Meteore zurück und interpretierte die Kometen als erdnahe optische Effekte, vergleichbar den Phänomenen wie Regenbogen oder Polarlicht. Zur Zeit der Kometenerscheinungen war Galilei allerdings aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, selbst Beobachtungen anzustellen. Seine empirisch nicht fundierte Polemik gegen die Theorie der Kometen, die Tycho Brahe und Orazio Grassi vertraten, ist als indirekte Verteidigung des kopernikanischen Systems zu verstehen, das durch die Annahme sich nicht auf Kreisbahnen bewegender Himmelskörper bedroht gewesen wäre. Das Saggiatore wurde anonym wegen Atomismus und damit eines Verstoßes gegen die die Eucharistie betreffenden Dogmen des tridentinischen Konzils angezeigt. Unter Zuhilfenahme eines Gefälligkeitsgutachtens Pater Giovanni Guevaras ließen die Gönner Galileis im Vatikan diese Anzeige versanden. Der Wissenschaftshistoriker Pietro Redondi vermutet deshalb, dass auch dem Prozess 1633 eine Anzeige wegen Atomismus und damit häretischer Ansichten bezüglich des Abendmahls zugrunde liegt, die jedoch durch Intervention der eigens geschaffenen päpstlichen Untersuchungskommission auf die weit weniger brisante Frage des Kopernikanismus bzw. des Ungehorsams abgelenkt wurde. Der Dialog über die zwei Weltsysteme 1624 reiste Galilei nach Rom und wurde sechs Mal von Papst Urban VIII. empfangen, der ihn ermutigte, über das kopernikanische System zu publizieren, solange er dieses als Hypothese behandle; den Brief von Bellarmin an Galilei aus dem Jahr 1616 kannte Urban VIII. damals nicht. Nach langen Vorarbeiten und wieder unterbrochen durch Krankheiten, vollendete Galilei 1630 den Dialogo di Galileo Galilei sopra i due Massimi Sistemi del Mondo Tolemaico e Copernicano (Dialog von Galileo Galilei über die zwei wichtigsten Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische). In diesem Buch erklärte Galilei unter anderem sein Relativitätsprinzip und seinen Vorschlag zur Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit. Die erste präzise Messung der Lichtgeschwindigkeit auf der Erde gelang erst 1849 Fizeau. Als vermeintlich stärkstes Argument für das kopernikanische System diente Galilei seine – irrige – Theorie der Gezeiten. Im Mai 1630 reiste Galilei erneut nach Rom, um bei Papst Urban VIII. und dem für die Zensur verantwortlichen Inquisitor Niccolò Riccardi ein Imprimatur zu erwirken. Er erhielt daraufhin eine vorläufige Druckerlaubnis. Zurück in Florenz entschied Galilei aus verschiedenen Gründen, sich mit dem Imprimatur durch den Florentiner Inquisitor zu begnügen und das Werk in Florenz drucken zu lassen. Zwei dieser Gründe waren der Tod des Herausgebers Fürst Cesi, Gründers der Accademia dei Lincei, und eine Pestepidemie. Aufgrund verschiedener Schwierigkeiten, ausgelöst durch Riccardi, konnte der Druck aber erst im Juli 1631 beginnen. Im Februar 1632 erschien der Dialogo. Das Buch widmete Galileo Galilei dem Großherzog Ferdinando II. de’ Medici und händigte ihm das erste gedruckte Exemplar am 22. Februar aus. In zweierlei Hinsicht setzte der Dialogo im aktuellen, astronomischen und eben auch weltanschaulich-theologischen Diskurs neue Akzente: An die Stelle der Wissenschaftssprache Latein trat die Volkssprache Italienisch, denn die Diskussionen sollten gezielt über die Kreise der Wissenschaft hinausgetragen werden. Er verschwieg bewusst das von den Jesuiten – u. a. Clavius, Giovanni Riccioli, Grimaldi – favorisierte Tychonische Planetenmodell. Es hätte analog zu Kopernikus’ Modell einige Phänomene wie die zeitweise Venussichel und die veränderliche Größe der Planetenscheibchen erklärt. Im Kampf um die Deutungshoheit des astronomischen Weltbildes bekämpfte Galilei den Konkurrenten Tycho Brahe mit Totschweigen. Der Zensurauflage, das Werk mit einer Schlussrede zugunsten des ptolemäischen Systems zu beschließen, meinte Galilei nachzukommen, indem er diese Rede in den Mund des offensichtlichen Dummkopfs Simplicio legte. Überdies beging er den Fehler, sich über einen Lieblingsgedanken Barberinis (Urban VIII.) lustig zu machen: dass man eine Theorie niemals über die von ihr vorhergesagten Effekte prüfen könne, da Gott diese Effekte jederzeit auch auf anderem Wege hervorbringen könne. Damit hatte Galilei den Bogen überspannt und die Protektion des Papstes verspielt. Der Prozess gegen den Dialog Im Juli 1632 wies Riccardi den Inquisitor von Florenz an, er solle die Verbreitung des Dialogo verhindern. Im September bestellte der Papst Galilei nach Rom ein. Mit Bitte um Aufschub, ärztlichen Attesten, langwieriger Anreise und obendrein Quarantäne infolge der Pestepidemie verging jedoch der gesamte Winter. In Rom wohnte Galilei in der Residenz des toskanischen Botschafters. Anfang April 1633 wurde er offiziell vernommen und musste für 22 Tage eine Unterkunft der Inquisition beziehen. Am 30. April bekannte er in einer zweiten Anhörung, in seinem Buch geirrt zu haben, und durfte wieder in die toskanische Botschaft zurückkehren. Am 10. Mai reichte er seine schriftliche Verteidigung ein, eine Bitte um Gnade. Am 22. Juni 1633 fand der Prozess im Dominikanerkloster neben der Basilika Santa Maria sopra Minerva statt. Zunächst leugnete Galilei, auf die Dialogform seines Werkes verweisend, das kopernikanische System gelehrt zu haben. Ihm wurde der Bellarminbrief (welche Fassung, ist nicht bekannt) vorgehalten, und man beschuldigte ihn des Ungehorsams. Nachdem er seinen Fehlern abgeschworen, sie verflucht und verabscheut hatte, wurde er zu lebenslanger Kerkerhaft verurteilt und war somit der Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen entkommen. Dass Galilei überhaupt verurteilt wurde, war unter den zuständigen zehn Kardinälen durchaus strittig; drei von ihnen (darunter Francesco Barberini, der Neffe des Papstes) unterschrieben das Urteil nicht. Galilei selbst hielt an seiner Überzeugung fest. Die Behauptung, der zufolge er beim Verlassen des Gerichtssaals gemurmelt haben soll, „Eppur si muove“ (und sie [die Erde] bewegt sich doch), gilt vielfach als nachträgliche Erfindung. Sie wurde schon bald nach seinem Tod verbreitet, wie ein spanisches Gemälde von circa 1643/45 mit diesen Worten zeigt, das 1911 entdeckt wurde. Galilei sah zeitlebens die Kreisbahnen als zentralen Bestandteil des kopernikanischen Systems an und lehnte elliptische Bahnen aus diesem Grund ab. Kepler, mit dem er in Briefkontakt stand, hatte mit seinem Modell der Ellipsenbahnen praktisch alle Ungereimtheiten zwischen Beobachtung und dem heliozentrischen Weltbild beseitigt. Zur Rettung seines Konzepts der Kreisbahnen nahm Galilei in Kauf, dass es die beobachtete Position des Planeten Mars wesentlich schlechter voraussagte als die geozentrischen Modelle von Ptolemaios oder Brahe. Dass Galilei die Kometen zu atmosphärischen Erscheinungen uminterpretierte, weil die alternative Erklärung von sich im Sonnensystem umherbewegenden Objekten sein Weltbild gefährdet hätte, dürfte der Glaubwürdigkeit seines Modells ebenfalls eher abträglich gewesen sein. Bei den nur unter großen Gefahren für das Augenlicht beobachtbaren Sonnenflecken kam hinzu, dass deren Zahl nach 1610 abfiel und sie von 1645 an sogar für fast 75 Jahre nahezu völlig ausblieben (sog. Maunderminimum). Schließlich diskutierte Galilei in seinem Dialog wohlweislich nur die beiden Weltsysteme von Copernicus und Ptolemaios. Letzteres hatte er anhand der Venusphasen empirisch widerlegt, nicht jedoch das geozentrische Modell von Brahe, das sich mit seinen Beobachtungen ebenfalls vertrug. Hausarrest 1633–1642 und die Discorsi Galilei blieb nach dem Urteil unter Arrest in der Botschaft des Herzogtums Toskana in Rom. Nach wenigen Wochen wurde er unter die Aufsicht des Erzbischofs von Siena Ascanio II. Piccolomini gestellt, der allerdings sein glühender Bewunderer war und ihn nach Kräften unterstützte. In Siena konnte er seine tiefe Niedergeschlagenheit über den Prozess und seinen Ausgang überwinden. Nach fünf Monaten, im Dezember 1633, durfte er in seine Villa Gioiella in Arcetri zurückkehren, blieb jedoch unter Hausarrest, verbunden mit dem Verbot jeglicher Lehrtätigkeit. Als er wegen eines schmerzhaften Leistenbruchs um Erlaubnis bat, Ärzte in Florenz aufsuchen zu dürfen, wurde sein Gesuch abgelehnt mit der Warnung, weitere solche Anfragen würden zu Aufhebung des Hausarrestes und Einkerkerung führen. Gemäß dem Urteil hatte er über drei Jahre lang wöchentlich die sieben Bußpsalmen zu beten; diese Verpflichtung übernahm – solange sie noch lebte – seine Tochter Schwester Maria Celeste. Zudem wurden seine sozialen Kontakte stark eingeschränkt. Immerhin war es ihm gestattet, mit seinen weniger kontroversen Forschungen fortzufahren und seine Töchter im Kloster San Matteo zu besuchen. Sämtliche Veröffentlichungen waren ihm verboten, jedoch führte er einen ausgedehnten Briefwechsel mit Freunden und Gelehrten im In- und Ausland und konnte später zeitweilig Besucher empfangen, darunter Thomas Hobbes und John Milton, ab 1641 seinen ehemaligen Schüler Benedetto Castelli. Galilei hatte seit längerem Probleme mit seinen Augen; 1637 erblindete er auf dem rechten Auge und 1638 vollständig, als Folge von Überanstrengung, Entzündungen, Glaukom und grauem Star. Jedoch entdeckte er noch kurz vor dem völligen Verlust seiner Sehkraft die Libration des Mondes und teilte das 1637/38 brieflich mit, nachdem er einen Spezialfall (parallaktische Libration) schon in seinem Dialog über die beiden Weltsysteme von 1632 geschildert hatte. Ein Gnadengesuch auf Freilassung wurde abgelehnt. Seine letzten Jahre verbrachte er in seinem Landhaus in Arcetri. Ab dem Juli 1633 – noch in Siena – hatte Galilei an seinem physikalischen Hauptwerk Discorsi e Dimostrazioni Matematiche intorno a due nuove scienze gearbeitet. Obwohl das Inquisitionsurteil kein explizites Publikationsverbot enthielt, stellte sich eine Veröffentlichung im Einflussbereich der katholischen Kirche als unmöglich heraus. So geschah es, dass die Öffentlichkeit zuerst durch Matthias Berneggers lateinische Übersetzung von Galileis Werk Kenntnis erhielt, erschienen unter dem Titel Systema cosmicum im Verlag Elsevier und gedruckt 1635 in Straßburg bei David Hautt. Ein Druck des italienischen Texts der Discorsi erschien im Jahr 1638 bei Elsevier in Leiden. Inhaltlich griff Galilei in den Discorsi Ansätze und Ergebnisse aus seinen frühen Jahren wieder auf. Die beiden neuen Wissenschaften, die Galilei darin begründet, sind in moderner Sprache Festigkeitslehre und Kinematik. Er wies unter anderem nach, dass die bogenförmige Bewegung eines Geschosses aus zwei Komponenten besteht: Die horizontale mit konstanter Geschwindigkeit in Folge der Trägheit, die nach unten gerichtete mit zeitproportional zunehmender Geschwindigkeit durch konstante Beschleunigung. Das Zusammenwirken beider führt zu einer parabelförmigen Flugbahn. In dem Buch findet sich auch ein Paradoxon über das Unendliche (Galileis Paradoxon), dessen zugrundeliegende Ideen erst viel später im 19. Jahrhundert von Georg Cantor ausgebaut wurden. Im Spätherbst 1641 löste Evangelista Torricelli den seit 1639 für Galilei tätigen Begleiter Vincenzo Viviani als Assistent und Privatsekretär ab, doch war bereits klar, dass Galilei nicht mehr lang zu leben hatte. Er starb am 8. Januar 1642 in Arcetri. Ein feierliches Begräbnis in einem prunkvollen Grab, das der Großherzog vorgesehen hatte, wurde unterbunden. Er wurde zunächst anonym in Santa Croce in Florenz beigesetzt. Erst ungefähr 30 Jahre später erfolgte die Kennzeichnung des Grabes mit einer Inschrift. Die heute vorhandene repräsentative Grabstätte in Santa Croce wurde 1737 fertiggestellt, sie wurde durch eine Stiftung des Galilei-Assistenten Vincenzo Viviani finanziert. Galilei und die Kirche Trotz der turbulenten Zeit, in der es der Kirche mithilfe der Dominikaner- und Jesuitenorden gerade erst gelungen war, ihren Einfluss in Italien im Kampf gegen die Reformation wieder zu festigen, gab es in der Kirche bedeutende Personen, die den neuen Erkenntnissen der Wissenschaften sehr offen gegenüberstanden und sie sogar förderten. Für Galileo war insbesondere Kardinal Maffeo Barberini wichtig, der Galileos Leistungen in einem Gedicht pries und als späterer Papst Urban VIII. seinen Freund mit Privataudienzen, Renten und Orden ehrte. Galileo selbst bezog sich als frommer Katholik auf das Urteil wichtiger Kirchenväter wie Origenes, Basilius und Augustinus, die der Bibel keine Autorität in „Streitfragen über Naturelemente“ zubilligten. Dies wurde auch von mächtigen kirchlichen Stimmen, die eine wörtliche Auslegung der Heiligen Schrift ablehnten mit der Argumentation, dass Glauben und Wissenschaft getrennte Sphären seien, offensiv vertreten. So schrieb Kardinal Bellarmin, dass man, läge ein wirklicher Beweis für das heliozentrische System vor, bei der Auslegung der heiligen Schrift in der Tat vorsichtig vorgehen müsse. Ausdruck des zunächst vorhandenen kirchlichen Wohlwollens ihm gegenüber ist die recht milde Ermahnung von 1616, Galilei sei im „Irrtum des Glaubens“ und möge darum „von einer Verbreitung des kopernikanischen Weltbildes absehen“.Erst nachdem Galilei 1632 mit dem Dialogo, für den er von Papst Urban VIII. persönlich grünes Licht bekommen hatte unter der Bedingung, die damals noch nicht beweisbare Theorie (es existierten andere konkurrierende Theorien wie das tychonische Weltmodell) als solche zu bezeichnen, sich dieser Weisung (nach Meinung der Einflüsterer des Papstes) vermeintlich widersetzt hatte und wieder für das kopernikanischen Weltbild als gesichertes Faktum eingetreten war (und die ersten Exemplare provokant an seine erklärten Gegner wie z. B. den Inquisitor Serristori geschickt hatte), wurde ein formales Verfahren gegen ihn eröffnet. Auch jetzt noch war das Klima, verglichen mit anderen Häresieprozessen, freundlich und das Urteil milde. Nachdem Galilei geschworen hatte, „stets geglaubt zu haben, gegenwärtig zu glauben und in Zukunft mit Gottes Hilfe glauben zu wollen alles das, was die katholische und apostolische Kirche für wahr hält, predigt und lehret“, erhielt er lediglich Kerkerhaft, die bereits am nächsten Tag in Hausarrest umgewandelt wurde. In einem Kerker hat Galilei nie eingesessen. Die Tragik von Galileis Wirken liegt darin, dass er als ein zeitlebens tiefgläubiges Mitglied der Kirche den Versuch unternahm, ebendiese Kirche vor einem verhängnisvollen Irrtum zu bewahren. Seine Intention war es nicht, die Kirche zu widerlegen oder zu spalten, vielmehr war ihm an einer Reform der Weltsicht der Kirche gelegen. Seine verschiedenen Aufenthalte in Rom bis zum Jahr 1616 hatten auch den Zweck, Kirchenmänner wie Bellarmin davon zu überzeugen, dass die Peripatetiker nicht unfehlbar waren und Aussagen astronomischen Gehalts in der Heiligen Schrift nicht immer buchstabengetreu gelesen werden müssten. Auch war Galilei davon überzeugt, die Werke Gottes durch Experiment und Logik früher oder später vollständig klären zu können. Papst Urban VIII. dagegen vertrat die Auffassung, dass sich die vielfältigen, von Gott bewirkten Naturerscheinungen teilweise dem beschränkten Verstand der Menschen für immer entzögen. Im Jahr 1638 besuchte der Puritaner John Milton Galilei in Florenz und beschrieb ihn als „Gefangenen der franziskanischen und dominikanischen Gedankenpolizisten“, was für die folgenden Jahre der Tenor der protestantischen Vorwürfe bleiben sollte. Der Inquisitionsprozess gegen Galilei hat zu endlosen historischen Kontroversen und zahlreichen literarischen Bearbeitungen angeregt; unter anderem in Bertolt Brechts Leben des Galilei. 1741 gewährte die römische Inquisition auf Bitte Benedikts XIV. das Imprimatur auf die erste Gesamtausgabe der Werke Galileis. Unter Pius VII. wurde 1822 erstmals ein Imprimatur auf ein Buch erteilt, das das kopernikanische System als physikalische Realität behandelte. Der Autor, ein gewisser Settele, war Kanoniker. Für Nicht-Kleriker war das Interdikt wohl längst belanglos geworden. 1979 beauftragte Johannes Paul II. die Päpstliche Akademie der Wissenschaften, den berühmten Fall aufzuarbeiten. Bei der Übergabe des Kommissionsbericht am 31. Oktober 1992 erklärte Johannes Paul II., dass die Verurteilung Galileis ein Fehler gewesen sei, der auf unzureichender Berücksichtigung des Verhältnisses von kirchlicher Lehre und Wissenschaft beruht habe. Am 2. November 1992 wurde Galileo Galilei von der römisch-katholischen Kirche formal rehabilitiert. Es war sogar geplant, Galilei durch eine Statue im Vatikan zu ehren, 2013 rückte der Vatikan davon aber ohne Angabe von Gründen ab, obwohl ein Modell bereits hergestellt worden war und ein Sponsor existierte. Im November 2008 distanzierte sich der Vatikan erneut von der Verurteilung Galileis durch die päpstliche Inquisition. Der damalige Papst Urban VIII. habe das Urteil gegen Galilei nicht unterzeichnet, Papst und Kurie hätten nicht geschlossen hinter der Inquisition gestanden. Wissenschaftliche Leistungen Begründer der naturwissenschaftlichen Methode Galilei gilt als wesentlicher Begründer der modernen Naturwissenschaften. Zum einen entwickelte er maßgeblich die für sie grundlegende Methode, bestehend aus der Kombination von eigener Beobachtung, gegebenenfalls anhand von geplanten Experimenten, mit möglichst genauer quantitativer Messung der beobachtbaren Größen und der Analyse der Messergebnisse mit den Mitteln der Mathematik. Zum anderen forderte er, den so gewonnenen Ergebnissen eine Vorrangstellung vor rein philosophisch oder theologisch begründeten Aussagen über die Natur zuzuerkennen. Es blieb nicht aus, dass Galilei als dem wesentlichen Begründer der experimentellen Methodik vorgeworfen wurde, einige der von ihm beschriebenen und als Beleg für die Korrektheit seiner Theorien ausgegebenen Experimente niemals selbst durchgeführt zu haben. Das gilt in wesentlichen Punkten als widerlegt (siehe Betrug und Fälschung in der Wissenschaft). Beschleunigte Bewegung, Relativitätsprinzip und Trägheitsprinzip Zu den großen begrifflichen Errungenschaften Galileis zählt die Widerlegung der Bewegungslehre des Aristoteles, insbesondere der darin formulierten prinzipiellen Gegensätze zwischen Ruhe und Bewegung sowie zwischen natürlicher und unnatürlicher (oder erzwungener) Bewegung. Galilei hatte an der schiefen Ebene erstmals die Zunahme der Fallgeschwindigkeit nachgemessen und gefunden, dass sie nicht in diskreten Graden und nicht in Proportion zur durchlaufenen Strecke zunimmt, sondern dass sie in Proportion zur verstrichenen Zeit vom Wert null an stetig anwächst und bis zum Erreichen der Endgeschwindigkeit alle dazwischen liegenden Werte durchläuft. Die von Johannes Buridan und Francis Bacon beobachtete Tatsache, dass die rein mechanischen Vorgänge wie Fall und Stoß auf einem gleichmäßig bewegten Schiff genau so ablaufen wie an Land, verallgemeinerte Galilei zu einem neuen Relativitätsprinzip: Danach gibt es bei den beobachtbaren Vorgängen keinen absoluten Unterschied zwischen Ruhe und (gleichförmiger) Bewegung. Das führte ihn weiter zur Aufstellung einer Vorform des Trägheitsprinzips, denn wenn die gleichförmige Mitbewegung eines Körpers mit einem Schiff von einem Mitfahrer des Schiffs genau so gut auch als Ruhe angesehen werden kann, dann erfordert die Aufrechterhaltung dieser Bewegung offenbar keine dauernd wirkende äußere Kraft.(S. 65), (Kap. 7), (Kap. 1.4) In seiner endgültigen Form wurde das Trägheitsprinzip, dem zufolge die kräftefreie Bewegung geradlinig ist (und nicht etwa kreisförmig), und dass dieses auch für die Bewegung der Himmelskörper gilt, erst von Newton klar ausgesprochen (Erstes Newtonsches Gesetz). Kinematik Die gleichmäßig beschleunigte Bewegung beschäftigte Galilei über vierzig Jahre lang. Seine experimentelle Innovation bestand in der Verwendung einer Fallrinne als schiefe Ebene, mit der er die Fallgesetze auf einer verlangsamten Zeitskala studieren konnte. Die Beschleunigung bestimmte er über seinen Puls, mit Wasseruhren oder dadurch, dass der Körper ein rhythmisches Signal auslöst, wenn der Auslöser in geeigneten Abständen platziert ist. Für die Entwicklung der physikalischen Methode ebenso bedeutsam war Galileis Schritt, die aus Experimenten gewonnenen Kenntnisse dazu zu nutzen, weiterführende Experimente zu planen und durchzuführen: Er präparierte mithilfe der schiefen Ebene Körper, die eine definierte horizontale Geschwindigkeit besaßen, und konnte mit diesen die Experimente zum horizontalen Wurf anstellen. Die verbreitete Geschichte über Galileis eigenhändig durchgeführte Fallversuche vom Schiefen Turm in Pisa sind als Legende einzustufen, denn es gibt keinen verlässlichen Beleg dafür. Ebenso wurde und wird vereinzelt immer noch bezweifelt, dass Galilei die Versuche zur beschleunigten Bewegung auf der schiefen Ebene wirklich durchgeführt hat. Die Begründung beruhte ursprünglich darauf, dass im gesamten Nachlass Galileis, der Anfang des 20. Jahrhunderts publiziert worden war, fast keine Aufzeichnungen zu durchgeführten Messungen zu finden waren. Jedoch fand in den 1960er Jahren Stillman Drake, nachdem er selber in Florenz in das Archiv hinuntergestiegen war, zahlreiche Blätter von Galileis Hand, die in der Gesamtausgabe fortgelassen worden waren. Es waren die Protokolle der Messungen, die bei der Zusammenstellung der Gesamtausgabe für unwichtig gehalten worden waren, weil auf ihnen nur wenig oder gar kein Text zu sehen war, dafür aber Skizzen und Zahlen. Festigkeitslehre Wie aus dem Titel der Discorsi hervorgeht, veröffentlichte Galilei seine Ergebnisse über die Festigkeit eines Balkens mit dem vollen Bewusstsein, damit eine neue Wissenschaft zu begründen. Die weitere Entwicklung hat ihm recht gegeben; sein Beitrag kann tatsächlich als Begründung der Festigkeitslehre gelten. Galilei stellte fest, dass die Tragfähigkeit eines Balkens größer ist, wenn man ihn hochkant, nicht flachkant stellt. Er setzte als Erster die äußere Belastung in Relation zu den inneren Spannungen. Eine quantitative Theorie konnte er allerdings noch nicht aufstellen. Den heute Neutralfläche genannten Bereich verschwindender Zug- bzw. Druckspannung ordnete er am unteren Rand des eingespannten Balkens statt in der Mitte des Balkenquerschnittes an. Korrekturen dieses Irrtums konnten sich im 17. und 18. Jahrhundert nicht durchsetzen; erst Anfang des 19. Jahrhunderts sorgte Navier erfolgreich für eine Richtigstellung. Astronomie Galileis astronomische Entdeckungen sind im biografischen Teil bereits aufgeführt. Zwar wurden viele seiner rasch publizierten Entdeckungen von anderen Forschern vor ihm gemacht, doch einige davon zogen bahnbrechende Erkenntnisse nach sich: Supernovae finden nicht sublunar statt, sondern weit entfernt: Die Fixsternsphäre ist nicht unveränderlich. Die Oberfläche des Mondes ist rau und die Sonne zeigt Flecken: Körper am Himmel sind nicht perfekt. Jupiter umkreisen vier Monde: Es gibt weder undurchdringliche kristallene Himmelssphären, noch dreht sich der Äther ewig kreisförmig um die Erde. Die Venus kreist um die Sonne, nicht um die Erde (siehe oben). Weitere Erfindungen Galileis Thermoskop aus dem Jahr 1592 ist das erste nachweisbare Temperaturmessgerät. Es wurde von Santorius mit Skalenstrichen versehen und schließlich von Fahrenheit 1714 entscheidend verbessert. Christiaan Huygens entwickelte später Galileis Idee, eine mechanische Uhr durch ein Pendel zu steuern, zur Praxisreife. Rezeption Galileo Galilei wurde auf der italienischen 2000-Lire-Banknote abgebildet, die von der Banca d’Italia zwischen 1973 und 1993 ausgegeben wurde. Siehe auch Kategorie: Galileo Galilei als Namensgeber. Nach Galilei benannt sind: im cgs-System die Einheit für die Erdbeschleunigung Gal ein Mondkrater, ein Marskrater und ein Exoplanet das Galileo-Thermometer das Hemmpendel die Galilei-Zahl, eine Kennzahl mit der Einheit Eins der Strömungsmechanik ein Computerreservierungssystem ein Fachverlag eine Raumsonde ein Satellitennavigationssystem eine Fernsehsendung der Flughafen von Pisa Kliffs auf der Alexander-I.-Insel in der Antarktis mehrere Schulen ein außerschulischer Lernort mit Planetarium und Sternwarte das Planetarium in Buenos Aires die Pflanzengattung Galilea aus der Familie der Sauergrasgewächse (Cyperaceae) Siehe auch Antonio Francesco Gori Literatur Bertolt Brecht: Leben des Galilei. (Dänemark, 1938/39) Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-518-10001-7.Im 8. Bild bringt Galilei das Problem von wissenschaftlicher Forschung und theologischer Deutungshoheit mit einem berühmt gewordenen Aperçu auf den Punkt: „Die Winkelsumme im Dreieck kann nicht nach den Bedürfnissen der Kurie abgeändert werden.“ Zsolt Harsányi: Und sie bewegt sich doch. Aus dem Ungarischen von Joseph P. Toth, Artur Luther. Esche Verlag, Leipzig 1937 (Pabel-Moewig Verlag, 1993, ISBN 3-8118-7557-4). Atle Næss: Als die Welt still stand: Galileo Galilei – verraten, verkannt, verehrt. Springer 2006. Friedrich Karl Schubert: Und sie bewegt sich doch! Roman. Rümpler, Hannover 1870 (Digitalisat von Band 1 und Band 2 bei Google Books) Dava Sobel: Galileos Tochter: Eine Geschichte von der Wissenschaft, den Sternen und der Liebe. Deutsch von Barbara Schaden. Berlin Verlag 2008 (Original englisch: Galileo’s Daughter 1999). Musik Haggard: Eppur Si Muove. Konzeptalbum über Galileo Galilei, 2004, Metal. „Eppur Si Muove“ heißt auf deutsch „und sie (die Erde) bewegt sich doch“. Philip Glass: Galileo Galilei. 2001, Oper. Kunst Skulptur Galileo (1996) von Mark di Suvero auf dem Piano-See am Atrium Tower am Potsdamer Platz in Berlin-Tiergarten. Lichtinstallation ALTISSIMUM PLANETAM TERGEMINUM OBSERVAVI (2019) von Sebastian Wanke neben dem Hochaltar in der Altstädter Kirche in Erlangen. Über Galileo Galileis Entdeckung der Saturnringe 1610. Film 1947 verfilmten in den USA Ruth Berlau und Joseph Losey die Broadway-Aufführung von Brechts Leben des Galilei mit Charles Laughton in der Titelrolle. Es handelt sich um einen Schwarzweiß-Stummfilm von 30 Minuten Dauer. In einer deutschen Fernsehverfilmung nach Brechts Leben des Galilei (1962) unter der Regie von Egon Monk spielte Ernst Schröder den Galilei. Mit 150 Minuten Spiellänge ist das die bisher längste Umsetzung des Stoffes im Fernsehen. In der 76-minütigen amerikanischen Fernsehverfilmung Lamp at Midnight (1966), die nicht auf Brecht beruht, wurde Galilei von Melvyn Douglas gespielt. 1975 führte Joseph Losey Regie in Galileo (USA), einem Spielfilm, der wiederum auf Brechts Stück beruht. Chaim Topol spielte den Gelehrten in dem 145 Minuten lang dauernden Eastmancolor-Film. 1989 verfilmte der Regisseur Ivo Barnabò Micheli unter dem Titel „Eppur si muove!“ Der Prozess Galileo Galilei eigene Recherchen zum Inquisitionsprozess gegen Galilei. Im Film verkörpert Mario Adorf in einer Doppelrolle sowohl die Figur des zeitgenössischen Forschers als auch jene des historischen Galilei. In Interviews kommen u. a. der damalige Kardinal Joseph Ratzinger und der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker zu Wort. Literatur Schriften Galilei veröffentlichte seine wissenschaftlichen Erkenntnisse in den folgenden Hauptwerken: Sidereus Nuncius. Venedig 1610. (Deutsch: Nachrichten von neuen Sternen) Il Saggiatore. Rom 1623. (Deutsch: Der Prüfer mit der Goldwaage) Dialogo sopra i due massimi sistemi. Florenz 1632. Deutsch: Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme. Leipzig 1891. Discorsi e dimostrazioni matematiche. Leiden 1638. Deutsch: Unterredung und mathematische Demonstration über zwei neue Wissenszweige die Mechanik und die Fallgesetze betreffend. Leipzig 1890. Neuere Ausgaben sind: Edward Stafford Carlos (Hrsg.): The sidereal messenger of Galileo Galilei and a part of the preface to Kepler’s Dioptrics containing the original account of Galileo’s astronomical discoveries. London 1880, Arthur von Oettingen (Hrsg.): Unterredung und mathematische Demonstration über zwei neue Wissenszweige die Mechanik und die Fallgesetze betreffend. Leipzig: Engelmann 1890, Antonio Favaro (Hrsg.): Le opere di Galileo Galilei. 20 Bände, Florenz 1890 bis 1909, Reprints mit Zusätzen Florenz 1929 bis 1939, 1964/1965. Emil Strauss (Übers., Hrsg.): Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme. Teubner 1891, Stillman Drake (Hrsg.): Discoveries and Opinions of Galileo. Doubleday & Company, New York NY 1957 (Auswahl aus seinen Schriften). Stillman Drake (Übers.): On Mechanics. University of Wisconsin Press, Madison 1960. Stillman Drake (Übers.): Il Saggiatore, The Assayer. In: Stillman Drake, Charles D. O’Malley (Hrsg.): The Controversy of the Comets of 1618. The University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1960. I. E. Drabkin (Übers.): On Motion. University of Wisconsin Press, Madison 1960. Franz Brunetti (Hrsg.): Opere di Galileo Galilei. 2 Bände, Turin 1964. Pio Paschini, Edmondo Lamalle: Vita e Opere di Galileo Galilei. 3 Bände, Vatikanstadt 1964. Hans Blumenberg (Hrsg.): Sidereus Nuncius. Nachrichten von neuen Sternen. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1980, 2002. Galileo Galilei, Anna Mudry (Hrsg.): Schriften, Briefe, Dokumente. Albus im VMA-Verlag, München 1987, Wiesbaden 2005, ISBN 3-928127-94-2. Stillman Drake (Übers., Hrsg.): (Discourses on the) Two New Sciences. University of Wisconsin Press, Madison 1974, 2. Auflage 1989, Toronto 2000. Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme. Marix Verlag, Wiesbaden 2014. Ed Dellian (Übers., Hrsg.): Discorsi: Unterredungen und mathematische Beweisführung zu zwei neuen Wissensgebieten. Philosophische Bibliothek, Verlag Felix Meiner, 2015. Biografien Mario Biagioli: Galilei, der Höfling. Entdeckung und Etikette. Vom Aufstieg der neuen Wissenschaft. Fischer, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-10-009628-2. Stillman Drake: Galileo at work. His scientific biography. University of Chicago Press, Chicago 1978, ISBN 0-226-16226-5. Stillman Drake: Galileo. Pioneer Scientist. University of Toronto Press, Toronto u. a. 1990, ISBN 0-8020-2725-3. Stillman Drake: Galilei. (Reihe Meisterdenker), Herder, Freiburg 1999; Panorama-Verlag, Wiesbaden 2004, ISBN 3-926642-38-6. Stillman Drake: Galilei, a very short introduction. Oxford University Press, 2001. Albrecht Fölsing: Galileo Galilei – Prozess ohne Ende. Piper 1983, Rowohlt 1996, ISBN 3-499-60118-4. Walter Hehl: Galileo Galilei kontrovers – ein Wissenschaftler zwischen Renaissance-Genie und Despot, Springer 2017 John L. Heilbron: Galileo. Oxford University Press 2010. Johannes Hemleben: Galileo Galilei. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. rororo 1969. Leonardo Olschki: Galilei und seine Zeit. M. Niemeyer, Halle 1927. Wolfgang Ostenhage: Galilei Galileo. At the treshold of the scientific age, Springer Scientific Biographies, Springer 2018, ISBN 978-3-319-91779-5 James Reston: Galileo. HarperCollins, New York 1994 (deutsch: Galileo Galilei: Eine Biographie. Aus d. Amerikan. von Helmut Viechtbauer. Goldmann, München 1998, ISBN 3-442-12744-0). Ernst Schmutzer, Wilhelm Schütz: Galileo Galilei. Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner, Bd. 19, 6. Auflage, Teubner 1989. William R. Shea, Mariano Artigas: Galileo Galilei. Aufstieg und Fall eines Genies. Primus, Darmstadt 2006, ISBN 3-89678-559-1. Michael White: Galileo antichrist: a biography. Weidenfeld & Nicolson, London 2007, ISBN 978-0-297-84868-4. Einzelne Aspekte Hans Bieri: Der Streit um das kopernikanische Weltsystem im 17. Jahrhundert. Galileo Galileis Akkomodationstheorie und ihre historischen Hintergründe. Bern 2007 Erklärt Galileis methodischen Vorschlag zu einer biblischen Exegese, welche die Texte als angepasst an menschliche Verstehensmöglichkeiten auffasst und zugrundeliegende Traditionen; mit Textedition und Kommentar. Horst Bredekamp: Galileis denkende Hand. Form und Forschung um 1600. De Gruyter, Boston u. a. 2015, ISBN 3-11-041457-0. David Freedberg: The Eye of the Lynx. Galileo, his friends and the beginning of modern natural history. University of Chicago Press, Chicago, Ill. 2002, ISBN 0-226-26147-6. Hans-Christian Freiesleben: Galileo Galileo – Physik und Glaube an der Wende zur Neuzeit. Stuttgart 1956– Karl von Gebler: Galileo Galilei und die römische Kurie. Cotta, Stuttgart 1876, Alexandre Koyré: Leonardo, Galilei, Pascal. Die Anfänge der neuzeitlichen Naturwissenschaft (= Fischer 13776). Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1998. Alexandre Koyré: Études galiléennes. 3 Bände. Hermann, Paris 1939; 2. Auflage in einem Band, 1966. Karl-Eugen Kurrer: The History of the Theory of Structures. Searching for Equilibrium. Ernst & Sohn, 2018, ISBN 978-3-433-03229-9. Lydia La Dous: Galileo Galilei. Zur Geschichte eines Falles. Pustet, Regensburg 2007, ISBN 978-3-7867-8613-9 (zum Verfahren gegen Galilei). Georg Lutz: Rom und Europa während des Pontifikats Urbans VIII. Politik und Diplomatie – Wirtschaft und Finanzen – Kultur und Religion. In: Reinhard Elze, Heinrich Schmidinger, Henk Schulte Nordholt (Hrsg.): Rom in der Neuzeit. Politische, kirchliche und kulturelle Aspekte. Wien/Rom 1976, S. 72–167, hier: S. 148–158. Zum Fall Galilei im Kontext seiner historischen Bedingung. Erwin Panofsky: Galileo Galilei und die Bildkünste. Vorgestellt von Horst Bredekamp, aus dem Englischen von Heinz Jatho. Diaphanes, Zürich 2012, ISBN 978-3-03734-149-0. Pietro Redondi: Galilei – der Ketzer. München 1989, ISBN 3-406-33981-6 (Darstellung des Inquisitionsprozesses von 1633, mit z. T. erstmals veröffentlichten Dokumenten). Volker Remmert: Widmung, Welterklärung und Wissenschaftslegitimierung. Titelbilder und ihre Funktionen in der Wissenschaftlichen Revolution (= Wolfenbütteler Forschungen. Band 110). Harrassowitz, Wiesbaden 2005, ISBN 3-447-05337-2. Darin vor allem das Kapitel Katholische Bibelexegese und die Wurzeln der Galilei-Affäre. Der Kupfertitel der Opera mathematica (1612) von Christoph Clavius. S. 23–53. Franz Heinrich Reusch: Der Process Galilei’s Und Die Jesuiten. Eduard Weber’s Verlag, Bonn 1879, Michael Segre, Eberhard Knobloch (Hrsg.): Der ungebändigte Galilei. Steiner Verlag, 2001. Galilei und das Experiment (= Praxis der Naturwissenschaften/Physik. Band 56). 2007. István Szabó: Geschichte der mechanischen Prinzipien und ihrer wichtigsten Anwendungen. Birkhäuser, 1979, ISBN 3-7643-1735-3. Carl Friedrich von Weizsäcker: Kopernikus, Kepler, Galilei. In: Carl Friedrich von Weizsäcker: Die Tragweite der Wissenschaft. Erster Band: Schöpfung und Weltentstehung. Die Geschichte zweier Begriffe. Hirzel, Stuttgart 1964, S. 96–117. Populärwissenschaftliche Bücher zum astronomischen Umfeld Arthur Koestler: Die Nachtwandler. Das Bild des Universums im Wandel der Zeit. Scherz, Bern/Stuttgart/Wien 1959. (Suhrkamp, Frankfurt 1980, ISBN 3-518-37079-0). Thomas de Padova: Das Weltgeheimnis. Kepler, Galileo und die Vermessung des Himmels. Piper, München 2009, ISBN 978-3-492-05172-9. Weblinks Werke von Galileo Galilei im Opac des Servizio Bibliotecario Nazionale (SBN) Überblicksseiten Virtuelle Ausstellung der Bibliothek der ETH Zürich Galileo-Projekt der Rice-Universität Das Leben Galileo Galileis in Bild und Ton beim Bayerischen Rundfunk Primärtexte Galileis Schriften als Online-Texte (im italienischen Original) Manuskripte von Galileo Galilei (De motu, MS 72) Archimedes-Projekt (Quellen zur Geschichte der Mechanik) I documenti del processo di Galileo Galilei, Die Akten des Prozesses gegen Galilei, in Italienisch und Latein, mit mehrsprachigem Vorwort und einer italienischsprachigen Einführung, Vatikanisches Apostolisches Archiv, 1984 Sidereus nuncius Magna. Sichtweise der katholischen Kirche Ansprache von Johannes Paul II vom 31. Oktober 1992. Bei: vatican.va. Abgerufen am 5. Februar 2010. H.-D. Mutschler: Naturwissenschaft und die Dispensierung der Sinnfrage – Der wahre Konflikt um Galilei. (PDF; 15 Seiten; 68 kB). Nicht mehr verfügbar, Stand 20. Oktober 2020 Ausführlicher Aufsatz zum Konflikt zwischen Galileo Galilei und Kirche. Einzelnachweise Astronom (16. Jahrhundert) Astronom (17. Jahrhundert) Sonnenforscher Hochschullehrer (Universität Pisa) Hochschullehrer (Universität Padua) Philosoph der Frühen Neuzeit Mathematiker (16. Jahrhundert) Mathematiker (17. Jahrhundert) Physiker (16. Jahrhundert) Physiker (17. Jahrhundert) Persönlichkeit der Lichtmikroskopie Ballistiker Sachbuchautor (Physik) Ingenieur, Erfinder, Konstrukteur (16. Jahrhundert) Ingenieur, Erfinder, Konstrukteur (17. Jahrhundert) Aufklärer Universalgelehrter Person (Großherzogtum Toskana) Italienische Geschichte (17. Jahrhundert) Mitglied der Accademia dei Lincei Mitglied der Accademia della Crusca Person als Namensgeber für einen Marskrater Person als Namensgeber für einen Mondkrater Sachbuchautor (Astronomie) Historische Person (Italien) Geboren 1564 Gestorben 1642 Mann Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Magenband
Magenband
Ein Magenband (englisch gastric band) bzw. englisch Gastric Banding ist eine medizinische Behandlungsmethode bei krankhafter Adipositas, die durch Diäten und konservative Behandlungsmaßnahmen nicht behandelbar ist, bei der unterhalb des Übergangs von der Speiseröhre zum Magen ein Silikonband bzw. Silikonring einengend angebracht wird. Zusammen mit anderen Methoden gehört das Magenband zum Spektrum der Adipositaschirurgie, der chirurgischen Therapie des krankhaften Übergewichts. Sie ist das letzte Mittel der Wahl, wenn konservative Methoden zur Gewichtsreduktion versagt haben. Die Indikation zur Magenzügelung ist gegeben ab einem Body-Mass-Index von mindestens 35–40. Durch Einengen des Magendurchmessers im Eingangsbereich kann eine dauerhafte deutliche Gewichtsreduktion erreicht werden. Hierzu wird in einer laparoskopischen Operation ein verstellbares Silikonband um den Magenfundus gelegt. Der Durchmesser der Öffnung ist durch Auffüllen des Bandes mit Flüssigkeit veränderbar, ein entsprechender Zugang (Portkammer) wird in der Bauchwand oder vor dem Brustbein platziert. Kostenübernahme durch die Krankenkassen In Deutschland übernehmen die Krankenkassen die Kosten für das Magenband, wenn die medizinische Notwendigkeit belegt wurde. Dies ist in der Regel der Fall, wenn der Patient einen BMI > 40 oder einen BMI > 35 mit schwerwiegenden Begleiterscheinungen (z. B. Diabetes, Gelenkerkrankungen etc.) hat, alle konservativen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind (ultima ratio) und der Patient aufgeklärt und motiviert ist. Außerdem darf das OP-Risiko nicht das Risiko bei anderen möglichen Eingriffen übersteigen. Wirkung des Magenbandes Laut verschiedener Studien werden folgende Wirkungen des Magenbandes auf den Patienten angenommen: eine Gewichtsabnahme von durchschnittlich 16 % des Ausgangsgewichtes Verbesserung der subjektiven Lebensqualität eine Reduzierung der Häufigkeit und Schwere von Schlafapnoe wird vermutet Reduzierung der Häufigkeit und Schwere von Depressionen Risiken und Spätfolgen Risiken von Anästhesie und Operation sind durch das Übergewicht der Patienten erhöht verschluckte Gegenstände oder Nahrungsbrocken können den Magendurchgang verschließen Infektion des Ports Einschneiden des Magenbandes in den Magen (Bandmigration) häufiges Erbrechen mit der Gefahr von Zahnschäden und Aspiration Slippage, ein Verrutschen des Magenbandes, welche eine erneute OP erforderlich macht Siehe auch Schlauchmagen Roux-en-Y-Magenbypass Magenballon Literatur Bernhard Husemann: Zukunft der Adipositaschirurgie. In: Dtsch. Arztebl., 2003, 100, Heft 20, S. A 1356–1366. Richard Daikeler, Götz Use, Sylke Waibel: Diabetes. Evidenzbasierte Diagnosik und Therapie. 10. Auflage. Kitteltaschenbuch, Sinsheim 2015, ISBN 978-3-00-050903-2, S. 123 (Magenband oder Gastric Banding). Weblinks BSB-Medical GmbH: Das Magenband (Gastric Banding), abgerufen am 16. Februar 2021. Einzelnachweise Therapeutisches Verfahren in der Viszeralchirurgie Operatives Therapieverfahren Magen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gef%C3%A4%C3%9Fchirurgie
Gefäßchirurgie
Die Gefäßchirurgie ist ein Teilgebiet der Chirurgie, das sich mit der Diagnose und Therapie von Erkrankungen des Gefäßsystems befasst. Das Gefäßsystem besteht aus Arterien, Venen und den Lymphgefäßen. Das Fachgebiet hat sich aus der Allgemein- und Herzchirurgie entwickelt, stellt mittlerweile aber ein eigenes Fachgebiet dar. Seit 2004 gibt es in Deutschland einen eigenständigen Facharzt für Gefäßchirurgie. Die Behandlung umfasst die medikamentöse Therapie, minimalinvasive (endovaskuläre) Katheter- und offen chirurgische Rekonstruktions-Verfahren, sowie die Kombination aus endovaskulären und offen-chirurgischen Verfahren (sogenannte Hybrid-Operationen). Zu den typischen Eingriffen zählen die chirurgische Ausschälung von arteriosklerotischen Gefäßablagerungen, die Anlage von Gefäßbypässen und die Katheter gestützte endovaskuläre Rekanalisation von Gefäßengstellen oder -verschlüssen bei peripherer oder zentraler arterieller Verschlusskrankheit. Häufig ist auch der offen chirurgische oder endovaskuläre Ersatz von Aneurysmen (Gefäßerweiterungen) durch Prothesen. Daneben werden in der Gefäßchirurgie Dialyse-Shunts angelegt, Krampfadern und venöse Thrombosen behandelt und chronische Wunden therapiert. Auch bei allen Arten von traumatischen Gefäßverletzungen ist die Gefäßchirurgie involviert. Geschichte der Gefäßchirurgie Bis in die Neuzeit bestand die (offene) chirurgische Behandlung von Blutgefäßen vor allem in blutstillenden Maßnahmen, etwa der bereits seit der Antike bekannten Gefäßunterbindung oder Gefäßligatur. Um 700 v. Chr. beschrieb der indische Chirurg Sushruta die Ligatur (Unterbindung) von Blutgefäßen mit Hanf-Fäden sowie die Verwendung von Brenneisen und kochendem Öl, um Blutungen zu stillen. Galen, der im 2. Jahrhundert n. Chr. in Rom als Chirurg der Gladiatoren wirkte, berichtete ebenfalls über die Kunst des Blutstillens. Er erkannte den Unterschied zwischen venösen und arteriellen Blutungen und führte eine differenzierte Therapie ein. Venöse Blutungen wurden mit blutstillenden Mitteln behandelt, wohingegen arterielle Blutungen durch Ligatur („Abbinden“) versorgt wurden. Ein bedeutender Meilenstein für die Entwicklung der Gefäßmedizin war die Entdeckung der Blutzirkulation durch William Harvey im Jahre 1628. Die erste Beschreibung der Behandlung eines Poplitealaneurysmas (Erweiterung der Kniekehlenschlagader) durch proximale und distale Ligatur erfolgte durch John Hunter 1785, der als Mitbegründer der wissenschaftlichen Chirurgie gilt. Und nachdem der griechische Arzt Antyllos bereits im 2. Jahrhundert n. Chr. genaue Vorschriften für die Versorgung von Gefäßverletzungen machte, die Behandlung von (traumatischen) Aneurysmen beschrieb und zwischen echten („Erweiterungsaneurysma“) und falschen Aneurysmen („Aderrissaneurysma“) unterschied, war es Rudolph von Matas, der die Technik 1888 in die Moderne überführte. Im Jahr 1882 baute der Chirurg Max Schede die Gefäßnahttechnik aus. 1897 führte der amerikanische Chirurg John Benjamin Murphy erstmals erfolgreich eine zirkuläre Naht (eine End-zu-End-Verbindung) an der Oberschenkelarterie bei einem Patienten durch, der aufgrund einer Schussverletzung ein falsches Aneurysma entwickelt hatte. Als Pionier der modernen arteriellen Gefäßchirurgie gilt der französische Mediziner Alexis Carrel. Erschüttert durch den Tod des Präsidenten der Französischen Republik Marie François Sadi Carnot 1894, der infolge eines Messerattentats mit Verletzung der Pfortader unter der Hand der besten Chirurgen Frankreichs verblutete, entwickelte er bis 1902 die noch heute eingesetzte Naht-Technik zur Herstellung von Gefäßverbindungen („Gefäßanastomose“). 1912 erhielt er für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Gefäßchirurgie und Organtransplantationen den Nobelpreis für Medizin. Das Einsetzen (Interposition) von Venenabschnitten zur Behandlung von Arterienverletzungen führte der deutsche Chirurg Erich Lexer 1907 ein. Carrels Schüler Ernst Jeger beschrieb in „Die Chirurgie der Blutgefäße und des Herzen“ 1913 die Technik des femoropoplitealen Venenbypasses (Oberschenkel-Bypass) sowie die der Herztransplantation, wie sie später erstmals von Christiaan Barnard durchgeführt wurde. Weitere gefäßchirurgische Pioniertaten waren die Unterbindung eines persistierenden Ductus Botalli durch Robert E. Gross und J. P. Hubbard in Boston 1938 und die Resektion einer angeborenen Aortenisthmusstenose durch Clarence Crafoord in Stockholm 1945 mit der ersten End-zu-End Anastomose einer Aorta. Zur Rupturprävention ummantelte Herman Pearse 1940 ein Aortenaneurysma mit Cellophan. Diese Technik wurde von Rudolf Nissen 1948 bei Albert Einstein angewandt. 1955 kam es trotz der Therapie bei Einstein zu einer Aortenruptur. Obwohl es in der Zwischenzeit einige bahnbrechende Fortschritte auf dem Gebiet der Aneurysmabehandlung gab, lehnte Einstein eine erneute Operation mit den Worten ab: „Ich möchte gehen, wann ich möchte. Es ist geschmacklos, das Leben künstlich zu verlängern. Ich habe meinen Anteil getan, es ist Zeit zu gehen.“ Er starb infolge der Ruptur fünf Tage später. 1951 war Charles Dubost in Paris erstmals die Rekonstruktion einer rupturierten Aorta gelungen. Arthur Voorhees hatte mit der Entdeckung von Vinyon „N“ (hergestellt aus der ersten vollsynthetischen Spinnfaser Polyvinylchlorid) die Grundlage für alloplastisches Gefäßersatzmaterial geschaffen. 1952 verwendete sein Chef Arthur Blakemore dieses erstmals erfolgreich als Gefäßersatz bei einer Aortenruptur. Im Weiteren setzte sich der alloplastische Gefäßersatz zunehmend durch und wurde von Jörg Vollmar in Deutschland eingeführt und weiterentwickelt. Die Methodik zur Verbesserung der Durchblutung bei peripherer Verschlusskrankheit entwickelte sich erst durch die Entdeckung und Produktion des Heparins weiter. Joao Cid Dos Santos führte die erste erfolgreiche Thrombendarteriektomie (Gefäßausschälung) 1946 im Bereich der Oberschenkelarterie durch. Jean Kunlin behandelte in Paris 1948 erstmals einen Patienten mit schwerer peripherer Verschlusskrankheit mittels Anlage eines Oberschenkelbypasses (femoro-poplitealen Bypass) durch Implantation einer umgedrehten körpereigenen Vene (Vena saphena magna). Als Begründer der endovaskulären / minimalinvasiven Chirurgie gilt Sven-Ivar Seldinger, der 1952 die Technik der perkutanen („durch die Haut“) Gefäßpunktion entwickelte. 1962 erfand der amerikanische Medizinstudent Thomas Fogarty den Thrombektomie-Katheter, dessen Technik bis heute zur Bergung von Blutgerinnseln aus verschlossenen Gefäßen verwendet wird. Der Amerikaner Charles Dotter beschrieb 1963 erstmals die perkutane transluminale Angioplastie (sogenannte PTA), wobei er mit Hilfe von konischen Kathetern Gefäßengstellen erweiterte. 1969 implantierte er erstmals Stents („Gefäßstützen“) bei Tieren. Die erste Ballon-Angioplastie (Ballon-Dilatation) von Gefäßen gelang 1975 Andreas Grüntzig am Universitätsspital in Zürich. 1978 wurde von Julio Palmaz der erste Stent beim Menschen implantiert. Dass Stents nicht nur zur Behandlung von Gefäßengstellen und -verschlüssen verwendet werden können, zeigte 1987 Nikolay Volodos in der Ukraine (Sowjetunion). Er ummantelte Stents mit speziellem Stoff und konnte damit Aneurysmen ausschalten. Dies blieb dem Westen jedoch unbekannt, bis 1990 Juan Parodi in den USA die gleiche Idee verwirklichte. Die erste erfolgreiche Stentprothesenimplantation bei einem rupturierten Aortenaneurysma beschrieb Syed Yusuf 1994. Neben der arteriellen Gefäßchirurgie spielt bei der Behandlung von Venenleiden vor allem die Therapie der Krampfadern eine große Rolle. Diese wurden ebenfalls bereits seit der Antike behandelt. Es existieren dazu Berichte von Celsus (ca. 40 nach Chr.) und Cajus Plinius Secundus (23–79 nach Chr.). Meilensteine in der Krampfadertherapie beinhalteten die Entwicklung der Technik des Venen-Strippings durch W.W. Babcock 1907, die noch heute angewendet wird, sowie die Technik der endovenösen/ minimalinvasiven Venenablation („Verödung“) durch Laser oder Radiowelle, die 1998 entwickelt wurde. Daneben spielen chemische Verfahren zur Verklebung und Verätzung von Venen eine Rolle. Zwar wurde die Deutsche Gesellschaft für Gefäßchirurgie bereits im Dezember 1984 gegründet, ein eigenständiges chirurgisches Fachgebiet vertritt sie in Deutschland jedoch erst seit 2004. Das Teilgebiet „Gefäßchirurgie“ gibt es seit 1977. Zu den Pionieren der Gefäßchirurgie in Deutschland gehörten etwa Jörg Vollmar in Heidelberg und Ulm und Martin Sperling in Würzburg. Auch im 21. Jahrhundert setzte die Gefäßchirurgie ihre rasche Entwicklung fort – insbesondere auf dem Gebiet der endovaskulären Chirurgie, die in der Erstbeschreibung einer sogenannten „Endo-Bentall“-Operation im Jahr 2020 einen Höhepunkt fand. Wirkungsbereich Die Gefäßchirurgie umfasst die Chirurgie der Aorta, der Halsschlagadern und der oberen als auch unteren Extremität, einschließlich der Becken-, Oberschenkel- und Schienbeinarterien. Zur Gefäßchirurgie gehört auch die Chirurgie der Venen bei thrombotischen Verschlüssen, bei Krampfadern und bei Erkrankungen wie dem May-Thurner-Syndrom. Daneben gehört zur Gefäßchirurgie die Dialysezugangschirurgie und gegebenenfalls auch die Transplantationschirurgie. Die wichtigsten Krankheitskategorien und die damit verbundenen Verfahren sind nachstehend aufgeführt. Weiterbildung Nach erfolgreichem Medizinstudium und Erhalt der Befähigung zur ärztlichen Berufsausübung (Approbation) dauert die Weiterbildung zum Facharzt für Gefäßchirurgie mindestens 6 Jahre. Davon sind 2 Jahre Basisweiterbildung auf dem Gebiet der Chirurgie zu absolvieren. Die Basisweiterbildung (sogenannter Common Trunk) beinhaltet eine 6-monatige Rotation in die Notaufnahme sowie eine 6-monatige Ausbildung auf der Intensivstation. Neben zahlreichen Fertigkeiten in der Patientenbetreuung und Stationsführung ist das Erlernen operativer Techniken in der Weiterbildung essentiell. Der OP-Katalog gibt Aufschluss über die notwendigen Eingriffe, die zur Erlangung des Facharzttitels „Gefäßchirurgie“ absolviert werden müssen. Informationen: Landesärztekammern des jeweiligen Bundeslandes Musterweiterbildung für Gefäßchirurgie der Bundesärztekammer Zusatzweiterbildungen Phlebologie Endovaskulärer Chirurg (DGG) Endovaskulärer Spezialist (DGG) Siehe auch Deutsche Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin Schweizerische Gesellschaft für Gefäßchirurgie Österreichische Gesellschaft für Gefäßchirurgie European Society of Vascular Surgery Literatur Eike Sebastian Debus, Walter Gross-Fengels: Operative und interventionelle Gefäßmedizin. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Springer, 2020, ISBN 978-3-662-53378-9. Friedrich Wilhelm Hehrlein: Herz und große Gefäße. In: Franz Xaver Sailer, Friedrich Wilhelm Gierhake (Hrsg.): Chirurgie historisch gesehen. Anfang – Entwicklung – Differenzierung. Dustri-Verlag, Deisenhofen bei München 1973, ISBN 3-87185-021-7, S. 164–185. Bernd Luther: Techniken der offenen Gefäßchirurgie - Standards, Taktiken, Tricks. Springer, 2014, ISBN 978-3-642-21265-9. Eike Sebastian Debus, Reinhart T. Grundman: Evidenzbasierte Gefäßchirurgie. Leitlinien und Studienlage. Springer, 2019, ISBN 978-3-662-57708-0. Malte Ludwig, Johannes Rieger, Volker Ruppert: Gefäßmedizin in Klinik und Praxis: Leitlinienorientierte Angiologie, Gefäßchirurgie und interventionelle Radiologie. 2. Auflage. Thieme, Stuttgart/New York 2010, ISBN 978-3-13-110192-1. Michael Staudacher: Sternstunden in der Gefäßchirurgie. Wien 2006. Martin Sperling (Hrsg.): Gefahren, Fehler und Erfolge in der vaskulären Chirurgie und ihre Wirklichkeit. Karger, Basel/ München u. a. 1991, ISBN 3-8055-5533-4. Olga Aßmann, Margret Liehn, Annette Kormann: Gefäßchirurgie. In: Margret Liehn, Brigitte Lengersdorf, Lutz Steinmüller, Rüdiger Döhler (Hrsg.): OP-Handbuch. Grundlagen, Instrumentarium, OP-Ablauf. 6., aktualisierte und erweiterte Auflage. Springer, Berlin/ Heidelberg/ New York 2016, ISBN 978-3-662-49280-2, S. 275–319. Anton P Sidawy, Bruce A Perler: Rutherford's Vascular Surgery and Endovascular Therapy. 2 Bände, 10. Auflage. Elsevier, Amsterdam, ISBN 978-0-323-77557-1. Weblinks Einzelnachweise Medizinisches Fachgebiet
1837
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte
Geschichte
Unter Geschichte versteht man im Allgemeinen diejenigen Aspekte der Vergangenheit, derer Menschen gedenken und die sie deuten, um sich über den Charakter zeitlichen Wandels und dessen Auswirkungen auf die eigene Gegenwart und Zukunft zu orientieren. Im engeren Sinne ist Geschichte die Entwicklung der Menschheit, weshalb auch von Menschheitsgeschichte gesprochen wird (im Unterschied etwa zur Naturgeschichte). In diesem Zusammenhang wird Geschichte gelegentlich synonym mit Vergangenheit gebraucht. Daneben bedeutet Geschichte als Historie aber auch die Betrachtung der Vergangenheit im Gedenken, im Erzählen und in der Geschichtsschreibung. Forscher, die sich der Geschichtswissenschaft widmen, nennt man Historiker. Schließlich bezeichnet man mit Geschichte auch das Schulfach Geschichte, das über den Ablauf der Vergangenheit informiert und einen Überblick über Ereignisse der Welt-, Landes-, Regional-, Personen-, Politik-, Religions- und Kulturgeschichte gibt. Bedeutungsspektrum Wenn man Geschichte als Vergangenheit betrachtet, lassen sich folgende Bereiche unterscheiden: Die Geschichte des Universums bzw. der Natur: Sie wird speziell von Astronomen, Astrophysikern, Geologen, Biologen und anderen Naturwissenschaftlern betrachtet (Urknall, Kosmologie, Erdgeschichte, Naturgeschichte). Darin eingeschlossen ist auch die Entstehung des Homo sapiens. Die Geschichte des Menschen: Damit setzt eine Entwicklung ein, die kulturelle Faktoren beinhaltet. Der Mensch veränderte von jeher seine Umwelt, um sie seinen Bedürfnissen anzupassen. Diese Art Geschichte ist Gegenstand von Archäologie, Ethnologie und Sozialgeografie. Zeiträume, aus denen keine Schriftquellen vorliegen, werden als Urgeschichte, Perioden mit nur sehr wenigen (meist nicht einheimischen) Schriftquellen als Frühgeschichte bezeichnet. Die Geschichte des Menschen seit der Erfindung der Schrift (im 4. Jahrtausend v. Chr.), also jenseits rein mündlicher Überlieferung (die neuerdings in Form der Oral History auch für wissenschaftliche Forschungen eine Rolle spielt). Geschichte in diesem dritten, auf Schriftlichkeit beruhenden Bereich bildet das Hauptarbeitsfeld der Geschichtswissenschaft mit ihren spezifischen Methoden. Denn erst mittels Schriftzeugnissen wird es möglich, menschliches Tun und Erleben zu dokumentieren, als Teil der Menschheitsgeschichte dauerhaft festzuhalten und sich diese in der jeweiligen Gegenwart wieder anzueignen. Im Mittelpunkt der Beschäftigung mit Geschichte, der Erkundung (griechisch: Historie) der Vergangenheit, stehen dabei die Quellen, d. h. zeitnahe schriftliche Aufzeichnungen und Dokumente. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Geschichte als Geschehen und dem Geschichtsbewusstsein, dem Bild des Gewesenen, das sich einerseits im Selbstverständnis der historischen Personen widerspiegelt, andererseits sich bei der Erforschung und Darstellung aufgrund der vorhandenen Überlieferungen für den Betrachter ergibt, der das Geschehen zu erfassen versucht (vgl. Geschichtsschreibung und Geschichte der Geschichtsschreibung). Diese nachträgliche Geschichtserkenntnis gründet sich auf Überreste und Tradition. Solche Erkenntnis ist allerdings nie völlig objektiv, sondern abhängig von der historischen Situation, der Perspektive des Betrachters und den verfügbaren Quellen. In manchen Fällen wird vorgeschlagen, die Darstellung der Ergebnisse und Zusammenhänge als eine künstlerische Tätigkeit zu betrachten. Eine bestimmte Perspektive gegen andere Perspektiven durchzusetzen (aber auch der Versuch, Multiperspektivität zu ermöglichen) ist Sache der Geschichtspolitik. Dagegen hat sich Geschichtsdidaktik die Aufgabe gestellt, den Zugang zu den wichtigsten Bereichen von Geschichte zu erleichtern und ein mehrdimensionales Geschichtsbewusstsein zu ermöglichen. Der Geschichtsunterricht ist der Versuch der praktischen Umsetzung von Geschichtsdidaktik. Im Idealfall sollen inhaltlich nicht nur die bisherigen Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft, sondern zumindest in Ansätzen auch historisch-kritische Methodenkenntnisse vermittelt werden – dies umso mehr, als das in der Schule vermittelte Geschichtswissen an sich stets nur eine Rekonstruktion ist, die keinen Wahrheitsanspruch erheben kann. Funktionen und Betrachtungsweisen von Geschichte Ebenso lange, wie es Geschichtsschreibung gibt, stellt sich die Frage: Wozu Geschichte? Neben der Bewahrung von Traditionen aller Art, der vielleicht ursprünglichsten Funktion des Erzählens bzw. Aufschreibens von Geschichte, kann Geschichte auch identitätsstiftende Wirkung entfalten, etwa bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, „woher wir kommen und wohin wir gehen.“ Bereits in der Antike gab Cicero eine später häufig zitierte, aber auch skeptisch betrachtete umfassende Funktionsbestimmung der Geschichte als „Lehrmeisterin des Lebens“ (Historia magistra vitae). Der im Historismus etwa durch Leopold von Ranke erhobene Objektivitätsanspruch, zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen“ sei, ist im Hinblick auf die Zeitgebundenheit und Individualität jeglichen Rückblicks in die Vergangenheit als nicht einlösbar anzusehen. Der Annales-Historiker Fernand Braudel beschrieb Grenzen der Objektivität, denen alle unterliegen, die Geschichte darstellen, einmal so: „In der Tat tritt der Historiker niemals aus der Dimension der geschichtlichen Zeit heraus; die Zeit klebt an seinem Denken wie die Erde am Spaten des Gärtners. Trotzdem träumt er davon, sich ihr zu entziehen.“ Gordon A. Craig äußerte 1981 in einem Vortrag: Der Historiker Rolf Schörken stellte vier Hauptfunktionen der Geschichte heraus: Sie ist unterhaltsam und entlastet von den Mühen des Alltags, dem eine leuchtende Vergangenheit gegenübergestellt wird. Sie vermittelt Prestige, wenn man etwa auf den Besitz sehr alter Gegenstände oder auf einen weit zurückreichenden Stammbaum seiner Familie verweisen kann. Sie stabilisiert Gemeinschaften und wirkt so identitätsstiftend, etwa durch den Rückblick auf eine gemeinsam erlebte Vergangenheit. Sie liefert einen reichen Vorrat an Exempla und Argumenten und wirkt so legitimierend. Wissenschaftliche Annäherungen Geschichte kann als Resultat wissenschaftlicher Forschung gesehen werden. Der Historiker soll dem Leser auf eine nachvollziehbare, annähernd objektive und überzeugende Weise den Gang der Ereignisse sowie deren Ursachen und Wirkungen, ein alltagsweltliches Geschichtsbewusstsein präsentieren. Die Geschichtsphilosophie versucht, den Gang der Handlungen in einen übergeordneten Zusammenhang, ein Geschichtsbild, zu bringen. Wesentliche Ordnungskriterien- und Hilfsmittel dabei sind Chronologie und Periodisierung. Geschichte als quellenabhängige Konstruktion Die Geschichtswissenschaft diskutiert auch die Frage, wie weit das von ihr entworfene Bild von der Vergangenheit überhaupt in der Lage ist, die tatsächliche Vergangenheit abzubilden. Das bezieht sich nicht allein auf die Unmöglichkeit, historische Situationen und Prozesse in ihrer Gesamtheit oder Totalität abzubilden, sondern hängt auch mit Zweifeln in ihre Quellen (ganz abgesehen von den Fälschungen) zusammen. Während man im 19. Jahrhundert bemüht war, gegensätzliche Aussagen aus verschiedenen Quellen weitestgehend zu harmonisieren, findet man sich heute eher damit ab, dass der vergangene Sachverhalt bis zum Fund neuer Quellen unrekonstruierbar verschwunden ist. Bekanntes Beispiel für diesen Wandel ist die Darstellung der Krönung Karls des Großen in Rom zum Kaiser, die in den päpstlichen Quellen anders geschildert wird als in den Quellen, die nördlich der Alpen entstanden sind. Während in diesem Falle die Nichtrekonstruierbarkeit angesichts sich widersprechender Quellen heute allgemein akzeptiert wird, ist es bei Quellen, denen keine abweichende oder von ihr unabhängige Darstellung gegenübersteht, eine viel diskutierte Frage, ob das Bild, das auf Grund dieser Quellen von der Vergangenheit gezeichnet wird, nicht eine Konstruktion ist, die mit den wirklichen Geschehnissen wenig oder möglicherweise nichts zu tun hat. Hier können der Prozess Jesu oder die Hintergründe der konstantinischen Wende als Beispiel dienen. Dabei wird zum einen die Frage diskutiert, ob der Versuch einer Rekonstruktion in derartigen Fällen nicht ebenfalls unterbleiben sollte, und zum anderen, ob eine solche Unterscheidung zwischen „wirklicher“ und „rekonstruierter“ Wirklichkeit überhaupt einen Sinn hat und ob nicht die Maxime genügt, dass die rekonstruierte Geschichte so lange als Wirklichkeit gilt, bis neue Erkenntnisse eine Korrektur erfordern. Historische Rekonstruktion mit sprachlichen Mitteln Das Bemühen um wissenschaftliche Rekonstruktion von Geschichte kommt – schon allein wegen der sprachlichen Bestimmtheit ihrer Vermittlung – nicht ohne konstruierende Anteile aus. Der Rohstoff der Geschichte, die Gesamtheit des Vergangenen, kann erst durch Benennung, Bewertung und Ordnung im Medium der Sprache sichtbar bzw. begreiflich gemacht werden. Demnach ist Geschichte (auch) das Erzeugnis der Historiker und der sich auf die Vergangenheit besinnenden Menschen. „Nur soweit diese Besinnung stattfindet und sich artikuliert, gibt es Geschichte. Außerhalb dieses Bereichs ist nur noch Gegenwart ohne Tiefendimension und totes Material.“ Unbewusste Anteile in geschichtlichen Erzählungen Anders als bei den noch im 19. und 20. Jahrhundert vorherrschenden und mit exklusivem Objektivitätsanspruch verbundenen historistischen Geschichtsbildern stehen sich unterdessen in der Geschichtswissenschaft eine Vielzahl von Narrativen zu Vergangenheitsaspekten gegenüber. Generell zu kurz greift aber laut Thomas Walach, wer Geschichte „als reines Produkt bewusster Reflexion über Vergangenheit“ versteht. Sowohl die geschichtlichen Akteure als auch die das Geschehen verarbeitenden Historiker seien durch unbewusste Anteile ihrer Psyche ebenso bestimmt wie durch die bewussten kognitiven Operationen. Eine ihre gesellschaftliche Rolle ernstnehmende Geschichtswissenschaft komme künftig nicht umhin, sich mit den dunkleren Bereichen im historischen Unbewussten – Schuldgefühl, Kränkung, Scham und Ressentiment – auseinanderzusetzen. „Die blinden Flecken auf der historischen Netzhaut“, so Walach, „resultieren aus der typischen empirischen Vorgehensweise der Geschichtswissenschaft, die stets untersucht, wofür sie Quellen findet und sich selbst Aussagen darüber verbietet, wofür sie kein Quellenmaterial hat.“ Künstlerische Verarbeitung Indem die Darstellung von Geschichte auch als eine künstlerische Gestaltungsaufgabe betrachtet werden kann, kommt es ohne vorrangig wissenschaftliches Erkenntnisinteresse zu künstlerischer Interpretation bzw. literarischer Verarbeitung geschichtlicher Themen. Beispiele dafür sind die Dramen Julius Caesar von William Shakespeare oder Wallenstein von Friedrich von Schiller – Werke, die der Einbildungskraft des Künstlers weit mehr verdanken als einem wissenschaftlichen Anspruch. Formen künstlerischer Auseinandersetzung mit Geschichte finden sich auch in der bildenden Kunst, speziell in der Historienmalerei, wo neben Gemälden wie der Alexanderschlacht von Albrecht Altdorfer auch monumentale Formate wie das Bauernkriegspanorama von Werner Tübke vorkommen. In der Musik nehmen sich zum Teil Opernwerke historischer Stoffe an, etwa Giuseppe Verdis Don Carlos oder Gaetano Donizettis Anna Bolena. Geschichtspolitik Die gezielt von politischen Interessen geleitete Darstellung von Geschichte ist Gegenstand der Geschichtspolitik, die auch von manchen Historikern aktiv mit betrieben wird. Geschichtspolitik dient der Einflussnahme auf die allgemeine Meinungsbildung in der Gesellschaft, insbesondere in totalitären Systemen. Sie hat in Abhängigkeit vom politischen System zeittypische Auswirkungen auf Geschichtsdidaktik und Geschichtspädagogik, insbesondere Geschichtsunterricht, Museumspädagogik und Gedenkstätten. Zudem gibt es Formen geschichtlicher Wissensvermittlung durch Unterhaltungsmedien bis hin zum Histotainment (wie zum Beispiel Mittelaltermärkte), ein Spektrum, das von didaktischer Wissensvermittlung bis zur bloßen Unterhaltung reicht und auch in mancherlei Kombinationen anzutreffen ist. Die Mittel von Geschichtspolitik sind vielfältig. Zu den diesbezüglichen Begriffen gehören: Geschichtlichkeit, Geschichtsbewusstsein, Geschichtsraum, Geschichtsperspektive, Historisierung, Erinnerungskultur, Glorifizierung beziehungsweise Geschichtsfälschung. Dass Geschichtspolitik auch in repräsentativen Demokratien von Bedeutung ist, ergibt sich unter anderem aus dem Auftrag zur politischen Bildung. Die Art und Weise, wie Vergangenheitsvorstellungen zustande kommen, ist laut Walach entscheidend dafür, „ob und wie der Konsens über gemeinsame Geschichte einen Konsens über Politik herstellen kann.“ Das kulturell vermittelte gesellschaftliche Wissen über Vergangenheit sei jedoch in repräsentativen Demokratien für Brüche besonders anfällig, da es hier – anders als in autoritären politischen Systemen – kein bloß verordnetes historisches Narrativen geben könne. Hinzu komme die neue digitale Medienöffentlichkeit, die den Personenkreis, der eigene Wahrnehmungen aller Art veröffentlichen kann, in bisher ungekannter Weise erweitert. Daraus ergibt sich für Walach das Problem: „Alternative Fakten, Fake News, Geschichtsrevisionismus – all diese Phänomene, die es der Wissenschaft schwer machen, in der Öffentlichkeit Gehör zu finden, haben eines gemeinsam: Die Bereitschaft, ihnen Glauben zu schenken stellt eine Reaktion des Unbewussten auf die Zumutungen der postmodernen Welt dar, in der das Subjekt allzu oft auf sich selbst zurückgeworfen wird, anstatt Halt an identitätsstiftenden Gewissheiten zu finden.“ Darum sei es wichtig, dass die Geschichtswissenschaft, der die Hegemonie über den historischen Diskurs zu entgleiten drohe, Mittel und Wege finde, um wieder breite Akzeptanz für ihre Anliegen und Ergebnisse erreichen zu können. Dazu müsse sie die Beziehung zwischen dem historisch Unbewussten und den historischen Narrativen untersuchen und sie etwa im Rahmen der Public History vermitteln, „die exakt am Schnittpunkt von Wissenschaft, öffentlichen Geschichtsbildern und Geschichtspolitik angesiedelt ist.“ Siehe auch Weltgeschichte bzw. transnationale Geschichte Historiometrie Disziplinen der Geschichtswissenschaft Zeitzeugen Literatur John H. Arnold: Geschichte. Eine kurze Einführung. Reclam, Ditzingen 2001, ISBN 978-3-15-017026-7. Jörg Baberowski: Der Sinn der Geschichte: Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault. Beck, München 2005, ISBN 3-406-52793-0. Erich Bayer und Frank Wende (Hrsg.): Wörterbuch der Geschichte. 5. Auflage. Kroener Verlag, Stuttgart 1995, ISBN 3-520-28905-9. Marc Bloch, Peter Schöttler, Jacques Le Goff, Wolfram Bayer: Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers. (Neudruck) Klett-Cotta, Stuttgart 2002, ISBN 3-608-94170-3. Otto Brunner u. a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bände. Stuttgart 1972–1992, ISBN 9783129038505. Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Hrsg. v. Jacob Oeri, Berlin/Stuttgart 1905. Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. C. H. Beck Verlag, München 2004, ISBN 978-3-406-52211-6. Manfred Mai: Weltgeschichte. Hanser, München/Wien 2002, ISBN 3-446-20191-2. Carl Ploetz (hrsg. v.): Der große Ploetz: Die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte; Daten, Fakten, Zusammenhänge. 34. Auflage. Komet, Köln 2005, ISBN 3-89836-460-7. Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart. München 2003, ISBN 3-406-49472-2. Pietro Rossi (Hrsg.): Theorie der modernen Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-518-11390-9. Jörn Rüsen: Grundzüge einer Historik. Drei Bände, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1983–1989 (Bd. 1: Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, ISBN 3-525-33482-6; Bd. 2: Rekonstruktion der Vergangenheit: Die Prinzipien der historischen Forschung, ISBN 3-525-33517-2; Bd. 3: Lebendige Geschichte: Formen und Funktionen des historischen Wissens, ISBN 3-525-33554-7). Peter-Johannes Schuler: Historisches Abkürzungslexikon (Historische Grundwissenschaften in Einzeldarstellungen, Band 4). Steiner, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-515-08909-8. Thomas Walach: Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit. Theorie und Methode einer öffentlichen Geschichte. Springer VS, Wiesbaden 2019, ISBN 978-3-658-24891-8. Weblinks TU Dortmund, Fachbereich Geschichte Lotse Geschichte – Wegweiser zur Literatursuche und zum wissenschaftlichen Arbeiten fachliche Betreuung durch die Unibibliothek Münster Virtual Library Geschichte Bündelung der deutschsprachigen Internet-Angebote zu Geschichtswissenschaften Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften Humboldt-Universität Berlin Geschichtswissenschaft im Internet e. V. Nachrichtendienst für Historiker Online E-Learning-Plattform der Universität Wien Wege zu Geschichtsdarstellungen für Laien und für schulische Zwecke didaktisch aufbereitete Geschichtsdarstellung mit Links (private Seite) Kostenloses Geschichtsportal für Schülerinnen und Schüler (private Seite) Epochenüberblicke mit Links bei ZUM Geschichte – Ideen und Materialien für den Unterricht (im ZUM-Wiki) Anmerkungen Kulturwissenschaft
1839
https://de.wikipedia.org/wiki/Gruppentheorie
Gruppentheorie
Die Gruppentheorie als mathematische Disziplin untersucht die algebraische Struktur von Gruppen. Anschaulich besteht eine Gruppe aus den Symmetrien eines Objekts oder einer Konfiguration zusammen mit jener Verknüpfung, die durch das Hintereinanderausführen dieser Symmetrien gegeben ist. So bilden beispielsweise die Drehungen eines regelmäßigen -Ecks in der Ebene, mit denen die Figur auf sich selbst abgebildet werden kann, eine Gruppe mit Elementen. Um dieses Konzept allgemein zu fassen, hat sich eine knappe und mächtige Definition herausgebildet: Demnach ist eine Gruppe eine Menge zusammen mit einer zweistelligen inneren Verknüpfung (durch die jedem geordneten Paar von Elementen eindeutig ein Element dieser Menge als Resultat zugeordnet wird), wenn diese Verknüpfung assoziativ ist und es ein neutrales Element gibt sowie zu jedem Element ein Inverses. So bildet zum Beispiel auch die Menge der ganzen Zahlen zusammen mit der Addition eine Gruppe. Die systematische Untersuchung von Gruppen begann im 19. Jahrhundert und wurde durch konkrete Probleme ausgelöst, zunächst durch die Frage nach der Lösbarkeit von algebraischen Gleichungen, später durch die Untersuchung geometrischer Symmetrien. Dementsprechend stand zunächst die Untersuchung konkreter Gruppen im Vordergrund; erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden verstärkt abstrakte Fragestellungen untersucht. Wichtige Beiträge stammen unter anderem von Évariste Galois und Niels Henrik Abel in der Algebra sowie Felix Klein und Sophus Lie in der Geometrie. Eine der herausragenden mathematischen Leistungen des 20. Jahrhunderts ist die Klassifikation aller endlichen einfachen Gruppen, also der unzerlegbaren Bausteine aller endlichen Gruppen. Die große Bedeutung der Gruppentheorie für viele Gebiete der Mathematik und ihrer Anwendungen resultiert aus ihrer Allgemeinheit, denn sie umfasst in einer einheitlichen Sprache sowohl geometrische Sachverhalte (Bewegungen des Raumes, Symmetrien etc.) als auch arithmetische Regeln (Rechnen mit Zahlen, Matrizen etc.). Vor allem in der Algebra ist der Begriff der Gruppe von grundlegender Bedeutung: Ringe, Körper, Moduln und Vektorräume sind Gruppen mit zusätzlichen Strukturen und Eigenschaften. Methoden und Sprechweise der Gruppentheorie durchziehen daher viele Gebiete der Mathematik. In Physik und Chemie treten Gruppen überall dort auf, wo Symmetrien eine Rolle spielen (z. B. Invarianz physikalischer Gesetze, Symmetrie von Molekülen und Kristallen). Zur Untersuchung solcher Phänomene liefern die Gruppentheorie und die eng verwandte Darstellungstheorie die theoretischen Grundlagen und eröffnen wichtige Anwendungen. Zugang ohne mathematische Voraussetzungen Gruppen werden in der Mathematik verwendet, um das Rechnen mit Zahlen zu verallgemeinern. Entsprechend besteht eine Gruppe aus einer Menge von Dingen (z. B. Zahlen, Symbolen, Objekten, Bewegungen) und einer Rechenvorschrift (eine Verknüpfung, in diesem Artikel als dargestellt), die angibt, wie mit diesen Dingen umzugehen ist. Diese Rechenvorschrift muss dabei bestimmten Regeln genügen, den sogenannten Gruppenaxiomen, die im Folgenden erklärt werden. Von einer Gruppe spricht man, falls für eine Menge zusammen mit einer Verknüpfung je zweier Elemente dieser Menge, hier geschrieben als , die folgenden Anforderungen erfüllt sind: Die Verknüpfung zweier Elemente der Menge ergibt wiederum ein Element derselben Menge. (Abgeschlossenheit) Für die Verknüpfung ist die Klammerung unerheblich, das heißt, es gilt für alle . (Assoziativgesetz) Es gibt ein Element in der Menge, das bezüglich der Verknüpfung nichts bewirkt, also ein -neutrales Element: für alle . Zu jedem Element gibt es bezüglich der Verknüpfung ein Umkehr-Element, also ein -inverses Element . Dieses hat die Eigenschaft, beim Verknüpfen mit das neutrale Element zu ergeben: . Man beachte: Falls auf der Menge von mehreren Verknüpfungen die Rede ist, etwa und , dann gibt es mehrere neutrale und inverse Elemente, jeweils passend zur Verknüpfung. Wenn aus dem Kontext klar ist, dass nur eine bestimmte Verknüpfung gemeint ist, dann spricht man kurz von dem neutralen Element und dem inversen Element zu ohne die Verknüpfung nochmals explizit zu erwähnen. Wenn man zudem noch die Operanden vertauschen darf, wenn also stets gilt, dann liegt eine abelsche Gruppe vor, auch kommutative Gruppe genannt. (Kommutativgesetz) Beispiele für abelsche Gruppen sind die ganzen Zahlen mit der Addition als Verknüpfung und der Null als neutralem Element, die rationalen Zahlen ohne Null mit der Multiplikation als Verknüpfung und der Eins als neutralem Element. Die Null muss hierbei ausgeschlossen werden, da sie kein inverses Element besitzt: „1/0“ ist nicht definiert. Die sehr allgemeine Definition von Gruppen ermöglicht es, nicht nur Mengen von Zahlen mit entsprechenden Operationen als Gruppen aufzufassen, sondern auch andere mathematische Objekte mit geeigneten Verknüpfungen, die die obigen Anforderungen erfüllen. Ein solches Beispiel ist die Menge der Drehungen und Spiegelungen (Symmetrietransformationen), durch die ein regelmäßiges n-Eck auf sich selbst abgebildet wird, mit der Hintereinanderausführung der Transformationen als Verknüpfung (Diedergruppe). Definition einer Gruppe Eine Gruppe ist ein Paar . Dabei ist eine Menge und eine zweistellige Verknüpfung bezüglich . Das heißt, dadurch wird die Abbildung beschrieben. Zudem müssen die folgenden Axiome für die Verknüpfung erfüllt sein, damit als Gruppe bezeichnet werden kann: Assoziativität: Für alle Gruppenelemente , und gilt: Es gibt ein neutrales Element , mit dem für alle Gruppenelemente gilt: . Zu jedem Gruppenelement existiert ein inverses Element mit . Eine Gruppe heißt abelsch oder kommutativ, wenn zusätzlich das folgende Axiom erfüllt ist: Kommutativität: Für alle Gruppenelemente und gilt . Andernfalls, d. h., wenn es Gruppenelemente gibt, für die ist, heißt die Gruppe nichtabelsch. Beispiele Bekannte Beispiele für Gruppen sind: Kleinsche Vierergruppe (abelsch) symmetrische Gruppe (nicht-abelsch für n > 2) alternierende Gruppe (nicht-abelsch für n > 3) Diedergruppe (nicht-abelsch für n > 2) Quaternionengruppe (nicht-abelsch) Triviale Gruppe (abelsch): Besteht nur aus dem neutralen Element Eine ausführlichere Aufzählung befindet sich in der Liste kleiner Gruppen. Grundkonzepte der Gruppentheorie Ordnung einer Gruppe Die Mächtigkeit (Kardinalität) der Trägermenge der Gruppe nennt man Ordnung der Gruppe oder kurz Gruppenordnung. Für endliche Mengen ist dies einfach die Anzahl der Elemente. Untergruppen Ist eine Teilmenge der Trägermenge einer Gruppe und ist selbst eine Gruppe, so nennt man eine Untergruppe von , Bezeichnung . Hierzu ein wichtiger Satz (Satz von Lagrange): Die Ordnung jeder Untergruppe einer endlichen Gruppe ist ein Teiler der Ordnung der Gruppe . Ist speziell eine Primzahl, dann hat nur die (trivialen) Untergruppen (bestehend aus dem neutralen Element) und selbst. Zyklische Gruppen Gibt es in ein Element so, dass man jedes Element als Potenz (mit einer ganzen Zahl , die auch negativ sein darf) schreiben kann, so nennt man eine zyklische Gruppe und erzeugendes Element. Ordnung von Elementen Ergibt ein Element der Gruppe, endlich viele Male (-mal) mit sich selbst verknüpft, das neutrale Element , d. h., gibt es ein mit , so nennt man das kleinste derartige die Ordnung des Elements . In diesem Fall spricht man von einem Element endlicher Ordnung oder Torsionselement. Falls kein solches existiert, sagt man, dass unendliche Ordnung hat. In beiden Fällen entspricht die Ordnung des Elements der Ordnung der von ihm erzeugten Untergruppe. Aus dem Satz von Lagrange folgt daher: In einer endlichen Gruppe ist die Ordnung jedes Elements endlich, und ein Teiler der Gruppenordnung. Die kleinste positive Zahl , mit der für jedes Gruppenelement gilt, wird Gruppenexponent genannt. Unterschiedliche Schreibweisen für das Verknüpfungszeichen Steht das Zeichen »*« für das Mal-Zeichen »·«, dann spricht man von einer multiplikativ geschriebenen Gruppe. Diese kann kommutativ sein oder auch nicht, und das Zeichen »·« kann weggelassen, d. h. die zwei Operanden direkt nebeneinander geschrieben werden. Das neutrale Element ist dann und das Inverse wird oder im kommutativen Fall auch geschrieben. In Analogie zu den reellen Zahlen wird für das multiplikativ Iterierte die Potenzschreibweise verwendet. Wird andererseits das Plus-Zeichen »+« als Zeichen für die Verknüpfung verwendet, dann spricht man von einer additiv geschriebenen Gruppe, die dann auch allermeist kommutativ ist und als neutrales Element hat. Das Vielfache wird und das Inverse geschrieben. Es gibt aber außer Multiplikation und Addition noch weitere Operationen, die eine Gruppenstruktur definieren. So gilt für die Hintereinanderausführung von Funktionen stets das Assoziativgesetz. Werden dabei nur Funktionen betrachtet, die invertierbar sind, und zwar Bijektionen einer Menge auf sich selbst, dann definieren sie eine Gruppe (die im Allgemeinen nicht kommutativ ist). Häufig wird als Zeichen für die Hintereinanderausführung und für das entsprechende neutrale Element verwendet. Ist bei Inversenbildung und Iteration gegenüber der Potenzschreibweise ein Unterschied zu machen, dann wird der Exponent auch in spitze Klammern gesetzt, z. B. und Nebenklassen Definition Definiert man auf der Gruppe mit einer Untergruppe die Relation durch , erhält man eine Äquivalenzrelation auf deren Quotientenmenge die Menge partitioniert. Die Nebenklasse (englisch: coset) zu einem Element ist die Menge . Dies ist die Menge aller Elemente , die zu in der Relation stehen, und damit eine Äquivalenzklasse. Die Nebenklasse, die man für ein zu äquivalentes Element durch Linksverknüpfung aller erhält, ist daher die Gleiche. Für die Nebenklasse bezüglich schreibt man oder auch kurz wenn klar ist, durch welchen Vorgang die Nebenklassen gebildet werden. Da diese Menge alle Elemente von enthält, die dadurch entstehen, dass die Elemente aus links mit dem Element verknüpft werden, heißt sie (genauer) die Linksnebenklasse, Alternativbezeichnung Linksrestklasse, von nach dem Element . Wenn man andererseits eine Relation durch definiert, dann ist dies im Allgemeinen eine andere Äquivalenzrelation und die Menge der zu äquivalenten Elemente in jetzt , die durch Rechtsverknüpfung der Elemente aus mit dem Element entsteht. Sie wird mit oder bezeichnet und Rechtsnebenklasse, Alternativbezeichnung Rechtsrestklasse, von nach dem Element genannt. Für die Faktor- oder Quotientenmenge aller Links- bzw. Rechtsnebenklassen wird die Notation bzw. verwendet. Nebenklassen werden benutzt, um den Satz von Lagrange zu beweisen, um die Begriffe Normalteiler und Faktorgruppe zu erklären und um Gruppenoperationen zu studieren. Nebenklassen als Bahnen einer Gruppenoperation Man kann Nebenklassen auch als Bahnen einer Gruppenoperation verstehen. Die Untergruppe operiert nämlich auf der Gruppe von links bzw. von rechts durch Multiplikation. Für ein gegebenes ist dann die Rechtsnebenklasse gerade die Bahn von der Linksoperation, entsprechend die Linksnebenklasse die Bahn von der Rechtsoperation. Die Notation für die Menge der Linksnebenklassen bzw. für die Menge der Rechtsnebenklassen deckt sich mit der für Bahnen üblichen Notation für den Orbitraum. Doppelnebenklassen Sind zwei Untergruppen und gegeben, so erhält man eine Äquivalenzrelation durch . Die Äquivalenzklasse zu ist Für diese Menge schreibt man oder und nennt sie die -Doppelnebenklasse zu . Normalteiler Ist für jedes Element die linke Nebenklasse von gleich der rechten, d. h. , so nennt man einen Normalteiler von , Bezeichnung . In einer abelschen Gruppe ist jede Untergruppe ein Normalteiler. Der Kern jedes Gruppenhomomorphismus ist ein Normalteiler. Faktorgruppe Die Linksnebenklassen (oder auch die Rechtsnebenklassen) bezüglich einer Untergruppe teilen die Gruppe (als Menge angesehen) in disjunkte Teilmengen auf. Ist die Untergruppe sogar ein Normalteiler, so ist jede Linksnebenklasse zugleich eine Rechtsnebenklasse und wird ab jetzt nur Nebenklasse genannt. Ist ein Normalteiler von , dann kann man auf der Menge der Nebenklassen eine Verknüpfung definieren: Die Verknüpfung ist wohldefiniert, d. h., sie ist nicht abhängig von der Wahl der Repräsentanten und in ihrer Nebenklasse. (Ist kein Normalteiler, dann gibt es Nebenklassen mit Repräsentanten, die verschiedene Ergebnisse produzieren.) Zusammen mit dieser induzierten Verknüpfung bildet die Menge der Nebenklassen eine Gruppe, die Faktorgruppe . Die Faktorgruppe ist eine Art vergröbertes Abbild der originalen Gruppe. Klassifikation der endlichen einfachen Gruppen Eine nicht-triviale Gruppe heißt einfach, wenn sie keine Normalteiler außer der trivialen Gruppe und sich selbst hat. Beispielsweise sind alle Gruppen von Primzahlordnung einfach. Die einfachen Gruppen spielen eine wichtige Rolle als „Grundbausteine“ von Gruppen. Seit 1982 sind die endlichen einfachen Gruppen vollständig klassifiziert. Jede gehört entweder zu einer der 18 Familien endlicher einfacher Gruppen oder ist eine der 26 Ausnahmegruppen, die auch als sporadische Gruppen bezeichnet werden. Beispiel Manche Eigenschaften endlicher Gruppen lassen sich mit dem Zauberwürfel veranschaulichen, der seit seiner Erfindung vielfach im akademischen Unterricht eingesetzt wurde, weil die Permutationen der Ecken- und Kantenelemente des Würfels ein sichtbares und handgreifliches Beispiel einer Gruppe darstellen. Anwendungen Chemie Punktgruppen Die Menge der möglichen Positionen der Atome der Moleküle in ihrer Gleichgewichtskonformation lässt sich mit Hilfe von Symmetrieoperationen (Einheitselement, Spiegelung, Drehung, Inversion, Drehspiegelung) auf sich selbst abbilden. Die Symmetrieoperationen lassen sich zu Gruppen, den sogenannten Punktgruppen zusammenfassen. Beispielanwendungen Quantenchemie Der Rechenaufwand von quantenchemischen Rechnungen kann unter Benutzung der Gruppentheorie erheblich verringert werden, z. B. hat ein Hamiltonoperator die gleiche Symmetrie wie sein System. Weiterhin ist sie hilfreich zur Beschreibung von SALKs (symmetrieadaptierten Linearkombinationen aus Atomorbitalen, auch Liganden-Gruppen-Orbitale), was in der MO-Theorie und Ligandenfeldtheorie Anwendung findet. Weiterhin findet die Gruppentheorie Anwendung bei der Theorie der Erhaltung der Orbitalsymmetrie (siehe: Woodward-Hoffmann-Regeln). Spektroskopie Die Gruppentheorie ist auch für die Infrarotspektroskopie von Bedeutung, IR-, Raman-Eigenschaften, Vorhandensein von Quadrupol- und Octopolmoment können direkt aus der Charaktertafel eines Moleküls abgelesen werden. In der NMR-Spektroskopie sind Protonen, die sich durch Spiegelung aufeinander abbilden lassen, chemisch äquivalent und ergeben daher im Spektrum die gleiche chemische Verschiebung. Physikalische Eigenschaften Ein permanentes elektrisches Dipolmoment können nur Moleküle ohne jegliche Symmetrie oder Symmetrien der Punktgruppen und und haben. Chiralität / optische Aktivität Moleküle, die keine Drehspiegelachse aufweisen, sind chiral und daher optisch aktiv, z. B. Bromchloriodmethan. Moleküle, die eine Spiegelachse haben, sind nicht optisch aktiv, auch wenn sie chirale Zentren enthalten, z. B. Meso-Verbindungen. Chirale Katalysatoren in der enantioselektiven Synthese enthalten oft Liganden mit -Symmetrie, damit sich definierte Komplexe bilden. Kristallographie In der Kristallographie kommt die Gruppentheorie durch die Einordnung von Kristallstrukturen in die 230 möglichen Raumgruppen vor. Physik In der Quantenmechanik sind Symmetriegruppen als Gruppen von unitären oder antiunitären Operatoren realisiert. Die Eigenvektoren einer maximalen abelschen Untergruppe dieser Operatoren zeichnet eine physikalisch wichtige Basis aus, die zu Zuständen mit wohldefinierter Energie oder Impuls oder Drehimpuls oder Ladung gehört. Beispielsweise bilden in der Festkörperphysik die Zustände in einem Kristall mit einer fest gewählten Energie einen Darstellungsraum der Symmetriegruppe des Kristalls. Geschichte Die Entdeckung der Gruppentheorie wird Évariste Galois zugeschrieben, der die Lösbarkeit algebraischer Gleichungen durch Radikale (in heutiger Terminologie) auf die Auflösbarkeit ihrer Galois-Gruppe zurückführte. Galois’ Arbeit wurde erst 1846 postum veröffentlicht. Implizit spielte das Konzept einer Gruppe aber bereits bei Lagrange (Réflexions sur la résolution algébrique, 1771) und Gauß (Disquisitiones Arithmeticae, 1801) eine Rolle. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurde die Gruppentheorie vor allem durch Felix Kleins Erlanger Programm und die von Sophus Lie entwickelte Theorie der kontinuierlichen Transformationsgruppen sowie auch Poincarés und Kleins Arbeiten über automorphe Funktionen zu einem zentralen Bestandteil der Mathematik. Aus dem Jahr 1881 stammt Poincarés bekanntes Zitat „Les mathématiques ne sont qu’une histoire des groupes.“ (Die Mathematik ist nur eine Geschichte der Gruppen.) Eine abstrakte Definition von Gruppen findet sich erstmals 1854 bei Arthur Cayley: Erst ab 1878 erschienen die ersten Arbeiten zur abstrakten Gruppentheorie. Cayley bewies, dass jede endliche Gruppe isomorph zu einer Gruppe von Permutationen ist, und bemerkte in derselben Arbeit, dass es einfacher sei, Gruppen als abstrakte Gruppen statt als Gruppen von Permutationen zu betrachten. 1882 definierte Dyck erstmals Gruppen mittels Erzeugern und Relationen. Literatur Pavel S. Alexandroff: Einführung in die Gruppentheorie. Deutsch, Frankfurt 2007, ISBN 978-3-8171-1801-4. Hans Kurzweil, Bernd Stellmacher: Theorie der endlichen Gruppen. Eine Einführung. Springer, Berlin 1998, ISBN 3-540-60331-X. Thorsten Camps u. a.: Einführung in die kombinatorische und die geometrische Gruppentheorie. Heldermann, Lemgo 2008, ISBN 978-3-88538-119-8. Oleg Bogopolski: Introduction to group theory. European Mathematical Society Publishing House, Zürich 2008, ISBN 978-3-03719-041-8. Stephan Rosebrock: Anschauliche Gruppentheorie – Eine computerorientierte geometrische Einführung. Springer Spektrum, 2020, ISBN 978-3-662-60786-2. Serge Lang: Algebra. In: Graduate Texts in Mathematics. Dritte überarbeitete Auflage. Band 211. Springer, New York 2002, ISBN 978-0-387-95385-4. Yvette Kosmann-Schwarzbach: Groups and Symmetries – From Finite Groups to Lie Groups. In: Universitext. Zweite überarbeitete Auflage, Springer, Cham 2022, ISBN 978-3-030-94359-2. Weblinks Gruppenzwang. Eine Einführung in die Gruppentheorie auf Matroids Matheplanet. Online-Werkzeug zur Erstellung von Gruppentafeln (englisch). Israel Kleiner: The Evolution of Group Theory: A Brief Survey. Mathematics Magazine, Vol. 59, No. 4 (Oktober 1986), S. 195–215. Einzelnachweise Symmetrie (Physik) Theoretische Chemie Kristallographie Teilgebiet der Mathematik
1841
https://de.wikipedia.org/wiki/Globale%20Erw%C3%A4rmung
Globale Erwärmung
Mit globale Erwärmung – umgangssprachlich auch „der Klimawandel“ oder „Erderwärmung“ – wird der gegenwärtige Anstieg der Durchschnittstemperatur der erdnahen Atmosphäre und der Meere bezeichnet. Es handelt sich um einen menschengemachten Klimawandel, der eine Folge von Netto-Treibhausgasemissionen ist, die seit Beginn der Industrialisierung durch Nutzung von fossilen Energieressourcen sowie nicht-nachhaltiger Forst- und Landwirtschaft entstanden sind. Die Treibhausgasemissionen erhöhen das Rückhaltevermögen für infrarote Wärmestrahlung in der Troposphäre, wodurch der natürliche Treibhauseffekt verstärkt wird. Wichtigstes Treibhausgas bei der derzeitigen globalen Erwärmung ist Kohlenstoffdioxid (CO2), dazu kommen weitere wie z. B. Methan und Distickstoffmonoxid. Die von der Messstation Mauna Loa gemessene mittlere CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre stieg von ursprünglich etwa 280 ppm vor Beginn der Industrialisierung auf inzwischen über 410 ppm. Der Temperaturanstieg betrug im Vergleich zu 1850–1900 bis zu den 2010er Jahren nach Angaben des Weltklimarats IPCC etwa 1,1 °C. 2020 und 2016 waren mit minimalen Temperaturunterschieden die beiden wärmsten Jahre seit Beginn der systematischen Messungen im Jahr 1880, wobei die acht wärmsten Jahre die acht letzten Jahre waren. Ein vergleichbares Temperaturniveau gab es zuletzt am Ende der Eem-Warmzeit vor 115.000 Jahren. Der IPCC schreibt in seinem 2021 erschienenen sechsten Sachstandsbericht, dass es unzweifelhaft ist, dass menschlicher Einfluss die Atmosphäre, die Ozeane und Landmassen erwärmt hat. Nach Abschätzung des IPCC sind 1,07 °C der 1,09 °C Erwärmung der Erdoberfläche zwischen 1850 und 1900 sowie zwischen 2011 und 2020 auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen. Diese Aussage wird von anderen Sachstandsberichten gestützt; in der Wissenschaft besteht seit Mitte der 1990er Jahre ein wissenschaftlicher Konsens darüber, dass die gemessene globale Erwärmung nahezu vollständig vom Menschen verursacht wird. Die gegenwärtige Erwärmung verläuft erheblich schneller als alle bekannten Erwärmungsphasen der Erdneuzeit, also seit 66 Millionen Jahren. Ohne den gegenwärtigen menschlichen Einfluss auf das Klimasystem würde sich der seit einigen Jahrtausenden herrschende leichte Abkühlungstrend mit hoher Wahrscheinlichkeit weiter fortsetzen. Der IPCC erwartet in seinem Sechsten Sachstandsbericht, dass die globale Erwärmung bis zum Ende des 21. Jahrhunderts bei einem Szenario mit sehr niedrigen Treibhausgasemissionen sehr wahrscheinlich 1,0 °C bis 1,8 °C erreichen wird, bei einem Szenario mit mittelstarken Emissionen 2,1 °C bis 3,5 °C, und beim Szenario mit sehr hohen Treibhausgasemissionen 3,3 °C bis 5,7 °C. Mit der bis 2020 umgesetzten Klimaschutzpolitik steuert die Welt auf eine Erwärmung von ca. 3,2 °C bis zum Jahr 2100 zu, bei einer Abkehr von den derzeitigen Technologie- und Klimaschutztrends oder einer höheren Klimasensitivität ist jedoch auch eine Erwärmung von mehr als 4 °C möglich. Die Internationale Energieagentur beziffert im World Energy Outlook 2021 unter den Annahmen des Stated Policies Scenario (STEPS) den Temperaturanstieg auf 2,6 °C; der Climate Action Tracker (Stand: Nov 2022) gibt unter Policies & Action einen Erwartungswert für das Jahr 2100 von 2,7 °C an. Dieser Klimawandel verursacht aufgrund seines Ausmaßes bereits heute negative Auswirkungen auf Natur und Menschheit. Verschiedene Ökosysteme wurden über die Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit hinaus belastet, sodass schon einige irreversible Folgeschäden entstanden sind. Wie schnell und folgenschwer der Klimawandel verlaufen wird, hängt stark von den umgesetzten Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen ab. Die negativen Klimawandelfolgen nehmen mit jedem weiteren Anstieg der globalen Erwärmung weiter zu. Spätestens seit 2020 benutzen die Vereinten Nationen regelmäßig die Bezeichnung Klimakatastrophe für das ungünstigste Szenario. Zu den laut Klimaforschung ermittelten und oft bereits beobachteten Folgen der globalen Erwärmung zählen je nach Erdregion: Meereis- und Gletscherschmelze, ein Meeresspiegelanstieg, das Auftauen von Permafrostböden mit Freisetzung von Methanhydrat, wachsende Dürrezonen und zunehmende Wetter-Extreme mit entsprechenden Rückwirkungen auf die Lebens- und Überlebenssituation von Menschen und Tieren (Beitrag zum Artensterben). Wie schwer die Folgen sind ist abhängig von Ausmaß und Dauer der Erwärmung. Einige können unumkehrbar sein und zudem als Kippelemente im Erdsystem wirken (etwa die Freisetzung des Treibhausgases Methan aus den auftauenden Permafrostböden), mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Biosphäre. Ohne wirksamen Klimaschutz bedroht der Klimawandel immer stärker Gesundheit und Lebensgrundlagen von Menschen, Tieren und Pflanzen sowie die Funktionsfähigkeit und biologische Vielfalt von Ökosystemen. Politisch hat diese Entwicklung international zum Begriff des Klimanotstandes geführt. Nationale und internationale Klimapolitik versucht durch Klimaschutz und Anpassung an die bereits erfolgte Erwärmung die Folgen für Mensch und Umwelt abzumildern. Um die menschengemachte globale Erwärmung aufhalten zu können, müssen weitere energiebedingte Treibhausgasemissionen vollständig vermieden werden sowie fortan nicht vermeidbare Emissionen durch negative Treibhausgasemissionen mittels geeigneter Technologien, wie z. B. BECCS, DACCS oder Kohlenstoffbindung im Boden, kompensiert werden. Mit Stand 2016 waren bereits ca. des CO2-Budgets der maximal möglichen Emissionen für das im Übereinkommen von Paris vereinbarte Zwei-Grad-Ziel aufgebraucht, sodass die weltweiten Emissionen schnell gesenkt werden müssen, wenn das Ziel noch erreicht werden soll. Möglicherweise ist das Zwei-Grad-Ziel nicht ambitioniert genug, um langfristig einen als Treibhaus Erde bezeichneten Zustand des Klimasystems zu verhindern, der zu insbesondere für den Menschen lebensfeindlichen Bedingungen auf der Erde führen würde. Physikalische Grundlagen Seit der Industriellen Revolution verstärkt der Mensch den natürlichen Treibhauseffekt durch den Ausstoß von Treibhausgasen, wie messtechnisch belegt werden konnte. Seit 1990 ist der Strahlungsantrieb – d. h. die Erwärmungswirkung auf das Klima – durch langlebige Treibhausgase um 43 % gestiegen. In der Klimatologie ist es heute Konsens, dass die gestiegene Konzentration der vom Menschen in die Erdatmosphäre freigesetzten Treibhausgase mit hoher Wahrscheinlichkeit die wichtigste Ursache der globalen Erwärmung ist, da ohne sie die gemessenen Temperaturen nicht zu erklären sind. Treibhausgase lassen die von der Sonne kommende kurzwellige Strahlung weitgehend ungehindert auf die Erde durch, absorbieren aber einen Großteil der von der Erde ausgestrahlten Infrarotstrahlung. Dadurch erwärmen sie sich und emittieren selbst Strahlung im langwelligen Bereich (vgl. Kirchhoffsches Strahlungsgesetz). Der in Richtung der Erdoberfläche gerichtete Strahlungsanteil wird als atmosphärische Gegenstrahlung bezeichnet. Im isotropen Fall wird die absorbierte Energie je zur Hälfte in Richtung Erde und Weltall abgestrahlt. Hierdurch erwärmt sich die Erdoberfläche stärker, als wenn allein die kurzwellige Strahlung der Sonne sie erwärmen würde. Der Weltklimarat IPCC schätzt den Grad des wissenschaftlichen Verständnisses über die Wirkung von Treibhausgasen als „hoch“ ein. Das Treibhausgas Wasserdampf (H2O) trägt mit 36 bis 66 %, Kohlenstoffdioxid (CO2) mit 9 bis 26 % und Methan mit 4 bis 9 % zum natürlichen Treibhauseffekt bei. Die große Bandbreite erklärt sich folgendermaßen: Einerseits gibt es sowohl örtlich wie auch zeitlich große Schwankungen in der Konzentration dieser Gase. Zum anderen überlappen sich deren Absorptionsspektren. Strahlung, die zum Beispiel von Wasserdampf bereits absorbiert wurde, kann von CO2 nicht mehr absorbiert werden. In Trockenwüsten oder eisbedeckten Kältewüsten, in der Wasserdampf nur wenig zum Treibhauseffekt beiträgt, ist somit der Anteil der übrigen Treibhausgase am Gesamttreibhauseffekt größer als in den feuchten Tropen. Da die genannten Treibhausgase natürliche Bestandteile der Atmosphäre sind, wird die von ihnen verursachte Temperaturerhöhung als natürlicher Treibhauseffekt bezeichnet. Der natürliche Treibhauseffekt führt dazu, dass die Durchschnittstemperatur der Erde bei etwa +14 °C liegt. Ohne den natürlichen Treibhauseffekt läge sie bei etwa −18 °C. Hierbei handelt es sich um rechnerisch bestimmte Werte (siehe auch Idealisiertes Treibhausmodell). In der Literatur können diese Werte gegebenenfalls leicht abweichen, je nach Rechenansatz und der zu Grunde gelegten Annahmen, zum Beispiel dem Reflexionsverhalten (Albedo) der Erde. Diese Werte dienen als Nachweis, dass es einen natürlichen Treibhauseffekt gibt, da ohne ihn die Temperatur entsprechend deutlich geringer sein müsste und sich die höhere Temperatur mit dem Treibhauseffekt erklären lässt. Ursachen der anthropogenen globalen Erwärmung Hauptursache ist die durch menschliche Aktivitäten steigende Treibhausgaskonzentration in der Erdatmosphäre. Im Sechsten Sachstandsbericht des IPCC wird der daraus resultierende zusätzliche Strahlungsantrieb im Jahr 2019 im Vergleich zum Referenzjahr 1750 netto mit 2,72 W/m² beziffert. Kühlende Effekte wie Aerosole sind bereits abgezogen. Ohne diesen Abzug, brutto, verursachten alle langlebigen Treibhausgase einen Strahlungsantrieb von 3,32 W/m². Bedeutendstes Treibhausgas war Kohlenstoffdioxid mit 2,16 W/m², gefolgt von Methan mit 0,54 W/m². Halogenkohlenwasserstoffe verursachten einen Strahlungsantrieb von 0,41 W/m², Lachgas 0,21 W/m². Von den kurzlebigen Treibhausgasen hat Ozon, dessen Entstehung durch Stickoxide, Kohlenmonoxid oder Kohlenwasserstoffe angeregt wird, mit 0,47 W/m² den höchsten Strahlungsantrieb. Einen kühlenden Strahlungsantrieb in Höhe von −1,1 W/m² verursachen Aerosole. Die derzeit beobachtete globale Erwärmung ist nahezu vollständig auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen. Laut IPCC sind 1,07 °C der 1,09 °C Erwärmung der Erdoberfläche zwischen 1850–1900 und 2011–2020 auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen. Im vierten Nationalen Klimabericht der Vereinigten Staaten wird der wahrscheinliche menschliche Anteil an der Erwärmung des Zeitraums 1951 bis 2010 mit zwischen 93 % und 123 % angegeben. Werte über 100 % bedeuten hierbei eine Überkompensation diverser Abkühlungsfaktoren. Hingegen sind Veränderungen der natürlichen Sonnenaktivität ein unbedeutender Faktor bei der gegenwärtig beobachteten Erderwärmung. Die Sonnenaktivität machte im gleichen Zeitraum einen Strahlungsantrieb von nur 0,1 W/m² aus; seit Mitte des 20. Jahrhunderts ging die Sonnenaktivität sogar zurück. Konzentrationsanstieg der wichtigsten Treibhausgase Der Anteil aller vier Bestandteile des natürlichen Treibhauseffekts in der Atmosphäre ist seit dem Beginn der industriellen Revolution gestiegen. Die Geschwindigkeit des Konzentrationsanstiegs ist die schnellste der letzten 22.000 Jahre. Der Konzentrationsanstieg der gut-durchmischten Treibhausgase ist eindeutig menschengemacht. Wichtigstes Treibhausgas ist Kohlenstoffdioxid (CO2). Es existiert ein nahezu linearer Zusammenhang zwischen den kumulierten menschengemachten Kohlenstoffdioxidemissionen und der von ihnen verursachten Erwärmung. Pro Billion Tonnen kumulierter CO2-Emissionen erwärmt sich die Erdoberfläche um ca. 0,45 °C (Unsicherheitsspanne 0,27 bis 0,63 °C). Daraus ergibt sich, dass für jegliches Begrenzen der menschengemachten Erderwärmung auf einem vorgegebenen Temperatur-Niveau Netto-Nullemissionen erreicht werden müssen. Zwischen 1850 und 2019 wurden ca. 2390 ± 240 Mrd. Tonnen CO2 durch menschliche Aktivitäten freigesetzt. Im Jahr 2019 produzierte die Menschheit Treibhausgasemissionen in Höhe von 59 Milliarden Tonnen (± 6.6) CO2-Äquivalent. Das jährliche Wachstum der Emissionen in den 2010er Jahren lag bei 1,3 % pro Jahr, etwas niedriger als in den Jahren 2000 bis 2009, als es bei 2,1 % gelegen hatte. Die wichtigste Emissionsquelle war die Kohlendioxidfreisetzung aus fossilen Energieträgern und Industrieprozessen mit 38 ± 3 Mrd. Tonnen, gefolgt von Methanfreisetzung (11 ± 3,2 Mrd. Tonnen), Kohlendioxidemissionen aus Landnutzungsänderungen wie Entwaldung (6,6 ± 4,6 Mrd. Tonnen), Lachgasproduktion (2,7 ± 1,6 Mrd. Tonnen) und weiteren Treibhausgasen wie FCKWs (1,4 ± 0,41 Mrd. Tonnen). Von 1990 bis 2019 stieg der CO2-Ausstoß aus fossilen Energien und Industrie um 15 Mrd. Tonnen bzw. 67 % an und damit deutlich stärker als die Emissionen aus anderen Quellen. Damit werden durch menschliche Aktivitäten pro Tag ca. 100 Mio. Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre emittiert. Die Konzentration von CO2 in der Erdatmosphäre stieg von ca. 278,3 ppm im Jahr 1750 auf auf 409,9 ppm im Jahr 2019. Dies ist ein Anstieg um 131,6 ppm bzw. um 47,3 %. Damit liegt die CO2 in der Erdatmosphäre höher als zu jedem Zeitpunkt seit mindestens 2 Millionen Jahren. Während der letzten 14 Millionen Jahre (seit dem Mittleren Miozän) existierten keine signifikant höheren CO2-Werte als gegenwärtig. Nach Messungen aus Eisbohrkernen betrug die CO2-Konzentration in den letzten 800.000 Jahren nie mehr als 300 ppmV. Der Volumenanteil von Methan stieg von ca. 730 ppbV im Jahr 1750 auf 1866.3 ppbV (parts per billion, Teile pro Milliarde Volumenanteil) im Jahr 2019 an. Dies ist ein Anstieg um 157,8 % und wie bei CO2 der höchste Stand seit mindestens 800.000 Jahren. Nachdem die Methanemissionen in den 1990er Jahren stagnierten, steigen sie seit ca. 2007 wieder an. Verursacht wurde dieser jüngste Anstieg durch die Nutzung fossiler Energien, die Tierzucht, Abfälle, Emissionen aus Feuchtgebieten und Biomasseverbrennung. Das Treibhauspotenzial von 1 kg Methan ist, auf einen Zeitraum von 100 Jahren betrachtet, 25-mal höher als das von 1 kg CO2. Nach einer neueren Untersuchung beträgt dieser Faktor sogar 33, wenn Wechselwirkungen mit atmosphärischen Aerosolen berücksichtigt werden. In einer sauerstoffhaltigen Atmosphäre wird Methan jedoch oxidiert, meist durch Hydroxyl-Radikale. Ein in die Atmosphäre gelangtes Methan-Molekül hat dort eine durchschnittliche Verweilzeit von zwölf Jahren. Im Unterschied dazu liegt die Verweildauer von CO2 teilweise im Bereich von Jahrhunderten. Die Ozeane nehmen atmosphärisches CO2 zwar sehr rasch auf: Ein CO2-Molekül wird nach durchschnittlich fünf Jahren in den Ozeanen gelöst. Diese geben es aber auch wieder an die Atmosphäre ab, so dass ein Teil des vom Menschen emittierten CO2 letztlich für mehrere Jahrhunderte (ca. 30 %) und ein weiterer Teil (ca. 20 %) sogar für Jahrtausende im Kohlenstoffkreislauf von Hydrosphäre und Atmosphäre verbleibt. Der Volumenanteil von Lachgas stieg von ca. 270 ppbV im Jahr 1750 auf 332,1 ppbV im Jahr 2019. Der Anstieg seit 1980 ist vor allem auf mehr und intensivere Landwirtschaft zurückzuführen. Durch sein Absorptionsspektrum trägt es dazu bei, ein sonst zum Weltall hin offenes Strahlungsfenster zu schließen. Trotz seiner sehr geringen Menge in der Atmosphäre trägt es zum anthropogenen Treibhauseffekt etwa 6 % bei, da seine Wirkung als Treibhausgas 298-mal stärker ist als die von CO2; daneben hat es auch eine recht hohe atmosphärische Verweilzeit von 114 Jahren. Der Wasserdampfgehalt der Atmosphäre wird durch anthropogene Wasserdampfemissionen nicht signifikant verändert, da zusätzlich in die Atmosphäre eingebrachtes Wasser innerhalb weniger Tage auskondensiert. Steigende globale Durchschnittstemperaturen führen jedoch zu einem höheren Dampfdruck, das heißt einer stärkeren Verdunstung. Der damit global ansteigende Wasserdampfgehalt der Atmosphäre treibt die globale Erwärmung zusätzlich an. Wasserdampf wirkt somit im Wesentlichen als Rückkopplungsglied. Diese Wasserdampf-Rückkopplung ist neben der Eis-Albedo-Rückkopplung die stärkste positiv wirkende Rückkopplung im globalen Klimageschehen. Aerosole Neben Treibhausgasen beeinflussen auch Aerosole das Erdklima, allerdings mit einem insgesamt kühlenden Effekt. Aerosole liefern von allen festgestellten Beiträgen zum Strahlungsantrieb die größte Unsicherheit. Die Wirkung eines Aerosols auf die Lufttemperatur ist abhängig von seiner Flughöhe in der Atmosphäre. In der untersten Atmosphärenschicht, der Troposphäre, sorgen Rußpartikel für einen Temperaturanstieg, da sie das Sonnenlicht absorbieren und anschließend Wärmestrahlung abgeben. Die verringerte Reflektivität (Albedo) von Schnee- und Eisflächen und anschließend darauf niedergegangenen Rußpartikeln wirkt ebenfalls erwärmend. In höheren Luftschichten hingegen sorgen Mineralpartikel durch ihre abschirmende Wirkung dafür, dass es an der Erdoberfläche kühler wird. Einen großen Unsicherheitsfaktor bei der Bemessung der Klimawirkung von Aerosolen stellt ihr Einfluss auf die ebenfalls nicht vollständig verstandene Wolkenbildung dar. Insgesamt wird Aerosolen eine deutlich abkühlende Wirkung zugemessen. Abnehmende Luftverschmutzung könnte daher zur globalen Erwärmung beitragen. Ein zeitweise auftretender Rückgang bzw. die Stagnation der globalen Durchschnittstemperatur werden zum großen Teil der kühlenden Wirkung von Sulfataerosolen zugeschrieben, die zwischen den 1940er und Mitte der 1970er Jahre in Europa und den USA sowie nach dem Jahr 2000 in der Volksrepublik China und Indien zu verorten waren. Nachrangige und fälschlich vermutete Ursachen Eine Reihe von Faktoren beeinflussen das hoch komplexe globale Klimasystem. In der öffentlichen Diskussion um die Ursachen der globalen Erwärmung werden oft Faktoren genannt, die nachrangig sind oder sogar kühlend auf das Klimasystem wirken. Die Erde befindet sich im Zeitalter der industriellen Revolution in einer Phase der Wiedererwärmung aus der kleinen Eiszeit. Unabhängig davon würde sich ohne die Eingriffe des Menschen in den natürlichen Klimaverlauf der seit 6000 Jahren bestehende Abkühlungstrend von 0,10 bis 0,15 °C pro Jahrtausend fortsetzen und – je nach Literaturquelle – in 20.000 bis 50.000 Jahren in eine neue Kaltzeit führen. Ozonloch Die Annahme, das Ozonloch sei eine wesentliche Ursache der globalen Erwärmung, ist falsch. Der Abbau des Ozons in der Stratosphäre hat einen leicht kühlenden Effekt. Der Ozonabbau wirkt hierbei auf zweierlei Arten: Die verringerte Ozonkonzentration kühlt die Stratosphäre, da die UV-Strahlung dort nicht mehr absorbiert wird, wärmt hingegen die Troposphäre, da die UV-Strahlung an der Erdoberfläche absorbiert wird und diese erwärmt. Die kältere Stratosphäre schickt weniger wärmende Infrarotstrahlung nach unten und kühlt damit die Troposphäre. Insgesamt dominiert der Kühlungseffekt, so dass das IPCC folgert, dass der beobachtete Ozonschwund im Verlauf der letzten beiden Dekaden zu einem negativen Strahlungsantrieb auf das Klimasystem geführt hat, der sich auf etwa −0,15 ± 0,10 Watt pro Quadratmeter (W/m²) beziffern lässt. Sonnenaktivität Veränderungen in der Sonne wird ein geringer Einfluss auf die gemessene globale Erwärmung zugesprochen. Die seit 1978 direkt vom Orbit aus gemessene Änderung ihrer Strahlungsintensität ist bei weitem zu klein, um als Hauptursache für die seither beobachtete Temperaturentwicklung in Frage zu kommen. Seit den 1960er Jahren ist der Verlauf der globalen Durchschnittstemperatur von der Strahlungsintensität der Sonne entkoppelt, seit 1978 hat die verminderte Strahlungsintensität sehr wahrscheinlich der globalen Erwärmung etwas entgegengewirkt. Das IPCC schätzte 2013 den zusätzlichen Strahlungsantrieb durch die Sonne seit Beginn der Industrialisierung auf etwa 0,05 (± 0,05) Watt pro Quadratmeter. Im Vergleich dazu tragen die anthropogenen Treibhausgase mit 2,83 (± 0,29) W/m² zur Erwärmung bei. Das IPCC schreibt, dass der Grad des wissenschaftlichen Verständnisses bezüglich des Einflusses solarer Variabilität vom Dritten zum Vierten Sachstandsbericht von „sehr gering“ auf „gering“ zugenommen hat. Im fünften Sachstandsbericht misst der IPCC seiner Schätzung zum solaren Strahlungsantrieb seit 1750 „mittlere Aussagekraft“ bei, für die letzten drei Dekaden ist die Aussagekraft höher. Kosmische Strahlung Das Argument, dass kosmische Strahlung die Wirkung der Sonnenaktivität verstärke, beruht auf einer Studie von Henrik Svensmark und Egil Friis-Christensen. Sie gehen davon aus, dass kosmische Strahlung die Bildung von Wolken beeinflusse und so indirekten Einfluss auf die Erdoberflächentemperatur habe. Damit soll erklärt werden, wie Schwankungen der Sonnenaktivität – trotz der nur geringen Veränderung der Sonnenstrahlung – die beobachtete globale Temperaturerhöhung auslösen kann. Neuere wissenschaftliche Studien, vor allem aus dem CLOUD-Experiment, zeigen jedoch, dass der Einfluss der kosmischen Strahlung auf die Wolkenbildung gering ist. Der IPCC hielt in seinem 2013 erschienenen 5. Sachstandsbericht fest, dass es zwar Hinweise auf einen derartigen Wirkmechanismus gebe, dieser aber zu schwach sei, um das Klima nennenswert zu beeinflussen. Ebenfalls ist die kosmische Strahlung als verstärkender Faktor abhängig von der Sonnenaktivität und könnte bei deren negativem Trend seit den 1960er Jahren höchstens eine kühlende Wirkung verstärkt haben. Vulkanaktivität Große Vulkanausbrüche der Kategorie VEI-5 oder VEI-6 auf dem Vulkanexplosivitätsindex können aufgrund der Emission von Vulkanasche und Aerosolen bis in die Stratosphäre eine hemisphärische oder weltweite Abkühlung (etwa −0,3 bis −0,5 °C) über mehrere Jahre hervorrufen. Es wird davon ausgegangen, dass eine hohe Vulkanaktivität beispielsweise einen erheblichen Einfluss auf die Temperaturentwicklung während der kleinen Eiszeit ausübte. Seit 1900 hat es jedoch keine ungewöhnliche Konzentration und Variabilität vulkanischer Aerosole in der Atmosphäre gegeben. Vulkane setzen aktuell jährlich etwa 210 bis 360 Megatonnen CO2 frei. Das entspricht etwa einem Prozent der jährlichen CO2-Emission aus fossilen Brennstoffen. Insgesamt hatten langfristige Änderungen vulkanischer Aktivität seit 1750 einen vernachlässigbaren Einfluss. Sie können die globale Erwärmung nicht erklären. Wasserdampf Wasserdampf ist mit einem atmosphärischen Anteil von etwa 0,4 % das in seiner Gesamtwirkung stärkste Treibhausgas und für rund zwei Drittel des natürlichen Treibhauseffekts verantwortlich. CO2 ist der zweitwichtigste Faktor und macht den größten Teil des restlichen Treibhauseffekts aus. Die Konzentration von Wasserdampf in der Atmosphäre ist jedoch hauptsächlich abhängig von der Lufttemperatur (nach der Clausius-Clapeyron-Gleichung kann Luft pro Grad Celsius Erwärmung rund 7 % mehr Wasserdampf aufnehmen). Erhöht sich die Temperatur durch einen anderen Einflussfaktor, steigt die Wasserdampfkonzentration und damit deren Treibhausgaswirkung – was zu einem weiteren Anstieg der Temperatur führt. Wasserdampf verstärkt somit die durch andere Faktoren ausgelösten Temperaturveränderungen. Dieser Effekt wird Wasserdampf-Rückkopplung genannt. Wasserdampf bewirkt deshalb eine Verdoppelung bis Verdreifachung der allein durch die Erhöhung der CO2-Konzentration ausgelösten Erwärmung. Abwärme Bei fast allen Prozessen entsteht Wärme, so bei der Produktion von elektrischem Strom in Wärmekraftwerken, bei der Nutzung von Verbrennungsmotoren (siehe Wirkungsgrad) oder beim Betrieb von Computern. In den USA und Westeuropa trugen Gebäudeheizung, industrielle Prozesse und Verbrennungsmotoren im Jahr 2008 mit 0,39 W/m² bzw. 0,68 W/m² zur Erwärmung bei und haben damit einen gewissen Einfluss auf das regionale Klimageschehen. Weltweit gesehen betrug dieser Wert 0,028 W/m² (also nur etwa 1 % der globalen Erwärmung). Merkliche Beiträge zur Erwärmung wären für den Fall des weiteren ungebremsten Anstiegs der Energieerzeugung (wie in den vergangenen Jahrzehnten) ab dem Ende unseres Jahrhunderts zu erwarten. Betrachtet man die gesamte Verweildauer von Kohlendioxid in der Atmosphäre, dann übersteigt der treibhauseffektbedingte Strahlungsantrieb infolge der Verbrennung von Kohlenstoff die bei dem Verbrennungsprozess freiwerdende Wärme mehr als 100.000-fach. Städtische Wärmeinseln Die Temperatur in Städten liegt oft höher als im Umland, da durch Heizungen und industrielle Prozesse Wärme produziert wird. Diese wird in Häusern und versiegelten Flächen stärker aufgenommen. Der Temperaturunterschied kann in großen Städten bis zu 10 °C betragen. Da viele Temperaturmessungen in Städten erfolgen, könnte dies zu einer fehlerhaften Berechnung der globalen Temperatur führen. Jedoch werden in Messungen betreffend der globalen Temperatur die Temperaturveränderungen und nicht die absoluten Werte berücksichtigt. Zudem werden die Temperaturmessungen in Städten oft auf Grünflächen durchgeführt, die aufgrund der Begrünung in der Regel kühler sind. Kontrollrechnungen der globalen Temperatur mit ausschließlich ländlichen Stationen ergeben praktisch die gleichen Temperaturtrends wie die Berechnung aus allen Stationen. Gemessene und hochgerechnete Erwärmung Bisherige Temperaturerhöhung Gemäß IPCC betrug der Temperaturanstieg der Erdoberfläche im Zeitraum 2011–2020 relativ zu 1850–1900 etwa 1,09 °C (wahrscheinliche Spanne: 0,95 bis 1,20 °C). Dabei stiegen die Temperaturen an Land mit ca. 1,59 °C deutlich stärker als die Temperaturen über den Ozeanen (0,88 °C). Die Temperaturen des Jahrzehnts 2011–2020 übersteigen ebenfalls die höchsten Jahrhundertdurchschnittswerte der letzten Zwischeneiszeit, die vor etwa 6500 Jahren erreicht wurden. Jedes der vier vergangenen Jahrzehnte war nacheinander wärmer als jedes andere Jahrzehnt seit 1850. Seit etwa 1970 steigt die Erdoberflächentemperatur mit einer Geschwindigkeit an, die in mindestens den vergangenen zwei Jahrtausenden ohne Beispiel ist. Die erste Juliwoche 2023 war laut Weltorganisation für Meteorologie die bisher wärmste Woche seit Beginn der Aufzeichnungen. Der Juni 2023 war laut Copernicus bereits der wärmste Monat. Das wärmste Jahr seit Beginn der Messungen 1880 war 2016. Es war etwa 1,1 °C wärmer als in vorindustrieller Zeit. Die sieben wärmsten Jahre waren in absteigender Reihenfolge die letzten sieben: 2016, 2020, 2019, 2015, 2017, 2018 und 2014. Nach Zahlen des Copernicus-Programms lag die Erwärmung sogar um 1,3 °C oberhalb des Niveaus der vorindustriellen Zeit, womit die politisch anvisierte Grenze von 1,5 °C zeitweise nahezu erreicht war. Gegenüber dem Jahr 2015 hat die zusätzliche Erwärmung 0,2 °C betragen. Verglichen mit den Schwankungen der Jahreszeiten sowie beim Wechsel von Tag und Nacht erscheinen die im Folgenden genannten Zahlen klein; als globale Änderung des Klimas bedeuten sie jedoch sehr viel, so lag beispielsweise die Durchschnittstemperatur auf der Erde während der letzten Eiszeit nur um etwa 6 K niedriger. In dem Zusammenhang kommt eine 2020 veröffentlichte Studie auf der Basis einer detaillierten Auswertung von Paläo-Klimadaten zu dem Schluss, dass die im bisherigen 21. Jahrhundert aufgetretene Erwärmung die Temperaturwerte des Holozänen Klimaoptimums (vor etwa 8000 bis 6000 Jahren) mit hoher Wahrscheinlichkeit übertrifft. Laut einer im Jahr 2016 erschienenen Publikation begann die globale Durchschnittstemperatur bereits seit dem Jahr 1830 aufgrund menschlicher Aktivitäten zu steigen. Dies wurde im Rahmen einer breit angelegten Studie gefunden, bei der eine große Zahl weltweit verteilter, paläoklimatologischer Anzeiger vergangener Zeiten (sogenannte Klimaproxys) ausgewertet wurden. Zu dieser Zeit gab es noch kein dichtes Netz von Temperaturmessstationen. Eine deutliche Erwärmungsphase war zwischen 1910 und 1945 zu beobachten, in der aufgrund der noch vergleichsweise geringen Konzentration von Treibhausgasen auch natürliche Schwankungen einen deutlichen Einfluss hatten. Am ausgeprägtesten ist jedoch die Erwärmung seit 1975. Erwärmung der Ozeane Neben der Luft haben sich auch die Ozeane erwärmt; sie haben über 90 % der zusätzlichen Wärmeenergie aufgenommen. Während sich die Ozeane von 1955 bis Mitte der 2000er Jahre aufgrund ihres enormen Volumens und ihrer großen Temperaturträgheit insgesamt nur um 0,04 K aufgeheizt haben, erhöhte sich ihre Oberflächentemperatur im selben Zeitraum um 0,6 K. Im Bereich von der Meeresoberfläche bis zu einer Tiefe von 75 Metern stieg die Temperatur von 1971 bis 2010 um durchschnittlich 0,11 K pro Jahrzehnt an. Der Energieinhalt der Ozeane nahm zwischen Mitte der 1950er Jahre und 1998 um ca. 14,5 × 1022 Joule zu, was einer Heizleistung von 0,2 Watt pro m² der gesamten Erdoberfläche entspricht. Diese Energiemenge würde die unteren 10 Kilometer der Atmosphäre um 22 K erwärmen. Über den Zeitraum 1971 und 2016 lag die gemittelte Wärmeaufnahme der Ozeane bei einer Leistung von etwa 200 Terawatt und damit mehr als 10 Mal so hoch wie der komplette Weltenergieverbrauch der Menschheit. Seit dem Jahr 2000 wird der Wärmeinhalt der Ozeane mit Hilfe des Argo-Programms vermessen, wodurch seit dieser Zeit erheblich genauere Daten über den Zustand wie auch die Veränderung von klimatologisch relevanten Messwerten (z. B. Wärmeinhalt, Salinität, Tiefenprofil) verfügbar sind. Die letzten zehn Jahre waren die wärmsten Jahre für die Ozeane seit Beginn der Messungen; 2019 das bisher wärmste. Anfang April 2023 erreichte die gemessene Meeresoberflächentemperatur einen Durchschnittswert von 21,1 Grad, was einem neuen Rekord entsprach. Mittlerweile maßen Forscher der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) Ende Juli im Nordatlantik eine Meeresoberflächentemperatur von 24,9 Grad Celsius – und das einige Wochen vor der üblichen Jahreshöchsttemperatur. Der wissenschaftliche Konsens ist eindeutig: Die Temperaturen werden im August „höchstwahrscheinlich“ weiter steigen und bisherige Temperaturrekorde erneut gebrochen werden. Kommt es zu einem weitgehenden Stopp der anthropogen ausgestoßenen Klimagase („Klimaneutralität“), werden die Ozeane das Absinken der Erdtemperatur stark verlangsamen, da ihre hohen Wärmespeicherfähigkeit eine große Temperaturträgheit zur Folge hat. Örtliche und zeitliche Verteilung der beobachteten Erwärmung Luft über Landflächen erwärmt sich allgemein stärker als über Wasserflächen, was in der Animation am Anfang dieses Artikels (dritte Stelle ganz oben rechts) erkennbar ist. Die Erwärmung der Landflächen zwischen 1970 und 2014 lag im Mittel bei 0,26 K pro Jahrzehnt und damit doppelt so hoch wie über dem Meer, das sich im selben Zeitraum um 0,13 K pro Dekade erwärmte. Aufgrund dieser unterschiedlichen schnellen Erwärmung von Land und See haben sich viele Regionen an Land bereits um mehr als 1,5 Grad Celsius erwärmt. Die Temperaturen auf der Nordhalbkugel, auf der sich der Großteil der Landflächen befindet, stiegen in den vergangenen 100 Jahren stärker an als auf der Südhalbkugel, wie auch die nebenstehende Grafik zeigt. Die Nacht- und Wintertemperaturen stiegen etwas stärker an als die Tages- und Sommertemperaturen. Aufgeteilt nach Jahreszeiten wurde die größte Erwärmung während der Wintermonate gemessen, und dabei besonders stark über dem westlichen Nordamerika, Skandinavien und Sibirien. Im Frühling stiegen die Temperaturen am stärksten in Europa sowie in Nord- und Ostasien an. Im Sommer waren Europa und Nordafrika am stärksten betroffen, und im Herbst entfiel die größte Steigerung auf den Norden Nordamerikas, Grönland und Ostasien. Besonders markant fiel die Erwärmung in der Arktis aus, wo sie seit Mitte der 1980er Jahre mindestens doppelt so schnell verlief wie im globalen Durchschnitt. Die Erwärmung ist weltweit (mit Ausnahme weniger Regionen) seit 1979 nachweisbar.Für die verschiedenen Luftschichten der Erdatmosphäre wird theoretisch eine unterschiedliche Erwärmung erwartet und faktisch auch gemessen. Während sich die Erdoberfläche und die niedrige bis mittlere Troposphäre erwärmen sollten, lassen Modelle für die höher gelegene Stratosphäre eine Abkühlung vermuten. Tatsächlich wurde genau dieses Muster in Messungen gefunden. Satellitendaten zeigen eine Abnahme der Temperatur der unteren Stratosphäre von 0,314 K pro Jahrzehnt in einem Zeitraum von 30 Jahren. Diese Abkühlung wird zum einen durch den verstärkten Treibhauseffekt und zum anderen durch Ozonschwund durch FCKWs in der Stratosphäre verursacht, siehe auch Montrealer Protokoll zum Schutz der Ozonschicht. Wäre die Sonne maßgebliche Ursache, hätten sich die oberflächennahen Schichten, die niedere bis mittlere Troposphäre und die Stratosphäre erwärmen müssen. Dies heißt nach gegenwärtigem Verständnis, dass der überwiegende Teil der beobachteten Erwärmung durch menschliche Aktivitäten verursacht sein muss. Die zehn wärmsten Jahre seit 1880 Die folgende Tabelle zeigt die zehn wärmsten Jahre im Zeitraum von 1880 bis 2022 – Abweichung von der langjährigen Durchschnittstemperatur (1901–2000) in °C Zeitweise Abkühlung oder Pause in der globalen Erwärmung Auch bei Annahme einer Erwärmung um 4 K bis zum Ende des 21. Jahrhunderts wird es im Verlauf immer wieder Phasen der Stagnation oder sogar der Abkühlung geben. Diese Phasen können bis zu ca. 15 Jahre andauern. Ursachen sind der elfjährige Sonnenfleckenzyklus, kühlende starke Vulkanausbrüche sowie die natürliche Eigenschaft des Weltklimas, einen schwingenden Temperaturverlauf zu zeigen (AMO, PDO, ENSO). So kann beispielsweise das Auftreten von El-Niño- bzw. La-Niña-Ereignissen die globale Durchschnittstemperatur von einem Jahr auf das andere um 0,2 K erhöhen bzw. absenken und für wenige Jahre den jährlichen Erwärmungstrend von ca. 0,02 K überdecken, aber auch verstärken. Rückkopplungen Das globale Klimasystem ist als komplexes System von Rückkopplungen geprägt, die Temperaturveränderungen verstärken oder abschwächen. Eine die Ursache verstärkende Rückkopplung wird als positive Rückkopplung bezeichnet. Bei bestimmten Zuständen des globalen Klimageschehens sind nach heutigem Kenntnisstand die positiven Rückkopplungen deutlich stärker als die negativen Rückkopplungen, so dass das Klimasystem in einen anderen Zustand kippen kann. Die beiden stärksten, positiv wirkenden Rückkopplungsprozesse sind die Eis-Albedo-Rückkopplung und die Wasserdampf-Rückkopplung. Ein Abschmelzen der Polkappen bewirkt durch verminderte Reflexion einen zusätzlichen Energieeintrag über die Eis-Albedo-Rückkopplung. Die Wasserdampfrückkopplung entsteht dadurch, dass die Atmosphäre bei höheren Temperaturen mehr Wasserdampf enthält. Da Wasserdampf das mit Abstand mächtigste Treibhausgas ist, wird dadurch ein eingeleiteter Erwärmungsprozess weiter verstärkt – unabhängig davon, was diese Erwärmung letztlich ausgelöst hat. Gleiches gilt auch bei einer Abkühlung, die durch dieselben Prozesse weiter verstärkt wird. Zur quantitativen Beschreibung der Reaktion des Klimas auf Veränderungen der Strahlungsbilanz wurde der Begriff der Klimasensitivität etabliert. Mit ihr lassen sich unterschiedliche Einflussgrößen gut miteinander vergleichen. Eine weitere positive Rückkopplung erfolgt durch das CO2 selbst. Mit zunehmender Erderwärmung wird auch das Wasser in den Ozeanen wärmer und kann dadurch weniger CO2 aufnehmen. Als Folge davon kann vermehrt CO2 in die Atmosphäre gelangen, was den Treibhauseffekt zusätzlich verstärken kann. Zurzeit nehmen die Ozeane aber jährlich noch rund 2 Gt Kohlenstoff (das entspricht rund 7,3 Gt CO2) mehr auf als sie im gleichen Zeitraum an die Atmosphäre abgeben, siehe Versauerung der Meere. Neben diesen drei physikalisch gut verstandenen Rückkopplungen existieren jedoch noch weitere Rückkopplungsfaktoren, deren Wirken weit schwieriger abschätzbar ist, insbesondere bezüglich der Wolken, der Vegetation und des Bodens. Bedeutung von Wolken für das Klima Wolken beeinflussen das Klima der Erde maßgeblich, indem sie einen Teil der einfallenden Strahlung reflektieren. Strahlung, die von der Sonne kommt, wird zurück ins All, Strahlung darunter liegender Atmosphärenschichten in Richtung Boden reflektiert. Die Helligkeit der Wolken stammt von kurzwelliger Strahlung im sichtbaren Wellenlängenbereich. Eine größere optische Dicke niedriger Wolken bewirkt, dass mehr Energie ins All zurückgestrahlt wird; die Temperatur der Erde sinkt. Umgekehrt lassen weniger dichte Wolken mehr Sonnenstrahlung passieren, was darunter liegende Atmosphärenschichten wärmt. Niedrige Wolken sind oft dicht und reflektieren viel Sonnenlicht zurück in den Weltraum. Da die Temperaturen in tiefen Schichten der Atmosphäre höher sind, strahlen die Wolken deshalb mehr Wärme ab. Die Tendenz niedriger Wolken ist daher, die Erde zu kühlen. Hohe Wolken sind meist dünn und nicht sehr reflektierend. Sie lassen zwar einen Großteil des Sonnenlichts durch, vermindern die Sonneneinstrahlung daher nur etwas, reflektieren nachts aber einen Teil der Wärmeabstrahlung der Erdoberfläche, wodurch die nächtliche Abkühlung etwas vermindert wird. Da sie sehr hoch liegen, wo die Lufttemperatur sehr niedrig ist, strahlen diese Wolken nicht viel Wärme ab. Die Tendenz hoher Wolken ist, die Erde nachts ein wenig zu erwärmen. Die Vegetation und die Beschaffenheit des Bodens und insbesondere seine Versiegelung, Entwaldung oder landwirtschaftliche Nutzung haben maßgeblichen Einfluss auf die Verdunstung und somit auf die Wolkenbildung und das Klima. Nachgewiesen wurde ebenfalls eine Verminderung der Wolkenbildung durch Pflanzen: diese emittieren bei einem CO2-Anstieg bis zu 15 Prozent weniger Wasserdampf; das wiederum reduziert die Wolkenbildung. Insgesamt wird die globale Erwärmung durch Wolken-Rückkopplungen wahrscheinlich noch verstärkt. Eine 2019 veröffentlichte Simulation deutet darauf hin, dass bei einer CO2-Konzentration über 1.200 ppm Stratocumuluswolken in verstreute Wolken zerfallen könnten, was die globale Erwärmung weiter vorantreiben würde. Einfluss der Vegetation und des Bodens Vegetation und Boden reflektieren je nach Beschaffenheit das einfallende Sonnenlicht unterschiedlich. Reflektiertes Sonnenlicht wird als kurzwellige Sonnenstrahlung in den Weltraum zurückgeworfen (anderenfalls wäre die Erdoberfläche aus Sicht des Weltalls ohne Infrarotkamera schwarz). Die Albedo ist ein Maß für das Rückstrahlvermögen von diffus reflektierenden (reemittierenden), also nicht spiegelnden und nicht selbst leuchtenden Oberflächen. Nicht nur der Verbrauch von fossilen Energieträgern führt zu einer Freisetzung von Treibhausgasen. Die intensive Bestellung von Ackerland und die Entwaldung sind ebenfalls bedeutende Treibhausgasquellen. Die Vegetation benötigt für den Prozess der Photosynthese CO2 zum Wachsen. Der Boden ist eine wichtige Kohlenstoffsenke, da er organisches, kohlenstoffhaltiges Material enthält. Durch ackerbauliche Tätigkeiten wie Pflügen wird dieser gespeicherte Kohlenstoff leichter in Form von CO2 freigesetzt, weil mehr Sauerstoff in den Boden eintreten kann und das organische Material schneller zersetzt wird. Wahrscheinlich nimmt bei steigender Temperatur die Freisetzung von Methan aus Feuchtgebieten zu; über die Höhe der Freisetzung herrscht (Stand 2013) noch Ungewissheit. Im Permafrost Westsibiriens lagern 70 Milliarden Tonnen Methan, in Ozeanen haben sich an den Kontinentalhängen noch viel größere Mengen in Form von Methanhydrat abgelagert. Durch tauenden Permafrostboden wird Kohlenstoff in Form von Kohlenstoffdioxid und Methan in die Atmosphäre freigesetzt und auch Lachgas emittiert, was wiederum die Erderwärmung verstärkt. Allerdings gehen die Forschungsergebnisse hinsichtlich Zeitpunkt, Menge und Form dieses Treibhausgas-Ausstoßes noch auseinander. Gemäß IPCC werden pro Grad Erderwärmung zwischen 3 und 41 Petagramm Kohlenstoff bis 2100 freigesetzt, eine Menge, die kleiner ist als durch fossile Energienutzung, aber groß genug, um ein relevanter Faktor bei der Berechnung des verbleibenden CO2-Budgets zu sein. Prognostizierte Erwärmung Bei einer Verdoppelung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre gehen Klimaforscher davon aus, dass sich die Erdmitteltemperatur um 3 K erhöht; das zugehörige Konfidenzintervall (likely range) wird mit 2,5 K bis 4 K angegeben. Dieser Wert ist auch als Klimasensitivität bekannt und ist auf das vorindustrielle Niveau (von 1750) bezogen, ebenso wie der dafür maßgebende Strahlungsantrieb. Mit dieser Größe werden alle bekannten, die Strahlungsbilanz der Erde beeinflussenden Faktoren vom IPCC quantitativ beschrieben und vergleichbar gemacht. Das IPCC rechnet gemäß 5. Sachstandsbericht bis zum Jahr 2100 mit einer Zunahme der globalen Durchschnittstemperatur um 1,0 bis 3,7 K (bezogen auf 1986–2005 und abhängig vom THG-Emissionspfad und angewandtem Klimamodell). Zum Vergleich: Die schnellste Erwärmung im Verlauf von der letzten Eiszeit zur heutigen Warmzeit war eine Erwärmung um etwa ein Grad pro 1000 Jahre. Nach einer Studie an der Carnegie Institution for Science, in der die Ergebnisse eines Kohlenstoff-Zyklus-Modells mit Daten aus Vergleichsuntersuchungen zwischen Klimamodellen des fünften IPCC-Sachstandsberichts ausgewertet wurden, reagiert das globale Klimasystem auf einen CO2-Eintrag mit einer zeitlichen Verzögerung von etwa 10 Jahren mit einer Sprungfunktion; das bedeutet, dass die Erwärmung nach etwa 10 Jahren ihr Maximum erreicht und dann für sehr lange Zeiträume dort verharrt. Der Climate Action Tracker gibt die wahrscheinlichste, bis zum Ende dieses Jahrhunderts zu erwartende Erderwärmung an. Demnach ist die Welt aktuell (November 2022) auf dem Weg zu einer Erwärmung um 2,1 °C bzw. 2,7 °C im Vergleich zur vorindustriellen globalen Durchschnittstemperatur. Zur Berechnung dieses Wertes werden die Selbstverpflichtungen der wichtigsten Emittenten, die Treibhausgasemissionen zu verringern, in ein Klimamodell eingespeist. Langfristige Betrachtung und daraus resultierende Konsequenzen Nach einer im Jahr 2009 erschienenen Studie wird die gegenwärtig bereits angestoßene Erwärmung noch für mindestens 1000 Jahre irreversibel sein, selbst wenn heute alle Treibhausgasemissionen vollständig gestoppt würden. In weiteren Szenarien wurden die Emissionen schrittweise bis zum Ende unseres Jahrhunderts fortgesetzt und dann ebenfalls abrupt beendet. Dabei wurden wesentliche Annahmen und Aussagen, die im 4. IPCC-Bericht über die folgenden 1000 Jahre gemacht wurden, bestätigt und verfeinert. Langfristige Klimasimulationen deuten darauf hin, dass sich die von einer erhöhten Kohlenstoffdioxidkonzentration aufgeheizte Erde nur um ca. ein Grad pro 12.000 Jahre abkühlen wird. Ein komplettes Verbrennen der fossilen Energieressourcen, die konservativ auf 5 Billionen Tonnen Kohlenstoff geschätzt werden, würde hingegen zu einem weltweiten Temperaturanstieg von ca. 6,4 bis 9,5 °C führen, was sehr starke negative Auswirkungen auf Ökosysteme, menschliche Gesundheit, Landwirtschaft, die Wirtschaft usw. hätte. Würden neben konventionellen auch unkonventionelle Ressourcen verbrannt, könnte die Kohlendioxidkonzentration in der Erdatmosphäre bis auf ca. 5000 ppm bis zum Jahr 2400 ansteigen. Neben einer enormen Temperaturerhöhung würde hierbei der Antarktische Eisschild fast vollständig abschmelzen, womit der Meeresspiegel auch ohne Einberechnung des grönländischen Eisschildes um ca. 58 m steigen würde. Forschungsstand Wissenschaftsgeschichte Im Jahr 1824 entdeckte Jean Baptiste Joseph Fourier den Treibhauseffekt. Eunice Newton Foote untersuchte als erste experimentell die Wirkung von Sonnenbestrahlung auf luftdicht verschlossene Glasröhren, die mit verschiedenen Gasen gefüllt waren. Sie wies die Absorption von Wärmestrahlung durch Kohlenstoffdioxid und Wasserdampf nach, erkannte darin eine mögliche Ursache für Klimawandel-Ereignisse und veröffentlichte ihre Ergebnisse 1856. Dies wurde erst 2010 bekannt. John Tyndall gelang es 1859, konkret die Absorption der von der Erdoberfläche ausgehenden langwelligen Infrarotstrahlung durch Treibhausgase nachzuweisen; er bestimmte die relative Bedeutung von Wasserdampf gegenüber Kohlenstoffdioxid und Methan für den natürlichen Treibhauseffekt. An Tyndall anknüpfend veröffentlichte Svante Arrhenius 1896 die Hypothese, dass die anthropogene CO2-Anreicherung in der Atmosphäre die Erdtemperatur erhöhen könne. Damals begann die „Wissenschaft von der globalen Erwärmung“ im engeren Sinne. Im Jahr 1908 publizierte der britische Meteorologe und spätere Präsident der Royal Meteorological Society Ernest Gold (1881–1976) einen Aufsatz zur Stratosphäre. Er schrieb darin, dass die Temperatur der Tropopause mit steigender CO2-Konzentration steigt. Dies ist ein Kennzeichen der globalen Erwärmung, das fast ein Jahrhundert später auch gemessen werden konnte. In den späten 1950er Jahren wurde erstmals nachgewiesen, dass der Kohlenstoffdioxidgehalt der Atmosphäre ansteigt. Auf Initiative von Roger Revelle startete Charles David Keeling 1958 auf dem Berg Mauna Loa (Hawaii, Big Island) regelmäßige Messungen des CO2-Gehalts der Atmosphäre (Keeling-Kurve). Gilbert Plass nutzte 1956 erstmals Computer und erheblich genauere Absorptionsspektren des CO2 zur Berechnung der zu erwartenden Erwärmung. Er erhielt 3,6 K (3,6 °C) als Wert für die Klimasensitivität. Die ersten Computerprogramme zur Modellierung des Weltklimas wurden Ende der 1960er Jahre geschrieben. 1979 schrieb die National Academy of Sciences der USA im „Charney-Report“, dass ein Anstieg der Kohlenstoffdioxidkonzentration ohne Zweifel mit einer signifikanten Erwärmung verknüpft sei; deutliche Effekte seien aufgrund der Trägheit des Klimasystems jedoch erst in einigen Jahrzehnten zu erwarten. Der US-Klimaforscher James E. Hansen sagte am 23. Juni 1988 vor dem Energy and Natural Resources Committee des US-Senats, er sei zu 99 Prozent davon überzeugt, dass die jeweilige Jahresrekordtemperatur nicht das Resultat natürlicher Schwankungen sei. Dies gilt als die erste derartige Äußerung eines Wissenschaftlers vor einem politischen Gremium. Bereits in dieser Sitzung wurden Forderungen nach politischen Maßnahmen gestellt, um die globale Erwärmung zu verlangsamen. Im November 1988 wurde der Weltklimarat (IPCC) gegründet, der den politischen Entscheidungsträgern und Regierungen zuarbeiten soll. Im IPCC wird der wissenschaftliche Erkenntnisstand zur globalen Erwärmung und zum anthropogenen Anteil daran diskutiert, abgestimmt und in Berichten zusammengefasst. Anthropogene globale Erwärmung im Kontext der Erdgeschichte Die Erforschung von Ursachen und Folgen der globalen Erwärmung ist seit ihrem Beginn eng mit der Analyse der klimatischen Bedingungen vergangener Zeiten verknüpft. Svante Arrhenius, der als Erster darauf hinwies, dass der Mensch durch die Emission von CO2 die Erde erwärmt, erkannte bei der Suche nach den Ursachen der Eiszeiten den klimatischen Einfluss wechselnder Konzentrationen von Kohlenstoffdioxid in der Erdatmosphäre. So wie Erdbeben und Vulkanausbrüche sind auch Klimawandel etwas Natürliches. Seit der Entstehung der Erde hat sich das Erdklima ständig verändert, und es wird sich auch künftig ändern. In erster Linie verantwortlich dafür waren eine wechselnde Konzentration und Zusammensetzung der Treibhausgase in der Atmosphäre durch die unterschiedliche Intensität von Vulkanismus und Erosion. Weitere klimawirksame Faktoren sind die variable Sonneneinstrahlung, unter anderem durch die Milanković-Zyklen, sowie eine durch die Plattentektonik verursachte permanente Umgestaltung und Verschiebung der Kontinente. Landmassen an den Polen förderten die Bildung von Eiskappen, und veränderte Meeresströmungen lenkten Wärme entweder von den Polen weg oder zu diesen hin und beeinflussten auf diese Weise die Stärke der sehr mächtigen Eis-Albedo-Rückkopplung. Obwohl Leuchtkraft und Strahlungsleistung der Sonne am Beginn der Erdgeschichte etwa 30 Prozent geringer als heute waren, herrschten in der gesamten Zeit Bedingungen, unter denen flüssiges Wasser existieren konnte. Dieses Phänomen (Paradoxon der schwachen jungen Sonne) führte in den 1980er Jahren zur Hypothese eines „CO2-Thermostats“: Es hielt die Temperaturen der Erde über Jahrmilliarden konstant in Bereichen, in denen Leben auf der Erde möglich war. Wenn Vulkane vermehrt CO2 ausstießen, so dass die Temperaturen anstiegen, erhöhte sich der Grad der Verwitterung, wodurch mehr CO2 gebunden wurde. War die Erde kalt und die Konzentration des Treibhausgases gering, wurde die Verwitterung durch die Vereisung weiter Landflächen stark verringert. Das durch den Vulkanismus weiter in die Atmosphäre strömende Treibhausgas reicherte sich dort bis zu einem gewissen Kipppunkt an und verursachte dann ein globales Tauwetter. Der Nachteil dieses Mechanismus besteht darin, dass er mehrere Jahrtausende für die Korrektur von Treibhausgaskonzentrationen und Temperaturen benötigt, und es sind mehrere Fälle bekannt, bei denen er versagte. Man nimmt an, dass die große Sauerstoffkatastrophe vor 2,3 Milliarden Jahren einen Zusammenbruch der Methankonzentration in der Atmosphäre bewirkte. Dies verminderte den Treibhauseffekt so stark, dass daraus eine großflächige und lang andauernde Vereisung der Erde während der Huronischen Eiszeit resultierte. Im Verlauf – vermutlich mehrerer – Schneeball-Erde-Ereignisse während des Neoproterozoikums vor rund 750 bis 635 Millionen Jahren fror die Erdoberfläche erneut fast vollkommen zu. Das letzte derartige Ereignis fand unmittelbar vor der kambrischen Explosion vor 640 Millionen Jahren statt und wird Marinoische Eiszeit genannt. Die helle Oberfläche der fast vollständig gefrorenen Erde reflektierte nahezu die gesamte einfallende Sonnenenergie zurück ins All und hielt die Erde so im Eiszeitzustand gefangen; dies änderte sich erst, als die Konzentration von Kohlenstoffdioxid in der Erdatmosphäre, bedingt durch den unter dem Eis fortdauernden Vulkanismus, auf extrem hohe Werte gestiegen war. Da das CO2-Thermostat auf Veränderungen nur träge reagiert, taute die Erde nicht nur auf, sondern stürzte in der Folge für einige Jahrzehntausende in das andere Extrem eines Supertreibhauses. Das Ausmaß der Vereisung ist jedoch in der Wissenschaft umstritten, weil Klimadaten aus dieser Zeit ungenau und lückenhaft sind. Nach neueren Untersuchungen trat eine ähnliche Konstellation am Karbon-Perm-Übergang vor etwa 300 Millionen Jahren ein, als sich die atmosphärische Kohlenstoffdioxid-Konzentration auf ein Minimum von wahrscheinlich 100 ppm verringerte. Dadurch rückte das Erdklimasystem in die unmittelbare Nähe jenes Kipppunkts, der den Planeten in den Klimazustand einer globalen Vereisung überführt hätte. Hingegen war die Erde zur Zeit des wahrscheinlich größten Massenaussterbens vor 252 Millionen Jahren ein Supertreibhaus mit sehr viel höheren Temperaturen als heute. Diese drastische Temperaturerhöhung, die an der Perm-Trias-Grenze fast alles Leben auf der Erde auslöschte, wurde sehr wahrscheinlich von einer lang andauernden intensiven Vulkantätigkeit verursacht, die zur Entstehung des sibirischen Trapps führte. Aktuelle Isotopenuntersuchungen deuten darauf hin, dass sich die damaligen Meere innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums um bis zu 8 K erwärmten und parallel dazu stark versauerten. Während dieser und anderer Phasen extrem hoher Temperaturen enthielten die Ozeane zu großen Teilen keinen Sauerstoff. Derartige ozeanische anoxische Ereignisse wiederholten sich in der Erdgeschichte mehrfach. Man weiß heute, dass sowohl Phasen starker Abkühlung, wie beispielsweise während der Grande Coupure, als auch rapide Erwärmungen von Massenaussterben begleitet wurden. Der Paläontologe Peter Ward behauptet sogar, dass alle bekannten Massenaussterben der Erdgeschichte mit Ausnahme des KT-Impakts durch Klimakrisen ausgelöst wurden. Das Klima der letzten 10.000 Jahre war im Vergleich zu den häufigen und starken Schwankungen der vorangegangenen Jahrtausende ungewöhnlich stabil. Diese Stabilität gilt als Grundvoraussetzung für die Entwicklung und den Fortbestand der menschlichen Zivilisation. Zuletzt kam es während des Paläozän/Eozän-Temperaturmaximums und beim Eocene Thermal Maximum 2 zu einer schnellen und starken globalen Erwärmung, die von einem massiven Eintrag von Kohlenstoff (CO2 und/oder Methan) in die Atmosphäre verursacht wurde. Diese Epochen sind daher Gegenstand intensiver Forschungen, um daraus Erkenntnisse über mögliche Auswirkungen der laufenden menschengemachten Erwärmung zu gewinnen. Der laufende und für die kommenden Jahre erwartete Klimawandel hat möglicherweise das Ausmaß großer Klimaveränderungen der Erdgeschichte, die vorhergesagte kommende Temperaturänderung läuft aber mindestens um einen Faktor 20 schneller ab als in allen globalen Klimawandeln der letzten 65 Millionen Jahre. Betrachtet man die Geschwindigkeit der Erwärmungsphasen von Eiszeiten zu Zwischeneiszeiten, wie sie in den letzten ca. 500.000 Jahren fünfmal vorkamen, so kam es dort jeweils zu Phasen der schnellen Erwärmung. Diese Phasen dauerten jeweils ca. 10.000 Jahre an und waren durch einen Anstieg von insgesamt ca. 4 bis 5 °C gekennzeichnet. Bei der derzeitigen menschengemachten Erwärmung wurde der Anstieg, ohne erhebliche Maßnahmen zum Klimaschutz, ebenfalls mit ca. 4 bis 5 °C berechnet – nur dass dieser Prozess in 100 statt 10.000 Jahren abläuft. Anhand der bald zweihundert Jahre umfassenden Datenlage und Forschung ist davon auszugehen, dass die Epoche des Pliozäns ein analoges Beispiel für die nähere Zukunft unseres Planeten sein kann. Der Kohlenstoffdioxid-Gehalt der Atmosphäre im mittleren Pliozän wurde mit Hilfe der Isotopenuntersuchung von Δ13C ermittelt und lag damals im Bereich von 400 ppm, das entspricht der Konzentration des Jahres 2015. Mit Hilfe von Klimaproxies sind Temperatur und Meeresspiegel der Zeit vor 5 Millionen Jahren rekonstruierbar. Zum Beginn des Pliozäns lag die globale Durchschnittstemperatur um 2 K höher als im Holozän; die globale Jahresdurchschnittstemperatur reagiert aufgrund der enormen Wärmekapazität der Weltmeere sehr träge auf Änderungen des Strahlungsantriebs und so ist sie seit Beginn der industriellen Revolution erst um ca. 1 K angestiegen. Die Erwärmung führt unter anderem zu einem Meeresspiegelanstieg. Der Meeresspiegel lag in der Mitte des Pliozäns um rund 20 Meter höher als heute. Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) Der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) wurde 1988 vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) gemeinsam mit der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) eingerichtet und ist der 1992 abgeschlossenen Klimarahmenkonvention beigeordnet. Der IPCC fasst für seine im Abstand von etwa sechs Jahren erscheinenden Berichte die weltweiten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Klimaveränderung zusammen und bildet damit den aktuellen Stand des Wissens in der Klimatologie ab. Die Organisation wurde 2007, gemeinsam mit dem ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore, mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Der Fünfte Sachstandsbericht ist im September 2013 erschienen. Wie sicher sind die Erkenntnisse zur globalen Erwärmung? Seit der Entdeckung des Treibhauseffektes in der Atmosphäre 1824 durch Jean Baptiste Joseph Fourier und der Beschreibung der Treibhauswirkung von Wasserdampf und Kohlenstoffdioxid 1862 durch John Tyndall ist die wissenschaftliche Erforschung des Erd-Klimasystems immer präziser geworden. Inzwischen existiert eine „erdrückend[e] Beweislage“, dass die globale Erwärmung real ist, menschengemacht ist und eine große Bedrohung darstellt. Seit 150 Jahren ist die wärmende Wirkung von Treibhausgasen bekannt, deren Konzentrationsanstieg in der Erdatmosphäre dann Mitte der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts sicher nachgewiesen werden konnte. Die seit Mitte der 1970er Jahre festgestellte, ausgeprägte und bis heute ununterbrochene Erwärmung der Atmosphäre kann mit Hilfe der seitdem deutlich verbesserten Messtechnik nicht primär auf solare Einflüsse oder andere natürliche Faktoren zurückgeführt werden, da sich diese seit dieser Zeit nur minimal veränderten. Grundlegende Forschungen zur Auswirkung der Treibhausgase stammen vom Ozeanographen Veerabhadran Ramanathan aus der Mitte der 1970er Jahre. Mehrere Hunderttausend klimatologischer Studien wurden seitdem veröffentlicht, von denen die große Mehrheit (etwa 97 %) den wissenschaftlichen Konsens zum Klimawandel stützt. Prognosen und Berechnungen, die vor Jahrzehnten getätigt wurden, streuten noch recht groß, haben insgesamt den Trend aber überraschend gut getroffen. Werden die Modelle mit neueren Messwerten gerechnet, vor allem der Strahlungsbilanz zwischen oberer Atmosphäre und dem Weltraum, dann sinkt die Streuung zwischen den Modellen und der Mittelwert für die Erwärmung zum Ende des Jahrhunderts steigt etwas. Trends und exakte Zeitpunkte Man unterscheidet in der Klimaforschung zwischen Trend und Zeitpunkt und berechnet dafür die Eintrittswahrscheinlichkeiten. Im Themenumfeld der globalen Erwärmung ist beispielsweise Folgendes nicht genau bekannt: Mehrere Ereignis-Zeitpunkte, darunter der Zeitpunkt, an dem die Arktis im 21. Jahrhundert im Sommer eisfrei sein wird; der exakte Meeresspiegelanstieg bis zum Ende des 21. Jahrhunderts ist ebenfalls nicht bekannt. Unsicherheiten bestehen in der genauen Art, Form, dem Ort und der Verteilung von globalen Kipppunkten im Klimasystem und damit auch verbunden in der Kenntnis der genauen regionalen Auswirkungen der globalen Erwärmung. Die Mehrzahl der relevanten wissenschaftlichen Grundlagen gilt hingegen als sehr gut verstanden. Der wissenschaftliche Konsens zum Klimawandel Der Themenkomplex der globalen Erwärmung war zunächst Gegenstand kontroverser Diskussionen mit wechselnden Schwerpunkten. Anfang des 20. Jahrhunderts überwog die Unsicherheit, ob die theoretisch vorhergesagte Erwärmung messtechnisch überhaupt nachweisbar sein würde. Als in den USA während der 1930er Jahre erstmals ein signifikanter Temperaturanstieg in einigen Regionen registriert wurde (→Dust Bowl), galt dies als ein starkes Indiz für eine Erderwärmung; es wurde allerdings bezweifelt, ob die Erwärmung tatsächlich anthropogen (von menschlichen Aktivitäten verursacht) war. Diese Zweifel werden von manchen vorgeblich klimaskeptischen Gruppierungen bis heute geäußert, gelegentlich wurde sogar eine globale Abkühlung für die kommenden Jahrzehnte prognostiziert, was Klimaforscher – auch angesichts der Rückkopplungen – für ausgeschlossen halten. Unter Fachwissenschaftlern herrscht seit vielen Jahren ein Konsens bezüglich der menschengemachten globalen Erwärmung, der seit spätestens Anfang der 1990er Jahre besteht. Andere Quellen datieren die Schaffung des wissenschaftlichen Konsens bereits in die 1980er Jahre. So hielt z. B. der 1988 publizierte Zwischenbericht der Enquete-Kommission Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre fest, dass schon auf der Klimakonferenz von Villach 1985 ein Konsens über Existenz und menschliche Ursache des Klimawandels erzielt worden sei: Der in den IPCC-Berichten zum Ausdruck gebrachte wissenschaftliche Konsens wird von den nationalen und internationalen Wissenschaftsakademien und allen G8-Ländern ausdrücklich geteilt. Auch die Wissenschaftler von diversen Industrieunternehmen der Energiebranche kamen intern zu den gleichen Schlussfolgerungen, auch wenn die Unternehmen den menschengemachten Klimawandel öffentlich teils über Jahrzehnte bestritten. Beispielsweise war die Lobbyorganisation der US-Erdöl- und Erdgasindustrie, das American Petroleum Institute, seit spätestens den 1950er Jahren über die (nach damaligem Forschungsstand) potentiell menschengemachte globale Erwärmung informiert, die US-Kohleindustrie seit spätestens den 1960er Jahren, US-Elektrizitätsversorgungsunternehmen, Exxon, Total, Ford, General Motors seit spätestens den 1970er Jahren und Shell seit spätestens den 1980er Jahren. Der wissenschaftliche Konsens zum Klimawandel besteht in der Feststellung, dass sich das Erd-Klimasystem erwärmt und weiter erwärmen wird. Dies wird anhand von Beobachtungen der steigenden Durchschnittstemperatur der Luft und Ozeane, großflächigem Abschmelzen von Schnee- und Eisflächen und dem Meeresspiegelanstieg ermittelt. Mit mindestens 95-prozentiger Sicherheit wird dies hauptsächlich durch Treibhausgase (Verbrennung von fossilen Energieträgern, Methanausstoß bei der Viehhaltung, Freisetzung von CO2 bei der Zementherstellung,) sowie durch die Rodungen von Waldgebieten verursacht. Die American Association for the Advancement of Science – die weltweit größte wissenschaftliche Gesellschaft – erklärte bereits 2001, dass sich 97 % aller Klimatologen einig sind, dass ein vom Menschen verursachter Klimawandel stattfindet, und betonte den zu vielen Aspekten der Klimatologie herrschenden Konsens. Spätestens seit der Jahrtausendwende wird der Wissensstand um die mit dem Klimawandel verbundenen Folgen als ausreichend sicher angesehen, um umfangreiche Klimaschutzmaßnahmen zu rechtfertigen. Laut einer 2014 veröffentlichten Studie bestand unter der Annahme keines anthropogenen Treibhauseffekts nur eine Wahrscheinlichkeit von 0,001 % für das tatsächlich eingetretene Ereignis von mindestens 304 Monaten in Folge (von März 1985 bis zum Stand der Analyse Juni 2010) mit einem Monatsmittel der globalen Temperatur über dem Mittelwert für das 20. Jahrhundert. Leugnung der menschengemachten globalen Erwärmung Obwohl innerhalb der Wissenschaft seit Jahrzehnten ein starker Konsens hinsichtlich der menschengemachten globalen Erwärmung herrscht, lehnen Teile der Öffentlichkeit sowie eine Vielzahl politischer und wirtschaftlicher Akteure bis heute weiterhin die Existenz des Klimawandels, seine menschliche Ursache, die damit einhergehenden negativen Folgen oder den wissenschaftlichen Konsens darüber ab. Bei der Leugnung des menschengemachten Klimawandels handelt es sich um eine Form von Pseudowissenschaft, die Ähnlichkeiten aufweist mit weiteren Formen der Wissenschaftsleugnung wie beispielsweise dem Bestreiten der Evolutionstheorie oder der gesundheitsschädlichen Auswirkungen des Rauchens bis hin zum Glauben an Verschwörungstheorien. Zum Teil bestehen zwischen diesen genannten Formen der Leugnung wissenschaftlicher Erkenntnisse personelle, organisatorische und ökonomische Verbindungen. Ein zentrales Verbindungsmuster ist unter anderem die beständige Fabrizierung künstlicher Kontroversen wie der vermeintlichen Kontroverse um die globale Erwärmung, bei der es sich, entgegen der Annahme in der Öffentlichkeit, nicht um eine wissenschaftliche Diskussion handelt, sondern vielmehr um die bewusste Verbreitung von Falschbehauptungen durch Klimaleugner. Die Verleugnung der Klimaforschung gilt als die „mit Abstand am stärksten koordinierte und finanzierte Form der Wissenschaftsleugnung“ und stellt zugleich das Rückgrat der Anti-Umweltbewegung und ihrer Gegnerschaft gegen die Umweltforschung dar. Deutlich ausgeprägt ist die Ablehnung des wissenschaftlichen Konsenses insbesondere in Staaten, in denen mit großem finanziellen Einsatz durch Unternehmen, v. a. aus der Branche der fossilen Energien, eine einflussreiche Kontrabewegung geschaffen wurde, deren Ziel es ist, die Existenz des wissenschaftlichen Konsenses durch bewusstes Säen von Zweifeln zu untergraben. Besonders erfolgreich waren diese Aktionen unter konservativen Bevölkerungsteilen in den USA. Eine wichtige Rolle bei der Verschleierung des Standes der Wissenschaft spielen konservative Denkfabriken. Zu den wichtigsten Kräften der organisierten Klimaleugnerbewegung, die die Existenz der menschengemachten globalen Erwärmung durch gezielte Attacken auf die Klimaforschung abstreiten, zählen das Cato Institute, das Competitive Enterprise Institute, das George C. Marshall Institute sowie das Heartland Institute, allesamt konservativ ausgerichtete Think Tanks. Ihr Ziel war und ist es, mittels der Strategie Fear, Uncertainty and Doubt in der Bevölkerung Unsicherheit und Zweifel an der Existenz der globalen Erwärmung zu schaffen, um anschließend zu argumentieren, dass es nicht genügend Belege dafür gebe, konkrete Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen. Insgesamt stehen der US-Klima-Contrarian-Bewegung rund 900 Millionen Dollar pro Jahr für Kampagnenzwecke zur Verfügung. Die überwältigende Mehrheit der Mittel stammt von politisch konservativen Organisationen, wobei die Finanzierung zunehmend über Donors-Trust-Organisationen verschleiert wird. Die Mehrheit der Literatur, die dem menschengemachten Klimawandel widerspricht, wurde ohne Peer-Review publiziert, ist üblicherweise pseudowissenschaftlicher Natur (d. h. wirkt äußerlich wissenschaftlich, ohne aber wissenschaftliche Qualitätsstandards zu erfüllen), wurde zum großen Teil von Organisationen und Unternehmen finanziert, die von der Nutzung fossiler Energieträger profitieren, und steht in Verbindung mit konservativen Think Tanks. Folgen der globalen Erwärmung Wegen der Auswirkungen auf menschliche Sicherheit, Gesundheit, Wirtschaft und Umwelt ist die globale Erwärmung mit Risiken behaftet. Diese Risiken werden mit zunehmender Erwärmung stärker und sind bei 2 Grad Erwärmung höher als bei einer Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad. Negative Auswirkungen der globalen Erwärmung treten bereits heute auf und haben u. a. bereits viele Ökosysteme an Land und im Wasser beeinträchtigt. Einige schon heute wahrnehmbare Veränderungen wie die verringerte Schneebedeckung, der steigende Meeresspiegel oder die Gletscherschmelze gelten neben den Temperaturmessungen auch als Belege für den Klimawandel. Konsequenzen der globalen Erwärmung wirken sowohl direkt auf den Menschen als auch auf Ökosysteme. Dazu verstärkt der Klimawandel viele andere gravierende Probleme wie z. B. den Artenschwund oder die Bodendegradation, sodass die Bekämpfung des Klimawandels zugleich eine Schlüsselmaßnahme für das Lösen anderer dringender Probleme auf dem Weg hin zu einer nachhaltigen Lebensweise ist. Wissenschaftler berechnen verschiedene direkte und indirekte Auswirkungen auf Hydrosphäre, Atmosphäre und Biosphäre. Im Bericht des Weltklimarats (IPCC) werden diesen Hochrechnungen jeweils Wahrscheinlichkeiten zugeordnet. Zu den Folgen zählen Hitzewellen, die zu einer Häufung von Todesfällen durch Hitzschlag führen werden, besonders in den Tropen. Hunderte Millionen Menschen werden vom Anstieg des Meeresspiegels und Missernten, welche die globale Ernährungssicherheit gefährden, betroffen sein. Eine sich stark erwärmende Welt ist, so ein Weltbank-Bericht, mit erheblichen Beeinträchtigungen für den Menschen verbunden. Die Weltmeteorologieorganisation berichtet von einer siebenfachen Zunahme der Schäden infolge von Extremwetterereignissen seit 1970. Zu den Ursachen zählt, neben einem zunehmenden Anteil gemeldeter Schäden und einer größeren Zahl exponierter Menschen, auch der Klimwandel. Eine grobe Schätzung, die sich auf die Zuordnungsforschung stützt, gibt den Anteil des Klimawandels an den Schäden durch Extremwetterereignisse im Zeitraum 2000–2019 mit etwas mehr als 50 % an, was in etwa 150 Mrd. US$ pro Jahr entspricht. Der Schaden, den die Emission einer Tonne CO2 verursacht, wird als soziale Kohlenstoffkosten bezeichnet. Die Schätzungen der sozialen Kohlenstoffkosten sind mit erheblichen Unsicherheiten verbunden und hängen auch davon ab, wie menschliches Leben und Gesundheit bewertet werden, einschließlich künftigen Lebens. Verschiedene Schätzungen empfehlen, von Schäden um 200 Euro auszugehen, die eine zu Beginn der 2020er Jahre emittierte Tonne CO2 verursachte. Dieser Wert steigt mit zunehmender Treibhausgaskonzentration weiter an. Unerwartete Veränderungen und „Tipping Points“ Man unterscheidet mindestens zwei Arten unerwarteter Effekte: Kombinierte Effekte, bei denen mehrere Extremereignisse zusammen wirken und ihre Wirkung gegenseitig verstärken (beispielsweise Dürren und Großbrände), und Kippelemente. Bedingt durch die vielfachen Rückkopplungen im Erdsystem reagiert dieses auf Einflüsse oftmals nichtlinear, das heißt, Veränderungen vollziehen sich in diesen Fällen nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft. Es gibt eine Reihe von Kippelementen, die bei fortschreitender Erwärmung wahrscheinlich abrupt einen neuen Zustand einnehmen werden, der ab einem gewissen Punkt (Tipping-Point) schwer oder gar nicht umkehrbar sein wird. Beispiele für Kippelemente sind das Abschmelzen der arktischen Eisdecke oder eine Verlangsamung der thermohalinen Zirkulation. Andere Beispiele für abrupte Ereignisse sind das plötzliche Aussterben einer Art, die – womöglich durch andere Umweltfaktoren vorbelastet – durch ein klimatisches Extremereignis eliminiert wird, oder die Wirkung steigender Meeresspiegel. Diese führen nicht unmittelbar zu Überschwemmungen, sondern erst wenn im Rahmen von z. B. Sturmfluten ein vormals ausreichender Damm überschwemmt wird. Auch der Meeresspiegelanstieg selbst kann sich durch nichtlineare Effekte in sehr kurzer Zeit rasch beschleunigen, wie dies in der Klimageschichte beispielsweise beim Schmelzwasserpuls 1A der Fall war. Untersuchungen von klimatischen Veränderungen in der Erdgeschichte zeigen, dass Klimawandel in der Vergangenheit nicht nur graduell und langsam abliefen, sondern bisweilen sehr rasch. So war am Ende der jüngeren Dryas und während der Dansgaard-Oeschger-Ereignisse in der letzten Kaltzeit regional eine Erwärmung um 8 °C in etwa 10 Jahren zu beobachten. Nach heutigem Kenntnisstand erscheint es wahrscheinlich, dass diese schnellen Sprünge im Klimasystem auch künftig stattfinden werden, wenn bestimmte Kipppunkte überschritten werden. Da die Möglichkeit, das Klima in Klimamodellen abzubilden, nie vollständig der Realität entsprechen wird, das Klimasystem aufgrund seiner chaotischen Natur grundsätzlich nicht im Detail vorhersagbar ist und sich die Welt überdies zunehmend außerhalb des Bereichs bewegt, für den verlässliche Klimadaten der Vergangenheit vorliegen, können weder Art, Ausmaß noch Zeitpunkt solcher Ereignisse vorhergesagt werden. Jedoch berechneten Will Steffen und andere im Jahr 2018 wahrscheinliche Temperaturbereiche der Erderwärmung, in denen kritische Schwellen für Kippelemente erreicht werden können, so dass „diese in fundamental andersartige Zustände versetzt werden.“ Durch Rückkopplungen könnten weitere Kippelemente ausgelöst werden, deren Veränderung erst für höhere Temperaturbereiche zu erwarten sei. So werde die thermohaline Zirkulation durch ein schon bei einer Erderwärmung zwischen 1 und 3 Grad mögliches starkes Abschmelzen des Grönlandeises beeinflusst. Ihr Zusammenbruch ist wiederum rückgekoppelt mit der El Niño-Southern Oscillation, dem teilweisen Absterben des Amazonas-Regenwaldes und dem Abschmelzen von antarktischem Meer-, später Festlandeis. Schon bei Einhalten des Klimaziels von 2 Grad globaler Erwärmung drohe daher das Risiko eines Dominoeffekts, einer Kaskade, die das Klima unkontrollierbar und irreversibel in ein Warmklima führen würde, mit langfristig etwa 4 bis 5 Grad höheren Temperaturen und einem Meeresspiegelanstieg um 10 bis 60 Meter. Auswirkungen auf die Biosphäre Die Risiken für Ökosysteme auf einer sich erwärmenden Erde wachsen mit jedem Grad des Temperaturanstiegs. Die Risiken unterhalb einer Erwärmung von 1 K gegenüber dem vorindustriellen Wert sind vergleichsweise gering. Zwischen 1 und 2 K Erwärmung liegen auf regionaler Ebene mitunter substanzielle Risiken vor. Eine Erwärmung oberhalb von 2 K birgt erhöhte Risiken für das Aussterben zahlreicher Tier- und Pflanzenarten, deren Lebensräume nicht länger ihren Anforderungen entsprechen. Beispielsweise geht der IPCC davon aus, dass die weltweiten Korallenriffe bei einer Erwärmung von 1,5 Grad um 70–90 % zurückgehen werden. Bei 2 Grad Erwärmung rechnet der IPCC mit einem Rückgang um mehr als 99 % und damit einem nahezu vollständigen Verschwinden der Korallenriffe. Bei über 2 K Temperaturanstieg drohen der Kollaps von Ökosystemen und signifikante Auswirkungen auf Wasser sowie Nahrungsmittelvorräte durch Ernteausfall. Durch gestiegene Niederschlagsmengen, Temperatur und CO2-Gehalt der Atmosphäre hat das Pflanzenwachstum in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Es stieg zwischen 1982 und 1999 um sechs Prozent im weltweiten Durchschnitt, besonders in den Tropen und der gemäßigten Zone der Nordhalbkugel. Risiken für die menschliche Gesundheit sind teils unmittelbare Folge steigender Lufttemperaturen. Hitzewellen werden häufiger, während extreme Kälteereignisse wahrscheinlich seltener werden. Während die Zahl der Hitzetoten wahrscheinlich steigen wird, wird die Zahl der Kältetoten abnehmen. Trotz globaler Erwärmung kann es lokal und vorübergehend zu Kälteereignissen kommen. Klimasimulationen sagen beispielsweise voraus, dass es durch das Schmelzen des Arktiseises zu starken Störungen der Luftströmungen kommen kann. Hierdurch könnte sich die Wahrscheinlichkeit des Auftretens extrem kalter Winter in Europa und Nordasien verdreifachen. Die landwirtschaftliche Produktivität wird sowohl von einer Temperaturerhöhung als auch von einer Veränderung der Niederschläge betroffen sein. Global ist, grob gesehen, mit einer Verschlechterung des Produktionspotenzials zu rechnen. Das Ausmaß dieses Negativtrends ist jedoch mit Unsicherheit behaftet, da unklar ist, ob durch gestiegene Kohlenstoffkonzentrationen ein Düngungseffekt eintritt (−3 %) oder nicht (−16 %). Tropische Regionen werden Modellrechnungen zufolge jedoch stärker betroffen sein als gemäßigte Regionen, in denen mit Kohlenstoffdüngung sogar teilweise deutliche Produktivitätszuwächse erwartet werden. Zum Beispiel wird für Indien mit einem Einbruch von ca. 30–40 % bis 2080 gerechnet, während die Schätzungen für die Vereinigten Staaten und China je nach Kohlenstoffdüngungs-Szenario zwischen −7 % und +6 % liegen. Hinzu kommen wahrscheinliche Veränderungen der Verbreitungsgebiete und Populationen von Schädlingen. Ebenfalls nach Modellrechnungen werden bei ungebremstem Klimawandel weltweit jährlich ca. 529.000 Todesfälle infolge von schlechterer Ernährung, insbesondere dem Rückgang von Obst- und Gemüsekonsum, erwartet. Bei einem strengen Klimaschutzprogramm (Umsetzung des RCP 2.6-Szenarios) könnte die Zahl der zusätzlichen Toten hingegen auf ca. 154.000 begrenzt werden. Es wird zu Änderungen von Gesundheitsrisiken für Menschen und Tiere infolge von Veränderungen des Verbreitungsgebiets, der Population und des Infektionspotentials von Krankheitsüberträgern kommen. Auswirkungen auf Hydrosphäre und Atmosphäre Durch die steigenden Lufttemperaturen verändern sich weltweit Verteilung und Ausmaß der Niederschläge. Gemäß der Clausius-Clapeyron-Gleichung kann die Atmosphäre mit jedem Grad Temperaturanstieg ca. 7 % mehr Wasserdampf aufnehmen, der wiederum als Treibhausgas wirkt. Dadurch steigt zwar global die durchschnittliche Niederschlagsmenge, in einzelnen Regionen wird jedoch auch die Trockenheit zunehmen, einerseits durch Rückgang der dortigen Niederschlagsmengen, aber auch durch die bei höheren Temperaturen beschleunigte Verdunstung. Die zunehmende Verdunstung führt zu einem höheren Risiko für Starkregen, Überschwemmungen und Hochwasser. Es kommt weltweit zu einer verstärkten Gletscherschmelze. Im Zuge der globalen Erwärmung kommt es zu einem Anstieg des Meeresspiegels. Dieser erhöhte sich im 20. Jahrhundert um 1–2 cm pro Jahrzehnt und beschleunigt sich. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lag die Rate bei 3–4 cm. Bis zum Jahr 2100 erwartet das IPCC einen weiteren Meeresspiegelanstieg um wahrscheinlich 0,29–0,59 m bei strengem Klimaschutz und 0,61–1,10 m bei weiter zunehmenden Treibhausgasemissionen; ein Meeresspiegelanstieg von bis zu 2 m kann nicht ausgeschlossen werden. In den kommenden 2000 Jahren wird von einem Meeresspiegelanstieg in Höhe von ca. 2,3 m pro zusätzlichem Grad Celsius Erwärmung ausgegangen. Es gibt Anzeichen, dass Kipppunkte bereits überschritten sind, die ein Abschmelzen eines Teils der Westantarktis beschleunigen. Dies könnte den Meeresspiegel langfristig um drei Meter erhöhen. Ein weitgehendes Abschmelzen der Eismassen von Grönland gilt innerhalb von 1000 Jahren als möglich und würde den Meeresspiegel um sieben Meter erhöhen. Ein Abschmelzen der gesamten Eisschicht der Antarktis erhöht den Pegel um zusätzliche 57 Meter. Solch ein Szenario ist aber nicht abzusehen. Laut der World Meteorological Organization gibt es bislang Anhaltspunkte für und wider ein Vorhandensein eines anthropogenen Signals in den bisherigen Aufzeichnungen über tropische Wirbelstürme, doch bislang können keine gesicherten Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Häufigkeit tropischer Stürme wird wahrscheinlich abnehmen, ihre Intensität aber zunehmen. Es gibt Hinweise, dass die globale Erwärmung über eine Veränderung der Rossby-Wellen (großräumige Oszillationen von Luftströmen) zum vermehrten Auftreten von Wetterextremen (z. B. Hitzeperioden, Überschwemmungen) führt. Friedens- und Weltordnung, Politik Das Weltwirtschaftsforum Davos stuft in seinem Bericht Global Risks 2013 den Klimawandel als eines der wichtigsten globalen Risiken ein: Das Wechselspiel zwischen der Belastung der wirtschaftlichen und ökologischen Systeme werde unvorhersehbare Herausforderungen für globale und nationale Widerstandsfähigkeiten darstellen. Verschiedene Militärstrategen und Sicherheitsexperten befürchten geopolitische Verwerfungen infolge von Klimaveränderungen, die sicherheitspolitische Risiken für die Stabilität der Weltordnung und den „Weltfrieden“ bergen, auch der UN-Sicherheitsrat gab 2011 auf Initiative Deutschlands eine entsprechende Erklärung ab. Der ehemalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier bewertete im April 2015 nach Erscheinen einer zum „G7“-Außenminister-Treffen in Lübeck verfassten europäischen Studie den Klimawandel ebenfalls als „eine wachsende Herausforderung für Frieden und Stabilität“. Die Studie empfiehlt u. a. die Einrichtung einer G7-Taskforce. Sozialwissenschaftliche Aspekte Wirtschaft Die wirtschaftlichen Folgen des globalen Klimawandels sind nach gegenwärtigen Schätzungen beträchtlich: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schätzte 2004/5, dass ohne zügig umgesetzten Klimaschutz der Klimawandel bis zum Jahr 2050 bis zu 200.000 Milliarden US-Dollar volkswirtschaftliche Kosten verursachen könnte (wobei diese Schätzung mit großen Unsicherheiten behaftet ist). Der Stern-Report (er wurde Mitte 2005 von der damaligen britischen Regierung in Auftrag gegeben) schätzte die durch den Klimawandel bis zum Jahr 2100 zu erwartenden Schäden auf 5 bis 20 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Nach einem im Vorfeld der im November 2017 in Bonn stattfindenden 23. UN-Klimakonferenz („COP 23“) veröffentlichten Lancet-Report hat sich die Zahl der wetterbedingten Naturkatastrophen seit 2000 um 46 % erhöht; allein 2016 sei dadurch ein ökonomischer Schaden von 126 Mrd. Dollar entstanden. Die EZB sieht Risiken für die Stabilität des europäischen Wirtschaftsraumes, da ein großer Teil der Kredite an Unternehmen, die von physischen Risiken betroffen sind, durch materielle Sicherheiten in Form von Immobilien besichert wird. Wenn das Eigentum durch physische Einwirkungen beschädigt wird und nicht durch eine Versicherung abgedeckt ist, verringert diese Verbindung die Fähigkeit zur Schadensbegrenzung und erhöht die potenziellen Verluste der Banken. Ein hohes Risiko für Banken ist zu erwarten, wenn sie Kredite an Unternehmen in der Fertigungs- und Immobilienbranche, im Baugewerbe, im Hotel- und Gaststättengewerbe und in der Lebensmittelbranche vergeben, da die Wahrscheinlichkeit eines Verlusts ihrer Sicherheiten höher ist. Sehr problematisch für die internationale Finanzstabilität ist die Konzentration von 70 % dieser hochriskanten Engagements auf 25 Banken in Europa. Siehe auch „Klimafinanzierung“, Klimaversicherung, Loss and Damage, Unternehmerische Klimarisiken Begrenzung der globalen Erwärmung Um die Erdtemperatur zu stabilisieren und die Folgen der globalen Erwärmung zu begrenzen, muss der Treibhausgasausstoß weltweit auf Netto-Null begrenzt werden, da für jedes Temperaturziel nur ein gewisses globales CO2-Budget zur Verfügung steht. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Erderwärmung so lange weiter fortschreitet, wie netto Treibhausgase emittiert werden und damit die Gesamtmenge an Treibhausgasen in der Atmosphäre weiter ansteigt. Emissionen nur zu reduzieren führt also nicht zum Stopp, sondern nur zur Verlangsamung der globalen Erwärmung. Klimapolitik Treibhausgase reichern sich gleichmäßig in der Atmosphäre an, ihre Wirkung hängt nicht davon ab, wo sie ausgestoßen werden. Eine Minderung von Treibhausgasemissionen kommt somit allen zugute; sie ist aber oft für denjenigen, der seine Treibhausgasemissionen mindert, mit Anstrengungen und Kosten verbunden. Die Reduktion der weltweiten Emissionen auf Netto-Null steht damit vor dem sogenannten Trittbrettfahrerproblem: Vorwiegend am Eigennutz orientierte Akteure wollen zwar eine Stabilisierung des Klimas und dementsprechende Klimaschutzanstrengungen anderer, sehen aber keine ausreichenden Anreize für eigene Klimaschutzanstrengungen. Die internationale Klimapolitik steht vor der Aufgabe, einen globalen Ordnungsrahmen zu schaffen, der Kollektives Handeln hin zu Klimaneutralität bewirkt. Geschichte Als Herzstück internationaler Klimapolitik gilt die Klimarahmenkonvention (UNFCCC) der Vereinten Nationen als der völkerrechtlich verbindlichen Regelung zum Klimaschutz. Sie wurde 1992 in New York City verabschiedet und im gleichen Jahr auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro von den meisten Staaten unterschrieben. Ihr Kernziel ist es, eine gefährliche Störung des Klimasystems infolge menschlicher Aktivität zu vermeiden. Mit der Rahmenkonvention geht als neu entstandenes Prinzip der Staatengemeinschaft einher, dass auf eine solche massive Bedrohung der globalen Umwelt auch ohne genaue Kenntnis des letztlichen tatsächlichen Ausmaßes reagiert werden soll. Auf der Rio-Konferenz wurde auch die Agenda 21 verabschiedet, die seitdem Grundlage für viele lokale Schutzmaßnahmen ist. Die 197 Vertragspartner der Rahmenkonvention (Stand März 2020) treffen sich jährlich zu UN-Klimakonferenzen. Die bekanntesten dieser Konferenzen waren 1997 im japanischen Kyōto, die als Ergebnis das Kyoto-Protokoll hervorbrachte, 2009 in Kopenhagen und 2015 in Paris. Dort wurde von allen Vertragsstaaten vereinbart, die globale Erwärmung auf deutlich unter 2 °C gegenüber vorindustrieller Zeit zu begrenzen. Angestrebt werden soll eine Begrenzung auf 1,5 °C. Das Zwei-Grad-Ziel Als Grenze von einer tolerablen zu einer „gefährlichen“ Störung des Klimasystems wird in der Klimapolitik gemeinhin eine durchschnittliche Erwärmung um 2 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau angenommen. Dabei spielt die Befürchtung eine große Rolle, dass jenseits der 2 °C das Risiko irreversibler, abrupter Klimaänderungen stark steigt. In Deutschland empfahl der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) 1994, die mittlere Erwärmung auf höchstens 2 °C zu begrenzen. Der Rat der Europäischen Union übernahm das Ziel 1996. Die G8 erkannten es beim G8-Gipfel im Juli 2009 an. Im gleichen Jahr fand es als Teil des Copenhagen Accord Eingang in den UN-Rahmen und wurde in völkerrechtlich bindender Form 2015 verabschiedet, das Übereinkommen von Paris trat im November 2016 in Kraft. Die Vorgabe rückt jedoch zusehends in die Ferne: Da 2019 bereits eine Erwärmung um 1,1 °C eingetreten war, verblieben nur noch 0,9 °C. In Szenarien, die noch als realisierbar galten, hätten zur Erreichung des Ziels die Treibhausgasemissionen bereits 2020 ihr Maximum erreichen und danach rasch sinken müssen. Laut einem im November 2019 veröffentlichten Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) gab es keine Anzeichen, dass die Emissionen stagnieren oder in den nächsten Jahren sinken würden. Sollten die Vertragsstaaten des Paris-Abkommens ihre Emissionen wie bis 2016 zugesagt mindern (→ Nationaler Klimaschutzbeitrag), prognostizierte man eine globale Erwärmung von 2,6 bis 3,1 °C bis 2100 und einen weiteren Temperaturanstieg nach 2100. Für die Einhaltung der Zwei-Grad-Grenze sind demnach eine nachträgliche Verschärfung der Zusagen oder eine Übererfüllung der Ziele zwingend notwendig. Der Anstieg des Meeresspiegels wäre mit der Zwei-Grad-Begrenzung nicht gestoppt. Die teilweise deutlich stärkere Erwärmung über den Landflächen brachte und bringt weitere Probleme. Die Lufttemperaturen über der Arktis sind seit Jahrzehnten deutlich stärker gestiegen als der globale Mittelwert. 2011 erklärten Indigene Völker das Zwei-Grad-Ziel für zu schwach, weil es ihre Kultur und ihre Lebensweise immer noch zerstören würde, sei es in arktischen Regionen, in kleinen Inselstaaten sowie in Wald- oder Trockengebieten. Wirtschaftswissenschaftliche Debatte In der sozialwissenschaftlichen Literatur werden unterschiedliche politische Instrumente zur Senkung von Treibhausgasemissionen empfohlen und z. T. kontrovers diskutiert. In ökonomischen Analysen besteht weitgehend Einigkeit, dass eine Bepreisung von CO2-Emissionen, die die Schäden des Klimawandels möglichst internalisiert, zentrales Instrument für einen effektiven und kosteneffizienten Klimaschutz ist. Ein solcher CO2-Preis kann durch Steuern (staatlich festgelegt), Emissionsrechtehandel (Preisbildung auf dem Markt bei jährlich sinkender Obergrenze) oder Kombinationen beider Instrumente verwirklicht werden. Manche Wissenschaftler wie z. B. Joachim Weimann empfehlen einen globalen Emissionsrechtehandel als allein ausreichendes, da effizientestes Instrument. Andere Ökonomen wie z. B. der britische Energiewissenschaftler Dieter Helm erachten dagegen eine CO2-Steuer für geeigneter, da stabiler als die schwankenden CO2-Preise eines Emissionshandels, welche für Unternehmen zu schwierig kalkulierbar seien. Andere wiederum (z. B. der US-amerikanische Politökonom Scott Barrett) argumentieren, dass staatlich vorgeschriebene technische Standards (bestimmte CO2-arme oder CO2-freie Produktionstechnologien bzw. Konsumgüter wie z. B. Pkw) wie beim Montreal-Protokoll zum Schutz der Ozonschicht sich in der internationalen Politik weit besser politisch durchsetzen ließen als ein globaler Emissionsrechtehandel oder eine CO2-Steuer. Der Sozialwissenschaftler Anthony Patt sieht einen Emissionshandel in der realen Politik ebenfalls als zu wenig wirkmächtig an, da der politische Widerstand gegen genügend (d. h. ausreichend für die Dekarbonisierung) stark steigende bzw. hohe CO2-Preise v. a. seitens der energieintensiven Industrien zu groß sei. Die CO2-Preise würden daher – wie beim EU-Emissionshandel – nur auf niedrigem Niveau schwanken, sodass sich (bei einem alleinigen Emissionshandel) für potentielle Öko-Investoren kapitalintensive, langfristig ausgerichtete Zukunftsinvestitionen in CO2-freie Technologien nicht lohnen würden. Dafür bräuchten sie vielmehr die sichere Erwartung, dass die CO2-Preise in Zukunft steigen und hoch bleiben, damit sie sich gegen Konkurrenten, die mit CO2-intensiven Technologien wirtschaften, auf dem Wettbewerbsmarkt absehbar durchsetzen können. Das politische System kann sich jedoch nicht verlässlich auf einen künftig verlässlich steigenden, hohen CO2-Preis verpflichten, da derartige politische Entscheidungen in einer Demokratie immer reversibel sind bzw. wären (so wurde z. B. in Australien eine CO2-Steuer erst eingeführt und nach zwei Jahren von einer neuen, konservativen Regierung wieder abgeschafft). Dies wird auch als „Commitment Problem“ der Klimapolitik bezeichnet. Deshalb befürwortet Anthony Patt Gesetze zur Subventionierung CO2-freier Technologien wie z. B. das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) in Deutschland, die genau diese benötigte Erwartungssicherheit für potentielle Investoren in CO2-freie Technologien herstellen: Das EEG garantiert(e) (zumindest bis zur EEG-Novelle 2016) einem Produzenten von Strom aus erneuerbaren Energien für einen langen Zeitraum (20 Jahre) einen bestimmten Verkaufspreis, der über dem Marktniveau liegt. Diese Garantie unterliegt dem verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz. Auf diese Weise abgesichert, gelang es den Investoren in erneuerbare Energien in den letzten beiden Jahrzehnten, durch den Ausbau die Kosten für die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien durch Learning by doing (Erfahrungskurve) sehr stark zu senken und allmählich gegenüber Strom aus fossilen Energiequellen und Atomstrom wettbewerbsfähig zu werden. Ähnliche Argumentationen, die die Notwendigkeit einer Flankierung des Emissionshandels durch Gesetze wie das EEG betonen, finden sich im Sondergutachten 2011 des Sachverständigenrates für Umweltfragen oder bei dem Energieökonomen Erik Gawel. Befürworter des Emissionshandels halten dem entgegen, dass der Staat dadurch zu stark in den Markt eingreife und im Gegensatz zu diesem übermäßig teure Technologien für die Subventionierung auswählen würde, da er im Gegensatz zu den Marktakteuren nicht über das Wissen verfüge, welches die effizientesten Technologien seien. Dadurch würden volkswirtschaftliche Ressourcen verschwendet, sodass sich die Gesellschaft weniger Klimaschutz leisten könne als eigentlich (d. h. mit einem idealen Emissionshandel) möglich. Klimaschutz Politische Vorgaben zum Klimaschutz müssen durch entsprechende Maßnahmen umgesetzt werden. Auf der technischen Seite existiert eine Vielzahl von Optionen zur Verminderung von Treibhausgasemissionen, mit der die Energiewende umgesetzt werden kann. Bereits eine 2004 erschienene Studie kam zu dem Ergebnis, dass sich mit den damals vorhandenen Mitteln bereits ein effektiver Klimaschutz realisieren ließe. Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina hielt in einer 2019 publizierten Stellungnahme fest, dass aus technischer Sicht alle Voraussetzungen für den Bau eines klimaneutralen Energiesystems vorhanden sind. Neben den Technologien sind auch die erforderlichen Konzepte für die Energiewende bekannt. Hingegen wirken sich gesellschaftliche Faktoren hemmend aus: So fand eine 2021 publizierte Studie heraus, dass nur Menschen, die keine Zweifel an der Existenz der globalen Erwärmung hatten und auch glaubten, dass sie größtenteils vom Menschen verursacht wird, eine deutlich erhöhte Bereitschaft zeigen, Geld für Klimaschutz zu spenden. Während in der Vergangenheit die Kosten für Klimaschutztechnik wie z. B. erneuerbare Energien deutlich höher lagen als für konventionelle Technik, sind die Klimaschutzkosten durch den rapiden Preisverfall inzwischen erheblich gesunken. Der IPCC bezifferte die zum Erreichen des Zwei-Grad-Ziels anfallenden Kosten 2014 mit 0,06 % der jährlichen Konsumwachstumsrate. Je früher die Treibhausgasemissionen verringert werden, desto geringer sind dabei die Kosten des Klimaschutzes. Neuere Studien gehen mehrheitlich davon aus, dass ein erneuerbares Energiesystem Energie zu vergleichbaren Kosten liefern kann wie ein konventionelles Energiesystem. Gleichzeitig hätte Klimaschutz starke positive volkswirtschaftliche Nebeneffekte durch Vermeidung von Klimafolgeschäden und vermiedene Luftverschmutzung durch fossile Energieträger. Als wichtige Einzelmaßnahme für das Erreichen des Zwei-Grad-Ziels gilt der Kohleausstieg, da damit das knappe Restbudget an Kohlenstoffdioxidemissionen möglichst effizient genutzt werden kann. Mit mehr als 10 Mrd. Tonnen CO2-Ausstoß im Jahr 2018 verursachen Kohlekraftwerke ca. 30 % der gesamten energiebedingten Kohlendioxidemissionen in Höhe von ca. 33 Mrd. Tonnen. In seinem Sonderbericht 1,5 °C globale Erwärmung nennt der IPCC folgende Kriterien, um das 1,5-Grad-Ziel noch erreichen zu können: Netto-Nullemissionen von Kohlenstoffdioxid bis spätestens 2050 starke Senkung von anderen Treibhausgasen, insbesondere Methan Realisierung von Energieeinsparungen Dekarbonisierung des Stromsektors und anderer Treibstoffe Elektrifizierung des Endverbrauchs von Energie (eine Form der Sektorenkopplung) starke Reduktion der Treibhausgasemissionen der Landwirtschaft Einsatz einer Form von Carbon Dioxide Removal Energiesystemtransformation Der IPCC hält in seinem Sechsten Sachstandsbericht fest, dass es nur dann gelingt, die Erderwärmung auf deutlich unter 2 °C zu begrenzen, wenn schnelle und tiefgehende Emissionsreduzierungen von Kohlenstoffdioxid und weiteren Treibhausgasen erreicht werden. Gemäß Szenarien, die es schaffen, die Erderwärmung mit mehr als 66 % Eintrittswahrscheinlichkeit und ohne großes Überschießen auf 1,5 °C zu begrenzen, müssen die energiebedingten Netto-Kohlenstoffdioxidemissionen bis 2030 um 35 bis 51 % und bis 2050 um 87 bis 97 % fallen. Die Begrenzung auf deutlich unter 2 °C macht dabei große Änderungen der Energieversorgung binnen 30 Jahren erforderlich, darunter die Reduzierung des Einsatz fossiler Energieträger, die Erhöhung der Energieproduktion aus emissionsarmen und emissionsfreien Energiequellen und den stärkerer Einsatz von Elektrizität und alternativen Energieträgern. Dazu hält der IPCC fest, dass sich die für Klimaschutz nötigen Netto-Null-Energiesysteme abhängig von den jeweiligen nationalen Bedingungen voneinander unterscheiden werden, jedoch eine Vielzahl gemeinsamer Charakteristiken aufweisen werden. Zu diesen zählt der IPCC unter anderem: Elektrizitätssysteme, die netto kein Kohlenstoffdioxid erzeugen oder über negativen Emissionen Kohlenstoffdioxid aus der Atmosphäre entnehmen weitflächige Elektrifizierung des Endenergieverbrauchs, darunter auch des Auto- und leichten Transportverkehrs, der Wärmeversorgung und des Kochens erhebliche geringere Nutzung von fossilen Energieträgern Einsatz alternativer Energieträger wie Wasserstoff, Bioenergie und Ammoniak überall dort, wo eine Elektrifizierung schlecht möglich ist größere Energieeffizienz bei der Energienutzung stärkere Kopplung der Energieversorgung im räumlichen Sinn wie auch über die Sektorgrenzen hin weg (sog. Sektorenkopplung) Einsatz von Negativemissionstechnologien wie BECCS und DACCS, um verbleibende Emissionen zu kompensieren Erneuerbare Energien Der Umbau des Energiesystems von fossilen auf erneuerbare Energiequellen, die sog. Energiewende, wird als ein weiterer unverzichtbarer Bestandteil effektiver Klimaschutzpolitik angesehen. Die globalen Potenziale sind im IPCC-Bericht dargestellt. Im Gegensatz zu fossilen Energieträgern wird bei der Nutzung der erneuerbaren Energien mit Ausnahme der Bioenergie kein Kohlenstoffdioxid ausgestoßen, und auch diese ist weitgehend CO2-neutral. Der Einsatz erneuerbarer Energien bietet sowohl ökologisch als auch ökonomisch großes Potenzial, vor allem durch das weitgehende Vermeiden der mit anderen Energieformen verbundenen Folgeschäden, die als sog. externe Kosten hohe volkswirtschaftliche Wohlfahrtsverluste verursachen. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass erneuerbare Energien verglichen mit konventionellen Energienutzungsformen eine bessere Umweltbilanz aufweisen. Zwar liegt der Materialbedarf für diese Technologien höher als beim Bau von Wärmekraftwerken, die Umweltbelastung durch den höheren Materialbedarf ist jedoch gering verglichen mit den brennstoffbedingten direkten Emissionen von fossil befeuerten Kraftwerken. Durch Umstellung der Energieversorgung auf ein regeneratives Energiesystem lässt sich somit die durch den Energiesektor verursachte Umweltbelastung reduzieren. Die große Mehrheit der zu dem Thema durchgeführten Studien kommt zu dem Ergebnis, dass die vollständige Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energien sowohl technisch möglich als auch ökonomisch machbar ist. Verbesserung der Energieeffizienz Die Verbesserung der Energieeffizienz ist ein zentrales Element, um ambitionierte Klimaschutzziele zu erreichen und gleichzeitig die Energiekosten niedrig zu halten. Nimmt die Energieeffizienz zu, kann eine Dienstleistung oder ein Produkt mit weniger Energieverbrauch als zuvor angeboten oder hergestellt werden. Das heißt beispielsweise, dass in einer Wohnung weniger geheizt werden muss, ein Kühlschrank weniger Strom benötigt oder ein Auto einen geringeren Benzinverbrauch hat. In all diesen Fällen führt die zunehmende Effizienz zu einem abnehmenden Energieverbrauch und damit zu einem verringerten Treibhausgas-Ausstoß. McKinsey berechnete zudem, dass zahlreiche Energieeffizienz-Maßnahmen gleichzeitig einen volkswirtschaftlichen Gewinn abwerfen. In einer globalen Bilanz betrachtet muss jedoch ebenfalls der Rebound-Effekt berücksichtigt werden, der dazu führt, dass eine gesteigerte Energie- bzw. Ressourceneffizienz durch eine Mehrproduktion an Produkten oder Dienstleistungen teilweise wieder ausgeglichen wird. Es wird davon ausgegangen, dass die Energieeinsparung durch Energieeffizienzmaßnahmen durch Rebound-Effekt im Schnitt um 10 % gemildert wird, wobei Werte einzelner Studien zwischen 0 und 30 % schwanken. Durch Steigerung der Ressourcenproduktivität (siehe dazu auch Faktor 4), Verlängerung der Produktlebenszeiten und Verminderung der Obsoleszenz, beispielsweise bei Konsumgütern oder Verpackungen, kann ebenfalls Energie eingespart werden. Carbon Dioxide Removal Unter Carbon Dioxide Removal wird die Entfernung von Kohlendioxid aus der Atmosphäre verstanden, um den erhöhten Strahlungsantrieb künstlich wieder zu reduzieren. Erreicht werden kann dies durch den Einsatz von Techniken zum CO2-Entzug („negative Emission“). Hierzu zählen unter anderem: Bioenergie mit CO2-Abscheidung und -Speicherung, BECCS (Abscheidung von Kohlendioxid aus Biomasse und anschließende Speicherung im Boden) Direct Air Carbon Capture and Storage, DACCS (Abscheidung von Kohlendioxid aus der Luft und anschließende Speicherung im Boden) künstliche Verwitterung zum Binden von Kohlendioxid in Gestein Aufforstung und Wiederaufforstung von Wäldern zum Binden von Kohlendioxid in Biomasse Holzbau künstliche Erhöhung des Kohlendioxid-Gehaltes der Ozeane in pflanzlicher Biomasse oder durch Erhöhung der Alkalinität Steigerung des Kohlenstoffgehaltes im Boden durch veränderte Landbewirtschaftung Erzeugung von Biokohle zur Kohlenstoff-Speicherung im Boden Der Großteil der Modelle kommt zu dem Ergebnis, dass negative Emissionen notwendig sind, um die Erderwärmung auf 1,5 oder 2 Grad zu begrenzen. Gleichzeitig gilt es nach einem 2016 publizierten Review als sehr risikoreich, von vorneherein den Einsatz negativer Emissionstechnologien anzustreben, da es bisher keine derartigen Technologien gibt, mit denen das Zwei-Grad-Ziel ohne erhebliche negative Auswirkungen auf den Verbrauch von Flächen, Energie, Wasser oder Nährstoffen oder auf die Albedo erreicht werden kann. Aufgrund dieser Limitationen seien sie kein Ersatz für die sofortige und schnelle Reduzierung der heutigen Treibhausgasemissionen durch die Dekarbonisierung der Wirtschaft. Geoengineering Geoengineering umfasst bisher nicht eingesetzte technische Eingriffe in die Umwelt, um die Erwärmung abzumildern, darunter die Eisendüngung im Meer, um das Algenwachstum anzuregen und auf diese Weise CO2 zu binden, und das Einbringen von Aerosolen in die Stratosphäre zur Reflexion von Sonnenstrahlen (Solar Radiation Management). Während Eisendüngung als unbrauchbar gilt, werden dem Solar Radiation Management (SRM) in Studienmodellen Erfolgsaussichten zur Herunterkühlung des Klimas auf ein Niveau vor dem Industriezeitalter zugesprochen – gleichzeitig aber vor hohen Risiken dieser Methode gewarnt. Klimaschutz durch Verhaltensänderungen Persönliche Beiträge Individuelle Möglichkeiten für Beiträge zum Klimaschutz bestehen in Verhaltensumstellungen und verändertem Konsum mit Energieeinsparungen. Zu den zahlreichen Maßnahmen zur CO2-Reduktion zählen unter anderem: die Nutzung umweltfreundlicher Verkehrsmittel, insbesondere der öffentlichen Verkehrsmittel (siehe auch Verkehrsmittelvergleich), der Einsatz energieeffizienterer Geräte (siehe auch Energielabel), die optimale Einstellung und ggf. auch Nachrüstung von Heizungen sowie Wärmekraftmaschinen (Motoren); die Reduktion der Heizenergie respektive des Wärmeverlustes in Wohngebäuden (z. B. durch Einbau neuer Fenster, Wärmedämmung von Außenwänden, Dächern sowie des Kellers, Stoßlüften statt Dauerlüften), die Nutzung von Wärmepumpenheizungen, Solarthermie, Geothermie und Holz statt fossiler Energieträger zur Gebäudeheizung und Warmwasserversorgung, Umstieg auf Fernwärme, sofern verfügbar die Installation einer Photovoltaikanlage, der Kauf bzw. Einsatz der Mini-Kraft-Wärme-Kopplung in Form eines Blockheizkraftwerkes (ein Motor erzeugt Strom, die Abwärme wird zum Heizen genutzt). Nachhaltige Ernährung Schätzungen des IPCC (2007) zufolge gehen 10 bis 12 Prozent der globalen Emissionen von Treibhausgasen auf die Landwirtschaft zurück. Nicht berücksichtigt wurden hier jedoch unter anderem die Folgen der Abholzung größerer Flächen (u. a. Regenwald) für landwirtschaftliche Zwecke. Eine Studie im Auftrag von Greenpeace geht daher von einem agrarischen Anteil von 17 bis 32 Prozent an den von Menschen verursachten Treibhausgasen aus. In Großbritannien stehen etwa 19 Prozent der Treibhausgasemissionen im Zusammenhang mit Nahrungsmitteln (Landwirtschaft, Verarbeitung, Transport, Einzelhandel, Konsum, Abfall). Etwa 50 Prozent davon gehen diesen Schätzungen zufolge auf Fleisch und Milchprodukte zurück. Das Food Climate Research Network empfiehlt daher unter anderem marktorientierte und regulative Maßnahmen zu nachhaltigerer Produktion bzw. nachhaltigerem Konsum von Lebensmitteln (z. B. CO2-emissionsabhängige Preise/Steuern). Umstellung auf Pflanzen-basierte Ernährung kann laut einer Studie, in vier Ländertypen, zwischen 9 und 16 Jahren vergangener früherer CO2-Emissionen durch fossile Brennstoffe ausgleichen. Würde der globale Fleischkonsum ab 2015 innerhalb von 40 Jahren auf weniger als ein Drittel reduziert, sänken einer Modellsimulation zufolge die Lachgas- und Methanemissionen der Landwirtschaft unter das Niveau von 1995. Zur Reduzierung der nahrungsmittelbezogenen Emissionen wird oft der Konsum regionaler Lebensmittel empfohlen. 2019 hat das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung in einer Studie gezeigt, dass eine optimierte lokale Produktion die Emissionen weltweit aus dem Lebensmitteltransport um den Faktor zehn reduzieren könnte. Einer US-amerikanischen Ökobilanz von Weber und Matthews (2008) zufolge liegt der Beitrag des Transports zu den Emissionen der Lebensmittelversorgung in den USA aber nur bei 11 Prozent. Der Hauptanteil (83 Prozent) entstehe bei der Produktion, weswegen die Art der konsumierten Lebensmittel den größten Einfluss habe. Besonders kritisch bezüglich der Produktion von Treibhausgasen wird der Konsum von rotem Fleisch gesehen; stattdessen sollte eher auf Geflügel, Fisch, Eier oder Gemüse zurückgegriffen werden. Wirtschaftliche Strategien Neben politischen Weichenstellungen für eine Energiewende und den Kohleausstieg gehören auch wirtschaftliche Maßnahmen zum Repertoire klimaschützenden Vorgehens, z. B. der Rückzug von Investoren wie Versicherungen, Kreditinstituten und Banken aus Geldanlagen in fossil geprägte Industriebereiche und Unternehmen („Desinvestition“). Die Investitionen können stattdessen umgeleitet werden in nachhaltige Wirtschaftssektoren wie etwa erneuerbare Energien. So hat z. B. die Weltbank auf dem One Planet Summit Anfang Dezember 2017 in Paris angekündigt, ab 2019 keine Projekte zur Erschließung von Erdöl und Erdgas mehr zu finanzieren. Der Versicherungskonzern Axa teilte dort mit, in Zukunft keine Neubauten von Kohlekraftwerken mehr zu versichern und bis 2020 zwölf Mrd. Euro in „grüne“ Projekte investieren zu wollen. Umweltschutzorganisationen wie Urgewald legen hier den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten. Anpassungsstrategien Parallel zu vorbeugendem Klimaschutz in Form von Vermeidungsstrategien sind Anpassungen an bereits eingetretene bzw. künftig zu erwartende Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels notwendig: Die mit der Erderwärmung verbundenen negativen Folgen sollen so weit möglich gemindert und möglichst verträglich gestaltet werden; gleichzeitig wird die Nutzung regional möglicherweise positiver Folgen geprüft. Die Anpassungsfähigkeit variiert in Abhängigkeit von verschiedensten Parametern, darunter bestehende Kenntnisse zu örtlichen Klimaveränderungen oder z. B. der Entwicklungsstand und die ökonomische Leistungsfähigkeit eines Landes oder einer Gesellschaft. Insgesamt wird speziell in sozio-ökonomischer Hinsicht die Fähigkeit zur Anpassung stark durch die Vulnerabilität geprägt. Der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) zählt die am wenigsten fortgeschrittenen „Entwicklungsländer“ zu den Ländern und Regionen mit besonders hoher Vulnerabilität. Die Anpassung an die Folgen der Erderwärmung hat vor allem kurz- bis mittelfristige Wirkung. Da die Anpassungsfähigkeit von Gesellschaften jedoch begrenzt ist und eine starke Erderwärmung bereits getätigte Anpassungsmaßnahmen wieder zunichtemachen kann, kann Anpassung keine Alternative zum vorbeugenden Klimaschutz sein, sondern nur eine Ergänzung dazu. Die Palette potenzieller Anpassungsmaßnahmen reicht von rein technologischen Maßnahmen (z. B. Küstenschutz) über Verhaltensänderungen (z. B. Ernährungsverhalten, Wahl der Urlaubsziele) und betriebswirtschaftlichen Entscheidungen (z. B. veränderte Landbewirtschaftung) bis zu politischen Entscheidungen (z. B. Planungsvorschriften, Emissionsminderungsziele). Angesichts der Tatsache, dass der Klimawandel sich auf viele Sektoren einer Volkswirtschaft auswirkt, ist die Integration von Anpassung z. B. in nationale Entwicklungspläne, Armutsbekämpfungsstrategien oder sektorale Planungsprozesse eine zentrale Herausforderung; viele Staaten haben daher Anpassungsstrategien entwickelt. In der im Jahr 1992 verabschiedeten Klimarahmenkonvention (UNFCCC), die mittlerweile von 192 Staaten ratifiziert worden ist, spielte das Thema Anpassung noch kaum eine Rolle gegenüber der Vermeidung eines gefährlichen Klimawandels (Artikel 2 der UNFCCC). Für das Kyoto-Protokoll, das 1997 vereinbart wurde und 2005 in Kraft trat, gilt das zwar ähnlich, doch wurde dort grundsätzlich der Beschluss zur Einrichtung eines speziellen UN-Anpassungsfonds („Adaptation Fund“) gefasst, um die besonders betroffenen Entwicklungsländer bei der Finanzierung von Anpassungsmaßnahmen zu unterstützen. Dazu soll auch der Green Climate Fund der Vereinten Nationen beitragen, der während der Klimakonferenz 2010 in Cancún eingerichtet wurde. Für den Fonds stellen Industrienationen Gelder bereit, damit sich Entwicklungsländer besser an den Klimawandel anpassen können. Globale Erwärmung als Thema in Bildung, Film, Literatur und Kunst Die globale Erwärmung ist zunehmend auch ein Thema in Kunst, Literatur und Film; dargestellt wird das Thema zum Beispiel in den Katastrophenfilmen oder . Zudem existieren eine ganze Reihe von Dokumentarfilmen: Eine unbequeme Wahrheit gilt mit als Kernbotschaft von Nobelpreisträger Al Gore zum anthropogenen Klimawandel. Auch der schwedische Dokumentarfilm Unser Planet befasst sich unter anderem mit dem Klimawandel und beinhaltet Interviews mit verschiedenen Klimaforschern. Der US-amerikanische Dokumentarfilm Chasing Ice hat den Gletscherschwund als Folge der globalen Erwärmung zum Inhalt und porträtiert das Extreme-Ice-Survey-Projekt des Naturfotografen James Balog. Literarisch wird das Thema u. a. in den 2010 erschienenen Romanen des britischen Schriftstellers Ian McEwan (Solar) oder des Autorengespanns Ann-Monika Pleitgen und Ilja Bohnet (Kein Durchkommen) verarbeitet. Hier wird mittlerweile in Analogie zur „Science-Fiction“ von der Entstehung einer neuen literarischen Gattung gesprochen, der Climate-Fiction (CliFi). 2013 erschien unter Ägide des Wissenschaftlichen Beirats der deutschen Bundesregierung Globale Umweltveränderungen der Comic Die Große Transformation. Klima – Kriegen wir die Kurve? (→ Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation). Cape Farewell ist ein internationales gemeinnütziges Projekt des britischen Künstlers David Buckland. Ziel ist die Zusammenarbeit von Künstlern, Wissenschaftlern und „Kommunikatoren“ (u. a. Medienvertretern) zum Thema Klimawandel. Im Rahmen des Projekts wurden verschiedene Expeditionen zur Arktis und in die Anden durchgeführt, die u. a. filmisch, fotografisch, literarisch und musikalisch verarbeitet wurden (u. a. in den Filmen Art from the Arctic und Burning Ice). Italiens Bildungsminister Lorenzo Fioramonti kündigte im November 2019 an, das Thema globale Erwärmung bzw. Klimawandel ab September 2020 als verpflichtenden Lehrstoff in verschiedene Fächer in öffentlichen Schulen in Italien zu integrieren. Während die 6- bis 11-Jährigen über Geschichten aus anderen Kulturen mit dem Thema Umwelt vertraut gemacht werden sollen, werde dies in der Mittelstufe über technische Informationen geschehen. In der Oberstufe sollen die Schüler an das UN-Programm „Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ herangeführt werden. Angestrebter Umfang war eine Schulstunde (à 45 Minuten) pro Woche. Literatur Tim Flannery: Wir Wettermacher. Wie die Menschen das Klima verändern und was das für unser Leben auf der Erde bedeutet. S. Fischer, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-10-021109-X. Kirstin Dow, Thomas E. Downing: Weltatlas des Klimawandels – Karten und Fakten zur globalen Erwärmung. Europäische Verlagsanstalt, ISBN 978-3-434-50610-2. 2008, Mark Maslin: Global Warming: A Very Short Introduction. Oxford University Press, ISBN 978-0-19-954824-8. 2009, John Houghton: Global Warming: The Complete Briefing. 4. Auflage. Cambridge University Press, ISBN 978-0-521-70916-3. Mojib Latif: Klimawandel und Klimadynamik. Ulmer, Stuttgart, ISBN 978-3-8252-3178-1. Andreas Lienkamp: Klimawandel und Gerechtigkeit. Eine Ethik der Nachhaltigkeit in christlicher Perspektive. Schöningh, Paderborn, ISBN 978-3-506-76675-5. Marco Müller, Giovanni Danielli: Kompaktwissen Klimawandel. Schweizerische Massnahmen und Instrumente. Verlag Rüegger, Zürich 2010, ISBN 978-3-7253-0925-2. Oktober, Landeshauptstadt Stuttgart, Referat Städtebau und Umwelt, Amt für Umweltschutz, Abteilung Stadtklimatologie, in Verbindung mit der Abteilung Kommunikation (Hrsg.): Schriftenreihe des Amtes für Umweltschutz – Heft 3/2010: Der Klimawandel – Herausforderung für die Stadtklimatologie, . Mojib Latif: Globale Erwärmung. UTB, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8252-3586-4. November 2013, Friedrich-Wilhelm Gerstengarbe und Harald Welzer (Hrsg.): Zwei Grad mehr für Deutschland. 1. Auflage, S. Fischer, ISBN 978-3-596-18910-6. 2014, Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC): Climate Change 2013/14. (AR 5) Synthesebericht, WG I, Physikalische Basis, WG II, Folgen, Anpassung und Vulnerabilität, WG III, Bewältigung des Klimawandels. Jochem Marotzke, Martin Stratmann (Hrsg.): Die Zukunft des Klimas. Neue Erkenntnisse, neue Herausforderungen. Ein Report der Max-Planck-Gesellschaft. Beck, München 2015, ISBN 978-3-406-66968-2. 2018, Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC): Sonderbericht 1,5 °C globale Erwärmung, Website des Reports (englisch). Stefan Rahmstorf, Hans Joachim Schellnhuber: Der Klimawandel. 8. Auflage. Beck, München, ISBN 978-3-406-72672-9. United In Science - High-level synthesis report of latest climate science information convened by the Science Advisory Group of the UN Climate Action Summit 2019, Weltorganisation für Meteorologie. Jörg Phil Friedrich: Was kommt nach dem Klimawandel? Eine Spekulation Heise Medien, Hannover 2019, ISBN 978-3-95788-179-3. 2020, Sven Plöger: Zieht euch warm an, es wird heiß! Westend Verlag, ISBN 978-3-86489-286-8. Mark Lynas: 6 Grad mehr. Die verheerenden Folgen der Erderwärmung. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, ISBN 978-3-499-00442-1. Weblinks Website (englisch) des IPCC, sowie deren Deutsche Koordinationsstelle mit Übersetzungen der Berichte Climate Service Center – Informationsportal des Helmholtz-Zentrums Geesthacht zur Klimaforschung Klimawiki des Hamburger Bildungsservers Klimawandel-Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung Informationsportal Klimawandel der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik in Österreich Climate Change: Evidence & Causes (englisch) der Royal Society und National Academy of Sciences Klima und Energie des Deutschen Umweltbundesamtes Was wir heute übers Klima wissen. Basisfakten zum Klimawandel, die in der Wissenschaft unumstritten sind. Faktenpapier des Deutschen Klima-Konsortiums, der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft, dem Deutschen Wetterdienst, dem Extremwetterkongress Hamburg, der Helmholtz-Klima-Initiative und klimafakten.de, Stand September 2022. Anmerkungen Einzelnachweise Klimatologie Klimafolgenforschung Umweltschutz Nachhaltigkeit Wärmeanomalie Wikipedia:Artikel mit Video
1845
https://de.wikipedia.org/wiki/Gene%20Hackman
Gene Hackman
Eugene „Gene“ Allen Hackman (* 30. Januar 1930 in San Bernardino, Kalifornien) ist ein ehemaliger US-amerikanischer Schauspieler, ein vierfacher Golden-Globe- sowie zweifacher Oscar-Preisträger. Hackman zählte drei Jahrzehnte zu den führenden amerikanischen Charakterdarstellern und erlangte unter anderem 1971 mit der Rolle des unkonventionellen Drogenfahnders Jimmy „Popeye“ Doyle in French Connection – Brennpunkt Brooklyn große Bekanntheit. Für seine Rollen in French Connection und in dem Western Erbarmungslos aus dem Jahr 1992 wurde er jeweils mit dem Oscar ausgezeichnet. Leben Hackman wuchs bei seiner Großmutter in Danville im US-Bundesstaat Illinois auf. Seine Eltern ließen sich scheiden, als er noch ein Kind war. Seine Schulbildung brach Hackman 1947 ab und trat – trotz seiner Minderjährigkeit – dem Militär bei. Beim Marine Corps diente er mehrere Jahre lang als Funker. Nach seiner Entlassung studierte Hackman in New York Journalistik und arbeitete bei zahlreichen Rundfunkstationen im ganzen Land. Anfang der 1950er-Jahre beschloss er, Schauspieler zu werden. In Los Angeles besuchte er die Playhouse Acting School und gab in The Curious Miss Caraway sein Bühnendebüt. Er brach die Ausbildung dort nach drei Monaten ab. Zurück in New York teilte sich Hackman eine Ein-Zimmer-Wohnung mit seinen früheren Kommilitonen Dustin Hoffman und Robert Duvall, mit denen er auch später befreundet blieb. Alle drei Schauspieler lebten jahrelang in sehr bescheidenen Verhältnissen. Erst in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren gelang den drei Schauspielern der Durchbruch in Hollywood. Nach mehreren Auftritten am Broadway (u. a. in Any Wednesday) und im Fernsehen (The United States Steel Hour) spielte Gene Hackman 1961 in seinem ersten Kinofilm, Der Tollwütige, mit. 1964 lernte er bei den Dreharbeiten zu Lilith Warren Beatty kennen, der ihm drei Jahre später eine Rolle in dem Verbrecher-Drama Bonnie und Clyde verschaffte. Der große Erfolg des Films brachte Hackmans Karriere weiter voran. Für seine Darstellung des Gangsters Buck Barrow wurde er außerdem als Bester Nebendarsteller für einen Oscar nominiert. 1970 erhielt er für seine Rolle in dem Familiendrama Kein Lied für meinen Vater erneut eine Nominierung. Gene Hackman war bereits über 40 Jahre alt, als ihm 1971 mit dem New-Hollywood-Klassiker French Connection – Brennpunkt Brooklyn der internationale Durchbruch gelang. Der mit einem geringen Budget von 1,8 Millionen US-Dollar und ohne Stars realisierte Film wurde zu einem großen Kassenerfolg und spielte mehr als 50 Millionen Dollar ein. Hackman (der die Rolle bekommen hatte, nachdem sie von zahlreichen anderen Schauspielern abgelehnt worden war) trat als fanatischer Drogenfahnder „Popeye“ Doyle in Erscheinung und wurde für seine Darstellung mit einem Oscar ausgezeichnet. Hackman hatte sich in Hollywood nun endgültig als einer der führenden Charakterdarsteller etabliert und konnte diesen Status gut drei Jahrzehnte lang halten. Seine Gage stieg im Lauf der 1970er-Jahre von 100.000 Dollar (French Connection) auf zwei Millionen (Superman). Nach French Connection folgten Auftritte in Die Höllenfahrt der Poseidon, Asphalt-Blüten mit Al Pacino und Der Dialog von Francis Ford Coppola. 1975 spielte er unter der Regie von Arthur Penn in einem der wichtigsten Neo-Noir-Filme, Die heiße Spur. 1978, 1980 und 1987 spielte er in den Superman-Filmen mit Christopher Reeve den Bösewicht und Superman-Gegenspieler Lex Luthor. 1983 spielte er in Ted Kotcheffs Kriegsfilm Die verwegenen Sieben zusammen mit Fred Ward die Hauptrolle. Für seine Rolle als FBI-Agent Anderson in dem Südstaaten-Drama Mississippi Burning – Die Wurzel des Hasses wurde er 1988 abermals für einen Oscar als Bester Hauptdarsteller nominiert. In den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren schien Hackman bei der Rollenauswahl weniger anspruchsvoll zu sein und spielte, offensichtlich aus rein finanziellen Erwägungen, in zahlreichen Filmen mit, die bei Kritik und Publikum nur wenig Resonanz fanden. Allein zwischen 1988 und 1991 war der Darsteller in elf Filmen zu sehen. Das Angebot, als Regisseur und Darsteller (des Hannibal Lecter) den Psychothriller Das Schweigen der Lämmer zu realisieren, lehnte er allerdings ab, da ihm der düstere Stoff nicht zusagte. Gene Hackman gelang es ab 1992, seine Karriere durch eine sorgfältige Rollenauswahl wieder zu stabilisieren. Er reduzierte sein Arbeitspensum und drehte in der Regel noch ein bis zwei Filme pro Jahr. Einige seiner größten kommerziellen Erfolge konnte er in den 1990er-Jahren feiern. Unter anderem wirkte er in Clint Eastwoods Spätwestern Erbarmungslos mit, wofür er einen Oscar als Bester Nebendarsteller erhielt. Darüber hinaus war er in der Grisham-Verfilmung Die Firma, in dem Western Schneller als der Tod und als U-Boot-Kommandant in dem Meuterei-Film Crimson Tide zu sehen. In Der Staatsfeind Nr. 1 nahm er das Rollenprofil eines Abhörspezialisten wieder auf, was als Hommage an die von ihm dargestellte Figur in dem Psychodrama Der Dialog gedacht war. In den Filmkomödien Schnappt Shorty, The Birdcage – Ein Paradies für schrille Vögel, Die Royal Tenenbaums und Heartbreakers – Achtung: Scharfe Kurven! stellte er sein komisches Talent unter Beweis. 2003 stand er in dem Gerichtsdrama Das Urteil, wieder nach einem Roman von John Grisham, das einzige Mal mit seinem Freund Dustin Hoffman vor der Kamera. Sein bisher letzter Film war die Komödie Willkommen in Mooseport (2004) an der Seite von Ray Romano. Bis 2004 wirkte er in über 80 Filmproduktionen mit. Am 7. Juli 2004 gab Hackman in einem Interview mit dem Talkmaster Larry King bekannt, dass er keine weiteren Filmangebote habe und er davon ausgehe, dass seine Filmkarriere zu Ende sei. Tatsächlich ist Hackman seitdem in keinem Film mehr aufgetreten. 2008 bestätigte er in einem Interview, dass er nicht mehr als Schauspieler agieren will. Sein Schaffen umfasst damit, beginnend mit Fernsehauftritten im Jahr 1959, die Beteiligung an 100 Film- und Fernsehproduktionen. Gene Hackman betätigte sich neben seiner Schauspielkarriere auch als Schriftsteller. Er schrieb in Zusammenarbeit mit Daniel Lenihan u. a. die Romane Wake of the Perdido Star, Payback at Morning Peak und (dt.) Jacks Rache. Hackman ist seit 1991 mit Betsy Arakawa verheiratet und lebte in Santa Fe in New Mexico. Aus seiner ersten Ehe mit Faye Maltese (1928–2017), mit der er von 1956 bis 1986 verheiratet war, stammen drei Kinder. Mittlerweile lebt er in seiner Heimatstadt Danville in Illinois, wo er seinen Ruhesitz hat. In der Downtown der Kleinstadt ziert ein Graffito eine Hauswand, auf dem er und andere berühmte Bürger der Stadt zu sehen sind. Deutsche Synchronstimmen Seine Synchronsprecher wechselten im Laufe der Jahrzehnte. Am häufigsten wurde Hackman von Horst Niendorf synchronisiert, der ihn zwischen 1971 und 1990 neunzehnmal sprach. Seit 1993 lieh ihm Klaus Sonnenschein elfmal seine Stimme. Hackman wurde außerdem von Hartmut Neugebauer, Engelbert von Nordhausen, Rolf Schult, Michael Chevalier oder Wolfgang Kieling synchronisiert. Motorsport Gene Hackman war zwischen 1978 und 1984 auch einige Jahre als Amateur-Rennfahrer bei Sportwagenrennen aktiv. Er ging unter anderem beim 24-Stunden-Rennen von Daytona und dem 12-Stunden-Rennen von Sebring an den Start. Filmografie Auszeichnungen Oscars 1972: Bester Hauptdarsteller in French Connection – Brennpunkt Brooklyn 1993: Bester Nebendarsteller in Erbarmungslos Oscar-Nominierungen 1968: Bester Nebendarsteller in Bonnie und Clyde 1971: Bester Nebendarsteller in Kein Lied für meinen Vater 1989: Bester Hauptdarsteller in Mississippi Burning – Die Wurzel des Hasses Golden Globes 1972: Golden Globe Award in der Kategorie Bester Hauptdarsteller in einem Drama für French Connection – Brennpunkt Brooklyn 1993: Golden Globe Award in der Kategorie Bester Nebendarsteller für Erbarmungslos 2002: Golden Globe Award in der Kategorie Bester Hauptdarsteller in einer Komödie für Die Royal Tenenbaums 2003: Golden Globe Award (Cecil B. DeMille Award) für sein Lebenswerk Golden-Globe-Nominierungen 1975: Nominierung in der Kategorie Bester Hauptdarsteller in einem Drama für Der Dialog 1976: Nominierung in der Kategorie Bester Hauptdarsteller in einem Drama für French Connection II 1984: Nominierung in der Kategorie Bester Nebendarsteller für Under Fire 1986: Nominierung in der Kategorie Bester Hauptdarsteller in einem Drama für Zweimal im Leben 1989: Nominierung in der Kategorie Bester Hauptdarsteller in einem Drama für Mississippi Burning – Die Wurzel des Hasses Weitere Auszeichnungen 1963: Clarence Derwent Award für Children from their Games 1968: NSFC Award für Bonnie and Clyde 1972: NYFCC Award für The French Connection 1972: KCFCC Award für The French Connection 1972: NBR Award für The French Connection 1973: Britischer Filmpreis für The French Connection 1973: Britischer Filmpreis für The Poseidon Aventure 1974: NBR Award für The Conversation 1976: Bronze Wrangler (Western Heritage Awards) für Bite the Bullet (gem. mit anderen) 1988: NBR Award für Mississippi Burning 1989: Silberner Bär für Mississippi Burning (Internationale Filmfestspiele Berlin 1989) 1992: LAFCA Award für Unforgiven 1992: NYFCC Award für Unforgiven 1993: BAFTA Award für Unforgiven 1993: KCFCC Award für Unforgiven 1993: NSFC Award für Unforgiven 1993: Bronze Wrangler (Western Heritage Awards) für Unforgiven (gem. mit anderen) 1994: Bronze Wrangler (Western Heritage Awards) für Geronimo: An American Legend (gem. mit anderen) 1997: Blockbuster Entertainment Award für The Birdcage 1997: Screen Actors Guild Award für The Birdcage (gem. mit anderen) 2002: AFI Film Award für The Royal Tenenbaums 2002: CFCA Award für The Royal Tenenbaums 2002: NSFC Award für The Royal Tenenbaums Motorsport-Statistik Sebring-Ergebnisse Literatur Michael Hanisch: Ein Charakter. Wandlungsfähig: Gene Hackman. In: film-dienst. 58. Jahrgang Nr. 3/2005, S. 60–61, . Weblinks Hackman-Porträt von G. Seeßlen in der filmzentrale.com Gene Hackman bei Racing Sports Cars Einzelnachweise Filmschauspieler Theaterschauspieler Oscarpreisträger Golden-Globe-Preisträger Person als Namensgeber für einen Asteroiden Rennfahrer (Vereinigte Staaten) Rennfahrer des 12-Stunden-Rennens von Sebring US-Amerikaner Geboren 1930 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gwyneth%20Paltrow
Gwyneth Paltrow
Gwyneth Katherine Paltrow (* 27. September 1972 in Los Angeles, Kalifornien) ist eine US-amerikanische Schauspielerin, Unternehmerin, Model und Sängerin. Sie ist Oscar-, Golden-Globe- und Emmy-Preisträgerin. Leben und Karriere Paltrow wurde als Tochter des Regisseurs und Fernsehproduzenten Bruce Paltrow und der Schauspielerin Blythe Danner geboren. Ihr Vater war polnisch-jüdischer und belarussisch-jüdischer Herkunft, während ihre Mutter eine Quäkerin der Pennsylvania Dutch mit entfernteren englischen Vorfahren aus Barbados ist. Paltrows Ururgroßvater väterlicherseits hieß ursprünglich Paltrowicz und war ein Rabbiner in Nowogród (Polen). Ihr Bruder Jake Paltrow ist ebenfalls in der Filmbranche tätig, ihre Cousine Katherine Sian Moennig ist auch Schauspielerin. Als Paltrow 15 Jahre alt war, verbrachte sie ein Jahr in Spanien. Seitdem spricht sie fließend Spanisch, am 12. April 2003 wurde sie zur Ehrenbürgerin ihrer Austauschstadt Talavera de la Reina ernannt. Sie absolvierte die High School und besuchte anschließend die University of California, Santa Barbara, wo sie Kunstgeschichte studierte. Sie brach das Studium ab und widmete sich der Schauspielerei; sie hatte ihr Talent schon früher bewiesen, als sie zusammen mit ihrer Mutter in Theaterstücken mitwirkte. Im Jahr 1990 gab Paltrow ihr professionelles Theaterdebüt. Ihre erste Filmrolle spielte sie in Shout (1991) an der Seite von John Travolta. Im selben Jahr spielte sie unter der Regie ihres Patenonkels Steven Spielberg die junge Wendy in dem Fantasyfilm Hook. Kleinere Rollen hatte sie in den Thrillern Flesh And Bone – Ein blutiges Erbe (1993) und Malice – Eine Intrige (1993), neben Nicole Kidman. Größere Bekanntheit erlangte Paltrow 1995 an der Seite von Brad Pitt und Morgan Freeman mit einer Nebenrolle in dem Film Sieben, der ein internationaler Kinoerfolg war und ihr eine Nominierung für den Satellite Award einbrachte. 1996 spielte sie die Titelrolle in der Verfilmung von Jane Austens Emma, wofür sie positive Kritiken erhielt. 1997 war sie im Gespräch für die Rolle der Rose in dem Drama Titanic von James Cameron, die dann aber mit Kate Winslet besetzt wurde. 1998 gelang Paltrow der internationale Durchbruch mit der Hauptrolle der Viola De Lesseps in der Liebeskomödie Shakespeare in Love, in der sie die fiktive Freundin von William Shakespeare (Joseph Fiennes) spielte. Der Film war bei Kritikern wie beim Kinopublikum ein Erfolg, und sie wurde für ihre Darbietung mit zahlreichen Filmpreisen ausgezeichnet. Sie erhielt unter anderem den Oscar als Beste Hauptdarstellerin, einen Golden Globe als Beste Hauptdarstellerin – Musical oder Komödie und den Screen Actors Guild Award für die Beste weibliche Hauptrolle. 1999 war sie an der Seite von Jude Law, Matt Damon und Cate Blanchett in dem Drama Der talentierte Mr. Ripley zu sehen. 2000 spielte sie neben Ben Affleck in dem Liebesfilm Bounce – Eine Chance für die Liebe. 2001 war sie als Margot Tenenbaum in dem Ensemblefilm Die Royal Tenenbaums zu sehen und in der Hauptrolle der Komödie Schwer verliebt an der Seite von Jack Black, wofür sie teilweise einen Fettanzug tragen musste. Sie spielte auch die Hauptrolle in der erfolglosen Komödie Flight Girls (2003), für die sie 10 Millionen US-Dollar Gage erhielt, und war neben Angelina Jolie in Sky Captain and the World of Tomorrow (2004) zu sehen. 2006 erhielt Paltrow für das Drama Der Beweis – Liebe zwischen Genie und Wahnsinn (2005) erneut eine Nominierung für den Golden Globe. 2007 spielte sie die Hauptrolle in The Good Night unter der Regie ihres Bruders Jake. Das US-Forbes Magazine zählte sie 2008 zu den bestbezahlten Schauspielerinnen Hollywoods. Zwischen Juni 2007 und Juni 2008 erhielt sie Gagen in Höhe von 25 Mio. US-Dollar, womit sie zusammen mit Reese Witherspoon hinter Cameron Diaz, Keira Knightley und Jennifer Aniston auf Platz vier rangierte. 2008 gründete Paltrow die Website Goop auf Basis eines Newsletters mit persönlichen Lebensstil-Tipps von ihr und einem angeschlossenen Onlineshop mit dazu passenden Produkten. Im selben Jahr trat sie als Pepper Potts in dem Actionfilm Iron Man mit Robert Downey Jr. auf. Der Film spielte weltweit über 500 Millionen US-Dollar ein und sie wurde für einen Teen Choice Award in der Kategorie Choice Movie Actress nominiert. In der Fortsetzung Iron Man 2 wiederholte sie ihre Rolle und wurde erneut für einen Teen-Choice-Award und einen Scream-Award als Beste Action-Darstellerin nominiert. Am 13. Dezember 2010 wurde sie mit einem Stern (Nr. 2427) auf dem Walk of Fame in Hollywood geehrt. Bis April 2019 spielte Paltrow in fünf weiteren Produktionen aus dem Marvel Cinematic Universe die Rolle der Pepper Potts. Daneben spielte sie seit Iron Man 2 in fünf anderen Kinofilmen mit, außerdem war sie in den Serien Glee (2010, 2011 und 2014) und Web Therapy (2014) zu sehen. Im März 2011 erreichte Paltrow mit dem Song Do You Wanna Touch Me? (Oh Yeah!) – einer Coverversion des gleichnamigen Songs von Gary Glitter (1973) – Platz 1 der australischen Charts. Im selben Jahr erhielt sie für ihren Gastauftritt als Holly Holliday in der US-amerikanischen Fernsehserie Glee einen Emmy. Paltrows deutsche Standard-Synchronsprecherin ist Katrin Fröhlich. Persönliches Nach Beziehungen mit Brad Pitt (von 1995 bis 1997 verlobt) und Ben Affleck (von 1998 bis 2000 liiert) heiratete Paltrow am 5. Dezember 2003 in Kalifornien Chris Martin, den Sänger der britischen Band Coldplay. Am 14. Mai 2004 wurde die gemeinsame Tochter geboren. Am 9. April 2006 brachte sie in New York ihr zweites Kind, einen Sohn, zur Welt. Sie und ihr Mann waren früher Vegetarier. Am 25. März 2014 gab sie auf ihrer Website mit ihrem Ehemann Martin zusammen die Trennung bekannt. Seit Juli 2016 sind Paltrow und Martin geschieden. 2014 konvertierte Paltrow zum Judentum. Im Januar 2018 gab Paltrow ihre Verlobung mit dem TV-Produzenten Brad Falchuk bekannt und heiratete ihn im September 2018. Diskografie Singles Mit Glee Cast Weitere Songs 1996: Silent Worship (mit Ewan McGregor) 2000: Just My Imagination (Running Away with Me) (mit Babyface) 2002: It's Only Love (mit Sheryl Crow) 2006: What Is This Thing Called Love? (mit Mark Rubin Band) 2010: Travis 2010: A Fighter 2010: Coming Home 2010: Shake That Thing 2011: This Woman's Work 2011: Over the Rainbow (mit Matthew Morrison) 2013: Waiting on June (mit Holly Williams) 2014: Party All the Time (mit Glee Cast) 2014: Happy (mit Glee Cast) Filmografie (Auswahl) Kinofilme Fernsehen 1992: Das Gift des Zweifels (Cruel Doubt) (Fernsehfilm) 1993: Das Biest hinter der Maske (Deadly Relations) (Fernsehfilm) 1997: Thomas Jefferson (Mini-Serie; Sprechrolle) 2008: Classical Baby (I’m Grown Up Now): The Poetry Show (Fernsehfilm) 2010–2011, 2014: Glee (Fernsehserie, 5 Folgen) 2014: Web Therapy (Webserie, 2 Folgen) 2019–2020: The Politician (Fernsehserie, 13 Folgen) 2020: The Goop Lab (Dokuserie, 6 Folgen) Auszeichnungen und Nominierungen (Auswahl) Oscar 1999: Auszeichnung als Best Actress in a Leading Role für Shakespeare in Love Bambi 2011: Auszeichnung in der Kategorie Film International British Academy Film Award 1999: Nominierung in der Kategorie Best Performance by an Actress in a Leading Role für Shakespeare in Love Blockbuster Entertainment Award 1998: Nominierung als Favorite Actress – Comedy/Romance für Shakespeare in Love 1999: Auszeichnung als Favorite Actress – Suspense für Ein perfekter Mord 2000: Nominierung als Favorite Actress – Suspense für Der talentierte Mr. Ripley 2001: Auszeichnung als Favorite Actress – Drama/Romance für Bounce – Eine Chance für die Liebe Emmy 2011: Beste Gastdarstellerin in einer Comedyserie für Glee Golden Globe 1999: Auszeichnung in der Kategorie Best Performance by an Actress in a Motion Picture – Comedy/Musical für Shakespeare in Love 2006: Nominierung in der Kategorie Best Performance by an Actress in a Motion Picture – Drama für Der Beweis – Liebe zwischen Genie und Wahnsinn Goldene Himbeere 2016: Nominierung in der Kategorie Worst Actress für Mortdecai – Der Teilzeitgauner Goldene Kamera 2014: Auszeichnung in der Kategorie Beste Schauspielerin International Independent Spirit Award 2010: Nominierung als Best Female Lead für Two Lovers MTV Movie Award 1999: Nominierung in der Kategorie Best Female Performance für Shakespeare in Love 1999: Auszeichnung in der Kategorie Best Kiss (mit Joseph Fiennes) für Shakespeare in Love 2001: Nominierung in der Kategorie Best Kiss (mit Ben Affleck) für Bounce 2005: Nominierung in der Kategorie Best Kiss (mit Jude Law) für Sky Captain and the World of Tomorrow Satellite Award 1997: Nominierung in der Kategorie Best Performance by an Actress in a Motion Picture – Comedy or Musical für Jane Austens Emma 1999: Nominierung in der Kategorie Best Performance by an Actress in a Motion Picture – Comedy or Musical für Shakespeare in Love 2002: Nominierung in der Kategorie Best Performance by an Actress in a Supporting Role, Comedy or Musical für Die Royal Tenenbaums 2010: Nominierung in der Kategorie Best Original Song für das Lied Country Stong aus dem Film Country Strong Screen Actors Guild Award 1999: Auszeichnung in der Kategorie Outstanding Performance by a Cast für Shakespeare in Love 1999: Auszeichnung in der Kategorie Outstanding Performance by a Female Actor in a Leading Role für Shakespeare in Love Teen Choice Award 1999: Nominierung in der Kategorie Film – Sexiest Love Scene (mit Joseph Fiennes) für Shakespeare in Love 1999: Nominierung in der Kategorie Film – Choice Actress für Shakespeare in Love 2002: Nominierung in der Kategorie Film – Choice Actress, Comedy für Schwer verliebt 2008: Nominierung in der Kategorie Choice Movie Actress: Action Adventure für Iron Man Veröffentlichungen Notes From My Kitchen Table: Delicious Recipes For Healthy, Happy Living. Boxtree, London 2011, ISBN 978-0-7522-2789-4. My Father’s Daughter: Delicious, Easy Recipes Celebrating Family & Togetherness. Grand Central Life & Style, New York 2011, ISBN 978-0-4465-5731-3. It’s All Good: Delicious, Easy Recipes That will make You Look Good And Feel Great. Grand Central Life & Style, New York 2013, ISBN 978-1-4555-2271-2. It’s All Easy: Delicious Weekdays Recipes for the Super-Busy Home Cook. Grand Central Life & Style, New York 2016, ISBN 978-1-4555-8421-5. Weblinks Offizielle Website von Gwyneth Paltrow (englisch) Einzelnachweise Filmschauspieler Theaterschauspieler Oscarpreisträger Golden-Globe-Preisträger Emmy-Preisträger Darstellender Künstler (Los Angeles) Ben Affleck Chris Martin US-Amerikaner Geboren 1972 Frau
1848
https://de.wikipedia.org/wiki/George%20W.%20Bush
George W. Bush
George Walker Bush , meist abgekürzt George W. Bush [] (* 6. Juli 1946 in New Haven, Connecticut), ist ein US-amerikanischer Politiker der Republikanischen Partei und war von 2001 bis 2009 der 43. Präsident der Vereinigten Staaten. Als Sohn des späteren 41. US-Präsidenten George H. W. Bush wurde er in eine einflussreiche Familie hineingeboren. Er bekleidete nach einer Unternehmertätigkeit in der Ölindustrie von 1995 bis 2000 das Amt des Gouverneurs von Texas. Bei der US-Präsidentschaftswahl 2000 wurde er gegen den Demokraten und damals amtierenden Vizepräsidenten Al Gore nach einer umstrittenen Auszählung und Gerichtsentscheidung zum Sieger erklärt und 2004 wiedergewählt. Als Reaktion auf die Terroranschläge am 11. September 2001 begann Bush 2001 den Krieg in Afghanistan und 2003 den völkerrechtlich umstrittenen Irakkrieg. Im Rahmen eines umfassend konzipierten „Krieges gegen den Terror“ ließ er zusätzlich – unter weltweiter Kritik – Bürgerrechte im USA PATRIOT Act einschränken und rechtsstaatliche Grundsätze in Ermittlungsverfahren, wie die Ächtung von Folter aussetzen (siehe Guantanamo Bay). Im Sinne einer neokonservativen Außenpolitik identifizierte Bush eine „Achse des Bösen“ von „Schurkenstaaten“, gegen die die Vereinigten Staaten als hegemoniale Weltmacht das westliche, wirtschaftlich und politisch liberale Modell ausbreiten sollten bis hin zu einem militärischen Interventionsrecht (Bush-Doktrin). Bush steigerte die Militärausgaben und das Staatsdefizit erheblich; seine innenpolitische Ausgangsidee des „mitfühlenden Konservatismus“ sorgte für Initiativen wie die No-Child-Left-Behind-Politik, während er mit Steuersenkungen und Deregulierungsmaßnahmen eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik verfolgte. Bushs Ansehen sank nach hohen Kriegsverlusten, dem Hurrikan Katrina und der Finanzkrise ab 2007, begann sich jedoch nach dem Ende seiner Amtszeit wieder zu erholen. Familie, Ausbildung und Persönliches Bush ist Angehöriger einer wohlhabenden und einflussreichen Familie. Laut dem Genealogen Gary Boyd Roberts führt eine Abstammungslinie von George W. Bush zu den Pilgervätern der Mayflower. Einer seiner Vorfahren heiratete eine Urenkelin von Pocahontas. Zudem bestehen verwandtschaftliche Beziehungen zu 16 früheren US-Präsidenten. Sein Großvater war der Unternehmer und Senator Prescott Bush. Der als Sohn von Barbara Bush (1925–2018) und George H. W. Bush (1924–2018) geborene George W. wuchs zusammen mit seinen vier jüngeren Geschwistern Jeb, Neil, Marvin und Dorothy in Midland und Houston auf. Eine weitere jüngere Schwester, Robin, verstarb 1953 dreijährig an Leukämie. Sein Bruder Jeb war von 1999 bis 2007 Gouverneur von Florida und 2016 einer der schließlich unterlegenen Präsidentschaftskandidaten in der parteiinternen Vorwahl der Republikaner. George W. Bushs von Freunden wie Gegnern zuweilen verwendeter Spitzname Dubya ist abgeleitet von der in den Südstaaten üblichen verkürzten Aussprache des Buchstabens W (eigentlich Double U). Bushs Vorname und sein Mittelname wurden angelehnt an die entsprechenden Namen seines Vaters (George Herbert Walker Bush) und seines Urgroßvaters (George Herbert Walker). Bush besuchte von 1961 bis 1964 die Phillips Academy, die auch sein Vater besucht hatte. Anschließend studierte er von September 1964 bis Mai 1968 Geschichte an der Yale University, wo er, ebenfalls wie sein Vater, Mitglied der Vereinigung Skull & Bones und des Studentenbundes Delta Kappa Epsilon war. Im Oktober 1965 wurde er dessen Präsident, wie zuvor ebenfalls sein Vater. 1968 schloss er sein Studium an der Yale-Universität als Bachelor in Geschichte ab. Von 1972 bis 1975 besuchte George W. Bush die Harvard Business School der Harvard University, an der er den Master of Business Administration erwarb. 1977 heiratete er Laura Welch. Ihre Zwillingstöchter Jenna und Barbara wurden am 25. November 1981 geboren. Im Jahr 1976 wurde Bush wegen Trunkenheit am Steuer in Maine befristet der Führerschein entzogen; wegen einer Alkoholabhängigkeit musste er sich einem strengen Entzug unterziehen. Zehn Jahre später konvertierte er von den Anglikanern zu den Methodisten, um fortan als wiedergeborener Christ völlig auf Alkohol zu verzichten. Mit Jimmy Carter zählt er zu den evangelikalen Präsidenten der Vereinigten Staaten in der jüngeren Vergangenheit. Bush ist seit 1999 Eigentümer der Prairie Chapel Ranch in der Nähe von Crawford im McLennan County in Texas, auf der er seine Ferien verbrachte und auch Staatsgäste empfing. Er hält sich außerdem oft im Sommersitz seines Vaters Walker’s Point bei Kennebunkport in Maine auf, wo ebenfalls Staatsgäste empfangen wurden. Wehrdienst in der Nationalgarde und Unternehmertätigkeit Bush verpflichtete sich 1968 für sechs Jahre bei der Nationalgarde. Bei der Air National Guard in Texas wurde er Leutnant, Pilot und Führer einer Staffel F-102 Delta Daggers. Da die Nationalgarde zu dieser Zeit vorwiegend im Inland eingesetzt wurde, sah sich Bush später mit dem Vorwurf konfrontiert, sich damit einem Einsatz im Vietnamkrieg entzogen zu haben und wurde daher draft dodger gescholten („ein sich der Einberufung Entziehender“), bei patriotischen Amerikanern alles andere als ein Ehrentitel. Dies war jedoch damals nicht nur unter Politikersöhnen eine durchaus verbreitete Praxis (sein Vater war damals Kongressabgeordneter im Repräsentantenhaus). Der Verdacht, Bush habe außerdem seine sich aus dem Dienst in der Nationalgarde ergebenden Pflichten nicht gewissenhaft erfüllt, sprach deshalb starke politische Empfindlichkeiten an. Auf Druck der Öffentlichkeit ließ er daher im Februar 2004 die Akten über diese Zeit für Untersuchungen freigeben. Seine Unternehmertätigkeit begann Bush im Jahr 1978 in der Erdölförderindustrie mit der Gründung von Arbusto Energy (span. für Busch), später in Bush Exploration umbenannt. Als Anfang der 1980er-Jahre die Ölpreise einbrachen, geriet das Unternehmen in Schwierigkeiten und musste im Jahr 1984 mit dem Ölunternehmen Spectrum 7 Energy Corp. fusionieren. Bush wurde Leiter des Unternehmens. Als im Jahr 1986 die Ölpreise erneut einbrachen, wurde es zahlungsunfähig und von Harken Energy Corp. aufgekauft. Bush wurde dadurch einer der Direktoren bei Harken. 1988 erwarb er, als Teil eines größeren Konsortiums, 5 % des Baseballteams Texas Rangers. Er war bis zu seiner Wahl zum Gouverneur von Texas 1994 der Managing Partner des Teams und veräußerte seinen Anteil 1998 für 15 Millionen US-Dollar. Politische Karriere Anfänge 1978 kandidierte Bush mit 31 Jahren für das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten im 19. Kongresswahlbezirk von Texas, der sich im Westen des Bundesstaates zwischen Lubbock und seiner Heimatstadt Midland erstreckte. Er verlor die Wahl mit 46,8 % gegen den Demokraten Kent Hance. Zwei Jahre später wurde sein Vater Vizepräsident; George W. Bush entschied, so lange nicht für ein politisches Amt zu kandidieren, wie sein Vater öffentliche Ämter bekleiden würde. 1988 war Bush Mitglied im Wahlkampfteam seines Vaters bei dessen schließlich erfolgreicher Präsidentschaftswahl und diente dort als Verbindungsmann zu den christlichen Konservativen. Gouverneur von Texas Die texanische Gouverneurswahl am 8. November 1994 konnte Bush mit 53,5 % gegen die demokratische Amtsinhaberin Ann Richards, die 45,9 % erhielt, für sich entscheiden. Sein Wahlkampf wurde wie alle nachfolgenden von Karl Rove geplant, der es in Bushs Präsidentschaft bis zum stellvertretenden Stabschef des Weißen Hauses brachte. Um seine Position auch unter den demokratischen Wählern zu festigen, setzte Bush in seiner ersten Amtszeit auf weitgehende Kooperation mit dem politischen Gegner; so ernannte er einen Demokraten zu seinem Stellvertreter und stärkte diesem den Rücken, indem er sich beispielsweise für Gesetzesvorhaben der gegnerischen Fraktion im texanischen Parlament einsetzte. 1998 wurde er als texanischer Gouverneur mit 68,2 % wiedergewählt, sein Gegenkandidat Garry Mauro kam auf 31,2 %. Als Gouverneur verfolgte Bush bei der Todesstrafe eine stramm konservative Linie: 152 zum Tode Verurteilte wurden während seiner sechsjährigen Amtszeit hingerichtet und nur eine Begnadigung ausgesprochen. Im Falle eines kanadischen Staatsbürgers und einer im Gefängnis zum Christentum konvertierten Todeskandidatin gab es größere Proteste, jedoch hielt er an der Durchführung der Exekution fest. Auch die Hinrichtung von Gary Lee Graham im Juni 2000 löste internationalen Widerspruch aus. US-Präsidentschaftswahlkampf 2000 Im Jahr 2000 wurde Bush zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner nominiert und trat unter dem Motto des „mitfühlenden Konservatismus“ (compassionate conservatism) mit Dick Cheney gegen den Kandidaten der Demokraten und damaligen Vizepräsidenten Al Gore sowie gegen den von den Grünen nominierten (international als Verbraucherschutzanwalt bekannten) Ralph Nader an. Während des Wahlkampfes identifizierte er sich mit den Werten der als Reagan Revolution bezeichneten konservativen Wende in Amerika, die vor allem mit dem Ausgang der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 1980 verbunden ist. Außenpolitisch kritisierte er Clinton und Gore unter anderem für die Interventionen im Balkan, die nicht im nationalen Interesse seien. Andererseits trat er für härtere Positionen gegenüber Irak und Nordkorea sowie eine Erhöhung des Haushaltes des Pentagon ein. Die Wahl wurde ein hartes Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Bush und Gore, so dass der Ausgang schließlich nur noch vom Ergebnis im Bundesstaat Florida abhing. Die dortige Auszählung, ein Vorsprung von 537 Stimmen, war jedoch stark umstritten. Die von Al Gore verlangte, von Floridas Staatsgericht eingeleitete Neuauszählung wurde durch ein Urteil des damalig überwiegend republikanisch besetzten Supreme Courts mit der Mehrheit von fünf zu vier Richterstimmen für verfassungswidrig erklärt, weil unordentlich und in den verschiedenen Distrikten des Bundesstaates uneinheitlich organisiert gezählt worden sei. Eine verfassungsgemäße Neuauszählung sei nicht mehr innerhalb der vorgesehenen Frist zu gewährleisten, deshalb sei jede Neuauszählung zu stoppen. Damit wurde die erste Stimmenzählung, bei der Bush knapp geführt hatte, automatisch bestätigt. Bush erhielt USA-weit zwar etwa 500.000 Wählerstimmen weniger als Gore, konnte aber mit der Entscheidung des Supreme Courts bzw. den hinzugerechneten Wahlmännern Floridas insgesamt mehr Wahlmännerstimmen auf sich vereinigen. Erste Amtszeit als US-Präsident Kabinett Nach dem Präsidentschaftsübergang wurde Bush am 20. Januar 2001 vereidigt. Er war nach John Quincy Adams der zweite US-Präsident, dessen Vater ebenfalls US-Präsident gewesen war, und der erste Präsident mit einem MBA-Abschluss. Mit Bush zogen viele Republikaner wieder ins Weiße Haus ein, die schon unter seinem Vater wichtige Ämter innehatten, darunter Dick Cheney (damals Verteidigungsminister) als Vizepräsident. Außenminister wurde der frühere Golfkriegsgeneral Colin Powell, Donald Rumsfeld – der bereits von 1975 bis 1977 als solcher amtiert hatte – Verteidigungsminister. Die wichtigsten Berater waren Karl Rove und Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice. Viele der neuen Mitarbeiter der Regierung George W. Bush hatten vorher der neokonservativen Denkfabrik Project for the New American Century angehört, etwa Richard Perle, Richard Armitage, Paul Wolfowitz und Lewis Libby. Politik bis zum 11. September 2001 Wie schon als Gouverneur kündigte Bush anfangs ein möglichst einvernehmliches, zumindest abgestimmtes Handeln mit dem politischen Gegner an. Als Schwerpunkte benannte er unter anderem Rechenschaftspflichten politischer Akteure gegenüber dem Volk, Stärkung des Militärs und Schaffung von Möglichkeiten für Arbeiter, Teile der Sozialversicherungsbeiträge privat zu investieren. Wichtiger Partner bei der Arbeit mit dem Senat wurde für Bush der Demokrat Edward Kennedy. Im Sommer 2001 verloren die Republikaner durch den Wechsel eines republikanischen Senators zu den Demokraten ihre bisherige Mehrheit im Senat. Dies sahen viele Republikaner als Vertrauensbruch, was die parteiübergreifende Zusammenarbeit erschwerte. Wichtigste Gesetzesprojekte vor dem 11. September 2001 waren ein Programm zur massiven Senkung der Steuern und die Reform des Bildungswesens. Beide nahm der US-Kongress an. Im März 2001 wurde der endgültige Ausstieg der USA aus dem Kyoto-Abkommen zur Reduzierung der Treibhausgase verkündet. Dieser Schritt stieß im In- und Ausland auf scharfe Kritik. In der Kontroverse um Ölbohrungen im Arctic National Wildlife Refuge drängte die Regierung Bush auf eine Aufhebung des dort bestehenden Förderverbotes für Erdöl. In der Stammzellenforschung nahm Bush im August 2001 restriktive Positionen ein, auch um den rechten Flügel der Partei zu beruhigen, während er zur Mitte hin mit demokratischen Senatoren den No Child Left Behind Act ausarbeitete. Außenpolitisch baute er zwar nach dem Absturz eines US-Spionageflugzeugs mitsamt den Piloten beim Zwischenfall bei Hainan am 1. April 2001 eine Drohkulisse gegenüber China auf, verfolgte eine militärische Konfrontation aber nicht weiter. Außenpolitik ab dem 11. September 2001 Die Terroranschläge am 11. September 2001 veränderten die Politik Bushs tiefgreifend. Im Vorfeld hatten US-Nachrichtendienste ihn mehrmals vor Anschlägen der Terrororganisation al-Qaida in den USA gewarnt, zuletzt durch ein Memorandum Richard Clarkes vom 6. August 2001. Am 20. September 2001 machte Bush den Gründer und Anführer al-Qaidas Osama bin Laden für die Anschläge verantwortlich und forderte vom Regime der Taliban seine Auslieferung aus Afghanistan binnen 14 Tagen. Dann rief er einen Krieg gegen den Terrorismus aus. Mit breiter internationaler Unterstützung, darunter der deutschen Bundesregierung und der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, führten die USA und Großbritannien im Rahmen der Operation Enduring Freedom zunächst ab dem 7. Oktober Krieg in Afghanistan, wo al-Qaida ihre Basis hatte. Als Legitimation diente die Resolution 1368 des UN-Sicherheitsrates, welche am 12. September verabschiedet worden war. Ein weiteres Ziel neben der Terrorismusbekämpfung war es, das islamistische Regime der Taliban zu stürzen. Die Zahl der getöteten Zivilisten in diesem Krieg schätzte die Frankfurter Konferenz der europäischen Exil-Afghanen im Dezember 2001 auf etwa 18.000. Am 15. Juni 2002 hielt Bush eine Rede zum Nahostkonflikt, die neben der Forderung nach einer neuen palästinensischen Führung auch den Grundstein für den späteren gemeinsamen Friedensplan der Vereinigten Staaten, Russlands, der Europäischen Union und der Vereinten Nationen, die sogenannte Roadmap, enthielt. Dies war sein erstes wahrnehmbares Engagement in dem Konflikt. Im Juli 2002 entschied sich Bush, eine vom US-Kongress bewilligte Finanzhilfe in Höhe von 34 Mio. USD für den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) zurückzuhalten, da dieser seiner Meinung nach in der Volksrepublik China Zwangsabtreibungen und -sterilisationen finanziere. Im August 2002 versuchte Bush, den neu errichteten Internationalen Strafgerichtshof zu schwächen. Bilaterale Abkommen mit anderen Staaten sollten Auslieferungen von US-Bürgern nach Den Haag, dem Sitz des Gerichtshofs, verhindern. Der American Service-Members’ Protection Act erlaubte es dem US-Präsidenten stattdessen, deren gewaltsame Befreiung anzuordnen. Einen Monat später wurde die neue Nationale Sicherheitsstrategie veröffentlicht, die auch als Bush-Doktrin bekannt wurde. Sie ließ explizit Präventivschläge bei Bedrohung der USA durch Massenvernichtungswaffen zu. Auf Initiative von Bush wurde im Jahr 2003 der President’s Emergency Plan for AIDS Relief (PEPFAR) mit einer initialen Finanzierung von 15 Milliarden US-Dollar gestartet. Seitdem hat der Kongress das Programm alle fünf Jahre erneuert. Insgesamt flossen bis 2020 95 Milliarden US-Dollar in PEPFAR, was somit das größte ausländische Investment der Vereinigten Staaten seit dem Marshall-Plan darstellt. Schätzungen sprechen von 18 Millionen Menschen, deren Leben durch PEPFAR gerettet wurde. Ein Teil Geldes floss in den Global Fund, der neben AIDS auch die Bekämpfung von Malaria und Tuberkulose zum Inhalt hat. Das unter Bush gestartete Malaria-Programm hat laut New York Times bis 2017 1,7 Millionen Babys und Kleinkindern das Leben gerettet. Irakkrieg In Folge des 11. September 2001 drängten vor allem Dick Cheney und Paul Wolfowitz den Präsidenten mit später als fehlerhaft erkannten Geheimdienstberichten zu biologischen und Chemiewaffen im Irak, Saddam Hussein endgültig auszuschalten. Mit seiner State of the Union Address am 29. Januar 2002 beginnend sprach Bush bis zum März des Folgejahres 164 Mal öffentlich zum Irak und setzte ihn auf eine Achse des Bösen mit Iran und Nordkorea. In diesen Reden warf er Saddam Hussein stets vor, zu versuchen, Massenvernichtungswaffen zu erlangen, Terrorismus aktiv zu unterstützen, die eigene Bevölkerung zu unterdrücken, auch mit Giftgasangriffen, und die Region insgesamt zu destabilisieren. Neben diesen Gründen für eine Invasion des Iraks führte er an, dass eine Demokratisierung des Irak sich positiv auf den ganzen Nahen Osten inklusive Israel und Palästina auswirke. Am 11. Oktober 2002 erreichte er eine breite Zustimmung im Kongress zu einer Invasion des Irak, wobei auch die Demokraten mehrheitlich dafür votierten. Der UN-Sicherheitsrat verabschiedete am 8. November 2002 einstimmig auf amerikanische Initiative die Resolution 1441, welche dem Irak ein letztes Ultimatum stellte, Waffeninspekteuren der Internationalen Atomenergieorganisation unbeschränkten Zugang zu allen Anlagen zu geben. Der Vorwurf wurde schon damals skeptisch aufgenommen und ließ sich später nicht beweisen. Sein stetig wachsender Druck auf den Irak gipfelte schließlich im März 2003 im Irakkrieg mit der Invasion des Iraks durch britische und amerikanische Truppenverbände. Die Truppen des Irak wurden innerhalb weniger Wochen besiegt und das Land besetzt mit dem erklärten Ziel, dort Voraussetzungen für eine demokratische Regierung zu schaffen. Da wegen der starken Opposition im UN-Sicherheitsrat das eigentlich gewünschte ausdrückliche UNO-Mandat nicht zu bekommen war, stützte er sich am Ende lediglich auf eine so genannte Koalition der Willigen aus Großbritannien, Spanien, Italien, Polen, Australien und etwa 30 weiteren Staaten. Die Gegner des Irakkrieges, darunter die Regierungen Frankreichs, Russlands, Deutschlands und Österreichs, sahen in einer Fortführung der Waffeninspektionen durch die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) ein angemesseneres, vorläufig ausreichendes Mittel für eine Abrüstung des Irak. Weltweit beteiligten sich im Februar und März 2003 Millionen von Menschen an Antikriegsdemonstrationen der Friedensbewegung, auch in solchen Ländern, deren Regierungen sich hinter Bush gestellt hatten. Unter anderem wurde ihm vorgeworfen, der eigentliche Kriegsgrund seien der wirtschaftspolitische Zugriff auf die irakischen Erdölquellen und geostrategische Interessen der USA. Während der Krieg in Afghanistan im Allgemeinen durch das Recht auf Selbstverteidigung als gedeckt gilt, war die völkerrechtliche Legitimation des Irakkrieges von Anfang an stark umstritten. Im Irak wurden keine Massenvernichtungswaffen gefunden. Auch die Zahl der Terroranschläge mit islamistischem Hintergrund und deren Opferzahlen nahmen nicht ab. Am 1. Mai 2003 verkündete Bush das Kriegsende (mission accomplished!). Doch der Irak blieb ein Unruheherd, in dem sich Anschläge gegen die Besatzungstruppen, gegen andere Ausländer und gegen mit ihnen zusammenarbeitende, aber auch völlig unbeteiligte irakische und arabische Zivilisten häufen. Gegenüber der Deutschen Welle bezeichnete der Rechtswissenschaftler Kai Ambos im März 2023 die Invasion des Irak als „völkerrechtswidrige Gewaltanwendung unter Verletzung der UN-Satzung“. Im Mai 2004 drangen zunehmend Informationen über Praktiken teils systematischer Folter und Misshandlung irakischer Gefangener durch Angehörige amerikanischen Militärs im Bagdader Abu-Ghuraib-Gefängnis an die Öffentlichkeit. Die Folterungen wurden durch Fotos und Videos belegt. Bei den Misshandlungen hatte es auch schon mehrere Todesopfer gegeben. Bald wurden ähnliche Vorfälle auch in anderen von Amerikanern geführten Militärgefängnissen im Irak und in Afghanistan bekannt. Schon zuvor war die Bush-Regierung wegen der Behandlung der Gefangenen im Gefangenenlager Guantanamo in Kuba in die Kritik geraten. Laut Dick Cheney wusste Bush Bescheid über das Folterprogramm und segnete es ab. Mit dem Bekanntwerden der Vorfälle in Abu Ghuraib weitete sich die Angelegenheit zu einem Skandal aus, der die moralische Glaubwürdigkeit der Bush-Regierung untergrub. Im Dezember 2008 besuchte Bush den Irak und wurde vom Journalisten Muntazer al-Zaidi mit zwei Schuhen beworfen und verbal beleidigt. Innenpolitik seit 11. September 2001 Der No Child Left Behind Act („Kein Kind soll zurückbleiben“), der die Qualität des öffentlichen Schulwesens, jedoch auch den Zugriff des Militärs auf Personalien der Schüler zum Zweck einer Rekrutierung verbessern sollte, trat im Januar 2002 in Kraft. Innenpolitisch konnte sich Bush infolge des allgemeinen Schocks durch die Anschläge zunächst auf eine breite Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus verlassen: Maßnahmen wie strengere Sicherheitskontrollen und Einreisebedingungen und Einschränkungen der Bürgerrechte durch den Patriot Act I konnten zügig und praktisch ohne öffentliche Auseinandersetzung verabschiedet werden. George W. Bush konnte in Umfragen die höchsten Zustimmungswerte verzeichnen, die jemals in den Vereinigten Staaten gemessen wurden. Erst später wurde Kritik hauptsächlich an den Plänen zu einem Patriot Act II laut. Das Informationsfreiheitsgesetz wurde stark beschnitten; immer mehr Regierungsakten werden mit dem Vermerk „Geheim“ oder „Nur für den Dienstgebrauch“ versehen und damit der Transparenz entzogen. Unter Verweis auf die Terrorismusbekämpfung wurden diverse Institutionen wie der Zoll (CBP und ICE), die Küstenwache und die Katastrophenschutzbehörde Federal Emergency Management Agency in einem neuen Ministerium für Innere Sicherheit mit zusammen 180.000 Mitarbeitern zusammengefasst. Ein US-Bundesgericht in Detroit erklärte am 17. August 2006 das umstrittene Abhörprogramm der Regierung für verfassungswidrig. Bush hatte das Abhörprogramm nach den Anschlägen vom 11. September 2001 unter Ausschluss der Öffentlichkeit zur Terrorbekämpfung genehmigt. Es erlaubt den Behörden, internationale Telefongespräche amerikanischer Bürger mitzuhören und auch E-Mails abzufangen, ohne dafür eine richterliche Genehmigung beantragen zu müssen. Das geheime Programm war 2005 aufgedeckt und daraufhin heftig kritisiert worden. Im März 2002 wurden auf Initiative Bushs Einfuhrzölle auf Stahlprodukte aus Ländern der Europäischen Union verhängt, um US-Firmen vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. Diese Zölle wurden von der WTO als regelwidrig verurteilt. Die EU plante im Gegenzug Zölle auf Produkte aus den Vereinigten Staaten, die aber nicht mehr eingeführt wurden, nachdem Bush am 4. Dezember bekanntgab, die Einfuhrzölle wieder abzuschaffen. Im November 2002 gewann die republikanische Partei die Senatswahl und konnte, entgegen dem normalen Trend, dass die Regierungspartei in den Halbzeitwahlen Stimmen verliert, ihre Mehrheit im Kongress ausbauen. Eine Gesetzesinitiative des Präsidenten, die durch Steuererleichterungen die Konjunktur ankurbeln sollte, trat im Mai 2003 in Kraft. Im November 2003 stimmte eine Mehrheit im Conference Committee des Kongresses für den Medicare Modernization Act, der eine umfangreiche Gesundheitsreform mit Einführung staatlicher Zuschüsse für Medikamente im Rahmen der Medicare-Versicherung vorsah. Im Januar 2004 kündigte Präsident Bush an, der Weltraumbehörde NASA Mittel für eine bemannte Station auf dem Mond zur Verfügung zu stellen, die als Bahnhof und Testlabor für spätere Flüge zum Mars dienen soll. Zweite Amtszeit als Präsident Bush gewann die Präsidentschaftswahl im November 2004 knapp gegen seinen Herausforderer von den Demokraten, John Kerry; der Bundesstaat Ohio erwies sich als wahlentscheidend. Bush erhielt – aufgrund der für amerikanische Verhältnisse hohen Wahlbeteiligung – in absoluten Zahlen mehr Stimmen als jeder andere Präsident zuvor. Zum ersten Mal seit 1988 erhielt der Wahlsieger nicht nur die absolute Mehrheit der Wahlmännerstimmen, sondern auch die der abgegebenen Wählerstimmen. Im Kabinett wurde etwa die Hälfte der Minister ausgetauscht. Außenminister Colin Powell, der schon im November 2004 seinen Rücktritt erklärt hatte, wurde durch Condoleezza Rice ersetzt. In der Ansprache seiner zweiten Amtseinführung im Januar 2005 erklärte Bush, dass es nun die Politik der Vereinigten Staaten sei, Tyranneien auf der Welt zu beenden; das Überleben der amerikanischen Freiheit hänge von der Freiheit jedes anderen Landes ab. Anfang 2005 setzte Bush den stellvertretenden Verteidigungsminister Paul Wolfowitz als Präsidenten der Weltbank durch. Am 1. August 2005 bestimmte er per Dekret den UNO-Kritiker John R. Bolton zum neuen UNO-Botschafter der Vereinigten Staaten. (Die Besetzung dieses Postens ist eigentlich zustimmungspflichtig durch den Senat, in der Sommerpause kann der Präsident dies umgehen.) Bolton war von der demokratischen Opposition sowie von Teilen der Republikaner abgelehnt worden. Am 8. August 2005 setzte Bush mit seiner Unterschrift den Energy Policy Act in Kraft, der steuerliche Anreize für fossile Energieträger bietet, um deren Produktion zu fördern. Des Weiteren wurde, um auch die Zustimmung der Demokraten aus dem Mittleren Westen in Senat und Repräsentantenhaus zu erhalten, die Produktion von Biokraftstoff mit nachwachsenden Rohstoffen wie Mais gesetzlich gefördert. Insgesamt wurde der Energy Policy Act trotz moderater Umweltschutzmaßnahmen vor allem als ein Gunstbeweis an die Energieindustrie gesehen. Am 29. August 2005 traf der Hurrikan Katrina auf die amerikanische Südküste und löste eine der verheerendsten Naturkatastrophen in der Geschichte der Vereinigten Staaten aus. Die Stadt New Orleans, die nur mangelhaft auf den Hurrikan vorbereitet war, wurde überflutet. Etwa 1800 Menschen kamen ums Leben, der Sturm richtete Sachschäden im Wert von 81 Milliarden Dollar an. Bush erfuhr heftige Kritik an seinem Vorgehen vor und nach der Katastrophe durch die amerikanischen Medien und viele Betroffene. Insbesondere wurde die Notfallplanung kritisiert, da es keine nationalen Evakuierungspläne gab und Bush eine Kongressstudie für den Schutz von Städten vor Hurrikanen der Stärke 5 auf Eis gelegt hatte. Die Haushaltsmittel für Katastrophenschutz und Innere Sicherheit waren stattdessen teilweise für den Irakkrieg genutzt worden. Ebenso wurde ihm vorgeworfen, rechtzeitige Mahnungen zur Verstärkung der Deiche missachtet zu haben: Bush hatte den Chef der für den Deichbau zuständigen Behörde 2002 entlassen, nachdem dieser dem Kongress Pläne für ein 188 Millionen Dollar teures Flutungsprojekt am unteren Mississippi vorgelegt hatte. In Interviews Anfang September behauptete Bush hingegen: „Niemand konnte den Bruch der Deiche voraussehen.“ Bush hat 2006 eine Gruppe von zehn Inseln und acht Atollen im Nordwesten von Hawaii zum größten Meeresschutzgebiet der Welt erklärt. Die Inselgruppe sei Heimat eines sehr seltenen und faszinierenden Meereslebens. Die unbewohnten Inseln erstrecken sich über eine Länge von 2250 Kilometern. Die Fläche entspricht ungefähr der von Deutschland. Zum Meeresschutzgebiet gehört auch das mit rund 11 700 Quadratkilometern größte, abgeschieden liegende Korallenriff-System der Welt. Außerdem legen in dem Gebiet 90 Prozent der gefährdeten Grünen Meeresschildkröten von Hawaii ihre Eier ab. Das Reservat löst das australische Great Barrier Reef als größtes maritimes Schutzgebiet der Welt ab. Die Regierung Bush trieb die Unterdrückung von Umweltberichten voran. Auf kritische Berichte über den Klimawandel wurde Einfluss genommen, etwa indem Wissenschaftler zu einer Vermeidung der kritischen Passagen aufgefordert wurden. Auch Kontakte zu Medien wurden reglementiert. Darüber beklagt hatte sich die Hälfte von 300 zu diesem Thema befragten Wissenschaftlern. Im Juni 2006 bezeichnete Bush den Klimawandel jedoch als „ernsthaftes Problem“. Zu Bushs innenpolitischen Erfolgen in der zweiten Amtszeit gehört die Neubesetzung zweier Sitze im Supreme Court. Am 5. September 2005 nominierte er John G. Roberts junior zum Nachfolger als Chief Justice für den verstorbenen William H. Rehnquist. Nach dessen Bestätigung durch den Senat nominierte Bush am 3. Oktober 2005 seine Rechtsberaterin Harriet Miers als Nachfolgerin der zurückgetretenen Richterin Sandra Day O’Connor, zog dies aber nach starker Kritik aus allen politischen Lagern am 27. Oktober 2005 auf Miers’ Bitte hin zurück und nominierte stattdessen Samuel Alito, der am 31. Januar 2006 mit knapper Mehrheit vom Senat bestätigt wurde. Ebenfalls im Oktober spitzte sich die sogenannte Plame-Affäre zu, bei der hochrangige Mitglieder der Bush-Regierung beschuldigt wurden, die Identität der CIA-Agentin und Frau des Bush-kritischen Diplomaten Joseph Wilson, Valery Plame, an die Presse weitergegeben zu haben. Lewis Libby, Stabschef von Vizepräsident Dick Cheney, wurde unter anderem wegen Meineids und Behinderung der Justiz verhaftet. Weitere Beschuldigte waren Dick Cheney und Karl Rove, einer der wichtigsten Berater Bushs. Im April 2006 wurden dessen Aufgabenbereich als Berater verändert und ihm die Planung des Wahlkampfes der Kongresswahlen im November übertragen. In der ab 2006 geführten Debatte um das Aufenthaltsrecht illegal eingewanderter Hispanics nahm Bush eine eher liberale Haltung ein und befürwortete erleichterte Aufenthaltsbedingungen für bereits im Inland Befindliche, da die Vereinigten Staaten ein traditionelles Einwanderungsland seien. Seine liberale Haltung brachten Medien oft mit seiner Herkunft aus Texas, dem am stärksten mexikanisch geprägten Bundesstaat, in Zusammenhang. Bei Neokonservativen stieß diese Haltung auf bisweilen harsche Kritik. Gleichwohl unterzeichnete Bush Ende Oktober 2006 ein Gesetz zum Ausbau der Grenze zu Mexiko, was die mexikanische Regierung massiv kritisierte. Bei den Halbzeitwahlen 2006 verloren die Republikaner die Mehrheit in beiden Kongresskammern (Repräsentantenhaus und Senat). Das bestimmende Thema der Wahlen war der Irakkrieg. Nach der Wahl gab Bush den schon länger geplanten Rücktritt des Verteidigungsministers Rumsfeld bekannt und ernannte Robert Gates zu dessen Nachfolger. Im Sommer 2007 zogen sich mehrere hochrangige Mitarbeiter der Bush-Regierung zurück, Pressesprecher Tony Snow aus persönlichen Gründen, Karl Rove und der Justizminister Alberto R. Gonzales nach einer Affäre um die Entlassung zahlreicher Bundesanwälte, möglicherweise aus politischen Gründen. Im März 2008 legte Bush sein Veto gegen ein Gesetz ein, welches unter anderem die Anwendung der als Waterboarding bekannten Foltermethode durch die CIA verhindern sollte. Bush erklärte, dass die auf solche Weise erzielten Erfolge diese Art von Folter rechtfertigten. Gegen die Anwendung der Methode hatten sich zuvor auch ranghohe Militärs der Vereinigten Staaten gewandt. Am 16. April 2008 feierte der Präsident zusammen mit Papst Benedikt XVI., der im Rahmen einer apostolischen Reise die Vereinigten Staaten besuchte, dessen 81. Geburtstag zusammen mit 9000 Gästen im Weißen Haus. Im Namen des Ministeriums für Innere Sicherheit unterzeichnete George W. Bush im Mai 2007 die National Security Presidential Directive 51 (NSPD 51), auch als Homeland Security Presidential Directive 20 (HSPD 20) bekannt, die im Falle einer nationalen Katastrophe oder Notfalls die Fortdauer der konstitutionellen Regierungsarbeit („Enduring Constitutional Government“) sicherstellen soll, indem der Präsident die Kooperation zwischen der Exekutive, der Legislative, und der Judikative koordiniert. Am 28. Juli 2008 stimmte Bush als erster Präsident nach 51 Jahren der Todesstrafe für einen verurteilten amerikanischen Militärangehörigen zu. Die letzten Monate von Bushs Amtszeit waren durch die internationale Finanzkrise geprägt, als viele Banken des Landes in Schieflage gerieten und einige Insolvenz anmelden mussten. Durch Bushs geschwächte Position im Kongress musste er bei dem ersten Rettungspaket nicht nur um die Zustimmung der Demokraten, sondern auch bei seinen eigenen Parteifreunden um Billigung werben, die sich zunehmend wegen seiner Unpopularität von ihm distanzierten. Am 29. September 2008 scheiterte ein von Bush eingebrachtes Paket im Kongress, nicht zuletzt weil ihm auch einige Parteifreunde die Gefolgschaft versagten. Irak Ein bestimmendes Thema der zweiten Amtszeit Bushs blieb der Irak, in dem 130.000 amerikanische und 20.000 britische Soldaten stationiert waren. Mit der einstimmig vom UN-Sicherheitsrat verabschiedeten Resolution 1483 vom 22. Mai 2003 wurden die USA und Großbritannien zu Besatzungsmächten erklärt. In dieser Resolution wurden die Bestrebungen begrüßt, eine irakische Übergangsverfassung zu verabschieden, deren Ziel es war, einen demokratischen Bundesstaat zu bilden, in dem Kurden, Sunniten und Schiiten gemeinsam leben könnten. Zugleich wurde darin gefordert, dass das frühere irakische Regime für die von ihm begangenen Verbrechen und Gräueltaten zur Rechenschaft gezogen werden muss. Anfang Januar 2005 wählten die Iraker eine Übergangsregierung, im Oktober stimmten sie über eine neue Verfassung ab. Seit dem erklärten Ende der Kampfhandlungen kam es im Irak zu ständigen terroristischen Angriffen und ab 2006 zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen mit Kämpfen zwischen Schiiten und Sunniten. Seit Kriegsende sind zehntausende Iraker und über 1000 amerikanische Soldaten gewaltsam ums Leben gekommen. Bushs Politik änderte sich dadurch jedoch nicht. Die Opposition der Demokraten konnte sich nicht auf einen gemeinsamen Alternativvorschlag einigen, allerdings wuchs in Anbetracht der wachsenden Ausgaben für den Krieg, der getöteten Amerikaner und der dadurch erzwungenen militärischen Handlungsunfähigkeit in anderen Konflikten wie mit Iran oder Nordkorea, die Kritik. Im März 2006 setzte der Kongress die Baker-Kommission ein, eine zehnköpfige Gruppe um den ehemaligen Außenminister James Baker, um eine neue Strategie für den Irak zu erarbeiten. Diese legte im Dezember ihre Vorschläge vor, u. a. einen Abzug aller Kampftruppen aus dem Irak bis 2008. Die Demokraten forderten, nachdem sie die Halbzeitwahlen gewonnen hatten, eine Änderung der Strategie mit Abzug der amerikanischen Truppen. Am 11. Januar 2007 stellte Bush dann seine neue Irak-Strategie vor, den sogenannten „Surge“ („Erhebung“). Er ließ die Vorschläge der Kommission und die Forderungen der Opposition unberücksichtigt und 21.000 weitere Soldaten entsenden, um die Situation zu befrieden. Ein Abzug sollte sich anschließen, sobald die irakische Regierung alleine in der Lage sei, für Stabilität zu sorgen. Verhältnis zu Europa Das Verhältnis der meisten europäischen Regierungen zur Regierung Bush war, teils infolge des neokonservativen Paradigmas seiner Politik und seines Werdegangs, belastet. Neben der spanischen unter Zapatero und der italienischen unter Romano Prodi galt dies ebenso für die französische Regierung unter Chirac. So zogen die Wahlsieger Zapatero und Prodi die Irak-Kontingente ihrer Länder in Ablehnung des Irakkrieges unmittelbar nach ihrem jeweiligen Regierungswechsel aus dem arabischen Land ab. Auch das Verhältnis Bushs zum deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder war wegen dessen ablehnender Haltung zum Irak-Engagement beeinträchtigt. Schröders Nachfolgerin Angela Merkel hat sich um ein besseres Verhältnis bemüht; gleichwohl stand Mitte 2006 die Mehrheit der deutschen Bevölkerung der Person Bush und dessen Regierung unverändert negativ gegenüber. Im Vergleich zu Bush genießt der vorherige Präsident Clinton nach wie vor wesentlich höhere Sympathiewerte in Europa. Nordkorea Die Bush-Administration gab im Oktober 2002 bekannt, dass Nordkorea entgegen dem Rahmenabkommen sein Urananreicherungsprogramm wieder aufgenommen habe. Im November beschloss sie in der KEDO (Korean Peninsula Energy Development Organization), die Schweröllieferung an die DVRK auszusetzen. Diese Maßnahme war eine offizielle Aussetzung des Rahmenabkommens durch die US-amerikanische Seite. Als Reaktion Nordkoreas wurde der Forschungsreaktor in Yongbjon wieder mit Brennstäben beladen, die von der IAEA (International Atomic Energy Agency) installierten Videokameras wurden entfernt und die beiden IAEA-Inspekteure im Dezember des Landes verwiesen. Danach trat Nordkorea aus dem NPT (Non-Proliferation Treaty) aus. Im April 2008 einigten sich die USA und Nordkorea bei einem bilateralen Treffen in Singapur auf eine konkrete Vereinbarung. Pjöngjang sollte eine Auflistung seines Atomprogramms abliefern und seine Nuklearanlagen schließen. Im Gegenzug sollte Washington die DVRK aus dem Feindstaatenhandelsgesetz und von der Liste der terrorismusfördernden Staaten streichen. Ende Juni sprengte Nordkorea einen Kühlturm in Yongbjon und übergab die vereinbarte Auflistung an China und die USA. US-Präsident Bush kündigte daraufhin eine Aufhebung der Handelssanktionen an und stellte eine Streichung der DVRK von der Terrorliste in Aussicht. Die Streichung Nordkoreas von der Terrorliste verzögerte sich, weil die Bush-Regierung sie an einen überprüfbaren Abbau des Atomprogramms knüpfte. Ende August teilte Nordkorea daraufhin mit, die Abbrucharbeiten am Nuklearreaktor vorläufig einzustellen und die schon abgeschaltete Atomanlage wieder in Betrieb zu nehmen. Im Oktober besuchte der US-Chefunterhändler Christopher Hill Nordkorea, um Pjöngjang zur Weiterführung des Abbauprozesses zu bewegen. Das nordkoreanische Regime wollte jedoch nur angekündigte Überprüfungen seiner Atomanlagen akzeptieren, während Washington eine unangemeldete Überprüfung aller Anlagen verlangte. Kurz darauf wurde Nordkorea von der seit 20 Jahren bestehenden Terrorliste gestrichen. Kritik und polarisierende Wirkung Die Politik der amerikanischen Regierung unter George W. Bushs Präsidentschaft führte zu einer starken Polarisierung zwischen Befürwortern und Kritikern. Persönlichkeit und Eigenschaften Bushs wurden von Anhängern und Gegnern meist sehr gegensätzlich eingeschätzt. Während die einen seinen Glauben an Gott und die Führungsrolle der Vereinigten Staaten als Stärken schätzten, wiesen die anderen auf seine denkwürdige Biographie, unter anderem mit Hinweis auf seine früheren Alkoholprobleme, seine selbsterklärte „Wiedergeburt“ als Christ und Anti-Alkoholiker und gewisse sprachliche Unsicherheiten hin (siehe die Bushisms). Während ein Großteil der Mainstream-Medien nach den Attentaten vom 11. September 2001 die Regierungspolitik unterstützte, riefen die umstrittene Wahl im Jahr 2000 und die Verschärfung der unilateralistischen Politik der Vereinigten Staaten nach diesen Terroranschlägen zahlreiche Kritiker auf den Plan. Der Dokumentarfilmer Michael Moore wurde mit seinen Büchern Stupid White Men und Volle Deckung, Mr. Bush sowie mit seinem Film Fahrenheit 9/11 als Bush-Kritiker bekannt. Der damalige argentinische Präsident Néstor Kirchner sagte, Bush habe in einem Gespräch mit ihm über weltwirtschaftliche Probleme auf seinen Vorschlag der Auflage eines neuen Marshallplans ärgerlich reagiert und geantwortet, das beste Mittel, die Wirtschaft wiederzubeleben, sei der Krieg, und dass die Vereinigten Staaten durch Krieg stärker geworden seien. Bush wurde vom früheren deutschen Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye als „intellektuell äußerst niederschwellig“ eingeschätzt, wie dieser 2010 in einem Interview erklärte. George W. Bush war der erste amerikanische Präsident, dessen Handeln die Produktion und Veröffentlichung eines großen Kinofilms (Fahrenheit 9/11), den Start eines gesamten Rundfunknetzes (Air America Radio) und die Premiere einer Fernsehserie (The Al Franken Show) bewirkte, deren gemeinsames Ziel es war, seine Wiederwahl zu verhindern. Für Fahrenheit 9/11 erhielt Bush als erster Präsident den Filmpreis Goldene Himbeere als schlechtester Hauptdarsteller; da er in dem Film nur in Archivaufnahmen gezeigt wurde und nicht auftrat, ist anzunehmen, dass die Verleihung als politische Stellungnahme der Jury zu betrachten ist. Auch weitere Auszeichnungen sind als Kritik zu verstehen; 2005 wurde der Schwammkugelkäfer Agathidium bushi, der sich von Schleimpilzen ernährt, nach Bush benannt. 2001 verlieh die United States Sports Academy in Daphne Bush die Ehrendoktorwürde. Im Dezember 2004 wählte ihn das Time Magazine zur Person des Jahres 2004 „for sharpening the debate until the choices bled, for reframing reality to match his design, for gambling his fortunes – and ours – on his faith in the power of leadership“ (frei übersetzt: Für das Zuspitzen der Debatte bis zum Ausbluten von Alternativen, für das Umformen der Wirklichkeit zur Übereinstimmung mit seiner Vorstellung, für das Aufsspielsetzen seines – und unseres – Geschicks aufgrund seines Glaubens in die Kraft der Führerschaft). Staatsbesuche Bushs in anderen Ländern führten immer wieder zu Demonstrationen gegen seine Außenpolitik, insbesondere den Irakkrieg und das Internierungslager Guantánamo. So kam es Anfang Juni 2004 bei einer Europareise Bushs anlässlich des 60. Jahrestags der Invasion der Alliierten in der Normandie beim Staatsbesuch in Italien zu massiven Straßenprotesten in Rom gegen Bush. Dort wurde der Präsident auch von Papst Johannes Paul II. zu einer Audienz empfangen. Der Papst, ein entschiedener Gegner des Irakkrieges, kritisierte Bushs Irak-Politik deutlich und forderte ihn zu einer Änderung auf. Der Politikwissenschaftler Michael Haas kommt in seinem 2009 erschienenen Werk George W. Bush, War Criminal?: The Bush Administration’s Liability for 269 War Crimes zu dem Schluss, dass es schlüssige Gründe dafür gäbe, die Bush-Administration wegen Kriegsverbrechen rechtlich zu belangen. Er führt in diesem Zusammenhang 269 konkrete Regierungsmaßnahmen an, deren Rechtmäßigkeit er bezweifelt. Nach der Präsidentschaft Nach der Amtseinführung von Barack Obama am 20. Januar 2009 kündigte Bush an, sich mit seiner Frau Laura in Preston Hollow in der Nähe von Dallas niederzulassen. Er verfasste seine Memoiren unter dem Titel Decision Points, die am 9. November 2010 auf Englisch erschienen und am gleichen Tag 220.000-mal verkauft wurden. Am 4. Februar 2011 reichte Amnesty International bei der Schweizer Bundesanwaltschaft sowie bei der Genfer Staatsanwaltschaft Anzeige wegen des Verstoßes der Anti-Folter-Konvention gegen Bush ein. In seinen Memoiren hatte Bush unter anderem zugegeben, persönlich angeordnet zu haben, den mutmaßlichen 9/11-Drahtzieher Chalid Scheich Mohammed dem Waterboarding zu unterziehen. Die Reise nach Genf, welche Bush am 12. Februar 2011 antreten wollte, wurde daraufhin wegen angekündigter Proteste abgesagt. Im November 2011 wurde Bush von der Kuala Lumpur War Crimes Commission der Verbrechen gegen den Frieden schuldig gesprochen wegen der rechtswidrigen Invasion im Irak. Als Bush von seinem Nachfolger Obama telefonisch über den Erfolg der Operation Neptune Spear, der Tötung Osama Bin Ladens, am 2. Mai 2011 informiert wurde, bezeichnete er dies als „guten Anruf“; jedoch sei er „nicht außer sich vor Freude“ gewesen. Er lobte die Arbeit der Geheimdienste in dieser Sache. Obamas Einladung zu einem gemeinsamen Auftritt bei der zu diesem Anlass abgehaltenen Feier am Ground Zero lehnte er ab. Bush tritt – wie auch sein Vorgänger Bill Clinton – regelmäßig als Redner auf. Nach Berechnungen des Center for Public Integrity von 2011 hat er damit seit 2009 mindestens 15 Millionen Dollar verdient. Seit dem Ruhestand ist Bush als Maler tätig und wurde von seiner Kunstlehrerin als erfolgreich beschrieben. Am 25. April 2013 eröffnete George W. Bush wie alle Vorgänger seit Herbert Hoover eine Präsidentenbibliothek. An der Eröffnungsfeier in Dallas nahmen Barack Obama, Bill Clinton und Jimmy Carter sowie sein Vater teil. Bush erklärte dabei: „Der politische Wind weht von rechts oder links, Umfragewerte steigen und fallen, Unterstützer kommen und gehen, aber am Ende zeichnen sich politische Führer durch ihre Überzeugungen aus. Meine tiefste Überzeugung und die Richtschnur meiner Regierung war, dass die USA sich für die Ausweitung der Freiheit einsetzen müssen.“ Aufgrund einer Arterienverstopfung wurde Bush im August 2013 am Herz operiert. Dabei wurde ihm ein Stent eingesetzt. Im November 2014 veröffentlichte Bush eine Biografie über seinen Vater mit dem Titel 41: A Portrait of my father. Im Vorwahlkampf der Republikaner für die Präsidentschaftswahl 2016 unterstützte und beriet Bush seinen Bruder Jeb, hielt sich jedoch lange im Hintergrund. Im Februar 2016 beteiligte er sich an Wahlkampfveranstaltungen seines Bruders in South Carolina. Er äußerte sich ablehnend zum schließlich als Parteikandidat nominierten Unternehmer Donald Trump und hat ihm – wie sein Vater George H. W. Bush und sein Bruder – die Unterstützung für die Hauptwahl im November verweigert. Am 20. Januar 2017 nahm er an der Amtseinführung Trumps teil. Fünf Wochen später nahm Bush in einem Fernsehinterview die freie Presse vor Trumps Anfeindungen in Schutz und äußerte, es sei Aufgabe der Medien, die politische Führung zu kontrollieren. Im Oktober 2017 hielt er eine vielbeachtete Trump-kritische Rede. Im Februar 2017 erschienen von ihm Ölbilder und Geschichten von amerikanischen Kriegsveteranen in seinem Buch Portraits of Courage. A Commander in Chief’s Tribute to America’s Warriors. Im März 2021 veröffentlichte er ein weiteres Buch mit Ölbildern und Geschichten: Out of Many, One: Portraits of America's Immigrants. Ziele seiner Präsidentschaft Laut Julian E. Zelizer verfolgte die Regierung Bush konstant vier wesentliche Ziele. Erstens setzte Bush die Politik seiner Vorgänger der letzten Jahrzehnte fort, Dienstleistungen, Hochtechnologie und die Erdölproduktion sowie -verarbeitung im Sun Belt zu fördern, um somit auch dem demographischen Wandel zuungunsten des Mittleren Westens und des Nordostens Rechnung zu tragen. Zudem stammte ein bedeutender Teil der Wählerbasis der Republikaner aus dieser Region. Zweitens ging es Bush darum, die Industrie zu deregulieren und zeitgleich die Steuern zu senken. Während der Präsidentschaft gab es daher kaum Initiativen im Bereich Arbeits- und Umweltschutz. Ein weiteres Mittel, das bereits Richard Nixon und Reagan genutzt hatten, war die Besetzung von Behörden mit Leitern, die deren Auftrag politisch ablehnend gegenüberstanden. Steuersenkungen wurden vor allem für die Wohlhabenden und die obere Mittelschicht durchgesetzt. Ein drittes, seit dem Vietnamkrieg von den Konservativen favorisiertes Leitmotiv der Präsidentschaft war, die exekutive Vollmacht in der Sicherheitspolitik mit aller Gewalt zu stärken, insbesondere nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Dazu gehörte eine erhebliche Ausdehnung von Geheimdienstoperationen unter diesem Mandat und eine beim Verhör bis zur Folter reichende Verschärfung ihrer Methoden. Die präsidiale Exekutivmacht durch Bush war mitbestimmend beim Nationbuilding nach dem Irakkrieg. Wie auch Reagan und sein eigener Vater sah er andererseits weitgehende und für die USA verlustreiche Kriege wie Vietnam als warnendes Beispiel für die Grenzen eigenen Engagements. Das vierte und am schwersten zu erreichende Ziel war, eine exekutive und legislative Parteienmacht herzustellen, wie dies zuletzt den Demokraten nach der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 1932 gelungen war. Dazu wurden einerseits dezidiert konservative Positionen eingenommen, um mit der höheren Mobilisierbarkeit dieser Klientel in polarisierenden Fragen knappe Mehrheiten gewinnen zu können, andererseits konnten mit den Reaktionen auf 9-11 oder Initiativen wie dem No Child Left Behind Act breite politische Mehrheiten im Sinne des compassionate conservatism gewonnen werden. Filme Der Regisseur Oliver Stone und der Drehbuchautor Stanley Weiser erarbeiteten eine Filmbiografie von Präsident Bush: W. – Ein missverstandenes Leben hatte am 17. Oktober 2008 in den Vereinigten Staaten Premiere. George W. Bush wird von Josh Brolin und Laura Bush von Elizabeth Banks gespielt. 2008 erschien mit George Walker Bush in „Being W.“ zudem ein satirischer Dokumentarfilm. Bücher A Charge to Keep. William Morrow & Company 1999, ISBN 0-688-17441-8 (Autobiografie). Decision Points. Random House, New York 2010, ISBN 978-0-7393-7782-6 (Memoiren). Ein Porträt meines Vaters. Koch, Höfen 2015, ISBN 978-3-85445-485-4 (Originalausgabe: 41: A Portrait Of My Father). Portraits of Courage. A Commander in Chief’s Tribute to America’s Warriors. Crown 2017, ISBN 978-0-8041-8976-7 Out of Many, One. Portraits of America’s Immigrants. Random House 2021 Hörbücher 2010: Decision Points (Autorenlesung), Crown Pub, ISBN 978-0-307-74864-5 2014: 41. A Portrait of My Father, Random House, ISBN 978-1-101-91314-7 2017: Portraits of Courage. A Commander in Chief's Tribute to America's Warriors, Random House, ISBN 978-1-5247-5750-2 Literatur Peter Baker: Days of Fire: Bush and Cheney in the White House. Doubleday, New York 2013, ISBN 978-0-385-52518-3. Richard A. Clarke: Against All Enemies. Der Insiderbericht über Amerikas Krieg gegen den Terror. Hoffmann & Campe, Hamburg 2004, ISBN 3-455-09478-3 (deutsche Ausgabe des gleichnamigen Buches des ehemaligen Regierungsberaters; Originaltitel: Against All Enemies: Inside America’s War on Terror – What Really Happened). Kurt Eichenwald: 500 Days: Secrets and Lies in the Terror Wars. Touchstone, 2013, ISBN 978-1-4516-6939-8 James H. Hatfield: Das Bush-Imperium. Wie Georg W. Bush zum Präsidenten gemacht wurde. Übersetzt von Michael Schiffmann. 4. Auflage. Atlantik, Bremen 2002, ISBN 3-926529-42-3. Eric Laurent: Die Kriege der Familie Bush. Die wahren Hintergründe des Irak-Konflikts. S. 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Bush in der NGA Einzelnachweise Präsident der Vereinigten Staaten Gouverneur (Texas) Mitglied der Republikanischen Partei Politiker (20. Jahrhundert) Politiker (21. Jahrhundert) Korporierter (Delta Kappa Epsilon) Korporierter (Skull & Bones) Träger des Sterns von Rumänien (Collane) Träger des Drei-Sterne-Ordens (Großkreuz mit Ordenskette) Träger des Vytautas-Magnus-Ordens (Großkreuz) Träger des Ordens des Marienland-Kreuzes (I. Klasse) Absolvent der Harvard University Absolvent der Yale University Ehrendoktor der Ohio State University Ehrendoktor der United States Sports Academy Autobiografie MLB-Teambesitzer US-Amerikaner Geboren 1946 Mann George W George H. W. Bush Terroranschläge am 11. September 2001
1849
https://de.wikipedia.org/wiki/Gobi
Gobi
Die Wüste Gobi, oder kurz die Gobi (, ), ist ein weiträumiges Trockengebiet in Zentralasien, in der Mongolei und der Volksrepublik China. Sie besteht aus zusammenhängenden, vielgestaltigen Wüsten- und Halbwüstenlandschaften. Charakteristisch sind insbesondere die extrem wasserarmen, meist steinigen und seltener sandigen Wüsten in China, sowie die lebensfreundlicheren, weiten Steppen in der Mongolei. Mit 2,3 Millionen km² ist sie eine der größten nichtpolaren Wüstenregionen der Erde. Geographie Die Wüste Gobi ist ein riesiges Trockengebiet, das in mittleren Breitengraden auf dem Mongolischen Plateau im Innern des asiatischen Kontinents gelegen ist. Zu ihr gehören in Nordwest-China die zusammenhängenden Wüstenareale von Junggar Gobi, Gaxun Gobi, Alashan Shamo und Erdos Shamo, in der Süd-Mongolei die Trans-Altai-Gobi, sowie in der Südost- und Ost-Mongolei die Ost-Gobi bzw. Mongolische Gobi. Innerhalb dieser Wüstenregionen werden noch zahlreiche weitere Teilwüsten unterschieden. Grob umrissen wird sie von großen Gebirgsketten begrenzt. Das sind im Norden die Altai- und Changai-Gebirge, im Osten der Westrand der Da Hinggan-Gebirgskette, im Süden Qilian Shan und Bei Shan, im Westen die östlichen Ausläufer des Tian Shan. Nicht zur Wüste Gobi gehören die im Westen im Tarimbecken gelegenen Sandwüsten Kumtag, Lop Nor und Taklamakan. Diese sind zwar durch den Hexikorridor mit ihr verbunden, aber durch die Bergketten von Kuruktagh und Beishan von ihr getrennt. Die Begrenzung der Wüste Gobi war lange Zeit nur vage definiert. Das Gebiet Xamo Desertum wurde zwar schon in einigen Karten aus dem 17. Jahrhundert als Streifen dargestellt, der klar begrenzt ist und von einer Reihe von Gebirgen umgeben wird, aber eine systematische Vermessung erfolgte erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Unter Anwendung moderner naturwissenschaftlicher Kriterien wie des NDVI-Vegetationsindex können in Satellitenaufnahmen Wüsten identifiziert werden. So wurde festgestellt, dass die Grenze der Wüste Gobi unter dem Einfluss von sich verändernden anthropogenen und klimatischen Faktoren jedes Jahr variiert. Für das Jahr 1982 ergab sich eine Fläche von 1,16 Millionen km², die in den folgenden Jahren leicht abnahm. Für 1988 wurde ein plötzlicher Anstieg auf 1,57 Millionen km² festgestellt. Danach nahm die Fläche wieder deutlich ab, jedoch ohne den alten Wert zu erreichen. Es wird angenommen, dass dies die Folge des El Niño in den Jahren 1982/1983 sowie eines besonders warmen Winters und Frühlings 1989/1990 war. Eine neuere Untersuchung mit Satellitenaufnahmen, die auch einen Ariditätsindex zur Definition des Wüstengebiets heranzieht, ergab einen wesentlich größeren Wert für die Fläche. Für den Zeitraum von 2000 bis 2012 betrug die durchschnittliche Fläche 2,35 Millionen km². Dabei variierte der Wert zwischen 2,08 Millionen km² im Jahr 2009 und 2,47 Millionen km² im Jahr 2012. Damit ist die Wüste Gobi nach der Sahara und den Arabischen Wüsten eine der größten nichtpolaren Wüsten der Erde. Teilwüsten Bejschan Die Bejschan (auch Beishan) ist eine vor allem gebirgige Wüste, sie wird daher manchmal auch als Gebirge eingeordnet. Sie stellt eine Verknüpfung zwischen der Steppe Gobi im Osten und dem Tarimbecken im Westen dar. Monod klassifizierte Bejschan als eigene Wüste, da hier bestimmte Tier- und Pflanzenarten vorkommen, und sie somit ein eigenes Ökosystem bildet. Dazu kommt die eigene geologische Struktur. Abgegrenzt wird das Gebiet im Süden durch das Nanschan-Gebirge, im Norden durch die mongolische Grenze, im Osten durch den Flusslauf des Edsin Gol, dahinter schließt sich die Alashan an. Durch die Wüste verläuft heute eine Schnellstraße als Verbindung von Xinjiang mit dem östlichen China. Alashan Die Alashan (auch Alaschan, mongolisch Alxa) ist eine Sandwüste südwestlich der Gobi, die in China mit den Teilwüsten-Namen Tengger (Tenggeli Shamo) und Badain Jaran (Badanjilin Shamo/Badan Jilin Shamo) bezeichnet wird. Sie wird im Süden durch die Verlängerung des Nanschan-Gebirges abgegrenzt, im Südosten durch den Gelben Fluss, im Osten durch das Alxa- bzw. Helan-Shan-Gebirge, nördlich davon wiederum durch den Gelben Fluss. Im Norden reicht sie bis an die mongolische Grenze, im Westen schließt sich die Bejschan an. Die Landschaft hat eine allgemeine Höhe von 1000 bis 1500 m. Im Badain Jaran liegt der Biluthu, der höchste Sandberg der Welt mit 1610 Metern Höhe. Die Namensgebung ist umstritten, da manche Wissenschaftler den Begriff „Alashan-Gobi“ verwenden und sie als Teil der Gobi ansehen. Dabei soll „Gobi“ allerdings für die Form der Fels- und Geröllwüste stehen. Teilweise wird der Begriff Alashan selbst vermieden. Stattdessen wird die Region weiter in die Wüsten Badain Jaran und Tengger (mongolisch: „weiter Himmel“) unterteilt. Laut dem Forscher Prschewalski ist die Alashan eine Ebene, die wahrscheinlich einmal das Bett eines großen Sees oder Meeres bildete. Er folgerte dies aus der ebenen Form der Region insgesamt und den Salztonebenen samt Salzseen in den tiefsten Teilen. Insbesondere in der Tengger-Wüste ist über hunderte Kilometer nichts als bloßer Sand zu sehen; daher auch die mongolische Bezeichnung „Tengger“ für weiter Himmel. Es gibt in der Alashan fast keine Oasen. Nahe den angrenzenden Gebirgen ist anstelle des gelben Sandes auch Kies zu finden. Im westlichen Teil der Alashan gibt es Dünen, die bis zu 520 m hoch (Biluthu) sind und somit die höchsten Dünen der Erde darstellen. Von den 140 Salzseen, die zwischen den Dünen zu finden sind, gelten einige den Mongolen als heilig. Daher befinden sich hier auch lamaistische Klöster. Die Einwohner sind heute vor allem Han, Mongolen und Hui. Klima Die Gobi ist eine Wüste mit Kontinentalklima. In ihrem größten Teil, in der Mongolischen Gobi im Osten, herrscht ein Kaltes Steppenklima. Das geht westlich vom 110. Längengrad, ab in etwa der Ordos Shamo, in ein Kaltes Wüstenklima über. Weiter in Richtung Westen, ab dem 106. Längengrad, mit Beginn der Alashan Shamo nimmt die Höhe ab, es gibt kaum noch Vegetation und Sanddünen treten auf. Die Gobi ist nicht die trockenste Wüste, aber diejenige mit den größten Temperaturunterschieden. Im Winter fallen die Temperaturen oft auf bis zu −30 °C und manchmal sogar bis auf −40 °C. Im Sommer erreichen die Temperaturen oft 35 °C im Schatten und Steinoberflächen erhitzen sich bis auf 65 °C oder mehr. Die Nächte sind allerdings immer kalt, während tagsüber die Mitteltemperaturen bei 20 bis 25 °C liegen. Im Winter und Frühling kann es zu leichten Schneefällen kommen, die den Boden aber nur selten mit wenigen Zentimetern bedecken. Der Sommer ist die Regenzeit mit wenigen, aber oft sintflutartigen Regenfällen. Die Niederschläge erreichen höchstens 390 mm/a in der Ost-Gobi und nehmen nach Westen hin ab. Die Gaxun-Gobi ist der trockenste Bereich mit Niederschlagshöhen von annähernd nur 20 mm/a. Benennung Die Bezeichnung Gobi wird mehrdeutig verwendet. Sie steht zum einen für das geographische Objekt Wüste Gobi, das heißt für ein konkretes Trockengebiet in Zentralasien, das eine irgendwie definierte Begrenzung hat und den Namen Gobi trägt. Zum anderen wird das Wort Gobi auch als geomorphologisches Synonym für Steinwüste benutzt, die ein beherrschendes Landschaftselement in der Wüste Gobi darstellt. Die zeitgenössische Geographie unterscheidet dabei in der Wüste Gobi neben Gobi für die steinigen Landschaften auch noch Shamo für die sandigen Landschaften. Ursprünglich erhielten die innerasiatischen Wüsten ihre Namen durch die lokalen Minderheiten. In China wurden diese Bezeichnungen später aus den lokalen Sprachen in die chinesische Schrift transliteriert, oft unter Veränderung ihrer Bedeutung. Der chinesisch-mongolische Wüstengürtel war für frühe europäische Handelsreisende völlig unüberschaubar und schier endlos. Um von Vorderasien nach China zu gelangen, nahm die schwierige und gefahrvolle Durchquerung der sandigen Ebenen und kahlen Berge der „großen Wüste“, wie sie im 13. Jahrhundert von Marco Polo bezeichnet wurde, an ihrer schmalsten Stelle einen ganzen Monat in Anspruch. Die Mongolen nannten die Wüste Govi oder Kébé, was „wasserloser Ort“ bedeutete und der modernen Definition von Wüste nahekommt. Im 17. Jahrhundert fand die Bezeichnung Gobee erstmals in europäischen Landkarten Erwähnung. Gleichzeitig, so nahmen es die Europäer wahr und notierten es in ihren Landkarten, wurde in China die Wüste Gobi auch als Sha-mo () bezeichnet, was eigentlich Sandwüste bedeutet. Allerdings wurde und wird in China und der Mongolei die Wüste Gobi stärker geographisch und geomorphologisch nach Teilwüsten differenziert und es werden gegebenenfalls andere Bezeichnungen benutzt. So wird, wenn es um die geomorphologische Einteilung geht, von gobi nur dann gesprochen, wenn mehr als 50 % der Fläche von losem unsortiertem Geröll und Kies mit 4 bis 64 mm Durchmesser bedeckt sind. Ein Beispiel für eine solche regionale geomorphologische Einheit ist die Junggar Gobi () am nordwestlichen Extrem der Wüste Gobi in China. Etwa 43,5 % aller chinesischen Wüstenflächen sind nach dieser Definition Gobi-Wüsten, also sinngemäß Steinwüsten. Die Junggar Gobi ist gleichzeitig ein Beispiel dafür, dass auch heute noch historisch bedingt verschiedene Namen in uneinheitlicher Schreibweise für dasselbe Gebiet verwendet werden. Sie ist auch bekannt als Gurbantünggüt-, Gurban Tunggut-, Dsungarische- oder Dzoosotoyn-Elisen-Wüste. Handelt es sich um vom Wind angewehten Sand, der ausgedehnte Flächen oder kleine Dünen bildet, dann wird in China von shazhi huangmo ( „Sandland“) gesprochen, wie zum Beispiel Hunshandake Shazhi Huangmo (, englisch „Hunshandake Sandy Land“, deutsch „Hunshandake-Sandland“) am östlichen Extrem der Wüste Gobi in China. 45,3 % aller chinesischen Wüstenflächen sind solche Sandwüsten. In der Mongolei heißen die Sandwüsten Els, wie z. B. das Dünenfeld Khongoryn Els. Die verbleibenden Trockengebiete sind Steppen mit semistabilen oder stabilen Dünen und Sandflächen die in China mit shadi () bzw. Sandland bezeichnet werden, wie zum Beispiel bei Horqin Shadi (), ebenfalls am östlichen Extrem der Wüste Gobi gelegen. 11,2 % aller chinesischen Wüstenflächen sind Steppen. Funde In der Gobi wurden viele bedeutende Fossilien, darunter auch Versteinerungen, aus unterschiedlichen geologischen Epochen gefunden. Die meisten Funde von Sauriereiern und ganzen Nestern stammen von hier. In vergangenen Abschnitten der Erdgeschichte herrschten andere klimatische Verhältnisse mit üppiger Vegetation, die entsprechend gute Lebensbedingungen für Saurier boten. Geschichte Die Gobi ist in der Geschichte vor allem als Teil des Mongolischen Reichs bekannt. Außerdem liegen einige wichtige Handelsstädte der Seidenstraße am Südrand der Gobi. Ökologie In der Wüste Gobi und den umliegenden Regionen sind zahlreiche Tierarten anzutreffen, darunter Wölfe, Dschiggetai, Kropfgazelle, Gerbil und Steppeniltis. Es gibt auch noch einige Schneeleoparden. Die Wüste beherbergt einige an Trockenheit angepasste Sträucher und Gräser. Das Gebiet ist allerdings gegen Beweidung und Fahrzeuge sehr anfällig. Menschliche Einflüsse sind vor allem im östlichen Teil größer, wo auch mehr Regen fällt und sich Viehhaltung lohnt. In der Mongolei wurde das Grasland in letzter Zeit durch den größeren Anteil von Ziegen in den Viehherden zurückgedrängt. Die Ziegen liefern wertvolle Kaschmirwolle, reißen aber im Gegensatz zu Schafen das Gras mit der Wurzel aus. Die qualitativ hochwertige Kaschmirwolle ist ein Hauptexportgut der Mongolei und wird fast zu 100 % von großen chinesischen Textilunternehmen abgenommen. Da diese Produktionssteigerung nicht nachhaltig vorangetrieben wurde, gilt das Ökosystem als extrem gefährdet. Seit die Viehherden in den 1990er Jahren privatisiert wurden, gibt es auch die staatliche Kontrolle der Weideflächen nicht mehr. In der Volksrepublik China stellt Desertifikation ebenfalls ein gravierendes Problem dar, nicht zuletzt, da es in Form von Sandstürmen auch dichter besiedelte Gebiete wie Peking betrifft. In der Inneren Mongolei versucht man, gegen die Überweidung durch großflächige Absperrungen von Weideland und Umsiedlungen vorzugehen. Außerdem werden vor allem entlang von Verkehrslinien breite Schutzpflanzungen (Chinas Grüne Mauer) angelegt, um die Auswirkungen von Sandstürmen zu begrenzen. Bilder Dokumentarfilm Fernsehfilm Söhne der Wüste Teil 2: Durch die Gobi und Taklamakan. Dokumentation von Bernd Liebner und Cheng Wie, 2002 (mit Filmaufnahmen des Kameramannes Paul Lieberenz von der Chinesisch-Schwedischen Expedition). Auch als DVD: Verlag Komplett-Media, 2003, ISBN 3-8312-8811-9 Weblinks Bjørn Erik Sass: Ganz große Düne, Die Zeit Nr. 48 vom 22. November 2007. Anmerkungen Einzelnachweise Wüste in Asien Seidenstraße Geographie (Mongolei) Geographie (Volksrepublik China)
1850
https://de.wikipedia.org/wiki/Gott
Gott
Als Gott (weiblich: Göttin) oder Gottheit wird meist ein übernatürliches Wesen bezeichnet, das über eine große und nicht naturwissenschaftlich beschreibbare transzendente Macht verfügt. Im Verständnis von Mythologien, Religionen und Glaubensüberzeugungen werden einem Gott oder mehreren Göttern besondere Verehrung zuteil und besondere Eigenschaften zugeschrieben, darunter oft die Eigenschaft, erster Ursprung, Schöpfer oder Gestalter der Wirklichkeit zu sein. Auch Vorstellungen einer nicht wesenhaften, unpersönlichen „göttlichen Kraft“ werden bisweilen – aus fehlendem Verständnis für fremde Religionen oder aus Vereinfachungsgründen – als Gott bezeichnet. Mit Gott ohne weitere Bestimmung wird meist ein allumfassender Gott bezeichnet. Auch die Metaphysik beschäftigt sich mit der Frage nach den Eigenschaften und der Existenz eines solchen Gottes. Etymologie im germanischen Sprachraum Indogermanischer Ursprung Der Wortstamm von „Gott“ ist alt, doch nur im germanischen Sprachraum anzutreffen und außerhalb unbekannt. Eine indogermanische Verwandtschaft mit persisch chodā ist nicht nachweisbar. Bezeichnungen sind alt- und mittelhochdeutsch got, altsächsisch, altfriesisch, mittelniederdeutsch und englisch god, gotisch guþ, altnordisch gođ sowie schwedisch und dänisch gud. Die Germanen verehrten den urgermanischen Himmelsgott Tiwaz, der durch sprachliche Evidenz als indogermanisches Erbe erwiesen ist. In den verschiedenen Dialektgruppen des Germanischen erscheint er beispielsweise als althochdeutscher Ziu und altnordischer Tyr. Das lateinische Wort deus geht wahrscheinlich zurück auf indogermanisch deiwos. Hierbei handelt es sich um eine bereits urindogermanische Vriddhi-Ableitung zum Wort *djews „Himmel“. Die Personifizierung *djeus ph2tēr „Vater Himmel“ findet sich wieder im griechischen Zeus (Zeu páter, Vok. zu , Gen. ), dem römischen Jupiter (vom Vokativ *Dioupater zum Nominativ Diēspiter), dem vedischen Dyaus Pita und dem illyrischen (Dei-pátyros „himmlischer Vater“). Alle diese Formen können auf die Wurzel *djew- zurückführen, das als „Erstrahlen, Erscheinen“ übersetzt wird. Dieses Wort liegt wiederum mit seiner Ableitung *deiwos dem altindischen deva und dem lateinischen deus als Begriffe für Gott zugrunde. Für die Herkunft des germanischen Wortes Gott wird davon ausgegangen, dass der Begriff aus dem substantivierten zweiten Partizip des indogermanischen *ghuto-m der Verbalwurzel *gheu- „rufen, anrufen“ entstanden ist. Danach wären die Götter die (etwa durch Zauberwort) angerufenen Wesen. Alternativ könnte das Wort auch auf die indogermanische Verbalwurzel *gheu- „gießen“ zurückgeführt werden, wonach der Gott als „das, dem (mit) Trankopfer geopfert wird“ zu verstehen wäre. Das griechische theói steht ebenfalls etymologisch mit dem Verb thýein „opfern“ zusammen, wie das Simplex theós „Gott“ durch Entsprechungen im anatolischen Wortschatz das Votivobjekt des Altars etymologisch bezeichnet. Das Standardnachschlagewerk Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache von Friedrich Kluge bestärkt die Vermutung einer Ableitung von „gießen“ (etwa Gott als „Gegossenes“ oder „gegossenes Bild“) oder Trankopfer durch Vergleich mit dem Avestischen und Altindischen. Wolfgang Meid fügt hierzu an: . Bedeutungsverschiebung zu christlicher Zeit Die germanische Bezeichnung *guda- „Gott“ war ursprünglich ein grammatisches Neutrum, ebenso wie andere germanische Bezeichnungen für Götter. Bei der Übertragung auf den christlichen Gott wurde das Wort zur Zeit der arianischen Christianisierung der Goten im 3. bis 4. Jahrhundert im oströmischen Wirkungskreis und in der fränkisch-angelsächsischen römisch-katholischen Mission unter den Merowingern und Karolingern zum Maskulinum. Im Gotischen blieb das Wort allerdings als Bezeichnung der heidnischen Götter – wegen der christlichen Ablehnung dieser Götter – geschlechtslos. Der Übergang vom Neutrum zum Maskulinum vollzog sich im westgermanischen Bereich etwa vom beginnenden 6. Jahrhundert bis zum ausgehenden 8. Jahrhundert. Im skandinavisch-nordgermanischen Bereich hielt sich das Neutrum länger, da dort das Wort für den persönlichen Gott Ase (óss) lebendig blieb. Wie die anderen Wörter oder Ausdrücke für „Gott“, wurde dieses oft in der Mehrzahl verwendet, um eine nicht näher umschriebene Gruppe göttlicher Wesen zu beschreiben. Aufgrund der Abstammung des Wortes wird davon ausgegangen, dass es die höheren Mächte (Numen) als passive Wesen bezeichnet, die verehrt wurden, und nicht als aktive Wesen, die das irdische Geschehen instand hielten. Andererseits waren andere Wörter für „Gott“ zur Bezeichnung eines aktiven Wesens ebenfalls geschlechtslos. Daraus ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass solche Wörter im Plural die Götter als Ganzheit bezeichneten (tívar: altnordischerer Plural „die Götter“, ursprünglich zu Týr). Viele Geschehnisse waren nicht einem bestimmten „Gott“, sondern ganz allgemein „den Göttern“ zuzuschreiben. Daraus erklärt sich, dass die Singularform des ursprünglichen *deiwos-Teiwaz nur noch appellativ in Namenskompositen erscheint, beispielsweise bei Odin, der den Beinamen Fimbultýr trägt („großer, gewaltiger Gott“). Neben den einzelnen Göttergestalten, die durch einen eigenen Namen, eigene Mythen und einen festen Kult in den Vordergrund traten und leicht zu erkennen waren, gab es die unabsehbare göttliche Masse, aus der beispielsweise Mythendichter neue Figuren hervorheben konnten. Einen transzendenten Gottesbegriff entwickelten die Germanen nie, oder nur im Norden und erst sehr spät. Erst bei Snorri Sturluson im 13. Jahrhundert ist Odin der Alfaþir („Allvater“). In der Übergangszeit der Christianisierung, verbunden mit Formen von Synkretismus wurden Odin, Thor und Balder in den isländisch-nordischen Texten zu allmächtigen oder vollkommenen Göttern erklärt, um der auftauchenden Gestalt Christi entgegentreten zu können. Der begriffliche Gegensatz zwischen „Göttern“ und „Menschen“ (*teiwoz – *gumanez), den die Germanen von altersher kannten, wurde ersetzt durch die neue Dichotomie *guda – *gumanez. Indem diese Verbindung stabreimend wirkt, fand sie in diverser Dichtung, insbesondere der altnordischen, Eingang und somit auch Wirkung. Die ehemals geschlechtsneutrale Begrifflichkeit „Gott“ wurde schließlich männlich, sobald sie den christlichen Gott bezeichnete. So trat infolge der Christianisierung der heute bestehende Bedeutungswandel ein, in dem das Wort umgedeutet und auf den − meist als männlich empfundenen − jüdisch-christlichen Gott JHWH () angewendet wurde. Die erst in karolingischer Zeit belegte Bezeichnung Gottheit (, lateinisch divinitas, von divus „Gott“) ist mehrdeutig und kann zum einen als Substanzbegriff im Sinne von „göttliche Natur“ verwendet werden oder das Innere, Passive der Göttlichkeit betonen, zum anderen nur auf außerchristliche Götter angewendet werden. Letztere Bedeutung ist erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gebräuchlich. Entstehung der „Gottesidee“ Die Archäologie kann durch die Interpretation bestimmter Artefakte bedingt Rückschlüsse auf religiöse Kulte anstellen, die einen entsprechenden Glauben voraussetzen. Da die Vorstellung von etwas „Göttlichem“ jedoch vor der Erfindung der Schrift lag, gibt es keine Möglichkeit, Ort und Zeitpunkt zu bestimmen (möglicherweise auch mehrere Orte und Zeitpunkte). Darüber hinaus entziehen sich solche Vorstellungen einer klaren Definition, so dass sehr viel Raum für phantasievolle Interpretationen bleibt. Es spricht einiges dafür, dass „ein Herr oder eine Herrin der Tiere“ – wie noch vor kurzem bei nahezu allen Jäger-und-Sammler-Kulturen als Beschützer der Tierwelt und Machthaber über das Wohl und Wehe der Jäger zu finden – die erste gottähnliche Idee altsteinzeitlicher Jäger-und-Sammler-Gruppen war. Konkrete Rekonstruktionen und Übertragungen von rezenten, schriftlosen Kulturen auf die Vorgeschichte – wie etwa schamanistischer Praktiken oder religiöser Vorstellungen – gelten heute jedoch als hoch spekulativ und unbeweisbar. Die ersten Fundstücke, die mit der Idee einer Gottheit in Verbindung gebracht werden, sind zumeist weibliche figürliche Darstellungen (Venusfigurinen) aus dem Jungpaläolithikum (45.000 bis 11.700 vor heute), die von einigen Autoren als Statuen von Muttergöttinnen gedeutet werden, sowie die später auftretenden zeichnerischen Darstellungen von Personen mit Symbolen, die relativ sicher als Hinweis auf Gottheiten interpretiert werden können. Begriffsbestimmung und -abgrenzung Die Frage, unter welchen Umständen eine Entität als Gott eingeordnet werden kann, hat bislang in der Religionswissenschaft kaum Beachtung gefunden, zumal die jüdisch-christliche Tradition stets eine implizite Vorlage für den Gottesbegriff lieferte. Dies ist neben der Einschränkung auf einen Kulturraum insofern problematisch, als es bereits in diesen Religionen eine Vielzahl unterschiedlicher Gottesvorstellungen gibt. H. P. Owen stellt in der Encyclopedia of Philosophy fest, dass es „sehr schwierig und vielleicht unmöglich“ sei, eine Definition von „Gott“ aufzustellen, die alle Verwendungen des Wortes und entsprechender Wörter in anderen Sprachen abdeckt. Die 2. Ausgabe des Dictionnaire de la langue philosophique gibt als allgemeine Definition an: „Übernatürliches Wesen, das die Menschen ehren sollen.“ Der christliche Philosoph Brian Leftow legt in der Routledge Encyclopedia of Philosophy folgende restriktivere Definition zugrunde: „Die höchste Wirklichkeit, die Quelle oder der Grund alles anderen, perfekt und der Anbetung würdig.“ Nicht alle Kulturen unterscheiden eindeutig zwischen Göttern, Geistern, Engeln, Dämonen und anderen übernatürlichen Wesen; gelegentlich wird der entsprechende Begriff in anderen Sprachen recht weit gefasst. So etwa können die Orishas der Yoruba sowohl als Ahnengeister und Clanautoritäten als auch als dem höchsten Gott Olorun untergeordnete, arbeitsteilig in verschiedenen Sphären der Natur und des sozialen Lebens wirkende Götter betrachtet werden. Solche „Funktionsgötter“, die zugleich autoritative Ahnengeister präsentieren, gibt es auch bei den Ewe. Das Wort vodon (vergleiche „Voodoo“) in der Fon-Sprache wird sowohl mit „Gott“ als auch mit „Geist“ übersetzt, ebenso wie das japanische Wort Kami. Die buddhistischen Devas, meist als „Götter“ übersetzt, sind übernatürliche Wesen mit eigener Persönlichkeit, gelten aber nicht als perfekt, unsterblich, allmächtig oder allwissend. Einige neuplatonische Denker bezeichneten mit dem Wort θεός (theós) eine Vielzahl spiritueller Entitäten, darunter die menschliche Seele. Die Frage nach einer angemessenen Definition von „Gott“ wird noch dadurch verkompliziert, dass Philosophen und Theologen Gottesbegriffe entwickelt haben, die sich von der religiösen Praxis wesentlich unterscheiden (siehe Abschnitte zu metaphysischen und populären Vorstellungen). In der kognitiven Religionswissenschaft werden Götter zu den übernatürlichen Akteuren gezählt. Als Akteur wird in der Philosophie und Psychologie ein Wesen mit geistigen Fähigkeiten bezeichnet, dem bewusste Ansichten und Wünsche zugesprochen werden, oder dessen Verhalten durch mentale Zustände hervorgerufen wird. Aus natürlichen Konzepten können übernatürliche gebildet werden, indem intuitive, alltägliche Auffassungen der ihnen zugehörigen ontologischen Kategorien verletzt werden. Beispiele für solche Konzepte sind Bäume, die sich nirgendwo befinden, Steine, die Gefühle empfinden, und eben auch Wesen, die unsichtbar sind. Die geistigen Fähigkeiten des Akteurs sind die einzige anthropomorphe Eigenschaft, die von Gläubigen und Theologen gleichermaßen akzeptiert wird. Klassifikation von Gottesvorstellungen Nach Anzahl: Mono- und Polytheismus Oft wird zwischen polytheistischen Religionen, die mehrere Götter kennen, und monotheistischen Religionen mit nur einem Gott unterschieden. In der Kosmologie monotheistischer Religionen werden die polytheistischen Götter mit ihren unterschiedlichen Funktionen teils zu Attributen des einzigen Gottes zusammengefasst, teils tiefergestellten übernatürlichen Wesen wie Engeln und Heiligen übertragen. In vielen polytheistischen Religionen sind die Götter als Pantheon organisiert. In dieser heiligen Gemeinschaft gibt es eine Hierarchie, die sich aus den unterschiedlichen Funktionen der einzelnen Götter ergibt. Teilweise gibt es einen Herrscher über das Pantheon, wie zum Beispiel einen Vater aller Götter (so etwa El bei den Kanaanäern) oder eine Göttin mit Vormachtstellung (etwa Amaterasu im frühen Shintō). Religionen mit einem Hauptgott werden henotheistisch genannt. Philosophen wie Plato und die Stoiker sprachen gelegentlich von „Gott“ und „den Göttern“ unterschiedslos im selben Absatz. Die Abgrenzung zwischen Mono- und Polytheismus ist nicht immer objektiv eindeutig, denn in manchen Religionen existiert ein Gott in mehreren Formen, beziehungsweise Hypostasen (Trimurti im Hinduismus, Trinität im Christentum, „Gott oben/unten“ bei den Bari, „Vater, Mutter, Sohn“ bei den Ndebele). Darüber hinaus können besondere Personen wie Maria (Mutter Jesu) oder Siddhartha Gautama zumindest im Rahmen der vergleichenden Religionswissenschaft oder aus dem Blickwinkel anderer Religionen als gottähnlich oder zusätzliche Götter betrachtet werden. Auch kann eine Religion insofern mono- und polytheistische Aspekte vereinen, als je nach Konfession und selbst je nach Anhänger unterschiedliche Gottesvorstellungen anzutreffen sind. Frühe Christen glaubten beispielsweise je nach Gruppierung an einen, zwei, 30 oder 365 verschiedene Götter, und Dreifaltigkeitslehren reichen vom Glauben an drei Götter (Tritheismus) bis zur Vorstellung, dass die drei nur verschiedene Aspekte eines Gottes sind (Modalismus). Alle drei abrahamitischen Religionen sind heute ausdrücklich monotheistisch. Hochgötter Die Götter monotheistischer Religionen, die höchstrangigen, mächtigsten Gottheiten in polytheistischen Religionen (siehe auch: Henotheismus), aber auch Vorstellungen einer höchsten übernatürlichen Kraft in einigen ethnischen Religionen – etwa Kitchi Manitu der Algonkin – werden in Religionswissenschaft und Ethnologie häufig als Hochgott oder Höchstes Wesen bezeichnet. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts setzten eurozentrisch denkende Völkerkundler und Missionare viele Hochgottvorstellungen vorschnell und undifferenziert mit der christlichen Gottesvorstellung gleich (etwa bei afrikanischen, australischen oder nordamerikanischen Göttern bzw. göttlichen Kräften). Die ethnographische Literatur ist voller Beispiele dafür. Häufig gilt der Hochgott als Schöpfer, der jedoch nicht angebetet wird, da er anschließend keinen Einfluss mehr auf das menschliche Leben nahm. Diese Vorstellung ähnelt dem Gottesbegriff des Deismus. Tatsächlich werden die Hochgötter der verschiedenen Kulturen ausgesprochen unterschiedlich beschrieben. Dazu im Folgenden exemplarisch eine Tabelle nach vier Kriterien (in Prozentwerte umgerechnet aus dem Handbook of Living Religions 1984): Nach kosmisch-natürlicher Funktion Schöpfergötter Eine in verschiedenen Kulturen verbreitete Vorstellung vom Ursprung der Welt stellt das urtümliche Universum als ein Ei dar, das in seiner Schale die Fähigkeit zur Erschaffung aller Dinge enthält. Üblicherweise findet dann ein Ereignis statt, das Veränderungen und Entwicklungen bewirkt (siehe auch Ätiologie: Erklärungssagen). Bei den westafrikanischen Dogon erschütterte der Schöpfergott Amma das kosmische Ei und ließ so Götter der Ordnung (Weltenordner) und Götter des Chaos frei. Die Vorstellung eines göttlichen Handwerkers oder Zimmerers ist in Afrika weit verbreitet. In mehreren Kulturen haben Elternwesen die Welt erschaffen. Beispielsweise begann die Welt im Schöpfungsmythos der Maori, als der Himmelsvater und die Erdmutter Rangi und Papa durch ihre Söhne getrennt wurden. Bei den Azteken bestand die Schöpfung darin, dass sich die Gottheit Ometecutli sich in ihre männlichen und weiblichen Teile trennte: Ometeotl und Omecihuatl. Eine Variante des dualen Schöpfungsmythos findet sich im antiken Griechenland: Die Erdmutter Gaia und der männliche Himmelsgott Uranos gelten als die ersten beiden Götter. Der Schöpfungsmythos eines ersten Götterpaares fand sich außerdem in der japanischen Mythologie mit der Überlieferung von Izanagi und Izanami sowie in allen Kulturen von Ozeanien. In einigen Vorstellungen wurde die Welt – teils auch die Götter selbst – geschaffen, indem ein Lebewesen geopfert wurde. In der nordischen Religion etwa schlachteten die drei Schöpfergötter den Urzeitriesen Ymir, dessen Organe zu Teilen der Welt wurden. Ähnliches wird in einer vedischen Hymne von Purusha und in der chinesischen Mythologie von Pangu berichtet. Der antike griechische Philosoph Aristoteles erwähnt im siebten Buch seiner Metaphysik einen immateriellen „unbewegten Beweger“ (altgriechisch ού κινούμενον κινεῖ) als erste Ursache, die der bereits vorhandenen Materie Struktur verliehen hat. Aristoteles verneint jedoch eine Schöpfung, denn die Materie sei ewig und unerschaffen. Platon vertritt in seinem Timaios die Auffassung, dass ein Schöpfergott (Demiurg) der ungeordneten Ur-Materie eine Form verliehen haben muss, um daraus ein vernünftiges Ganzes zu schaffen. Einige Götter haben sich „selbst erschaffen“, wie zum Beispiel Ometecuhtli bei den Azteken oder der Aborigine-Gott Baiame. In anderen Kulturen wie dem Christentum wird die Ansicht einer „Schöpfung aus dem Nichts“ vertreten (creatio ex nihilo), bei der ein Gott ohne jegliche Voraussetzungen auskommt. Nicht alle Schöpfergötter haben alles erschaffen. Der Gott Karei oder Ta Pedn der Semang zum Beispiel hat alles außer der Erde und den Menschen geschaffen; diese sind das Werk des untergeordneten Gottes Ple. In vielen Kulturen haben Schöpfergötter für die Menschen eine untergeordnete Rolle. Ein Beispiel ist Bunjil aus der Religion der Aborigines, der nach der Schöpfung von Erde, Bäumen, Tieren und Menschen seinen beiden Kindern die Macht über Himmel und Erde übergeben hat. Seitdem hat er sich von der Welt zurückgezogen und schwebt über den Wolken. Manche Religionen kennen einen Zyklus aus Schöpfung und Vernichtung und erneuter Schöpfung. Eine der kompliziertesten Varianten findet sich im Hinduismus. Hier entspringt dem Bauchnabel von Vishnu eine Lotusblume, die den Schöpfergott Brahma freigibt. Hierbei stellt der Schöpfergott, Brahma eine männliche, personale Gottheit dar, die sich aus dem Brahman entwickelt hat. Das Brahman ist die Bezeichnung für das unwandelbare, unsterbliche Absolute, das Höchste. Es bezeichnet die unpersönliche Weltseele, die ohne Anfang und ohne Ende existiert, es ist das letzte Eine, das selbst keine Ursache hat, aus dem aber alles entstanden ist. Die von dem Gott Brahma erschaffene Welt existiert eine sehr lange Zeit, bis sie sich in Chaos auflöst und der ganze Zyklus erneut beginnt. Weitere zyklische Vorstellungen der Welt finden sich unter anderem bei den Hopi-Indianern und den Azteken. Himmels- und Sturmgötter Götter, die sich im Himmel offenbaren, wurden und werden sehr oft als die höchsten Götter betrachtet; typische Beispiele sind der frühvedische Gott Varuna und der iranische Gott Ahura Mazda. Der Glaube an Himmelsgötter als höchste Wesen, welche die Welt erschaffen haben, ist bis zu einem gewissen Grad in allen Ethnien anzutreffen. Solche Götter gelten jedoch meist als passiv, sodass ihnen in der religiösen Praxis eine unerhebliche Rolle zukommt. Bedeutender ist der Glaube an heilige Kräfte und Wesen, die dem Alltagsleben des Menschen näherkommen und die ihm zweckmäßiger erscheinen. Diese heiligen Kräfte nehmen unterschiedliche Formen an und reichen von Totemismus und Ahnenkulten bis hin zu Totengeistern und Sonnengöttern. Laut Mircea Eliade standen Himmelsgötter vormals oft im Zentrum des religiösen Lebens, wurden aber mit der Zeit durch zugänglichere Formen ersetzt. Beispiele für Himmelsgötter, die nach wie vor kultisch verehrt werden, sind der Zuñi-Gott Awonawilona und der Schöpfergott der San, Cagn. Bei vielen Völkern der afrikanischen Trockensavanne, insbesondere bei nilotischen Stämmen ist die Gottesvorstellung schon semantisch eng mit dem Phänomen des Regens verbunden. In Kulturen mit differenzierten polytheistischen Vorstellungen gehen Himmelsgötter über meteorologisch-astronomische Phänomene hinaus. Oft wird ihnen eine außerordentliche Macht zugesprochen; der höchste Gott der arktischen Völker zum Beispiel ist ein allmächtiger Herrscher über die Welt. Im Gegensatz dazu ist der Himmelsgott einiger sibirischer und zentralasiatischer Völker so weit von der Welt entfernt, dass er sich nicht um menschliche Belange kümmert. Der Donner war immer ein wichtiges Kennzeichen von Himmelsgöttern. Indianerstämme aus Kansas behaupteten, dass sie ihren Gott Wakan nie zu Gesicht bekommen, aber oft seine Stimme als Donner vernommen hätten. Die Spezialisierung von Himmelsgöttern zu Sturm- und Regengöttern erklärt sich laut Eliade durch ihre Passivität, die im Gegensatz zum direkten Einfluss der Sturmgötter auf die Landwirtschaft steht. Das vedische Ashvamedha-Opfer war zunächst dem Himmelsgott Varuna gewidmet, dessen Stelle wurde aber später vom Sturmgott Prajapati und manchmal auch Indra eingenommen. Weitere bekannte Beispiele für Sturmgötter sind Zeus, Min, Rudra, Adad, Iupiter Dolichenus und Thor. Häufig wiederkehrende Themen bei Sturmgöttern sind neben Regen und Donner die Heirat mit einer Erdmutter sowie eine rituelle und mythologische Beziehung zu Stieren. Min, Baal und Adad zählen zu den Göttern, die als Stiere repräsentiert werden und die nicht aufgrund ihrer himmelsartigen Attribute verehrt werden, sondern durch ihre Heirat mit der Erdmutter und den daraus erwachsenden lebensspendenden Funktionen. Demgegenüber bewahrten Zeus, Jupiter und El aufgrund ihrer Rolle als Weltherrscher eine gewisse Autonomie und Vormachtstellung im Pantheon. Sonnen- und Mondgötter Die Sonnenanbetung war vor allem in Ägypten, Asien und im primitiven Europa vorherrschend. In Afrika wurde der höchste Gott recht häufig mit der Zeit in einen Sonnengott umgewandelt; zahlreiche afrikanische Völker geben ihrem höchsten Gott den Namen „Sonne“. Bei den Kavirondo ist die Sonne der höchste Gott, und die Kaffa nennen ihr höchstes Wesen Abo, was sowohl für „Vater“ als auch für „Sonne“ steht. Ähnlich wie Himmelsgötter sind auch Sonnengötter in Afrika selten zentraler Gegenstand der Verehrung. Ebenso waren die Sonnengötter Atum-Re im alten Ägypten, Huitzilopochtli in Mexiko, Amaterasu in Japan und die Sonnengötter diverser Indianerstämme die höchsten Götter. Sonnengötter können auch Zerstörungen hervorrufen, insbesondere bei Wüstenvölkern. In Ägypten führte Re die toten Seelen durch die Unterwelt. Auch der sumerische Gott Utu stand mit der Unterwelt in Beziehung, wo er über die Seelen richtete. Da die Mondphasen mit den Gezeiten zusammenhängen, werden Mondgötter oft mit dem Wasser in Beziehung gesetzt. Der sumerische Gott Nanna etwa herrschte über die Wasser, und Ardvisura Anahita, die iranische Göttin des Wassers, war zugleich ein Mondwesen. Ähnliche Verbindungen bestanden bei den Irokesen und mexikanischen Kulturen. Ein zentralbrasilianisches Volk nennt die Tochter des Mondgottes „Mutter des Wassers“. Eine große Zahl von Fruchtbarkeitsgöttern stehen außerdem mit dem Mond in Verbindung, so etwa Ištar in Mesopotamien, Anaitis im Iran und Selene in Griechenland. Mondgötter wie Thot in Ägypten oder Aningaaq bei den Inuit messen die Zeit und regeln Naturerscheinungen. Götter, die mit den Sternen und Planeten in Verbindung gebracht werden, gelten gelegentlich als die Augen des Himmelsgottes, weshalb ihnen oftmals Allwissenheit zugesprochen wird. Erd- und Wassergötter Eine der ersten Theophanien der Erde und des Bodens war die einer Mutter, die mit Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht wurde. Obwohl viele Erd- und einige Fruchtbarkeitsgötter als androgyn beschrieben werden, ist die Vorstellung einer personifizierten Erde oder Erdmutter weit verbreitet. Gaia wurde in Griechenland recht häufig verehrt. Laut Hesiods Theogonie entstand aus ihrem Schoße Uranos, mit dem sie zusammen in einer Form der Hierogamie eine ganze Familie von Göttern gebar. Die Entwicklung der Landwirtschaft führte dazu, dass die Erdmutter zugunsten einer Göttin der Vegetation und Ernte in Vergessenheit geriet; in Griechenland beispielsweise nahm Demeter den Platz von Gaia ein. Diese Entwicklung verlieh männlichen, befruchtenden Göttern wieder neues Gewicht. Derartige landwirtschaftliche Kulte waren sehr beständig und reichen in einigen Fällen von prähistorischen Zeiten bis in die Gegenwart. Fluss- und Wassergötter wurden in mehreren Kulturen verehrt, so etwa Anahita im Zoroastrismus und Sarasvati im Hinduismus. Ein sehr bekannter Flussgott der Griechen, Acheloos, wurde von Homer nicht nur mit dem gleichnamigen Fluss in Verbindung gebracht, sondern als Gott aller Flüsse, Seen und Quellen zu den großen Göttern gezählt. Über allen kleineren Wassergöttern stand Poseidon, der Gott des Meeres. In der nordischen Religion personifiziert Ägir den endlosen Ozean. Für Hindus ist Ganga (der Fluss Ganges) eine mächtige Göttin, die das Land versorgt und zwischen der irdischen und der göttlichen Welt vermittelt. Sedna, die Meeresgöttin der Inuit, ist die Mutter aller Wassertiere, sorgt aber auch für Hunger und Verwüstung, wenn Menschen Tabus verletzen. Bei den Dogon sind die amphibischen Wassergottheiten, die Nommo, mit dem Himmel assoziiert. Sie werden auch als Ahnengeister verehrt. Nach sozialer Funktion Georges Dumézil stellte drei hauptsächliche soziale Funktionen bei Göttern der proto-indoeuropäischen Kultur fest: die Funktion eines Herrschers mit magischen und rechtsprechenden Aspekten, eine physische Macht- und Mutfunktion, insbesondere in Kriegszeiten, sowie eine Fruchtbarkeits- und Wohlstandsfunktion. Auf andere Kulturen ist dieses Schema nur bedingt anwendbar. So etwa kombinieren viele Götter des Nahen Ostens und in Afrika die Funktionen eines Herrschers und eines Kriegsherren, während andere Kulturen nicht klar zwischen den Ernte- und den Kriegsfunktionen trennen. Hüter der Moral und Gesellschaft Die höchsten Götter sind oft zugleich Hüter der gesellschaftlichen Ordnung und der Moral. Derartige Götter ziehen Menschen zur Verantwortung, richten über sie und bestrafen sie, entweder direkt oder indirekt durch andere Götter. Im vedischen Verständnis gilt Varuna als Schützer des kosmisch-moralischen Gesetzes (rta). Der jüdisch-christliche Gott JHWH ist der Urheber des Gesetzes. In der römischen Religion war Jupiter der Hüter des Eides, der Verträge und der moralischen Pflichten. In Babylon wachte die Versammlung der großen Götter über die Gesellschaft und bestimmte über die menschlichen Schicksale. Kriegsgötter und Beschützer Diejenigen Götter, die ihre physische Macht einsetzen, fungieren oftmals gleichzeitig als Kriegsgötter. Diese Rolle kommt besonders kosmischen Sturmgöttern zu, zum Beispiel Indra in den Veden, Thor in der nordischen Religion, Marduk bei den Babyloniern oder JHWH bei den Israeliten. Ein klassischer Kriegsgott ist Mars, der den römischen Staat gegen die Feinde verteidigte, aber auch Felder und Herden vor Unglücken schützte. Für die Yoruba ist Ogún der Gott der Jagd, der Eisenherstellung und des Krieges. Viele Göttinnen werden ebenfalls als göttliche Kämpferinnen und Beschützerinnen verehrt, so etwa Anat bei den Kanaanäern, Athene bei den Griechen oder Durga in der hinduistischen Tradition. Göttliche Beschützer sind sehr vielfältig und reichen von Castor und Pollux, den Beschützern der römischen Soldaten, bis hin zu den Straßen-Kami in Japan. Fruchtbarkeitsgötter Fruchtbarkeitsgötter bilden eine sehr große und vielfältige Kategorie. In Griechenland war Hera, die Gattin des Zeus, Göttin der Heirat, und Aphrodite sowie Eros sind Liebesgötter. In Skandinavien war Freya die Göttin der Liebe und der Ehe. Die aztekische Göttin Xochiquetzal war eine beliebte Göttin der Künste, Liebe und Liebeslust. Volkstümliche mexikanische Darstellungen identifizieren die Jungfrau Maria mit einer indigenen Fruchtbarkeitsgöttin, die vor dem Eintreffen der Europäer das Land beherrschte. Haushalts- und Dorfgötter Hestia war die griechische Göttin des Familienherdes, ebenso wie Vesta bei den Römern, wo sie eine besondere staatliche Kultstellung einnahm. In der vedischen Zeit herrschte Agni, Gott des Feuers, gleichzeitig über den Familienherd, ebenso wie Zao Jun in der chinesischen Volksreligion. Im alten Ägypten war Neith die Göttin des häuslichen Handwerks, ähnlich Athene bei den Griechen. Für die Ainu Nordjapans war die Feuergöttin Iresu-Huchi gleichzeitig die Göttin des Haushalts, dem sie Frieden und Wohlstand schenkte. Traditionelle japanische Haushalte zeigen Bildnisse von Daikoku und Ebisu als Schützer des Haushaltes. Auch Dörfer haben nicht selten eigene Götter, die ihnen Schutz und Gedeihen sichern. Der chinesische Erdgott Tudigong wird in vielen Dörfern Ostasiens verehrt. In Indien haben die meisten traditionellen Dörfer ihre eigenen Götter, häufig weibliche Gottheiten, (Gramadevata), die in Festen als Dorfgründer und Beschützer, aber auch als gelegentliche Ursache von Krankheiten und Katastrophen gedacht werden. Götter der Heilung, Krankheit und des Todes Während einige Götter Krankheit und Tod bringen, heilen andere Kranke und beschützen die Toten, und andere Götter wiederum vereinen diese beiden Funktionen. Bekannt ist der griechische Gott Asklepios der Medizin und Heilkunst. In China wurde der Arzt Baosheng Dadi nach seinem Tod zum Gott der Medizin erhoben. Zu den Göttern, die Krankheiten herbeiführen, zählen Pakoro Kamui bei den Ainu sowie Lugal-Irra und Namtar in Mesopotamien. Letzterem wurde nachgesagt, 60 verschiedene Krankheiten verursachen zu können. In den Veden bringt Rudra oft Krankheit und Verwüstung, wird aber auch als Heiler verehrt. Die Eigenschaften, die Totengöttern zugeschrieben werden, hängen von den religiös-kulturellen Vorstellungen des Geschehens nach dem Tode ab. Die ägyptische Göttin Hathor behütet die Toten, und im Hinduismus richtet Yama über die Toten. Götter der Kultur, Künste und Technologie Die Götter, die in Verbindung mit dem kulturellen Leben stehen, sind recht vielfältig. In mehreren Religionen gilt die Kultur als gottgegeben; Dichter, Maler, Bildhauer und Tänzer wurden durch Götter zu kreativen Leistungen inspiriert. Im Hinduismus ist laut dem Ramayana Rama der Überbringer der Kultur. Sarasvati, die Göttin des Lernens, der Kunst und Musik, wird sehr oft in Schulfeiern verehrt, und Shiva trägt den Beinamen „König des Tanzes“. In Ägypten war Thot der Erfinder aller Künste und Wissenschaften, von der Arithmetik bis zur Hieroglyphenschrift. Für fast jeden Beruf und jedes Handwerk gibt es einen Gott. Njörðr war in der nordischen Religion der Schutzherr der Schiffsbauer und Seeleute. In Griechenland wurden Herakles und Hermes vor allem mit dem Handel, Athene mit Handwerkerinnen, und Hephaistos mit der Schmiedekunst in Verbindung gebracht. Bei den Yoruba sorgt Ogún für Wohlstand bei all jenen, die im Beruf mit Metall in Berührung kommen, zum Beispiel Goldschmiede, Barbiere, Mechaniker und Taxifahrer. Nach Charaktereigenschaften Göttern wird mit anthropomorphen Begriffen oft eine spezifische Persönlichkeit zugeschrieben, die gütige und zornige Eigenschaften einschließt. Sehr grausam sind die Muttergöttinnen der Azteken wie etwa Coatlicue, die mit einer Bluse aus menschlichen Händen und Herzen dargestellt wird. Sie gebar den Kriegsgott Huitzilopochtli, der seine vierhundert Geschwister tötete. JHWH wird in der Tora sowohl milde als auch grimmig dargestellt. In Indien besitzen die wichtigsten Götter eine „sanftmütige“ und eine „furchtbare“ Form. Obwohl Kali für Tod und Verwüstung steht und ihre Kinder frisst, wird sie von vielen Hindus als liebevolle Mutter verehrt. Die Göttin Hina der Hawaiier ist ein weiteres Beispiel für einen Gott, der das Gedeihen fördert, aber auch Tod und Verwüstung über die Menschen bringt. Vor der christlichen Missionierung glaubten die Kikuyu, dass ihr Gott ein Gott der Liebe sei, er aber jene, die ihm nicht gehorchen, mit Hunger, Krankheit und Tod bestraft. Andere Götter werden als vollkommen gütig betrachtet. Für Platon war Gott das moralisch Beste und Vollkommene, und für manche christliche Theologen ist Gott allgütig. Im Gegensatz dazu waren die Götter des griechischen Pantheons für ihr oftmals unmoralisches Tun bekannt. Das Volk der Chagga kennt den Schöpfergott Ruwa, der zugleich Hüter der Moral ist. Dieser Gott ist allgütig, sodass die Menschen keine Angst vor ihm haben müssen; gefürchtet sind allein die Totengeister. Der Gott Buga der Ewenken sitzt auf einem weißen Marmorthron und herrscht über alle Dinge, tut aber nur Gutes und bestraft nicht. Gottmenschen und Halbgötter Götter können nicht nur mit Anthropomorphismen beschrieben werden, sondern auch ein unverblümt menschliches oder menschenartiges Wesen besitzen. Hierzu zählen Halbgötter wie Perseus in der griechischen Mythologie oder Māui in der Religion der Maori. Diese Halbgötter sind gegenüber echten Göttern meist in ihrer Macht eingeschränkt. Ein Beispiel für einen Menschen, der zum Kriegsgott erklärt wurde, ist der chinesische General Guan Yu. Das chinesische Mädchen Mazu wurde als Göttin in den Himmel aufgenommen und wird seitdem als „Himmelskönigin“ und Schützerin der Seeleute verehrt. Umgekehrt können einige Götter in menschlicher Form erscheinen, so etwa Jesus im christlichen Dogma der Menschwerdung sowie die Avatara von Vishnu. Die Apotheose ist die Vergöttlichung eines als heldenhaft angesehenen Menschen, der als Gottkönig verehrt wird. Beispiele dafür sind Alexander der Große und Gaius Iulius Caesar, der im Römischen Reich als Divus Iulius verehrt wurde. Nach metaphysischen Eigenschaften Die übernatürlichen Eigenschaften, die Göttern zugesprochen werden, variieren. Einige Götter sind allwissend, allmächtig und allgegenwärtig, während andere nur beschränkten Wissenszugang besitzen oder nur in bestimmter Hinsicht mächtig sind. In der Philosophie der Antike sind systematische Betrachtungen zu Gott oder den Göttern häufig anzutreffen. Auch in der hinduistischen Philosophie, der Theologie der abrahamitischen Religionen und der modernen abendländischen Philosophie finden sich rationale Überlegungen zu den metaphysischen Eigenschaften des Göttlichen (vergleiche Natürliche Theologie). Nicht immer wird dabei das Wort „Gott“ verwendet. Verschiedene griechische Philosophen sprachen von „dem Einen“, und Georg Wilhelm Friedrich Hegel verwendete Synonyme wie das „unendliche Leben“, „das Absolute“, der „Begriff“, die „Idee“, der „absolute Geist“ oder die „einzige absolute Wirklichkeit“. Ein tendenziell abstraktes Gottesbild entsteht aus dem Anspruch der Desillusionierung mythologisch-religiöser Gottesvorstellungen durch rationale Erwägungen. Zwar unterscheidet sich ein derartiger, in Blaise Pascals Mémorial so genannter „Gott der Philosophen und Gelehrten“ in mancherlei Hinsicht von einem Gott der Mythologie und Offenbarung, häufig gehen Philosophen und Theologen aber davon aus, dass es sich bei beiden lediglich um unterschiedliche Beschreibungen derselben Realität handelt. Verhältnis zur Welt Je nach metaphysischer Weltanschauung wird das Verhältnis zwischen den Göttern und der Welt unterschiedlich dargestellt. In einigen Vorstellungen sind Gott oder die Götter völlig von der Welt getrennt, in anderen schließt ein Gott die Welt teilweise oder ganz ein. Klassischer Theismus Der Theismus kann zunächst – so etwa bei Richard Swinburne oder John Leslie Mackie – als Gegensatz zum Atheismus, dem Nichtglauben an Götter, betrachtet werden. Hier bezeichnet der Begriff jegliche Weltanschauung, die die Existenz einer göttlichen Instanz annimmt. Im engeren Sinne bezeichnet klassischer Theismus den Glauben an einen oder mehrere Götter, die mit der Welt nicht identisch sind, diese aber lenken und in sie eingreifen, und die eventuell auch ewig und unveränderlich sind. Deismus Das Wort „Deismus“ hat die gleiche Wortherkunft wie „Theismus“, wurde aber bereits bei seiner ersten bekannten Verwendung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit abweichender Bedeutung verwendet. Von verschiedenen Denkern wurde die Bezeichnung unterschiedlich verwendet, sie hatte aber in jedem Fall einen unorthodoxen Beiklang, der sich von der etablierten Religion abgrenzte. Deisten vertraten im Allgemeinen einen undogmatischen Monotheismus und wiesen übernatürliche Offenbarungen zurück. Der Deismus hatte seine Blütezeit während der Aufklärung und war besonders im angloamerikanischen Raum verbreitet, wo Anthony Collins und Thomas Paine als bekannte Verfechter hervortraten. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert etablierte sich eine weitere Bedeutung von Deismus als Glaube an einen Gott, der sich nach der Schöpfung zurückgezogen hat und seitdem nicht mehr in die Welt eingreift. Emanationismus Gemäß dem Emanationismus ist alles aus einem Urprinzip (Gott) durch Emanation, einen Prozess ähnlich dem Ausfließen oder Ausstrahlen, hervorgegangen. Mit zunehmender Emanation werden die Produkte immer weniger perfekt; die transzendente Quelle – von Plotin „das Eine“ genannt – bleibt davon unberührt. Der Emanationismus findet sich in gnostischen Lehren, wie zum Beispiel in der Pistis Sophia und einigen Schriften des Valentinus. Die kabbalistische Philosophie, Theosophie und das Bahaitum wurden ebenfalls durch den Emanationismus beeinflusst. Im Gegensatz zum Pantheismus ist das göttliche Urprinzip transzendent und nicht immanent. Einige Philosophen betrachten den Emanationismus als Form des Panentheismus. Panentheismus Das Wort „Panentheismus“ wurde 1828 von Karl Christian Friedrich Krause geprägt. Nach panentheistischer Auffassung ist die Welt Teil eines einzigen Gottes, aber nicht mit diesem identisch. Der Panentheismus stellt insofern einen Mittelweg zwischen klassischem Theismus und Pantheismus dar, als er einerseits einen Gott mit Verstand und Willen annimmt, andererseits aber die enge Verbindung zwischen Gott und dem Universum herausstellt. Für Gustav Theodor Fechner beispielsweise gehörte die Welt zu Gott, ähnlich wie der Körper nur ein Teil des Menschen ist, wobei dessen Geist den anderen Teil darstellt. Die Prozesstheologie vertritt ebenfalls eine panentheistische Sicht. Der Begriff lässt sich auch weiter fassen; in diesem Sinn kann unterschieden werden zwischen individuellem Panentheismus („Gott existiert in meinem tiefsten Inneren“), ontologischem Panentheismus („Gott ist der Grund aller Existenz“), sozialem Panentheismus („Gott existiert in unserer Beziehung zu anderen Menschen“) und kosmischem Panentheismus („Gott findet sich in der Natur oder in der Schönheit“). Pantheismus Der erst im frühen 18. Jahrhundert so genannte Pantheismus bezeichnet die Auffassung, dass alles Existierende göttlich ist. Pantheisten wenden sich gegen die Auffassung, dass Gott und das Universum verschiedene Dinge sind. Im 16. Jahrhundert stellte Giordano Bruno die These auf, dass Gott sich in allen Dingen manifestiere, die ein ineinander greifendes Ganzes bilden. Für Baruch Spinoza gab es nur eine einheitliche Substanz, nämlich Gott. Paul Harrison, der Begründer des World Pantheist Movement, unterscheidet zwischen wissenschaftlichem, idealistischem und dualistischem Pantheismus; letzterer behauptet die Existenz eines immateriellen Geistes. Naturalistischer Theismus Der religiöse oder spirituelle Naturalismus – ein spätestens seit den 1940er Jahren in der US-amerikanischen Theologie anzutreffender Begriff – geht davon aus, dass alles Existierende im Prinzip naturwissenschaftlich erklärbar ist. Zugleich wird eine religiöse Haltung gegenüber der Welt oder Teilen der Welt eingenommen, ohne eine höhere, ontologisch getrennte Realität anzunehmen. Sofern das Objekt der religiösen Orientierung als Gott bezeichnet wird, kann diese Haltung als „naturalistischer Theismus“ bezeichnet werden. Gott ist hier entweder der kreative Prozess innerhalb des Universums (so bei Shailer Mathews und Henry Nelson Wieman) oder die Gesamtheit des Universums. Zumindest der „wissenschaftliche“ Pantheismus ist demnach eine Form des naturalistischen Theismus. Weitere Attribute Transzendenz und Immanenz Der jüdisch-christliche Gott wird von den meisten Theologen als transzendent betrachtet, das heißt, er ist „außerhalb“ der Welt, die er erschaffen hat. Gleichzeitig ist er bis zu einem gewissen Grad auch immanent, also Teil der Welt – zum Beispiel durch seine Anwesenheit in den religiösen Gefühlen Gläubiger. Auch im Hinduismus wurde Gott gelegentlich als transzendent beschrieben, so etwa vom Hymnendichter Nammalvar. Ramanuja schrieb einerseits, dass Gott den Menschen nicht durch Meditation oder Gebete zugänglich sei, sich aber andererseits denen, die ihn anbeten, in menschlicher Form gezeigt habe. Im Islam gilt Gott sowohl als transzendent als auch als immanent. Bei den Lugbara, einem in der Grenzregion Uganda/Demokratische Republik Kongo ansässigen Volk, wird eine transzendente (Adroa) und eine immanente (Adro) Form von Gott unterschieden. In seiner immanenten Form lebt er zeitweise auf der Erde in Flüssen, Bäumen, Dickichten und Bergen. Wissen Die Vorstellung eines allwissenden (omniszienten) Gottes ist in vielen Kulturen verbreitet und spätestens im 6. Jahrhundert v. Chr. bei Xenophanes nachweisbar. Die großen monotheistischen Religionen vertreten eine omnisziente Gottesvorstellung; bereits im Tanach wird JHWH als allwissend beschrieben, siehe etwa . Im Hinduismus gilt Varuna als allwissend. Die meisten der allwissenden Götter sind Himmelsgötter, so etwa Tororut bei den Pokot in Kenia, Ngai bei den Massai oder Tengri bei den Altaiern. Meist sind es böse Taten, die die Aufmerksamkeit der allwissenden Götter auf sich ziehen. Macht Das Konzept der Allmacht (Omnipotenz) wird von allen abrahamitischen Religionen vertreten, findet sich aber häufig auch außerhalb, wie etwa bei Alhou, dem höchsten Wesen der Sema-Naga, oder beim Gott Karai Kasang der Jingpo. Bei den Azteken war Tezcatlipoca allmächtig „in Erde und Himmel“. In jedem Fall werden Götter häufig als mächtig dargestellt, und göttliche Beinamen wie „der Allmächtige“ sind weit verbreitet. Manche Völker bringen die göttliche Macht vor allem mit der Natur, andere eher mit menschlichen Belangen in Verbindung. Andererseits wurde der kanaanäische Gott El manchmal alt und kraftlos dargestellt, als er durch Baal ersetzt wurde. Zu beobachten ist in verschiedenen Kulturen eine Tendenz zur Vereinigung lokaler Götter zu großen Göttern, die alle vorherigen Machtattribute übernehmen. Allgegenwart Die Allgegenwart (Ubiquität) ist ebenfalls eine weitverbreitete Eigenschaft von Göttern. Unter den antiken Philosophen wurde sie von Sokrates und Epiktet vertreten. Amun, der ägyptische Wind- und Fruchtbarkeitsgott, wurde als „der, der allen Dingen innewohnt“ bezeichnet. Die Bena in Tansania glauben, dass ihr Gott „überall gleichzeitig ist“. Oft kombinieren Götter Allwissen und Allgegenwart; so etwa wurde in Flores, Indonesien, vom Gott Dua Nggae behauptet, er sehe alles, wisse alles und sei überall. In manchen Völkern werden Götter, wenn auch allgegenwärtig, mit bestimmten Plätzen in Verbindung gebracht. Die Langi glauben zum Beispiel, dass Hügel mit Gott in Verbindung stehen und dass es deshalb gefährlich ist, in deren Nähe Häuser zu bauen. Im antiken Griechenland weilten die wichtigsten Götter im Himmel oder auf dem Olymp. Persönlichkeit In der westlichen Philosophie und Theologie wurde Gott fast immer als persönliches Wesen betrachtet, so etwa bei Platon und Aristoteles. Einige Philosophen wie Hegel sahen in persönlichen Beschreibungen Gottes eine unvollkommene Vorstellung des Absoluten. Auch hinduistische Texte wie die Bhagavad Gita beschreiben Gott als persönliches Wesen, während Shankara unpersönliche Auffassungen des Brahman vertrat. Immaterialität Mehrheitlich gilt der abrahamitische Gott als immateriell, also nicht-materiell. Philosophen, die die Welt als Teil dieses Gottes oder als Verkörperung seines Wesens sehen, halten Gott zumindest teilweise für materiell. Eine solche Auffassung wurde beispielsweise von den Stoikern vertreten, die ihn mit den Grundelementen Luft und Feuer gleichsetzten. Im Gegensatz zu den Kirchenvätern und der Mehrheit der christlichen Philosophen wie Thomas von Aquin, die für die Immaterialität und Geistigkeit Gottes argumentierten, gab es einzelne christliche Schriftsteller wie Tertullian, die Gott „corporalis“ (körperhaft) nannten. Von der überwiegenden Zahl der platonisch oder aristotelisch beeinflussten Denker wurde jedoch gelehrt, dass ein materielles Wesen Gottes Perfektion bzw. Vollkommenheit widersprechen würde. Afrikanische Völker halten den jeweiligen Hochgott ebenso im Allgemeinen für ein körperloses, immaterielles Geistwesen, wenngleich er in anthropomorphen Metaphern beschrieben wird. Unsichtbarkeit Als übernatürliche Geistwesen sind Götter zumindest zeitweise unsichtbar. In einigen Völkern gilt Gott als unsichtbar, während seine Wirkungen physisch spürbar sind, zum Beispiel als Wind. Andere Kulturen halten natürliche Phänomene und Objekte – den Himmel, Gestirne oder Donner – für Erscheinungsformen von Göttern. Einige Götter sind jedoch zum Teil sichtbar. In dem Tora-Bericht des brennenden Dornbuschs verhüllt sich Mose das Gesicht aus Furcht, Gott anzusehen. Der Himmelsgott der San ist üblicherweise unsichtbar, zieht aber manchmal mit hellem Licht vorüber, und seine Stimme ist als Donner zu vernehmen. Unergründlichkeit Die christliche Theologie unterscheidet drei Arten, etwas über Gott zu erfahren: Vernunft, Offenbarung und religiöse Erfahrung. In der natürlichen Theologie wird versucht, durch Vernunft und Beobachtung Aussagen über Gott zu treffen. Im Allgemeinen werden jedoch Götter zumindest teilweise als unergründlich betrachtet. Die Alur halten ihren Gott für „praktisch unerkennbar“, und die Lugbara geben zu, nicht viel über das Wesen ihres Gottes zu wissen, da er sich der menschlichen Vorstellung entzieht. Ähnliches wird auch im Islam behauptet: Der Mensch als begrenztes Wesen kann Gott, der frei von „Grenzen und Dimensionen“ ist, nicht wie andere Dinge begreifen. Søren Kierkegaard ging so weit, Gott als das Unergründliche zu definieren. Ewigkeit und Zeitgebundenheit In vielen Völkern finden sich Beinamen für Götter wie „der Immerwährende“, „der Ewige“ oder „der, der immer da ist“; oft wird gleichzeitig die Unveränderlichkeit betont. Christliche Denker wie Boëthius, die Gott als perfektes Wesen betrachteten, waren zugleich von dessen Ewigkeit überzeugt. Dass Gottes Natur unveränderlich ist, wurde von Platon, wie auch jüdischen und christlichen Theologen behauptet, insbesondere von Augustinus von Hippo. Im Gegensatz dazu steht ein Gott, der in die Zeit eingebunden ist und mit seinen Geschöpfen interagiert. Ein solches „relationales“ Gottesbild wird zum Beispiel von Richard Swinburne und William Lane Craig vertreten. Im alten Ägypten konnten Götter sterben; so etwa wurde Osiris von seinem Widersacher Seth ermordet. Dies bedeutete aber wegen der kosmologischen Lehre von der zyklischen Wiederkehr nicht unbedingt die Beendigung der Existenz. Radikale Vertreter der Gott-ist-tot-Theologie der 1960er Jahre waren der Auffassung, dass Gott buchstäblich gestorben sei. Klassifikation von Hartshorne und Reese Charles Hartshorne und William Reese (1963) schlugen eine Klassifikation von Vorstellungen des „Höchsten“ nach metaphysischen Attributen vor. Sie identifizierten folgende fünf grundsätzliche Eigenschaften, die in verschiedenen Vorstellungen auftreten: Aus der Kombination dieser Eigenschaften ergibt sich nach Hartshorne und Reese folgende Einteilung: Darstellung in der Kunst und Literatur Bei der Darstellung von Göttern kann zunächst grob unterschieden werden zwischen Buchreligionen, die eine kanonisierte Heilige Schrift kennen, Kultreligionen, die von vor dem Bild des Gottes ausgeführten Kulthandlungen bestimmt werden, und „mystischen“ Religionen, die Wort und Bild letztlich als unangemessene Form der Aussage über das Göttliche betrachten. Zwar besaßen die Ägypter der Antike zahlreiche heilige Schriften, fassten diese aber nicht zu einer kanonischen Norm zusammen. Die Götter erschienen eher in ihrem Bild als in ihrem Wort, weshalb die ägyptische Religion zu den Kultreligionen gezählt wird. Auch im antiken Griechenland spielte die Schrift neben der Bilderverehrung eine untergeordnete Rolle. Im Judentum hingegen offenbart sich Gott im Wort; bildliche Darstellungen werden daher verworfen. Ähnliches gilt für den Zoroastrismus. Im Christentum kam es über die Frage der Ikonenverehrung zum byzantinischen Bilderstreit. Auch wenn das Bilderverbot im Christentum oft nicht eingehalten wurde, lehnt die Theologie anthropomorphe Beschreibungen grundsätzlich ab, da Gott nicht auf eine Stufe mit profanen menschlichen Zügen gestellt werden soll. Das Bilderverbot im Islam wird vergleichsweise konsequent beachtet, weshalb einzig die Kalligrafie als schmückendes Element hervortritt. In einigen Kultreligionen wurden Götter als tierähnliche Wesen dargestellt, so etwa im Alten Ägypten und in den meso- und südamerikanischen Hochkulturen. Diese Bildnisse bedeuten nicht, dass man sich die angebeteten Götter genauso vorstellte. Vielmehr sollten sie die Andersartigkeit des nicht darstellbaren bekunden. Auch Darstellungen von Göttern mit spezifischen Attributen, wie zum Beispiel Sonnengöttern, sind nicht als Erscheinungsformen jener Götter zu deuten, sondern sollen lediglich wesentliche Aspekte bildlich zum Ausdruck bringen. Darstellung im Film Während mythologische Götter häufig in Filmen dargestellt werden, wird der „einzige Gott“ im Sinne monotheistischer Religionen nur selten in Filmen als Figur dargestellt, beispielsweise: 1977: Oh Gott … – US-amerikanische Filmkomödie von Carl Reiner, nach einem Roman von Avery Corman 1980: Gevatter Tod – DEFA-Märchenfilm von Wolfgang Hübner 1980: Tracy trifft den lieben Gott – US-amerikanische Filmkomödie von Gilbert Cates 1983: Zwei vom gleichen Schlag – US-amerikanische Fantasy-Filmkomödie von John Herzfeld 1989: Hotline zum Himmel – US-amerikanische Filmkomödie von Daniel Adams 1998: The Acid House – britischer Spielfilm von Paul McGuigan 1999: Dogma (Film) – US-amerikanische Fantasy-Satire von Kevin Smith 2003: Bruce Allmächtig – US-amerikanische Filmkomödie von Tom Shadyac 2007: Evan Allmächtig – US-amerikanische Filmkomödie von Tom Shadyac 2008: Thoda Pyaar Thoda Magic – Hindi-Film von Kunal Kohli 2011: Kein Mittel gegen Liebe – US-amerikanisches Filmdrama von Nicole Kassell 2011: Holy Flying Circus – britischer Fernsehfilm über die Kontroversen, die der Film Das Leben des Brian 1979 auslöste 2012: Jesus liebt mich – deutscher Spielfilm von und mit Florian David Fitz 2014: Gott ist nicht tot – US-amerikanisches christliches Filmdrama von Harold Cronk 2015: Das brandneue Testament – belgisch-französisch-luxemburgische Komödie von Jaco Van Dormael 2017: Die Hütte – Ein Wochenende mit Gott – US-amerikanisches christliches Filmdrama von Stuart Hazeldine Gottesvorstellungen verschiedener Kulturen Mesopotamien In der sumerischen Religion wurde das Numinose als unsichtbare Kraft oder „Élan vital“ betrachtet, die den Dingen innewohnt. Die sumerische Sprache bezeichnet beispielsweise mit Nanna sowohl den Mond als auch die in ihm verborgene Kraft, den Mondgott. Eine ähnliche Gleichsetzung von Objekt und Gott findet sich im Gilgamesch-Epos. Im vierten Jahrtausend v. Chr. wurden vor allem die Kräfte der Natur verehrt, besonders jene, die für das menschliche Überleben wichtig waren. Aus dem menschlichen Bedürfnis, mit den Göttern eine sinnvolle Verbindung aufzubauen, wurden anthropomorphe Götter bevorzugt. Die vorherrschende Form war die des Sohnes und Versorgers, dessen Lebensgeschichte den jährlichen Erntezyklus widerspiegelte, zum Beispiel Dumuzi. Inmitten der kriegsähnlichen Zustände zu Beginn des dritten Jahrtausends entwickelte sich die Vorstellung eines mächtigen göttlichen Herrschers und Kriegers. In den überlieferten Gebeten Gudeas zu Ningirsu, dem Hauptgott von Lagaš, wird dieser mit „Meister“, „Herr“ und „Krieger“ angeredet. Die neue Rolle der Götter als Beschützer und Militärchefs erforderte es, ihren Willen zu ergründen. Dies konnte in Traumvisionen oder durch Wahrsagen geschehen. Die Götter wurden außerdem als Verwalter ihres Gutes betrachtet. Anstatt alleine zu agieren, wurden sie durch höhere Götter oder durch die Götterversammlung mit besonderen Aufgaben betreut. Die Götterversammlung hatte im Wesentlichen die Aufgabe, über Übeltäter zu richten und hochrangige Amtsträger zu ernennen oder abzusetzen, und zwar sowohl Menschen als auch Götter. In dieser Beziehung wurden die Götter recht menschlich dargestellt; so etwa stärkten sie sich vor der Versammlung durch Speisen und Getränke. Im zweiten Jahrtausend entwickelte sich zunehmend eine „persönliche“ Religion, in der Gott sich um den Anbeter sorgt. Zum einen legte der Gläubige sein Vertrauen in das Mitgefühl des Gottes, zum anderen erwartete er Bestrafung für Sünden. Persönliches Glück wurde oft mit göttlicher Belohnung in Verbindung gebracht; in der akkadischen Sprache lautete die Bezeichnung für „Glück haben“ wörtlich übersetzt „einen Gott bekommen“. Deutlich wird die bescheidene Haltung und Selbsterniedrigung in den überlieferten Bußpsalmen und „Briefen zu Gott“. Die Vorstellung eines persönlichen Gottes beeinflusste ebenfalls die ägyptische Religion zu dieser Zeit und später die israelitische Religion. Der babylonische Schöpfungsmythos Enûma elîsch nennt etwa 300 Götter des Himmels und 300 Götter der Unterwelt. In Rykle Borgers assyrisch-babylonischer Zeichenliste lassen sich etwa 130 Götternamen belegen, wobei einige Beinamen oder Erscheinungsformen anderer Götter sind, und rund 25 als große Götter gelten können. Ägypten Wie auch andere prähistorische Völker scheinen die Ägypter ihre Ehrfurcht vor den Mächten der natürlichen Welt bekundet zu haben. Archäologische Funde deuten auf Götter in Tiergestalt wie Kühe oder Falken hin, die Aspekte des Kosmos repräsentierten. Zu Beginn der historischen Zeit gab es Götter wie Min und Neith, die in menschlicher Gestalt verehrt wurden. Das ägyptische Wort netjer umfasste sowohl als Götter verehrte Menschen als auch Geister und Dämonen, und selbst die Hieroglyphen wurden manchmal als Götter bezeichnet. Ägypten entwickelte mehrere Schöpfungsmythen, die nie zu einem Mythos vereinheitlicht wurden, aber einige gemeinsame Züge aufweisen. Laut der Achtheit von Hermopolis wurde die Welt durch vier Götterpaare erschaffen, die männliche und weibliche Aspekte des vorweltlichen Zustands verkörperten (Urgewässer, Endlosigkeit, Finsternis, Unsichtbarkeit). Ein anderer Mythos, die Neunheit von Heliopolis, beschreibt den Sonnengott Atum als Allerzeuger und Vater der Götter, aus dessen Körperflüssigkeiten weitere Götter hervorgingen. Nach der memphitischen Theologie erschuf der androgyne Gott der Metallarbeiter, Handwerker und Baumeister, Ptah, Atum und alle anderen Götter durch „Herz und Zunge“. Dies ist die früheste bekannte Variante der Logos-Vorstellung, in der die Welt durch kreative Rede eines Gottes Gestalt annimmt. Die Charaktereigenschaften der Götter waren sehr unterschiedlich. Einige Götter waren besonders hilfreich für den Menschen, wie beispielsweise Thot, Horus und Isis wegen ihrer heilenden Kräfte, während andere der Menschheit feindlich gesinnt waren. Andere Götter wiederum wiesen ambivalente Züge auf; Hathor etwa wurde als Göttin der Liebe, Musik und Feier verehrt, galt aber auch als rasende Zerstörerin der Menschheit. Viele Kulte der Hauptgötter bildeten mit der Zeit Familientriaden aus Vater, Mutter und Sohn, wie zum Beispiel Amun, Mut und Chons in Theben. Daneben bildeten sich Gruppen aus vier, fünf oder mehr Göttern, ohne dass ein klares Schema ersichtlich ist. Insbesondere während des Neuen Reiches war die persönliche Frömmigkeit weitverbreitet. Erhaltene Bittschriften zeugen davon, dass Götter menschliche Sünden vergeben konnten. Viele Götter änderten im Laufe der Zeit ihre regionalen Zugehörigkeiten, während andere zu regionalen oder landesweiten Göttern aufstiegen und umgekehrt. Auch der Charakter von Göttern konnte sich ändern; so etwa war Seths Natur, Beliebtheit und Bedeutung starken Schwankungen ausgesetzt. Osiris übernahm im Laufe der Zeit viele Beinamen und Eigenschaften anderer Götter. Eine ägyptische Besonderheit bestand in der Kombination unterschiedlicher Götter, indem man ihre Namen verknüpfte (beispielsweise Atum-Chepre und Amun-Re) und ihre Gestalt neu zusammensetzte. Aus der altägyptischen Zeit sind 1500 Götter namentlich bekannt, wobei nur von einer kleineren Zahl Genaueres bekannt ist. Isis gehörte zu den letzten ägyptischen Göttern, die überdauerten; noch aus dem Jahr 452 n. Chr. ist überliefert, dass Pilger im Tempel von Philae ihre Statue besuchten. Indien Die ältesten hinduistischen Schriften, die Veden, reichen bis in die Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. zurück. Ein wichtiger Begriff der hinduistischen Philosophie ist Brahman, eine nicht wahrnehmbare Abstraktion, die unendliche, immanente und transzendente Realität, welche den Grund aller Materie, Energie, Zeit, Raum, Sein und alles über dem Universum darstellt. Brahman lässt sich nicht definieren; es ist nach einem Ausspruch der Brihadaranyaka-Upanishad neti neti (nicht so, nicht so!). Die Götter, Ishvara und die Devas sind demnach symbolische Entitäten, die aus dem Brahman hervorgingen und die die leitenden Kräfte der Welt repräsentieren. Nach dem Brihadaranyaka-Upanishad ist der Lebenshauch (Prana) die Seele der Götter und einziges höchstes Wesen. Im Brihadaranyaka-Upanishad ist von 33 Göttern die Rede: acht Existenzsphären (Vasus), elf Lebensprinzipien (Rudras), zwölf Herrscherprinzipien (Adityas), einem Himmelsherrscher (Indra) und einem Erzeuger (Prajapati), die jeweils in verschiedenen Entwicklungssphären (Mahiman) auftreten. Diese Zahlen variieren jedoch je nach Text. Indra wird als allgegenwärtig beschrieben, und er ist in der Lage, jede beliebige Form anzunehmen. Laut dem Avyakta-Upanishad verkörpert er die Eigenschaften aller Götter und ist daher der wichtigste unter ihnen. Die Adityas personifizieren die Gesetze, die das Universum und die menschliche Gesellschaft beherrschen. Zu ihnen gehören Mitra (die Freundschaft), Aryaman (die Ehre) oder Varuna (der Verbindende). Hinzu kommen untergeordnete Götter wie die Söhne von Shiva, darunter Ganapati. Daneben werden weitere Götter beschrieben, wie die Ashvins, die Yakshas oder der Totengott Yama. Die Götter der Veden bilden nur einen kleinen Teil des hinduistischen Pantheons, und viele werden heute nicht mehr verehrt. Die Trimurti aus Brahma, Vishnu und Shiva repräsentiert die drei kosmischen Funktionen des Universums. Vishnu kann in beliebigen Avataras erscheinen. Shiva ging vermutlich aus seiner vedischen Entsprechung Rudra hervor. Während Rudra als aggressiv, aktiv und zerstörerisch beschrieben wurde, gilt Shiva auch als friedlich. Dennoch ist sein Charakter ambivalent; er besitzt furchtbare und sanftmütige Formen. Brahma ist die personifizierte, männliche Form des Brahman. Er gilt als erste Ursache alles Seienden und wird in verschiedenen Schöpfungsmythen beschrieben. Einige der hinduistischen Gottheiten besitzen eine männliche und eine weibliche Form. Die weibliche Kraft Shivas ist Shakti, die unter anderem als seine Gattin Parvati erscheint. Shiva wird auch früh dargestellt als „der Herr, der halb Frau ist“ (Ardhanarishvara). Üblicherweise verehren Gläubige einen bevorzugten Gott, ohne dessen aus dem Brahman hervorgehende Wesensart zu leugnen. Aus hinduistischer Sicht ist der Monotheismus nur die Verherrlichung eines bevorzugten Gottes; in der Bhagavad Gita erklärt Krishna, die Verehrung anderer Götter sei nur die Verehrung seiner selbst. Oft wurde versucht, Entsprechungen zu Göttern anderer Religionen und Glaubensrichtungen herzustellen; so wurde der vedische Rudra mit dem dravidischen Shiva, dem griechischen Dionysos und dem ägyptischen Osiris identifiziert. Einigen Hindus, die mit der christlichen Religion vertraut sind, gilt Jesus als Avatar Vishnus, denn Vishnu wird nicht als persönlicher Gott einer bestimmten Religion, sondern als universelles Prinzip betrachtet. Die Bezeichnung „Hinduismus“ entstand erst spät und fasst recht unterschiedliche Kulte zusammen. Weit verbreitet ist heute die Verehrung von Shiva im Shivaismus oder von Vishnu im Vishnuismus als Hauptgottheit oder höchstes Brahman. Hinzu kommt der Shaktismus, der Shakti, Devi oder eine der vielen anderen Göttinnen als Hauptgöttin verehrt. Neben dem Hinduismus liegt in Indien der Jainismus als atheistische Religion vor und der Sikhismus als monotheistische Religion. Daoismus Der chinesische Daoismus gilt in seiner Frühform als atheistisch, später entwickelte er jedoch ein großes, polytheistisches Pantheon; siehe dazu Pantheon des Daoismus. Buddhismus Vor allem in älterer westlicher Literatur und oft auch heute wird die Meinung vertreten, dass der im Pali-Kanon beschriebene „ursprüngliche“ Buddhismus des historischen Buddha, Siddhartha Gautama, eine atheistische „Lebensphilosophie“ und keine Religion sei. Dies ist bestenfalls eine grobe Vereinfachung, die nicht der religiösen Praxis in allen buddhistisch geprägten Ländern entspricht. Nach dem Anguttara-Nikaya antwortete Siddhartha Gautama auf die Frage, ob er ein Mensch oder ein Gott (Deva) sei, dass er kein Gott, Gandharva oder Mensch sei, sondern ein Buddha. In Mahayana-Texten wird der Dharma-Körper (Dharma-kāya) eines Buddhas mit der absoluten Realität gleichgesetzt, die bis an die Grenzen der Welt reicht und alles durchdringt. Der Dharma-Körper ist auch insofern omniszient, als die gesamte Welt sich direkt in seinem Geist widerspiegelt. Der Manifestationskörper (Nirmāṇa-kāya) des Buddhas kann in jeder Form erscheinen; seine Handlungen sind allerdings keine Folge willentlicher Entscheidungen. Nach der formellen Lehre des Theravada-Buddhismus ist der Buddha tot und greift nicht mehr in die Welt ein; dennoch wird er wie ein Gott verehrt und auch von manchen Gläubigen angebetet. Obwohl sich Buddhas und Bodhisattvas in mancher Hinsicht von Göttern unterscheiden, werden sie zum Teil dennoch zu den göttlichen Wesen gezählt. Die im frühen Buddhismus formulierte Lehre des bedingten Entstehens postuliert Nichtwissen als Ursache der Kette der Wiedergeburten. Einer Interpretation zufolge handelt es sich dabei um eine Kritik des brahmanischen Schöpfungsmythos des Rigveda. Insofern entwickelte der Buddhismus eine nichtteleologische Kausalitätslehre, die ohne einen Schöpfergott auskommt. Das Lebensrad, das im Mahayana-Buddhismus die sechs Daseinsbereiche beschreibt, enthält den Bereich der Götter (Devas) und den Bereich der „eifersüchtigen Götter“ (Asuras), die im Theravada zu den Devas gezählt werden. Buddhistische Gläubige beten viele der Hindu-Götter an, was insofern keinen Synkretismus darstellt, als diese Götter von Anfang an Teil des Buddhismus waren. Ihre Existenz wurde nie bestritten, wenngleich sie im Buddhismus als entbehrlich gelten. Zwischen dem Glauben an Buddha und an die Götter besteht insofern ein Gleichgewicht, als Götter in weltlichen Angelegenheiten helfen können, aber nur der Buddha den Weg zur Erlösung zeigen kann. Griechenland und Römisches Reich Da die Topografie des antiken Griechenlands Kommunikation über Land- und Seewege erschwerte und es sprachliche und ethnische Unterschiede gab, variierten die mythologischen Inhalte und Kulte. Homers Werke Ilias und Odyssee führten zu einer teilweisen Stabilisierung dieser Mythen und übten auf nachfolgende griechische und römische Autoren einen wesentlichen Einfluss aus. Die Griechen und Römer kannten zahlreiche Schöpfungsmythen, die viele Parallelen zu den Mythen der Ägypter, Sumerer, Babylonier und Hebräer aufweisen. Laut Homer waren die Titanen Okeanos und Tethys für den Ursprung der Götter verantwortlich. Okeanos repräsentierte dabei den ringförmigen Ozean, der die scheibenförmige Erde umschloss. Hesiod gab in seiner Theogonie (um 700 v. Chr.) die erste bekannte vollständige Beschreibung der Schöpfung. Aus dem Chaos entstand Gaia, die Uranos hervorbrachte. Beide zeugten sechs weibliche und sechs männliche Kinder, die Titanen, die ebenfalls Kinder hatten. Die Titanen waren im Wesentlichen Personifikationen verschiedener Aspekte der Natur. Nach dem Sturz der Titanen traten Zeus und die anderen Götter des Olymps die Weltherrschaft an. Die Götter bildeten ein hierarchisch organisiertes Pantheon. Im Allgemeinen galten sie als menschenähnlich und fühlend, wenngleich ihr Aussehen und ihre Handlungen bis zu einem bestimmten Grad idealisiert wurden. Andererseits konnten sie die körperlichen und geistigen Schwächen der Menschen widerspiegeln. Die Götter lebten in Häusern auf dem Olymp oder im Himmel; ein wichtiger Unterschied bestand jedoch zwischen den Göttern der Luft und der Oberwelt, und den chthonischen Göttern, die in der Erdtiefe walten. Götter konnten sich mit großer Geschwindigkeit fortbewegen, plötzlich verschwinden und erscheinen, und beliebige Formen annehmen – menschlich, tierisch und göttlich. Obwohl ihre Macht größer war als die der Menschen, waren sie kaum allmächtig, außer womöglich Zeus, und selbst seine Handlungen waren dem Schicksal unterworfen. Die Eigenschaft, die die griechischen Götter am offensichtlichsten von den Menschen abhob, war ihre Unsterblichkeit. Wenngleich einige Götter nur in bestimmten Plätzen besonders verehrt wurden – so etwa Athene in Athen und Hera in Argos – wurden die wichtigsten Götter in der gesamten griechischen Welt anerkannt. An der Spitze stand Zeus, der Vater aller Götter und Menschen. Er verteidigte, teils zusammen mit anderen Göttern, die höchsten moralischen Werte, und beschützte die Familie und den Staat. Zeus konnte als Gott ohne Namensnennung genannt werden. Xenophanes griff die üblichen anthropomorphen Vorstellungen scharf an und behauptete, dass es einen einzigen nichtanthropomorphen Gott gab. Die Römische Religion hatte ihre Wurzeln in den religiösen Vorstellungen vorrömischer italienischer Völker wie den Sabinern und den Etruskern. Im Allgemeinen wiesen die römischen Götter, die ursprünglich eher im Kult als im Mythos verankert waren, weniger anthropomorphe Züge auf als die griechischen Götter. Als im 3. Jahrhundert v. Chr. die ersten Historiker und Epiker auf Latein schrieben, war der Einfluss der griechischen Literatur bereits vorherrschend. Viele Autoren waren selbst Griechen, sodass die römischen Legenden aus den griechischen adaptiert wurden. Die ursprünglichen italienischen Götter wurden mit den griechischen gleichgesetzt, zum Beispiel Saturnus mit Kronos oder der große Himmelsgott Jupiter mit Zeus. Biblisches Judentum Die Hauptquelle für die jüdische Religion ist die kanonisierte Bibel, der Tanach. Die israelitische Religion war ursprünglich henotheistisch. Als die Israeliten zur Richterzeit (1250 bis 1000 v. Chr.) in Kanaan sesshaft wurden, griffen sie die dortigen religiösen Vorstellungen auf, wenngleich die Kanaanäer in der Bibel negativ beschrieben werden. Die weitgehende Übereinstimmung zwischen den Attributen JHWHs, des einzigen Gottes Israels, und des kanaanäisch-ugaritischen Gottes El deutet darauf hin, dass JHWH aus El entstanden ist und sich allmählich vom henotheistischen Kult entfernte. Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass gegen El, anders als die anderen biblischen Götter, nicht polemisiert wurde und dass er seine Funktion als Urvater der Götterversammlung behielt. Der Hochgott El nahm in der ugaritischen Religion den Vorsitz der Götterversammlung ein und wurde als Schöpfer der Götter und Geschöpfe genannt. Neben ihm stand der junge Fruchtbarkeitsgott Baal, Erzeuger des Gewitters und Spender des Regens. Oft wurde er zusammen mit seiner Geliebten Anat als kriegerischer Gott dargestellt, der seine Gegner tötete. Anat selbst tritt als Kämpferin und Liebende hervor, und sie scheut sich nicht, selbst dem obersten Gott El zu drohen. Unter den Göttinnen von Ugarit nahm Athirat als Gemahlin Els den höchsten Rang ein. Astarte oder Aschera, die Himmelskönigin, wurde mit der babylonischen Kriegs- und Liebesgöttin Ištar gleichgesetzt. Das 1. Buch Mose nennt JHWH als Schöpfer des Himmels und der Erde. Da sein Gottesname nicht ausgesprochen wurde, trat an seine Stelle oft die Bezeichnung Adonai („Herr“). Im Deboralied, einem der ältesten Texte der Bibel, wird JHWH als Gott Israels beschrieben, der zugunsten seines Volks eingreift. Hier überwiegt die atmosphärische Beschreibung JHWHs, vor dem die Erde bebt, die Wolken von Wasser triefen und die Berge schwanken. Andere Stellen bekunden, dass er im Himmel wohnt. Weitere Texte heben die kriegerischen Züge JHWHs hervor; das Buch der Richter betont vor allem seine Hilfe in Israels Kriegen gegen die Feinde. Außerhalb Jerusalems wurden weiterhin Baal und die Göttinnen verehrt. Sowohl JHWH als auch Baal waren Himmelsgötter, die mit Blitz und Donner in Verbindung standen. Ein Hinweis darauf, dass beide während der Richterzeit nicht immer getrennt wurden, ist der Namensbestandteil Baal, der auch in den Eigennamen streng jahwistischer Familien vorkommt. Erst später wurde Baal als Erzfeind JHWHs beschrieben. JHWH gilt nach dem 5. Buch Mose als einziger Gott Israels. Er wird als eifersüchtiger Gott beschrieben, der keinen anderen Gott an seiner Seite duldet. Als „großer und furchtbarer Gott“, der sein Volk Israel aus Liebe auserwählt hat, fordert er Ehrfurcht und Liebe von seinen Anhängern. JHWHs Charakter wirkt in gewisser Hinsicht ambivalent, denn er bringt sowohl Gutes als auch (auf den ersten Blick) Böses. Nach jüdischem Selbstverständnis ist Gott absolut gut; was aus menschlicher Sicht böse scheint (wie extreme Strafen), soll aus göttlicher Sicht dem Guten dienen. Das Gesetz genießt als Wort Gottes göttliche Autorität, und auch die Zehn Gebote sind Ausdruck des göttlichen Willens. Zwar finden sich vor allem in den älteren Texten der Bibel deutliche Anthropomorphismen, doch das jüdische Bilderverbot drückt klar aus, dass JHWH nicht in menschlichen Zügen gedacht werden könne. Vorislamisches Arabien Das Quellenmaterial zur altsüdarabischen Religion besteht im Wesentlichen aus Inschriften in Denkmälern, die eine große Zahl von Göttern und deren Beinamen nennen. In allen altsüdarabischen Reichen war Athtar der Hauptgott, dem der Planet Venus zugeordnet wurde. Neben seiner überlebenswichtigen Bewässerungs- und Fruchtbarkeitsfunktion war er auch als Kriegsgott tätig. Der sabäische Staatsgott war Almaqah, der mit dem Mond in Verbindung stand und zusammen mit dem König und dem Reichsvolk den Staat repräsentierte. Der Sonnengott hatte zwei weibliche Erscheinungsformen, nämlich dat-Himyam und dat-Baʿdan. Zusammen mit Athtar und Almaqah bildeten sie die offizielle Götterdreiheit Sabas, und auch in anderen südarabischen Staaten wurden sie am häufigsten genannt. Daneben gab es weitere regionale Götter wie Sama, vermutlich ein Mondgott, und Taʿlab. In der späteren Königszeit (ab 40 n. Chr.) kam es, bedingt durch schwere innere Machtkämpfe verschiedener Stämme, zu einer Differenzierung in weitere Erscheinungsformen und Einzelgötter. Eine Darstellung von Göttern in menschlicher Gestalt fand nicht statt; stattdessen wurden oft symbolhafte Zeichen und Tiere verwendet. In Zentral- und Nordarabien lebte die Bevölkerung nicht wie im Süden in hochentwickelten Staaten, sondern führte – mit Ausnahme von Lihyan – ein Nomadendasein. Die Quellenlage in Zentralarabien ist zwar wesentlich schlechter als im Süden, doch liefern spätere Texte wie der gegen das Heidentum polemisierende Koran oder das Götzenbuch des Ibn al-Kalbī Hinweise zu den altzentralarabischen Göttern. Wie alle Nomadenvölker beteten auch die Beduinen Arabiens mit Allah einen höchsten Himmelsgott an, der die Welt erschaffen hat und Regen spendet. Andere Götter genossen nicht denselben hohen Rang und bildeten auch kein hierarchisch geordnetes Pantheon. Neben Allah wurden die drei Göttinnen Manat, Al-Lāt und Al-ʿUzzā, auch „Töchter Allahs“ genannt, in ganz Arabien hoch verehrt. Al-Lat wurde von Herodot mit Urania, der Himmelsgöttin, gleichgesetzt; vermutlich hatte sie ursprünglich eine ähnlich überragende Bedeutung wie Allah. Eine untergeordnete Rolle spielten die im Götzenbuch genannten drei Dutzend lokalen Götter, die oft bestimmten Stämmen zugeordnet waren. Nachbiblisches Judentum Mit der Zerstörung der Jerusalemer Tempels am Ende des Jüdischen Krieges im Jahre 70 wandelt sich die Beziehung des Judentums zu Gott nachhaltig. Anstelle der Tempelopfer und der Wallfahrten nach Jerusalem, unter Aufsicht der Priester und Leviten, tritt das gemeinschaftliche Gebet, das in den folgenden Jahrhunderten für die Wochentage und den Sabbat im Siddur und für die Feiertage im Machsor kodifiziert wird. Der zerstörte Tempel wird durch Synagogen in der Diaspora ersetzt, sowohl im römischen Imperium als auch im Perserreich. Obwohl es im rabbinischen Judentum keine systematischen Betrachtungen zu den Attributen Gottes gab, bestand in einigen wesentlichen Punkten Einigkeit. Alle Rabbiner waren von der Einheit Gottes, des Schöpfers von Himmel und Erde, überzeugt. Gott belohnt diejenigen, die seinem Willen gehorchen, und bestraft die anderen, und er wählte unter allen Völkern das jüdische aus, um ihm die Tora zu offenbaren. Das Tetragramm JHWH wird aus Ehrfurcht nie ausgesprochen, und stattdessen andere Namen oder Umschreibungen wie Adonai („Herr“) oder der Heilige verwendet. Obwohl Gott direkt im Gebet angesprochen werden kann, ist seine wahre Natur unergründlich, und er unterscheidet sich gänzlich von seinen Geschöpfen. Dennoch sorgten sich die Autoren des Talmud wenig um anthropomorphe Beschreibungen. Oft wurde Gott mit einem König verglichen, der auf dem Thron des Urteils oder dem Thron der Vergebung sitzt. Besonders infolge der Zerstörung des Jerusalemer Tempels vertiefte sich die Vorstellung, dass Gott menschliches Leid fühlt und mit den Opfern der Verfolgung trauert. Bilderverehrung und dualistische Vorstellungen wiesen die Rabbiner strikt zurück. Im Mittelalter kam es unter dem Einfluss der griechischen Philosophie zu einer Verfeinerung der Attribute Gottes. Die mittelalterlichen Theologen wiesen darauf hin, dass alle anthropomorphen Beschreibungen Gottes in der Bibel nicht wörtlich zu verstehen seien. Zu Maimonides’ 13 Prinzipien des jüdischen Glaubens zählt die Auffassung, dass Gott körperlos und immateriell ist. Gott war sowohl allwissend als auch allmächtig. Wie auch die Autoren der Bibel und die Rabbiner vertraten die mittelalterlichen jüdischen Denker einen fürsorglichen Gott, wobei sich diese nach Maimonides und Levi ben Gershon nur auf die Menschen und nicht auf alle Geschöpfe erstreckt. Die Kabbalisten akzeptierten die abstrakten Beschreibungen der mittelalterlichen Philosophen, verspürten aber als Mystiker den Wunsch, eine lebendigere Verbindung zu Gott aufzubauen. In der Kabbala wurde zwischen Gott selbst – dem unergründlichen En Sof – und seinen Erscheinungsformen unterschieden. Der kabbalistische Lebensbaum benennt in den Sephiroth zehn Emanationen, die aus Gott selbst, zu dem überhaupt nichts gesagt werden kann, entspringen. Sie repräsentieren verschiedene Aspekte Gottes wie Weisheit, Stärke oder Pracht. Der Chassidismus, begründet im 18. Jahrhundert durch den Baal Schem Tow, tendiert zu einem panentheistischen Verständnis des Tzimtzum-Begriffs: Ohne Gott gäbe es kein Universum, aber ohne das Universum wäre Gott immer noch das gleiche. Unter den jüdischen Denkern des 20. Jahrhunderts vertritt Mordechai M. Kaplan am vehementesten eine naturalistische Weltsicht. Für ihn ist Gott kein übernatürliches, persönliches Wesen, sondern die universelle Kraft, die zu Gerechtigkeit führt. Martin Buber behandelt in seinem Hauptwerk Ich und Du das Verhältnis des Menschen zu Gott und zum Mitmenschen als existentielle, dialogische und religiöse Prinzipien. Der Holocaust führte zu einer Neueinschätzung der mittelalterlichen Aussagen zum Verhältnis von Gott und den Menschen sowie zur Verschärfung des Theodizeeproblems. Christentum Da die Christen ursprünglich eine jüdische Gruppierung waren, wurden ihre Gottesvorstellungen stark von jüdischen Traditionen geprägt. Daneben beeinflusste die griechische Philosophie, insbesondere der antike Platonismus, die christlichen Gottesvorstellungen maßgeblich. Frühe Versuche, eine christliche Theologie auszuarbeiten, etwa bei Klemens von Alexandrien, Justin dem Märtyrer, Irenäus von Lyon, Athenagoras und Theophilus nehmen nicht nur Bezug auf biblische Überlieferung, inzwischen ausgebildete Bekenntnisformeln und liturgische Redeweisen, sondern in Terminologie, Inhalten und Werkkonzeptionen auch in unterschiedlichem Ausmaß Anleihen bei jüdischen Theologen und philosophischen Traditionen. Gott wird vielfach als transzendent und ewig, frei von zeitlichen oder räumlichen Grenzen und mit höchster übernatürlicher Macht und Ehre ausgestattet beschrieben. Wegen der Unergründlichkeit seines Wesens wird er oftmals nur in symbolischen Ausdrucksweisen, in seinen Wirkungen und ansonsten in verneinenden Eigenschaften wie „unendlich“, „unergründlich“ oder „unsichtbar“ benannt. Redeweisen in Bibel, Liturgie, Gebetsformularen und dergleichen, die dazu führen könnten, Gott körperlich und insbesondere anthropomorph vorzustellen, werden dabei vielfach, vor allem bei Theologen in der Schultradition der alexandrinischen Theologie (einschließlich etwa Philon von Alexandria und Origenes), als uneigentliche Aussageweisen interpretiert. Andere Theologen sind zurückhaltender oder ablehnender gegenüber Kultur, Terminologie und Konzepten griechischer Traditionen und beziehen sich direkter auf jüdisch-christliche Überlieferungen. Das im Jahr 325 formulierte Bekenntnis von Nicäa, das heute von allen großen christlichen Kirchen anerkannt wird, nennt Jesus Christus göttlich und wesenseins mit Gottvater und erwähnt außerdem kurz den Heiligen Geist. Die Vorstellung, dass Jesus gleichzeitig Mensch und Gott war, wurde im späteren christologischen Bekenntnis des Konzils von Chalcedon bestätigt. Spätere Debatten und Festlegungen wenden sich von der Christologie stärker der Trinitätstheologie zu. Es wird versucht, die Annahme dreier Götter bzw. voneinander unabhängiger Modalitäten, die durch Vater, Sohn und Geist verkörpert werden, zu vermeiden bzw. als Irrlehre darzustellen. Sie werden als der Substanz nach identisch, jedoch der Relation nach verschieden bestimmt; davon abweichende Lehren und Lehrer werden als häretisch abgegrenzt. Die christliche Theologie des Mittelalters arbeitet in der Rezeption weiterer antiker Konzepte und teils auch der Debatten in jüdischer und islamischer Theologie die Gotteslehre in unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Akzenten weiter aus. Dabei war vielfach umstritten, wie stark Anleihen an griechische philosophische Terminologie gehen können und sollen und an nicht bereits ein Wissen aus Offenbarung veranschlagende philosophische Konzeptualisierungen (natürliche Vernunft bzw. natürliche Theologie). Eine Kompromissformel des vierten Laterankonzils (can. 806) ist etwa, dass Gott jeweils in größerem Maße unähnlich bleibe auch bei allen durchaus möglichen Aufweisen von Ähnlichkeiten mit Geschaffenem. Die Reformation forderte eine stärkere Rückbesinnung auf biblische Texte. Natürlicher Vernunft und zwischenzeitlicher Tradition wird weniger Erkenntniswert zugeschrieben. Während u. a. im 19. Jahrhundert einige Theologen auf Herausforderungen u. a. durch Aufklärung und moderne Vernunft- und Offenbarungskritik mit einer konstruktiven Rezeption u. a. transzendentalphilosophischer Ideen reagieren, weisen andere dies zurück. Die Reichweite „natürlicher Vernunft“ wird dann geringer, „Übernatürliches“ höher veranschlagt; so in unterschiedlichsten Ausprägungen etwa vonseiten der meisten katholischen Revitalisierungsversuche der Systematisierungen des Thomas von Aquin, anders etwa Anfang des 20. Jahrhunderts bei protestantischen Theologen wie Karl Barth, die sich stärker auf biblische Offenbarung beziehen. In jüngeren theologischen Debatten wurden auch zuvor weitgehend unstrittige Aspekte der Gottesvorstellung kritisch diskutiert, etwa die Allmacht Gottes. Islam Der Islam, der auf der arabischen Halbinsel entstand, hat seinen Gottesbegriff in Auseinandersetzung mit der altarabischen Religion, die verschiedene lokale Gottheiten kannte, sowie mit Vorstellungen des Judentums und Christentums entwickelt. So betont der Koran die Einheit und Einzigkeit Gottes und argumentiert, dass der Glaube an Gott als Weltschöpfer den Glauben an andere göttliche Wesen und Mächte überflüssig macht. Kontinuität im Gottesbild der monotheistischen Religion bestand schon im altsüdarabischen Reich von Himyar. Aus diesem Umfeld wurden auch die beiden Gottesnamen Allah und Rahman in den Islam übernommen, die miteinander verbunden zum Beispiel in der Basmala-Formel erscheinen. Vers 1 der Sure 112 unterstreicht das monotheistische Prinzip des Islam. Derselbe Vers widerspiegelt auch das jüdische Glaubensbekenntnis Schma Jisrael aus . In derselben Sure lässt sich die Aussage in Vers 3, dass Gott weder zeugend noch gezeugt ist, als eine direkte Zurückweisung des nizänischen Glaubensbekenntnisses verstehen, wonach Jesus von Gott „gezeugt, nicht geschaffen“ ist. Theologische Debatten, die um die Mitte des 8. Jahrhunderts einsetzten, kreisten um die Frage, wie die verschiedenen Aussagen über Gott im Koran, die Körperlichkeit oder Menschenähnlichkeit implizieren, zu interpretieren sind. Während einige theologische Schulen diese Aussagen wörtlich nahmen und zu einem anthropomorphistischen Gottesbild neigten (etwaq al-Mughīra ibn Saʿīd und Muqātil ibn Sulaimān), vertraten andere eine sehr radikale Transzendenz Gottes (beispielsweise Dschahm ibn Safwān). Ende des 8. Jahrhunderts entwickelten sich Zwischenpositionen. Der schiitische Gelehrte Hischām ibn al-Hakam (gestorben nach 795) definierte Gott als einen dreidimensionalen, massiven Lichtkörper, wobei er sich an den Aussagen über Gott in Sure 112 und im Lichtvers orientierte. Die Anhänger der Muʿtazila betonten, dass Gottes Wesen unbeschreibbar ist; anthropomorphe Zuschreibungen im Koran mussten ihrer Auffassung nach metaphorisch ausgelegt werden. Anlass zu theologischen Spekulationen haben daneben auch die zahlreichen im Koran genannten Namen und Eigenschaften Gottes gegeben. Es stellte sich die Frage, wie diese sich zu Gottes eigenem Wesen verhalten. Während die Muʿtaziliten im Zuge ihrer strengen Betonung der Einheit Gottes (Tauhīd) meinten, dass Gott Qualifikationen wie „wissend“ (ʿālim), „mächtig“ (qādir), „lebendig“ (ḥaiy) allein durch sich selbst (bi-nafsihī) habe, wurde in der sunnitischen Theologie angenommen, dass diese Eigenschaften auf korrelierende Substantive verweisen, nämlich „Wissen“ (ʿilm), „Macht“ (qudra), „Leben“ (ḥayāt), denen eine reale Existenz zukommt. Um nicht das Prinzip der Einheit Gottes zu verletzen, konnten sie allerdings nicht so weit gehen, diese Attribute als verschieden von Gott zu bezeichnen. Der Theologe Ibn Kullāb entwickelte darum die Formel, dass die Attribute Gottes „weder identisch mit Gott noch nicht-identisch mit ihm“ seien. Diese Formel wurde später auch in die aschʿaritische Theologie übernommen. Die Attribute Gottes erhielten damit eine Position, die derjenigen der Hypostasen in der christlichen Theologie ähnelte. Manche Gruppen wie die frühen Hanbaliten lehnten es aber auch ganz ab, das Wesen Gottes zum Gegenstand rationaler Spekulation zu machen. In ihrer Tradition stehen die heutigen Wahhabiten. In der sufischen Tradition zog man der Spekulation über Gott eine unmittelbare, mystische Gotteserfahrung in Form des „Entwerdens in Gott“ (fanā fī Llāh) vor. Bei verschiedenen Gruppen der schiitischen Ghulāt-Tradition gab es schließlich die Tendenz, den eigenen Imam als Gott anzusehen. Voodoo Im Voodoo wird Bondyè als einziger Gott verehrt. Da er sich in unerreichbarer Ferne befinden soll, werden Gebete und Opfer ausschließlich an die Loa als vermittelnde Geistwesen gerichtet. Existenz Bestrebungen, die Existenz Gottes oder der Götter schlüssig abzuleiten, finden sich bereits in der griechischen Philosophie. In der jüdischen und frühchristlichen Apologetik, und später in der jüdischen, christlichen und arabischen Scholastik wurden weitere formale Gottesbeweise aufgestellt. Einige moderne Apologeten legen die Existenz Gottes ebenfalls anhand logischer Argumente dar. Die folgende Liste nennt bedeutende Argumente für die Existenz Gottes sowie einige namhafte Vertreter. Unabhängig von Beweisen für die Existenz eines Gottes kann gezeigt werden, dass der Glaube an dessen Existenz vorteilhaft ist. Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte waren beispielsweise der Auffassung, dass der Gottglaube moralisch notwendig ist. Der Pascalschen Wette zufolge ist es vernünftig, sicherheitshalber an Gott zu glauben, da dieser gegebenenfalls den Glauben belohnt und den Nichtglauben bestraft. Für Friedrich Wilhelm Joseph Schelling war Philosophie nur dann wirkliche Philosophie, wenn sich durch sie über „Dasein und Nichtdasein Gottes etwas wissenschaftlich ausmachen lasse“. Auch für Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat die Philosophie den Zweck, Gott zu erkennen, da ihr Gegenstand, die Wahrheit, nichts anderes sei als die Auseinandersetzung mit Gott. Kant hingegen kritisierte klassische Gottesbeweise und hielt die objektive Realität Gottes weder für beweis- noch widerlegbar. Friedrich Nietzsche war gegenüber metaphysischen Konzepten skeptisch; er lehnte den Versuch ab, auf eine unbedingte, widerspruchslose Welt zu schließen und nur durch Negationen Gott einzuführen. Die Ansicht, dass keine vernünftige Diskussion über die Existenz von Göttern möglich ist, wird üblicherweise damit begründet, dass die menschliche Vernunft hierzu nicht in der Lage sei (Irrationalismus und Fideismus), oder dass alle Wahrheitsaussagen letztendlich willkürlich seien (erkenntnistheoretischer Relativismus). Der starke Agnostizismus vertritt die Auffassung, dass niemand wissen kann, ob es einen Gott gibt, und dass es nicht möglich sein wird, diese Frage je zu beantworten. Der Nichtglaube an Götter wird häufig mit einem Mangel an Beweisen für deren Existenz begründet. Russells Teekanne ist ein Beispiel, das die philosophische Beweislast für die Behauptung eines Gottes aufzeigen soll. Eine ähnliche Haltung wird im Rahmen von Religionsparodien beansprucht, bei denen übernatürliche Wesen wie das „unsichtbare rosafarbene Einhorn“ oder das „fliegende Spaghettimonster“ erfunden werden. Neben logischen Argumenten gegen bestimmte Gottesvorstellungen wie dem Allmachtsparadoxon und dem Theodizeeproblem gibt es Versuche, die Existenz von Göttern empirisch zu widerlegen. So würden naturwissenschaftliche Erklärungen zur Entstehung des Lebens und des Universums sowie statistische Untersuchungen zur Unwirksamkeit von Gebeten zeigen, dass das Universum sich genau so verhält, wie in Abwesenheit eines Gottes zu erwarten sei. In einer 1998 durchgeführten Umfrage unter 1000 US-Amerikanern wurden als Hauptgründe für den Glauben an Gott die Schönheit, Perfektion oder Komplexität der Welt (29 % der Befragten, die an Gott glauben) sowie die persönliche Gotteserfahrung (21 %) genannt. Eine Umfrage unter Mitgliedern der Skeptics Society ergab als Hauptgrund für den Nichtglauben an Gott den Mangel an Beweisen für dessen Existenz (38 % der Befragten, die an keinen Gott glauben). Verbreitung des Gottglaubens Demografie Eine Zusammenfassung von Umfrageergebnissen aus verschiedenen Staaten ergab im Jahr 2007, dass es weltweit zwischen 505 und 749 Millionen Atheisten und Agnostiker gibt. Laut der Encyclopædia Britannica gab es 2009 weltweit 640 Mio. Nichtreligiöse und Agnostiker (9,4 %), und weitere 139 Mio. Atheisten (2,0 %), hauptsächlich in der Volksrepublik China. Bei einer Eurobarometer-Umfrage im Jahr 2005 wurde festgestellt, dass 52 % der damaligen EU-Bevölkerung glaubt, dass es einen Gott gibt. Eine vagere Frage nach dem Glauben an „eine andere spirituelle Kraft oder Lebenskraft“ wurde von weiteren 27 % positiv beantwortet. Bezüglich der Gottgläubigkeit bestanden große Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Staaten. Die Umfrage ergab, dass der Glaube an Gott in Staaten mit starkem kirchlichen Einfluss am stärksten verbreitet ist, dass mehr Frauen (58 %) als Männer (45 %) an einen Gott glauben und dass der Gottglaube mit höherem Alter, geringerer Bildung und politisch rechtsgerichteten Ansichten korreliert. Laut einer Befragung von 1003 Personen in Deutschland im März 2019 glauben 55 % an einen Gott; 2005 waren es 66 % gewesen. 75 % der befragten Katholiken sowie 67 % der Protestanten glaubten an einen Gott (2005: 85 % und 79 %). Unter Konfessionslosen ging die Glaubensquote von 28 auf 20 % zurück. Unter Frauen (60 %) war der Glauben 2019 stärker ausgeprägt als unter Männern (50 %), in Westdeutschland (63 %) weiter verbreitet als in Ostdeutschland (26 %). Populäre Vorstellungen Bei empirischen Untersuchungen wurde immer wieder festgestellt, dass die unter Gläubigen verbreiteten Gottesvorstellungen auch innerhalb derselben Religion sehr vielfältig sind. Ähnlichkeitsstruktur- und Faktorenanalysen ergaben verschiedene Dimensionen, aus denen ein Gottesbild aufgebaut sein kann. So können göttliche Eigenschaften beispielsweise entlang der Dimensionen richtend-kümmernd, kontrollierend-rettend oder konkret-abstrakt variieren. Justin Barrett kam bei Untersuchungen unter US-amerikanischen und indischen Gläubigen zum Ergebnis, dass Personen intuitiv zu personenähnlichen Gottesvorstellungen tendieren, die der theologischen Lehre zuwiderlaufen. Beispielsweise besteht die Tendenz, zu denken, dass Gott beziehungsweise die Götter sich bewegen, Sinneseindrücke verarbeiten oder nur eine Aufgabe auf einmal erledigen können. Andererseits werden in abstrakteren Situationen theologische Attribute wie Allgegenwart oder Allmacht zur Beschreibung von Gott übernommen. Die ontologische Diskrepanz zwischen Menschen und dem Übernatürlichen wird demnach zumindest in kognitiv relevanten, alltäglichen Situationen wie dem Gebet überbrückt, indem die Unterschiede zwischen beiden Bereichen ignoriert werden. Psychologische Erklärungsversuche In der Psychoanalyse wird der Gottglaube als eine Form des Wunschdenkens betrachtet. Für Sigmund Freud war Gott die Projektion einer perfekten, schützenden Vaterfigur, die das Gefühl einer idealisierten Kindheit vermitteln soll. Für Carl Gustav Jung ist Gott eine Erfahrung, die in seelischen Tiefenschichten bereit liegt. Das innerseelische Gottesbild entspricht dem Archetypus des Selbst und repräsentiert psychische Ganzheit. Über die metaphysische Wirklichkeit Gottes ist damit nichts ausgesagt. Andere Psychoanalytiker sahen Gott nicht als tröstlichen Traum, sondern als Projektion des neurotischen Selbsthasses. Ludwig Feuerbach, der ebenfalls religionskritische Thesen vertrat, sah im Gottglauben den „Spiegel des Menschen“, der Rückschlüsse auf das menschliche Wesen erlaube. Die kognitive Religionswissenschaft geht davon aus, dass Menschen aufgrund ihrer Veranlagung dazu tendieren, Vorstellungen von übernatürlichen Akteuren zu verfestigen. Die Standardtheorie begründet dies im Wesentlichen durch zwei mentale Module bei Menschen, dem Theory of Mind Mechanism (ToMM) und der Agency Detection Device (ADD). Durch das ToMM sind Menschen in der Lage, bei anderen Akteuren Gefühle und Absichten zu vermuten. Die ADD ermöglicht es, aufgrund sensorischer Reize schnell die Anwesenheit von Akteuren in der Umgebung wahrzunehmen. Sie diente beim Frühmenschen dazu, Prädatoren rechtzeitig zu erkennen und zu meiden, wird aber auch heute noch aktiv, sodass selbst hinter natürlichen Ereignissen oftmals ein Akteur vermutet wird. Dieses Erklärungsmodell bezieht sich nicht nur auf Götter, sondern auf alle übernatürlichen Akteure. Ein verwandter Forschungsgegenstand ist die Frage, welche kognitiven Fähigkeiten in Bezug auf den Gottglauben angeboren sind. Die Anthropomorphismus-Hypothese geht davon aus, dass Kinder einen Gott anfänglich als „großen Supermenschen im Himmel“ betrachten, und erst später die Vorstellung eines transzendenten, körperlosen Wesens entwickeln. Demgegenüber besagt die Preparedness-Hypothese, dass Kinder derartige metaphysische Eigenschaften problemlos akzeptieren, da sie von Beginn an kognitiv in der Lage sind, sich allgemeine übernatürliche Akteure vorzustellen. Literatur Nachschlagewerke und Überblicksdarstellungen zur Mythologie: Louis Grey: The Mythology of all Races. 13 Bände. Cooper Square, New York 1964. Samuel Noah Kramer: Mythologies of the Ancient World. Quadrangle Books, Chicago 1961. Manfred Lurker: Lexikon der Götter und Dämonen. Kröner, Stuttgart 1984, ISBN 3-520-82001-3. Patricia Turner, Charles Russell Coulter: Dictionary of Ancient Deities. Oxford University Press, Oxford 2001, ISBN 0-19-514504-6. Roy Willis (Hrsg.): World Mythology. Henry Holt, New York 1996, ISBN 0-8050-4913-4. Vergleichende Religionsphilosophie: Charles Hartshorne, William Reese: Philosophers Speak of God. The University of Chicago Press, Chicago 1953. Eduard Ostermann: Wissenschaftler entdecken Gott! Was Wissenschaftler wie Max Planck, Pascual Jordan, Bruno Vollmert, Albert Einstein, Werner Heisenberg, John C. Eccles u. a. entdeckten. Hänssler, Holzgerlingen 2001, ISBN 3-7751-3335-6. H. P. Owen: Concepts of Deity. Macmillan, London 1971, ISBN 0-333-01342-5. H. P. Owen: God, Concepts of. In: Donald Borchert (Hrsg.): Encyclopedia of Philosophy. Band 4, Thomson Gale, Detroit 2006, ISBN 0-02-865784-5, S. 107–113. Raimundo Panikkar: Deity. In: Lindsay Jones (Hrsg.): Encyclopedia of Religion. Band 4, Thomson Gale, Detroit 2005, ISBN 0-02-865733-0, S. 2252–2263. Vergleichende Religionswissenschaft: John Carman: Majesty and Meekness: A Comparative Study of Contrast and Harmony in the Concept of God. Eerdmans, Grand Rapids 1994, ISBN 0-8028-0693-7. Mircea Eliade: Patterns in Comparative Religion. Sheed and Ward, London 1958. E. O. James: The Concept of Deity: A Comparative and Historical Study. Hutchinson’s University Library, London 1950. Theodore Ludwig: Gods and Goddesses. In: Lindsay Jones (Hrsg.): Encyclopedia of Religion. Band 6, Thomson Gale, Detroit 2005, ISBN 0-02-865733-0, S. 3616–3624. Raffaele Pettazzoni: The All-Knowing God. Methuen, London 1956. Deutsch: Der allwissende Gott. Frankfurt 1960. Ina Wunn: Die Evolution der Religionen. Doktorarbeit Universität Hannover 2004 (PDF: 2,8 MB, 556 Seiten auf d-nb.info). Weblinks Religionen weltweit: The Big Religion Chart. In: ReligionFacts.com. 21. November 2016 (englisch; Übersicht über Gottesvorstellungen verschiedener Religionen). 19. Dezember 2012 (englisch). Einzelnachweise ! Theismus Natürliche Theologie Religionsphilosophie Metaphysik
1851
https://de.wikipedia.org/wiki/Genotyp
Genotyp
Der Genotyp (von „Gattung, Geschlecht“ und „Gestalt, Abbild, Muster“) ist die Gesamtheit der Gene eines Organismus. Er repräsentiert dessen exakte genetische Ausstattung, die sämtliche in diesem Individuum vorhandenen Erbanlagen umfasst. Komponenten Zum Genotyp zählen bei Eukaryoten sowohl die Gene in den Chromosomen der Zellkerne als auch extrachromosomale DNA wie die Gene der mitochondrialen DNA und bei Pflanzen zusätzlich die DNA der Chloroplasten. Bei den Prokaryoten liegen die Gene in einem Nukleoid oder Plasmid. Der individuelle Genotyp bildet die genetische Grundlage für die Ausbildung der morphologischen und physiologischen Merkmale des Individuums durch Genexpression, die den Phänotyp bestimmen. Bei den diploiden Organismen, die durch sexuelle Fortpflanzung entstehen, gehören zum Genotyp aber auch Erbanlagen, die rezessiv sind und weniger bis keinen Einfluss auf den Phänotyp haben, wenn sie heterozygot vorliegen. Auch die auf Introns liegende Erbinformation gehört zum Genotyp, ohne dass sie sich auf den Phänotyp auswirken kann, denn nur die Erbinformation auf den Exons kann aktiviert werden und bei der Proteinbiosynthese abgelesen werden. Der Genotyp als Gesamtheit der genetischen Ausstattung ist auch insofern bedeutsam, als ein Gen allein nicht für die Ausbildung eines Merkmals sorgen kann, sondern das Zusammenwirken vieler Gene in einer zeitlichen Abfolge. Hierbei kann das Vorhandensein oder das Fehlen eines Allels jedoch durchaus eine entscheidende Rolle spielen, ob ein Merkmal ausgebildet werden kann oder nicht. Begriffsbildung und Verwendung Die Begriffe Gen, Genotypus und Phaenotypus wurden 1903 von dem dänischen Genetiker Wilhelm L. Johannsen aufgestellt und 1909 geprägt. Er wird heute vor allem im Zusammenhang mit der Mendelschen Vererbungslehre verwendet sowie bei der Auswertung der Ergebnisse einer DNA-Analyse, hier allerdings – nicht ganz der ursprünglichen Definition entsprechend – unter Bezugnahme auf nur diejenigen Erbanlagen, die bei der Überprüfung von Interesse sind. Zwei Organismen, deren Gene sich auch nur an einem Genlocus (= einer Position in ihrem Genom) unterscheiden, haben einen unterschiedlichen Genotyp. Der Begriff „Genotyp“ bezieht sich also auf die vollständige Kombination aller Allele / aller Loci eines Organismus. Unter Phänotyp versteht man die Summe aller beobachtbaren Merkmale des Organismus (z. B. Größe, Blütenfarbe, Schnabelform), die sich als Ergebnis der Interaktion des Genotyps mit der Umwelt entwickelt haben. Der Genotyp ändert sich zu Lebzeiten eines Organismus nicht, ausgenommen durch extreme Einflüsse wie z. B. mutagene Strahlung oder durch Temperaturschocks. Auch Organismen identischen Genotyps unterscheiden sich gewöhnlich in ihrem Phänotyp. Verantwortlich dafür sind Umwelteinflüsse. Diese lösen unter anderem epigenetische Mechanismen aus, d. h. identische Gene können in verschiedenen Organismen verschieden exprimiert werden (siehe auch Modifikation). Ein alltägliches Beispiel sind monozygotische (eineiige) Zwillinge. Eineiige Zwillinge haben den gleichen Genotyp, da sie das gleiche Genom in sich tragen. Doch können eineiige Zwillinge anhand ihrer Fingerabdrücke identifiziert werden, die niemals vollständig gleich sind. Im Laufe des Lebens können sie einen unterschiedlichen Phänotyp entwickeln. Historische Begriffe Die genetische Information der gesamten Zelle wurde, zurückgehend auf ein Werk des Genetikers Hermann Werner Siemens von 1921 auch als Idiotyp oder Idiotypus (das „Erbbild“) bezeichnet ( „eigen, besonders“). Diesem wurde, als Gesamtheit der nicht erblichen Merkmale oder „die nichterbliche Beschaffenheit eines Lebewesens“, der Paratyp oder Paratypus gegenübergestellt. Der Genetiker Yoshitaka Imai führte im Zusammenhang mit Pflanzenzucht 1936 den Begriff Plasmotyp für Erbfaktoren außerhalb des Zellkerns ein (im „Protoplast“ nach damaligen Sprachgebrauch, für das der Botaniker Carl Wilhelm von Nägeli für die darin enthaltenen Erbfaktoren spezifisch den Ausdruck „Idioplasma“ prägte). Die Formel, dass Idiotyp und Plasmotyp zusammen den Genotyp bilden, war danach noch längere Zeit in Lehrbüchern zu finden. Der Ausdruck Idiotyp in diesem Zusammenhang ist heute nicht mehr gebräuchlich. Er wurde, in neuen Zusammenhang, neu eingeführt als Summe der Idiotope eines bestimmten Antikörpers, vgl. dazu Idiotyp (Immunologie). Phänotypische Plastizität Das Konzept der phänotypischen Plastizität beschreibt das Maß, in dem der Phänotyp eines Organismus durch seinen Genotyp vorherbestimmt ist. Ein hoher Wert der Plastizität bedeutet: Umwelteinflüsse haben einen starken Einfluss auf den sich individuell entwickelnden Phänotyp. Bei geringer Plastizität kann der Phänotyp aus dem Genotyp zuverlässig vorhergesagt werden, unabhängig von besonderen Umweltverhältnissen während der Entwicklung. Hohe Plastizität lässt sich am Beispiel der Larven des Wassermolchs beobachten: Wenn diese Larven die Anwesenheit von Räubern wie Libellen wahrnehmen, vergrößern sich Kopf und Schwanz im Verhältnis zum Körper und die Haut wird dunkler pigmentiert. Larven mit diesen Merkmalen haben bessere Überlebenschancen gegenüber Räubern, wachsen aber langsamer als andere Phänotypen. Weblinks Einzelnachweise Genetik Evolution
1852
https://de.wikipedia.org/wiki/Graphentheorie
Graphentheorie
Die Graphentheorie (seltener auch Grafentheorie) ist ein Teilgebiet der diskreten Mathematik und der theoretischen Informatik. Betrachtungsgegenstand der Graphentheorie sind Graphen (Mengen von Knoten und Kanten), deren Eigenschaften und ihre Beziehungen zueinander. Graphen sind mathematische Modelle für netzartige Strukturen in Natur und Technik (wie soziale Strukturen, Straßennetze, Verwandtschaftsbeziehungen, Computernetze, elektrische Schaltungen, Versorgungsnetze oder chemische Moleküle). In der Graphentheorie untersucht man lediglich die abstrakte Netzstruktur an sich. Die Art, Lage und Beschaffenheit der Knoten und Kanten bleibt unberücksichtigt. Es verbleiben jedoch viele allgemeingültige Graphen-Eigenschaften, die bereits auf dieser Abstraktionsstufe untersucht werden können und sich in allgemeingültigen Aussagen (Sätze der Graphentheorie) wiederfinden. Ein Beispiel hierfür ist das Handschlaglemma, wonach die Summe der Knotengrade in einem Graphen stets gerade ist (in der nebenstehenden Abbildung: vierzehn). Dadurch, dass einerseits viele algorithmische Probleme auf Graphen zurückgeführt werden können und andererseits die Lösung graphentheoretischer Probleme oft auf Algorithmen basiert, ist die Graphentheorie auch in der Informatik, insbesondere der Komplexitätstheorie, von großer Bedeutung. Die Untersuchung von Graphen ist auch Inhalt der Netzwerktheorie. Graphen werden insbesondere durch die Datenstrukturen Adjazenzmatrix, Inzidenzmatrix oder Adjazenzliste repräsentiert. Geschichte Ein von der Graphentheorie unabhängiger Vorläufer in der Antike war die Methode Dihairesis, mit deren Hilfe man (nur teilweise grafisch) zoologische, musikwissenschaftliche und andere Begriffe hierarchisierte. Es entstanden so frühe Systematiken innerhalb verschiedener Wissensgebiete. Die Anfänge der Graphentheorie gehen bis in das Jahr 1736 zurück. Damals publizierte Leonhard Euler eine Lösung für das Königsberger Brückenproblem. Die Frage war, ob es einen Rundgang durch die Stadt Königsberg (Preußen) gibt, der jede der sieben Brücken über den Fluss Pregel genau einmal benutzt. Euler konnte eine für dieses Problem nicht erfüllbare notwendige Bedingung angeben und so die Existenz eines solchen Rundganges verneinen. 1852 bemerkte der Mathematiker und Botaniker Francis Gutherie, dass vier Farben reichen, um eine Landkarte so zu färben, dass zwei aneinander grenzende Länder stets unterschiedlich gefärbt sind. Viele Mathematiker beschäftigten sich mit diesem Färbungsproblem. Es dauerte jedoch bis 1976, bis der Vier-Farben-Satz mittels Computer bewiesen werden konnte. Erst 1997 stellten Neil Robertson, Daniel Sanders, Paul Seymour, Robin Thomas einen neuen Beweis vor. Der Begriff Graph wurde in Anlehnung an graphischen Notationen chemischer Strukturen erstmals 1878 von dem Mathematiker James Joseph Sylvester verwendet. Als weiterer Begründer der frühen Graphentheorie gilt Arthur Cayley. Eine der ersten Anwendungen waren chemische Konstitutionsformeln. (Siehe auch Chemische Graphentheorie und Literatur: Bonchev/Rouvray, 1990). Das erste Lehrbuch zur Graphentheorie erschien 1936 von Dénes Kőnig. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat William Thomas Tutte maßgeblich an der Weiterentwicklung der Graphentheorie gearbeitet und dieses Teilgebiet der Mathematik stark geprägt. Teilgebiete der Graphentheorie Teilgebiete der Graphentheorie sind: Algorithmische Graphentheorie: Dieses Teilgebiet beschäftigt sich mit auf Graphen anwendbaren Algorithmen (Liste der Graphalgorithmen). Chemische Graphentheorie: Die chemische Graphentheorie gehörte zu den ersten Anwendungen der Strukturerkenntnisse und wendet diese auf chemische Molekülstrukturen an. Extremale Graphentheorie: Die extremale Graphentheorie untersucht, welche Graphen einer gegebenen Klasse einen bestimmten Graphenparameter maximieren oder minimieren. Geometrische Graphentheorie und Topologische Graphentheorie: Diese Teilgebiete betten Graphen in Ebenen und anderen geometrischen Objekten ein. Netzwerkforschung: In der Netzwerkforschung werden komplexe Netzwerke empirisch untersucht. Sie findet Anwendungen in Disziplinen wie Biologie, Wirtschaftswissenschaften und Soziologie. Probabilistische Graphentheorie: Mittels Zufallsgraph können Eigenschaften für beliebig große Graphen nachgewiesen werden. Spektrale Graphentheorie (auch algebraische Graphentheorie): Die spektrale Graphentheorie untersucht Graphen anhand ihrer Adjazenzmatrizen und Laplace-Matrizen durch die Analyse von Eigenwerten, Eigenvektoren und charakteristischen Polynomen. Ungerichtete Graphen besitzen symmetrische Adjazenzmatrizen und deshalb reelle Eigenwerte. Alle Eigenwerte zusammengenommen werden als Spektrum des Graphen bezeichnet. Während die Adjazenzmatrix von der Knotensortierung abhängig ist, ist das Spektrum davon unabhängig. Betrachteter Gegenstand In der Graphentheorie bezeichnet ein Graph eine Menge von Knoten (auch Ecken oder Punkte genannt) zusammen mit einer Menge von Kanten. Eine Kante ist hierbei eine Menge von genau zwei Knoten. Sie gibt an, ob zwei Knoten miteinander in Beziehung stehen, bzw. ob sie in der bildlichen Darstellung des Graphen verbunden sind. Zwei Knoten, die durch eine Kante verbunden sind, heißen benachbart oder adjazent. Wenn die Kanten statt durch Mengen durch geordnete Paare von Knoten angegeben sind, spricht man von gerichteten Graphen. In diesem Falle unterscheidet man zwischen der Kante (a,b) – als Kante von Knoten a zu Knoten b – und der Kante (b,a) – als Kante von Knoten b zu Knoten a. Knoten und Kanten können auch mit Farben (formal mit natürlichen Zahlen) oder Gewichten (d. h. rationalen oder reellen Zahlen) versehen werden. Man spricht dann von knoten- bzw. kantengefärbten oder -gewichteten Graphen. Komplexere Graphentypen sind: Multigraphen, bei denen die Kantenmenge eine Multimenge ist Hypergraphen, bei denen eine Kante eine beliebig große Menge von Knoten darstellt (man spricht in diesem Falle auch von Hyperkanten) Petri-Netze mit zwei Arten von Knoten Ist die Menge der Knoten endlich, spricht man von endlichen Graphen, ansonsten von unendlichen Graphen. Grapheigenschaften Graphen können verschiedene Eigenschaften haben. So kann ein Graph zusammenhängend (im Allgemeinen k-zusammenhängend), bipartit (im Allgemeinen k-partit), planar, eulersch oder hamiltonisch sein. Es kann nach der Existenz spezieller Teilgraphen oder Minoren gefragt werden oder bestimmte Parameter untersucht werden, wie zum Beispiel Knotenzahl, Kantenzahl, Minimalgrad, Maximalgrad, Taillenweite, Durchmesser, Knotenzusammenhangszahl, Kantenzusammenhangszahl, Bogenzusammenhangszahl, chromatische Zahl, Knotenüberdeckungszahl (Faktor), Unabhängigkeitszahl (Stabilitätszahl) oder Cliquenzahl. Zwei Graphen können isomorph (strukturell gleich) oder automorph zueinander sein. Die verschiedenen Eigenschaften können zueinander in Beziehung stehen. Die Beziehungen zu untersuchen ist eine Aufgabe der Graphentheorie. Beispielsweise ist die Knotenzusammenhangszahl nie größer als die Kantenzusammenhangszahl, welche wiederum nie größer als der Minimalgrad des betrachteten Graphen ist. In ebenen Graphen ist die Färbungszahl immer kleiner als fünf. Diese Aussage ist auch als der Vier-Farben-Satz bekannt.Einige der aufgezählten Grapheneigenschaften sind relativ schnell algorithmisch bestimmbar, etwa wenn der Aufwand höchstens mit dem Quadrat der Größe der Graphen wächst. Andere Eigenschaften praktisch angewandter Graphen sind innerhalb der Lebensdauer heutiger Computer nicht exakt zu bestimmen. Allerdings kann in diesen Fällen der Einsatz von heuristischen Verfahren zu sinnvollen Näherungslösungen führen. Graphenklassen Grundsätzlich werden Graphen in gerichtete und ungerichtete Graphen unterteilt. Aufgrund des Zusammenhangs unterscheidet man: azyklische Graphen: Weg (oder Pfad), Wald, Baum, DAG (directed acyclic graph) zyklische Graphen, beispielsweise: Zyklus, Kreis, Vollständige Graphen. Aufgrund des Vorhandenseins bestimmter Eigenschaften lassen sich weitere Graphenklassen unterscheiden wie Bipartite Graphen, Graziöse Graphen, Planare Graphen, Reguläre Graphen, Chordale Graphen, Perfekte Graphen, Magische Graphen. Wenn ein Knoten besonders ausgezeichnet ist, spricht man von einer Wurzel bzw. einem gewurzeltem Graphen. Besondere Bedeutung haben gewurzelte Bäume unter anderem auch als Baumstruktur. Probleme Die wichtigsten Probleme und Ergebnisse der Graphentheorie werden im Folgenden dargestellt: Färbung Ein bekanntes Problem fragt, wie viele Farben man braucht um die Länder einer Landkarte einzufärben, sodass keine zwei benachbarten Länder die gleiche Farbe zugewiesen bekommen. Die Nachbarschaftsbeziehung der Länder kann man als planaren Graph repräsentieren. Das Problem kann nun als Knoten-Färbungsproblem modelliert werden. Nach dem Vier-Farben-Satz braucht man maximal vier verschiedene Farben. Ob sich im Allgemeinen ein Graph mit weniger Farben einfärben lässt, kann man nach heutigem Wissensstand nicht effizient entscheiden. Das Problem gilt als eines der schwierigsten Probleme in der Klasse der NP-vollständigen Probleme. Unter der Voraussetzung, dass P≠ NP, ist selbst eine bis auf einen konstanten Faktor angenäherte Lösung nicht effizient möglich. Suchprobleme Eine wichtige Anwendung der algorithmischen Graphentheorie ist die Suche nach einer kürzesten Route zwischen zwei Orten in einem Straßennetz. Dieses Problem kann man als Graphenproblem modellieren. Hierzu abstrahiert man das Straßennetz, in dem man alle Orte als Knoten aufnimmt, und eine Kante hinzufügt, wenn es eine Verbindung zwischen diesen Orten gibt. Die Kanten dieses Graphen werden je nach Anwendung gewichtet, zum Beispiel mit der Länge der assoziierten Verbindung. Mit Hilfe eines Algorithmus zum Finden von kürzesten Pfaden (beispielsweise mit dem Algorithmus von Dijkstra) kann eine kürzeste Verbindung effizient gefunden werden. (siehe auch: Kategorie:Graphsuchalgorithmen) Durchlaufbarkeit von Graphen Algorithmisch deutlich schwieriger ist die Bestimmung einer kürzesten Rundreise (siehe Problem des Handlungsreisenden), bei der alle Orte eines Straßennetzes genau einmal besucht werden müssen. Da die Zahl der möglichen Rundreisen faktoriell mit der Zahl der Orte wächst, ist der naive Algorithmus, alle Rundreisen auszuprobieren und die kürzeste auszuwählen, für praktische Anwendungen nur für sehr kleine Netzwerke praktikabel. Es existieren für dieses Problem eine Reihe von Approximationsalgorithmen, die eine gute aber nicht eine optimale Rundreise finden. So liefert die Christofides-Heuristik eine Rundreise die maximal 1,5-mal so lang ist wie die bestmögliche. Unter der Annahme, dass P ≠ NP (siehe P-NP-Problem), existiert kein effizienter Algorithmus für die Bestimmung einer optimalen Lösung, da dieses Problem NP-schwer ist. Das Königsberger Brückenproblem fragt nach der Existenz eines Eulerkreises. Während sich das Eulerkreisproblem mittels Hierholzer-Verfahren in linearer Zeit lösen lässt, ist das Finden eines Hamiltonkreises (ein geschlossener Pfad in einem Graphen, der jeden Knoten genau einmal enthält) NP-schwierig. Beim Briefträgerproblem wird nach einem kürzesten Zyklus gefragt, der alle Kanten mindestens einmal durchläuft. Zusammenhang Beim Zusammenhang wird gefragt, ob bzw. über wie viele Wege zwei Knoten untereinander erreichbar sind. Dies spielt beispielsweise bei der Beurteilung der Versorgungsnetze hinsichtlich der kritischen (ausfallbedrohten Teile) eine Rolle. Cliquenproblem Die Frage nach dem Vorhandensein (ggf. maximaler) Cliquen sucht die Teile eines Graphen, die untereinander vollständig mit Kanten verbunden sind. Knotenüberdeckung Das Knotenüberdeckungsproblem sucht nach einer Teilmenge von Knoten eines Graphen, die von jeder Kante mindestens einen Endknoten enthält. Flüsse und Schnitte in Netzwerken Mit der Frage nach dem maximalen Fluss lassen sich Versorgungsnetze hinsichtlich ihrer Kapazität beurteilen. Matching Matchingprobleme, die sich auf Flussprobleme zurückführen lassen, fragen nach der optimalen Auswahl von Kanten, so dass keine zwei Kanten inzident zu einem Knoten sind. Damit lassen sich Zuordnungsprobleme, beispielsweise der Ressourcennutzung wie Raum- oder Maschinenbelegung lösen. Weitere Graphenprobleme Zu den weiteren Graphenproblemen zählen das Finden einer stabilen Menge, das Graphzeichnen (hierfür existiert Software zur Visualisierung von Graphen: yEd, Graphviz) und die Transformation von Graphen anhand von regelbasierten Graphersetzungssystemen. Graphersetzungssysteme, die dem Aufzählen aller Graphen einer Graphsprache dienen, werden auch Graphgrammatik genannt Siehe auch Literatur Martin Aigner: Graphentheorie: eine Entwicklung aus dem 4-Farben-Problem. 1984 (269 Seiten). Daniel Bonchev, D. H. Rouvray: Chemical Graph Theory: Introduction and Fundamentals. Abacus, New York NY 1990/1991, ISBN 0-85626-454-7. J. Sedlacek: Einführung in die Graphentheorie. B. G. Teubner, Leipzig 1968, 1972. M. Nitzsche: Graphen für Einsteiger (Rund um das Haus vom Nikolaus). Vieweg, Wiesbaden 2004, ISBN 3-528-03215-4. R. Diestel: Graphentheorie. 3. Auflage. Springer, Heidelberg 2005, ISBN 3-540-67656-2 (online-download). Peter Gritzmann, René Brandenberg: Das Geheimnis des kürzesten Weges. Ein mathematisches Abenteuer. 2. Auflage. Springer, Berlin/Heidelberg 2003, ISBN 3-540-00045-3. Peter Tittmann: Graphentheorie. Eine anwendungsorientierte Einführung. 3. Auflage. Hanser, München 2019, ISBN 978-3-446-46052-2. Weblinks Einzelnachweise Teilgebiet der Mathematik Diskrete Mathematik Strukturwissenschaft
1854
https://de.wikipedia.org/wiki/Gentherapie
Gentherapie
Eine Gentherapie umfasst die Korrektur defekter Gene durch die Anwendung rekombinanter DNA-Techniken mit dem Ziel, durch die Veränderung des Genoms eines Menschen genetisch bedingte Krankheiten (Erbkrankheiten) zu behandeln oder diesen vorzubeugen. Mittels rekombinanter Nukleinsäuren wie DNA oder RNA wird die Nukleinsäuresequenz beim Menschen reguliert, repariert, ersetzt, hinzugefügt oder entfernt. So wird beispielsweise ein intaktes Gen in das Genom der Zielzelle eingefügt, um ein defektes Gen zu ersetzen, das ursächlich für die Entstehung der Krankheit ist. Die eingebrachten Gene dienen dabei als therapeutisch wirksame Stoffe (Gentherapeutika). Der Transfer kann auch außerhalb des Körpers (ex vivo) erfolgen. Handelt es sich dabei um (somatische) Körperzellen, spricht man von somatischer Gentherapie (Gentransplantation). Die Therapie bleibt auf den Empfänger beschränkt, es findet keine Weitervererbung statt. Dies unterscheidet sich von der Keimbahntherapie (Keimbahn-Gentherapie), bei der Gene in Keimzellen oder Embryonalzellen eines frühen Entwicklungsstadiums eingebracht werden. Die Keimbahntherapie am Menschen ist aus ethischen Gründen in Deutschland aufgrund § 5 des Embryonenschutzgesetzes verboten. In den letzten Jahren wird versucht, ein defektes Gen mit einer präziseren Methode, dem Genome Editing, zu reparieren. Während es unzählige experimentelle klinische Studien gibt, sind im Jahr 2020 nur acht Therapien durch die amerikanische FDA und/oder die europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) für die Klinik zugelassen. Als weltweit erstes Gentherapeutikum wurde 2003 in China Gendicine als Krebsmedikament eingeführt, das aber wegen fehlender Unterlagen in anderen Ländern nicht zugelassen wurde. Näheres siehe Gendicine. Innerhalb Europas gehören Gentherapeutika zur Gruppe der Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMPs). Eine Übersicht über die in den USA zugelassenen Gentherapeutika findet sich auf der Website der Food and Drug Administration (FDA). Bei einer Impfung mit genetischen Impfstoffen wie DNA-, RNA- oder viralen Vektorimpfstoffen gegen Infektionskrankheiten wird dagegen das Genom nicht verändert, weshalb jene Impfstoffe keine Gentherapeutika sind. Sie werden auch arzneimittelrechtlich nicht zu den Gentherapeutika gerechnet. Prinzip Üblicherweise werden dem Körper einige Zellen entnommen, um diesen im Labor (ex vivo) die entsprechenden Nukleinsäuren einzufügen. Anschließend können die Zellen zum Beispiel vermehrt werden, um dann wieder in den Körper eingebracht zu werden. Eine Gentherapie kann auch direkt im Körper (in vivo) erfolgen. Je nach Art der Gentherapie und der verwendeten Technik kann hierbei die Nukleinsäure in das Zellgenom integriert werden oder lediglich zeitweise in der Zelle verbleiben. Entsprechend kann der therapeutische Effekt dauerhaft oder zeitlich beschränkt bestehen. Folgende Mechanismen sind zu unterscheiden: Genersatztherapie: Typisches Anwendungsgebiet sind rezessive Erkrankungen. Betroffene Patienten besitzen von einem bestimmten Gen zwei defekte Kopien, was zum Krankheitsausbruch führt. Bei der Genersatztherapie kodiert die therapeutische Nukleinsäure für eben jenes Gen, sodass behandelte Zellen nach der Therapie eine intakte Kopie dieses Gens besitzen und nutzen können. Gen-Editierung, z. B.: mittels Crispr-Cas9, auch als Genom-Chirurgie bezeichnet: Ziel dieses Ansatzes ist es Defekte im Genom einer Zelle zu korrigieren. Mit diesem Ansatz können potentiell auch dominante Erkrankungen behandelt werden. Prothetische Gentherapie: Während die zwei zuvor genannten Verfahren auf weitgehend strukturell intakte Zielzellen angewiesen sind, sollen mittels prothetischer Gentherapie andere Zellen in die Lage versetzt werden, die Funktion von zugrunde gegangenen Zellen ähnlich einer Prothese zu übernehmen. Ein Beispiel hierfür ist der experimentelle Ansatz der „Sehkraft wiederherstellenden“ (Vision Restoration) Gentherapie bei der Maus. Methoden Für den Transfer gibt es verschiedene Methoden, um eine therapeutische Nukleinsäure in eine Zelle zu transportieren: Transduktion: Mit dieser am häufigsten verwendeten Methode bringt ein viraler Vektor (ein modifiziertes Virus) die therapeutische Nukleinsäure in die Zelle. Transfektion (chemisch): Die Nukleinsäure und eine elektrisch geladene Verbindung (z. B. Calciumphosphat) werden zu den Zellen gegeben. Die elektrisch geladene Verbindung bindet an die Zellmembran und wird endozytiert, wodurch die Nukleinsäure nach Perforation der endosomalen Membran ins Zytosol gelangen kann. Bei der Elektroporation macht ein Stromstoß die Zellmembran vorübergehend durchlässig, so dass die Nukleinsäure in die Zelle eindringen kann. Die Mikroinjektion bietet hohe Chancen für einen erfolgreichen Einbau des Gens (ca. 1:5), jedoch muss jede Zelle einzeln injiziert werden. Beschränkungen und Risiken Das Ersetzen und dauerhafte Einfügen eines intakten Gens in Form von DNA hat nur bei sogenannten monogenetischen Erkrankungen Aussicht auf Erfolg. Erkrankungen, die durch komplexere genetische Schäden ausgelöst werden, wie zum Beispiel Krebs, können mit Gentherapie nicht ursächlich behandelt werden. Eine Gentherapie darf in Deutschland und einigen anderen Ländern nur in den somatischen (nicht die Keimbahn betreffenden) Zellen durchgeführt werden, damit die neue genetische Information nicht an die Kinder der behandelten Person weitervererbt werden kann. Diese gesetzliche Beschränkung basiert auf ethischen und auf die Sicherheit betreffenden Gesichtspunkten (siehe auch Keimbahntherapie). Das größtmögliche Risiko einer somatischen Gentherapie ist eine ungerichtete Integration der Spender-DNA an unpassender Stelle innerhalb des Genoms der Wirtszelle. Da die Integrationsstelle bisher nicht vorhersehbar ist, können andere vorher intakte Gene in ihrer Funktion gestört werden. Im schlimmsten Fall könnte der therapeutische Nutzen des neuen Gens durch eine neue evtl. schwerere Krankheit, bedingt durch die Störung eines vorher intakten Gens, aufgehoben werden. Derzeit beschränken sich gentherapeutische Ansätze in der Praxis auf zwei verschiedene Zelltypen: zugängliche Stammzellen und langlebige, ausdifferenzierte, postmitotische Zellen. Je nach Zelltyp kommen verschiedene Methoden der Gentherapie zum Einsatz. Körperzellen, die für eine Gentherapie mit Retroviren als Vektor in Frage kommen, müssen bestimmte Anforderungen erfüllen: Sie müssen widerstandsfähig genug sein, um die „Infektion“, besonders aber die Entnahme aus und die Wiedereinpflanzung in den Körper zu überstehen Sie müssen leicht entnehmbar und wieder einsetzbar sein Sie sollten langlebig sein, damit sie das neue Protein über lange Zeit hinweg produzieren können Folgende Zelltypen haben sich als geeignet erwiesen: Hautzellen: Fibroblasten aus der Lederhaut (nicht mehr aktuell) Leberzellen T-Zellen: T-Lymphozyten (zirkulierende weiße Blutkörperchen) sind für die zelluläre Immunantwort zuständig. Das Fehlen des Gens für Adenosindesaminase (ADA), das zu einem „schweren kombinierten Immundefekt“ (SCID) führt, wird durch entsprechende Behandlung dieser Zellen therapiert. Eine weitere Therapiemöglichkeit ist ein Defekt in der gemeinsamen Kette einiger Interleukinrezeptoren, X-SCID. Knochenmarksstammzellen: Sie produzieren die roten und weißen Blutkörperchen. Durch Gentherapie der seltenen Stammzellen lassen sich genetisch bedingte Krankheiten des Blutes und des Immunsystems behandeln. Anwendungen am Patienten In der von The Journal of Gene Medicine bereitgestellten Datenbank Gene Therapy Clinical Trials Worldwide werden über 2597 klinische Studien gelistet, die bisher in 38 Ländern durchgeführt wurden (Stand 2017). Die entsprechende Datenbank ist abrufbar. Behandlung von Erbkrankheiten Therapie von SCID Am 14. September 1990 wurde von Ärzten des US-amerikanischen Bundesgesundheitsinstituts an einem vierjährigen Mädchen die weltweit erste gentherapeutische Behandlung durchgeführt, um einen schweren kombinierten Immundefekt (SCID) zu heilen. Bei dieser sehr seltenen Krankheit (Inzidenz 1:100.000), verursacht durch einen schweren Defekt des T- odes auch des B-Lymphozytensystems, ist das Immunsystem in seiner Funktion erheblich bis vollständig beeinträchtigt, d. h., es gibt wenig oder gar keine Immunantwort – schon eine Erkältungskrankheit kann für die Kinder den Tod bedeuten. Je nach dem betroffenen Gen wird die Krankheit in verschiedene Formen klassifiziert. Bei ADA-SCID-Patienten mit einem mutierten ADA-Gen, das für die Adenosin-Desaminase codiert, wurden T-Lymphozyten entnommen, in vitro mit einem retroviralen Vektor das ADA-Gen eingeführt und die Zellen nach Vermehrung in die Patienten zurückgebracht. Die Gentherapie, die aufgrund der begrenzten Lebensdauer der T-Lymphozyten mehrmals im Jahr wiederholt werden musste, ermöglicht den Patienten ein Leben ohne strikte Quarantäne, war aber nicht optimal. Aufgrund verschiedener Weiterentwicklungen ist aber das Gentherapeutikum Strimvelis (Handelsname: Strimvelis, Hersteller: GSK) zur Behandlung von ADA-SCID entstanden, das im Jahr 2016 von der EU zugelassen wurde. Bei der Therapie werden aus Knochenmarkzellen des Patienten CD34+-Zellen isoliert, mit einem Retrovirus das funktionsfähige ADA-Gen eingefügt und durch Infusion in den Patienten zurückgebracht. Die gentherapeutisch veränderten Zellen vermehren sich und bilden ADA. In der Folge sank die Rate der Infektionen für mindestens 3 Jahre. Die Therapie kostet etwa 600.000 Euro pro Patient, was den Kosten einer Enzymersatztherapie von 2 Jahren entspricht. Die von den Symptomen her identische Erkrankung X-SCID, die auf Grund einer Mutationen in der gemeinsamen Kette einiger Interleukinrezeptoren auftritt (γc, CD132), wurde ebenfalls mit einem gentherapeutischen Ansatz von Alain Fischer in Paris behandelt. Nachdem die Behandlung zunächst größtenteils erfolgreich verlaufen war, traten bei einigen Patienten nach einiger Zeit Leukämien auf (Näheres siehe X-SCID). Diese Komplikation kann durch den Einsatz modifizierter Retroviren behoben werden. Ornithin-Transcarbamylase Defizienz 1999 erfuhr die Gentherapieforschung einen schweren Rückschlag. Bei einer von der Universität von Pennsylvania durchgeführten, von James M. Wilson geleiteten Versuchsreihe kam es zu schwerwiegenden Komplikationen, die zum Tod des Patienten führte. Der 18-jährige Jesse Gelsinger litt am angeborenen Ornithin-Transcarbamylase-Defizit, einem Harnstoffzyklusdefekt, der durch erhöhtem Ammoniumgehalt im Blut in schweren Fällen kurz nach der Geburt zu irreversiblen Gehirnschäden führt. Diese Stoffwechselstörung beruht auf Mutationen im Ornithin-Transcarbamylase-Gens, deren Auswirkungen sehr unterschiedlich sein können. Jesse Gelsinger hatte eine relativ milde Form, die mit proteinarmer Diät partiell kontrolliert werden konnte. Im Alter von 18 Jahren willigte er in eine gentherapeutische Behandlung mit einem adenoviralen Vektor ein, um in seine Leberzellen ein normales OTC-Gen einzubringen. Im Verlauf der Therapie entwickelte Jesse Gelsinger eine heftige Immunantwort gegen adenovirale Proteine in deren Folge er an Multiorganversagen verstarb. Dieser Todesfall löste eine heftige und kontroverse Diskussion über gentherapeutische Behandlungen aus. Hierbei standen neben grundsätzlichen ethischen Problemen auch Vorwürfe zu den finanziellen und karrierefördernden Interessen der beteiligten Forscher im Raum. Spinale Muskelatrophie Die Spinale Muskelatrophie (SMA) ist ein genetisch bedingter Muskelschwund, der durch den fortschreitenden Abbau von Nervenzellen im Vorderhorn des Rückenmarks verursacht wird. Der Defekt im SMN1-Gen kann durch das Auslösen eines alternativen Spleißens des verwandten SMN2-Gens behoben werden, da dieses dann ein dem SMN1-Genprodukt ähnliches Protein bildet. Seit 2016 ist das Einführen des Antisense-Oligonukleotids Nusinersen (Spinraza, Hersteller: Biogen) durch die FDA zugelassen. Eine entsprechende Zulassung von der EMA liegt seit 2017 vor. Da dieses Oligonukleotid die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren kann, muss es in die Rückenmarksflüssigkeit injiziert werden. Der therapeutische Effekt ist nur vorübergehend, so dass die Injektion alle 4 Monate wiederholt werden muss. Ein entsprechender Effekt kann durch die tägliche orale Gabe von Risdiplam (Handelsname: Evrysdi, Hersteller: Genentech resp. in Deutschland / EU: Roche) erreicht werden. Als niedermolekulares Molekül passiert es nicht nur die Blut-Hirn-Schranke und gelangt so ins Rückenmark, sondern es erreicht auch durch die Blutbahn andere Organe und kann so auch Funktionsstörungen beheben, die das durch Fehlen von SMN1-Protein in diesen Organen bestehen. Das Medikament ist seit 2020 in den USA zugelassen. Die Zulassung in der EU erfolgte im März 2021. Seit 2019 ist durch die FDA auch ein Einbringen eines funktionsfähigen SMN1-Gens zugelassen. Bei dieser Behandlung mit Zolgensma (INN: Onasemnogen-Abeparvovec, Hersteller: Novartis) resp. Novartis Gene Therapies wird das SMN1-Gen einmalig mit einem Adeno-assoziierten viralen Vektor eingebracht. Eine Zulassung ist 2020 auch in der EU erfolgt. Im August 2019 warf die Gesundheitsbehörde der USA Novartis vor, Testergebnisse im Zulassungsverfahren verschwiegen zu haben. Im Januar 2020 kündigte Novartis an, 100 Behandlungen zu verlosen. Patientenvereinigungen und EU Gesundheitsminister haben dieses Lotterieverfahren kritisiert, da es im Gesundheitssystem als nicht ethisch angesehen wird. Der Hersteller Novartis gab am 18. März 2021 wegen aufgetretener Nebenwirkungen mit einem Todesfall einen Rote-Hand-Brief zu Zolgensma heraus. Insbesondere in den ersten Wochen nach der Behandlung trat die Thrombotische Mikroangiopathie (TMA), eine akute und lebensbedrohliche Erkrankung, die durch Thrombozytopenie, hämolytische Anämie und akute Nierenschädigung gekennzeichnet ist, auf. Zur Gruppe der TMA Erkrankungen gehören das Hämolytische Urämische Syndrom (HUS) sowie die Thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP). Im Februar 2023 gab Novartis einen weiteren Rote-Hand-Brief heraus: bei Patienten, die mit Onasemnogen-Abeparvovec behandelt wurden, wurden tödliche Fälle von akutem Leberversagen berichtet. Zolgensma wurde im Oktober 2021 mit dem Galenus-von-Pergamon-Preis in der Kategorie „Orphan Drugs“ ausgezeichnet. Mit Zolgensma beschäftigte sich der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bereits mehrfach. Das erste Nutzenbewertungsverfahren war Ende 2020 eingestellt worden, da die Umsätze sehr schnell über 50 Mio. Euro gestiegen waren. Das hieß: Das Orphan-Privileg fiel bei der Nutzenbewertung weg. Die gesetzlichen Vorgaben sehen in solchen Fällen einen direkten Vergleich gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie vor. Im November 2021 hat der G-BA Zolgensma neu bewertet. Anhand der verfügbaren Daten hat er für keine Patientengruppe einen Zusatznutzen gegenüber der Vergleichstherapie feststellen können. Der G-BA nutzte dafür die vorhandene Studienlage und die vom Hersteller übermittelten Daten. Einen Zusatznutzen konnte Novartis damit nicht begründen. β-Thalassämie Die β-Thalassämie ist eine Erbkrankheit, bei der das Hämoglobin beta-Gen HBB mutiert ist. Bei schweren Formen sind häufige Bluttransfusionen nötig, die aber langfristig toxisch sein können. Als Alternative ist eine allogene Transplantation von hämatopoetischen Stammzellen (Blutstammzellen) möglich, die aber einen geeigneten Spender voraussetzt. Seit dem Jahr 2018 war ein gentherapeutischer Ansatz versuchsweise zugelassen, bei dem CD34-Zellen entnommen werden und dann mit einem Lentiviralen Vektor mit dem intakten beta-Gen transduziert werden. Nach dieser ex vivo Behandlung mit Betibeglogen Autotemcel (Handelsname: Zynteglo) der Firma Bluebird Bio, wurden die gentherapeutisch modifizierten Zellen in die Blutbahn des Patienten injiziert, um sich im Knochenmark anzusiedeln und intaktes Hämoglobin zu produzieren. Obwohl die Resultate nach zwei Jahren zunächst noch positiv waren, gab es im Februar 2020 einen Vertriebsstopp für Zynteglo, das zunächst nur in Deutschland eingeführt worden war. Im April hat sich Bluebird Bio dann entschlossen, das Präparat aus dem Markt zu nehmen. Gründe dafür waren sowohl Nebenwirkungen als auch gescheiterte Preisverhandlungen. Da bei dieser Therapie ein viraler Vektor eingesetzt wird, der das transduzierte Gen an einen zufälligen Ort im Genom integriert, können langfristige Risiken wie zum Beispiel die Entwicklung von Krebs nicht ausgeschlossen werden. Ein neuer Ansatz, der durch Genome Editing erfolgt, kann dieses Risiko weitgehend vermeiden. In diesem Ansatz wird das Regulatorgen, das Gen das für den Transkriptionsfaktor BCL11A codiert, in den hämatopoetischen Stammzellen durch gezielte Mutation mit der CRISPR/Cas-Methode in seiner Aktivität eingeschränkt. Da BCL11A normalerweise die Aktivität des fetalen γ-Gens des Hämoglobins nach der Geburt hemmt, bleibt diese Absenkung der Expression des γ-Gens aus, so dass weiterhin fetales γ-Globin produziert wird, das die Funktion des defekten β-Globins im adulten Hämoglobin ersetzt. Zunächst sind mit dieser Methode 2 Patienten mit Erfolg therapiert worden, wobei ein Patient an der Sichelzellkrankheit litt. Diese Behandlung ist die erste Gentherapie, bei der die CRISPR/Cas-Methode mit Erfolg eingesetzt wurde und ist in der Zwischenzeit an 19 Patienten eingesetzt worden. Eine Hauptschwierigkeit bei dieser Therapie ist das riskante Entfernen der hämatopoetischen Stammzellen, so dass zurzeit eine Behandlung nur bei Patienten mit schweren Symptomen angezeigt ist. Lipoproteinlipasedefizienz Im Oktober 2012 erhielt Glybera (Alipogene tiparvovec) als erstes Gentherapeutikum in der westlichen Welt die Zulassung in der EU zur Behandlung des seltenen Leidens der familiären Lipoproteinlipase-Defizienz (LPLD) bei Erwachsenen. Bei dieser Krankheit ist das Lipoproteinlipase-Gen mutiert, so dass der Fettabbau im Fett und Skelettmuskel gestört ist, eine stark erhöhter Spiegel an Lipoproteinpartikel im Blut auftritt, das zu einer Weißfärbung führt. Lebensbedrohlich ist die in der Folge auftretende Entzündung des Pankreas (Pankreatitis). Durch eine intramuskuläre Injektion von Glybera, einem Adeno-assoziierten viralen Genkonstrukt mit einem funktionsfähigen Lipoproteinlipase-Gen, wird der Spiegel an Lipoproteinpartikel gesenkt und das Risiko einer Entzündung des Pankreas vermindert. Im April 2017 teilte die Firma uniQure mit, in der EU die Zulassung nicht zu verlängern, die somit am 25. Oktober 2017 endete. Zerebrale Adrenoleukodystrophie Im Juli 2021 wurde in der EU Elivaldogene Autotemcel (Handelsname: Skysona; Hersteller: Bluebird Bio) zur Behandlung der frühen zerebralen Adrenoleukodystrophie (cerebral adrenoleukodystrophy, CALD) zugelassen. CALD ist die häufigste Form der Adrenoleukodystrophie (ALD), einer seltenen Krankheit, die etwa eines von 21.000 männlichen Neugeborenen betrifft. Sie wird durch Mutationen im Gen ABCD1 verursacht, welches für ein Proteins namens ALDP (Adrenoleukodystrophie-Protein) codiert. Patienten mit dieser Krankheit fehlt ALDP, das benötigt wird, um sehr langkettigen Fettsäuren (VLCFA) abzubauen. Ohne das Protein reichern sich VLCFA an, was zu Entzündungen und zur Zerstörung der Myelinscheide von Nervenzellen führt. Unbehandelt stirbt fast die Hälfte aller Patienten mit CALD innerhalb von 5 Jahren nach Auftreten erster Symptome. Derzeit gibt es kein Medikament, das für die Behandlung dieser Krankheit zugelassen ist. Die einzige therapeutische Maßnahme, die Ärzten bisher zur Verfügung steht, ist die Transplantation von Stammzellen eines Spenders. Im Juni 2022 stimmte ein Beratungsgremium der FDA mit 15:0 Stimmen dafür, dass die Vorteile der – in den USA noch experimentellen – Gentherapie die Risiken bei Patienten unter 18 Jahren überwiegen, die keine passenden Geschwister für eine Stammzelltransplantation haben. Damit ist der Weg frei für eine Zulassung auch in den USA. Mangel an aromatischer L-Aminosäure-Decarboxylase (AADC) Ein AADC-Mangel ist eine äußerst seltene, vererbte Krankheit, die sich in der Regel im 1. Lebensjahr manifestiert. Sie wird durch Veränderungen des Gens verursacht, das das AADC-Enzym produziert. Das Enzym wird für die Herstellung bestimmter Substanzen benötigt, die für das normale Funktionieren des Gehirns und der Nerven wichtig sind, darunter Dopamin und Serotonin. Diese Moleküle werden von den Zellen des Gehirns und des Nervensystems zur Signalübertragung verwendet und sind für die Entwicklung der motorischen Funktionen entscheidend. Eladocagene Exuparvovec (Handelsname: Upstaza; Hersteller: PTC Therapeutics) wurde im Juli 2022 zur Behandlung des AADC-Mangels seitens der Europäischen Kommission zugelassen. Eladocagene Exuparvovec wird einmalig angewendet; die Therapiekosten betragen 4.165.000,00 €. Hämophilie Roctavian (Valoctocogen roxaparvovec), die erste Gentherapie zur Behandlung der schweren Hämophilie A wurde im August 2022 für die EU und im Juni 2023 in den USA zugelassen. Valoctocogen Roxaparvovec wird einmalig angewendet; die Therapiekosten betragen 2.143.958,40 €. Valoctocogen roxaparvovec ist ein Gentherapievektor auf der Basis des Adeno-assoziierten Virus Serotyp 5 (AAV5), der eine rekombinante Version des menschlichen Faktors VIII unter der Kontrolle eines leberspezifischen Promotors exprimiert. Der rekombinante Faktor VIII ersetzt den fehlenden Gerinnungsfaktor VIII, der benötigt wird, um die Gerinnungsfähigkeit des Blutes des Patienten wiederherzustellen. In der vorgestellten klinischen Studie erhöhte die Therapie die Faktor-VIII-Aktivitätswerte bei der Mehrzahl der Patienten signifikant, und die meisten Patienten benötigten 2 Jahre nach der Verabreichung keine Faktor-VIII-Ersatztherapie mehr. Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählen hepatische Laboranomalien, Übelkeit und Kopfschmerzen. Im November 2022 hat das australische Biotech-Unternehmen CSL (s. a. CSL Behring) von der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) die Zulassung für Hemgenix® (etranacogene dezaparvovec-drlb) erhalten zur einmaligen Gentherapie von Hämophilie B. In der EU ist Hemgenix seit Ende Februar 2023 zugelassen. Hemgenix® ist in den USA ab sofort zu einem Listenpreis von 3,5 Millionen Dollar erhältlich, was es zu einer der teuersten Therapien der Welt macht. Das unabhängige Institute for Clinical and Economic Review in den USA berechnet jedoch in seinem Evidence Report einen Kostenvorteil gegenüber der normalerweise für die Betroffenen lebenslang erforderlichen, intravenösen Faktorersatztherapie. Therapie des Auges Lebersche Kongenitale Amaurose Lebersche Kongenitale Amaurose ist eine angeborene Funktionsstörung des Pigmentepithels der Netzhaut, die auf mindestens 270 verschiedene Gendefekte zurückgeführt werden kann. Da die Netzhaut für gezielte gentherapeutische Eingriffe leicht zugänglich ist und immunologische Reaktionen selten sind, ist die Gentherapie eine Möglichkeit, das Erblinden zu vermeiden. Für die Mutation im RPE65-Gen, das am Zellstoffwechsel der Netzhaut eine wichtige Rolle spielt, ist eine Gentherapie mit Voretigen Neparvovec (Handelsname: Luxturna; Hersteller: Spark Therapeutics, eine Tochter von Roche) möglich, die von der US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA) und der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) zugelassen ist. Bei dieser Therapie wird mit einem Adeno-assoziierten Virus ein intaktes RPE65-Gen in die Netzhaut eingebracht, so dass der fortschreitende Abbau der Netzhaut über Jahre gestoppt wird. Das CEP290-Gen, dessen Mutation auch Lebersche Kongenitale Amaurose auslöst, ist für das Adeno-assoziierte Virus zu groß. Daher wird versucht, mit Genome Editing dieses direkt in den Zellen zu reparieren. Präklinische Versuche an Mäusen und Javaneraffen waren erfolgreich, so dass entsprechende Versuche an Patienten gerechtfertigt sind. Eine Pressemitteilung der Oregon Health & Science University vom März 2020 berichtet über entsprechende Therapien beim Menschen. Lebersche Hereditäre Optikus-Neuropathie (LHON) LHON ist eine seltene, mütterlicherseits vererbte mitochondriale Erbkrankheit, die zu einem rasch fortschreitenden bilateralen, schmerzlosem Sehverlust führt und für die es nach wie vor einen hohen medizinischen Bedarf gibt. LHON ist eine Form der Optikusneuropathie, die in erster Linie die retinalen Ganglienzellen (RGCs) betrifft, deren Axone den Sehnerv bilden und über das Chiasma opticum und den Sehnervengang ins Gehirn gelangen. RGCs befinden sich in der Nähe der inneren Oberfläche der Netzhaut und empfangen visuelle Informationen von Photorezeptoren über retinale Interneuronen. Über eine Injektion in den Glaskörper (intravitreale Injektion), der häufigste operative Eingriff am Auge, können gentherapeutische Medikamente unmittelbar an die Netzhaut herangebracht werden. Das Immunprivileg der Augen schafft dabei gute Voraussetzungen für eine Gentherapie. LHON war die erste menschliche Erbkrankheit, die mit Punktmutationen in der mitochondrialen DNA (mtDNA) in Verbindung gebracht wurde und gilt als die am häufigsten vererbte genetische mitochondriale Störung. Drei primäre Punktmutationen in der mtDNA sind bei etwa 90 % der Betroffenen für LHON verantwortlich: G3460A, G11778A und T14484C, die in den Genen ND1, ND4 bzw. ND6 liegen. Andererseits ist bekannt, dass die 11778-ND4-Mutation die schwerste klinische Form von LHON verursacht und mit der schlechtesten Sehprognose verbunden ist. Daher ist die Wiederherstellung des Wildtyps des ND4-Gens durch die noch experimentelle Gentherapie mit Lenadogen Nolparvovec (GenSight Biologics) eine vielversprechende therapeutische Option, die in drei randomisierten, kontrollierten Studien klinisch geprüft wurde. Lenadogene nolparvovec ist ein Adeno-assoziiertes Virus, das eine cDNA enthält, die für das menschliche mitochondriale ND4-Protein vom Wildtyp kodiert und zielt darauf ab, die zugrunde liegende genetische Mutation dauerhaft zu korrigieren. Die Wiederherstellung der Expression des ND4-Proteins führt zu einer verbesserten Aktivität und einem verbesserten Aufbau des Komplexes I der mitochondrialen Atmungskette und trägt dazu bei, die retinalen Ganglienzellen zu schützen und die Krankheit aufzuhalten oder umzukehren. Krebstherapie Akute lymphatische Leukämie Die akute lymphatische Leukämie (ALL) ist eine bösartige Entartung von Vorläuferzellen der Lymphozyten. Neben der etablierten Therapie mit Zytostatika ist eine CAR-T-Zell-Therapie möglich. Bei dieser Therapie, die von Novartis entwickelt wurde, werden T-Lymphozyten der Patienten entnommen und mit Lentiviren chimäre Antigen-Rezeptoren (CAR) eingebracht und diese modifizierten Zellen (CAR-T-Zellen) in den Patienten zurückgebracht. Diese CAR-Z-Zellen sind künstlich auf die Krebszellen abgerichtet, da die chimären Antigenrezeptoren gegen krebsspezifische Oberflächenrezeptoren gerichtet sind. Tisagenlecleucel (CTL019) (Handelsname: Kymriah; Hersteller Novartis) ist der erste CAR-T-Zell-Therapie-Wirkstoff, der in den USA zu einer adoptiven Immuntherapie, konkret gegen eine Akute lymphatische Leukämie (ALL), zugelassen wurde. Es ist die erste in den USA zugelassene Gentherapie. Im Jahr 2018 wurde Kymriah in der EU und in der Schweiz zugelassen. Im April 2020 verlieh die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA Kymriah im Zulassungsprozess für die Behandlung eines wiederkehrenden oder therapieresistenten follikulären Lymphoms den Sonderstatus einer „Regenerative Medicine Advanced Therapy“ (RMAT) für Medikamente, welche gegen bisher unbehandelbare Krankheiten eingesetzt werden können. Diffuses großzelliges B-Zell-Lymphom Das diffuse großzellige B-Zell-Lymphom, der häufigste Tumor der B-Lymphozyten, kann mit dem CAR-T-Zell-Therapie-Wirkstoff Axicabtagene Ciloleucel (Handelsname: Yescarta; Hersteller Kite Pharma, ein Tochterunternehmen von Gilead Sciences) behandelt werden. Er ist sowohl in den USA (Oktober 2017) als auch in der EU (August 2018) zur Behandlung von B-Zell-Lymphome zugelassen wurde. Malignes Melanom Das maligne Melanom ist ein hochgradig bösartiger Tumor der Pigmentzellen der Haut, der häufig Tochtergeschwülste (Metastasen) bildet. Seit 2015 ist in den USA und in der EU ein onkolytisches Virus als Therapieoption zugelassen, um ein nicht operables Melanom zu bekämpfen. Talimogen laherparepvec (Handelsname: Imlygic, Hersteller: Amgen) ist ein biotechnologisch so verändertes Herpes-simplex-Virus, dass es Melanomazellen infizieren und sich darin vermehren kann. Dies führt zur Zellyse, einer lokalen Entzündung und der Verbreitung von Immunzellen zu anderen Krebszellen. Es entstehen auf diese Weise tumorantigenspezifische T-Zellen, die auch andere metastasierte Melanomazellen eliminieren können. Mantelzell-Lymphom Beim Mantelzell-Lymphom (MCL) handelt es sich um eine seltene, aber äußerst aggressive Variante des Non-Hodgkin-Lymphoms (NHL), das sich aus abnormalen B-Lymphozyten entwickelt. Brexucabtagen autoleucel (autologe Anti-CD19-transduzierte CD3-positive Zellen) (Handelsname: Tecartus; Hersteller: Kite Pharma) ist das dritte CAR-T-Zell-Medikament, das in der EU zugelassen wurde. Gemäß § 35a Abs. 1 Satz 11 SGB V gilt für sogenannte Orphan Drugs der medizinische Zusatznutzen durch die Zulassung als belegt. Das IQWiG bewertet daher in Auftrag des G-BA ausschließlich die Angaben zu den Patientenzahlen und den Kosten im Dossier des pharmazeutischen Unternehmers. Multiples Myelom Ciltacabtagen autoleucel (Carvykti, Janssen-Cilag) ist eine genetisch modifizierte autologe T-Zell-Immuntherapie, die im Mai 2022 in der EU zugelassen wurde für die Behandlung von erwachsenen Patienten mit rezidiviertem und refraktärem multiplem Myelom, die mindestens drei vorherige Therapien erhalten haben, darunter ein immunmodulatorisches Mittel, einen Proteasominhibitor und einen Anti-CD38-Antikörper, bei denen es unter der letzten Therapie zu einer Krankheitsprogression gekommen ist. Carvykti ist ein „Arzneimittel für eine neuartige Therapie“ (advanced therapy medicinal product, ATMP), daher wurde es vom Ausschuss für neuartige Therapien (Committee for Advanced Therapies, CAT) bewertet. Therapie der HIV-1-Infektion Das AIDS-Virus (HIV) integriert in das Genom der CD4-Zellen, wo es nach Absetzen der antiviralen Therapie sich von neuem vermehrt. Da die Infektion der Lymphozyten über den Zelloberflächenrezeptor CCR5 erfolgt, wurden CD4-Zellen aus Patienten entnommen und ex vivo das CCR5-Gen so durch Genome Editing modifiziert, dass eine HIV-Infektion nicht mehr stattfinden kann. Nach Transplantation dieser modifizierten Zellen in den Patienten (adoptiver Zelltransfer) konnte der Anstieg der HIV-Vermehrung nach Absetzen der antiviralen Therapie verzögert werden. Eine erfolgreiche Therapie hat sich daraus aber bisher nicht ergeben. Problematik der Kosten von Gentherapeutika Die hohen Kosten der zugelassenen gentherapeutischen Behandlungen gefährden einen erfolgreichen Einsatz in der Klinik. Ein Kriterium für die Preisfestlegung ist der Nutzen eines Therapeutikums für den Patienten und die Gesellschaft. Die Problematik besteht darin, dass in der Regel keine Kompetition da ist und die Zahl der Patienten, die für eine Therapie in der EU und in den USA in Frage kommen, klein ist, so dass aufwendige Kosten für Forschung und Entwicklungen stark ins Gewicht fallen. Firmen Novartis übernahm AveXis im Jahr 2018 für 8,7 Milliarden US-Dollar. Die in Philadelphia ansässige US-amerikanische Firma Spark Therapeutics wurde 2019 von Roche für 4,8 Mrd. US-Dollar übernommen. Die Übernahme erforderte eine Zustimmung der US-Kartellbehörde FTC; dadurch zog sich der Kauf über circa zehn Monate hin. Im November 2019 gründete Ferring ein neues Unternehmen FerGene zur Entwicklung und Vermarktung von – noch in der Entwicklung befindlichem – Nadofaragene firadenovec, vorgesehen zur Behandlung von Blasenkrebspatienten, die Non-Responder auf Bacillus Calmette-Guérin sind. Die FDA hat den Zulassungsantrag (Biologics License Application / BLA) angenommen und Priority Review für Nadofaragene firadenovec gewährt. Im November 2019 gab das japanische Pharmaunternehmen Astellas bekannt, dass es das auf die Gentherapie spezialisierte Unternehmen Audentes für 3 Milliarden US-Dollar übernehmen wird. Biogen gab im März 2021 bekannt, eine Gentherapie-Produktionsanlage im Research Triangle Park, North Carolina zu bauen. Literatur A. M. Raem u. a.: Genmedizin, Eine Bestandsaufnahme. Springer-Verlag, 2001. Stellungnahme der DFG zur Entwicklung der Gentherapie, Dezember 2006. (PDF; 236 kB) Boris Fehse, Silke Domasch (Hrsg.): Gentherapie in Deutschland. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Dornburg, 2011, ISBN 978-3-940647-06-1; Kurzfassung. (PDF). Christopher Baum, Gunnar Duttge, Michael Fuchs: Gentherapie. Medizinisch-naturwissenschaftliche, rechtliche und ethische Aspekte. (= Ethik in den Biowissenschaften. Band 5). Karl Alber Verlag, Freiburg i. Br./ München 2013, ISBN 978-3-495-48593-4. Weblinks Deutsche Gesellschaft für Gentherapie e. V. (DG-GT) Pharma Fakten Eine Initiative von Arzneimittelhertsellern in Deutschland Gene Therapy Clinical Trials Worldwide Übersichtsdatenbank über die bisher durchgeführten und laufenden klinischen Gentherapiestudien Einzelnachweise Regenerative Medizin Humangenetik Medizinethik Nukleinsäure-Methode
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https://de.wikipedia.org/wiki/Genre-Theorie
Genre-Theorie
Die Genre-Theorie (von frz. genre für Gattung bzw. Stil) klassifiziert typische Merkmale erzählerischer literarischer oder filmischer Werke. Explizit dienen die Form der Erzählung, ihre Grundstimmung, ihr Thema und ihre Handlung sowie historische oder räumliche Bezüge der Geschichte als Mittel der Unterscheidung. Den Genres übergeordnet ist der allgemeinere Begriff der Gattung. Der Begriff Genre als Unterbegriff der Gattung stammt aus der Literaturwissenschaft. Seit den 1970er Jahren hat er sich, von den USA ausgehend, in der Filmwissenschaft etabliert, wird aber auch in der Musikwissenschaft und in der Spielwissenschaft verwendet. Aufgrund der unterschiedlichen Ansätze ist der Begriff vielgestaltig und unterscheidet sich nur bedingt von anderen Allgemeinbegriffen wie Gattung, Format oder Textsorte. Genre und Gattung Der Philosoph Aristoteles teilte in seiner Poetik die Dichtung in Epik, Lyrik und Drama ein und definierte damit die ersten Gattungen. Im Deutschen ergibt sich ein Verständnisproblem aus der Tatsache, dass die Begriffe Genre und Gattung gleichermaßen verwendet werden, je nach Kontext aber unterschiedliche Bedeutungen besitzen. Die Gattung gliedert der Tendenz nach die „hohe“ und das Genre die „niedere“ Kunst, ähnlich wie bei der Unterscheidung zwischen der „niederen“ Genremalerei und der „hohen“ Historienmalerei. Außerdem scheint die Gattung größere Werkgruppen zu bezeichnen als das Genre. Das englische genre wird im Deutschen zwar mit Gattung übersetzt und umgekehrt; je nach Kontext und Autor können die beiden Begriffe aber divergierende Bedeutungen annehmen. In der Filmwissenschaft spricht man in der Regel von Genres und meint damit thematisch verbundene Filmgruppen wie Western oder Thriller. In der Literaturwissenschaft ist dagegen meist von Gattungen die Rede, wenn es sich um Bildungsroman oder bürgerliches Trauerspiel handelt. Das Genre ist aus dieser Sicht eher eine Mode, während die Gattung als Ausführung eines theoretischen Programms erscheint. Genretheorie ist den Genres, die sie beschreibt, nicht vorausgesetzt, wie eine Poetik es für die Gattungen zu sein versucht. So ist es in der deutschsprachigen Filmwissenschaft durchaus üblich, ‚große‘ Gruppen wie Spiel- oder Dokumentarfilm als Gattung zu bezeichnen; in der Germanistik wiederum kommt auch der Ausdruck Genre zum Einsatz, meist als Bezeichnung für besonders stark typisierte, kommerziell ausgerichtete Literaturgattungen außerhalb oder am Rande des Literaturkanons. Der Arztroman ist beispielsweise typische Genreliteratur, der Roman wird dagegen als Gattung bezeichnet. Auch hier gilt, dass diese Unterscheidung keineswegs überall gemacht wird. Es ist durchaus zulässig, den Kriminalroman als Gattung zu bezeichnen; den Roman als Genre zu betiteln, ist dagegen unüblich. Im Englischen wiederum besitzt genre eine ähnlich breite Bedeutung wie Gattung im Deutschen: Gothic Novel, romance oder poetry sind „genres“. Der unterschiedliche Sprachgebrauch führt nicht selten zu Verwirrung. Für Englischsprachige stellt die Behauptung, der nonfiction film sei ein genre, kein Problem dar, im deutschsprachigen Kontext führt diese Feststellung dagegen meist zu heftigen Diskussionen, weil Genre hier normalerweise als kleinere Einheit verstanden wird. Definitionsprobleme Wenn die Merkmale eines Genres nicht durch eine Poetik definiert sind wie beim Regeldrama der französischen Klassik, stellen sich bei jeder Zuordnung die Probleme der Induktion: Ein Film wird im Vergleich mit anderen Filmen dem Genre des Westerns oder des Horrorfilms zugeordnet. Es gibt keine vorgegebene Norm als feste Bezugsgröße. Wie soll man jedoch feststellen, zu welchem Genre ein Werk gehört, wenn ein Genre lediglich ein Kanon von Werken ist, den man mehr oder weniger willkürlich festlegen muss, da eine vollständige Beschreibung aller relevanten Merkmale nicht oder nur aus den Werken selbst hergeleitet werden kann? Janet Staiger erklärt, es gebe vier Arten, Genres festzulegen, ohne der Wissenschaft, der Kritik, dem Publikum oder dem Markt den Vorzug zu geben: 1. Die Bestimmung eines idealen Vorbilds, mit dem die übrigen Exponenten des Genres verglichen werden. (idealist method) 2. Der Versuch, auf inhaltliche Gemeinsamkeiten zu schließen. (empiricist method) 3. Die schlichte Festlegung, was zu einem Genre gehören soll (a priori method). 4. Die Untersuchung gesellschaftlicher Erwartungen, die zu Genres führen (social convention method). Tzvetan Todorov hat 1970 festgestellt, dass historisch gewachsene und theoretisch modellierte Genres selten identisch sind und sich die Vorstellungen der Wissenschaft daher von den Konventionen des Marktes unterscheiden. Seither hat sich auch die Wissenschaft vermehrt mit den Marktstrukturen auseinandergesetzt, aus denen Genre-Begriffe hervorgegangen sind, statt auf eigenen Einteilungen zu beharren. Erschwerend kommt hinzu, dass jedes Werk sich mit den Genre-Traditionen auseinandersetzt und neue Elemente einführt, beziehungsweise alte weglässt oder uminterpretiert. Sonst wäre es zu vorhersehbar und klischeehaft. Da das Publikum mit einem Genre gewisse Erwartungen verknüpft, ist das Werk stereotyp, wenn sie alle erfüllt, und unverständlich, wenn sie alle enttäuscht werden. Beispiel: Die Erwartung des Publikums, einen Western zu sehen, wird durch Filme dieser Art aufgebaut. Wenn sich zwei Männer auf einer Straße gegenüberstehen, wird es zum Beispiel mit einer Schießerei rechnen. Wenn solche Erwartungen alle erfüllt werden, entspricht der Film zwar in jeder Hinsicht dem Genre, ist aus diesem Grund aber vielleicht nicht interessant genug. Wenn zu viele dieser Erwartungen enttäuscht werden, kann sich ein Teil des Publikums nicht mehr orientieren. Abhängigkeit von historischen Prozessen Wenn ein neues Werk unweigerlich neue Elemente einbringen muss, verändert sich die Definition eines Genres im Laufe der Zeit. Genres sind demnach historischen Prozessen unterworfen und beziehen sich immer auf bereits vorhandene Werke, neue können sie nicht vollständig beschreiben. In diesen Prozessen spielen gesellschaftliche Veränderungen eine wichtige Rolle, da der Konsens über ein Genre letztlich ein gesellschaftlicher Konsens ist. Beispiel: Lange Zeit wurden in Western-Filmen Indianer nur als primitive Bösewichte gezeigt, die in Massen über harmlose Siedler herfielen und im letzten Moment von der Kavallerie vertrieben wurden (was in Teilen eine Anspielung auf den Kalten Krieg und die damit verbundene „rote Gefahr“, den Kommunismus, darstellte). Filme wie Little Big Man oder Der mit dem Wolf tanzt änderten in einem neuen gesellschaftlichen Umfeld dieses Bild und wiesen den Ureinwohnern einen neuen Platz zu. Verschiedene Parteien tragen also zur Bildung und Weiterentwicklung von Genres bei: Einmal die Produzenten und Autoren durch den Versuch, die Publikumsreaktionen auf bestimmte ästhetische Muster zu kalkulieren, zum anderen das Publikum selbst, das eine Erwartungshaltung aufgebaut hat, und nicht zuletzt die Kritiker, die als Motor der Entwicklung dienen und den analytischen Hintergrund liefern. Die Genre-Theorie beschäftigt sich mit all diesen Fragen und hat komplexe Erklärungssysteme entworfen. Trotzdem bleiben viele Fragen offen, zum Beispiel zum Verhältnis von Autor und Genre. Siehe auch Computerspielgenre Sprachwissenschaft: Prototypensemantik Literatur Barry Keith Grant (Hrsg.): Film genre: Theory and criticism. Scarecrow Press, Metuchen / London 1977, ISBN 0-8108-1059-X. Gérard Genette: Introduction à l'architexte (1979), deutsch: Einführung in den Architext. Übersetzt von J.-P. Dubost, G. Febel, H.-Ch. Hobohm und U. Pfau. Verlag Jutta Legueil, Stuttgart 1990, ISBN 3-9802323-2-8 (Über die Klassifikation literarischer Genres) Marcus Stiglegger (Hrsg.): Handbuch Filmgenre. Springer Verlag, Wiesbaden 2018, ISBN 978-3-658-09631-1. Einzelnachweise Literaturwissenschaft Filmwissenschaft Filmgenres
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https://de.wikipedia.org/wiki/Goldbachsche%20Vermutung
Goldbachsche Vermutung
Die Goldbachsche Vermutung, benannt nach dem Mathematiker Christian Goldbach, ist eine unbewiesene Aussage aus dem Bereich der Zahlentheorie. Sie gehört als eines der Hilbertschen Probleme (Nr. 8b) zu den bekanntesten ungelösten Problemen der Mathematik. Goldbach formulierte die Vermutung in einem Brief an Leonhard Euler am 7. Juni 1742. Für Lösungsversuche werden fortgeschrittene Methoden der analytischen Zahlentheorie benutzt. Wie einige andere Probleme der additiven Zahlentheorie, die sowohl die Primzahleigenschaften (multiplikative Zahlentheorie) als auch Addition natürlicher Zahlen in ihrer Formulierung umfassen, gilt sie zwar als einfach zu formulieren, aber als besonders schwierig zu beweisen. Starke (oder binäre) Goldbachsche Vermutung Die starke (oder binäre) Goldbachsche Vermutung lautet wie folgt: Jede gerade Zahl, die größer als 2 ist, ist Summe zweier Primzahlen. Mit dieser Vermutung befassten sich bis in die heutige Zeit viele Zahlentheoretiker, ohne sie bisher bewiesen oder widerlegt zu haben. Tomás Oliveira e Silva zeigte mittels eines Volunteer-Computing-Projekts mittlerweile die Gültigkeit der Vermutung für alle Zahlen bis 4·1018. Ein Beweis dafür, dass sie für jede beliebig große gerade Zahl gilt, ist dies nicht. Nachdem der britische Verlag Faber & Faber im Jahr 2000 ein Preisgeld von einer Million US-Dollar für den Beweis der Vermutung ausgelobt hatte, wuchs auch das öffentliche Interesse an dieser Frage. Das Preisgeld wurde nicht ausgezahlt, da bis April 2002 kein Beweis eingegangen war. Schwache (oder ternäre) Goldbachsche Vermutung Die schwächere Vermutung Jede ungerade Zahl, die größer als 5 ist, ist Summe dreier Primzahlen. ist als ternäre oder schwache Goldbachsche Vermutung bekannt. Sie ist teilweise gelöst: Denn einerseits gilt sie, wenn die verallgemeinerte Riemannsche Vermutung richtig ist, und andererseits ist gezeigt, dass sie für alle genügend großen Zahlen gilt (Satz von Winogradow, siehe Verwandte Resultate). Am 13. Mai 2013 kündigte der peruanische Mathematiker Harald Helfgott einen mutmaßlichen Beweis der ternären Goldbachschen Vermutung für alle Zahlen an, die größer als 1030 sind. Der Beweis wurde 2015 für die Annals of Mathematics Studies in Princeton akzeptiert – einer Buchreihe – und ist bisher noch nicht vollständig erschienen und einem vollständigen Peer-Review unterzogen (Stand 2021). Helfgott beschloss dafür die Kapitel stückweise zunächst auf seiner Homepage zu dem geplanten Buch zu veröffentlichen. Der Beweis benutzt Siebmethoden (Großes Sieb), die Kreismethode von Hardy-Littlewood und Exponentialsummen nach Winogradow, alles Methoden der analytischen Zahlentheorie. Die Gültigkeit für sämtliche Zahlen unterhalb 8,875·1030 ist bereits mit Computerhilfe überprüft worden. Aus der starken Goldbachschen Vermutung folgt die schwache Goldbachsche Vermutung, denn jede ungerade Zahl kann als Summe geschrieben werden. Der erste Summand ist nach der starken Goldbachschen Vermutung Summe zweier Primzahlen (), womit eine Darstellung von als Summe von drei Primzahlen gefunden ist. Goldbach-Zerlegungen Als Goldbach-Zerlegung wird die Darstellung einer geraden Zahl als Summe zweier Primzahlen bezeichnet, beispielsweise ist eine Goldbach-Zerlegung der 8. Die Zerlegungen sind nicht eindeutig, wie man an ersehen kann. Für größere gerade Zahlen gibt es eine tendenziell wachsende Anzahl von Goldbach-Zerlegungen („mehrfache Goldbachzahlen“). Die Anzahl der Goldbach-Zerlegungen lässt sich mit Computerunterstützung leicht berechnen, siehe Abbildung. Um die starke Goldbachsche Vermutung zu verletzen, müsste ein Datenpunkt irgendwann auf die Nulllinie fallen. Die Forderung an eine gerade Zahl , dass für jede Primzahl mit auch eine Primzahl und somit eine Goldbach-Zerlegung ist (die Zahl also die maximale Anzahl an Goldbach-Zerlegungen besitzt), erfüllen genau die vier Zahlen 10, 16, 36 und 210. Auch die schwächere Forderung, dass für jede Primzahl mit auch eine Primzahl ist, erfüllt keine Zahl . Verwandte Resultate 1920 bewies Viggo Brun, dass jede genügend große gerade Zahl als Summe zweier Zahlen mit maximal neun Primfaktoren darstellbar ist. 1930 bewies Lew Genrichowitsch Schnirelman, dass jede natürliche Zahl die Summe von weniger als C Primzahlen ist, wobei C eine Konstante ist, die bei Schnirelman ursprünglich bei 800.000 lag und später auf 20 gedrückt werden konnte. 1937 bewies Iwan Matwejewitsch Winogradow, dass jede ungerade Zahl, die größer als eine bestimmte Konstante ist, Summe dreier Primzahlen ist (Satz von Winogradow; schwache Goldbachsche Vermutung für den Fall genügend großer Zahlen). Einen anderen Beweis dafür gab 1946 Juri Linnik. 1937 bewies Nikolai Grigorjewitsch Tschudakow, dass „fast alle“ geraden Zahlen Summe zweier Primzahlen sind, das heißt, dass die asymptotische Dichte der so darstellbaren Zahlen in den geraden Zahlen 1 ist. 1947 bewies Alfréd Rényi, dass eine Konstante K derart existiert, dass jede gerade Zahl Summe einer Primzahl und einer Zahl mit maximal K Primfaktoren ist. 1966 bewies Chen Jingrun, dass jede hinreichend große gerade Zahl Summe einer Primzahl und eines Produkts höchstens zweier Primzahlen ist (Satz von Chen). 1995 bewies Olivier Ramaré, dass jede gerade Zahl Summe von höchstens sechs Primzahlen ist. 2012 bewies Terence Tao, dass jede ungerade Zahl größer als 1 Summe von höchstens fünf Primzahlen ist, und verbesserte damit das Resultat von Ramaré. 2022 bewiesen Will Sawin und Mark Shusterman die Goldbach-Vermutung für Funktionenkörper. Literatur Wolfgang Blum: Goldbach und die Zwillinge. In: Spektrum der Wissenschaft Dossier 6/2009: Die größten Rätsel der Mathematik. ISBN 978-3-941205-34-5, S. 34–39. Apostolos Doxiadis: Onkel Petros und die Goldbach’sche Vermutung. Lübbe, 2000, ISBN 3-7857-0951-X (Belletristik). Andrew Granville: Refinements of Goldbach’s conjecture, and the generalized Riemann hypothesis. In: Functiones et Approximatio 37. 2007, S. 7–21 (englisch; PDF; 180 kB). Melvyn B. Nathanson: Additive Number Theory. The Classical Bases. Springer-Verlag, New York 1996 (englisch). Jörg Richstein: Verifying the Goldbach conjecture up to 4·1014. In: Mathematics of Computation 70. 2001, S. 1745–1749 (englisch). Konstantin Fackeldey: Die Goldbachsche Vermutung und ihre bisherigen Lösungsversuche. Freie Universität Berlin, 2002 (PDF; 278 kB). Harald Helfgott: The ternary Goldbach problem, Oberwolfach Mathematical Snapshots, 2014 Yuan Wang: The Goldbach conjecture, 2. Auflage, World Scientific 2003 Weblinks Goldbach conjecture verification project. Von Tomás Oliveira e Silva. Goldbach’s Conjecture. Beschreibung in The Prime Glossary. Goldbach. Rechenprogramm, das eine beliebige gerade Zahl als Summe zweier Primzahlen darstellt. Einzelnachweise Analytische Zahlentheorie Vermutung (Mathematik) Primzahl
1857
https://de.wikipedia.org/wiki/Daniel%20Gabriel%20Fahrenheit
Daniel Gabriel Fahrenheit
Daniel Gabriel Fahrenheit (* 24. Mai 1686 in Danzig; † 16. September 1736 in Den Haag) war ein deutscher Physiker und Erfinder von Messinstrumenten. Nach ihm wurde die Temperatureinheit Grad Fahrenheit (°F) benannt. Herkunft Seine in Danzig wohnenden Eltern waren Daniel (1656–1701) und Concordia Fahrenheit (1657–1701) (geb. Schumann, verw. Runge). Die Mutter kam aus einer bekannten Danziger Kaufmannsfamilie und war die Tochter des Großhändlers Michael Schumann (1624–1673). Daniel war das älteste von fünf Kindern (zwei Söhne, drei Töchter) und überlebte als einziges die ersten Lebensjahre in der Danziger Hundegasse (nach 1945 Ulica Ogarna 95). Sein Großvater Reinhold Fahrenheit war von Kneiphof/Königsberg (Preußen) nach Danzig gezogen und hatte sich dort als Kaufmann etabliert. Die Familie stammte vermutlich aus Hildesheim, Daniels Urgroßvater hatte aber in Rostock gelebt, bevor er nach Königsberg gezogen war. Leben Seine Eltern waren früh verstorben, vermutlich am Verzehr giftiger Pilze. Danach war Fahrenheit gezwungen, eine Kaufmannslehrstelle in Amsterdam anzunehmen. Er unternahm dann weite Reisen und ließ sich 1717 in der niederländischen Stadt Den Haag als Glasbläser nieder, um sich vor allem mit dem Bau von Barometern, Höhenmessern und Thermometern zu befassen. 1718 hielt er in Amsterdam Vorlesungen über Chemie. Am 7. Mai 1724 wurde er zum Fellow der Royal Society gewählt. Bedeutung Fahrenheit entwickelte präzise Thermometer mit 3-Punkte-Eichung (Fahrenheit-Skala) und begründete hiermit die Thermometrie. Zunächst verwendete er als Thermometersubstanz Weingeist, ab etwa 1714 auch Quecksilber. Er kam auf den Gedanken, als er eine Arbeit von Guillaume Amontons las, in der die Änderung der Anzeige von Quecksilberbarometern mit der Temperatur beschrieben wurde. Er erfand somit das Quecksilberthermometer; dieses gab es bereits vorher, aber nur durch seine Kalibrierung und seine Herstellungsverfahren wurde es auch allgemein anwendbar. Als Nullpunkt seiner Skala verwendete er die tiefste Temperatur, die er mit einer Eis-Salz-Kältemischung erzeugen konnte: −17,8 °C. 1721 entdeckte er, dass Wasser erheblich unter seinen Gefrierpunkt abgekühlt werden kann, ohne zu gefrieren. Man spricht dabei von unterkühltem Wasser. Fahrenheit konstruierte außerdem ein Aräometer, ein Pyknometer und ein Hypsobarometer. Eine Zeit lang war die Fahrenheit-Skala in Deutschland in Gebrauch. In den USA wird heute noch nach Fahrenheit gemessen. Autographen von ihm werden unter anderem in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover aufbewahrt. Ehrungen Am bekanntesten ist die Temperatur-Einheit Fahrenheit, die nach ihm benannt wurde. Fahrenheit zu Ehren wurde 1976 der vorher nur als Picard X bezeichnete Mondkrater in Fahrenheit umbenannt. Einzelnachweise Literatur Ernst Strehlke: Kurzer Lebensabriss von Daniel Gabriel Fahrenheit, geb. 24. Mai 1686, gest. 16. Septbr. 1736. In: Altpreußische Monatsschrift. Band 11, Königsberg i. Pr. 1874, S. 87–88. Weblinks Physiker (18. Jahrhundert) Ingenieur, Erfinder, Konstrukteur (18. Jahrhundert) Mitglied der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig Mitglied der Royal Society Deutscher Niederländer Geboren 1686 Gestorben 1736 Mann Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater
1858
https://de.wikipedia.org/wiki/Germanische%20Sprachen
Germanische Sprachen
Die germanischen Sprachen sind ein Zweig der indogermanischen Sprachfamilie. Sie umfassen etwa 15 Sprachen mit rund 500 Millionen Muttersprachlern, fast 800 Millionen einschließlich der Zweitsprecher. Ein charakteristisches Phänomen aller germanischen Sprachen gegenüber den anderen indogermanischen Sprachen sind die Veränderungen im Konsonantismus durch die germanische Lautverschiebung. Dieser Artikel dient der Gesamtdarstellung der germanischen Sprachen. Auf Untergruppen und einzelne Sprachen und ihre Dialekte wird verwiesen. Die urgermanische Sprache wird in einem separaten Artikel behandelt. Die großen germanischen Sprachen Insgesamt zehn germanische Sprachen besitzen jeweils mehr als eine Million Sprecher. Englisch ist die sprecherreichste germanische Sprache mit rund 330 Millionen Muttersprachlern und mindestens 500 Millionen Zweitsprechern. Deutsch wird von etwa 100 Millionen Muttersprachlern und mindestens 80 Millionen Zweitsprechern gesprochen. Niederländisch (25 Millionen) Schwedisch (10 Millionen) Afrikaans (6,7 Millionen, mit Zweitsprechern 16 Millionen) Dänisch (5,5 Millionen) Norwegisch (5 Millionen; Bokmål und Nynorsk) Niederdeutsch (ca. 2 Millionen; Stellung als eigene Sprache umstritten) Jiddisch (1,5 Millionen) Scots (1,5 Millionen; Stellung als eigene Sprache umstritten) Die West-Nord-Ost-Gliederung der germanischen Sprachen Die Dreiteilung der germanischen Sprachen in West-, Nord- und Ostgermanisch ist von Anfang der schriftlichen Überlieferungen sichtbar und es darf bezweifelt werden, ob dieser Dreiheit jemals ein vollkommen einheitliches „Urgermanisch“ zugrunde gelegen hat (siehe unten die ausführliche Klassifikation). Die Sprachgrenze zwischen Nord- und Westgermanisch wird heute durch die deutsch-dänische Grenze markiert und lag früher etwas weiter südlich an der Eider. Westgermanische Sprachen Zu den westgermanischen Sprachen gehören: Englisch, Deutsch, Niederländisch, Afrikaans, Niederdeutsch, Jiddisch, Luxemburgisch, Friesisch und Pennsylvania Dutch. Nordgermanische Sprachen Dazu gehören: Schwedisch, Dänisch, Norwegisch, Färöisch und Isländisch. Ostgermanische Sprachen Alle ostgermanischen Sprachen sind ausgestorben. Die bestüberlieferte ostgermanische Sprache ist Gotisch. Die Klassifikation der germanischen Sprachen Einteilung der heutigen germanischen Sprachen Der germanische Zweig des Indogermanischen umfasst heute 15 Sprachen mit insgesamt rund 500 Millionen Sprechern. Einige dieser Sprachen werden von manchen Forschern nur als Dialekte betrachtet (siehe unten). Diese 15 Sprachen können nach dem Grad ihrer Verwandtschaft wie folgt klassifiziert werden (die Sprecherzahlen beziehen sich auf Muttersprachler): Germanisch (15 Sprachen mit insgesamt 490 Millionen Sprechern): 1. Westgermanisch: Niederdeutsch: Niederdeutsch (ca. 2 Millionen) Plautdietsch (500.000) Niederfränkisch: Niederländisch (25 Millionen) Afrikaans (6 Millionen; 16 Millionen inkl. Zweitsprecher) Limburgisch (2 Millionen) Hochdeutsch: Deutsch (100 Millionen; 180 Millionen inkl. Zweitsprecher) Jiddisch (1,5 Millionen) Luxemburgisch (Lëtzebuergesch) (300.000) Pennsylvania Dutch (100.000) Friesische Sprachen (400.000) (Westfriesisch, Nordfriesisch, Ostfriesisch [Saterländisch]) Englisch (340 Millionen; mind. 850 Millionen inkl. Zweitsprecher) 2. Nordgermanisch: Skandinavisch: (Festlandskandinavisch) Dänisch (5,5 Millionen) Schwedisch (10 Millionen) Norwegisch (5 Millionen) (Bokmål und Nynorsk) Isländisch-Färöisch: (Inselskandinavisch) Isländisch (300.000; 350.000 inkl. Zweitsprecher) Färöisch (65.000) Die Grundlage dieser Klassifikation ist der Weblink „Klassifikation der indogermanischen Sprachen“, der für das Germanische vor allem auf Robinson 1992 basiert. Die aktuellen Sprecherzahlen entstammen Ethnologue 2005 und offiziellen Länderstatistiken. Da die Grenzen zwischen Sprachen und Dialekten fließend sind, werden z. B. Luxemburgisch, Plautdietsch, Pennsylvanisch und Niederdeutsch nicht von allen Forschern als Sprachen betrachtet, Schwyzerdütsch und Schottisch (Scots) dagegen von anderen als weitere eigenständige westgermanische Sprachen angesehen. Ein weiteres Beispiel: Die beiden Varianten des Norwegischen (Bokmål und Nynorsk) werden von einigen Skandinavisten als separate Sprachen betrachtet, wobei dann Bokmål in die Nähe des Dänischen, Nynorsk in die Nähe des Isländisch-Faröischen rückt. Historische Klassifikation Während die obige Klassifikation lediglich eine Gliederung der heute existierenden germanischen Sprachen bietet, sollten folgenden Darstellungen einen historischen Einblick vermitteln, da auch die ausgestorbenen germanischen Sprachen aufgeführt werden. Schematische Darstellung der Ausgliederung der historischen germanischen Sprachen bis zum 9. Jahrhundert, nach Stefan Sonderegger: Im unterstehende Tabelle werden nicht belegte, aber erschließbare Zwischenglieder durch * gekennzeichnet. Insbesondere über die historische Gliederung der westgermanischen Sprachen gibt es bisher keinen vollständigen Konsens, die folgende historisch orientierte Darstellung (nach Maurer 1942, Wiesinger 1983, dtv-Atlas Deutsche Sprache 2001, Sonderegger 1971, Diepeveen, 2001) gibt aber die mehrheitlich vertretene Forschungsrichtung wieder. Dabei wird das Westgermanische nicht als ursprüngliche genetische Einheit aufgefasst, es hat sich erst später aus seinen Komponenten Nordseegermanisch, Weser-Rhein-Germanisch und Elbgermanisch durch Konvergenz herausgebildet. Aus dieser Darstellung wird auch klar, dass die Dialekte des Deutschen verschiedenen Zweigen des „Westgermanischen“ angehören, Deutsch also nur in Form seiner Dialekte in einen historischen germanischen Stammbaum integrierbar ist. Erklärung der Symbole: † steht für eine ausgestorbene Sprache. Ⓢ symbolisiert, dass es eine standardisierte Schriftform dieser Varietät oder Dialektgruppe gibt. * Germanisch Gemeingermanisch Oder-Weichsel-Germanisch (Ostgermanisch) †: Für die einzelnen Sprachen siehe Ostgermanische Sprachen#Sprachen Spätgermanisch Nordgermanisch Urnordisch † Altnordisch † West-Nordisch Altisländisch † Isländisch Ⓢ Altfäröisch † Färöisch Ⓢ Norn † Altnorwegisch † Norwegisch-Nynorsk Ⓢ Ost-Nordisch Altschwedisch † Schwedisch Ⓢ Altdänisch † Dänisch Ⓢ Fünisch Schonisch Bornholmisch Südjütisch Norwegisch-Bokmål Ⓢ Westgermanisch (Südgermanisch) Rhein-Wesergermanisch Altfränkisch † Westfränkisch † West-Altfränkisch (Niederfränkisch) Altniederländisch † Mittelniederländisch † Neuniederländisch Niederländisch Ⓢ Westflämisch Westhoekflämisch Ostflämisch Brabantisch Holländisch Seeländisch Kleverländisch (Hat seit dem 19. Jahrhundert Standarddeutsch als Dachsprache) Afrikaans (Halbkreolsprache) Ⓢ Limburgisch (Südniederfränkisch) Ost-Altfränkisch (Untergegliederte Varietäten gehören nach dem 9. Jahrhundert zum Hochdeutschen) Mittelfränkisch Ripuarisch Moselfränkisch Luxemburgisch Ⓢ Rheinfränkisch Hessisch Pfälzisch Pennsylvanisch Thüringisch-obersächsische Dialektgruppe Schlesisch Hochpreußisch Nordseegermanisch Altfriesisch † Friesisch Westfriesisch Ⓢ Nordfriesisch Ostfriesisch Saterländisch Altenglisch † Mittelenglisch † Neuenglisch Englisch Ⓢ Scots Altsächsisch † Mittelniederdeutsch † (Neu-)Niederdeutsch Nedersaksisch (hat seit dem 15. Jahrhundert Niederländisch als Dach-/Kultursprache) Westniederdeutsch oder Niedersächsisch (hat seit dem 15. Jahrhundert Hochdeutsch als Dach-/Kultursprache) Nordniedersächsisch Westfälisch Ostfälisch Ostniederdeutsch Brandenburgisch Mecklenburgisch-Vorpommersch Ostpommersch Niederpreußisch Plautdietsch (Mischform aus Ostniederdeutsch und niederländischen Varietäten) Elbgermanisch Semnonisch † Hermundurisch † Quadisch † Markomannisch † Langobardisch † Althochdeutsch †: umfasst auch Altbairisch † und Altalemannisch † Mittelhochdeutsch † (siehe auch Untergliederungen von Ostaltfränkisch) Jiddisch Westjiddisch Ostjiddisch Neuhochdeutsch Deutsch Standarddeutsch Ⓢ Ostfränkisch Bairisch Nordbairisch Südböhmisch Mittelbairisch-Österreichisch Südbairisch-Tirolerisch Alemannisch Niederalemannisch Mittelalemannisch Hochalemannisch Höchstalemannisch Schwäbisch Sieht man von den lateinischen Inschriften, die germanische Namen enthalten (einschließlich des Helms von Negau in der Steiermark) ab, so liegen die frühesten, etwa um 200 n. Chr. beginnenden einheimischen Sprachzeugnisse auf dem Gebiet des Nordgermanischen vor: eine beschränkte Zahl von z. T. noch hochaltertümlichen Runeninschriften, deren Sprachform man als „Urnordisch“ bezeichnet. Aus diesem Urnordischen geht in der Vikinger-Zeit das „Altnordische“ (700–1500) hervor, wobei eine allmähliche Zweiteilung in Ostnordisch (Dänisch und Schwedisch) und Westnordisch (Norwegisch und Isländisch) erkennbar wird. Am wichtigsten ist wegen des reich entwickelten Schrifttums (Edda, Skalden-Poesie, Saga-Literatur) in ältester Zeit das Westnordische, vor allem das Alt-isländische, welches man deswegen bei dem Begriff „Altnordisch“ auch in erster Linie im Auge hat. Beim Westgermanischen, dessen vereinzelte frühe, seit dem 5. Jahrhundert auftretende Runendenkmäler eine wesentlich geringere Rolle als im nordischen Bezirk spielen, beginnt die Überlieferung bereits in ziemlich scharfer dialektischer Gliederung. Hierher gehören das Altenglische oder Angelsächsische (seit dem 8. Jahrhundert), das Altfriesische (seit dem 13. Jahrhundert), das Altsächsische (seit dem 9. Jahrhundert) und Altniederfränkische und schließlich die Mundarten des Althochdeutschen (seit dem 8. Jahrhundert): Das Bairische und Alemannische (oberdeutsche Mundarten) und das Ost-, Rhein- und Mittelfränkische (mitteldeutsche Mundarten). Die Untergliederung des Westgermanischen und seine ursprünglichen Einheitlichkeit sind umstritten. Die neuere Forschung stellt meist dem „Binnengermanischen“ (vor allem Hochdeutsch) den „nordseegermanischen“ Sprachraum (die übrigen Sprachen) gegenüber. Das Ostgermanische, auch dieses zunächst (seit dem 3. Jahrhundert) durch einige wenige, für die Sprachgeschichte nahezu bedeutungslose Runenschriften bezeugt, erhält für den Linguisten sein Gewicht durch die westgotische Bibelübersetzung des 4. Jahrhunderts, während von den übrigen ostgermanischen Mundarten nur sehr kümmerliche Mundarten auf uns gekommen sind. Von den drei germanischen Sprachgruppen stehen das Nord- und Ostgermanische einander näher als jedes von beiden dem Westgermanischen. Das beweisen gewisse Eigentümlichkeiten des Lautstandes und der Formenbildung. So wird etwa die germanische Lautgruppe -u̯u̯- im Nord- und Ostgermanischen zu -ggw- und entsprechend -i̯i̯- zu nordgermanisch -ggj-, ostgermanisch -ddj- gewandelt, während im Westgermanischen das erste von beiden u̯ und i̯ sich mit dem jeweils vorangehenden Vokal zu einem Diphthongen verbindet: urgermanisch *triu̯u̯a- „treu“ = altnordisch tryggva (Nom. tryggr), gotisch triggwa- (Nom. triggws), aber althochdeutsch triuwi; urgermanisch *tu̯ai̯i̯ō(n) „zweier“ (Gen.) = altnordisch tveggja, gotisch twaddjē, aber althochdeutsch zweiio. Im Bereich der Formenlehre bildet z. B. das Gotische und Nordische die 2. Sg. Präteritum-Presentia kennt, bei den übrigen starken Verba aber den Ausgang -i und in der Wurzelsilbe denselben Vokalismus wie im Plural Präteritum aufweist: gotisch nam-t aber althochdeutsch altsächsisch nām-i. Aufgrund derartiger grammatischer Gemeinsamkeiten werden Ost- und Nordgermanisch von manchen Forschen als „Goto-Nordisch“ oder Nordgermanisch (im weiteren Sinne) zusammengefasst und diesem dann die sonst als Westgermanisch bezeichnete Dialektgruppe als „Südgermanisch“ gegenübergestellt. Die goto-nordischen Zusammenhänge werden überdies auch durch die Vorgeschichte und Namengleichungen bestätigt bzw. beleuchtet. Germanische Sprachverwandtschaft anhand der Wellentheorie Obwohl die Stammbaumtheorie ein adäquates Modell bietet, um die Prozesse der Sprachabspalltung darzustellen, erbringt die Wellentheorie diese Leistung für die Darstellung der zwischensprachlichen Kontakte. Nach der Wellentheorie verfügen räumlich und/oder zeitlich benachbarte sprachliche Varietäten über ein weitgehend übereinstimmendes Sprachinventar. Die Randlinie eines jeden Sprachgebiets stellt die maximale Verbreitung der Innovation dar, die von einem Innovationszentrum ihren Ausgang nehmen. Innerhalb der Wellentheorie werden fünf Innovationszentren identifiziert: Ostgermanisch, Elbgermanisch, Nordseegermanisch, Rhein-Weser Germanisch und Nordgermanisch, aus denen die heutigen oder historischen germanischen Sprachen sich größtenteils oder teilweise gebildet haben sollen. Bis zum 5. Jahrhundert v. Chr. ist es sehr schwierig, spezifische Dialektunterscheidungen innerhalb der germanischen Varietäten vorzunehmen, wenn von der Ausgliederung der ostgermanischen Goten abgesehen wird. Die unleugbare gotisch-nordischen Isoglossen lassen aber vermuten, dass es sich um Neuerungen handelt, die in jenem beschränkten Gebiet, in dem die Goten siedelten, entstanden sind, und die in Skandinavien erst nach dem Abgang der Goten Verbreitung gefunden haben. Spätere Kontakte zwischen dem Gotischen und Elbgermanischen sind nur spärlich dokumentierbar, aber historisch gesehen sehr wahrscheinlich, als die Goten sich, um das 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 1. Jahrhundert n. Chr., längs des mittleren und unteren Laufs der Weichsel befanden. Im Laufe des 5. Jahrhunderts entwickelte sich, hervorgerufen durch intensiven Wirtschaftsverkehr, mit dem Nordseegermanisch eine Art Sprachbund, zu dem die ältesten Phasen des Englischen, des Friesischen, des Altsächsischen und in geringerem Ausmaß des Nordgermanischen gehören. Nordseegermanisch bezeichnet aber keinen Zweig des germanischen Stammbaums, sondern einen Prozess, aus dem jüngere Übereinstimmungen (sogenannte Ingwäonismen) resultierten. Die altsächsische Sprache entstand grundsätzlich aus dem Nordseegermanischen, aber zeigt ab dem 8.–9. Jahrhundert immer stärkere Einflüsse des südlich anschließenden Deutschen, das wesentlich aus dem Elbgermanischen entstand. Die Nachfahren des hauptsächlich aus dem Rhein-Weser Germanischen entstandenen Altfränkisch wurden, außer Niederländisch und die niederrheinischen Dialekte, im Frühmittelalter durchgreifend von der Zweiten Lautverschiebung bzw. von elbgermanischen Innovationen geprägt. Entwicklung des Deutschen Die Ausgliederung und Konstituierung der deutschen Sprache aus dem Germanischen könnte am besten als dreifacher sprachgeschichtlicher Vorgang verstanden werden: Die zunehmende Differenzierung vom Spätgemeingermanischen über das Südgermanische zum Elbgermanisch und, in geringeren Maß, zum Rhein-Wesergermanischen, auf denen die frühmittelalterlichen Stammesdialekte beruhen. Die Integration im fränkischen Reichsverband zum Althochdeutschen. Die schrift- oder hochsprachliche Überschichtung auf hochdeutscher (genauer: ostmitteldeutscher und südostdeutscher) Grundlage, wobei auch das Niederdeutsche der deutschen Sprache endgültig einverleibt wurde, obschon eine Beeinflussung vom Hochdeutschen her seit althochdeutscher Zeit festzustellen ist. 1 Im 9./10. Jahrhundert erloschen. 2 Im 9. Jahrhundert erloschen. Germanische Schriften Seit ungefähr dem 2. Jahrhundert n. Chr. haben die germanischen Stämme eigene Schriftzeichen verwendet, die Runen. Es entstand das sogenannte „ältere Futhark“, eine frühe Form der Runenreihe, die bis ca. 750 n. Chr. in Gebrauch war. Die überlieferte Gotische Bibel des 4. Jahrhunderts hat ihre eigene Schrift, nämlich das vom Bischof Wulfila entwickelte Gotische Alphabet. Später wurden die germanischen Sprachen mit lateinischen Buchstaben geschrieben. Beispiele von modifizierten Buchstaben sind das Yogh (ȝ) und die latinisierten Runen Thorn (þ) und Wunjo (ƿ). Germanische Wortgleichungen Die folgenden Tabellen stellen einige Wortgleichungen aus den Bereichen Verwandtschaftsbezeichnungen, Körperteile, Tiernamen, Umweltbegriffe, Pronomina, Verben und Zahlwörter für einige alt- und neugermanische Sprachen zusammen. Man erkennt den hohen Grad der Verwandtschaft der germanischen Sprachen insgesamt, die besondere Ähnlichkeit der westgermanischen und nordgermanischen Sprachen untereinander, die stärkere Abweichung des Gotischen von beiden Gruppen und letztlich die Beziehung des Germanischen zum Indogermanischen (letzte Spalte, hier sind die Abweichungen natürlich größer). Hier können auch die Gesetze der germanischen (ersten) und hochdeutschen (zweiten) Lautverschiebung überprüft werden (ausführliche Behandlung im nächsten Abschnitt). Da die germanischen und indogermanischen Formen nur rekonstruiert sind, sind sie mit einem * versehen. Gesamtgermanische Nomina Folgende Nomina sind in fast allen germanischen Sprachen vertreten und können auch für das Ur-Indogermanische rekonstruiert werden: 2 neuhochdeutsch Aue = Mutterschaf (veraltend, landschaftlich) 3 neuenglisch hound = Jagdhund 4 vergleiche aber die letzte Silbe in Flie-der, Holun-der Es gibt jedoch auch einige germanische Nomina, welche nicht aus dem Ur-Indogermanischen ererbt zu sein scheinen: Gesamtgermanische Pronomina 4 Im Mittelniederländischen wurde die 2. Person Singular (du) durch die 2. Person Plural (gij, später überwiegend jij) verdrängt; je und ge sind unbetonte Formen. 5 Im Englischen wurde die 2. Person Singular (thou, Objekt thee) durch die 2. Person Plural (zunächst ye, Objekt you) verdrängt. Gesamtgermanische Verben 6verwandt ist neuhochdeutsch gebären. Gesamtgermanische Zahlwörter Fast alle germanischen Zahlwörter sind aus dem Urindogermanischen ererbt: Quelle dieser Tabellen ist der Weblink „Germanische Wortgleichungen“, der wiederum auf der Basis mehrerer etymologischer Wörterbücher zusammengestellt wurde, darunter Kluge 2002, Onions 1966, Philippa 2009, und Pokorny 1959. In allen germanischen Sprachen ist 13 die erste zusammengesetzte Zahl (z. B. dreizehn), die Zahlen 11 und 12 haben eigene Namen (z. B. elf und zwölf). Germanische Lautverschiebung Die germanischen Sprachen unterscheiden sich von anderen indogermanischen Sprachen durch eine charakteristische, eben die „germanische“ Konsonantenverschiebung, die in der Germanistik als „erste“ von einer folgenden „zweiten“ Lautverschiebung unterschieden wird. Die folgende Tabelle bringt Wortgleichungen, die diesen Übergang von den indogermanischen zu den entsprechenden urgermanischen Konsonanten belegen. Da auch die hochdeutschen Parallelen angegeben sind, belegt die Tabelle auch die Zweite Lautverschiebung vom (Ur-)Germanischen zum Hochdeutschen. Rekonstruierte urgermanische und ur-indogermanische Formen sind durch * gekennzeichnet, entsprechende Konsonanten durch Fettdruck hervorgehoben. Während z. B. das Lateinische und Griechische die „indogermanischen“ Konsonanten weitgehend erhalten, erfährt das Germanische einen lautgesetzlichen Wandel der Tenues /p, t, k/, Mediae /b, d, g/ und Mediae-Aspiratae /bh, dh, gh/. Das Englische und das Niederdeutsche konservieren bis heute diese „germanischen“ Konsonanten, dagegen erfolgt beim Übergang zum Hochdeutschen eine zweite Lautverschiebung dieser Konsonantengruppe. Insgesamt ergeben sich folgende Lautgesetze: Germanische und hochdeutsche Lautverschiebung Bemerkungen zur Sprachgeschichte Urgermanisch und seine Abspaltungen Einige Forscher vermuten, dass das Urgermanische mit den Vorläufern der baltischen und slawischen Sprachen eine Dialektgruppe innerhalb der west-indogermanischen Sprachen bildete. Diese Annahme wird nicht zuletzt durch eine neuere lexikostatistische Arbeit gestützt. Diese Vorformen des Germanischen könnten bereits im späten 3. und frühen 2. Jahrtausend v. Chr. entsprechend ihrer geographischen Lage eine Zwischenstellung zwischen den vermuteten Sprachgruppen Italo-Keltisch im Südwesten und Baltoslawisch im Südosten eingenommen haben. Das Urgermanische habe sich dann aus dieser Gruppe gelöst, wonach es deutliche Wechselwirkungen mit frühfinnischen Sprachen zeige. Bezüglich einer sogenannten germanischen „Urheimat“ bringt der Onomastiker Jürgen Udolph das Argument, dass sich germanische Orts- und Gewässernamen mit Schwerpunkt im weiteren Umkreis des Harzes nachweisen lassen. Diese Beobachtung belegt jedoch im Grunde nur eine seit der Benennung ungestörte germanische Besiedlung, nicht deren Zeitrahmen. Einen Zeitrahmen bieten dagegen archäologische Funde auf Grund gleichartiger, ungebrochener Traditionen im Raum zwischen dem von Udolph vorgeschlagenen Harzumland bis Südskandinavien seit etwa dem 12. Jahrhundert v. Chr. Die urgermanische Sprache (auch „Protogermanisch“ oder „Gemeingermanisch“) konnte durch sprachwissenschaftliche Vergleiche weitgehend rekonstruiert werden. Diese erschlossene Vorform soll bis etwa 100 v. Chr., in der sogenannten gemeingermanischen Sprachperiode relativ einheitlich geblieben sein. Als Eigenheit fällt auf, dass das Germanische einige indogermanische Erbwörter recht eigenwillig verwendet (Beispiel: sehen = „[mit den Augen] folgen“, vgl. lateinisch sequi). Nach Wolfram Euler spaltete sich als erste Sprache das ausgestorbene, fast nur durch das Gotische überlieferte Ostgermanische ab. Im 1. Jahrhundert n. Chr. hätten sich dann die westgermanischen von den nordgermanischen Sprachen getrennt. Wortschatz, Lehnwörter Es wurde die Hypothese aufgestellt, dass der urgermanische Wortschatz eine Reihe von Lehnwörtern nicht-germanischen Ursprungs enthalten haben soll. Auffallend sollen z. B. Entlehnungen im Bereich von Schiffbau und Navigation aus einer bisher unbekannten Substratsprache, vermutlich im westlichen Ostseeraum sein. Diese germanische Substrathypothese wird allerdings inzwischen stark bestritten. Dagegen werden Entlehnungen im Bereich sozialer Organisation vor allem keltischem Einfluss zugeschrieben. Diese Beobachtungen legen eine Entstehung des Germanischen als Einwanderersprache nahe. Wertvolle Hinweise sowohl auf die germanischen Lautformen als auch vorgeschichtliche Nachbarschaftsverhältnisse geben noch heute in ostsee-finnischen Sprachen erhaltene Entlehnungen aus dem Germanischen, wie z. B. finnisch kuningas (König) aus Germanisch: *kuningaz, rengas (Ring) aus Germanisch: *hrengaz (/z/ steht für stimmhaftes /s/). Artikel Das Germanische kannte ursprünglich weder den bestimmten noch den unbestimmten Artikel, ebenso wie das Lateinische und die meisten slawischen und baltischen Sprachen. Das Westgermanische bildete dann die bestimmten Artikel „der“, „die“ und „das“ aus den Demonstrativpronomen. Die unbestimmten Artikel wurden in den westgermanischen und in den meisten nordgermanischen Sprachen (wie in den romanischen Sprachen) aus dem Zahlwort für „1“ gebildet. Das moderne Isländisch hat keinen unbestimmten Artikel entwickelt. Siehe auch Germanische Dichtung Vernersches Gesetz Literatur Allgemeines Etymologische Wörterbücher Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Auflage. De Gruyter, Berlin/Boston 2011, ISBN 978-3-11-022364-4. Marlies Philippa u. a.: Etymologisch woordenboek van het Nederlands. 4 Bände. Amsterdam University Press, Amsterdam 2003–2009, ISBN 978-90-8964-184-7. Weblinks Ernst Kausen, Die Klassifikation des Indogermanischen und seiner Zweige (DOC; 220 kB) Ernst Kausen, Germanische Wortgleichungen (DOC; 40 kB) Stammbaum des Germanischen (Beispiele überholter Modelle) Germanisch-deutsche Sprachgeschichte Studien zu den ältesten germanischen Alphabeten, 1898, E-Book der Universitätsbibliothek Wien (eBooks on Demand) Anmerkungen Sprachfamilie
1860
https://de.wikipedia.org/wiki/Goldener%20Schnitt
Goldener Schnitt
Der Goldene Schnitt ( „Goldener Schnitt“, „göttliche Proportion“), gelegentlich auch stetige Teilung einer Strecke, bezeichnet ihre Zerlegung in zwei Teilstrecken in der Weise, dass sich die längere Teilstrecke zur kürzeren Teilstrecke verhält wie die Gesamtstrecke zur längeren Teilstrecke. Das Konzept ist bereits seit der Antike zur Zeit des Euklid bekannt. Der Goldene Schnitt findet häufige Anwendung in der Kunst, taucht aber auch in der Natur auf. Durch mathematische Formeln ausgedrückt gilt für den Goldenen Schnitt zweier Teilstrecken und (siehe Bild): oder . Das mittels Division dieser Größen als Zahl berechnete Teilungsverhältnis des Goldenen Schnittes ist eine dimensionslose, irrationale Zahl, das heißt eine Zahl, die sich nicht als Bruch ganzer Zahlen darstellen lässt. Die Folge ihrer Nachkommastellen zeigt daher auch kein periodisches Muster. Diese Zahl wird ebenfalls als Goldener Schnitt bezeichnet. Als mathematisches Symbol für den Goldenen Schnitt wird meist der griechische Buchstabe Phi (, oder , heutige Aussprache ), seltener auch Tau (, ) oder verwendet. Es gilt , wobei die Quadratwurzel aus 5 bezeichnet. Seit 2021 sind 10 Billionen Dezimalstellen des Goldenen Schnittes bekannt. Aus Sicht der Mathematik besitzt der Goldene Schnitt zahlreiche besondere Eigenschaften. Neben der geometrischen Auffassung kann er auch als die positive Lösung der quadratischen Gleichung definiert werden. Er ist damit eine algebraische Zahl vom Grade 2. Bemerkenswert ist seine enge Verbindung zu der Fibonacci-Folge, die sich durch die explizite Binet-Formel ausdrückt, obgleich die Fibonacci-Folge zunächst nur rekursiv, also implizit erklärt ist. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass der Goldene Schnitt unter den irrationalen Zahlen (bis auf eine gewisse Form der Äquivalenz) am schlechtesten durch Brüche angenähert werden kann. Zentrales Argument für diese Tatsache ist seine Kettenbruchentwicklung, die nur aus der Zahl 1 besteht, ergo unter allen Kettenbrüchen am langsamsten konvergiert. Der Goldene Schnitt ist in der mathematischen Literatur seit der Zeit der griechischen Antike (Euklid von Alexandria) nachgewiesen, war jedoch vor mehr als 2300 Jahren nur Wenigen bekannt. Vereinzelt schon im Spätmittelalter und besonders dann in der Renaissance, etwa durch Luca Pacioli und Johannes Kepler, wurde er auch in philosophische und theologische Zusammenhänge gestellt. Der Überlieferung nach erhielt er mit diesem Namen erst ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts größeren Bekanntheitsgrad. Die heute gebräuchliche Bezeichnung bzw. für den Zahlenwert geht auf den amerikanischen Mathematiker Mark Barr zurück, der sie um das Jahr 1909 herum einführte. Einigen bedeutenden Künstlern, wie Leonardo da Vinci, Friedrich Hölderlin oder Béla Bartók, wurde nachgesagt, den Goldenen Schnitt gezielt bei manchen ihrer Werke eingesetzt zu haben, jedoch gelten solche Aussagen als umstritten. Der Goldene Schnitt ist nicht nur in Mathematik, Kunst oder Architektur von Bedeutung, sondern findet sich auch in der Natur, beispielsweise bei der Anordnung von Blättern und in Blütenständen mancher Pflanzen wieder. Definition Man sagt, dass zwei Größen im Verhältnis des Goldenen Schnittes stehen, falls erfüllt ist. Die Zahl wird dann ebenfalls Goldener Schnitt genannt. Es muss sich bei den Werten und dabei nicht um (dimensionslose) reelle Zahlen handeln; auch eine Assoziation zu physikalischen Größen unter Zuweisung entsprechender Maßeinheiten ist möglich. Klassisch ist dabei die Veranschaulichung über das Teilungsverhältnis zweier Strecken (bei dem die längere Strecke als „Major“ und die kürzere als „Minor“ bezeichnet wird), aber auch andere Einheiten können betrachtet werden, siehe zum Beispiel Goldenes Rechteck. In der Literatur wird der Ausdruck „Goldener Schnitt“ jedoch auch für andere Dinge verwendet. Er bezeichnet den Vorgang der Teilung an sich, gelegentlich den Teilungspunkt, meist jedoch die Zahl selbst. Bestimmung des Verhältnisses Es bezeichnen die Teilstreckenlängen der Gesamtstrecke . Es gilt dann nach Definition des Goldenen Schnitts die Relation . Multipliziere mit : Die Lösung der quadratischen Gleichung mittels Lösungsformel ist . Nur die positive Lösung ist hier von Bedeutung: Damit ist . Geschichte Antike Die erste erhalten gebliebene genaue Beschreibung des Goldenen Schnittes findet sich im zweiten Buch der Elemente des Euklid (um 300 v. Chr., siehe Innere Teilung nach Euklid), der darauf über seine Untersuchungen an den platonischen Körpern und dem Fünfeck beziehungsweise dem Pentagramm stieß. Seine Bezeichnung für dieses Teilungsverhältnis wurde später ins Lateinische als „“ übersetzt, was als „Teilung im inneren und äußeren Verhältnis“ bezeichnet wird. Mittelalter In seinem Rechenbuch Liber abbaci (nicht erhaltene Erstfassung 1202, erhaltene 2. Fassung nicht vor 1220), einem umfangreichen arithmetischen und algebraischen Lehrwerk über das Rechnen mit den indo-arabischen Ziffern, kommt der italienische Mathematiker Leonardo da Pisa, genannt „Fibonacci“, kurz auf die später nach ihm benannte Fibonacci-Folge zu sprechen. Fibonacci führt die Zahlenfolge vor (2, 3, 5, 8 … bis 377) und weist darauf hin, dass sich jedes Glied der Reihe (ab dem dritten) durch Summierung der beiden vorhergehenden Reihenglieder errechnen lässt. Eine weitere Beschäftigung mit dieser Folge findet sich bei ihm nicht, das heißt der Zusammenhang zum Goldenen Schnitt wird von ihm nicht dargestellt. Dass ihm allerdings der (erst später so genannte) Goldene Schnitt bekannt und in der Tradition Euklids ein Begriff war, zeigt sich gegen Ende seines Werks bei einer algebraischen Aufgabe, in der es (in moderner Formulierung wiedergegeben) darum geht und zu finden mit und . Hierzu weist Fibonacci darauf hin, dass im Fall von die Proportion gilt, 10 also von und im Verhältnis des Goldenen Schnittes geteilt wird („“). Aber auch hier stellt er den Zusammenhang zum Goldenen Schnitt nicht her. Renaissance Die Entdeckung, dass sich bei Teilung eines Gliedes der Fibonacci-Folge durch das vorhergehende Reihenglied als Näherungswert ergibt, wurde lange Zeit Johannes Kepler zugeschrieben, konnte jedoch Ende des 20. Jahrhunderts schon in einer handschriftlichen Anmerkung nachgewiesen werden, mit der ein mutmaßlich aus Italien stammender Leser in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Euklids Theorem II.11 in der Euklid-Ausgabe Paciolis von 1509 kommentierte: Der Herausgeber dieser Euklid-Ausgabe, der Franziskaner Luca Pacioli di Borgo San Sepolcro (1445–1514), der an der Universität Perugia Mathematik lehrte, hatte sich intensiv mit dem Goldenen Schnitt befasst. Er nannte diese Streckenteilung „vermutlich als erster […] (göttliches Verhältnis)“, was sich auf Platons Identifizierung der Schöpfung mit den fünf platonischen Körpern bezog, zu deren Konstruktion der Goldene Schnitt ein wichtiges Hilfsmittel darstellt. Sein gleichnamiges Werk De divina proportione von 1509 besteht aus drei unabhängigen Büchern. Bei dem ersten handelt es sich um eine rein mathematische Abhandlung, die jedoch keinerlei Bezug zur Kunst und Architektur herstellt. Das zweite ist ein kurzer Traktat über die Schriften des Römers Vitruv aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. zur Architektur, in denen Vitruv die Proportionen des menschlichen Körpers als Vorlage für Architektur darstellt. Dieses Buch enthält eine Studie von Leonardo da Vinci (1452–1519) über den vitruvianischen Menschen. Das Verhältnis der Seitenlänge des den Menschen umgebenden Quadrats zum Radius des umgebenden Kreises – nicht das Verhältnis der Proportionen des Menschen selbst – in diesem berühmten Bild entspricht mit einer Abweichung von 1,7 % dem Goldenen Schnitt, der jedoch im zugehörigen Buch gar nicht erwähnt wird. Darüber hinaus würde diese Abweichung bei einem konstruktiven Verfahren nicht zu erwarten sein. Im Oktober 1597 stellte Johannes Kepler in einem Brief an seinen früheren Tübinger Professor Michael Maestlin die Frage, warum es nur eine einzige mögliche Lösung für die Aufgabe gebe, ein rechtwinkliges Dreieck zu konstruieren, bei dem das Verhältnis der kürzeren zur längeren Seite dem der längeren zur Hypotenuse entspricht (Kepler-Dreieck). Auf das Original dieses Briefes notierte Maestlin eine Berechnung, die die Hypotenuse einmal mit 10 und einmal mit 10.000.000, und für den letzteren Fall dann die längere Seite mit 7.861.514 und die kürzeste Seite mit 6.180.340 beziffert. Das entspricht einer bis auf die sechste Nachkommastelle genauen (und bis zur fünften korrekten) Angabe des Goldenen Schnittes und ist nach den älteren sexagesimalen Berechnungen der Antike die erste bekannte dezimale Angabe dieser Art. Seit dem 18. Jahrhundert Populär wurde der Begriff Goldener Schnitt erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, obwohl die mathematischen Prinzipien schon seit der Antike bekannt waren. Der Begriff Goldene Zahl stammt aus dieser Zeit, noch 1819 wird dieser Begriff mit dem Meton-Zyklus in einem der griechischen Kalendersysteme in Verbindung gebracht. In der deutschen Literatur sind bereits Anfang des 18. Jahrhunderts vereinzelt Hinweise auf eine sinngemäße bzw. wortwörtliche Form des Begriffes „Goldener Schnitt“ zu finden. Erst ab dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts war er weiter verbreitet. Die folgenden Beispiele aus der deutschen Literatur verweisen auf den Begriff in ähnlicher Art und Weise. 1717 wurde der Begriff Goldener Schnitt sinngemäß von M. Johann Wentzel Kaschube in seinem Werk Cursus mathematicus … verwendet. Er beschreibt darin eine geometrische Aufgabe (Näheres im Abschnitt Konstruktionsverfahren), deren Lösung dieses besondere Teilungsverhältnis verlangt. Am Schluss der Aufgabe §.35. ist zu lesen: „Die Alten hissen [sc. hießen] diesen Schnitt den Goldenen.“ Zu jener Zeit fand das Teilungsverhältnis des Goldenen Schnittes auch in der Akustik im Zusammenhang mit Verhältnissen der Saitenlänge Anwendung. Diese Form der Saitenteilung – so Ernst Florens Friedrich Chladni 1802 in Die Akustik unter Die geometrische Theilung  – wollte auch Gottfried Wilhelm Leibniz. Zwar lassen sich damit nicht Tonhöhenabstände, sprich Intervalle finden, „desto brauchbarer ist sie aber, wie im folgenden Abschnitte wird gezeigt werden, zu gewissen nothwendigen Abänderungen derselben.“ Chladni leitete die Tonverhältnisse also nicht aus den Saitenlängen ab, sondern aus den Verhältnissen der Schwingungszahlen. Bezüglich des Goldenen Schnitts merkt Chladni an: „Es ist diese Theilung eben dasselbe, was von einigen ältern Mathematikern, die besondere Eigenschaften darin finden wollten, sectio aurea, oder sectio divina [der Goldene Schnitt oder göttliche Schnitt] genennt worden ist.“ Etwas mehr als fünfzig Jahre später wurden die Proportionen des menschlichen Körpers wissenschaftlich mit denen des Goldenen Schnittes verglichen. Adolf Zeising benennt 1854 in Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers … das Ergebnis der „Maassbestimmungen […] kurzweg, das Proportionalgesetz“. Er beschreibt es als einen geometrischen Weg zur proportionalen Teilung einer Linie und stellt fest: Gustav Theodor Fechner, ein Begründer der experimentellen Psychologie, stellte 1876 bei Untersuchungen mit Versuchspersonen anhand von Rechtecken in der Tat eine Präferenz für den Goldenen Schnitt fest. Die Ergebnisse bei der Streckenteilung und bei Ellipsen fielen jedoch anders aus. Neuzeitliche Untersuchungen zeigen, dass das Ergebnis solcher Experimente stark vom Kontext der Darbietung abhängt. Fechner fand ferner bei Vermessungen von Bildern in verschiedenen Museen Europas, dass die Seitenverhältnisse im Hochformat im Mittel etwa 4:5 und im Querformat etwa 4:3 betragen und sich damit deutlich vom Goldenen Schnitt unterscheiden. Bis ins späte 20. Jahrhundert erhielt der Goldene Schnitt auf viele Art und Weise seine Aufmerksamkeit ausschließlich in der Makrowelt. Dann aber entdeckten Wissenschaftler bei Forschungen in der atomaren Welt überraschenderweise Gebilde mit mathematischen Kennwerten, die dem Goldenen Schnitt gleichen. Die Forschungsergebnisse der beiden folgenden Beispiele fanden in den betreffenden Wissenschaftsbereichen hohe internationale Anerkennung. Als Erster erkannte Dan Shechtman mit seinen Kollegen 1982 bei Röntgenstrukturanalysen Beugungsbilder mit fünfzähliger Symmetrie in Quasikristallen der Festkörperphysik. Für diese Entdeckung bekam Shechtman 2011 den Nobelpreis für Chemie. Näheres ist im Abschnitt Quasikristalle enthalten. Die erstmalige Entdeckung des Goldenen Schnitts in fester Materie gelang Forschern des Helmholtz-Zentrums Berlin für Materialien und Energie (HZB) im Kristall aus Kobalt-Niobat (veröffentlicht in der Zeitschrift Science, Januar 2010). Näheres ist im Abschnitt Kobalt-Niobat enthalten. Grundlegende mathematische Eigenschaften Irrationalität und Algebraizität Der Goldene Schnitt ist eine irrationale Zahl; das heißt, er lässt sich nicht als Bruch zweier ganzer Zahlen darstellen. Weiter bedeutet es, dass die Dezimalentwicklung kein periodisches Muster aufzeigt. Die ersten 50 Nachkommastellen des Goldenen Schnittes sind gegeben durch . Seit dem 14. Februar 2021 sind 10 Billionen Nachkommastellen von berechnet und verifiziert worden. Zudem gelten bereits 20 Billionen Stellen als berechnet, jedoch noch nicht als verifiziert. Der Grund, warum irrational ist, verbirgt sich hinter der Irrationalität von . Der Beweis, dass irrational sein muss, erfolgt analog zum Beweis der Irrationalität der Wurzel aus 2 bei Euklid. Dazu ist es nützlich, das Gesetz der bis auf die Reihenfolge eindeutigen Zerlegbarkeit natürlicher Zahlen in Primzahlen zu kennen. Nimmt man an, es sei mit einem vollständig gekürzten Bruch mit positiven ganzen Zahlen , so gilt bereits . Es ist also und ergo auch durch teilbar, da eine Primzahl ist. Damit besitzt also den Primteiler ,und dieser taucht bei in gerader Anzahl auf, da sich beim Quadrieren alle Primfaktoren verdoppeln. Da und teilerfremd sind – es ist nach Annahme vollständig gekürzt – taucht der Primfaktor nirgends in auf. Ergo taucht er nur einmal in auf. Dies ist ein Widerspruch zur eindeutigen Primfaktorzerlegung, die besagt, dass auf beiden Seiten gleich viele Fünfen auftauchen müssen, aber ist keine gerade Zahl. Zu guter Letzt muss dann auch irrational sein, da irrationale Zahlen im Produkt mit rationalen Zahlen (außer 0) und in Summe mit rationalen Zahlen wieder irrational sind. Die Goldene Zahl ist ferner eine algebraische Zahl vom Grad 2, insbesondere kann sie mit Zirkel und Lineal konstruiert werden. Damit grenzt sie sich von anderen berühmten Konstanten, wie der Kreiszahl oder der Eulerschen Zahl , ab, die transzendent, und damit niemals Nullstelle eines nicht-konstanten Polynoms mit rationalen Koeffizienten sind. Zusammenhang mit den Fibonacci- und Lucas-Zahlen In einem engen Zusammenhang zum Goldenen Schnitt steht die unendliche Zahlenfolge der Fibonacci-Zahlen (siehe unten die Abschnitte Mittelalter und Renaissance): . Die jeweils nächste Zahl in dieser Folge wird als Summe der beiden vorangehenden erhalten. Das Verhältnis zweier aufeinanderfolgender Zahlen der Fibonacci-Folge strebt gegen den Goldenen Schnitt (siehe Tabelle). Das rekursive Bildungsgesetz bedeutet nämlich . Sofern dieses Verhältnis gegen einen Grenzwert konvergiert, muss für diesen gelten . In der Tat lässt sich daraus folgern. Die Glieder der Fibonacci-Folge lassen sich für alle über die Formel von Binet berechnen: . Diese Formel liefert die für die Fibonacci-Folge veranschlagten Anfangswerte und und erfüllt die rekursive Gleichung für alle mit . Ähnlich gilt für die -te Lucas-Zahl. Allgemeiner ist jede komplexe Folge mit von der Form , wobei komplexe Zahlen sind, und umgekehrt. Kettenbruchentwicklung Da der Goldene Schnitt irrational ist, stellt sich die Frage, wie gut er sich durch rationale Zahlen annähern lässt. Grundsätzlich konnte gezeigt werden, dass es für eine beliebige irrationale Zahl stets unendlich viele rationale Zahlen gibt, so dass . Dieses Resultat ist fundamental im Gebiet der diophantischen Approximation. Erhöht sich der Nenner , sind grundsätzlich auch bessere Annäherungen möglich, wie das sogar quadratische Abklingen der rechten Seite zeigt. Bemerkenswert ist die Konstante , die optimal gewählt ist, also nicht weiter vergrößert werden kann. Grund dafür ist der Goldene Schnitt, der (zusammen mit zu ihm äquivalenten Zahlen) die Eigenschaft hat, dass für alle nur endlich viele rationale Annäherungen mit existieren. Für irrationale Zahlen, die nicht zu äquivalent sind, lässt sich die Konstante größer als wählen (nämlich mit Wert  (Satz von Hurwitz)). Der Goldene Schnitt gehört also unter den irrationalen Zahlen zu den am schlechtesten durch rationale Zahlen approximierbaren. Da seine Kettenbruchentwicklung überdies nur Einsen enthält, ist er in diesem Sinn die „irrationalste aller Zahlen“. Der mathematische Beweis der oberen Aussage fußt auf sogenannten Kettenbrüchen. Jede reelle Zahl lässt sich (im Wesentlichen eindeutig) durch einen Kettenbruch darstellen. Bricht man diesen nach endlich vielen Schritten ab, ergibt sich eine „besonders gute“ rationale Annäherung an diese Zahl. Für die Goldene Zahl gilt nun aber , woraus sich durch wiederholte Anwendung ergibt: . Bricht man die Kettenbruchentwicklung ab, erhält man stets einen Bruch aus zwei aufeinanderfolgenden Fibonacci-Zahlen. Weil im Kettenbruch lediglich Einsen auftauchen – die kleinste natürliche Zahl –, nähert sich dieser Kettenbruch mit der „minimal möglichen Geschwindigkeit“ der Goldenen Zahl an. Im Vergleich ist der Kettenbruch zur Kreiszahl  – ebenfalls irrational – deutlich schneller konvergent. In der Theorie der dynamischen Systeme werden Zahlen, deren unendliche Kettenbruchdarstellung ab einer Stelle nur noch Einsen enthält, als „noble Zahlen“ bezeichnet. In diesem Kontext wird der Goldene Schnitt als „nobelste“ aller noblen Zahlen bezeichnet. Geometrische Aussagen Konstruktionsverfahren Als Konstruktionsverfahren werden nach den Postulaten des Euklid nur diejenigen Verfahren akzeptiert, die sich auf die Verwendung von Zirkel und Lineal (ohne Skala) beschränken. Für die Teilung einer Strecke im Verhältnis des Goldenen Schnittes gibt es eine Fülle derartiger Verfahren, von denen im Folgenden exemplarisch nur einige erwähnt werden. Unterschieden wird dabei eine innere und äußere Teilung. Bei der äußeren Teilung wird der in der Verlängerung der Ausgangsstrecke außen liegende Punkt gesucht, der die vorhandene Strecke zum (größeren) Teil des Goldenen Schnittes macht. Der Goldene Schnitt stellt dabei einen Spezialfall der harmonischen Teilung dar. Aufgeführt werden im Folgenden auch zwei moderne, von Künstlern gefundene Konstruktionen. Innere Teilung Äußere Teilung Im Fünfeck und im Pentagramm Regelmäßiges Fünfeck und Pentagramm bilden jeweils eine Grundfigur, in der das Verhältnis des Goldenen Schnittes wiederholt auftritt. Die Seite eines regelmäßigen Fünfecks befindet sich im Goldenen Schnitt zu seinen Diagonalen. Die Diagonalen untereinander wiederum teilen sich ebenfalls im Goldenen Verhältnis, das heißt, verhält sich zu wie zu . Der Beweis dazu nutzt die Ähnlichkeit geeignet gewählter Dreiecke. Das Pentagramm, eines der ältesten magischen Symbole der Kulturgeschichte, steht in einer besonders engen Beziehung zum Goldenen Schnitt. Zu jeder Strecke und Teilstrecke im Pentagramm findet sich ein Partner, der mit ihr im Verhältnis des Goldenen Schnittes steht. In der Abbildung sind alle drei möglichen Streckenpaare jeweils blau (längere Strecke) und orange (kürzere Strecke) markiert. Sie lassen sich über das oben beschriebene Verfahren der stetigen Teilung nacheinander erzeugen. Im Prinzip ist es damit in das verkleinerte Pentagramm fortsetzbar, das in das innere Fünfeck gezeichnet werden könnte, und damit in alle weiteren. Stünden die beiden Strecken in einem Verhältnis ganzer Zahlen, müsste dieses Verfahren der fortgesetzten Subtraktion irgendwann Null ergeben und damit abbrechen. Die Betrachtung des Pentagramms zeigt aber anschaulich, dass das nicht der Fall ist. Eine Weiterentwicklung dieser Geometrie findet sich bei der Penrose-Parkettierung. Für den Beweis, dass es sich um den Goldenen Schnitt handelt, beachte man, dass neben den vielen Strecken, die aus offensichtlichen Symmetriegründen gleich lang sind, auch gilt. Ursache ist, dass das Dreieck zwei gleiche Winkel besitzt, wie durch Parallelverschiebung der Strecke erkannt werden kann, und daher gleichschenklig ist. Nach dem Strahlensatz gilt: Wird ersetzt und die Gleichheit der auftretenden Teilstücke beachtet, so wird genau die obige Definitionsgleichung für den Goldenen Schnitt erhalten. Im gleichschenkligen Dreieck In einem gleichschenkligen Dreieck , dessen Grundseite längengleich zu der Höhe ist, teilt der innerhalb des Dreiecks liegende Schnittpunkt des Inkreises mit der Höhe diese im Goldenen Schnitt. Ohne Beschränkung der Allgemeinheit kann angenommen werden. Die rechtwinkligen Dreiecke und sind kongruent, da sie in zwei Seiten und dem (rechten) Gegenwinkel der größeren Seite übereinstimmen. Es gilt und damit . Nach dem Satz des Pythagoras gilt in dem rechtwinkligen Dreieck . Ebenfalls nach dem Satz des Pythagoras gilt in dem rechtwinkligen Dreieck : . Mit folgt hieraus = (Höhe von ABC) : (Durchmesser des Inkreises von ABC), was zu zeigen war. Im Umkreis eines gleichseitigen Dreiecks In dem gleichseitigen Dreieck schneidet die durch und verlaufende Parallele zu den Umkreis in und . Ist , dann teilt die Strecke im Goldenen Schnitt. Aus den Eigenschaften eines gleichseitigen Dreiecks und aus dem Strahlensatz folgen unmittelbar die Längengleichheiten und . Nach dem Sehnensatz gilt:   Somit teilt die Strecke im Goldenen Schnitt. Im Quader Für einen Quader mit den Kantenlängen , und , der Raumdiagonalenlänge und dem Volumen gelte , , und . Dann gilt für den Goldenen Schnitt das Verhältnis . Aus der Volumengleichung folgt wegen . (1) Da die Raumdiagonale die Länge 2 hat, gilt . (2) Aus (1) und (2) erhält man mit den Lösungen oder und damit analog oder . Wegen kommen nur und in Betracht. Also gilt . Im Ikosaeder Die 12 Ecken des Ikosaeders bilden die Ecken von 3 gleich großen, senkrecht aufeinanderstehenden Rechtecken mit gemeinsamem Mittelpunkt und mit den Seitenverhältnissen des Goldenen Schnittes. Die zwölf Ecken eines Ikosaeders sind also die zwölf Ecken dreier goldener Rechtecke, die paarweise aufeinander senkrecht stehen. Diese Anordnung der 3 Rechtecke wird auch Goldener-Schnitt-Stuhl genannt. Weil der Ikosaeder zum Pentagondodekaeder dual ist, bilden die 12 Mittelpunkte der Fünfecke ebenfalls die Ecken eines Goldener-Schnitt-Stuhls. Ferner kann in ein gegebenes Oktaeder ein Ikosaeder so einbeschrieben werden, dass dessen Ecken die Kanten des Oktaeders im Goldenen Schnitt teilen. Goldenes Rechteck und Goldenes Dreieck Ein Rechteck, dessen Seitenverhältnis dem Goldenen Schnitt entspricht, wird als Goldenes Rechteck benannt; ebenso heißt ein gleichschenkliges Dreieck, bei dem zwei Seiten in diesem Verhältnis stehen, Goldenes Dreieck. Zum Vergleich von Rechtecksproportionen siehe Abschnitt Vergleich mit anderen prominenten Seitenverhältnissen. Ein Goldenes Dreieck ist Inhalt der Methode äußere Teilung im Abschnitt Konstruktionsverfahren, äußere Teilung Goldener Winkel Der Goldene Winkel wird erhalten, wenn der Vollwinkel im Goldenen Schnitt geteilt wird. Dies führt auf den überstumpfen Winkel Gewöhnlich wird aber seine Ergänzung zum Vollwinkel, als Goldener Winkel bezeichnet. Dies ist dadurch gerechtfertigt, dass Drehungen um keine Rolle spielen und das Vorzeichen nur den Drehsinn des Winkels bezeichnet. Durch wiederholte Drehung um den Goldenen Winkel entstehen immer wieder neue Positionen, etwa – wie im Bild – für die Blattansätze (Näheres im Abschnitt Biologie). Dabei zerlegen die ersten Positionen den Kreis in Ausschnitte. Diese Ausschnitte haben höchstens drei verschiedene Winkel. Im Fall einer Fibonacci-Zahl treten nur zwei Winkel auf. Für tritt der Winkel hinzu. Betrachtet man für wachsendes fortfolgend die sich verfeinernden Zerlegungen des Kreises, so teilt die -te Position stets einen der verbliebenen größten Ausschnitte, und zwar immer den im Verlauf der Teilungen zuerst entstandenen, das heißt den „ältesten“ Ausschnitt. Diese Teilung erfolgt im Goldenen Verhältnis, sodass, im Uhrzeigersinn gesehen, ein Winkel mit geradem vor einem Winkel mit ungeradem liegt. Wenn wir den Ausschnitt mit dem Winkel mit bezeichnen, so erhalten wir nacheinander die Kreiszerlegungen , , , , , , , , , usw. Goldene Spirale Die Goldene Spirale, unter anderem auch oder Bernoulli’sche Spirale genannt, ist ein Sonderfall der logarithmischen Spirale. Wie eine solche konstruktiv erzeugt werden kann, zeigen die beiden folgenden Möglichkeiten. Mithilfe eines Goldenen Rechtecks Diese Spirale lässt sich mittels rekursiver Teilung eines Goldenen Rechtecks in je ein Quadrat und ein weiteres, kleineres Goldenes Rechteck konstruieren. Ihr Radius ändert sich bei jeder 90°-Drehung um den Faktor . Die Goldene Spirale lässt sich unter Verwendung von Polarkoordinaten durch parametrisieren. Die Idee von Polarkoordinaten ist hierbei, einen Punkt in der Ebene durch seinen Abstand zum Ursprung und den mit der -Achse eingeschlossen Winkel festzulegen. Dessen Polarkoordinaten sind dann , und durch Wahl des Radius in Abhängigkeit vom sich verändernden Winkel lassen sich manche geometrische Figuren durch eine entsprechende Funktion einfacher beschreiben als in klassischen kartesischen Koordinaten. Zu beachten ist, dass mehrfache Umdrehungen um den Ursprung, etwa in den Fällen (Ausgangslage), (eine Volldrehung), (zwei Volldrehungen) usw. unterschiedliche Radii hervorrufen können, was auch an der nicht-periodischen Figur der Spirale zu erkennen ist. Eine brauchbare Näherung für die Goldene Spirale findet sich bereits bei Kepler. Man erhält diese Approximation, wenn man in die Quadrate Viertelkreise mit dem Radius der Seitenlänge des Quadrats einzeichnet. Dies ist im mittleren Bild illustriert. Im linken Bild wird die Güte dieser Approximation veranschaulicht. Die Goldene Spirale ist unter den logarithmischen Spiralen durch die folgende Eigenschaft ausgezeichnet. Seien vier auf der Spirale aufeinanderfolgende Schnittpunkte mit einer Geraden durch das Zentrum. Dann sind die beiden Punktepaare und harmonisch konjugiert, das heißt, für ihr Doppelverhältnis gilt: Mithilfe eines Goldenen Dreiecks Eine vergleichbare Möglichkeit für die konstruktive Darstellung einer Goldenen Spirale bietet das Goldene Dreieck. Das nebenstehende Bild zeigt ein solches gleichschenkliges Dreieck mit den Basiswinkeln und dem Scheitelwinkel bei . Es gilt: . In diesem Fall beinhaltet die Konstruktion der Goldenen Spirale die rekursive Teilung eines Goldenen Dreiecks in je ein gleichschenkliges stumpfwinkliges Dreieck und in ein weiteres, kleineres Goldenes Dreieck. Dies ist begründet durch eine sogenannte Drehstreckung . Sie enthält eine Drehung um (entspricht ). Daraus ergibt sich eine Streckung mit dem Faktor . Konstruktion Es beginnt mit dem Halbieren des Winkels am Scheitel . Dabei teilt der generierte Punkt die Schenkellänge im Goldenen Schnitt. Es entsteht dabei das gleichschenklige stumpfwinklige Dreieck sowie das Dreieck . Dass letzteres auch ein Goldenes Dreieck ist, zeigt die folgende einfache Überprüfung der Winkelweiten. Am Scheitel ergibt sich durch die Winkelhalbierende des Ausgangsdreiecks die Winkelweite ; der Basiswinkel am Scheitel bleibt unverändert . Wird die Winkelsumme eines ebenen Dreiecks mit berücksichtigt, ist am Scheitel der Basiswinkel ebenfalls . Dies zeigt auf, das entstandene Dreieck und das Goldene Dreieck sind zwei zueinander ähnliche Dreiecke. Für den Nachweis, dass der Punkt tatsächlich die Schenkellänge im Goldenen Schnitt teilt, gilt: . Nun bedarf es noch der Bestimmung des Polpunktes als Schnittpunkt der beiden Seitenhalbierenden und . Die darüber hinaus eingezeichneten goldenen Dreiecke und anderes mehr zeigen, dass diese Vorgehensweise beliebig weit fortgesetzt werden kann. Mit und sind die ersten fünf Punkte auf der – noch zu konstruierenden – Spirale bestimmt. Hat der Polpunkt die Polarkoordinaten , so gilt für die goldene Spirale () die Polargleichung . Angenäherte Goldene Spirale mittels Kreisbögen Praktikable Methode als Konstruktion mit Zirkel und Lineal An den gleichschenkligen stumpfwinkligen Dreiecken wird jeweils um deren Scheitelpunkt mit dem stumpfen Winkel, ein Kreisbogen mit der Winkelweite (entspricht ) und dem Radius gleich dem eines Schenkels gezogen. Mit anderen Worten: Am Dreieck wird um dessen Scheitelpunkt (mit dem stumpfen Winkel), ein Kreisbogen von nach gezogen. Gleiches gilt für die weiteren ähnlichen Dreiecke. Geometrisches Mittel Wird die Strecke mit Länge durch den Punkt im Verhältnis des Goldenen Schnitts in zwei Teilstrecken und mit Längen und geteilt, so ist bereits das geometrische Mittel der Zahlen und . Das folgt aus der allgemeinen Definition des geometrischen Mittels , hier: . In der Tat folgt mit bereits . Des Weiteren folgt daraus unmittelbar, dass wiederum das geometrische Mittel von und ist. Man hat in diesem Fall . Gefalteter und verknoteter Papierstreifen Mit der im Folgenden beschriebenen Papierstreifen-Methode erzeugt ein sogenannter Überhandknoten ein regelmäßiges Fünfeck (Bild 1), bei dem die Faltenlänge (rot) die Seitenlänge ist und die Diagonale (grün) – gebildet von der Kante des Papierstreifens – die Länge hat. Die Diagonale und die sich daran anschließenden drei Seiten des Fünfecks bilden ein symmetrisches Trapez. Hilfssatz (1) Ist ein symmetrischen Trapez (Bild 2), so gilt , so ist die Diagonale auch die Winkelhalbierende des Winkels . (2) Ist der Winkel , so verhält sich Beweise Zu (1) Vorausgesetzt das Dreieck ist gleichschenklig, so ist und . Aus der Symmetrie des Trapezes ergibt sich die Gleichheit der vier betrachteten Winkel (grün). Die beiden Diagonalen und schneiden sich im Scheitel und erzeugen damit den Scheitelwinkel . Infolgedessen sind die Basiswinkeln des gleichschenkligen Dreiecks gleich denen des . Demzufolge ergibt sich die Gleichheit . Somit ist bestätigt: ist die Winkelhalbierende von . Zu (2) Aufgrund der Voraussetzung folgt mittels Hilfssatz (1), der Winkel . Wegen der Symmetrie des Trapezes ist auch der Winkel . Da die Winkelsumme im Dreieck beträgt, ist auch . Demzufolge ist das Dreieck wegen seiner Innenwinkeln ein Goldenes Dreieck. Das Dreieck hat – für eine mögliche Zahl – deshalb die Seitenlängen . Somit ist bestätigt: . Vorbereitung des Papierstreifens Zuerst ist die Streifenbreite gleich der Trapezhöhe zu ermitteln und anschließend die Anordnung der vier Trapeze () darzustellen (Bild 3). Hierzu werden die ermittelten Abmaße des symmetrischen Trapezes – z. B. aus einem bereits konstruierten Fünfeck (siehe Bild 2) – auf einem Blatt Papier übertragen. Nach dem Beschriften der beiden Enden mit , bedarf es nur noch des Ausschneidens des Papierstreifens. Papierfaltung Bis zum fertigen Fünfeck sind nur drei Faltungen mit gleicher Faltrichtung und das Zusammenziehen des Überhandknotens erforderlich. Begonnen wird mit der Faltlinie , demzufolge das Trapez oberhalb des Streifenendes (Bild 4) zum liegen kommt. Der Punkt der Diagonale ist dabei direkt auf dem Punkt positioniert. Das regelmäßige Fünfeck kann man bereits jetzt erkennen. Die zweite Faltung mit der Faltlinie (Bild 5) und dritte Faltung mit (Bild 6) werden analog zur ersten ausgeführt. Schließlich benötigt es nur noch das Durchziehen (Verknoten) des Streifenendes zwischen dem Streifenende und dem Trapez , um das gesuchte regelmäßige Fünfeck mit Goldenen Schnitt zu erhalten. Weitere mathematische Eigenschaften Algebraische Zahlentheorie Der Goldene Schnitt ist als Nullstelle des Polynoms eine algebraische Zahl. Weil das Polynom normiert ist und alle Koeffizienten ganzzahlig sind, ist der Goldene Schnitt sogar algebraisch ganze Zahl. Es sei , dann ist eine Körpererweiterung von Grad 2. Damit ist ein quadratischer Zahlkörper. Es ist der reell-quadratische Zahlkörper kleinster Diskriminante, nämlich 5 (der reell-quadratische Zahlkörper mit nächstgrößerer Diskriminante ist mit Diskriminante 8). Es sei der zugehörige Ganzheitsring. Weil ganz ist, gilt , aber mehr als das: Wegen ist der Goldene Schnitt sogar Einheit des Ganzheitsrings . Sein multiplikativ Inverses ist . Dies lässt sich algebraisch allein durch Kenntnis des Minimalpolynoms zeigen: Jedoch ist der Goldene Schnitt nicht nur eine Einheit des Ganzheitsrings , sondern sogar Fundamentaleinheit des Ganzheitsrings. Das bedeutet, jedes Element aus ist von der Form mit . Darüber hinaus bilden eine -Basis von . Das heißt, jedes Element aus lässt sich eindeutig als mit schreiben. Es bildet auch eine -Basis von . Dabei ist . Kettenwurzel Aus lässt sich folgende unendliche Kettenwurzel herleiten: Setzt man also und mit , so gilt . Hinsichtlich der Konvergenzgeschwindigkeit gilt , wobei . Es gilt die exakte Formel . Sie kann auch implizit charakterisiert werden. Es bezeichne die für analytische Funktion, so dass die Differentialgleichung sowie und erfüllt ist. Dann gilt . Trigonometrische und Hyperbolische Funktionen Aus der Trigonometrie folgt unter anderem und , sowie . Es ist der volle Spitzwinkel und die Hälfte des stumpfen Außenwinkels des Pentagramms. Gelegentlich wird die Rolle des Goldenen Schnitts für das Fünfeck als vergleichbar bedeutend bezeichnet wie die der Kreiszahl für den Kreis. Ein weiterer Zusammenhang zur Kreiszahl ergibt sich über den Arkustangens, der Umkehrfunktion des Tangens aus der Trigonometrie. Es gilt . Der Goldene Schnitt lässt sich mit Hilfe der Eulerschen Zahl und der hyperbolischen Areasinus-Funktion ausdrücken: Unendliche Reihen Einsetzen von in die für gültige geometrische Reihenformel ergibt: . Es gilt zudem . Eine weitere Reihe, die den logarithmierten Goldenen Schnitt enthält, beinhaltet die mittleren Binomialkoeffizienten: . Da gleichzeitig auch die Identität für die nicht alternierende Variante gilt, wird hier eine „Verbindung“ zwischen der Kreiszahl und dem Goldenen Schnitt gesehen. Eine schnell konvergente Reihe beinhaltet die Fibonacci-Folge: . Rogers-Ramanujan Kettenbrüche Es gilt , . Dabei bezeichnet die Eulersche Zahl und die Kreiszahl. Setzt man für so hat man allgemeiner für mit , sowie . Diese Entdeckungen gehen auf Srinivasa Ramanujan zurück. Die Funktion wird auch als Rogers-Ramanujan-Kettenbruch bezeichnet und hat Verbindungen zur Theorie der Modulformen. Zusammenhang zur Chintschin-Levy-Konstante Definiert man den nächstgelegenen ganzzahligen Kettenbruch (englisch: nearest integer continued fraction) für reelle Zahlen via über die Rekursion so können die eventuell negative Zahlen sein. Für die Chintschin-Levy-Konstante gilt in diesem Falle für alle betroffenen reellen Zahlen bis auf eine Lebesgue-Nullmenge. Das bedeutet, dass alle Zahlen , „bis auf 0 %“ in einem asymptotischen Sinne, diese Gesetzmäßigkeit erfüllen. Ist zudem der (vollständig gekürzte) -te Näherungsbruch dieser Konstruktion, so gilt wieder bis auf Nullmenge . Alternierende Bit-Mengen Jede natürliche Zahl lässt sich eindeutig über das Binärsystem durch Nullen und Einsen ausdrücken. Innerhalb einer solchen Darstellung lassen sich nun sog. alternierende Bit-Mengen abzählen, die wie folgt erklärt sind: Von links nach rechts wechseln sich in den ausgewählten Positionen die Zahlen 1 und 0 ab. Die Zahl ganz zur Linken der ausgewählten Positionen ist 1. Die Zahl ganz zur Rechten der ausgewählten Positionen ist 0. Man bezeichnet die Anzahl der alternierenden Bit-Mengen einer Zahl mit . Es ist zum Beispiel , denn im Binärsystem gilt , und daher sind die möglichen alternierenden Bit-Mengen (aus formalen Gründen inklusive der leeren Menge): . Es bezieht sich z. B. auf . Es entspricht gleichzeitig der Anzahl der Möglichkeiten, als Summe von Zweierpotenzen zu schreiben, ohne dabei eine Potenz mehr als zweimal zu benutzen. Diese zahlentheoretische Funktion hat eine Verbindung zum Goldenen Schnitt, denn es konnte gezeigt werden. Dabei ist der Limes superior. Ob der innere Wert sogar 1 beträgt, konnte bisher nicht gezeigt werden. Verbindung zu speziellen Funktionen Über die Formel wird eine direkte Verbindung zur Gammafunktion hergestellt. Dabei ist wie üblich die Kreiszahl. Die Gammafunktion stellt eine Fortsetzung der Fakultätsfunktion auf komplexe Zahlen dar. Für den Trilogarithmus gilt die Identität . Dabei bezeichnet den Wert der Riemannschen Zeta-Funktion an der Stelle , der auch unter Apéry-Konstante bekannt ist. Varianten und Verallgemeinerungen Silberner Schnitt Der Silberne Schnitt beschreibt das definierte Größenverhältnis zweier Abschnitte mit unterschiedlicher Größe (oder Länge) einer Strecke (oder eines Bereichs). Ist etwas „nach dem Silbernen Schnitt geteilt“, so versteht man darunter: Das Verhältnis der Summe des verdoppelten größeren und des kleineren Teils zum größeren Teil ist gleich dem Verhältnis des größeren zum kleineren Teil. Es gilt also: . Er hat den Wert Ebenso wie der Goldene Schnitt ist er also eine quadratisch-irrationale Zahl. Wegen gilt . Variante über Rechteckflächen Es soll eine gegebene Strecke mit der Länge um eine Länge verlängert werden, sodass ein Rechteck mit der Verlängerung als Breite und als Länge, gleich ist, einem vorab bestimmten Rechteck mit der Länge und der Breite . Es soll also gelten, was sich auf die quadratische Gleichung reduziert. Daraus ergibt sich über die Mitternachtsformel sogleich da gelten soll. Ergeben Konstruktion oder Abmessungen des vorab bestimmten Rechtecks speziell so ergibt sich zusätzlich nach dem Umformen erhält man mit das Teilungsverhältnis des Goldene Schnittes. Die Verlängerung ist in diesem Falle die mittlere Proportionale, sprich das geometrische Mittel, zwischen und . Ephraim Salomon Unger zeigt seinen Weg, der zur Verlängerung führt: Konstruktion (Die Konstruktion wurde, wegen nicht einsehbarer Skizze, der obigen Beschreibung von Unger nachempfunden.) Es beginnt mit der Halbgeraden und dem Abtragen der gegebenen Strecke mit Länge auf . Der Punkt , für die Länge des (grünen) Rechtecks, wird rechts von beliebig auf gesetzt. Im allgemeinen Fall darf die Breite frei gewählt werden. Soll hingegen zum Schluss der Punkt die gesuchte Strecke mit Länge im Goldenen Schnitt teilen, muss aus erst noch bestimmt werden. Hierfür wird die Breite des Rechtecks mittels des Quadrats mit Fläche durch die Verbindung der Punkte mit und deren Parallele festgelegt. Es folgt das Einzeichnen des Rechtecks , dessen Flächeninhalt mit gleich dem des Quadrates ist. Diese Vorgehensweise ist in der nebenstehenden Skizze dargestellt. Falls keine stetige Teilung erzielt werden soll, wird dieser erste Schritt weggelassen. Es folgt der Kreisbogen mit Radius um bis er die Halbgerade in schneidet. Nach dem Bestimmen des Mittelpunktes der Strecke und dem Ziehen des Kreisbogens mit Radius um , wird die Senkrechte zu in errichtet, bis sie den Kreisbogen in schneidet. Die Strecke entspricht dem geometrischen Mittel der Längen und . Nach dem Halbieren der Strecke in wird mit Länge ab auf die Halbgerade übertragen und der so erzeugte Schnittpunkt mit verbunden. Daraus ergibt sich das rechtwinklige Dreieck . Der sich anschließende Kreisbogen mit Radius um liefert mit die gesuchte Länge . Die Übertragung der Länge auf ab erzeugt die Gesamtstrecke mit Länge . Der Punkt teilt somit die Streckenlänge im Goldenen Schnitt, sofern gilt. Das abschließend errichtete blaue Rechteck über mit der Breite hat ganz allgemein den gleichen Flächeninhalt wie das grüne Rechteck . Kubische Varianten Man definiert die Perrin-Folge rekursiv durch , , , und für alle . Ähnlich wie sich die Quotienten nacheinander folgender Fibonacci-Zahlen dem Goldenen Schnitt nähern, folgt für die Perrin-Zahlen wobei die charakteristische Gleichung erfüllt. Durch Radikale ausgedrückt ergibt sich Ähnlich wie beim Goldenen Schnitt besitzt auch eine Entwicklung als Kettenwurzel, dieses Mal jedoch kubisch: . In Anlehnung an Goldene Konstante wird gelegentlich auch als „Plastik-Konstante“ bezeichnet. Im Falle der „Tribonacci-Folge“ , und für gilt . Es erfüllt die Gleichung . Verallgemeinerte Kettenbrüche Das Konzept der Kettenbruchentwicklung lässt sch für ganze positive Zahlen verallgemeinern durch . Dies entspricht einer fraktalen Konstruktion durch die iterative Anwendung der Ersetzungsregeln . Dieser verallgemeinerte Kettenbruch konvergiert stets gegen die positive Lösung der Gleichung . Setzt man in diesem Beispiel also insbesondere , so ergibt sich als Grenzwert die Zahl , die eine kubische Verallgemeinerung des Goldenen Schnittes darstellt. Asymptotik zufälliger Fibonacci-Folgen Setzt man , sowie für , wobei die Vorzeichen durch unabhängige Zufallsvariablen mit gleichen Wahrscheinlichkeiten für gegeben sind, zeigte D. Viswanadt mit Wahrscheinlichkeit 1. Die gewöhnliche Fibonacci-Folge, die sich in dieser Art Limes dem Goldenen Schnitt annähert, entspricht dem Extremfall, dass die Zufallsgrößen stets den Wert annehmen, was aber mit einer (asymptotischen) Wahrscheinlichkeit von 0 Prozent eintritt. Vorkommen in der Natur Biologie Das spektakulärste Beispiel für Verhältnisse des Goldenen Schnittes in der Natur findet sich bei der Anordnung von Blättern (Phyllotaxis) und in Blütenständen mancher Pflanzen. Bei diesen Pflanzen teilt der Winkel zwischen zwei aufeinanderfolgenden Blättern den Vollkreis von 360° im Verhältnis des Goldenen Schnittes, wenn die beiden Blattansätze durch eine Parallelverschiebung eines der Blätter entlang der Pflanzenachse zur Deckung gebracht werden. Es handelt sich um den Goldenen Winkel von etwa 137,5°. Die daraus entstehenden Strukturen werden auch als selbstähnlich bezeichnet: Auf diese Weise findet sich ein Muster einer tieferen Strukturebene in höheren Ebenen wieder. Beispiele sind die Sonnenblume, Kohlarten, Kiefernnadeln an jungen Ästen, Zapfen, Agaven, viele Palmen- und Yuccaarten sowie die Blütenblätter der Rose, um nur einige zu nennen. Ursache ist das Bestreben dieser Pflanzen, ihre Blätter auf Abstand zu halten. Es wird vermutet, dass sie dazu an jedem Blattansatz einen besonderen Wachstumshemmer (Inhibitor) erzeugen, der im Pflanzenstamm – vor allem nach oben, in geringerem Umfang in seitlicher Richtung – diffundiert. Dabei bilden sich in verschiedene Richtungen bestimmte Konzentrationsgefälle aus. Das nächste Blatt entwickelt sich an einer Stelle des Umfangs, wo die Konzentration minimal ist. Dabei stellt sich ein bestimmter Winkel zum Vorgänger ein. Würde dieser Winkel den Vollkreis im Verhältnis einer rationalen Zahl teilen, dann würde dieses Blatt genau in die gleiche Richtung wachsen wie dasjenige Blätter zuvor. Der Beitrag dieses Blattes zur Konzentration des Inhibitors ist aber an dieser Stelle gerade maximal. Daher stellt sich ein Winkel mit einem Verhältnis ein, das alle rationalen Zahlen meidet. Die Zahl ist nun aber gerade die Goldene Zahl (siehe oben). Da bisher kein solcher Inhibitor isoliert werden konnte, werden auch andere Hypothesen diskutiert, wie die Steuerung dieser Vorgänge in analoger Weise durch Konzentrationsverteilungen von Nährstoffen. Der Nutzen für die Pflanze könnte darin bestehen, dass auf diese Weise von oben einfallendes Sonnenlicht (bzw. Wasser und Luft) optimal genutzt wird, eine Vermutung, die bereits Leonardo da Vinci äußerte, oder im effizienteren Transport der durch Photosynthese entstandenen Kohlenhydrate im Phloemteil der Leitbündel nach unten. Die Wurzeln von Pflanzen weisen den Goldenen Winkel weniger deutlich auf. Bei anderen Pflanzen wiederum treten Blattspiralen mit anderen Stellungswinkeln zutage. So wird bei manchen Kakteenarten ein Winkel von 99,5° beobachtet, der mit der Variante der Fibonacci-Folge 1, 3, 4, 7, 11, … korrespondiert. In Computersimulationen des Pflanzenwachstums lassen sich diese verschiedenen Verhaltensweisen durch geeignete Wahl der Diffusionskoeffizienten des Inhibitors provozieren. Bei vielen nach dem Goldenen Schnitt organisierten Pflanzen bilden sich in diesem Zusammenhang so genannte Fibonacci-Spiralen aus. Spiralen dieser Art sind besonders gut zu erkennen, wenn der Blattabstand im Vergleich zum Umfang der Pflanzenachse besonders klein ist. Sie werden nicht von aufeinanderfolgenden Blättern gebildet, sondern von solchen im Abstand , wobei eine Fibonacci-Zahl ist. Solche Blätter befinden sich in enger Nachbarschaft, denn das -Fache des Goldenen Winkels ist ungefähr ein Vielfaches von 360° wegen , wobei die nächstkleinere Fibonacci-Zahl zu und die nächstkleinere Fibonacci-Zahl zu ist. Da jedes der Blätter zwischen diesen beiden zu einer anderen Spirale gehört, sind Spiralen zu sehen. Ist größer als , so ist das Verhältnis der beiden nächsten Fibonacci-Zahlen kleiner und umgekehrt. Daher sind in beide Richtungen Spiralen zu aufeinander folgenden Fibonaccizahlen zu sehen. Der Drehsinn der beiden Spiralentypen ist dem Zufall überlassen, sodass beide Möglichkeiten gleich häufig auftreten. Besonders beeindruckend sind Fibonacci-Spiralen (die damit wiederum dem Goldenen Schnitt zugeordnet sind) in Blütenständen, wie bei Sonnenblumen. Dort sitzen Blüten, aus denen später Früchte entstehen, auf der stark gestauchten, scheibenförmigen Blütenstandsachse dicht nebeneinander, wobei jede einzelne Blüte einem eigenen Kreis um den Mittelpunkt des Blütenstandes zugeordnet werden kann. Wachstumstechnisch aufeinander folgende Früchte liegen daher räumlich weit auseinander, während direkte Nachbarn wieder einen Abstand entsprechend einer Fibonacci-Zahl haben. Im äußeren Bereich von Sonnenblumen werden 34 und 55 Spiralen gezählt, bei größeren Exemplaren 55 und 89 oder sogar 89 und 144. Die Abweichung vom mathematischen Goldenen Winkel, die in diesem Fall nicht überschritten wird, beträgt weniger als 0,01 %. Der Goldene Schnitt ist außerdem in radiärsymmetrischen fünfzähligen Blüten erkennbar wie bei der Glockenblume, der Akelei und der (wilden) Hecken-Rose. Der Abstand der Spitzen von Blütenblättern nächster Nachbarn zu dem der übernächsten steht wie beim regelmäßigen Fünfeck üblich in seinem Verhältnis. Das betrifft ebenso Seesterne und andere Tiere mit fünfzähliger Symmetrie. Darüber hinaus wird der Goldene Schnitt im Verhältnis der Längen aufeinander folgender Stängelabschnitte mancher Pflanzen vermutet wie bei der Pappel. Im Efeublatt stehen die Blattachsen a und b (siehe Abbildung) ungefähr im Verhältnis des Goldenen Schnittes. Diese Beispiele sind jedoch umstritten. Noch im 19. Jahrhundert war die Ansicht weit verbreitet, dass der Goldene Schnitt ein göttliches Naturgesetz sei und in vielfacher Weise in den Proportionen des menschlichen Körpers realisiert wäre. So nahm Adolf Zeising in seinem Buch über die Proportionen des menschlichen Körpers an, dass der Nabel die Körpergröße im Verhältnis des Goldenen Schnittes teile, und der untere Abschnitt werde durch das Knie wiederum so geteilt. Ferner scheinen die Verhältnisse benachbarter Teile der Gliedmaßen wie bei Ober- und Unterarm sowie bei den Fingerknochen ungefähr in diesem Verhältnis zu stehen. Eine genaue Überprüfung ergibt jedoch Streuungen der Verhältnisse im 20-%-Bereich. Oft enthält auch die Definition, wie die Länge eines Körperteils exakt zu bestimmen sei, eine gewisse Portion Willkür. Ferner fehlt dieser These eine wissenschaftliche Grundlage. Es dominiert daher weitgehend die Ansicht, dass diese Beobachtungen lediglich die Folge gezielter Selektion von benachbarten Paaren aus einer Menge von beliebigen Größen sind. Bahnresonanzen Seit langem ist bekannt, dass die Umlaufzeiten mancher Planeten und Monde in Verhältnis kleiner ganzer Zahlen stehen wie Jupiter und Saturn mit oder die Jupitermonde Io, Ganymed und Europa mit . Derartige Bahnresonanzen stabilisieren die Bahnen der Himmelskörper langfristig gegen kleinere Störungen. Erst 1964 wurde entdeckt, dass noble Verhältnisse, wie sie im Fall vorliegen würden, stabilisierend wirken können. Derartige Bahnen werden KAM-Bahnen genannt, wobei die drei Buchstaben für die Namen der Entdecker Andrei Kolmogorow, V. I. Arnold und Jürgen Moser stehen. Die Cassini-Teilungen in den Saturnringen zeigen, was passiert, wenn statt nobler Zahlen einfache rationale Zahlen vorherrschen: Die Gesteins- und Eisteilchen, aus denen die Ringe bestehen und deren Umlaufperioden in einem einfachen rationalen Verhältnis zu den Perioden der Saturnmonde stehen, werden durch die Resonanzeffekte zwischen den entsprechenden Umlaufperioden einfach aus ihrer Bahn geworfen. In der Tat hängt die Stabilität des Sonnensystems davon ab, dass zumindest einige der Bahnperiodenverhältnisse nobel sind. Schwarze Löcher Kontrahierbare kosmische Objekte ohne feste Oberfläche, wie Schwarze Löcher oder die Sonne, haben aufgrund ihrer Eigengravitation die paradoxe Eigenschaft, heißer zu werden, wenn sie Wärme abstrahlen (negative Wärmekapazität). Bei rotierenden Schwarzen Löchern findet ab einem kritischen Drehimpuls ein Umschlag von negativer zu positiver Wärmekapazität statt, wobei dieser Tipping-Point von der Masse des Schwarzen Loches abhängt. In einer -dimensionalen Raumzeit kommt dabei eine Metrik ins Spiel, deren Eigenwerte für sich als Nullstellen des charakteristischen Polynoms ergeben. Kristallstrukturen Quasikristalle Der Goldene Schnitt tritt bei den Quasikristallen der Festkörperphysik in Erscheinung, die 1984 von Dan Shechtman und seinen Kollegen entdeckt wurden. Dabei handelt es sich um Strukturen mit fünfzähliger Symmetrie, aus denen sich aber, wie bereits Kepler erkannte, keine streng periodischen Kristallgitter aufbauen lassen, wie dies bei Kristallen üblich ist. Entsprechend groß war die Überraschung, als bei Röntgenstrukturanalysen Beugungsbilder mit fünfzähliger Symmetrie gefunden wurden. Diese Quasikristalle bestehen strukturell aus zwei verschiedenen rhomboedrischen Grundbausteinen, mit denen der Raum zwar lückenlos, jedoch ohne globale Periodizität gefüllt werden kann (Penrose-Parkettierung). Beide Rhomboeder setzten sich aus den gleichen rautenförmigen Seitenflächen zusammen, die jedoch unterschiedlich orientiert sind. Die Form dieser Rauten lässt sich nun dadurch definieren, dass ihre Diagonalen im Verhältnis des Goldenen Schnittes stehen. Für die Entdeckung von Quasikristallen wurde Shechtman 2011 der Nobelpreis für Chemie verliehen. Kobalt-Niobat Im atomaren Aufbau des Kristalls aus Kobalt-Niobat entdeckten Forscher des Helmholtz-Zentrums Berlin für Materialien und Energie (HZB) Symmetrieeigenschaften erstmal in fester Materie, die auch den Goldenen Schnitt kennzeichnen (veröffentlicht in der Zeitschrift Science, Januar 2010). Für Untersuchungen der Quanteneigenschaften, sprich Verhalten atomarer Teilchen in der Quantenwelt nach Heisenbergs Unschärferelation, findet Kobalt-Niobat Verwendung. Ausschlaggebend dafür sind insbesondere, die auf besondere Weise angeordneten atomaren Bestandteile sowie die magnetischen Eigenschaften des Kristalls. Dies bedeutet, hervorgerufen durch den im Elektron vorhandenen Eigenimpuls (Spin), bilden in diesem Kristall die aneinandergereihten Atome eine sogenannte Spinkette mit der Wirkung eines dünnen Stabmagnets. Wirkt nun ein Magnetfeld rechtwinklig auf die Spinkette, geht sie in einen neuen Zustand über. Physiker stellen sich diesen Zustand als fraktales Muster vor. Als die Forscher dies als Modell für die Untersuchung des Festkörpermagnetismus nutzten, machten sie eine überraschende Entdeckung: Die Wechselwirkung, die benachbarte Spinketten miteinander eingehen, entspricht der Schwingung einer Gitarrensaite, deren ersten beiden Resonanzfrequenzen im Verhältnis , zueinander stehen. „Was genau dem Goldenen Schnitt entspricht“, so Radu Coldea, Leiter des über zehn Jahre laufenden internationalen Projektes. Vergleich mit anderen prominenten Seitenverhältnissen Die folgende Abbildung zeigt im Vergleich verschiedene Rechtecke mit prominenten Seitenverhältnissen in der Umgebung von Angegeben ist jeweils das Verhältnis von Höhe zu Breite und der entsprechende Zahlenfaktor:  – Traditionelles Fernsehformat und Ballenformat für Packpapier. Auch bei älteren Computermonitoren verwendet (z. B.: ). Dieses Format geht zurück auf Thomas Alva Edison, der 1889 das Format des klassischen Filmbildes (35-mm-Film) auf festlegte.  – Das Seitenverhältnis beim DIN-A4-Blatt und verwandten DIN-/EN-/ISO-Maßen. Bei einer Halbierung durch einen Schnitt, der die längeren Seiten des Rechtecks halbiert, entstehen wiederum Rechtecke mit demselben Seitenverhältnis.  – Seitenverhältnis beim Kleinbildfilm .  – Manche Computerbildschirme Diese passen mit fast zum Goldenen Schnitt.  – Seitenverhältnis im Goldenen Schnitt. Im Bild approximiert mit (theoretischer Fehler nur ). Die beiden benachbarten Rechtecke 3:2 und 5:3 haben – wie auch das dargestellte Rechteck mit 144:89 – Seitenverhältnisse von aufeinanderfolgenden Fibonacci-Zahlen und approximieren daher ebenfalls den Goldenen Schnitt vergleichsweise gut.  – Findet neben vielen anderen als Kinofilmformat Verwendung.  – Breitbildfernsehen. Anwendung in Technik und Mathematik Der Goldene Zirkel (Reduktionszirkel) Anstatt stets neu konstruieren zu müssen, wurde im 19. Jahrhundert von Künstlern und Handwerkern ein Goldener Zirkel – ein auf das Goldene Verhältnis eingestellter Reduktionszirkel – benutzt. Insbesondere im Schreinerhandwerk kam ein ähnliches Instrument in Form eines Storchschnabels zur Anwendung. Bereits in der Antike fand der Reduktionszirkel Verwendung, dies zeigt z. B. der Fund eines Vorläufers bei den Ausgrabungen in Pompeji. Solche Zirkel, wie die im Folgenden näher beschriebenen Beispiele, werden auch heute noch hergestellt. Die einfachste Ausführung besteht nur aus zwei Stäben – in moderner Bauweise zusätzlich mit vier Nadeln – deren Drehpunkt sie im Goldenen Schnitt teilt. Für die Lage des Drehpunktes gilt: . Mithilfe eines solchen Reduktionszirkels gelingt die Teilung einer gegebenen Streckenlänge in (innere Teilung) sowie die Verlängerung einer Strecke um die Länge (äußere Teilung). Punkt teilt die Streckenlänge im Goldenen Schnitt. Der von Adalbert Göringer im Jahre 1893 erfundene Reduktions- bzw. Proportionalzirkel – dargestellt in den nebenstehenden Bildern – ist eine Weiterentwicklung. Um als Werkzeug für die innere und äußere Teilung dienen zu können, müssen die Bauteile des Reduktionszirkels ebenfalls die Teilung nach dem Goldenen Schnitt beinhalten. Wenn , dann gilt: . Rechteck mit einbeschriebenem Dreieck Die Flächengleichheit bedeutet, dass gilt. Aus der Gleichheit des ersten und zweiten Terms folgt  (1) und aus der Gleichheit des ersten und dritten Terms  (2). Aus (1) und (2) ergibt sich: . Wegen gilt dann auch: Gleichschenkliges Dreieck, gegebene Strecke teilt gesuchten Schenkel im Goldenen Schnitt Von M. Johann Wentzel Kaschube stammt die im Folgenden beschriebene und im Anschluss konstruktiv dargestellte geometrische Aufgabe aus dem Jahr 1717. Gesucht ist also ein gleichschenkliges Dreieck, in dem eine gegebene Strecke sowie ein Schenkel des Dreiecks zueinander orthogonal sind und der Punkt diesen Schenkel im Verhältnis des Goldenen Schnitts teilt. Konstruktionsbeschreibung (Angelehnt an die Beschreibung des Originals, die darin erwähnte Fig. 7 ist auf Tab. I Alg. Fig. 8) Zuerst wird die Strecke mit der frei wählbaren Länge senkrecht auf die Gerade errichtet. Es folgt das rechtwinklige Dreieck , in dem die Seite mit Länge auf der Geraden liegt. Der Kreisbogen um mit Radius ergibt Schnittpunkt , der Kreisbogen um mit Radius teilt in die Seite im Goldenen Schnitt. Ziehe einen Kreis um mit Radius , ergibt Schnittpunkt und einen Kreisbogen um mit Radius . Nun errichte eine Senkrechte auf ab bis sie den Kreisbogen in schneidet. Mit ist das geometrische Mittel der beiden Streckenlängen und bestimmt. Ein Kreisbogen um mit Radius schneidet den Kreis um in , und dabei ergibt sich das rechtwinklige Dreieck . Abschließend wird die Strecke bis auf die Gerade verlängert und um den soeben entstandenen Schnittpunkt ein Kreisbogen mit Radius gezogen, bis er die Gerade in schneidet. Im somit gefundenen gleichschenkligen Dreieck teilt der Punkt der Senkrechten den Schenkel im Goldenen Schnitt. Dreiecksfraktal Ab 1975 sind in der Mathematik die unterschiedlichsten Fraktale entwickelt worden. Das folgende Fraktal – mit sieben Iterationsschritten – verwendet ein gleichseitiges Dreieck als Ausgangsform. An seinen Ecken wird ein Dreieck mit einem bestimmten Verkleinerungsfaktor Spitze an Spitze angehängt. Der Verkleinerungsfaktor wird so gewählt, dass das Verhältnis der Seitenlängen zueinander dem Teilungsverhältnis des Goldenen Schnittes entspricht. Fraktale werden meist mithilfe eines Computers erstellt. Dieses zweidimensionale Dreiecksfraktal ist – mit entsprechendem Aufwand – auch als Konstruktion mit Zirkel und Lineal darstellbar. Skizze Anhand der nebenstehenden Skizze wird der Verkleinerungsfaktor , die gewünschte Anzahl der Äste (Dreiecke) und somit auch der Abstand der letzten Äste zueinander grafisch bestimmt. Es beginnt mit der Konstruktion eines gleichseitigen Dreiecks mit der Seitenlänge gleich . Halbiert man nun dessen beide Schenkel und zieht die Gerade durch die soeben erhaltenen Mittelpunkte, ergibt sich das gleichseitige (grüne) Ausgangsdreieck des Fraktals mit Seitenlänge gleich . Es folgen zwei Verbindungslinien, jeweils ab dem Mittelpunkt der Schenkel bis zur gegenüberliegenden Ecke des Dreiecks. Sie schneiden sich im Mittelpunkt des Umkreises des großen Dreiecks. Beim Ziehen des Umkreises ergibt sich, mittels der Schnittpunkte auf der Geraden , der gesuchte Verkleinerungsfaktor links und rechts vom Ausgangsdreieck. Nachweis des Verkleinerungsfaktors f Die oben beschriebenen Konstruktionsschritte gleichen denen der Konstruktion nach Odom. Somit gilt in diesem Fall: daraus folgt Die in der Skizze mit gepunkteten Linien angedeutete Konstruktion zeigt: Die Seitenlängen (Kreisradien) für die nachfolgenden, noch gut im Fraktal erkennbaren Dreiecke, ergeben sich, indem man für das nächste Dreieck den Exponent des Verkleinerungsfaktors um erhöht: Beutelspacher ermittelte in Der Goldene Schnitt den Wert des Abstandes, bei dem sich die entgegenkommenden Äste im Grenzfall berühren, letztendlich aus der kubischen Gleichung (siehe nebenstehendes Bild) ; deren einzige positiven Lösung ist . Somit ist aufgezeigt: ist nicht nur der Wert des Verkleinerungsfaktors, sondern auch der Wert des Abstandes, bei dem sich im Grenzfall die einzelnen Äste berühren, sprich gerade noch nicht überlappen. Papier- und Bildformate Im Buchdruck wurde gelegentlich die Nutzfläche einer Seite, der sogenannte Satzspiegel, so positioniert, dass das Verhältnis von Bundsteg zu Kopfsteg zu Außensteg zu Fußsteg sich wie verhielt. Diese Wahl von Fibonacci-Zahlen approximiert den Goldenen Schnitt. Eine solche Gestaltung wird auch weiterhin in Teilen der Fachliteratur zum Buchdruck empfohlen. Anwendung in der bildenden Kunst Seit dem 19. Jahrhundert wurde der Goldene Schnitt zunächst in der ästhetischen Theorie (Adolf Zeising) und dann auch in künstlerischer, architektonischer und kunsthandwerklicher Praxis als ein ideales Prinzip ästhetischer Proportionierung bewertet. Er soll besonders angenehm, ansprechend, ausgewogen, harmonisch und schön wirken. Es gibt allerdings keinen empirischen Beleg für eine besondere ästhetische Wirkung, die von Proportionen des Goldenen Schnittes ausgeht. Schon der Begründer der empirischen Ästhetik, Gustav Theodor Fechner, stellte aufgrund eigener Experimente fest: „Hiernach kann ich nicht umhin, den ästhetischen Wert des Goldenen Schnittes … überschätzt zu finden.“ Architektur Frühe Hinweise auf eine Verwendung des Goldenen Schnittes stammen aus der Architektur. Die Schriften des griechischen Geschichtsschreibers Herodot zur Cheops-Pyramide werden gelegentlich dahingehend ausgelegt, dass die Höhe der Seitenfläche zur Hälfte der Basiskante im Verhältnis des Goldenen Schnittes stünde. Die entsprechende Textstelle ist allerdings interpretierbar. Andererseits wird die These vertreten, dass das Verhältnis für Pyramidenhöhe zu Basiskante die tatsächlichen Maße noch besser widerspiegele. Der Unterschied zwischen beiden vertretenen Thesen beträgt zwar lediglich 3,0 %, ein absoluter Beweis zugunsten der einen oder anderen These ist demzufolge damit aber nicht verbunden. Viele Werke der griechischen Antike werden als Beispiele für die Verwendung des Goldenen Schnittes angesehen wie die Vorderfront des 447–432 v. Chr. unter Perikles erbauten Parthenon-Tempels auf der Athener Akropolis. Da zu diesen Werken keine Pläne überliefert sind, ist nicht bekannt, ob diese Proportionen bewusst oder intuitiv gewählt wurden. In späteren Epochen sind mögliche Beispiele für den Goldenen Schnitt, wie der Dom von Florenz, Notre Dame in Paris oder die Torhalle in Lorsch (770 n. Chr.) zu finden. Auch in diesen Fällen ist die bewusste Anwendung des Goldenen Schnittes anhand der historischen Quellen nicht nachweisbar. Es gibt demzufolge keinen empirisch gesicherten Nachweis für eine signifikant größere Häufigkeit des Goldenen Schnittes in diesen Epochen im Vergleich zu anderen Teilungsverhältnissen. Ebenso fehlen historische Belege für eine absichtliche Verwendung des Goldenen Schnittes. Als ein Beispiel für eine Umsetzung des Goldenen Schnittes wird immer wieder das Alte Rathaus in Leipzig, ein Renaissancebau aus den Jahren 1556/57, genannt. Wobei nicht die Mitte des Rathausturmes die Gehäusefront im Goldenen Schnitt teilt, sondern die dazu etwas versetzte Mitte des Haupttores. Gleichwohl gibt es bei genauer historischer Quellenforschung keinen Beleg dafür. Insbesondere gibt es keinen Beleg dafür, dass Hieronymus Lotter als der damalige Baumeister den Goldenen Schnitt bewusst als Konstruktionsprinzip verwendet hat: Alle originären Quellen verweisen lediglich auf einen gotischen Vorgängerbau, auf dessen Grundmauern Lotter das Rathaus errichtet hat. Dass der Goldene Schnitt hier eine Rolle gespielt habe, ist quellenhistorisch nicht belegbar. Die erste quellenhistorisch gesicherte Verwendung des Goldenen Schnittes in der Architektur stammt aus dem 20. Jahrhundert: Der Architekt und Maler Le Corbusier (1887–1965) entwickelte ab 1940 ein Längen-Maßsystem, dessen Maßeinheiten zueinander im Verhältnis des Goldenen Schnitts stehen. Die Werte der darin enthaltenen kleineren Maßeinheiten sind Durchschnitts-Maße am menschlichen Körper. Er veröffentlichte dieses 1949 in seiner Schrift Der Modulor, die zu den bedeutendsten Schriften der Architekturgeschichte und -theorie gezählt wird. Bereits 1934 wurde ihm für die Anwendung mathematischer Ordnungsprinzipien von der Universität Zürich der Titel doctor honoris causa der mathematischen Wissenschaften verliehen. Für eine frühere Verwendung des Modulors ist dies jedoch aus den aufgezeigten Gründen kein Beleg. Plastik und Malerei Für die generelle These, dass der Goldene Schnitt als besonders ansprechend und harmonisch empfunden wird, gibt es keine gesicherten Belege und ist letztlich eine Frage der jeweils herrschenden Kunstauffassung. Viele Künstler setzten den Goldenen Schnitt bewusst ein, bei vielen Werken wurden Kunsthistoriker erst im Nachhinein fündig. Diese Befunde sind jedoch angesichts der Fülle von möglichen Strukturen, wie sie in einem reich strukturierten Gemälde zu finden sind, oft umstritten. So werden zahlreichen Skulpturen griechischer Bildhauer, wie der Apollo von Belvedere, der Leochares (um 325 v. Chr.) zugeschrieben wird, oder Werke von Phidias (5. Jahrhundert v. Chr.) als Beispiele für die Verwendung des Goldenen Schnittes angesehen. Auf letzteren bezieht sich die oft übliche Bezeichnung für den Goldenen Schnitt, die ungefähr 1909 von dem amerikanischen Mathematiker Mark Barr eingeführt wurde. Die ebenfalls gelegentlich verwendete Bezeichnung bezieht sich dagegen auf das griechische Wort für „Schnitt“. Der Goldene Schnitt wird in vielen Werken der Renaissance-Künstler vermutet, unter anderem bei Raffael, Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer, bei Dürers Werken insbesondere in seinem Selbstbildnis von 1500 und seinem Kupferstich Melencolia I von 1514. Ein berühmtes Beispiel ist das Gemälde Mona Lisa von Leonardo da Vinci. Es weist Merkmale des Goldenen Schnitts auf und lässt mehrere Goldene Dreiecke sowie die Goldene Spirale erkennen. In Abbildung 1 teilt der Punkt (Mona Lisas linkes Auge) die Strecken und im Goldenen Schnitt. Die Dreiecke und sind Goldene Dreiecke, da bei jedem dieser sechs Dreiecke Grundseite und Schenkel im Verhältnis des Goldenen Schnitts zueinander stehen. In Abbildung 2 ist die Goldene Spirale eingezeichnet. Sie ist so positioniert, dass sie am linken Handgelenk beginnt und den oberen Rand des Kopfes berührt. Die Nasenspitze bildet dann den Punkt, auf den die Spirale zuläuft. Bekanntlich stellte auch Albrecht Dürer zahlreiche theoretische Untersuchungen an und beschäftigte sich mit mathematischen Fragestellungen. Im Zusammenhang mit dem Goldenen Schnitt ist besonders interessant, dass er in seiner Underweysung der messung 1525 ein in einen Kreis einbeschriebenes Fünfeck konstruiert. Daher gilt es nicht als ausgeschlossen, dass Dürer in seinen Bildern den Goldenen Schnitt verwendet hat. Allerdings hat Dürer in seinen theoretischen Arbeiten den Goldenen Schnitt an keiner Stelle erwähnt. Auch im 19. und 20. Jahrhundert spielte der Goldene Schnitt bei manchen Vertretern der bildenden Kunst eine Rolle. Georges Seurat (1859–1891), der Begründer des Neoimpressionismus, strebte einen streng geometrischen Bildaufbau an und verwendet in allen seinen großformatigen Bildern den Goldenen Schnitt. Besonders deutlich ist dies in seinem Gemälde Die Zirkusparade. Neben einem goldenen Rechteck lassen sich etliche Einteilungslinien nach dem Goldenen Schnitt erkennen. Allerdings existieren In einer vorbereitenden Zeichnung lediglich Linien, die nicht mit dem Goldenen Schnitt korrespondieren. Damit bleibt offen, ob Seurat den Goldenen Schnitt bewusst oder intuitiv angewandt hat. In der Fotografie wird der Goldene Schnitt zur Bildgestaltung eingesetzt. Als Faustformel wird die Drittel-Regel verwendet. Zeitgenössische bildende Kunst In der zeitgenössischen bildenden Kunst wird der Goldene Schnitt nicht nur als Gestaltungsmerkmal verwendet, sondern ist in manchen Arbeiten selbst Thema oder zentraler Bildinhalt. Bei Joseph Beuys kommt der Goldene Schnitt bei den Besprechungen der Arbeiten seiner Schülerinnen und Schüler oft als positiver Orientierungspunkt zur Sprache. Der Künstler Jo Niemeyer verwendet den Goldenen Schnitt als grundlegendes Gestaltungsprinzip in seinen Werken, die der konkreten Kunst zugeordnet werden. Der Künstler Ivo Ringe, der ebenso ein Vertreter der konkreten Kunst ist, nutzt den Goldenen Schnitt in vielen seiner Werke. Die Künstlerin Martina Schettina thematisiert den Goldenen Schnitt in ihren Arbeiten zum Fünfeck, bei dem die Diagonalen einander im Goldenen Schnitt teilen. Sie visualisiert auch die Konstruktionsmethode und Formeln zum Goldenen Schnitt. Irene Schramm-Biermann legt ihre künstlerischen Schwerpunkte auf Konkrete Kunst mit Bezug zur Mathematik und Landschaften. Die Darstellung im nebenstehende Bild lässt für den Betrachter offen: Resultiert die Goldene Spirale aus dem Goldenen Dreieck, oder war die Spirale der Ursprung? Verwendung in Literatur und Musik Literatur Der Goldene Schnitt wurde auch zur Gestaltung literarischer Werke herangezogen. Das vom römischen Dichter Vergil (70–19 v. Chr.) geschaffene Werk Äneis gilt als älteste bekannte Literatur, die auf dem Goldenen Schnitt aufbaut. Bei Untersuchungen wurden Zeilen in verschiedenen Abschnitten gezählt, wobei festgestellt wurde, dass deren Verhältnisse dem Goldenen Schnitt meist recht nahe kommen. Allerdings wurde genau dieser „Abstandsbegriff“ weit ausgelegt, wobei etwa Werte wie 0,6 und 0,636 als Annäherung von 0,618… akzeptiert wurden. Zudem finden sich im Text zahlreiche Halbverse (unvollständige Zeilen), die auf mangelnde redaktionelle Überarbeitung seitens Vergils zurückgeführt werden. Nach Bereinigung ergab sich in ca. 75 % aller Fälle eine bessere Annäherung an den Goldenen Schnitt. Die Studie wurde jedoch auch kritisch rezipiert. Vor dem Hintergrund der verbreiteten Zahlensymbolik im Mittelalter wurde das Liber ymnorum des Notker Balbulus (um 885) genauer untersucht. Dabei kam heraus, dass einige Segmente dieses Hymnus gemäß dem Goldenen Schnitt aufgebaut sind. Genauer gilt, dass die Anzahl der Silben im ersten Teil und der im zweiten Teil annähernd im Verhältnis des Goldenen Schnittes liegen. Als ein Beispiel wird auf den Laurentiushymnus verwiesen: In den ersten 144 Silben wird Laurentius angerufen und sein Martyrium gerühmt. Im Anschluss wird er 89 Silben lang um Fürbitte gebeten. Es bleibt jedoch unklar, ob das Auftreten dieser (großen) Fibonacci-Zahlen 89 und 144, ca. 300 Jahre vor Fibonacci, ein Zufall ist. Es existieren auch Hinweise auf den Goldenen Schnitt in Grimms Märchen. Sämtliche Charaktere wurden über die Eigenschaften gut – böse, stark – schwach und aktiv – passiv in 8 möglichen Gruppen eingeteilt. Dabei wurden die Gruppen „gut, stark, aktiv“, „gut, stark, passiv“, „gut, schwach, aktiv“ und „böse, stark, aktiv“ als „positiv“ bezeichnet, die anderen 4 als „negativ“. Es stellt sich nach dieser Gruppierung heraus, dass zwischen 60 % und 62 % der Märchencharaktere „positiv“ sind. Als Erklärung dieses „Zusammenhangs“ wird darauf verwiesen, dass der Goldene Schnitt in der Natur sehr häufig auftrete und daher vom Menschen unbewusst als ästhetischer Maßstab bei der Bewertung von Kunstwerken herangezogen werde. Dieser unbewusste Prozess gewinne umso mehr Bedeutung, je „naturnaher“, „unverbildeter“, und „volkstümlicher“ die Kunstwerke seien. Da Grimms Märchen bekanntlich direkt aus dem Munde des Volkes „abgelauscht sind“, sei es kein Wunder, dass hier der Goldene Schnitt als „natürliches Spannungsverhältnis“ in Erscheinung trete. J. Benjafield und C. Davis schreiben dazu: Nach Meinung Benjafields und Davis erkläre dies auch das Auftreten des Goldenen Schnitts in der Musik Béla Bartóks – ein Beleg dafür, dass Bartóks Musik sich in vielerlei Hinsicht aus der Volksmusik speise. Der Goldene Schnitt wurde auch in einem späten Gedicht Friedrich Hölderlins nachgewiesen. ln seinen letzten Lebenstagen, entweder im Mai oder Juni des Jahres 1843, schrieb Hölderlin in Tübingen Die Aussicht: Wenn in die Ferne geht der Menschen wohnend Leben, Wo in die Ferne sich erglänzt die Zeit der Reben, Ist auch dabei des Sommers leer Gefilde, Der Wald erscheint mit seinem dunklen Bilde; Daß die Natur ergänzt das Bild der Zeiten, Daß die verweilt, sie schnell vorübergleiten, Ist aus Vollkommenheit, des Himmels Höhe glänzet Den Menschen dann, wie Baume Blüth' umkränzet. – Die Aussicht, Friedrich Hölderlin Roman Jakobson und Grete Lübbe-Grothues entdeckten, dass dieses Gedicht mit Hilfe des Goldenen Schnitts, genauer gesagt aus den Verhältnissen , und , aufgebaut wurde. Hierzu schreiben sie: Die Frage, ob Hölderlin die Ästhetik des Goldenen Schnitts bewusst einsetzte, sei hier jedoch besonders schwierig zu beantworten, da Hölderlin bekanntlich in seinen letzten Lebensjahren stark an einer seelischen Krankheit litt. Immerhin gibt es nach Jakobson auffallende Anzeigen einer komplexen und zielbewussten Gestaltung und Vieles deute auf eine bewusste Verwendung der Verhältnisse , und hin. Akustik und Musik Der Goldene Schnitt tritt innerhalb der Musik in zwei Rollen auf. Zum einen können die Frequenzen zweier Töne ein Goldenes Verhältnis haben. Andererseits kann die Komposition eines Stückes aus Teilen bestehen, deren Längen sich verhalten wie der Goldene Schnitt. Frequenzverhältnisse Stehen die Frequenzen zweier Töne im Verhältnis der Fibonacci-Zahlen (oder ), so bildet sich als Klang eine kleine Sexte. Die Differenz des Verhältnisses (= 1,6) zum Goldenen Schnitt (= 1,618…) sei so gering, dass, wie Rudolf Haase behauptet, der Goldene Schnitt selbstverständlich in den Zurechthörbereich der kleinen Sexte fällt. Haases Vorstellung ist also die, dass der Reiz der kleinen Sexte darin begründet ist, dass die Frequenzen ihrer Einzeltöne im Goldenen Verhältnis stehen, und dass das einfache Verhältnis nur eine Annäherung daran ist. Komposition Der Goldene Schnitt wird gelegentlich in Strukturkonzepten von Musikstücken vermutet. So hat der ungarische Musikwissenschaftler Ernő Lendvai versucht, den Goldenen Schnitt als wesentliches Gestaltungsprinzip der Werke Béla Bartóks nachzuweisen. Seiner Ansicht nach hat Bartók den Aufbau seiner Kompositionen so gestaltet, dass die Anzahl der Takte in einzelnen Formabschnitten Verhältnisse bilden, die den Goldenen Schnitt approximieren würden. Allerdings sind seine Berechnungen umstritten. In der Musik nach 1945 finden sich Beispiele für die bewusste Proportionierung nach den Zahlen der Fibonacci-Folge, etwa im Klavierstück IX von Karlheinz Stockhausen oder in der Spektralmusik von Gérard Grisey. Instrumentenbau Der Goldene Schnitt wird gelegentlich im Musikinstrumentenbau verwendet. Insbesondere beim Geigenbau soll er für besonders klangschöne Instrumente bürgen. So wird behauptet, dass der berühmte Geigenbauer Stradivari den Goldenen Schnitt verwendete, um die klanglich optimale Position der F-Löcher für seine Violinen zu berechnen. Diese Behauptungen basieren jedoch lediglich auf nachträglichen numerischen Analysen von Stradivaris Instrumenten. Ein Nachweis, dass Stradivari bewusst den Goldenen Schnitt zur Bestimmung ihrer Proportionen angewandt habe, existiert jedoch nicht. Verwendung in Informatik und Numerik Datenstrukturen In der Informatik werden Daten in Hashtabellen gespeichert, um darauf schnell zuzugreifen. Die Position , an der ein Datensatz in der Tabelle gespeichert wird, berechnet sich durch eine Hashfunktion . Für einen effizienten Zugriff müssen die Datensätze möglichst gleichmäßig verteilt in die Tabelle geschrieben werden. Eine Variante für die Hashfunktion ist die multiplikative Methode, bei der die Hashwerte für eine Tabelle der Größe nach der folgenden Formel berechnet werden: Dabei stellen Gaußklammern dar, die den Klammerinhalt auf die nächste ganze Zahl abrunden. Der Informatiker Donald E. Knuth schlägt für die frei wählbare Konstante vor, um eine gute Verteilung der Datensätze zu erhalten. Verfahren des Goldenen Schnittes Das Verfahren des Goldenen Schnittes (auch: Goldener-Schnitt-Verfahren, Methode des Goldenen Schnittes oder Suchverfahren Goldener Schnitt) ist ein Verfahren der mathematischen nichtlinearen Optimierung, genauer berechnet es algorithmisch eine numerische Näherung für eine Extremstelle (Minimum oder Maximum) einer reellen Funktion einer Variablen in einem Suchintervall . Es basiert auf der analytischen Anwendung der ursprünglich geometrisch definierten stetigen Teilung. Im Gegensatz zum Intervallhalbierungsverfahren wird dabei das Suchintervall nicht bei jedem Schritt halbiert, sondern nach dem Prinzip des Goldenen Schnittes verkleinert. Der verwendete Parameter (tau) hat dabei nicht, wie bei dem allgemeineren Bisektionsverfahren, den Wert , sondern es wird gewählt, sodass sich zwei Punkte und für das Optimierungsverfahren ergeben, die das Suchintervall im Goldenen Schnitt teilen. Wird angenommen, dass jeder Punkt in jedem Intervall mit gleicher Wahrscheinlichkeit Extrempunkt sein kann, führt dies bei Unbestimmtheitsintervallen dazu, dass das Verfahren des Goldenen Schnittes um 14 % effektiver ist als die Intervallhalbierungsmethode. Im Vergleich zu diesem und weiteren sequentiellen Verfahren ist es – mathematisch gesehen – das für allgemeine Funktionen effektivste Verfahren; nur im Fall differenzierbarer Funktionen ist es der direkten mathematischen Lösung unterlegen. Dass sich dieses Verfahren in der manuellen Rechnung nicht durchgesetzt hat, liegt vor allem an den notwendigen Wurzelberechnungen für die einzelnen Zwischenschritte. Anzahl benötigter Divisionen im euklidischen Algorithmus Der klassische euklidische Algorithmus berechnet den größten gemeinsamen Teiler zweier natürlicher Zahlen und . Dabei müssen einige Divisionen durchgeführt werden. Je nach Beschaffenheit dieser Zahlen können aber mal mehr oder mal weniger Schritte erforderlich sein. Ist etwa , so endet der Algorithmus nach nur einem Schritt, egal wie groß diese Zahlen sind. Der Goldene Schnitt taucht in der anderen Richtung auf, nämlich beschreibt er die Anzahl der Schritte für die Fälle, in denen ganz besonders viele Divisionen gebraucht werden (worst case analysis). Bezeichnet die Anzahl der benötigten Divisionen, und , wobei zufällig ausgewählt werden, so gilt . Dies zeigt, dass der euklidische Algorithmus selbst in der schlechtest möglichen Situation immer noch (nur) logarithmische Laufzeit besitzt. Auffälligkeit Eine weitere Verbindung zwischen der Informationstheorie und dem Goldenen Schnitt wurde durch Helmar Frank mit der Definition der Auffälligkeit hergestellt. Er konnte zeigen, dass der mathematische Wert des Maximums der Auffälligkeit sehr nah an das Verhältnis des Goldenen Schnitts herankommt. Siehe auch Goldenes Rechteck Zehneck Fünfzehneck Zwanzigeck Vierzigeck Vesica piscis Bronzener Schnitt Liste besonderer Zahlen Liste mathematischer Konstanten Literatur Historische Literatur Luca Pacioli; Constantin Winterberg (Hrsg. und Übers.): De divina proportione. Venedig 1509 / Carl Graeser, Wien 1889 (im Internet-Archiv: Online, bei alo: literature.at/alo). Adolf Zeising: Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers. Rudolph Weigel, Leipzig 1854; . Adolf Zeising: Das Normalverhältniss der chemischen und morphologischen Proportionen. Rudolph Weigel, Leipzig 1856; . Gustav Theodor Fechner: Zur experimentalen Ästhetik. Hirzel, Leipzig 1871. Neuere Literatur Lieselotte Kugler, Oliver Götze (Hrsg.): Göttlich Golden Genial. Weltformel Goldener Schnitt? Hirmer, München 2016, ISBN 978-3-7774-2689-1, siehe hierzu: Portal Kunstgeschichte Albrecht Beutelspacher, Bernhard Petri: Der Goldene Schnitt. Spektrum, Heidelberg/Berlin/Oxford 1996, ISBN 3-86025-404-9. Priya Hemenway: Divine Proportion. Phi in Art, Nature and Science. Sterling, New York 2005, ISBN 1-4027-3522-7. () Roger Herz-Fischler: A mathematical History of the Golden Ratio. Dover Publications, New York 1998, ISBN 0-486-40007-7. Jürgen Fredel: Maßästhetik. Studien zu Proportionsfragen und zum Goldenen Schnitt. Lit, Hamburg 1998, ISBN 3-8258-3408-5. Albert van der Schoot: Die Geschichte des goldenen Schnitts. Aufstieg und Fall der göttlichen Proportion. Frommann-Holzboog, Stuttgart 2005, ISBN 3-7728-2218-5. Susanne Deicher: Rezension von: Albert van der Schoot: Die Geschichte des goldenen Schnitts. In: sehepunkte 5, 15. Dezember 2005, Nr. 12, Weblink. Hans Walser: Der Goldene Schnitt. Teubner, Stuttgart 1993, ISBN 3-8154-2511-5. Georg Markowsky: Misconceptions about the Golden Mean (PDF; 2,1 MB). In: The College Mathematics Journal, Band 23, Ausgabe 1, Januar 1992. Weblinks Deutsch Marcus Frings: Goldener Schnitt. In: RDK. Labor (2015). Englisch Marcus Frings: The Golden Section in Architectural Theory. In: Nexus Network Journal, 2002, 4/1. Alexander Bogomolny: Golden Ratio. cut-the-knot.org Steven Strogatz: Proportion Control. New York Times (Online), 24. September 2012. (Dezimalentwicklung von ), (Engel-Entwicklung von ), (Pierce-Entwicklung von ). Einzelnachweise Proportionalität Theoretische Biologie Architekturtheorie Design Folgen und Reihen Ebene Geometrie Technik der Malerei Besondere Zahl
1862
https://de.wikipedia.org/wiki/Grunge
Grunge
Grunge ( für ‚Schmuddel‘, ,Dreck‘) ist ein Genre der Rockmusik und eine im Zusammenhang damit entstandene Subkultur. Der Ursprung des vor allem in den 1990er-Jahren populären Musikstils lag in der US-amerikanischen Undergroundbewegung. Grunge wurde auch als Seattle-Sound bezeichnet und wird oft als eine Vermischung von Punkrock, Underground-Garagenrock und Hardrock angesehen. Die frühe Grunge-Bewegung drehte sich um Seattles unabhängiges Plattenlabel Sub Pop und die Underground-Musikszene der Region. Klangcharakteristik Der „Grunge-Sound“ beruht hauptsächlich auf dem Gitarrensound des Hard Rocks der 1970er-Jahre, insbesondere von traditionellen, früheren Heavy-Metal-Gruppen wie Black Sabbath (deutlicher Einfluss zum Beispiel bei Soundgarden, teils auch bei Alice in Chains und Pearl Jam), und der Ästhetik des Punkrocks, speziell des amerikanischen Hardcore-Punks mit Bands wie Black Flag. Alex DiBlasi ist der Ansicht, dass Indie-Rock eine dritte Schlüsselquelle sei, wobei der wichtigste Einfluss auf das „Freiform“-Geräusch von Sonic Youth zurückzuführen sei. Während sich einige der Bands mehr in Richtung Metal (Soundgarden, Alice in Chains) bewegten und andere sich mehr dem Punkrock-Einfluss (Nirvana, Mudhoney, 7 Year Bitch) verschrieben hatten, so war tatsächlich bei allen Grunge-Bands aus Seattle der charakteristische „Seattle-Sound“ aufzufinden. Charles R. Cross, Musikjournalist aus Seattle, definiert Grunge als verzerrten, heruntergestimmten und Riff-basierten Rock, der lautes E-Gitarren-Feedback und harte, „schwerfällige“ Basslines zur Unterstützung seiner Songmelodien verwende. Grunge-Musik hat eine sogenannte „hässliche“ Ästhetik, sowohl im Dröhnen der verzerrten E-Gitarren als auch in den dunkleren lyrischen Themen. Dieser Ansatz wurde gewählt, um sowohl dem „glatten“, eleganten Sound des damals vorherrschenden Mainstream-Rocks entgegenzuwirken, als auch, weil Grunge-Künstler die „Hässlichkeit“, die sie um sich herum sahen, widerspiegeln und ein Licht auf unsichtbare „Tiefen und Verderbtheit“ der realen Welt werfen wollten. Dieser Weltschmerz war dabei keineswegs immer nur Pose: Die Sänger von Nirvana und Soundgarden, Kurt Cobain und Chris Cornell, nahmen sich das Leben. Weitere Musiker aus der Grunge-Szene (unter anderem Layne Staley und Scott Weiland) starben an Heroin oder anderen Drogen. Geschichte Die Bezeichnung Grunge wurde erstmals in den 1960er- und 1970er-Jahren für den Stil einiger Bands verwendet. Sie wurde weniger als Subgenre gesehen, sondern als kennzeichnend für einen rau und „dreckig“ wirkenden Klang. Neil Young (& Crazy Horse), The Stooges und The Velvet Underground beispielsweise fielen zu dieser Zeit im Vergleich zu anderen Bands des Rock-Genres dadurch auf, dass sie mit akustischer Rückkopplungen besonders der E-Gitarre experimentierten. Zudem wirkte ihr Gitarrenspiel weniger „sauber“ und „glatt“ als das des musikalischen Mainstreams dieser Zeit. Vielmehr sollte der Klang roh und ungeschliffen wirken, was durch Einsatz von Verzerreffekten hervorgehoben wurde. Auch wurden die Aufnahmen in der Regel wenig bis gar nicht im Studio bearbeitet. Dadurch wirkte die Musik generell „unkonventionell“ und „unabhängig“. Dieser Stil prägte den Sound der Musikszene aus Seattle, welche Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre aufkam. Erst seit dieser Zeit und durch kontinuierlich steigende Popularität von Bands wie Nirvana, Pearl Jam, Alice in Chains oder Soundgarden wurde „Grunge“ auch als Begriff für ein Subgenre der Rockmusik verwendet. Zu den ersten Bands, die in diesem Bereich experimentierten, gehörten Wipers und Mission of Burma, deren Stil in den späten 1970ern und frühen 1980ern dem vorherrschenden Punk-Publikum zu rockig oder, im Falle von Mission of Burma, zu komplex war. Später folgte Hüsker Dü, deren Ursprünge in der Punkszene lagen. Sie kombinierten die Energie des Punk-Rock mit dem komplexeren Songwriting des Rock und erreichten damit Mitte der 1980er-Jahre ein größeres Publikum. Einen Schritt weiter bewegten sich Dinosaur Jr., die mit ihrer Nähe zum klassischen Rock im Stil von Neil Young und einem extrem übersteuerten Gitarrensound mit Wah-Wah-Effekten im Stil des Garagenrock der 1960er Jahre auffielen. Kurt Cobain, Sonic Youth und andere Vertreter des Grunge bezeichneten Neil Young als ihre Haupt-Inspirationsquelle, weswegen er auch als „Godfather of Grunge“ bezeichnet wird. Weitere Einflüsse waren Sonic Youth, Big Black, Butthole Surfers und andere Vertreter des Noise-Rock. Die Veröffentlichungen ganzer Musiklabels wie zum Beispiel Homestead Records, SST Records oder Amphetamine Reptile waren ausschlaggebend. Prägend für die Szene waren College-Rundfunksender, die diese Independent-Musik oft spielten, sowie der eher provinzielle Charakter der Region um Seattle, einer Gegend, in der nur unbekannte Musiker eine Auftrittsmöglichkeit suchten. Mitte der 1980er bildete sich ein Kern in der Szene Seattles, zu dem neben Green River, Soundgarden und The U-Men auch The Melvins gehörten. Zu diesem Zeitpunkt entstand auch die Bezeichnung Grunge als Genrebegriff. 1988 wurde in Seattle das Plattenlabel Sub Pop gegründet, bei dem Aufnahmen lokaler Bands wie Tad, Mudhoney, Nirvana und Soundgarden erschienen. Ein großer Teil der Aufnahmen wurde von Jack Endino produziert. Es kristallisierte sich ein Klang heraus, den man für geeignet hielt, als „Seattle-Sound“ vermarktet zu werden. Ein Jahr später wurde ein Rockjournalist des britischen Melody-Maker-Magazins auf diese Produktionen aufmerksam, worauf im März 1989 der Artikel „Seattle, Rock City“ erschien. In Seattle sorgte dieser Artikel für große Aufregung. Der Rest der Welt zeigte zunächst nur mäßiges Interesse. Das änderte sich schlagartig, als im September 1991 das Album Nevermind von Nirvana erschien. Auslöser des Medienrummels war der Song Smells Like Teen Spirit. Die Musikindustrie und die Medien entwickelten fortan ein ausgeprägtes Interesse für die Musikszene in Seattle. Das Magazin Spin beschrieb es in der Dezember-Ausgabe von 1992 mit den Worten: „Seattle ist momentan für die Rockwelt, was Bethlehem für das Christentum ist.“ Bands ohne Plattenvertrag wurden plötzlich unter Vertrag genommen. Andere Bands, die schon bei einem Independent-Label unter Vertrag waren, wurden per Vertriebsvertrag an die großen Plattenfirmen weitergereicht. Als die künstlerisch bedeutendsten und kommerziell erfolgreichsten Bands etablierten sich die „großen Vier“ Nirvana, Pearl Jam, Alice in Chains und Soundgarden. Die Kommerzialisierung der Szene ging schnell vonstatten. Markante Bekleidungsstücke wie das Flanellhemd wurden als neue Mode verkauft. So wurde ein banaler Alltagsgegenstand zum Dresscode der Grunge-Szene und drang in den Mainstream vor. Kritik Der Medienrummel um Grunge war bei den Kritikern ein beliebtes Angriffsziel. Die Entwicklung zeigt, wie die Musikindustrie mit einer Handvoll Bands und deren Auftreten in Bezug auf Aussehen und Attitüde einen Hype produzierte, von dem sie noch heute zehrt. Doch neben dem erwünschten Aspekt, dem Eintreten in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung, kamen auch negative Aspekte hinzu. So kam es, dass sich nach dem Tode Cobains die meisten Grunge-Bands auflösten oder aus dem Blickfeld der breiteren Masse verschwanden. Sämtliche Metal-Genres hatten mit dem Aufstieg des Grunge an Popularität verloren. Auf Nachfrage äußerte sich 1994 Joey DeMaio von Manowar über die Grunge-Szene: „Gibt es ein Wort für etwas, das rangmäßig noch unter Scheiße steht?“ Ob daraus der Frust über eigenen Popularitätsverlust spricht oder ob es sich dabei um eine für die Band typische derbe Wahrung ihrer True-Metal-Attitüde handelt, sei dahingestellt. Dass Grunge so einen Rundumschlag bewirkte und den Massengeschmack so sehr veränderte, kam also für viele Musiker damals ebenfalls überraschend. Neben Frust und negativer Kritik gab es jedoch auch positive Stimmen dazu, etwa von John Such, dem ehemaligen Bassisten von Bon Jovi, der Grunge als „erfrischend“ lobte, oder auch von Sebastian Bach, der den neuen, anderen Klang begrüßte. Umgekehrt entstand ein anderes Rockmusik-Genre, der Britpop, teilweise als Reaktion auf die Dominanz des Grunge im Vereinigten Königreich. Im Gegensatz zum Grollen des Grunge wurde Britpop durch „jugendlichen Überschwang und Wunsch nach Anerkennung“ definiert. Britpop-Künstler äußerten sich lautstark über ihre Verachtung für Grunge. In einem Interview mit NME aus dem Jahr 1993 stimmte Damon Albarn von der Britpop-Band Blur mit der Behauptung des Interviewers John Harris überein, dass Blur eine „Anti-Grunge-Band“ war, und sagte: „Nun, das ist gut. Wenn es im Punk darum ging, Hippies loszuwerden, dann werde ich Grunge los“. Bedeutende Vertreter Bekannte Labels Grunge-Filme Bekannte Filme, die etwas mit der Grunge-Musik aus Seattle direkt zu tun haben oder das Thema beinhalten, sind zum Beispiel: Singles – Gemeinsam einsam Last Days Hype! 1991: The Year Punk Broke Einzelnachweise Stilrichtung der Rockmusik Stilrichtung des Punk
1863
https://de.wikipedia.org/wiki/Generation%20X%20%28Roman%29
Generation X (Roman)
Generation X ist der Titel des 1991 erschienenen Episodenromans des kanadischen Schriftstellers und Künstlers Douglas Coupland. Übersetzer ist Harald Riemann. Inhalt und Gliederung Die Protagonisten des Romans, Andrew Palmer – er hat an der Universität Japanisch studiert –, Dagmar Bellinghausen, ehemaliger Marketingexperte, und Claire Baxter, Tochter aus reichem Hause, wohnen in Mietbungalows in der kalifornischen Stadt Palm Springs. Sie schlagen sich mit schlecht bezahlten Jobs durch, für die sie alle drei überqualifiziert sind: einer arbeitet als Parfümverkäufer in einem Warenhaus, die beiden anderen sind Barkeeper. Die „Mitglieder des Armut-Jet-Sets“, wie sie sich nennen, unterhalten sich, indem sie sich Geschichten erzählen: Geschichten aus ihrem Leben, Familiengeschichten, aber auch Phantasiegeschichten und Lebensträume, denen sie nachhängen, und Schreckensvisionen von einem möglichen Nuklearschlag, von denen die amerikanische Gesellschaft dieser Zeit umgetrieben wird. Und sie verbringen viel Zeit vor dem Fernsehapparat. Am Ende des Romans sind die drei auf dem Weg nach Mexiko, um dort ein Hotel zu eröffnen. Der Text gliedert sich in drei Teile mit insgesamt 32 kurzen Kapiteln. Das letzte Kapitel Zahlen gehört nicht mehr zur Romanhandlung, sondern enthält statistische Daten zu Bevölkerung und Umwelt.  Inhaltsverzeichnis Hinweis: Die Angaben stammen aus der Ausgabe Douglas Coupland: Generation X. Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur. Goldmann Verlag Teil Eins Die Sonne ist dein Feind Unsere Eltern hatten mehr Gib es auf, die Vergangenheit zu recyceln Ich bin keine Marketingzielgruppe Gib deinen Job auf Mit 30 gestorben, mit 70 begraben Es kann nicht immer so weitergehen Shopping heißt nicht kreativ sein Wiederaufbau Eintritt ins Hyperall 31. Dezember 1999 Teil Zwei Auch Neuseeland wird verstrahlt Monster existieren Friss dich nicht selbst Friss deine Eltern Erkaufte Erfahrungen zählen nicht Erinnere dich klar an die Erde Wechsle die Farbe Warum bin ich arm? Berühmtheiten sterben Ich bin nicht neidisch Tritt aus deinem Körper Lass Blumen wachsen Teil Drei Was ist normal? Musik-TV, keine Feuerwaffen Gestalte Willkommen daheim aus Vietnam, mein Sohn Abenteuer ohne Risiko ist Disneyland Plastik zersetzt sich nie In Erwartung des Blitzes 1. Januar 2000 Zahlen Diagnose und Kritik der Wohlstandsgesellschaft Nach Couplands Einschätzung ist für diese Generation charakteristisch, dass sie sich erstmals ohne Kriegseinwirkung mit weniger Wohlstand und ökonomischer Sicherheit begnügen muss als die Elterngenerationen, aber andererseits für deren ökonomische und ökologische Sünden büßt. Der Roman erzählt „Geschichten von der Katerstimmung im Amerika nach der auf Pump veranstalteten letzten großen Sause unter Reagan und Bush“ (Deutschlandfunk) über eine Generation mit „zu vielen Fernsehern und zu wenig Arbeit“ (Newsweek). Coupland kritisiert mit seinem Schlüsselroman die Wohlstandsgesellschaft der Vorgänger-Generation, die „mit 30 stirbt, um mit 70 begraben zu werden“. Ursprünglich sollte der Begriff Generation X andeuten, dass sich diese Generation bislang erfolgreich der Benennungswut von Werbeindustrie und journalistischem Gewerbe entzogen hat. Couplands Buch erreichte die Bestsellerlisten und der Titel wurde zum Schlagwort für die bis dahin unbenannte Generation. Aus Couplands Erzählstil gingen neben dem Titel noch weitere Vokabeln in den allgemeinen Sprachgebrauch über. Eigentlich hätte Coupland ein Lifestyle-Lexikon über die „Twentysomethings“ schreiben sollen. Der ehemalige Kunststudent kam jedoch von der Idee eines unterhaltsamen Sachbuchs ab und legte stattdessen einen anekdotenhaft erzählten Roman vor, dessen Helden sich weigern „kleine Monster so scharf auf einen Hamburger [zu] machen, dass ihre Begeisterung auch über ihr Kotzen hinaus anhält“. Erste Skizzen aus dem ursprünglichen Projekt wurden als Marginalien in den Roman eingearbeitet, die an passender Stelle Couplands Wortschöpfungen in einem „Lexikon der nicht funktionierenden Kultur“ erklären sollen. So prägte Coupland auch den Begriff McJob, im Roman definiert als „ein niedrig dotierter Job im Dienstleistungsbereich mit wenig Prestige, wenig Würde, wenig Nutzen und ohne Zukunft. Oftmals als befriedigende Karriere bezeichnet von Leuten, die niemals einen solchen [Job] ausgeübt haben“. Coupland stellt dem eingeschliffenen Lebensstil aus gesellschaftlichen und ökonomischen Zwängen eine „Lessness“ genannte Philosophie gegenüber, die den Wert des Lebens nicht an der Anhäufung von Statussymbolen misst. Das 'neue' Wertsystem wird auch ironisch als „Exhibitionistische Bescheidenheit“ bezeichnet. Aufgrund dieses Lebensgefühls der Konsumverweigerung würde Couplands Generation X (z. B. von der Seattle Times) in Anlehnung an Gertrude Stein auch als „Lost Generation der Neunziger“ bezeichnet. Coupland stützt seine Beobachtungen am Ende des Buches mit einigen Statistiken und Zitaten aus verschiedenen Zeitschriften. Der Titel und sein historischer Hintergrund Seit den frühen 1950er Jahren wurde der Begriff Generation X verschiedentlich in Zusammenhängen mit der jeweils zeitgenössischen Jugend gebraucht; der Begriff lag also sozusagen „in der Luft“. Siehe dazu den Abschnitt Begriffsgeschichte im Artikel zum gleichnamigen soziologischen Begriff. Coupland selbst lieferte unterschiedliche Erklärungen, wer ihn zum Titel seines Buchs angeregt hat. Coupland, damals Kunststudent, sollte eigentlich im Auftrag eines kanadischen Verlages ein Sachbuch über die amerikanische Jugend der Zeit schreiben, lieferte aber stattdessen einen Roman ab. Allerdings ergänzte er ihn um ein Glossar der Neologismen der beschriebenen „Szene“. Das Buch wurde vom Verlag abgelehnt, dann aber von Simon & Schuster publiziert, entwickelte sich nach zögerlichem Start zu einem Bestseller, und der Autor avancierte in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem Sprecher der Befindlichkeiten seiner Generation und Diagnostiker des Zeitgeists. Zitate Einige wenige aus der großen Anzahl von Definitionen im Buch. Diese sind nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen, beschreiben aber das Lebensgefühl der Generation X, so wie Coupland es sieht: Ein Vorbote der heutigen Situation, wo alles erlaubt zu sein scheint und sogar Stile, die früher der Selbstausgrenzung dienten, gesellschaftlich akzeptiert sind, ist die Beschreibung des typischen Kleidungsstiles der Generation X als Decade Blending: Bei Kleidung: das wahllose Kombinieren von zwei oder mehr Artikeln aus verschiedenen Jahrzehnten, um einen eigenen Stil zu kreieren. Analog zur Midlife-Crisis postuliert Coupland den Mid-Twenties Breakdown: Eine Periode geistigen Kollapses im Alter zwischen zwanzig und dreißig, oftmals ausgelöst durch die Unfähigkeit, außerhalb der Uni oder einer durchstrukturierten Umgebung zu funktionieren, gekoppelt an die Erkenntnis des wesentlichen Alleinseins in der Welt. Oft gekennzeichnet durch den rituellen Gebrauch von pharmazeutischen Produkten. Dem tiefen Pessimismus und Idealismus der Generation X folgt der Now Denial: Sich einreden, dass die einzige Zeit, die es wert war zu leben, die Vergangenheit war, und dass die einzige Zeit, die überhaupt wieder interessant sein könnte, die Zukunft ist und die Ultra Short Term Nostalgia: Heimweh nach der allerjüngsten Vergangenheit: 'Gott, letzte Woche sah die Welt noch so viel besser aus.' Aus einem Bedürfnis nach religiösen Erfahrungen in einer säkularisierten Zeit folgt der Me-ism: Das Trachten eines Individuums nach einer selbstgeschneiderten Religion, ausgelöst durch das Nichtvorhandensein traditioneller religiöser Grundsätze. Meistens ein Mischmasch aus Wiedergeburt, persönlichem Dialog mit einem nebulösen Gott, Naturalismus und karmabezogenem Auge-um-Auge-Verhalten. Aus der Ziellosigkeit und Entscheidungsschwäche wegen Überforderung in der Überflussgesellschaft folgt die Option Paralysis: Die Neigung, sich bei unbegrenzter Auswahl für nichts zu entscheiden. Rezeption Couplands Wortneuschöpfungen wurden von den Medien und Marketingfirmen der USA begierig aufgegriffen und als „Leitfaden für die Kategorisierungen und das Verständnis der schwer zu fassenden Alterskohorte genommen“. Noch heute dient das Schlagwort dem Verlag selbst als Marketingmittel, wenn er sein Marketingbuch über die sogenannten Baby-Boomer (geboren zwischen 1943 und 1960) unter dem Titel Marketing to Generation X. Strategies for a new aera publiziert. Der Spiegel bewertete die literarische Qualität des Romans eher zurückhaltend, hält den Autor aber für einen „intelligenten Beobachter des Alltags“ und „Meister darin, prägnante Etikette für aktuelle Phänomene zu vergeben“. Ohne Glossar hätte nach Meinung des Spiegels das Buch nicht zu einem weltweit gelesenen und zitierten Kultbuch werden können. Der Roman wurde in 16 Sprachen übersetzt, in mehreren Auflagen gedruckt und allein in den USA bis 1994 über 300 000 Mal verkauft. Ausgaben Generation X: Tales for an Accelerated Culture. St. Martins' Press 1991. [Erstausgabe]. ISBN 0-312-05436-X. Generation X – Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur. Goldmann-Verlag. ISBN 3-442-41419-9. Literatur Martin Gloger: A Generation to end all generations. Zur Entmythologisierung des Generationenlabels „89er“. In: Vorgänge, Nr. 182, Heft 2, 2008, S. 139–147, . Edmund Fröhlich, Susanne Finsterer: Generation Chips. Computer und Fastfood, was unsere Kinder in die Fettsucht treibt. Hubert Krenn Verlag, Wien 2007, ISBN 978-3-902532-30-5. Jürg Pfister: Motivation der Generation X. Das Potential der Generation X als Herausforderung für christliche Gemeinden und Missionswerke (= Kornthaler Reihe. Band 1). Verlag für Theologie und Religionswissenschaft (VTR), Nürnberg 2003, ISBN 3-933372-64-X. Guido Jablonski: Generation X: Selbst- und Fremdbeschreibung einer Generation. Eine literaturwissenschaftliche Studie. Phil. Dissertation. Düsseldorf 2002. (Volltext; PDF; 1,3 MB) Inken Bartels: Generation X. Zum inflationären Gebrauch des Begriffes „Generation“ im aktuellen Mediendiskurs. In: Volkskundlich-Kulturwissenschaftliche Schriften. (VOKUS), Band 12, Heft 1, 2002, (). Siehe auch Der Begriff Generation X wird auch in der Soziologie oder im Marketing für eine Bevölkerungskohorte bezeichnet. Daraus abgeleitet wurde die Generation Y. Einzelnachweise Literarisches Werk Literatur (20. Jahrhundert) Literatur (Englisch) Kanadische Literatur Roman, Epik Generationen
1864
https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeines%20Zoll-%20und%20Handelsabkommen
Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen
Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (, GATT) wurde am 30. Oktober 1947 abgeschlossen, als der Plan für eine Internationale Handelsorganisation (ITO) nicht verwirklicht werden konnte. Das Abkommen trat am 1. Januar 1948 in Kraft. Das GATT von 1947 begründete keine Internationale Organisation, sondern war ein völkerrechtlicher Vertrag, weshalb seine 23 Gründungsmitglieder (Australien, Belgien, Brasilien, Burma, Kanada, Ceylon, Chile, Republik China, Kuba, Frankreich, Indien, Libanon, Luxemburg, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Pakistan, Südrhodesien, Südafrikanische Union, Syrien, Tschechoslowakei, Vereinigtes Königreich sowie die USA) auch als „Vertragsparteien“ und nicht als Mitgliedsstaaten bezeichnet wurden. Die Bundesrepublik Deutschland trat am 1. Oktober 1951 diesem Vertragssystem bei. Österreich gehört dem GATT seit 19. Oktober 1951 an. Die Schweiz trat 1966 als Vollmitglied bei, wobei sie erklärte, dass das Zollgebiet der Schweiz das Gebiet des Fürstentums Liechtenstein wegen der Zollunion mit der Schweiz einschliesst, solange der Zollanschlussvertrag in Kraft steht. 1994 trat Liechtenstein als eigenständiges Mitglied bei. Alle Mitglieder der Welthandelsorganisation (WTO) sind auch Vertragspartner des GATT. Sitz des GATT-Sekretariats war, bis zu seiner Ablösung durch die WTO 1995, Genf. Die WTO als Dachorganisation des GATT hat auch heute noch ihren Hauptsitz dort. Es stellt eine internationale Vereinbarung über den Welthandel dar. Bis 1994 wurden in acht Verhandlungsrunden Zölle und andere Handelshemmnisse Schritt für Schritt abgebaut. Durch das GATT ist im Verlauf der Geschichte der Grundstein zur Gründung der Welthandelsorganisation (WTO 1995) gelegt worden, in die es heute noch eingegliedert ist. Damals gehörten dem Abkommen 123 gleichberechtigte Mitgliedsländer an. Zur Unterscheidung zwischen dem ursprünglichen und dem heutigen Übereinkommen im Rahmen der WTO wird in der Regel die Jahreszahl 1947 (GATT 1947) bzw. 1994 (GATT 1994) hinzugefügt. Geschichtlicher Hintergrund Der Beginn des GATT liegt 1944 in den USA, als die Bretton-Woods-Konferenz stattfand, an der 44 Staaten teilnahmen. Diese ist für die Einrichtung eines festen Wechselkurssystems verantwortlich, gründete den Internationalen Währungsfonds (IWF) sowie die Weltbank. In einem Punkt jedoch konnte keine Einigung erzielt werden: Bei der Gründung einer Welthandelsorganisation. Stattdessen entwickelte die Bretton-Woods-Konferenz ein Vertragswerk, das 1948 in Kraft trat: Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT). Die administrative Leitung unterlag dem GATT-Sekretariat und dessen Vorsitzendem, dem Generaldirektor des GATT, welches u. a. die Welthandelsrunden organisierte. Aufgabenbereiche Durch das GATT wurde festgelegt, dass Zölle, Abgaben und andere Hemmnisse im internationalen Handel abgebaut werden müssen. Dadurch sollten Welthandel und Weltwirtschaft gefördert werden. Hieraus resultierten zwei Prinzipien: Erstens die Meistbegünstigungsklausel (Prinzip der Gleichbehandlung), bei der allen Handelspartnern eines Landes gleiche Zollvergünstigungen gewährt werden. Zweitens das Verbot der Diskriminierung, bei dem erlassene Ausnahmen vom Verbot mengenmäßiger Beschränkungen für alle gelten. Des Weiteren sollte durch das GATT ein Prozess zur Lösung von internationalen Handelskonflikten etabliert werden. Die Maßnahmen konzentrierten sich vornehmlich auf den Güterhandel. Ausnahmen von den GATT-Prinzipien sind auch möglich, wie zum Beispiel vom Meistbegünstigungsprinzip innerhalb einer Zollunion oder Freihandelszone, wie etwa der Europäischen Union. Auch Nachbarländern und Entwicklungsländern können besondere Handelspräferenzen eingeräumt werden. Grundsätze der Gleichbehandlung („Antidiskriminierung“) Benachteiligungen beim Handel sollen im Wesentlichen durch drei Prinzipien verhindert werden: Nach dem Meistbegünstigungsprinzip in Art. I GATT müssen Handelsvorteile, die einem Vertragspartner gewährt werden, auch für alle anderen Vertragspartner gelten. Im Widerspruch zum Meistbegünstigungsprinzip steht das Prinzip der Reziprozität (Gegenseitigkeit), das auch in einigen Regeln verankert ist. Nach dem Prinzip der Inländerbehandlung in Art. III GATT müssen ausländische und inländische Anbieter grundsätzlich gleich behandelt werden. Nach dem Kontingentverbot sind mengenmäßige Beschränkungen bei Importen oder Exporten grundsätzlich nicht zulässig. Ausnahmen Art. XIV erlaubt Ausnahmen vom Meistbegünstigungsprinzip. Art. XII erlaubt Beschränkungen zum Schutz der Zahlungsbilanz. Art. XIX erlaubt Notstandsmaßnahmen bei der Einfuhr bestimmter Waren, um zu verhindern, dass inländischen Erzeugern ernsthafter Schaden zugefügt wird. Diese Ausnahme wurde unter GATT 1947 häufig angewandt, ist in GATT 1994 jedoch durch ein zusätzliches Übereinkommen stärker reglementiert. Art. XXV:5 erlaubt unter außergewöhnlichen, nicht vorgesehenen Umständen, dass eine Vertragspartei von einer Verpflichtung befreit wird. Über eine solche Ausnahme entscheiden die Vertragsparteien mit Zweidrittelmehrheit. Art. XX regelt allgemeine Ausnahmen. Unter dem Vorbehalt, dass es nicht willkürlich stattfindet oder zu einer verschleierten Beschränkung des internationalen Handels führt, dürfen die Vertragsparteien unter anderem folgende Maßnahmen durchführen: Maßnahmen zum Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen; Maßnahmen hinsichtlich der in Strafvollzug hergestellten Waren; Maßnahmen zum Schutz nationalen Kulturgutes von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert. Und unter bestimmten Bedingungen: Maßnahmen zur Erhaltung erschöpflicher Naturschätze; Maßnahmen zur Durchführung von Verpflichtungen im Rahmen eines zwischenstaatlichen Grundstoffabkommens; Maßnahmen, die Beschränkungen der Ausfuhr inländischer Rohstoffe zur Folge haben. Art. XXIV regelt Ausnahmen von Freihandelszonen und Zollunionen. Verhandlungsrunden Von 1948 bis 1994 wurden durch das GATT die Regeln für einen Großteil des Welthandels festgelegt. In dieser Zeit gab es acht mehrjährige Verhandlungsrunden (u. a. in Frankreich, Großbritannien, Belgien und Marokko). Diese kontinentübergreifenden Treffen nahmen 1948 in Havanna (Kuba) ihren Anfang. Es stellte sich heraus, dass GATT das einzige multilaterale Instrument war, um den internationalen Handel kontrollieren zu können. In den Anfangsjahren konzentrierten sich die Handelsrunden auf Senkung der Zölle. Die sogenannte Kennedy-Runde (1964–1967) ergab ein Anti-Dumping-Abkommen zur Vermeidung von Preisverfall und eine Lektion zur Entwicklung. In den 70ern stellte die Tokio-Runde den ersten bedeutenden Versuch dar, sich internationalen Handelsbarrieren zu widersetzen. Als letzte und umfangreichste Verhandlungsrunde führte die Uruguay-Runde (1986–1994) zur Gründung der WTO und einem neuen Katalog von Vereinbarungen. Die Tokio-Runde Die Tokio-Runde (1973–1979) stellte einen ersten Versuch dar, das internationale Handelssystem zu reformieren. Es wurden Bemühungen fortgesetzt die Handelszölle weiter zu senken. Ein Resultat war die durchschnittliche Senkung der Zollgebühren für industriell gefertigte Produkte auf rund 4,7 %. Dies geschah nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit: je höher der Zoll, umso höher die Kürzung. In anderen Verhandlungsschwerpunkten traten Unstimmigkeiten zwischen den Teilnehmern auf. Ein Streitpunkt war die Reformierung des landwirtschaftlichen Handels. Dennoch einigte man sich über eine Reihe von Abkommen, die zollfreie Staatsgrenzen betrafen. In vielen Fällen unterzeichnete nur eine geringe Zahl von GATT-Mitgliedern diese Vereinbarungen, inoffiziell deshalb als Codes bezeichnet. Mehrere Codes wurden in der Uruguay-Runde überarbeitet und in multilaterale Verpflichtungen umgewandelt. Die Uruguay-Runde Der Grundstein zur Uruguay-Runde wurde im November 1982 auf einem Treffen der Abgesandten in Genf gelegt. Das verabschiedete Arbeitsprogramm wurde zur Basis der in Uruguay verhandelten Agenda. Im September 1986 begannen in Punta del Este (Uruguay) die Verhandlungen. Sie beinhalteten ausstehende handelspolitische Probleme. Das Handelssystem wurde auf mehrere neue Bereiche ausgedehnt, um den Handel in den sensiblen Bereichen Landwirtschaft und Textilindustrie zu verbessern. Neben diesen Punkten wurden alle ursprünglichen GATT-Texte besprochen. Dieser bis dahin größte Verhandlungsauftrag sollte über einen Zeitraum von vier Jahren vervollständigt werden. Nach der Hälfte der Zeit fand ein Treffen der Beauftragten in Montreal (Kanada, 1988) statt, um die Fortschritte des Auftrages zu bewerten. In diesen Gesprächen konnte jedoch keine Einigung erzielt werden. Aus diesem Grund fand im folgenden April ein erneutes Treffen der Offiziellen in Genf statt. Am Ende der Verhandlungen stand ein Paket von Beschlüssen fest. Um die Entwicklungsländer zu fördern, wurden Zugeständnisse in der Markttransparenz für tropische Produkte gemacht. Zur schnellen Beseitigung von Streitigkeiten unter den Handelspartnern wurden ein Konfliktsystem sowie ein Prüfmechanismus für die Handelspolitik eingeführt. In landwirtschaftlichen Fragen wurden dagegen kaum Ergebnisse erzielt, und man beschloss, die Gespräche später fortzusetzen. Letztendlich entstand ein erster Entwurf der endgültigen rechtlichen Übereinkunft, der „Final Act“. Dieser wurde von dem späteren Generaldirektor des GATT Arthur Dunkel übersetzt und im Dezember 1991 in Genf vorgelegt. Der Text erfüllte alle Aspekte der Uruguay-Runde mit einer Ausnahme: Die Liste der Verpflichtungen zum Beschneiden der Importsteuern und Öffnung ihrer Dienstleistungsmärkte (siehe auch GATS, engl. General Agreement on Trade in Services). Der Entwurf wurde zur Basis für den endgültigen Beschluss. Im Juli 1993 gaben die USA, Japan, die EU und Kanada bekannt, dass wichtige Fortschritte in den Zollverhandlungen ähnlicher Bereiche (Marktzugang) erzielt wurden. Es dauerte bis zum 15. Dezember 1993, bis jedes Problem gelöst wurde und die Verhandlungen über den Marktzugang von Gütern und Dienstleistungen endeten. Das Abkommen wurde am 15. April 1994 in Marrakesch (Marokko) von den Abgeordneten der 123 teilnehmenden Staaten unterzeichnet. Doha-Runde Als Doha-Runde wird ein Paket von Aufträgen bezeichnet, die die Wirtschafts- und Handelsminister der WTO-Mitgliedstaaten 2001 auf ihrer vierten Konferenz in Doha bearbeiten und bis 2005 abschließen sollten. Nach etlichen Verhandlungsrunden gilt die Doha-Runde seit 2016 als gescheitert. Ergebnisse Die im Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen beschlossenen Aktionen stellten lediglich ein Provisorium dar. Dennoch konnte 47 Jahre lang die Liberalisierung des Welthandels gefördert und gesichert werden. Die fortwährende Minimierung der Zölle regte zwischen den 50er und 60er Jahren sehr hohe Wachstumsraten des Welthandels an. Infolgedessen konnte ein durchschnittliches Wachstum von 8 % pro Jahr erreicht werden. Während der GATT-Ära überstieg das Handelswachstum durch die Handelsliberalisierung das Produktionswachstum. Die Stabilität dieses Handelssystems verursachte einen Anstieg der Mitgliederzahl seit der Uruguay-Runde. Die Reformen bewirkten eine nachhaltige Verbesserung und Entwicklung der internationalen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen. Für die Gründung der WTO wurden die Errungenschaften der GATT-Verhandlungen als Dachvertrag genutzt und bestehen noch heute. Die GATT-Regelungen setzen sich aus den ursprünglichen Verträgen von 1947 (GATT 1947), den aktualisierten Satzungen der Uruguay-Runde und den abschließenden Änderungen von 1994 ((GATT 1994), Marrakesch) zusammen. Heutzutage kontrolliert die WTO den internationalen Güterhandel. Literatur GATT 1994 and 1947. Geneva : World Trade Organization, 52 Aufl. 1999, ISBN 92-870-1165-6 Wimmer/Müller: „Wirtschaftsrecht. International – Europäisch – National“, 1. Auflage (2007), Springer Wien-New York ISBN 3-211-34037-8 Christiane A. Flemisch: Umfang der Berechtigungen und Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen. Die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit, dargestellt am Beispiel des WTO-Übereinkommens, Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main; Berlin; Bruxelles; New York; Oxford; Wien; 2002, ISBN 3-631-39689-9 Johann Wagner: „Direkte Steuern und Welthandelsrecht: Das Verbot ertragsteuerlicher Exportsubventionen im Recht der WTO“. Nomos, Baden-Baden 2006. ISBN 3-8329-1804-3. Weblinks GATT 1947 (englisch) GATT 1994 (englisch) Einzelnachweise Zollpolitik Abkommen der Welthandelsorganisation Vertrag (20. Jahrhundert) Politik 1994 Politik 1947 Welthandelsrecht
1866
https://de.wikipedia.org/wiki/Gibraltar
Gibraltar
Gibraltar (deutsch [ɡiˈbʁaltaʁ], [], []) ist ein britisches Überseegebiet an der Südspitze der Iberischen Halbinsel. Es steht nach dem spanischen Erbfolgekrieg seit 1704 unter der Souveränität des Königreichs Großbritannien bzw. des Vereinigten Königreichs und wurde 1713 von Spanien offiziell im Frieden von Utrecht abgetreten, wird jedoch seitdem von Spanien beansprucht. Geographie Gibraltar ist eine Halbinsel, die die Bucht von Algeciras östlich begrenzt, und liegt an der Nordseite der Straße von Gibraltar, an der Europa und Afrika sich am nächsten sind. Das Territorium umfasst eine Landfläche von 6,5 km², wobei die Grenze zwischen Gibraltar und Spanien nur 1,2 Kilometer lang ist. Auf der spanischen Seite der Grenze liegt die Stadt La Línea de la Concepción. Die von Gibraltar beanspruchte Meeresfläche reicht bis zu drei Seemeilen vor die Küste. Geologie Gibraltar besteht aus einem flachen, größtenteils sandigen Gebiet und dem Felsen von Gibraltar. Der an der Ostseite spektakulär steil aus dem Meer aufragende Kalksteinfelsen (engl. Upper Rock, span. Peñón) fällt schon von weitem über der Bucht von Algeciras ins Auge. Er ist von Nord nach Süd etwa 4 Kilometer lang und bis zu 1,2 Kilometer breit. Die Spitze des Felsens erreicht eine Höhe von 426 m. Er besteht hauptsächlich aus dem im Jura gebildeten Kalkstein und ist damit älter als die benachbarten südspanischen Felsen. Der flache Teil Gibraltars konnte durch Landgewinnung etwas vergrößert werden. Das Material stammt zum großen Teil aus dem Inneren des Felsens, wo es beim Bau der insgesamt etwa 50 Kilometer Tunnel anfiel. Neben den künstlichen Hohlräumen besitzt der Felsen eine ganze Reihe von natürlich entstandenen Höhlen. Klima Das Wetter in Gibraltar wird wesentlich durch den Levante (Ostwind) und den Poniente (Westwind) bestimmt. Diese lokalen Winde entstehen durch das Atlas-Gebirge im Süden und die Sierra Nevada im Norden. Boden und Flächennutzung Gibraltar gliedert sich in das Naturschutzgebiet Upper Rock, das Stadtgebiet, die Ostseite und den zu Gibraltar gehörenden Teil des Mittelmeeres, insbesondere der Bucht von Gibraltar. Das Naturschutzgebiet wurde am 1. April 1993 gegründet und ist gegen Gebühr zu besichtigen. Die Stadt Gibraltar erstreckt sich auf dem schmalen Streifen der Westseite, auf der der Felsen flacher zum Meer abfällt. Während die Westseite stark bevölkert ist, leben auf der Ostseite nur wenige Menschen in den beiden Dörfern Catalan Bay und Sandy Bay. Im Norden der Halbinsel befinden sich an der Grenze zu Spanien der Flughafen, einige militärische Einrichtungen und ein Friedhof für Gefallene aus den Weltkriegen. Im Nordwesten ist ein modernes, mit Hochhäusern bebautes Viertel entstanden, in dem auch eine Marina und Terminals für Fähren gebaut wurden. Südlich davon findet sich am Ufer der Militärhafen und ein Industriegebiet, in dem zum Beispiel einige Trockendocks vorzufinden sind. Das touristische Zentrum im Westen ist die Main Street und die umliegenden Straßen und Plätze, die teilweise autofrei sind. Da es keine natürlichen Süßwasservorkommen gibt, wurde lange Zeit Regenwasser aufgefangen und, wo möglich, Salzwasser verwendet. So entstand beispielsweise 1908 ein 130.000 m² großes Auffangbecken für Regenwasser auf der Ostseite der Halbinsel, das allerdings inzwischen abgebaut wurde. Heute wird das benötigte Süßwasser durch Meerwasserentsalzung produziert. Fauna und Flora Neben dem Naturschutzgebiet Upper Rock ist auch das gesamte Meeresgebiet von Gibraltar seit dem 1. Januar 1996 unter Schutz gestellt. Gibraltar ist der einzige Ort in Europa, an dem Affen (Tierart: Berberaffe oder Magot, Macaca silvanus) freilebend vorkommen. Deswegen nennt man Gibraltar auch den „Affenfelsen“. Die Affen werden zwar allgemein als freilebend bezeichnet, führen aber eher eine Existenz nach Art eines Lebens im Wildpark, bei dem sie regelmäßig von Menschen gefüttert werden. Sehenswürdigkeiten Der Fels von Gibraltar mit dessen Aussichtspunkten Die Berberaffen: Die Herkunft dieser Tiere ist nicht genau geklärt, wahrscheinlich wurden sie irgendwann aus Marokko von Menschen eingeführt. Allerdings waren Berberaffen früher auch in Süd- und Mitteleuropa heimisch, die Affen von Gibraltar könnten also auch von europäischen Vorfahren abstammen. Eine Legende besagt, dass die britische Herrschaft in Gibraltar beendet sei, sobald der letzte Affe den Felsen verlassen hätte. Hintergrund dieser Legende ist eine Geschichte aus der Zeit der Belagerung Gibraltars von 1779 bis 1783 (während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges): Damals sollen die Engländer von den Tieren vor einem Nachtangriff der Spanier und Franzosen gewarnt worden sein. Der britische Premierminister Winston Churchill ließ Berberaffen aus Marokko importieren, um den vermutlich wegen Inzucht kränkelnden Affenstamm wieder zu stärken, und hatte damit Erfolg. Die Tropfsteinhöhle St. Michael’s Cave Die Gorham-Höhle mit Neandertaler-Funden. Die in den Felsen geschlagenen Verteidigungsanlagen der Belagerung von 1779 bis 1783 (Great Siege Tunnels) Die Tunnelanlage und Geschützstellungen aus dem Zweiten Weltkrieg. Die „Main Street“ zum Einkauf weitgehend steuerfreien Alkohols und preisgünstiger Tabakwaren; an der Straße die römisch-katholische Kathedrale von Gibraltar Im Süden der Stadt liegt der kleine Trafalgar-Friedhof An der Südspitze des Felsens, dem Europa Point – die Südspitze der iberischen Halbinsel befindet sich allerdings nicht hier, sondern rund 25 km südwestlich (→ Punta de Tarifa) –, stehen der 1841 eröffnete Leuchtturm von Gibraltar (Gibraltar Trinity Lighthouse) und das Heiligtum Unserer Lieben Frau von Europa. In den 1990er-Jahren wurde hier die Ibrahim-al-Ibrahim-Moschee, eine der größten Moscheen in einem nichtislamischen Land, errichtet. Vier orthodoxe Synagogen, davon eine mit Glocke. das Gibraltar North Mole Lighthouse Demografie Gibraltar ist eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Erde. 32.577 Personen wohnen in Gibraltar. Die Bevölkerungsdichte beträgt 5012 Einwohner pro Quadratkilometer (2012), die unbesiedelten Gebiete von Upper Rock mitgerechnet. Mittels Landgewinnung wird versucht, der Platznot Herr zu werden. Überalterung ist seit den 1990er-Jahren ein immer größer werdendes Problem. Die Lebenserwartung der Bewohner liegt bei 78,5 Jahren für Männer, und 83,3 Jahren für Frauen. Die Geburtenrate liegt bei jährlich 10,67 Geburten pro 1000 Einwohner. Auf eine Frau kommen im Schnitt 1,65 Neugeborene. Die Kindersterblichkeit liegt bei 0,483 %. Das Bevölkerungswachstum ist mit 0,11 % pro Jahr sehr niedrig. Bevölkerungsentwicklung Ethnien Die meisten Einwohner Gibraltars sind britischer, spanischer, italienischer oder portugiesischer Herkunft. Alle Gibraltarer haben einen britischen Pass. Die Ausländerbehörde stellt Einwanderern zusätzlich zu ihrer alten Staatsbürgerschaft einen britischen Pass für Gibraltar aus. Gemäß einer Analyse der Familiennamen im Wählerregister von 1995 waren 27 % britischer, 26 % spanischer (meist andalusischer, jedoch 2 % menorquinischer), 19 % italienischer, 11 % portugiesischer, 8 % maltesischer, 3 % israelischer Herkunft. Weitere 4 % kamen aus anderen Staaten, während bei 2 % die Herkunft nicht eruierbar war. Religion Der Großteil der Bevölkerung ist mit über 78 Prozent katholisch. Das Gebiet Gibraltars bildet das Bistum Gibraltar; als Nationalheiligtümer werden die Kathedrale St. Mary the Crowned und das Heiligtum Unserer Lieben Frau von Europa angesehen. An zweiter Stelle folgt konfessionell die Anglikanische Kirche mit rund sieben Prozent der Bevölkerung. Die Cathedral of the Holy Trinity ist Bischofskirche der Diözese in Europa der Church of England für ganz Kontinentaleuropa. Für die vier Prozent Muslime steht mit der Ibrahim-al-Ibrahim-Moschee eine der größten Moscheen Europas als Versammlungsraum zur Verfügung. Weiter wohnen in Gibraltar auch Angehörige weiterer christlicher Konfessionen (3 %), Juden (2 %), Hindus (2 %) und Anhänger mehrerer anderer Religionen. Sprachen Einzige Amtssprache Gibraltars ist Englisch, die meisten Einwohner sprechen daneben auch Spanisch. Obgleich nur Englisch offiziellen Charakter besitzt, sind viele Verkehrs-, Straßen- und Hinweisschilder zusätzlich in spanischer Sprache beschriftet. Darüber hinaus sprechen viele Einwohner als Umgangssprache Llanito, einen Dialekt, der größtenteils auf andalusischem Spanisch basiert, jedoch auch einige Elemente des Englischen und verschiedener südeuropäischer Sprachen enthält. Geschichte Natürliche Höhlen im Felsen von Gibraltar gelten als die letzten Rückzugsgebiete der Neandertaler in Europa. Gesicherte Spuren weisen auf eine Besiedlung der Gorham-Höhle noch vor etwa 28.000 Jahren hin. Im Altertum galt Gibraltar als eine der Säulen des Herakles. Karthagische und römische Spuren in Gibraltar (lat. Mons Calpe) sind nicht bekannt. Den Römern folgten die Westgoten, die sich der Iberischen Halbinsel bemächtigten. 711 wurde Gibraltar von den muslimischen Arabern und Berbern eingenommen. Der Name Gibraltar stammt aus dem Arabischen ( Dschabal Ṭāriq, „Berg des Tarik“), nach Tāriq ibn Ziyād, einem maurischen Feldherrn, der die strategische Bedeutung Gibraltars für die Eroberung Spaniens erkannte. Um etwa 1160 entstand eine erste Festung in Gibraltar, die in den kommenden Jahrhunderten ausgebaut wurde und heute als Moorish Castle bekannt ist. Die Muslime beherrschten Gibraltar bis zur Reconquista 1462 (von 1309 bis 1333 erstmals kastilisch durch Ferdinand IV.). Am 25. April 1607 fand während des Achtzigjährigen Krieges die Schlacht bei Gibraltar statt. Dabei überraschte eine niederländische Flotte eine in der Bucht von Gibraltar ankernde spanische Flotte und vernichtete sie. Nachdem die spanischen Habsburger die Vorherrschaft in Europa am Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 verloren hatten, kämpften Niederländer und Engländer um die Kontrolle der Ozeane. Dies war die Zeit der vier Englisch-Niederländischen Seekriege, die in der Zeit zwischen 1652 und 1784 stattfanden. So wurde beispielsweise der Zweite Englisch-Niederländische Seekrieg dadurch ausgelöst, dass ein niederländischer Geleitzug im Dezember 1664 in der Straße von Gibraltar von den Engländern überfallen wurde. Zwischen diesen Auseinandersetzungen kam es immer wieder zu Friedensschlüssen und gemeinsamen Aktionen gegen Dritte. Eine dieser gemeinsamen Aktionen war die Eroberung Gibraltars am 4. August 1704 durch Prinz Georg von Hessen-Darmstadt im Spanischen Erbfolgekrieg an Bord der englisch-holländischen Flotte unter Admiral Sir George Rooke. Die spanische Besatzung wurde dabei in Abwandlung militärischer Taktik nicht im Morgengrauen, sondern während der Siesta am Nachmittag überrascht. Die anschließende Belagerung Gibraltars durch Spanien blieb erfolglos. 1713 wurde das Gebiet im Vertrag von Utrecht formell den Briten zugesprochen und ist seit 1830 britische Kronkolonie. Während des Englisch-Spanischen Krieges von 1727–1729 belagerten Truppen von Philipp V. vergeblich Gibraltar. Zwischen 1779 und 1783 versuchten spanische und französische Truppen erneut, die Festung zu erobern (Great Siege). In dieser Zeit wurden die ersten Tunnel, die sogenannten Great Siege Tunnels, gegraben. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Zivilbevölkerung Gibraltars nach Madeira umgesiedelt. In dieser Zeit wurde der Felsen in eine unterirdische Festung für bis zu 15.000 Soldaten umgewandelt. Die Tunnel, die sogenannten World War II Tunnels, können heute in Teilen besichtigt werden. Ziel dieser Befestigung war es, einem möglichen Angriff der deutschen Wehrmacht begegnen zu können. Diese hatte mit einem ersten Operationsentwurf vom 20. August 1940 die Eroberung des Stützpunktes geplant. Das Unternehmen Felix wurde jedoch nie durchgeführt, da Spanien neutral blieb. Bei einem Vergeltungsschlag für die britische Operation Catapult in Mers-el-Kébir bombardierten Luftstreitkräfte des restfranzösischen Vichy-Regimes Gibraltar am 5. Juli 1940. Vor Beginn der anglo-amerikanischen Invasion Französisch-Nordafrikas, der Operation Torch, schlug der US-amerikanische General Dwight D. Eisenhower sein Hauptquartier am 5. November 1942 in Gibraltar auf. Drei Tage später begann die Invasion Marokkos mit 300.000 Soldaten. Letzten Endes blieb Gibraltar der einzige Teil des nichtneutralen westeuropäischen Festlands, der zu keiner Zeit von NS-Deutschland oder seinen Verbündeten besetzt war. Vor Gibraltar kam der Premierminister der polnischen Exilregierung, General Władysław Sikorski, bei einem Flugunfall am 4. Juli 1943 ums Leben. Die Straße von Gibraltar, die das Mittelmeer mit dem Atlantik verbindet, ist für das Militär von großer Bedeutung. Das Vereinigte Königreich unterhält in Gibraltar einen Flottenstützpunkt. Seit langem kommt es zu Spannungen zwischen dem Vereinigten Königreich und Spanien, weil Spanien die Hoheit über Gibraltar wiedererlangen möchte. Die Grenze nach Spanien war von 1969 bis 1985 geschlossen. Seit 1946 steht das Territorium auf der UN-Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung. Bei einem Referendum am 7. November 2002 (Wahlbeteiligung: fast 90 %) stimmten 99 % der Abstimmenden für einen Verbleib unter britischer Herrschaft. Nur 187 Bewohner waren für eine geteilte Souveränität. Am 18. September 2006 schlossen der Außenminister Spaniens und der Europaminister des Vereinigten Königreichs sowie der Chief Minister of Gibraltar Peter Caruana in Córdoba einen Vertrag zur Zusammenarbeit. Darin wird festgelegt, dass ein neues Terminal für den Flughafen Gibraltar gebaut wird, sodass der Flughafen auch von spanischer Seite aus genutzt werden kann. Außenminister Spaniens war damals Miguel Ángel Moratinos (Kabinett Zapatero I), Europaminister des Vereinigten Königreichs war Geoff Hoon (Kabinett Blair III). Ab dem 16. Dezember 2006 gab es (zum ersten Mal seit Jahrzehnten) einen Linienflug von Spanien nach Gibraltar (Näheres hier). Außerdem wurden Regelungen über das Telefonnetz, die Entschädigung von spanischen Arbeitern, die nach der Schließung der Grenze 1969 ihre Arbeit verloren hatten, und eine Erleichterung der Grenzkontrollen auf der Landseite getroffen. Weiterhin soll eine Dépendance des Instituto Cervantes in Gibraltar eröffnet werden. Am 21. Juli 2009 kam Außenminister Moratinos als erster Vertreter der spanischen Regierung seit Beginn der britischen Souveränität über Gibraltar zu einem offiziellen Besuch nach Gibraltar. Politik Verhältnis zum Vereinigten Königreich Gibraltar ist ein Überseeterritorium des Vereinigten Königreichs. Es hat eine eigene Regierung, die die Aufgaben der Selbstverwaltung erfüllt. Sie umfasst alle Bereiche außer Verteidigung, Außenpolitik und innere Sicherheit, die vom Vereinigten Königreich übernommen werden. Staatsoberhaupt ist der britische König; er wird in Gibraltar durch einen Gouverneur repräsentiert. Der Gouverneur ist gleichzeitig der Oberbefehlshaber der Armee und der Polizei. Der amtierende Gouverneur David Steel wurde im Juni 2020 ernannt. Im November 2006 stimmten über 60 Prozent der gibraltarischen Bevölkerung für eine neue Verfassung, die größere Eigenständigkeit vorsieht, insbesondere im Justizwesen. Verhältnis zu Spanien Seit 1704, als die Englische Krone die Herrschaft über die Halbinsel erlangte und im Vertrag von Utrecht 1713 zugesichert bekam, versucht Spanien, die britische Kolonie zurückzuerlangen. Im 18. Jahrhundert wurde dies mit militärischen Mitteln versucht, nämlich in den drei Belagerungen von 1704, 1727 und 1779–1783, allesamt erfolglos. Im 19. Jahrhundert waren weitere militärische Aktionen gegen Großbritannien infolge seiner weltweiten politischen und militärischen Dominanz aussichtslos und unterblieben daher. Obwohl Spanien in den Abkommen von Cartagena (1907) die britische Herrschaft anerkannt und bestätigt hatte, unternahm in den 1950er Jahren der spanische Diktator Francisco Franco neue Versuche, Gibraltar zu annektieren, wobei er auch den Exilpräsidenten Spaniens, Claudio Sánchez Albornoz, auf seiner Seite hatte. Seither fanden mehrere Verhandlungsrunden statt, die aber zu keiner abschließenden Lösung führten. In zwei Volksabstimmungen, in denen Gibraltar über einen Wechsel zu Spanien entschied, wurden die Vorschläge überaus deutlich verworfen: Am 10. September 1967 mit 12.138 zu 44 Stimmen und am 7. November 2002 mit 17.900 zu 187 Stimmen. 2002 war nur über eine gemeinsame britisch-spanische Ausübung der Souveränitätsrechte über Gibraltar abgestimmt worden. Durch verschiedene Repressionen hatte sich Spanien bei den Einwohnern Gibraltars unbeliebt gemacht, darunter die jahrelange komplette Schließung der Grenze (vom 9. Juni 1969 bis zum 4. Februar 1985), auch danach gab es oft lange Wartezeiten am Grenzübergang, Beschränkungen beim Zugang zu Telekommunikationsmitteln oder Versuche, Gibraltars Bevölkerung von der Teilnahme an internationalen Sportanlässen auszuschließen. Zwischen 2009 und 2011 gab es auch kleinere Grenzzwischenfälle in den Hoheitsgewässern. Spanien war zwar zunächst von den Vereinten Nationen in dem Bestreben, die Souveränität über Gibraltar zu erlangen, unterstützt worden, da Gibraltar offiziell noch eine aufzulösende Kolonie ist, nach diesen Abstimmungen stellte Jim Murphy, britischer Minister, aber klar, dass das Vereinigte Königreich nichts ohne die explizite Zustimmung der Gibraltarer tun würde. Außerdem sei der rechtliche Status Gibraltars umstritten und somit auch sein Status als Kolonie. Inzwischen sieht die UNO Gibraltar als ein rein bilaterales Problem zwischen Großbritannien und Spanien an und überlässt es diesen Staaten, eine Lösung zu finden. Trotz der verbesserten Zusammenarbeit zwischen Spanien und dem britischen Überseegebiet herrscht bis in die heutige Zeit Uneinigkeit über die jeweiligen Hoheitsrechte vor der Küste Gibraltars. Spanien erkennt nur eine kleine Zone rund um den Hafen als britisch an und beruft sich dabei auf den Vertrag von Utrecht, das Vereinigte Königreich hingegen beansprucht unter Berufung auf dieselbe Urkunde eine Drei-Meilen-Zone, was wiederholt zu Zusammenstößen zwischen der spanischen Guardia Civil und britischen Patrouillenbooten führte. Am 18. November 2009 beobachtete die Guardia Civil, wie ein Schnellboot der britischen Marine sieben Seemeilen südlich von Gibraltar Schießübungen auf eine Boje mit der spanischen Flagge durchführte; der britische Botschafter Giles Paxman entschuldigte sich wenig später für „mangelndes Urteilsvermögen und fehlende Sensibilität“ der Schiffsbesatzung. Am 7. Dezember 2009 fuhr ein Boot der Guardia Civil bei der Verfolgung mutmaßlicher Drogenschmuggler bis in den Hafen von Gibraltar. Die spanischen Sicherheitskräfte machten dort zwar die zwei Insassen des flüchtenden Schnellbootes dingfest, wurden aber ihrerseits von der Gibraltar Squadron festgenommen. Der spanische Innenminister Alfredo Pérez Rubalcaba entschuldigte sich wenig später bei Gibraltars Chief Minister Peter Caruana für das „nicht korrekte Verhalten“ seiner Beamten. Diese wurden noch am selben Tag wieder auf freien Fuß gesetzt. Ende Juli 2013 ließ die Regierung von Gibraltar 70 je drei Tonnen schwere eisenbewehrte Betonklötze im Meer versenken. Fischer protestierten gegen die Klötze. Premierminister David Cameron bat etwa drei Wochen später in einem Telefongespräch mit EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso „dringend“ um die Entsendung von EU-Beobachtern an die Grenze. Juristisch umstritten ist auch der Verlauf der Landgrenze. De facto bildet der 1909 von Großbritannien errichtete Zaun, der etwa 800 Meter nördlich des Nordhangs des Felsens von Gibraltar verläuft, die Grenze. Dieser Grenzverlauf wird offiziell von Spanien nicht anerkannt, da nach dem Vertrag von Utrecht nur „die Stadt und die Burg von Gibraltar nebst dem zugehörigen Hafen und den zugehörigen Verteidigungsanlagen und Befestigungen“ abgetreten wurden. Das umstrittene Gebiet wird heute zum größten Teil vom Flughafen von Gibraltar eingenommen. Anders als die Frage der Küstengewässer hat die Landgrenze jedoch in den letzten Jahrzehnten keinen Anlass von tatsächlichen Auseinandersetzungen gegeben. Spanischerseits wird die De-facto-Grenze jedoch nicht als „Grenze“, sondern als la verja („der Zaun“) bezeichnet. Im November 2018 drohte die spanische Regierung damit, den EU-Gipfel am 25. November 2018 zu boykottieren. Grund war die Sorge Spaniens, man würde durch die Unterzeichnung des Brexit-Abkommens die Grenzen des Vereinigten Königreichs in ihrem derzeitigen Verlauf festschreiben. Da die spanische Regierung weiterhin auf ihren Gebietsanspruch insistiert, wollte diese es unbedingt vermeiden, einen Anspruch des Vereinigten Königreichs durch das Abkommen zu festigen. Nach diplomatischen Verhandlungen wurde der Vertrag am 24. November 2018 dahingehend konkretisiert, dass das Brexit-Abkommen keinerlei Verpflichtungen hinsichtlich des Geltungsbereichs schaffe. Die künftigen Abkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich müssten nicht zwingend für die im Austrittsabkommen genannten Gebiete gelten. Spanien gab infolgedessen die Bedenken gegen das Abkommen auf. Politisches System Die Bevölkerung Gibraltars wählt das siebzehnköpfige Gibraltar Parliament. Jeder Wähler hat zehn Stimmen. Eine Einteilung in Wahlkreise gibt es nicht. Da eine Personenwahl stattfindet, ist die Vertretung der Parteien nicht notwendigerweise proportional. Derzeit sind drei Parteien im Parlament vertreten. Der von einer Mehrheit unterstützte Kandidat wird vom Gouverneur zum Regierungschef (Chief Minister) ernannt. Außer diesem besteht die Exekutive noch aus dem Finanz- und dem Justizminister. Bei den Parlamentswahlen am 8. Dezember 2011 erhielt die Gibraltar Socialist Labour Party (GSLP) sieben Mandate, die Gibraltar Social Democrats (GSD) des früheren Chief Minister Peter Caruana trotz erheblich höherer Stimmenzahl ebenso nur sieben Sitze. Die Liberal Party of Gibraltar (Libs) ist mit drei Sitzen vertreten und bildet mit der GSLP eine Koalition, sodass die GSD derzeit in der Opposition ist. Die GSLP stellt mit Fabian Picardo den Chief Minister. Alle Parteien sind für Gibraltars Selbstregierung. Sowohl GSD als auch GSLP weigern sich, Vereinbarungen mit Spanien zu treffen, wobei die GSLP traditionell radikaler ist. Bis 2006 trug das Gremium den Namen House of Assembly. Die Namensänderung im Zuge der neuen Verfassung sollte auch das höhere Maß an Selbständigkeit ausdrücken, da House of Assembly ein wiederholt verwendeter Name in britischen Kolonien war. Es hatte auch 17 Mitglieder, aber nur 15 wurden von der Bevölkerung gewählt. Jeder Wähler hatte acht Stimmen, was oft dazu führte, dass die Parteien acht Kandidaten aufstellten mit der Bitte, alle zu wählen. Hierdurch erhielt die stärkste Fraktion in der Regel acht Sitze, die unterlegene Partei sieben Sitze. Verhältnis zur EU Im Gegensatz zu allen anderen Britischen Überseegebieten war Gibraltar bis zum 31. Januar 2020 mit dem Vereinigten Königreich Mitglied der Europäischen Union. Aus Sicht der Europäischen Union sind die Einwohner nicht Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs (EuGH C-145/04, 2006). Es gibt einige spezielle Regelungen: Gibraltar ist den freien Warenverkehr betreffend nicht Teil des EU-Binnenmarktes. Das Schengenrecht wird seit dem 1. Januar 2021 angewendet. Die EU-Bestimmungen zur Mehrwertsteuer finden in Gibraltar keine Anwendung. Gibraltar nimmt nicht an der Gemeinsamen Agrarpolitik und der Fischereipolitik teil. Im Jahr 2003 erhielten die Bewohner Gibraltars durch den European Parliament (Representation) Act 2003 das Wahlrecht für das Europäische Parlament, obwohl die Bürger keine Unionsbürger im Sinne des Art. 20 AEUV waren. Dies begründete der EuGH mit der engen Verbindung von Gibraltar zum Vereinigten Königreich. Bei den Europawahlen gehörte Gibraltar zum Europawahl-Wahlkreis South West England, der sieben Vertreter stellte (er bestand aus der Region South West England und Gibraltar). Bei der Europawahl 2004 nutzten 57,5 % der Wahlberechtigten Gibraltars ihr damaliges neues Recht. Damit lag die Wahlbeteiligung 18,6 Prozentpunkte über dem britischen Durchschnitt. Brexit Beim Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union 2016 stimmten 95,9 % für den Verbleib in der Europäischen Union (19.322 Stimmen), 4,1 % für den Brexit (823 Stimmen) – bei einer Wahlbeteiligung von 83,5 %. Gibraltar war damit der Stimmbezirk mit dem höchsten Stimmanteil für einen Verbleib in der EU. Mitte 2014 schlug José Manuel García-Margallo, damals Außenminister Spaniens im Kabinett Rajoy I, „eine britisch-spanische Ko-Souveränität“ für die Halbinsel vor. Dieser Status solle für einen begrenzten Zeitraum gelten, bis das britische Gebiet an Spanien zurückgegeben werde. In dieser Übergangszeit könnten die Einwohner Gibraltars britische Staatsbürger bleiben und eine besondere Steuerregelung erhalten. Die Idee einer geteilten Souveränität wurde bereits bei Verhandlungen zwischen London und Madrid in den Jahren 2001 und 2002 geprüft. Bei einem Referendum wurde sie von den Bürgern Gibraltars aber abgelehnt. Joseph García, stellvertretender Chefminister Gibraltars, gab an, die Position Gibraltars bezüglich Spaniens habe sich auch nach dem EU-Referendum nicht geändert. Man sehe sich als Briten; die Zukunft Gibraltars liege aber in der EU. Im langfristigen Handels- und Kooperationsabkommen, das die langfristigen Beziehungen zur EU regeln soll, wurde Gibraltar aufgrund seiner besonderen Situation ausgeklammert. Ende 2020, kurz vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus dem Europäischen Binnenmarkt, einigten sich Spanien und das Vereinigte Königreich jedoch überraschend darauf, dass Gibraltar zum 1. Januar 2021 dem Schengen-Raum beitritt. Die EU-Außengrenze wird sich dadurch an die Häfen und den internationalen Flughafen Gibraltars verlagern. Spanien ist für die Kontrolle der Außengrenze von Gibraltar verantwortlich. Wirtschaft Die Wirtschaft Gibraltars wird vor allem vom Tourismus bestimmt. 2017 zählte man 7,7 Mio. Ankünfte. Neben vielen Tagestouristen übernachten auch immer mehr Touristen in den zahlreichen Hotels. Daneben tragen das Offshore-Finanzwesen sowie Schiffbau und Schiffsreparatur mit jeweils etwa 25 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. An vierter Stelle steht der Telekommunikationsbereich, der zu etwa 10 Prozent am BIP beteiligt ist. Einen immer größeren Teil der Wirtschaft stellt die wachsende Zahl in Gibraltar angesiedelter internationaler Anbieter von Online-Sportwetten sowie -Casinos dar. Im Haushaltsjahr 2011/2012 betrug das Bruttoinlandsprodukt 1.169,37 Mio. £, das entsprach Mitte 2012 etwa 1,837 Mrd. US$. Im Staatshaushalt wurden seit 2004 regelmäßig Überschüsse erwirtschaftet, die jeweils zwischen 1,1 % und 4,1 % des BIP betrugen. So standen im Haushaltsjahr 2011/2012 Einnahmen von 454,6 Mio. £ lediglich Ausgaben von 420,3 Mio. £ gegenüber, was einem Haushaltsüberschuss von 2,93 % des BIP entsprach. Das Gibraltar-Pfund ist formal eine eigene Währung, ist aber in einem Verhältnis von 1:1 fest an das britische Pfund gebunden. Deswegen wird auch oft mit britischen Pfund bezahlt und weniger mit dem Euro. In einer Rangliste der wichtigsten Finanzzentren weltweit belegte Gibraltar den 66. Platz (Stand: 2018). Postwesen Für Postdienstleistungen war in Gibraltar ab 1886 das „Gibraltar Post Office“ zuständig. Im Jahre 2005 wurde ihm von der britischen Königin Elisabeth II. der Titel „Royal“ verliehen, sodass das Postwesen in Gibraltar nun in der Hand des „Royal Gibraltar Post Office“ liegt. Damit ist die Postgesellschaft von Gibraltar das einzige Postunternehmen außerhalb des britischen Mutterlandes, dem der Titel „Royal“ zuerkannt wurde. Das Royal Gibraltar Post Office gibt eigene Briefmarken heraus, deren Nominalwerte in Gibraltar-Pfund (GIP) ausgewiesen werden. Aufgrund der geographischen Limitierung sind die Briefmarken des „Royal Gibraltar Post Office“ bei Touristen und Sammlern sehr beliebt. Die Briefmarken weisen häufig das Motiv der britischen Königin Elisabeth II. auf. Postsendungen von Gibraltar in das Ausland (Ausnahme Spanien) werden zunächst nach London geflogen und von dort aus in ihre Bestimmungsstaaten weitertransportiert. Postsendungen für Spanien werden hingegen an der Landesgrenze der spanischen Post übergeben. Die gleiche Vorgehensweise gilt ebenfalls in umgekehrter Richtung für Postsendungen aus dem Ausland nach Gibraltar. Das Hauptpostamt ist in der Main-Street 104 zu finden. Verkehr Gibraltar verfügt über einen eigenen Flughafen, den Flughafen Gibraltar. Es handelte sich bis zum 31. März 2023 um den weltweit einzigen Flughafen, dessen Landebahn eine (vierspurige) Straße höhengleich kreuzte. Seither wird der Straßenverkehr im Kingsway Tunnel unter der Start- bzw. Landebahn geführt. Gibraltar ist ein sehr bedeutender Nachschubplatz für Schiffsdiesel im Mittelmeer. Im Jahre 2005 liefen 6662 hochseetaugliche Schiffe den Hafen an, 90 % von ihnen zum Tanken. In Gibraltar verkehren insgesamt neun Buslinien (Linien 1 bis 4 und 7 bis 9, betrieben durch die Gibraltar Bus Company, sowie die Linien 5 und 10, betrieben durch Calypso Transport). Die Beförderung auf den Linien der Gibraltar Bus Company ist kostenfrei für Inhaber bestimmter Ausweise, andere zahlen 2,50 Gibraltar-Pfund bzw. 3,30 Euro für ein Tagesticket. Auf den Linien von Calypso Transport kostet ein Tagesticket 6 Gibraltar-Pfund bzw. 9 Euro, Einzelfahrten kosten 1,40 Gibraltar-Pfund bzw. 2,10 Euro. In Gibraltar gilt wegen der geringen Größe und seiner Nähe zu Spanien seit dem Jahr 1929 der Rechtsverkehr. Von der Innenstadt zum Felsen (Upper Rock) gibt es eine regelmäßig verkehrende Seilbahn mit einer Zwischenstation. Die Winston Churchill Avenue ist die einzige Verbindung nach Spanien. Kultur Die gibraltarische Kultur ist stark beeinflusst durch die britische, die spanische und auch die marokkanische Kultur. Musikbands aus Gibraltar sind zum Beispiel Breed 77, The SoulMates und No Direction. Nationalfeiertag Der gibraltarische Nationalfeiertag ist der 10. September. Er erinnert damit an das Referendum am 10. September 1967, bei dem sich eine überwältigende Mehrheit der Bürger für einen Verbleib bei Großbritannien entschied. Viele Häuser werden mit der Flagge Gibraltars und rot-weißen Luftballons verziert. Von 1992 bis 2015 wurde an diesem Tag für jeden Bürger ein Ballon „in die Luft entlassen“, dieses Ritual ist 2016 wegen Naturschutzbedenken verboten worden. Bekannte Gibraltarer Henry Francis Cary (1772–1844), britischer Schriftsteller und Übersetzer Michael George Bowen (1930–2019), römisch-katholischer Erzbischof von Southwark Charles Caruana (1932–2010), römisch-katholischer Bischof von Gibraltar Albert Hammond (* 1944), Singer-Songwriter und Musikproduzent John Galliano (* 1960), britischer Modedesigner Karel Mark Chichon (* 1971), Dirigent Ava Addams (* 1979), Pornodarstellerin Misha Verollet (* 1981), Schriftsteller Kaiane Aldorino (* 1986), Miss World 2009 Maroua Kharbouch (* 1990), Schönheitskönigin Sport Die Fußballnationalmannschaft von Gibraltar existiert seit 1895 und belegte unter anderem beim FIFI Wild Cup den dritten Platz. Es wird jährlich eine nationale Meisterschaft ausgespielt. Gibraltar hat ein eigenes Fußballstadion, in dem sämtliche Ligaspiele sowie Länderspiele ausgetragen werden. Am 8. Dezember 2006 wurde der Fußballverband von Gibraltar vorläufig als UEFA-Mitglied aufgenommen. Eine definitive Abstimmung erfolgte am 26. Januar 2007 in Düsseldorf – dort wurde der Antrag Gibraltars zur UEFA-Mitgliedschaft abgelehnt. Nach einem Urteil des Internationalen Sportgerichtshofs CAS vom August 2011 musste die Entscheidung revidiert und Gibraltar ab 1. Oktober 2012 erneut als vorläufiges Mitglied aufgenommen werden. Daraufhin wurde Gibraltar als eigenständiger Nationalverband bei den Auslosungen zur EM der U-17, der U-19 und zum UEFA Futsal Cup berücksichtigt. Die endgültige Aufnahme wurde im Rahmen des 37. UEFA-Kongresses am 24. Mai 2013 in London beschlossen. Per Exekutiv-Entscheid ist auch als Vollmitglied ein Aufeinandertreffen von Mannschaften aus Spanien und Gibraltar in Gruppenspielen nicht zulässig. Am 19. November 2013 bestritt die Nationalmannschaft im portugiesischen Faro ihr erstes offizielles Länderspiel gegen ein anderes UEFA-Mitglied. Die Partie gegen die Slowakei endete 0:0. Die Qualifikation zur Fußball-Europameisterschaft 2016 war das erste Turnier, bei dem Gibraltar um die Teilnahme spielte. Das erste Spiel gegen Deutschland fand am 14. November 2014 in Nürnberg statt und endete 4:0 für Deutschland. Ähnlich der Entwicklung zur UEFA-Aufnahme Gibraltars hatte die CAS über die Aufnahme Gibraltars bei der FIFA zu entscheiden. Vor allem Spanien wehrte sich, wie ehedem bei der Aufnahme in die UEFA, gegen eine Mitgliedschaft Gibraltars. Zugleich wurde argumentiert, dass Gibraltar kein in sich freies Land wäre und damit die Voraussetzungen für eine Aufnahme in die FIFA nicht erfüllt wären. Die CAS urteilte, dass die FIFA baldmöglichst alle Voraussetzungen zu schaffen hätte, Gibraltar als Vollmitglied aufnehmen zu können. Gibraltar wurde 2016 in die FIFA aufgenommen. Auch in anderen Sportarten kämpfen die Nationalmannschaften Gibraltars um internationale Anerkennung. Rugby und Cricket haben sich auf Grund der Historie Gibraltars etabliert. Im Cricket wird am europäischen Wettbewerb teilgenommen. Special Olympics Gibraltar wurde 1985 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs vom Landkreis München mit den Gemeinden Oberhaching und Taufkirchen betreut. Medien Die Gibraltar Broadcasting Corporation (GBC) betreibt einen eigenen Radio- und Fernsehsender für Gibraltar. Die örtliche Variante des britischen Soldatensenders British Forces Broadcasting Service ist sowohl online als auch über Eutelsat 10A zu empfangen. Außerdem gibt es verschiedene Tageszeitungen in englischer und spanischer Sprache. Die wichtigsten gibraltarischen Tageszeitungen sind der Gibraltar Chronicle und Panorama. Seit 1995 existiert die länderspezifische Top-Level-Domain .gi. Städtepartnerschaften Gibraltar unterhält derzeit zwei Städtepartnerschaften: Ballymena, Vereinigtes Königreich (seit 2006) Funchal, Portugal (seit 2009) Literatur Roy und Lesley Adkins: Gibraltar. The greatest siege in British history. Penguin, New York 2019, ISBN 978-0-7352-2164-2. Tito Benady: Reiseführer von Gibraltar. 3. Auflage, Gibraltar Books, Grendon, Northants 1991, ISBN 0-948466-19-7. Gundolf Fahl: Die Gibraltarfrage – Entwicklung und Rechtslage. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Vol. 30 Nr. 2/3. Beck, München 1970, (online; PDF; 5,1 MB). Peter Gold: Gibraltar. British oder Spanish? Routledge, London 2005 (Routledge advances in European Politics, Band 19), ISBN 0-415-34795-5. Chris Grocott/Gareth Stockey: Gibraltar. A modern history. University of Wales Press, Cardiff 2012, ISBN 978-0-7083-2481-3. Dieter Haller: Gelebte Grenze Gibraltar. Transnationalismus, Lokalität und Identität in kulturanthropologischer Perspektive. Deutscher Universitäts-Verlag, Wiesbaden 2000, ISBN 3-8244-4407-0 (Zugleich Habilitationsschrift an der Universität Frankfurt (Oder) 1999). Johannes Kramer: English and Spanish in Gibraltar. Buske, Hamburg 1986, ISBN 3-87118-815-8. Andrea Neidig: Englisch und Spanisch im Kontakt – Das Yanito in Gibraltar. Eine soziolinguistische Untersuchung (= Kölner Arbeiten zu Sprache und Kultur. Bd. 1). Herrmann, Gießen 2008, ISBN 978-3-937983-14-1. Weblinks Website der Regierung Gibraltars (englisch) Sammlung von Gesetzestexten Gibraltars (englisch) Website des Fremdenverkehrsamtes von Gibraltar (englisch) Ausführlicher Bericht über Gibraltars Geschichte und seine Affen ZeitZeichen: 04.08.1704 – Besetzung von Gibraltar Lukas Grasberger: Die Straße von Gibraltar - Nadelöhr der Weltgeschichte Bayern 2 Radiowissen. Ausstrahlung am 13. August 2018. (Podcast) Einzelnachweise Umstrittenes Territorium Abhängiges Gebiet (Vereinigtes Königreich) Halbinsel (Europa) Küstenregion des Mittelmeeres Halbinsel (Mittelmeer) Halbinsel (Atlantischer Ozean) Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung Ort in den Britischen Überseegebieten Küste in Europa
1868
https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fe%20Syrte
Große Syrte
Die Große Syrte (Dschûnel Kebrit, auch Golf von Sidra) ist eine weite Bucht des Mittelmeeres an der Nordküste Libyens. Sie gehört zum Libyschen Meer und ist der südlichste Teil des Mittelmeeres. Der Name hat sich auch nach der Umbenennung der Kleinen Syrte in Golf von Gabès (vor Tunesien) erhalten. Geographie Die Große Syrte erstreckt sich zwischen der Landspitze von Cephalae (Ras Kasr Hamet) bei Misurata in Tripolitanien (Westen) und der Landspitze von Boreum Ras Teyonas bei Bengasi in der Kyrenaika mit dem Plateau von Barka im Osten und weist eine Länge von 439 Kilometern auf, sowie eine maximale Breite von 180 Kilometern (Einbuchtung nach Süden). Die Flächenausdehnung beträgt rund 57.000 km². An der Großen Syrte liegen die Städte Sirte, Ras Lanuf und Marsa el-Brega (al-Burayqah). Sie sind Umschlagplätze für den Erdölexport Libyens und über Pipelines mit dem Landesinneren verbunden. Geschichte Die Reichsteilung von 395, die das Römische Reich in West- und Ostrom teilte, teilte die Küste der großen Syrte unter den beiden Reichen auf. Während des Zweiten Weltkrieges fanden zwei Gefechte zwischen Briten und Italienern im Golf von Syrte, das Erste und das Zweite Seegefecht im Golf von Syrte, statt. Unter Berufung auf eigene Auslegungen des Seerechtsübereinkommens erklärte Libyen 1973 einen Großteil der Großen Syrte, nämlich den gesamten Bereich südlich des 32. Breitengrades (genauer: 32° 30' N; von Libyens ehemaligen Staatschef Muammar al-Gaddafi „Todeslinie“ genannt), zu seinen Hoheitsgewässern. Diese von den meisten nichtarabischen Staaten der Welt nicht anerkannte Ausbreitung in als international angesehene Gewässer führte wiederholt zu militärischen Auseinandersetzungen, obwohl außer von und nach Libyen gehenden Verbindungen keine internationalen Schifffahrtswege durch die Syrte verlaufen. Die im Mittelmeer stationierte 6. US-Flotte führte dort wiederholt Manöver (freedom of navigation exercises) durch, die Libyen in die Schranken weisen sollten. 1981 und 1989 wurden jeweils zwei libysche Kampfjets von im Mittelmeer stationierten Streitkräften der USA abgeschossen. 1986 wurden während der Operation Attain Document III / Prairie Fire in der Großen Syrte zwei libysche Kriegsschiffe durch US-Streitkräfte versenkt. Einzelnachweise Gewässer in Libyen Syrte Syrte Küstenregion des Mittelmeeres Libysches Meer Küste in Afrika
1870
https://de.wikipedia.org/wiki/Genetik
Genetik
Die Genetik (moderne Wortschöpfung zu „Abstammung“ und ) oder Vererbungslehre (früher auch Erblehre und Erbbiologie) ist die Wissenschaft von der Vererbung und ein Teilgebiet der Biologie. Sie bzw. der Genetiker befasst sich mit den Gesetzmäßigkeiten und materiellen Grundlagen der Ausbildung von erblichen Merkmalen und der Weitergabe von Erbanlagen (Genen) an die nächste Generation. Das Wissen, dass individuelle Merkmale über mehrere Generationen hinweg weitergegeben werden, ist relativ jung; Vorstellungen von solchen natürlichen Vererbungsprozessen prägten sich erst im 18. und frühen 19. Jahrhundert aus. Als Begründer der Genetik in diesem Sinn gilt der Augustinermönch Gregor Mendel, der in den Jahren 1856 bis 1865 im Garten seines Klosters systematisch Kreuzungsexperimente mit Erbsen durchführte und diese statistisch auswertete. So entdeckte er die später nach ihm benannten Mendelschen Regeln, die in der Wissenschaft allerdings erst im Jahr 1900 rezipiert und bestätigt wurden. Der heute weitaus bedeutendste Teilbereich der Genetik ist die Molekulargenetik, die sich mit den molekularen Grundlagen der Vererbung befasst. Aus ihr ging die Gentechnik hervor, in der die Erkenntnisse der Molekulargenetik praktisch angewendet werden. Etymologie Das Adjektiv „genetisch“ wurde schon um 1800 von Johann Wolfgang von Goethe in dessen Arbeiten zur Morphologie der Pflanzen und in der Folgezeit häufig in der romantischen Naturphilosophie sowie in der deskriptiven Embryologie verwendet. Man meinte damit eine Methode („genetische Methode“) der Untersuchung und Beschreibung der Individualentwicklung (Ontogenese) von Organismen. Mit dem Adjektiv charakterisierte Carl Nägeli 1865 ihre stammesgeschichtliche Entwicklung. Das Substantiv „Genetik“ gebrauchte erstmals William Bateson 1905 zur Bezeichnung der neuen Forschungsdisziplin. In Deutschland wurde bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts der Ausdruck „Erbbiologie“ bedeutungsgleich gebraucht, zumeist zur Unterscheidung der „Erbbiologie des Menschen“ (Humangenetik) von der allgemeinen Genetik. Die Bezeichnung „Humangenetik“ war dabei in Deutschland bereits um 1940 etabliert. Damit wurde ein Rückzug auf wissenschaftlich gebotene Grundlagenforschung angezeigt, während „Rassenhygiene“ angewandte Wissenschaft darstellte. Nach 1945 verschwanden die Bezeichnungen „Erbbiologie“ sowie „Rassenhygiene“, ebenso wie „Erbarzt“ und „Erbmedizin“ allmählich aus dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Teilbereiche Die von Mendel begründete klassische Genetik untersucht, in welchen Kombinationen die Gene bei Kreuzungsexperimenten bei den Nachkommen auftreten (Mendelsche Regeln) und wie das die Ausprägung bestimmter phänotypischer Merkmale beeinflusst. Zur klassischen Genetik gehört darüber hinaus die Zytogenetik, die im lichtmikroskopischen Größenbereich die Anzahl, Gestalt und Struktur der Chromosomen als Träger der genetischen Information untersucht. Die Molekulargenetik – ein Teilgebiet der Molekularbiologie – untersucht die molekularen Grundlagen der Vererbung: die Struktur der molekularen Träger der Erbinformation (gewöhnlich DNA, bei manchen Viren RNA), die Vervielfältigung dieser Makromoleküle (Replikation) und die dabei auftretenden Veränderungen des Informationsgehalts (Mutationen, Rekombination) sowie die Realisierung der Erbinformation im Zuge der Genexpression (Transkription und Translation). Zur Molekulargenetik gehört des Weiteren als angewandter Bereich die Gentechnik. Die Populationsgenetik und die Ökologische Genetik untersuchen genetische Strukturen und Prozesse auf der Ebene von Populationen und von anderen ökologischen Einheiten (z. B. ganzen Lebensgemeinschaften). Die Epigenetik beschäftigt sich mit der Weitergabe von Eigenschaften auf die Nachkommen, welche nicht auf Abweichungen in der DNA-Sequenz zurückgehen, sondern auf vererbbare Änderungen der Genregulation. Geschichte Zeittafel 1866 – Gregor Mendel veröffentlichte seine Versuche über Pflanzen-Hybriden, die aber kaum beachtet wurden. 1869 – Friedrich Miescher isolierte aus Zellkernen das „Nuclein“, dessen Aufbau und Funktion zunächst rätselhaft blieb. 1889 – Richard Altmann identifizierte die „Nucleinsäure“ und eine basische Proteinfraktion als Bestandteile des Nucleins. 1900 – Hugo de Vries, Carl Correns und Erich Tschermak bestätigten Mendels Entdeckungen. 1903 – Chromosomen wurden als Träger der Erbinformation erkannt (Walter Sutton). 1906 – William Bateson schlägt für die Erblehre das Wort Genetik vor. 1907 – Thomas Hunt Morgan wählte die Taufliege Drosophila melanogaster als Versuchstier. 1909 – Wilhelm Johannsen prägte für einen Erbfaktor die Bezeichnung Gen. 1911 – Erwin Baur veröffentlicht seine Einführung in die experimentelle Vererbungslehre. 1927 – Auslösung künstlicher Mutationen durch Röntgenstrahlung (Hermann Joseph Muller) 1928 – Erste Beschreibung der Transformation durch Frederick Griffith (Griffiths Experiment) 1931 – Zytologische Aufklärung des Crossing-over (Barbara McClintock, Harriet B. Creighton, Curt Stern) 1940 – George Beadle und Edward Tatum formulierten die Ein-Gen-ein-Enzym-Hypothese. 1943 – Das Luria-Delbrück-Experiment belegte die Zufälligkeit der Mutationen in dem Sinn, dass sie keine Reaktionen auf die Umwelt darstellen. 1944 – Oswald Avery, Colin MacLeod und Maclyn McCarty: Transformation von Bakterien durch DNA 1950 – Erwin Chargaff zeigte mit den Chargaff-Regeln, dass die vier Nukleotide in paarweise gleicher Häufigkeit in der DNA vorkommen: [A] = [T] und [C] = [G]. 1951 – McClintock berichtete erstmals über springende Gene, stieß aber auf komplettes Unverständnis. 1952 – Das Hershey-Chase-Experiment zeigte, dass die genetische Information von Bakteriophagen in der DNA gespeichert ist. 1953 – James Watson und Francis Crick postulierten die Doppelhelix-Struktur der DNA. 1957 – Nachweis der semikonservativen Replikation der DNA und des Crossing-over durch James Herbert Taylor (Taylor-Experiment) 1958 – Nachweis der semikonservativen Replikation der DNA durch Meselson und Stahl 1958 – Crick postulierte das „Zentrale Dogma“ der Molekulargenetik. 1961 – François Jacob und Jacques Monod stellten das Operon-Konzept vor 1961 bis 1965 – Dechiffrierung des genetischen Codes (Marshall Warren Nirenberg und Heinrich Matthaei) 1969 – Jonathan Beckwith gelang als erstem die Isolierung eines einzelnen Gens (aus E. coli). 1969 – Werner Arber, Daniel Nathans und Hamilton Othanel Smith entdeckten die Restriktionsenzyme. 1975 – DNA-Sequenzierung (Frederick Sanger, Allan Maxam, Walter Gilbert) 1977 – Intron-Exon-Struktur eukaryotischer Gene 1983 – Kary Mullis entwickelte die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) zur Vervielfältigung von DNA. 1995 – Das erste prokaryotische Genom (von Haemophilus influenzae) wurde sequenziert. 1997 – Das erste eukaryotische Genom, das der Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae, ist sequenziert 2003 – Als Resultat des Humangenomprojektes steht die Referenzsequenz des menschlichen Genoms zum Download im Internet bereit Vorgeschichte Schon in der Antike versuchten Menschen die Gesetzmäßigkeiten der Zeugung und die Ähnlichkeiten zwischen Verwandten zu erklären, und einige der im antiken Griechenland entwickelten Konzepte blieben bis in die Neuzeit gültig oder wurden in der Neuzeit wieder aufgegriffen. So lehrte der griechische Philosoph Alkmaion um 500 v. Chr., dass die Zeugung der Nachkommen durch die Zusammenwirkung des männlichen und des weiblichen „Samens“ geschehe. Sein Postulat eines weiblichen Samens fand in der damaligen Naturphilosophie und später auch in der hippokratischen Medizin allgemeine Anerkennung. Davon abweichend behaupteten Hippon und Anaxagoras, dass nur der Mann zeugungsfähigen Samen bilde und dass der weibliche Organismus den Keim nur ernähre. Die Bildung des Samens erfolgte laut Alkmaion im Gehirn, von wo aus er durch die Adern in den Hoden gelange. Demgegenüber erklärten Anaxagoras und Demokrit, dass der gesamte Organismus zur Bildung des Samens beitrage – eine Ansicht, die als Pangenesistheorie über 2000 Jahre später von Charles Darwin erneut vertreten wurde. Auch die Überlegungen des Anaxagoras, wonach alle Körperteile des Kindes bereits im Samen (Sperma) vorgebildet seien, traten als Präformationslehre in der Neuzeit wieder auf. In der Antike wurden diese frühen Lehren weitgehend abgelöst durch die Ansichten des Aristoteles (De generatione animalium), wonach das Sperma aus dem Blut entsteht und bei der Zeugung nur immateriell wirkt, indem es Form und Bewegung auf die durch den weiblichen Organismus bereitgestellte flüssige Materie überträgt. Die Entwicklung des Keims beschrieb Aristoteles als Epigenese, wonach im Gegensatz zur Präformation die verschiedenen Organe nacheinander durch die Einwirkung des väterlichen Formprinzips ausgebildet werden. Neben der geschlechtlichen Zeugung kannte Aristoteles auch die Parthenogenese (Jungfernzeugung) sowie die (vermeintliche) Urzeugung von Insekten aus faulenden Stoffen. Der Aristoteles-Schüler Theophrastus postulierte eine transmutatio frumentorum und nahm an, dass sich Getreidearten zu ihrer Wildform zurückverwandeln können. Zudem unterschied er männliche und weibliche Pflanzen bei der Dattelpalme. Vererbung war bis in das 18. Jahrhundert ein juristischer Begriff und fand für natürliche Vorgänge keine Anwendung. Denn Ähnlichkeiten zwischen Verwandten wurden ausreichend über jeweils spezifische lokale Faktoren und die Lebensweise des Individuums erklärt: über das Klima, die Ernährung, die Art der Betätigungen usw. Wie gewisse Merkmale unter Nachkommen blieben auch diese Faktoren für die Nachkommen in der Regel konstant. Irreguläre Merkmale konnten dann entsprechend auf irreguläre Einflüsse bei der Zeugung oder der Entwicklung des Individuums zurückgeführt werden. Erst mit dem zunehmenden internationalen Verkehr und zum Beispiel der Anlage von exotischen Gärten wurde ein Wahrnehmungsraum dafür geschaffen, dass es vom Individuum und seinem jeweiligen Ort ablösbare, natürliche Gesetze geben müsse, die sowohl die Weitergabe von regulären als auch zuweilen eine Weitergabe von neu erworbenen Eigenschaften regeln. Der Begriff der Fortpflanzung oder Reproduktion, in dessen Kontext von Vererbung im biologischen Sinn gesprochen werden kann, kam erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf. In früheren Jahrhunderten galt die „Zeugung“ eines Lebewesens als ein Schöpfungsakt, der grundsätzlich eines göttlichen Eingriffs bedurfte und im Rahmen des Präformismus vielfach als Teilaspekt der Erschaffung der Welt betrachtet wurde. Dabei unterschied man die Zeugung durch den Samen (Sperma) im Mutterleib von der Urzeugung, durch welche niedere Tiere (etwa Würmer, Insekten, Schlangen und Mäuse) aus toter Materie hervorzugehen schienen. Die „Samenzeugung“ betrachtete man als Eigenheit des Menschen und der höheren Tiere, welche zu ihrer Ausbildung eines Mutterleibs bedürfen. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts setzte sich, vor allem aufgrund der Experimente Francesco Redis, die Einsicht durch, dass Würmer, Insekten und andere niedere Tiere nicht aus toter Materie entstehen, sondern von gleichartigen Tieren gezeugt werden. Nun betrachtete man die Zeugung nicht mehr als Schöpfungsakt, sondern verlegte diesen in die Zeit der Erschaffung der Welt, bei der, wie man annahm, alle zukünftigen Generationen von Lebewesen zugleich ineinandergeschachtelt erschaffen wurden. Die Zeugung war somit nur noch eine Aktivierung des längst vorhandenen Keims, der sich dann zu einem voll ausgebildeten Organismus entfaltete. Strittig war dabei, ob die Keime durch das weibliche oder durch das männliche Geschlecht weitergegeben werden, ob sie also im Ei oder im „Samentierchen“ eingeschachtelt sind. Beide Ansichten hatten ihre Anhänger (Ovisten und Animalkulisten), bis die Entdeckung der Jungfernzeugung bei der Blattlaus durch Charles Bonnet 1740 den Streit zugunsten der Ovisten entschied. Neben der sehr populären Präformationslehre, die 1625 durch Giuseppe degli Aromatari (1587–1660) ins Spiel gebracht worden war, gab es im 17. Jahrhundert auch renommierte Anhänger der an Aristoteles anknüpfenden Epigenesislehre, namentlich William Harvey und René Descartes. Deren Ansichten galten jedoch als antiquiert und wurden als unwissenschaftlich verworfen, da sie immaterielle Wirkprinzipien voraussetzten, während der Präformismus rein mechanistisch gedacht werden konnte und zudem durch die Einführung des Mikroskops einen starken Auftrieb erfuhr. Die Vorstellung der Präformation herrschte bis in das 19. Jahrhundert hinein vor, obwohl es durchaus Forschungsergebnisse gab, die nicht mit ihr in Einklang gebracht werden konnten. Großes Erstaunen riefen die Versuche zur Regeneration bei Salamandern, Süßwasserpolypen und anderen Tieren hervor. Polypen kann man fein zerhacken, und jedes Teilstück entwickelt sich, wie Abraham Trembley 1744 beschrieb, innerhalb von zwei bis drei Wochen zu einem kompletten Tier. In den Jahren 1744 bis 1754 veröffentlichte Pierre-Louis Moreau de Maupertuis mehrere Schriften, in denen er aufgrund von Beobachtungen bei Tieren und Menschen, wonach beide Eltern Merkmale an ihre Nachkommen weitergeben können, die Präformationslehre kritisierte und ablehnte. Entsprechende Beobachtungen publizierte auch Joseph Gottlieb Kölreuter (1761), der als Erster Kreuzungen verschiedener Pflanzenarten studierte. Und Caspar Friedrich Wolff beschrieb 1759 minutiös die Entwicklung des Embryos im Hühnerei aus völlig undifferenzierter Materie. Trotz der Probleme, die derartige Forschungen aufwarfen, geriet die Präformationslehre jedoch erst im frühen 19. Jahrhundert durch die embryologischen Untersuchungen von Christian Heinrich Pander (1817) und Karl Ernst von Baer (1828) ins Wanken, bei denen diese die Bedeutung der Keimblätter aufklärten und allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten der Embryogenese der Tiere aufzeigten. Mit der Etablierung der von Matthias Jacob Schleiden (1838), Theodor Schwann (1839) und Rudolf Virchow (1858) entwickelten Allgemeinen Zelltheorie wurde deutlich, dass die Gründe für die Ähnlichkeit von Eltern und Nachkommen in der Zelle lokalisiert sein müssen. Alle Organismen bestehen aus Zellen, Wachstum beruht auf der Vermehrung der Zellen durch Teilung, und bei der geschlechtlichen Fortpflanzung, die bei Vielzellern der Normalfall ist, vereinigen sich je eine Keimzelle beiderlei Geschlechts zu einer Zygote, aus welcher durch fortwährende Teilung und Differenzierung der neue Organismus hervorgeht. Klassische Genetik Die Gesetzmäßigkeiten der Vererbung blieben lange im Unklaren. Schon in den Jahren 1799 bis 1823 führte Thomas Andrew Knight – wie einige Jahrzehnte später Gregor Mendel – Kreuzungsexperimente mit Erbsen durch, bei denen er bereits die Erscheinungen der Dominanz und der Aufspaltung von Merkmalen beobachtete. 1863 publizierte Charles Victor Naudin (1815–1899) die Ergebnisse seiner Kreuzungsexperimente mit zahlreichen Pflanzengattungen, wobei er das sehr gleichartige Aussehen aller Pflanzen der ersten Tochtergeneration und die „extreme Verschiedenartigkeit der Formen“ in den folgenden Generationen konstatierte und damit weitere bedeutende Aspekte der fast zeitgleichen Erkenntnisse Mendels vorwegnahm, aber im Unterschied zu Mendel keine statistische Auswertung durchführte. Der entscheidende Durchbruch gelang dann Mendel mit seinen 1856 begonnenen Kreuzungsversuchen, bei denen er sich auf einzelne Merkmale konzentrierte und die erhaltenen Daten statistisch auswertete. So konnte er die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten bei der Verteilung von Erbanlagen auf die Nachkommen ermitteln, die heute als Mendelsche Regeln bezeichnet werden. Diese Entdeckungen, die er 1866 publizierte, blieben jedoch zunächst in der Fachwelt fast unbeachtet und wurden erst im Jahr 1900 von Hugo de Vries, Carl Correns und Erich Tschermak wiederentdeckt und aufgrund eigener Versuche bestätigt. Einen radikalen Umbruch der Vorstellungen von der Vererbung brachte die Keimbahn- oder Keimplasmatheorie mit sich, die August Weismann in den 1880er Jahren entwickelte. Schon seit dem Altertum galt es als selbstverständlich, dass Merkmale, welche die Eltern während ihres Lebens erworben haben, auf die Nachkommen übertragen werden können. Nach Jean-Baptiste de Lamarck, in dessen Evolutionstheorie sie eine bedeutende Rolle spielte, wird diese Ansicht heute als Lamarckismus bezeichnet. Doch auch Charles Darwin postulierte in seiner Pangenesistheorie, dass der ganze elterliche Organismus auf die Keimzellen einwirke – unter anderem sogar indirekt durch Telegonie. Weismann unterschied nun zwischen der Keimbahn, auf der die Keimzellen eines Organismus sich von der Zygote herleiten, und dem Soma als der Gesamtheit aller übrigen Zellen, aus denen keine Keimzellen hervorgehen können und von denen auch keine Einwirkungen auf die Keimbahn ausgehen. Diese Theorie war allerdings anfangs sehr umstritten. Mit seinem zweibändigen Werk Die Mutationstheorie (1901/03) führte de Vries den bis dahin in der Paläontologie gebräuchlichen Begriff „Mutation“ in die Vererbungslehre ein. Nach seiner Auffassung handelte es sich bei Mutationen um umfassende, sprunghafte Veränderungen, durch welche eine neue Art entstehe. Dabei stützte er sich auf seine Studien an Nachtkerzen, bei denen eine „in allen ihren Organen“ stark veränderte Pflanze aufgetreten war, deren Merkmale sich als erbkonstant erwiesen und die er daher als neue Art (Oenothera gigas) beschrieb. (Später stellte sich heraus, dass Oe. gigas im Unterschied zu den diploiden Ausgangspflanzen tetraploid war und somit – aus heutiger Sicht – der Sonderfall einer Genommutation (Autopolyploidie) vorlag.) Dieser Befund stand im Widerspruch zu der an Charles Darwin anschließenden Evolutionstheorie, die das Auftreten geringfügiger Veränderungen voraussetzte, und das war einer der Gründe, warum der „Mendelismus“ sich zeitweilig im Widerstreit mit dem damals noch nicht allgemein akzeptierten Darwinismus befand. In den Jahren um die Jahrhundertwende untersuchten etliche Forscher die unterschiedlichen Formen der Chromosomen und deren Verhalten bei Zellteilungen. Aufgrund der Beobachtung, dass gleich aussehende Chromosomen paarweise auftreten, äußerte Walter Sutton 1902 als erster die Vermutung, dass dies etwas mit den ebenfalls gepaarten Merkmalen und deren „Spaltung“ in den Untersuchungen von Mendel und seinen Wiederentdeckern zu tun haben könne. Im Anschluss daran formulierte Theodor Boveri 1904 die Chromosomentheorie der Vererbung, wonach die Erbanlagen an die Chromosomen gebunden sind und deren Verhalten bei der Meiose und Befruchtung den Mendelschen Regeln entspricht. Eine sehr folgenreiche Entscheidung war die Wahl von Taufliegen als Versuchsobjekt durch die Arbeitsgruppe um Thomas Hunt Morgan im Jahre 1907, vor allem weil diese in großer Zahl auf kleinem Raum gehalten werden können und sich sehr viel schneller vermehren als die bis dahin verwendeten Pflanzen. So stellte sich bald heraus, dass es auch geringfügige Mutationen gibt, auf deren Grundlage allmähliche Veränderungen innerhalb von Populationen möglich sind (Morgan: For Darwin, 1909). Eine weitere wichtige Entdeckung machte Morgans Team etwa 1911, als man die schon 1900 von Correns publizierte Beobachtung, dass manche Merkmale meist zusammen vererbt werden (Genkopplung), mit Untersuchungen der Chromosomen verband und so zu dem Schluss kam, dass es sich bei den Koppelungsgruppen um Gruppen von Genen handelt, welche auf demselben Chromosom liegen. Wie sich weiter herausstellte, kann es zu einem Austausch von Genen zwischen homologen Chromosomen kommen (Crossing-over), und aufgrund der relativen Häufigkeiten dieser intrachromosomalen Rekombinationen konnte man eine lineare Anordnung der Gene auf einem Chromosom ableiten (Genkarte). Diese Erkenntnisse fasste Morgan 1921 in The Physical Basis of Heredity und 1926 programmatisch in The Theory of the Gene zusammen, worin er die Chromosomentheorie zur Gentheorie weiterentwickelte. Diese Theorie war schon während ihrer allmählichen Herausbildung sehr umstritten. Ein zentraler Streitpunkt war die Frage, ob die Erbanlagen sich ausschließlich im Zellkern oder auch im Zytoplasma befinden. Vertreter der letzteren Ansicht waren u. a. Boveri, Correns, Hans Driesch, Jacques Loeb und Richard Goldschmidt. Sie postulierten, dass im Kern nur relativ geringfügige Erbfaktoren bis hin zu Artmerkmalen lokalisiert seien, während Merkmale höherer systematischer Kategorien (Gattung, Familie usw.) durch das Plasma vererbt würden. Der entschiedenste Vertreter der Gegenseite war Morgans ehemaliger Mitarbeiter Hermann Joseph Muller, der in The Gene as the Basis of Life (1929) die im Kern lokalisierten Gene als die Grundlage des Lebens überhaupt bezeichnete und die Bedeutung des Plasmas als sekundär einstufte. Muller war es auch, der 1927 erstmals von der Erzeugung von Mutationen durch Röntgenstrahlung berichtete, wodurch die genetische Forschung nicht mehr darauf angewiesen war, auf spontan auftretende Mutationen zu warten. Der von de Vries, Morgan, Muller und Anderen vertretenen Ansicht der Zufälligkeit der Mutationen stand das u. a. von Paul Kammerer und Trofim Denissowitsch Lyssenko verfochtene Postulat gegenüber, dass Mutationen „gerichtet“ und qualitativ durch Umwelteinflüsse bestimmt seien. Zur Förderung der „menschlichen Erblehre“ trugen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts auch Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz bei, ebenso mit Arbeiten zur Zwillingsforschung Wilhelm Weitz, Hermann Werner Siemens und Otmar Freiherr von Verschuer. Populationsgenetik Nach dem allgemeinen Bekanntwerden von Mendels mathematisch exakter Beschreibung des dominant-rezessiven Erbgangs im Jahr 1900 wurde die Frage diskutiert, ob rezessive Merkmale in natürlichen Populationen allmählich verschwinden oder auf Dauer erhalten bleiben. Hierzu fanden der deutsche Arzt Wilhelm Weinberg und der britische Mathematiker Godfrey Harold Hardy 1908 fast gleichzeitig eine Formel, die das Gleichgewicht dominanter und rezessiver Merkmale in Populationen beschreibt. Diese Entdeckung wurde jedoch unter Genetikern zunächst kaum beachtet. Erst 1917 führte Reginald Punnett das von ihm so genannte „Hardy-Gesetz“ in die Populationsforschung ein, was ein wichtiger Beitrag zur Begründung der Populationsgenetik als eigenständigem Forschungszweig in den 1920er Jahren war. Weinbergs Beitrag wurde sogar erst 1943 von Curt Stern wiederentdeckt, der die Formel daraufhin in „Hardy-Weinberg-Gesetz“ umbenannte. Die Grundlagen der Populationsgenetik wurden parallel von Sewall Wright, Ronald A. Fisher und J. B. S. Haldane entwickelt. Sie erkannten, dass Vererbungsvorgänge in der Natur sinnvollerweise auf der Ebene von Populationen zu betrachten sind, und formulierten dafür die theoretischen Grundlagen (Haldane: A Mathematical Theory of Natural and Artificial Selection. 1924–1932; Fisher: The Genetical Theory of Natural Selection. 1930; Wright: Evolution in Mendelian Populations. 1931). Die Erbsubstanz Seit 1889 (Richard Altmann) war bekannt, dass Chromosomen aus „Nucleinsäure“ und basischem Protein bestehen. Über deren Aufbau und Funktion konnte jedoch lange Zeit nur spekuliert werden. 1902 postulierten Emil Fischer und Franz Hofmeister, dass Proteine Polypeptide seien, also lange Ketten von Aminosäuren. Das war zu diesem Zeitpunkt allerdings noch sehr spekulativ. Als 1905 die ersten Analysen der Aminosäuren-Zusammensetzung von Proteinen publiziert wurden, erfassten diese lediglich ein Fünftel des untersuchten Proteins, und die Identifikation aller 20 proteinogenen Aminosäuren zog sich bis 1935 hin. Dagegen war bei der Nukleinsäure schon 1903 klar (Albrecht Kossel), dass sie neben Zucker und Phosphat lediglich fünf verschiedene Nukleinbasen enthält. Erste Analysen der Basenzusammensetzung durch Hermann Steudel ergaben 1906, dass die vier hauptsächlich vorhandenen Basen zu annähernd gleichen Anteilen enthalten sind. Daraus schloss Steudel (1907), dass die Nukleinsäure „ein relativ einfach gebauter Körper sei“, dem man keine anspruchsvollen Funktionen beimessen könne. Dies etablierte sich als Lehrmeinung, die bis in die 1940er Jahre gültig blieb, und auf dieser Grundlage betrachtete man nicht die Nukleinsäure(n), sondern die Proteine als „Erbsubstanz“. Zu der Einsicht, dass es sich gerade umgekehrt verhält und die Nukleinsäure DNA als Erbsubstanz angesehen werden muss, führten die Experimente der Arbeitsgruppe von Oswald Avery zur Transformation von Pneumokokken (1944) und das Hershey-Chase-Experiment von 1952 mit Bakteriophagen. Außerdem zeigte Erwin Chargaff 1950, dass die vier Nukleotide, aus denen die DNA besteht, nicht zu gleichen, sondern zu paarweise gleichen Anteilen enthalten sind. Zusammen mit Röntgenstrukturanalyse-Daten von Rosalind Franklin war das die Grundlage für die Entwicklung des Doppelhelix-Strukturmodells der DNA durch James Watson und Francis Crick 1953. Siehe auch Literatur François Jacob: La logique du vivant: Une histoire de l'hérédité. Gallimard, Paris 1971. (deutsch: Die Logik des Lebenden. Fischer, Frankfurt am Main 1972, Neuausgabe 2002) Wilfried Janning, Elisabeth Knust: Genetik. 2. Auflage. Thieme, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-13-149801-4. William S. Klug, Michael R. Cummings, Charlotte A. Spencer: Genetik. 8. Auflage. Pearson Studium, München 2007, ISBN 978-3-8273-7247-5. Hans-Peter Kröner: Genetik. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. de Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 468–475. Katharina Munk (Hrsg.): Taschenlehrbuch Biologie: Genetik. Thieme, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-13-144871-2. Eberhard Passarge: Color atlas of genetics Taschenatlas der Genetik, Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart 2018, 5. Auflage, ISBN 978-3-13-241440-2. Hans-Jörg Rheinberger, Staffan Müller-Wille: Vererbung – Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts. Fischer, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-596-17063-0. Weblinks Genetic Science Learning Center – University of Utah (engl.), Gewinner des Science Prize for Online Resources in Education. Einzelnachweise Biologische Disziplin
1872
https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fbritannien%20%28Insel%29
Großbritannien (Insel)
Die Insel Großbritannien liegt im Atlantischen Ozean, zwischen der Irischen See und dem Nordatlantik im Westen, der Nordsee im Osten und dem Ärmelkanal im Südosten, an der nordwestlichen Küste des europäischen Kontinents. Mit einer Fläche von 229.850 km² ist die Hauptinsel die neuntgrößte Insel der Welt sowie die größte Insel Europas und der Britischen Inseln, zu denen unter anderem auch Irland und die Isle of Man gehören. England und Wales bildeten im Altertum die römische Provinz . Ein alter Name für die Insel Großbritannien ist „Albion“. Dieser Name, von Alfred Holder (Alt-Keltischer Sprachschatz, 1896) als „Weißland“ übersetzt, könnte sich auf die weißen Kreideklippen von Dover beziehen, die man bei klarer Sicht bereits vom europäischen Festland aus über die engste Stelle des Ärmelkanals hinweg sehen kann (Straße von Dover). Ein historischer Name im Gälischen für Schottland ist . Politisch ist Großbritannien seit dem eine Einheit, die aus den Staaten England, Wales (seit 1542 englisch) und Schottland gebildet wurde. Die Hebriden, die Orkney und die Shetlandinseln werden als Teil Schottlands ebenfalls politisch zu Großbritannien gerechnet. Diese Staaten Großbritanniens und schottischen Nebeninseln bilden zusammen mit der Provinz Nordirland das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, das im Deutschen oft ebenfalls Großbritannien genannt wird, auch wenn es vom Staatsgebiet wesentlich größer als die geographische Insel Großbritannien ist. Die direkt der britischen Krone unterstehenden Kanalinseln und die Isle of Man sind kein Teil des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland; die Isle of Man und auch ganz Irland gehören jedoch geographisch zu den Britischen Inseln, die Kanalinseln dagegen nicht. Name Herkunft des Namens Historisch gab es ein großes und ein kleines Britannien: die Insel [Groß]Britannien (Britannia [Maior]) und die Halbinsel Kleinbritannien (Britannia Minor) im Nordwesten Frankreichs – heute Bretagne genannt. Im Englischen werden die beiden heute als und bezeichnet. Im Französischen werden entsprechend und unterschieden. Die Bezeichnung (Kleinbritannien) für die Bretagne ist genauso historisch und außer Gebrauch wie im Deutschen; sie ist zudem nicht eindeutig und wird teilweise (neben weiterem) auch für die Insel Irland genutzt, u. a. bei Ptolemäus (Μικρὰ Βρεττανία). Entstehen und Veränderungen der Bezeichnung „Großbritannien“ Der Begriff Großbritannien fand erstmals weite Verbreitung während der Regierung des Königs Jakob VI. von Schottland, der als Jakob I. auch England regierte; er bezeichnete die von einem Monarchen regierte Insel, die aus zwei Staaten mit eigenen Parlamenten bestand. Nach der Vereinigung von England und Schottland war die Bezeichnung Königreich Großbritannien von 1707 bis 1800 gebräuchlich. Mit dem fand eine erneute Umgestaltung statt: Das vom englischen Königshaus regierte Irland wurde mit dem Königreich Großbritannien zum Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland vereint. Nachdem 26 der 32 irischen Grafschaften den Irischen Freistaat gebildet hatten, entstand im Jahre 1922 das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland. Vereinfachenderweise wird die Bezeichnung „Großbritannien“ häufig als Synonym für das Vereinigte Königreich verwendet, insbesondere auch seitens der Medien und bei nicht-offiziellen Äußerungen von Politikern. Die Regierungsorgane des Vereinigten Königreichs werden als „britisch“ bezeichnet: „Der britische Premierminister“ oder „das Britische Königshaus“. Hierbei steht „Großbritannien“ auch für Nordirland, das geographisch kein Teil der Insel ist. Die häufig verwendete Bezeichnung „englisch“ anstatt „britisch“ an gleicher Stelle ist noch ungenauer, da England wiederum nur ein Teil Großbritanniens ist, allerdings ist sie auch nur Teil der Umgangssprache. Geologie und Geografie England ist überwiegend hügelig. Süd- und Ostengland sind eine Schichtstufenlandschaft und abgesehen von kleinen Küstenebenen der geologisch jüngste Teil der Insel. Die einzige ausgedehnte Ebene sind die Fens zwischen Cambridge und dem Wash an der Grenze zwischen Ost- und Mittelengland. Die Penninen (Pennine Range) im Norden Englands gehen fast bruchlos in die Uplands Südschottlands über. Östlich davon erstrecken sich wiederum Hügelländer. Die Mitte Schottlands besteht aus dem Firth of Clyde und Firth of Forth verbindenden Graben der Central Lowlands und einem nordöstlich anschließenden Hügelland. Zum nördlich anschließenden Schottischen Hochland werden außer der rauen Gebirgsregion auch die westlich und nördlich anschließenden, ebenfalls rauen, aber nicht immer hohen über 80 Inseln gezählt, weswegen man auch von Highlands and Islands spricht. Wales, durch den Bristolkanal genannten Meeresarm von Südwestengland getrennt, ist ebenfalls ein Bergland. Extrema Der westlichste Punkt Großbritanniens ist nicht Land’s End in Cornwall (5,716° westliche Länge), sondern Corrachadh Mòr in Achosnich/Highlands (6,228° westliche Länge), während der östlichste Punkt Großbritanniens Ness Point in Lowestoft/Suffolk ist (1,763° östliche Länge). Der südlichste Punkt Großbritanniens ist Lizard Point in Lizard/Cornwall (49.958° nördliche Breite) und der nördlichste ist Dunnet Head in Caithness/Highlands (58.672° nördliche Breite). Der höchste Berg ist der Ben Nevis mit einer Höhe von 1345 m. Geschichte Die Insel Großbritannien besteht aus den folgenden drei Nationen (Landesteilen), die politisch nur sehr eingeschränkt eigenständig sind: England Schottland Wales Englands Dominanz über Großbritannien Seit England, Wales und Schottland im Jahre 1707 vereint wurden, hat England, welches die weitaus größte Bevölkerung hat, immer die dominierende Rolle in allen nachfolgenden Staaten gespielt. Das zeigt sich auch, indem die Krönung des britischen Monarchen das englische Ritual befolgt, oder das britische Parlament der Struktur des englischen Parlaments folgt und mit dem das ursprünglich englische Parlamentsgebäude nutzt. Siedlung und Bodennutzung Industrielle Ballungsräume sind Greater London, die Umgebung von Birmingham, die alten Steinkohlegebiete, die sich U-förmig um die Penninen gruppieren, Südwales und das Quertal in der Mitte Schottlands. Die Hügelländer mit ihren von Hecken gesäumten Ländereien und oft kleinen Landstraßen sind von einer Geschichte intensiver Nutzung geprägt, die allerdings im 19. Jahrhundert mit der Möglichkeit Grundnahrungsmittel in großem Maße zu importieren, vielerorts einer Grünlandwirtschaft wich. Die Bergländer sind dünn besiedelt und werden extensiv beweidet. Im Norden und Westen Schottlands wurde für die extensive Schafhaltung ein großer Teil der eingesessenen Landbevölkerung im 18. und frühen 19. Jahrhundert vertrieben (Highland Clearances). Jahrhundertelanger Raubbau an den Wäldern ist erst zum geringen Teil in den letzten Jahrzehnten durch Aufforstung behoben worden. Weblinks Einzelnachweise Insel (Vereinigtes Königreich) Insel (Europa) Insel (Atlantischer Ozean) !
1873
https://de.wikipedia.org/wiki/Gewerkschaft
Gewerkschaft
Eine Gewerkschaft ist eine Vereinigung der Interessenvertretung von abhängig beschäftigten Arbeitnehmern zur Vertretung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen. Mitglieder einer Gewerkschaft werden als Gewerkschafter bezeichnet. Aufgaben und Interessen Die Gewerkschaften sind zumeist aus der europäischen Arbeiterbewegung hervorgegangen und setzen sich seit ihrem Bestehen für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, mehr Mitbestimmung, für Arbeitszeitverkürzungen und teilweise auch für weitergehende Gesellschaftsveränderung ein. Ihr Zweck ist die Aufhebung der durch den individuellen Arbeitsvertrag gesetzten Vereinzelung und Konkurrenz unter den Lohnarbeitern durch die kollektive Interessenvertretung – mit dem Ziel, allgemeine und verbindliche Regelungen (für alle Beschäftigten) per Tarifvertrag oder per Gesetz durchzusetzen. Sie schließen als Verhandlungspartner von Arbeitgeberverbänden beispielsweise überbetriebliche Tarifverträge ab und führen dazu Lohnkämpfe, gegebenenfalls auch mit Hilfe von Streiks und Boykotts. Die Gewerkschaften versuchen, in Vertretung der Interessen ihrer Mitglieder, einen möglichst großen Teil der Unternehmensgewinne als Lohn und zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen an die Belegschaft zu verteilen. Dagegen vertritt die Unternehmensführung die Interessen der Unternehmensinhaber und Aktionäre, die möglichst hohe Gewinne erwirtschaften will, als ausgeschüttete Dividende und neue betriebliche Investitionen. Da es keine richtige oder optimale Aufteilung der Gewinne gibt, ist die Gewinnverteilung eine Machtfrage, die von beiden Parteien entsprechend ihrer Interessenlage unterschiedlich beurteilt wird. Ökonomische Grundlage Gewerkschaften weisen oft darauf hin, dass ihre Lohnforderungen für eine Umverteilung mindestens des Produktivitätsfortschritts sorgen und so insbesondere die Massenkaufkraft, Voraussetzung für einen stabilen (Binnen-)Konsum, erhalten bleibt. So argumentieren Gewerkschaften auf der Grundlage nachfrageorientierter Wachstumsmodelle für ihre Positionen. Insbesondere neoklassisch orientierte Ökonomen fordern ein flexibles Arbeitszeitmodell; Gewerkschaften stehen jedoch häufig für andere Regelungen ein. Kritiker werfen Gewerkschaften vor, dadurch den heimischen Standort zu schwächen. Für die Ökonomen der Gewerkschaften – traditionell eher Anhänger des Keynesianismus – geht die Krise auf dem Arbeitsmarkt v. a. auf die Produktivitätszuwächse zurück, die gesellschaftlich ungleich verteilt sind und der Markt deshalb nicht das erhöhte Produktionspotential aufnehmen kann (Binnennachfrage). Die Gewerkschaften behaupten, nicht die Lohnkosten seien zu hoch, sondern die Löhne seien zu niedrig. Gegner dieser Auffassung sagen, dass gerade für Unternehmen, die dazu in der Lage sind, flexibel den Standort in Niedriglohnländer zu verlagern, hohe Stundenlöhne jedoch abschreckend seien. Andererseits können sich auch die Verhältnisse in Niedriglohnländern schnell ändern. In China steigen die Löhne derzeit um bis zu zehn Prozent pro Jahr. Die Chinesen verlagern ihre Produktionen nach Vietnam und Myanmar. Es scheint, dass in Osteuropa in den letzten Jahren zahlreiche neue Werke der Automobilindustrie entstanden und in Deutschland Arbeitsplätze verloren gegangen seien. In Ländern mit hoher Produktivität und niedrigeren Lohnkosten als in Deutschland, etwa Schweden, blieben Arbeitsplätze hingegen erhalten. Gerade in der Industrie seien von Arbeitsplatzabbau auch zuliefernde Unternehmen und damit weitere Stellen betroffen. Tatsächlich haben sich aber die durchschnittlichen Lohnstückkosten in Schweden in den letzten zehn Jahren um das Vierfache mehr erhöht als in Deutschland. Auch ist die Zahl der in der deutschen Automobilbranche Beschäftigten in Deutschland sogar gestiegen. In globalisiertem Kontext aufgeführte keynesianische Argumente zu Nachfragestärkung würden nach den Kritikern angeblich damit überlagert, da ohne Arbeit auch keine Nachfrage möglich ist und weil sich Investitionen ungehinderter im globalen Markt bewegen können als Menschen. Zur Kaufkrafttheorie der Löhne gibt es unterschiedliche Ansichten. Während der Kaufkrafttheorie kritisch gegenüberstehende Ökonomen meinen, dass diese Theorie die Verhältnisse zu sehr vereinfache, meinen die Befürworter dieser Theorie, dass die Gewinntheorie die Verhältnisse zu sehr vereinfache. Durch die Senkung von Konfliktkosten tragen die Gewerkschaften in Deutschland zu einer stabilen Grundlage der Wirtschaft bei. Im Vergleich zu anderen industriell entwickelten Rechtsstaaten wird in Deutschland nur selten gestreikt. Als nach dem Prinzip der Gewaltenteilung wirkende Gegenkraft ermöglichen sie es den Arbeitgebern, sich klar auf ihre Standpunkte zu konzentrieren. Dem stehen auch Konsenskosten entgegen. In Rechtsstaaten sind diese vorwiegend finanzieller Natur. Sie unterscheiden sich somit von den menschlichen Kosten, die durch erzwungenen Konsens in autoritären Staaten entstehen. Ziele In den vergangenen Jahren nahm der Druck auf die Gewerkschaften zu. Staaten in Mittel- und Osteuropa sowie in Asien, Japan, Neuseeland gelang es, ein hohes Bildungs-, Produktivitäts- und Infrastrukturniveau aufzubauen. In Staaten wie China erfolgt der Druck auf Gewerkschaften durch Kriminalisierung der Gründer unabhängiger Gewerkschaften. Weiterhin existiert als Kennzeichen für fehlende Rechtsstaatlichkeit ein Widerspruch zwischen gesetzlichen Regelungen und der Einklagbarkeit von Rechten. Die Folge der Konkurrenz aus Gebieten mit geringerer Rechtsstaatlichkeit und der Unterdrückung von Gewerkschaften war zum Teil die Abwanderung von Arbeitsplätzen aus Westeuropa. Trotz der hohen Arbeitslosigkeit und der (umstrittenen) These, ein Industrieland wie Deutschland sei international nicht mehr wettbewerbsfähig, halten die Gewerkschaften an Lohnforderungen fest, die zumindest die Inflation ausgleichen, aber auch teilweise höher sind als das wirtschaftliche Wachstum, wenn in einer Branche besonders hohe Produktivitätszuwächse zu verzeichnen sind. In Deutschland wird auf die im internationalen Vergleich wenigsten Streiktage verwiesen. Streiks sind für alle Gewerkschaften mit hohen Kosten verbunden und für Arbeitgeber neben kurzfristigen Produktionsausfällen langfristig ein Standortnachteil. So ist es im Sinne beider Parteien, Streiks zu vermeiden. Die meisten Gewerkschaften halten Strategien von Lohnsenkung, um gegen Maschinen zu konkurrieren oder um arbeitsintensive Produktionen zu halten, langfristig für verfehlt, auch wenn sie in Einzelfällen entsprechenden Abmachungen zustimmen. Eine wirtschaftstheoretische Grundlage für solche Lohnsenkungen hierfür gibt es jedoch nicht. Gewerkschaften zielen bei ihren Aktivitäten auf die Schaffung neuer Massennachfrage, die die Binnenkonjunktur anregen soll. So wird die Abkopplung Deutschlands von der anziehenden Weltkonjunktur zum Teil auf die schwache Binnennachfrage zurückgeführt. Einige Wirtschaftsexperten kritisieren jedoch, dass dabei der doppelte Nachfrageeffekt von den Gewerkschaften keine Berücksichtigung findet. Nachfrage entstehe auch dann, wenn man es Unternehmen erleichtert, Investitionen zu tätigen. Jedoch ist die Wirkung der Investition der eines vorweggenommenen zukünftigen Konsums gleich, denn investiert wird nur dort, wo später Konsum erwartet wird. Langfristig sei der Konsum der Zukunft durch die Kredite für die Investitionen in der Vergangenheit bereits gebunden. Somit könne man sich langfristig auf die Betrachtung des Konsums zurückziehen und deswegen den Effekt der doppelten Nachfrage ignorieren. Allerdings haben die letzten Jahre gezeigt, dass beispielsweise Großunternehmen verstärkt nicht mehr im Inland, sondern auf den Kapitalmärkten oder in Fusionen mit ausländischen Unternehmen investieren. Auch Exportrekorde der deutschen Wirtschaft – die der These mangelnder internationaler Wettbewerbsfähigkeit widersprechen – können die Binnennachfrage nicht ausreichend stützen. Bedeutender ist beim doppelten Nachfrageeffekt jedoch die Nachfrage im Inland. Diese ist naturgemäß hoch, wenn es heimischen Unternehmen gut geht. Denn nicht nur private Haushalte, sondern insbesondere auch heimische Unternehmen konsumieren im Inland, etwa über Zulieferungen. Hohe Löhne oder hohe Abgaben jedoch wirkten diesem Konsum entgegen und verlagerten ihn ins Ausland. Dieser These wird aber mit dem Argument widersprochen, die hohen Löhne an ortsansässige Mitarbeiter würden diesen erst ermöglichen, auch in der Region ihr erarbeitetes Geld auszugeben, sodass sich bei Lohnerhöhungen allenfalls eine Substitution von Zahlungen an regionale Zulieferer zu Zahlungen an regionale Mitarbeiter ergebe. Gesellschaftspolitische Aufgaben der Gewerkschaften Den Gewerkschaften gelang es im Laufe der Nachkriegszeit immer deutlicher, auch als allgemeiner gesellschaftlicher Vertreter der Interessen der arbeitenden Bevölkerung politisch und institutionell anerkannt zu werden. Hierbei übernahmen sie außerhalb des eigentlichen Koalitionszwecks, wie der Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen beim Abschluss von Tarifverträgen, umfangreiche Aufgaben. Dies gelang vor allem im politischen Raum umso mehr, als sie in allen Parlamenten durch eine große Anzahl von ihnen als Mitglieder angehörenden Abgeordneten Unterstützung fanden. So waren in den Bundestagen von 1965–1977 sowie von 1998 (gemeint ist jeweils das Wahljahr) zwischen 50 % und 60 % der Abgeordneten Mitglieder von Gewerkschaften, 2002 waren es 47 %, 2005 sind es unter 40 % (36 % bei den DGB-Gewerkschaften). Im Rahmen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei den sie beschäftigenden Betrieben erhielten die Gewerkschaften, soweit sie dort Mitglieder besitzen, selbständige Antrags- und Beteiligungsrechte, wie auch grundsätzliche Zugangsrechte zu diesen Betrieben. Bei Unternehmen, die mehr als 2000 Beschäftigte haben, haben sie das Recht zwei oder drei der den dort Beschäftigten zustehenden Aufsichtsräte (zwischen sechs und zehn je nach Betriebsgröße) direkt zu stellen. Zwar werden auch die Gewerkschaftsvertreter von den stimmberechtigten Mitarbeitern des Betriebes oder deren Delegierten gewählt, jedoch steht das Vorschlagsrecht hierzu allein der Gewerkschaft zu. So saßen nach einer Ermittlung des Instituts der deutschen Wirtschaft aus dem Jahre 2006 in den Aufsichtsräten der mitbestimmungspflichtigen Unternehmen ca. 1.700, zum Teil hochrangige, Vertreter der Gewerkschaften. An der Sozial- und Arbeitsverwaltung nehmen die Gewerkschaften teilweise durch Entsendung von Mitgliedern teil und treten immer dort als Vertreter der Arbeitnehmer auf, wo die Arbeitgeber sich von ihren Verbänden vertreten lassen. Aufgrund ihrer Stellung entsenden sie auch ihre Vertreter in allgemeine Einrichtungen, wie etwa den bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gebildeten Rundfunkräten. Organisationsgrad Ein wichtiger Maßstab für die Durchsetzungskraft einer Gewerkschaft oder eines Gewerkschaftsverbandes ist der Organisationsgrad. Gewerkschaft basiert auf Gemeinschaft und aus dieser Gemeinschaft resultiert eine „Position der Stärke“. Je größer die Gemeinschaft, desto größer auch die Position der Stärke. Der (Netto-)Organisationsgrad bezeichnet dabei den Anteil der in einer Branche oder einem Organisationsbereich beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder an allen in dieser Branche oder diesem Bereich Beschäftigten. Manche Gewerkschaften in manchen Ländern haben wie andere gesellschaftliche Großorganisationen in den letzten Jahrzehnten einen erheblichen Mitgliederschwund gehabt. Das Gesamtbild ist jedoch nicht einheitlich. Häufig genannte Gründe für einen Rückgang sind eine gesellschaftliche Tendenz zur Individualisierung, kleiner werdende Betriebsstrukturen, Verringerung von Arbeitsplätzen in der Industrie zu Gunsten des Dienstleistungsbereichs, aber auch der Führungsstil der Gewerkschaften, Korruptionsaffären und Unzufriedenheit der Mitglieder mit den Ergebnissen bei der Durchsetzung von Entgelterhöhungen. Einzelheiten sind der folgenden Tabelle zu entnehmen. In Deutschland verzeichnen manche Gewerkschaften inzwischen wieder Mitgliederzuwächse. Organisationsgrad in %: aktive Mitglieder (ohne Rentner) zu abhängig Beschäftigte zzgl. Arbeitslose; Länder mit *: Mitglieder zu abhängig Beschäftigte. Internationale Gewerkschaftsorganisationen siehe: Internationaler Gewerkschaftsbund Weltgewerkschaftsbund Europäischer Gewerkschaftsbund Internationale Gewerkschaftsverbände Deutschland Belgien Die erste Gewerkschaft („Vakbond“) wurde in Belgien von den Schriftsetzern in Brüssel 1842 gegründet. Belgien hat mit ca. 80 % der Beschäftigten einen der höchsten gewerkschaftlichen Organisationsgrade in Europa. In Belgien gibt es verschiedene Gewerkschaftsrichtungen, unter anderem „Freie Gewerkschaften“. Die Gewerkschaften übernehmen in Belgien auch Aufgaben als Arbeitslosenkassen. In Belgien und damit auch in der Deutschsprachigen Gemeinschaft sind die wichtigsten Organisationen: Der mitgliederstärkste Gewerkschaftsbund ist die christlich-sozial orientierte Christliche Gewerkschaft CSC (Confédération des syndicats chrétiens). Die Liberale Gewerkschaft CGSLB (Confédération Générale des Syndicats Libéraux de Belgique) ist ein unabhängiger Gewerkschaftsbund. Der auch als „Sozialistische Gewerkschaft“ bezeichnete Allgemeine Belgische Gewerkschaftsbund (FGTB) ist der zweitgrößte Gewerkschaftsbund und sozial-liberal orientiert. Neben diesen drei Organisationen sind folgende Gewerkschaften (Vakbonden) im flämischen Teil Belgiens registriert: NCK – Nationale Confederatie van Kaderleden Neutr-On – Neutrale Vakbond UF – Nuod-unie van Financiën Frankreich In Frankreich gibt es verschiedene vorwiegend politisch ausgerichtete Gewerkschaften: Hinweis: Die im Folgenden genannten Mitgliederzahlen stammen von den Gewerkschaften selbst, nach dem unabhängigen Institut Superieur du Travail (Höheres Arbeitsinstitut) sind die tatsächlichen Zahlen wesentlich niedriger, Zahlen von 2016‑2018. Confédération française démocratique du travail Die Confédération française démocratique du travail (CFDT, Französischer Demokratischer Gewerkschaftsbund) ist mit etwa 800.000 Mitgliedern der größte Gewerkschaftsbund Frankreichs. Gegründet wurde die CFDT 1964, als die Mitglieder des christlichen Gewerkschaftsbunds Confédération française des travailleurs chrétiens (CFTC) sich mehrheitlich für eine Säkularisierung und die Umbenennung zur CFDT entschieden. Etwa ein Zehntel ihrer Mitglieder verließ allerdings in der Folge den Verband und gründete die CFTC wieder neu. In ihren frühen Jahren stand die CFDT politisch der Parti socialiste unifié (PSU) nahe, ab 1974 dann der Parti socialiste (PS) unter François Mitterrand. Inzwischen ist die CFDT allerdings politisch weitgehend ungebunden und unterstützte beispielsweise 1995 den konservativen Premierminister Alain Juppé bei der Durchsetzung heftig umstrittener Sozialstaatsreformen. Confédération générale du travail Die Confédération générale du travail (CGT, Allgemeiner Gewerkschaftsbund) ist ein französischer Gewerkschaftsbund, der traditionell der Kommunistischen Partei Frankreichs nahesteht. Seit einigen Jahren ist allerdings zu beobachten, dass diese Verbindung zunehmend schwächer wird. Gegründet wurde die CGT 1895 auf einem Kongress in Limoges durch den Zusammenschluss der Fédération des bourses du travail und der Fédération nationale des syndicats. Heute ist die CGT mit etwa 700.000 Mitgliedern der zweitgrößte Gewerkschaftsbund Frankreichs. Geographische Schwerpunkte sind das Département Ariège im Südwesten des Landes (an der Grenze zu Spanien und Andorra) und die Region Limousin. Confédération générale du travail-Force ouvrière Die Confédération générale du travail-Force ouvrière (CGT-FO; sinngemäß Allgemeiner Gewerkschaftsbund-Arbeitermacht), heute in aller Regel Force ouvrière (FO) genannt, ist einer der vier bedeutenden Gewerkschaftsbünde in Frankreich. Sie ist traditionell der gemäßigten Linken zuzuordnen. Ihre Raison d’Être (Daseinszweck) ist die Dominanz der KPF im Allgemeinen Gewerkschaftsbund (CGT) nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Gründung erfolgte 1948. Sie sieht ihr Ziel in der Verteidigung der Ideale der Republik: (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Trennung des Staates von der Religion). Die Besonderheit der CGT-FO liegt in der parteipolitischen Profillosigkeit. Confédération paysanne Die Confédération paysanne (auch als die conf’ bekannt) ist eine französische Bauerngewerkschaft. Sie ist Mitglied in der Europäischen Bauern Koordination und der Via Campesina. Sie wurde 1987 gegründet. Sie entstand aus der Vereinigung zweier kleinerer Gewerkschaften, der FNSP und der CNSTP. 2001 erhielt sie 28 % der Stimmen bei den Wahlen zur Landwirtschaftskammer, dies machte sie zur zweitgrößten landwirtschaftlichen Gewerkschaft in Frankreich. Sie ist in allen französischen Départements und Übersee-Départements aktiv. Sie kämpft für eine kleinräumige Landwirtschaft, für den Umweltschutz und für die Qualität der erzeugten Produkte. Ihre öffentlichkeitswirksamen Aktionen gegen die WTO im August 1999 und gegen die Nutzung von gentechnisch veränderten Organismen in der Landwirtschaft sowie die Skandale um dioxinverseuchtes Hühnerfleisch und BSE in der Massentierhaltung ließen ihre Popularität in Frankreich steigen. Confédération française des travailleurs chrétiens Die Confédération française des travailleurs chrétiens (CFTC, Französischer Bund christlicher Arbeiter) ist ein französischer Gewerkschaftsbund mit derzeit etwa 130.000 Mitgliedern. Gegründet wurde der Verband 1919 durch den Zusammenschluss von 321 Gewerkschaften. Die Programmatik lehnte sich an die Enzyklika Rerum Novarum von Papst Leo XIII. an. Daher wurde eine Revolution, als deren Instrument sich der kommunistische Konkurrenzverband CGT sah, von der CFTC stets zugunsten von Reformen abgelehnt. 1964 entschied sich eine Mehrheit der Mitglieder der CFTC für die Säkularisierung und die Umbenennung in Confédération française démocratique du travail (CFDT). Etwa zehn Prozent der Mitglieder verließen daraufhin die Organisation und gründeten die CFTC neu. Die CFTC steht politisch weiter rechts als die CFDT. Sie ist der einzige Gewerkschaftsbund Frankreichs, dessen Mitglieder bei der französischen Präsidentschaftswahl 2002 überdurchschnittlich oft für den rechtsextremen Kandidaten Jean-Marie Le Pen stimmten. Coordination française nationale des travailleurs Die Coordination française nationale des travailleurs war ein „Gewerkschaftsbund“ der rechtsextremen Partei Front national (FN). Sie vereinte mehrere Kleinstgewerkschaften (Polizei, Gefängnispersonal, Verkehrsmittel, Post, Bildung), Arbeitgeberorganisationen und Mietervereine. 1997 nahm sie in 34 Départements an den Arbeitsgerichts-Wahlen teil. Die Wahl der CFNT-Vertretern wurde jedoch aufgrund von Klagen anderer Gewerkschaften annulliert, weil die Organisation ideologisch zu abhängig von der Front national und sie deshalb keine echte Gewerkschaft sei. Confédération nationale du travail In Frankreich tragen drei (oder vier) Gewerkschaften den Namen Confédération nationale du travail (CNT): Die Confédération Nationale du Travail-Vignoles (CNT-F) ist eine revolutionär-syndikalistische Gewerkschaftsföderation. Die Confédération Nationale du Travail – AIT (CNT-IAA) (auch CNT-F genannt innerlich der IAA) ist der anarchosyndikalistischen Internationalen ArbeiterInnen-Assoziation (IAA) angeschlossen. Sie ist eine dezentral aufgebaute anarchistische Gewerkschaftskonföderation und besteht aus lokalen und betrieblichen Gruppen (Syndikaten) in 17 französischen Städten. Ihre Mitgliederzahl liegt nach eigenen Angaben derzeit im dreistelligen Bereich. Die Confédération Nationale du Travail – Solidarité Ouvrière (CNT-SO) ist eine Spaltung von der französischen CNT-AIT, die ein Bedürfnis nach der Nützung von Gewerkschaftsfunktionären anerkennt. Ihren Ursprung haben alle „Mini“-gewerkschaften in einer Gruppe, die 1946 von im französischen Exil lebenden spanischen Anarchosyndikalisten gegründet wurde, die in Paris noch einige Mitglieder in die Confédération Nationale du Travail – Tour d'Auvergne hat, auch wenn diese heutzutage keine Aktion zu haben scheinen. Union syndicale Solidaires Die Union syndicale Solidaires ist ein linker basisdemokratischer Gewerkschaftsverband. Sie gilt als eine Abspaltung der gemäßigten CFDT, die die Selbstorganisation weiterfördern wollte und ist eines der Gründungsmitglieder von Attac. Ursprünglich von zehn unabhängige Gewerkschaften als Groupe des 10 (G10) gegründet, erweiterte sie sich 1989 um die Sud-PTT, einem Bund von im vergangenen Jahr aus der CFDT ausgeschlossener Gewerkschaften des Post- und Telekommunikationssektors. Nach Anschluss weiterer Abspaltungen CFDT erfolgte 1998 ihre Neugründung unter heutigem Namen. Laut einiger Politiker versuchen verschiedene radikalere Parteien wie die trotzkistische Ligue communiste révolutionnaire, die ökosozialistischen Ensemble !, oder auch die anarchistische Alternative Libertaire intern an Einfluss zu gewinnen. Union nationale des syndicats autonomes (UNSA) 1993 geboren aus der Spaltung der FEN, und der Vereinigung mit der FAT, der FMC, der FGSOA und der FGAF. Confédération Française de l'Encadrement (CGC) Die Confédération Française de l'Encadrement CGC besteht aus Berufsverbänden und Gewerkschaften. Sie repräsentiert die Cadres (Leitenden Angestellten). Sie wurde 1944 gegründet und hat 110.000 Mitglieder. Großbritannien Entwicklung im 18., 19. und 20. Jahrhundert Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert begann in Großbritannien die Entwicklung der Industrialisierung; der bisherige Agrarstaat wandelte sich. Noch waren die Handwerker in „Guilds“ – also Gilden – organisiert. Die dann zunehmende Industrialisierung war der Kern der Entwicklung zu „trade unions“ oder „labour unions“, also zu den Gewerkschaften. Ein wichtiger Schritt war die formale staatliche Anerkennung der Gewerkschaften im Jahr 1872, die einerseits einen Meilenstein der Demokratisierung darstellte, andererseits die britischen Gewerkschaften auch davon abhielt, sich in einer Partei zu organisieren, um grundlegende politische Ziele durchzusetzen, wie es etwa bei der deutlich früheren Entwicklung von Arbeiterparteien in anderen, stärker repressiven Staaten der Fall war. Großbritannien hat als früher Industriestaat die bedeutendste historische Entwicklung in der Gewerkschaftsbewegung. Davon zeugen die rund 108 historischen Gewerkschaften. Auch der Trade-Unionismus hat seinen Ursprung in den industriellen Zentren Englands. Traditionell arbeiteten die Gewerkschaften politisch mit der Labour Party zusammen, welche in ihren Anfangsjahren keine Individualmitgliedschaft kannte. Mitglieder der Labour Party waren automatisch auch Gewerkschaftsmitglieder, sofern sich die entsprechenden Gewerkschaften für einen Beitritt zur Labour Party entschlossen haben. Vor der Zusammenarbeit mit Labour bestand jedoch ein enges Verhältnis der Trade Unions zur Liberalen Partei, welche über Jahrzehnte die parlamentarische Interessenvertretung der Gewerkschaften war (Lib Lab). Labour konnte anfangs kaum Anklang bei der Mehrheit der Gewerkschafter finden. Auch frühere Gründungen von sozialdemokratischen Parteien blieben erfolglos, so die Independent Labour Party und die Social Democratic Federation, die sich später der Labour Party anschlossen. Britische Gewerkschaften waren vor allem durch ein hohes Maß an Entpolitisierung und Misstrauen gegenüber sozialistischen Ideen geprägt. Revolutionäre Umsturzpläne waren unter Gewerkschaftsmitgliedern praktisch nicht zu finden. Eine Folge der langen Tradition von Gewerkschaften in Großbritannien und dem Ausbleiben allzu großer Repressionen gegen die Arbeitervertretung, etwa im Gegensatz zum bismarckschen Deutschland. Schwächung im ausgehenden 20. Jahrhundert In Großbritannien herrschte bis 1980 das Closed-Shop-Modell (dt. hier in etwa: in sich geschlossener Betrieb), das heißt, alle Mitarbeiter eines Betriebes mussten pflichtmäßig der Gewerkschaft angehören. Schon der Winter of Discontent 1978/1979, in dem es zu ausgedehnten Streiks der Gewerkschaften mit dem Ziel signifikanter Lohnsteigerungen kam, endete mit einer erheblichen Schwächung der Gewerkschaftsbewegung. In der Folge kam Margaret Thatcher bei den Parlamentswahlen am 4. Mai 1979 an die Regierungsmacht. Im Britischen Bergarbeiterstreik 1984/1985 verlor die National Union of Mineworkers (NUM) immer mehr den Rückhalt der britischen Bevölkerung und führte zu einer zunehmenden Radikalität des Bergarbeiterführers Arthur Scargill. Nach über einem Jahr des Arbeitskampfes gewann die Regierung unter Margaret Thatcher die Oberhand über die Bergarbeitergewerkschaft. Es folgte die Abschaffung des Closed Shop (Pflichtmitgliedschaft in Gewerkschaften für Arbeiter zahlreicher Unternehmen) und dem Verbot der so genannten Flying Pickets (Streikposten, die nicht dem bestreikten Betrieb angehören). In der Wirtschaft wurden daraufhin einige von den Gewerkschaften zuvor bekämpften technischen Innovationen nachgeholt. So konnten beispielsweise Ende der Achtziger die britischen Zeitungen vom Bleisatz auf den in anderen Ländern schon seit langem üblichen Fotosatz umgestellt werden, was die Gewerkschaften bis dahin immer verhindert hatten. Die Bergarbeitergewerkschaft National Union of Mineworkers (NUM) verlor von 253.000 Mitgliedern im Jahre 1979 auf nunmehr unter 5.000 Mitglieder im Jahre 2000. Die Transport and General Workers Union (TGWU) hatte im Jahre 1979 noch 2.086.000 Mitglieder und kam im Jahre 2000 noch gerade auf 858.000 Mitglieder. Gewerkschaftliche Dachverbände in Großbritannien General Federation of Trade Unions (GFTU) Scottish Trades Union Congress (STUC) Trades Union Congress (TUC) Heutige Gewerkschaften in Großbritannien Wegen ihrer Größe oder Bedeutung sind hervorzuheben: National Union of Mineworkers (NUM). Sie ging 1945 aus einer Reorganisation der Miners’ Federation of Great Britain (MFGB) hervor. Die einzelnen Bergarbeitergewerkschaften, die in der Föderation zusammengeschlossen waren, waren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die größten und mächtigsten Gewerkschaften Großbritanniens und übten einen erheblichen Einfluss auf die Gewerkschaftsbewegung im Land aus. Unter anderem vertraten sie das Ziel, eigene Gewerkschaftskandidaten zu Unterhauswahlen aufzustellen und erlangten so 1874 die ersten Sitze im Unterhaus für Mitglieder der Arbeiterklasse. Die NUM-Mitgliederzahlen nahmen von ca. 253.000 Mitgliedern im Jahre 1979 auf unter 5.000 Mitglieder im Jahre 2000 ab. Die Transport and General Workers Union (TGWU) war im Jahre 1979 mit 2.086.000 Mitgliedern die größte Gewerkschaft Großbritanniens. Durch zahlreiche Reformen, insbesondere der konservativen Regierung unter Margaret Thatcher und ihre Wirtschaftspolitik hat sie auf 858.000 Mitglieder im Jahre 2000 abgenommen. General workers’ union (GMB) ist eine allgemeine Gewerkschaft (general union) mit 600.000 Mitgliedern. GMB ist in 34 der 50 größten Firmen organisiert. UNISON — the Public Service Union hatte 2005 1,3 Mio. Mitglieder + 155.000 Mitglieder. Public and Commercial Services Union (PCS) hat 325.000 Mitglieder. Union of Shop, Distributive and Allied Workers (USDAW) ist eine der größten Gewerkschaften im Bereich des Handels mit über 345.000 Mitgliedern. National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT) ist die Gewerkschaft der Transportindustrie mit 75.000 Mitgliedern. Irland 1908 wurde in Irland die Irish Transport and General Workers’ Union (ITGWU; Irische Transport- und Arbeiterunion) als eine irische Gewerkschaftsunion von James Larkin gegründet. Anfangs bezog die ITGWU ihre Mitglieder hauptsächlich von der in Liverpool ansässigen National Union of Dock Labourers (Nationale Union der Hafenarbeiter), aus der Larkin 1908 ausgeschlossen worden war. Später umfasste die Union Mitglieder verschiedener Industriezweige. Die ITGWU war der Dreh- und Angelpunkt während des Dublin Lockout im Jahr 1913 – einem monatelangen Generalstreik, der die ITGWU und die Arbeiterbewegung nachhaltig beeinflusste. Nach der (für die ITGWU fehlgeschlagenen) Aussperrung wanderte Larkin 1914 nach Amerika aus, und William X. O’Brien wurde der neue Anführer und diente später für viele Jahre als Generalsekretär. Larkin kehrte 1923 nach Irland zurück und traf sich mit Mitgliedern der Trade Union, um ein Ende des Irischen Bürgerkriegs zu bewirken. Trotz aller Bemühungen befand sich Larkin im Widerspruch zu William O’Brien, der in dessen Abwesenheit zur tragenden Figur der ITGWU, der Irish Labour Party und dem Trade Union Congress aufgestiegen war. Der bittere Streit zwischen den beiden sollte über zwanzig Jahre andauern. 1924 gründete Larkins Bruder Peter eine neue Union, die Workers’ Union of Ireland (WUI), zu der viele ITGWU-Mitglieder aus Dublin wechselten. Doch trotz des Mitgliederschwunds blieb die ITGWU die dominante Kraft unter den Gewerkschaftsverbänden, vor allem außerhalb der Hauptstadt Dublin. 1945 verließ die ITGWU den Irish Congress of Trade Unions, als der Congress die Mitgliedschaft der WUI akzeptierte, und begründete den rivalisierenden Congress of Irish Unions. 1990 schloss sich die ITGWU letztendlich mit der WUI zur neuen Gewerkschaft, der Services, Industrial, Professional and Technical Union (SIPTU) zusammen. Italien Italien hat – wie in Frankreich – politisch orientierte Richtunggewerkschaften: Confederazione Generale Italiana del Lavoro Die Confederazione Generale Italiana del Lavoro (CGIL) ist ein nationaler Gewerkschaftsbund in Italien. Sie wurde im Juni 1944 gegründet durch die Einigung von Sozialisten, Kommunisten und Christdemokraten, niedergelegt im so genannten Vertrag von Rom. Sie hat mehr als 5 Mio. Mitglieder, von denen ungefähr 2,3 Mio. aktiv sind. Die CGIL ist Mitglied im Internationalen Bund Freier Gewerkschaften und dem Europäischen Gewerkschaftsbund sowie des Gewerkschaftlichen Beratungsausschusses bei der OECD. Unione Sindacale Italiana Die Unione Sindacale Italiana (USI; Union der italienischen Syndikalisten) war der Dachverband der italienischen Syndikalisten, der im Zuge des Biennio rosso ca. 1 Mio. Mitglieder zählte. Die USI wurde 1912 gegründet. Sie sagte sich vom Reformismus los und orientierte sich an den radikalen Grundsätzen der Ersten Internationale. Sie schloss sich später der anarcho-syndikalistischen International Workers Association (IWA) an. Nach Kriegsende erreichte die Mitgliedszahl im Biennio rosso, den beiden „roten“ Jahren 1919 und 1920, einen Höhepunkt (ca. 1.000.000). Während dieser Zeit schloss sich der International Workers Association (IWA; Associazione Internazionale dei Lavoratori, AIT; Asociación Internacional de los Trabajadores) an. Sie nannte sich auch USI-AIT und wurde zum Hauptgegner Mussolinis in den Straßenschlachten des Biennio rosso und Biennio nero. Die USI-AIT wurde 1926 von Mussolini verboten, setzte jedoch ihre Tätigkeit im Untergrund und im Exil fort. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten die verbliebenen Mitglieder dem Ruf der Federazione Anarchica Italiana die zur Teilnahme an einer Einheitsgewerkschaft aufrief und fusionierte mit der Confederazione Generale Italiana del Lavoro (CGIL). Als sich die CGIL 1950 teilte, gründeten einige Aktivisten die USI-AIT erneut, konnten aber auch nicht annähernd an frühere Erfolge anschließen. Bis in die 1960er Jahre war sie in einigen Regionen vertreten, die syndikalistische Botschaft hielt sie bis zuletzt aufrecht. Confederazione Generale dei Sindacati Autonomi dei Lavoratori Die Confederazione Generale dei Sindacati Autonomi dei Lavoratori (CONF.S.A.L.) ist ein 1979 gegründeter italienischer Gewerkschaftsbund. Er entstand aus einer Fusion der seit vielen Jahren existierenden SNALS und UNSA. Er gehört dem europäischen Gewerkschaftsbund CESI an, dessen Mitgliedsorganisationen nicht sozialistisch sind. Confederazione Italiana Sindacati Autonomi Lavoratori Die Confederazione Italiana Sindacati Autonomi Lavoratori (CISAL) ist ein kleinerer Gewerkschaftsbund in Italien. Er wurde 1957 gegründet. Als einziger Gewerkschaftsbund weist er eine Präferenz für die von relativ vielen Arbeitern gewählten Partei Forza Italia des früheren Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi auf. Die CISAL zählt 1.700.000 Mitglieder. Autonomer Südtiroler Gewerkschaftsbund Der Autonome Südtiroler Gewerkschaftsbund (ASGB) ist die gewerkschaftliche Organisation der deutschen und ladinischen Arbeiterschaft in Südtirol. Er wurde 1964 von ehemaligen Mitgliedern der mehrheitlich italienischen Gewerkschaft CISL gegründet, um den Arbeitern der deutschen und ladinischen Volksgruppe eine eigenständige Gewerkschaftsvertretung zu ermöglichen. Heute ist der ASGB mit 27.000 Mitgliedern (2006) die stärkste Gewerkschaftsorganisation in Südtirol. Confederazione Italiana Lavoratori Liberi Die Confederazione Italiana Lavoratori Liberi (CONF.ILL; Italienischer Bund freier Arbeiter) ist eine Mitgliedsorganisation des Bundes europäischer nicht-sozialistischer Gewerkschaftsbünde CESI. Die CONF.ILL ist kein Gewerkschaftsbund im juristischen Sinne, hat aber in Italien etwa 200.000 Mitglieder. Unione Generale del Lavoro Die Unione Generale del Lavoro (UGL) ist ein unbedeutender italienischer Gewerkschaftsbund. Er steht der postfaschistischen Partei Alleanza Nazionale nahe. Die deutschen Gewerkschaften kooperieren nicht mit der UGL. 1950 wurde die UGL als CISNAL gegründet und trägt seit 1996 den jetzigen Namen. Sindacato Padano Das Sindacato Padano (SINPA, sinngemäß Oberitalienische Gewerkschaft) ist eine sehr kleine Gewerkschaft in Norditalien. Sie steht der norditalienischen Befreiungsbewegung Lega Nord nahe und besitzt nur eine eingeschränkte Bedeutung. Sie wurde 1996 als Sindacato Autonomo di Lavoratori Padani (Autonome Gewerkschaft der oberitalienischen Arbeiter) gegründet. Niederlande Die erste Gewerkschaft (vakbond) in den Niederlanden war der Algemene Nederlandse Grafische Bond, die 1866 gegründet wurde. Es gibt folgende Gewerkschaften (Vakbonden) in den Niederlanden: AVV Alternatief voor Vakbond, BTP Bond van Telecompersoneel, die Vereinigung des Telecompersonals; CMHF Centrale van Middelbaar en Hogere Functionarissen, VHMF Vereniging van Hoofdambtenaren bij het Ministerie van Financiën, CNV Christelijk Nationaal Vakverbond, der nationale christliche Gewerkschaftsbund; FNV Federatie Nederlandse Vakbeweging, LBV Landelijk Belangen Vereniging, LSVb Landelijke Studenten Vakbond, MHP Vakcentrale voor middengroepen en hoger personeel, Gewerkschaftszentrale für gehobene und höhere Angestellte; NU'91 Vakbond voor de verpleging en verzorging, Gewerkschaft für Nahrungsmittel und Versorgung; RMU Reformatorisch Maatschappelijke Unie, VAWO Vakbond voor de wetenschap, vakorganisatie voor personeel van universiteiten, onderzoekinstellingen en universitair medische centra, VHKP Vereniging voor Hoger KLM Personeel, eine kategoriale Gewerkschaft für KLM Fluggesellschaft Management und Spezialisten. VLD Vakbeweging in Vervoer, Logistiek en Dienstverlening, die Gewerkschaft für Dienstleister; VVMC Vakbond voor Rijdend Personeel, VNV Vereniging van Nederlandse Verkeersvliegers, die Vereinigung der Verkehrsflieger; Marver Marechaussee vereniging , VBMlNOV Vakbond voor defensiepersoneel. Österreich → Hauptartikel: Liste von Gewerkschaften in Österreich Österreichischer Gewerkschaftsbund Der Österreichische Gewerkschaftsbund ist eine 1945 gegründete überparteiliche Interessenvertretung für Arbeitnehmer. Traditionell wird er aber von den Sozialdemokraten dominiert. Er ist als Verein konstituiert und gliedert sich intern in sieben (Stand 2011) Teilgewerkschaften. Seit 2009/2010 befindet sich der ÖGB mit den Fachgewerkschaften PRO-GE, GBH, vida, GPF, GdG-KMSfB und dem Verband Österreichischer Gewerkschaftlicher Bildung (VÖGB), dem ÖGB-Verlag und dem Reiseunternehmen Sotour Austria in einem gemeinsamen Haus am Handelskai im 2. Wiener Gemeindebezirk (Johann-Böhm-Platz 1, 1020 Wien). Gewerkschaften in Österreich Die sieben Teilgewerkschaften sind: Gewerkschaft GPA (vormals GPA und DJP, dann Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck, Journalismus, Papier, 2020 Umbenennung in Gewerkschaft GPA) Gewerkschaft öffentlicher Dienst (GÖD) Gewerkschaft der Gemeindebediensteten, Kunst, Medien, Sport und freie Berufe (GdG-KMSfB) Gewerkschaft vida (vormals GdE, HTV und HGPD) Gewerkschaft Bau-Holz (GBH) Gewerkschaft für Post- und Fernmeldebedienstete (GPF) Produktionsgewerkschaft (Gewerkschaft PRO-GE) (vormals GdC und GMTN) Weiters sind die Gewerkschaften GBH, KMSfB, GPF und vida als infra – Die Allianz der Infrastrukturgewerkschaften gemeinsam tätig. Schweden Die Gewerkschaftsbewegung war ein integraler Bestandteil der Arbeiterbewegung in Schweden. Die ersten Gewerkschaftsvereine wurden in den 1870er Jahren nach britischem und deutschem Vorbild gebildet. Der Durchbruch gelang infolge der großen Streikwelle in Norrland um 1880. Diese Streiks, die vom Militär niedergeschlagen worden waren, wiesen auf die Notwendigkeit einer einheitlichen Organisation hin. In den folgenden Jahren entstand eine Reihe von Gewerkschaften, die sich 1898 in einem Dachverband, der Landesorganisation LO zusammenschlossen. Die positive Entwicklung wurde durch den Generalstreik von 1909 unterbrochen, weil dieser nach einigen Wochen zusammenbrach. Viele Mitglieder verließen die Landesorganisation und schlossen sich einer neugegründeten syndikalistischen Bewegung nach französischem Vorbild, Sveriges Arbetares Centralorganisation (SAC), an. Zunächst war die Konkurrenz zwischen diesen beiden Gewerkschaften stark, doch verlor die syndikalistische Gewerkschaft nach dem Ersten Weltkrieg schnell an Bedeutung. Die Landesorganisation ging schon früh eine enge Verbindung mit dem politischen Zweig der Arbeiterbewegung, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP), ein. Mit dem Erstarken der SAP bekam auch LO eine stärkere Position bei der Durchsetzung gewerkschaftlicher Fragen. Gewerkschaften und Arbeitgeber bekämpften gleichermaßen Versuche des Staates, den Arbeitsmarkt durch Gesetzgebung zu regeln. 1938 wurde das historisch bedeutsame Abkommen von Saltsjöbaden geschlossen: LO und die Arbeitgeberorganisation Svenska Arbetsgivareföreningen (SAF) legten Rahmenbedingungen für die Sozialpartnerschaft fest, die bis in die 1960er Jahre Gültigkeit behielten. Die Vertragspartner einigten sich über eine Verhandlungsordnung und stellten Regeln für den Einsatz von Kampfmaßnahmen auf. In der Zwischenkriegszeit entstanden auch die ersten Angestelltengewerkschaften. Die soziale und berufliche Situation der Angestellten war besser als die der Arbeiter, und sie standen den Arbeitgebern näher. Diese Angestelltengewerkschaften traten nicht dem SAP-nahen Dachverband LO bei, sondern bildeten 1944 einen eigenen Dachverband, Tjänstemännens Centralorganisation (TCO). 1947 entstand die letzte der drei Dachorganisationen, die Akademiker-Gewerkschaft SACO. In den 1960er und 1970er Jahren wuchsen die Gewerkschaften stark. Der Organisationsgrad betrug Mitte der 1980er Jahre 85 %. Danach stagnierte zwar die Mitgliederzahl, aber der heutige Organisationsgrad von 68 % (2019) ist einer der höchsten in allen Industriestaaten. Der Frauenanteil gleicht in skandinavischen Gewerkschaften dem Männeranteil und ist somit deutlich höher als im übrigen Europa. Die veränderten Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt haben zu einer verstärkten Zusammenarbeit der Gewerkschaftsverbände seit den 1990er Jahren geführt. Gewerkschaften in Schweden Landsorganisationen (LO): Dachverband für 16 Einzelgewerkschaften (1,86 Mio. Arbeiter 2005) Tjänstemännens Centralorganisation (TCO): Dachverband für 17 Einzelgewerkschaften (1,27 Mio. Angestellte 2005) Sveriges Akademikers Centralorganisation (SACO): Dachverband für 26 Einzelgewerkschaften (569.000 Akademiker 2005) Sveriges Arbetares Centralorganisation (SAC): syndikalistische Gewerkschaft (etwa 8.000 Mitglieder) Schweiz In der Schweiz ist heute gut jeder vierte Beschäftigte in einer Gewerkschaft oder einem gewerkschaftsähnlichen Verband organisiert. Im westeuropäischen Vergleich ist dies eher wenig. Gewerkschaftsverbände in der Schweiz Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) ist die größte Arbeitnehmerorganisation der Schweiz. In ihm sind sechzehn Einzelgewerkschaften zusammengeschlossen, die insgesamt rund 380.000 Mitglieder vertreten. Die Schweizer Gewerkschaften waren von Anfang an um die Schaffung eigener Selbsthilfe- und Sozialeinrichtungen bemüht: Zunächst Arbeitslosen- und Krankenkassen, Alters- und Unterstützungskassen, später Schulungs- und Ferien- und Sozialeinrichtungen. Von jeher gewährten die Gewerkschaften ihren Mitgliedern auch Rechtsschutz. 2002 wurde in Bern unter dem Namen Travail.Suisse eine neue Dachorganisation der Arbeitnehmenden gegründet. Urheber dieser Gründung waren die Verbände und Gewerkschaften, die vorher dem Christlichnationalen Gewerkschaftsbund der Schweiz (CNG) und der Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände (VSA) angeschlossen waren. Diese Verbände vertreten rund 170.000 Mitglieder. Einzelgewerkschaften in der Schweiz Mit dem Zusammenschluss der GBI, SMUV, VHTL, unia und actions zur Unia ist im Herbst 2004 die größte Gewerkschaft der Schweiz mit rund 200.000 Mitgliedern und fast 100 Sekretariaten entstanden. Die Anstellungsbedingungen von etwa einer Million Menschen sind in Gesamtarbeitsverträgen geregelt, die von der Unia ausgehandelt werden. syndicom: Gewerkschaft Medien und Kommunikation mit 43.000 Mitgliedern garanto: Zollgewerkschaft Gewerkschaft Bau und Industrie, (GBI), seit 2004 Teil der UNIA Gewerkschaft Verkauf Handel Transport Lebensmittel (VHTL): Früher 14.000 Mitglieder, seit 2004 Teil der UNIA Personalverband des Bundes (PVB): 12.000 Mitglieder Gewerkschaft Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen (Smuv): Früher 90.000 Mitglieder, seit 2004 Teil der UNIA Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV): 47.000 Mitglieder Schweizerischer Lehrerinnenverein, Gewerkschaft Syna: 65.000 Mitglieder Swiss Air Traffic Controllers’ Associations (SwissATCA) Unia: 200.000 Mitglieder Schweizerischer Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) Verband schweizerischer Arbeiterinnenvereine (SAV): von 1893 bis 1917 Verband Schweizer Lokomotivführer und Anwärter (VSLF) Spanien In Spanien gibt es verschiedene Gewerkschaftsbünde. Zu den größten gehören die Comisiones Obreras, die Unión General de Trabajadores und die Union Sindical Obrera. Regionale Organisationen sind die Confederación Intersindical Galega in Galicien, die baskische demokratische ELA-STV und die baskische nationalistische Langile Abertzalen Batzordeak. Des Weiteren ist die anarcho-syndikalistische Gewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo (CNT) die einst eine einflussreiche Gewerkschaft, v. a. im katalanischen Raum um Barcelona war. USA Gewerkschaftsentwicklung im 19. Jahrhundert In den USA entstanden die Gewerkschaften nicht wie die europäischen Gewerkschaften aus klassenkämpferischen Motiven, sondern sie waren überwiegend eine Schutzgemeinschaft gegenüber den Einwanderern und den Nichtorganisierten. Die US-Gewerkschaften des späten 19. Jahrhunderts verstanden sich als Gegenentwurf zu den Unternehmenskartellen gewissermaßen als „Lohnkartelle“, die im kapitalistischen System die Rolle des Anbieters von Arbeitskraft einnahmen und diese im Interesse ihrer Mitglieder möglichst teuer verkaufen wollten. In der Anfangszeit wurden Arbeitgeber oft erpresst und mit Gewalt gezwungen, nur Gewerkschaftsmitglieder einzustellen. Umgekehrt war die Mitgliedschaft in einer US-Gewerkschaft üblicherweise an hohe Eintrittsgebühren oder Abgabe eines Teils des Lohnes sowie Aufnahmeprüfungen gebunden. Als erste US-Gewerkschaft wurde die National Labor Union (NLU) am 20. August 1866 in Baltimore gegründet. Ihr wichtigstes Ziel war die Einführung des Achtstundentages. Schwarze oder Chinesen wurden in dieser Trade Union anfangs nicht als Mitglied aufgenommen und gründeten eigene kleine Gewerkschaften. In ihrer Grundsatztagung von 1869 erklärte die NLU, Arbeiterrechte unabhängig von Geschlecht und Hautfarbe zu vertreten, und öffnete sich ab nun auch Frauen und Schwarzen. Die NLU beschränkte sich jedoch zunehmend auf die Arbeit im Parlament (Einbringen von Gesetzesinitiativen); ihre Bedeutung nahm ab und sie löste sich 1873 auf. Schon 1869 wurden die Knights of Labor gegründet und wurden bald zur führenden Gewerkschaft in den USA. Sie hatte bis zu 700.000 Mitglieder im 19. Jahrhundert. Ihre Ziele waren neben der Erhöhung der Löhne die Abschaffung der Kinderarbeit und die Einführung des Achtstundentages. Sie forderten „a proper share of the wealth they create, […] more free time, and generally more benefits of society“, kurz also eine gerechtere Vermögensverteilung, mehr Freizeit und eine sozialere Gesellschaft. Bekannt wurde aus den Reihen dieser Gewerkschaft Thomas Mooney (1882–1942), der ein Arbeiteraktivist in San Francisco war und der in den Bombenanschlag beim Preparedness Day 1916 verwickelt gewesen sein soll. Eine Unterstützerin der Gewerkschaftsforderungen war ab 1870 Victoria Woodhull, die zeitweise dem amerikanischen Zweig der Ersten Internationale angehörte. 1886 gründete Samuel Gompers als Reorganisation der Vorgängerorganisation Federation of Organized Trades and Labor Unions in Columbus (Ohio) die American Federation of Labor (AFL, heute AFL-CIO), die US-weit schon bald 1,4 Millionen Mitglieder aufweisen sollte. Sie war einer der ersten Facharbeitergewerkschaftsbünde in den USA. Gompers war bis zu seinem Tode im Jahr 1924 Präsident der AFL. Gewerkschaftsverbände in den USA 1886 schlossen sich viele Einzelgewerkschaften zum Dachverband AFL zusammen, der rund die Hälfte der amerikanischen Arbeiter vertrat. Nach außen setzte der Verband auf die Abriegelung vor allem gegenüber der wegen der Fließbandfertigung wachsenden Schicht der ungelernten Arbeiter. Die AFL konzentrierte sich auf die direkten, aktuellen Forderungen der Arbeiter und stellte die Rechte der Eigentümer der Produktionsmittel im Kapitalismus nicht in Frage. Sie unterstützte einzelne Politiker, welche die Interessen der Arbeiter vertrat, nicht jedoch einzelne Parteien. Sie stand im Gegensatz zu den radikaleren Industrial Workers of the World (IWW), die sich als Klassenkampforganisation verstand und alle Arbeiter und Arbeiterinnen unabhängig von ihrem beruflichen Status organisierte. 1938 spalteten sich zehn Gewerkschaften von der AFL ab und gründeten den neuen Dachverband CIO, der sich gezielt Ungelernten öffnete. Beide Verbände standen sich in den folgenden Jahrzehnten verfeindet gegenüber. Nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten die Gewerkschaften unter Druck durch die republikanische Mehrheit im Kongress und den Präsidenten Eisenhower. 1955 vereinigte sie sich deshalb wieder mit dem CIO und existiert heute als AFL-CIO. Die Mitgliederschaft nimmt kontinuierlich ab. 1955 waren 34 % der Arbeiter in den USA in dem neuen Dachverband organisiert. 2005 waren es 12 %. Für 2008 wird der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der privaten Wirtschaft nur noch mit 7,5 % angegeben. 2005 traten zahlreiche Gewerkschaften (darunter mit der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU die größte Einzelgewerkschaft) aus und formierten sich unter dem neuen Dachverband Change to Win. Seit dem späten 20. Jahrhundert wandeln sich die US-Gewerkschaften programmatisch immer mehr zu einer ganzheitlichen Vertretung aller Arbeitnehmer. Ihr Einfluss ist seit 1980 stetig zurückgegangen. Einzelgewerkschaften in den USA United Steelworkers Die United Steel, Paper and Forestry, Rubber, Manufacturing, Energy, Allied Industrial and Service Workers International Union (USW) ist mit über 1,2 Millionen aktiven und ehemaligen Mitgliedern die größte Industriegewerkschaft Nordamerikas. Sie vertritt Arbeiter in den USA und in Kanada. Hauptsitz der Gewerkschaft ist Pittsburgh (Pennsylvania). Die USW wurde als USWA am 22. Mai 1942 von Mitgliedern der Amalgamated Association of Iron, Steel, and Tin Workers und des Steel Workers Organizing Committee gegründet. Zuvor war es zu häufigen, teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen von streikenden Arbeitern und Streikbrechern oder der Polizei gekommen. Erster Präsident der Gewerkschaft war Mitbegründer Philip Murray. American Railway Union Die American Railway Union (ARU) war die größte Gewerkschaft der 1890er Jahre in Amerika und die erste Industriegewerkschaft in den Vereinigten Staaten. Sie wurde am 20. Juni 1893 von Bahnarbeitern in Chicago, Illinois, unter der Führung von Eugene V. Debs (einem Lokomotivheizer) gegründet. Die ARU verkörperte in ihrer Politik, anders als die anderen Gewerkschaften, eine Vertretung aller Bahnmitarbeiter, unabhängig davon, ob sie nun als Handwerker oder im Dienst am Kunden bei einer Eisenbahngesellschaft eingesetzt waren. Innerhalb eines Jahres hatte die ARU Hunderte von Ortsgruppen und über 140.000 Mitglieder im ganzen Land. 1893 kürzte die Eisenbahngesellschaft Great Northern Railway die Löhne ihrer Beschäftigten. Bis zum April entschied sich die ARU für einen Streik und legte damit die Eisenbahn für 18 Tage lahm. Sie erzwang dadurch von der Gesellschaft die Rücknahme der Lohnkürzungen bei ihren Arbeitern. Dies war der erste und einzige Sieg der Gewerkschaft. In ähnlicher Weise kürzte die Pullman Palace Car Company ihre Löhne fünfmal – um 30 bis 70 Prozent – zwischen September 1893 und März 1894. Viele Pullman-Arbeiter waren inzwischen in die Eisenbahnergewerkschaft eingetreten. Eine ARU-Versammlung sich aus Solidarität den Streikenden anzuschließen und boykottierte Pullman-Waggons. Der Boykott wurde ein großer Erfolg. Als Antwort darauf gab das Pullman-Management die Order aus, Pullman-Waggons an die Postzüge anzuhängen, um sich so eine Unterstützung ihres Standpunktes über den Postdienst zu verschaffen und die Bundesregierung zu interessieren. Mit Hilfe des Sherman Antitrust Acts von 1890, der geregelt hatte, es sei für Firmenzusammenschlüsse illegal, Handelsbewegungen oder den Handel einzuschränken, wurde ein gerichtliches Verbot am 2. Juli erwirkt. Es untersagte der ARU-Führung, durch „Zwingen oder Herbeiführen von Drohungen, Einschüchterung, Überredung, Gewalt oder Tätlichkeiten, Bahnangestellten zu verwehren oder sie zu hindern, ihre Aufgaben durchzuführen.“ Am nächsten Tag befahl US-Präsident Grover Cleveland 20.000 Mann Bundestruppen, den Streik zu zerschlagen und für den Zuglauf zu sorgen. Bis zum 7. Juli wurden Debs und sieben andere ARU-Funktionäre festgenommen, angeklagt und wegen „Verschwörung zur Störung des freien Postverkehrs“ verurteilt. Der Streik wurde endgültig zerschlagen. Die ARU löste sich schließlich auf. Die Pullman Company öffnete ihren Betrieb ohne die entlassenen Gewerkschaftsführer wieder. International Brotherhood of Teamsters Die International Brotherhood of Teamsters (IBT) (sinngemäß: Internationale Bruderschaft der Fuhrleute), kurz nur Teamsters genannt, ist die Gewerkschaft der Transportarbeiter und damit die größte Einzelgewerkschaft der USA und ist seit 1992 auch in Kanada als Teamsters Canada tätig. Die IBT, vormals auch bekannt als International Brotherhood of Teamsters, Chauffeurs, Warehousemen and Helpers of America verfügt über etwa 1,4 Mio. beitragszahlende Mitglieder und 400.000 Rentner (Stand 2004) und gehört damit auch zu den größten Einzelgewerkschaften weltweit. Anfänglich waren die Teamsters nur eine Gewerkschaft für Lastkraftwagenfahrer, expandierten aber zur allgemeinen Transportarbeitergewerkschaft und reichen heute bis hinein in die Lebensmittelbranche. Sie sind somit auch die zuständige Gewerkschaft beim Logistikriesen UPS. Die Gewerkschaft gehört heute zur Gewerkschaftsgruppe Change to win, nachdem sie mit einigen anderen Gewerkschaften 2005 den ehemaligen Dachverband AFL-CIO verließ. Writers Guild of America Die Writers Guild of America (WGA) ist die gemeinsame Gewerkschaft der Autoren in der Film- und Fernsehindustrie der USA. Sie teilt sich in einen westlichen und östlichen Bereich. Ab 2003 zählte sie landesweit über 11.000 Mitglieder. Die Gewerkschaft sorgt auch für die Gesundheits- und Pensionsleistungen der Mitglieder. Ebenso kontrolliert sie die Einhaltung des Urheberrechtes. National Hockey League Players Association Die National Hockey League Players’ Association (NHLPA) ist eine Gewerkschaft der Profi-Eishockey-Spieler der NHL in Nordamerika. Der Hauptsitz der Spielervereinigung NHLPA ist Toronto. Sie wurde im Juni 1967 von den Spielern aus den Eishockeyclubs der Original Six gegründet. Das Collective Bargaining Agreement (CBA; Gesamtarbeitsvertrag) stellt den Tarifvertrag zwischen der NHL (Vereine) und der Spielergewerkschaft NHLPA dar. Gewerkschaften in der Filmkunst Die Faust im Nacken mit Marlon Brando Norma Rae – Eine Frau steht ihren Mann mit Sally Field F.I.S.T. – Ein Mann geht seinen Weg mit Sylvester Stallone Silkwood mit Meryl Streep, Cher und Kurt Russell Blue Collar mit Richard Pryor und Harvey Keitel Jimmy Hoffa mit Jack Nicholson Bread and Roses von Ken Loach Pride von Matthew Warchus Siehe auch Arbeitsrecht Koalitionsrecht Mitarbeitervertretung Personalvertretung Sozialabbau Sozialpartnerschaft Syndikat Tarifvertragsrecht Uganda National Teachers’ Union Union Busting Liste von Gewerkschaften in Europa Literatur Gewerkschaften. (PDF; 3,9 MB) In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 13–14/2010. Stefan Berger (Hrsg.): Gewerkschaftsgeschichte als Erinnerungsgeschichte. Der 2. Mai 1933 in der gewerkschaftlichen Erinnerung und Positionierung nach 1945. Klartext, Essen 2015, ISBN 978-3-8375-1580-0. Valérie Boillat, Bernard Degen, Elisabeth Joris, Stefan Keller, Albert Tanner, Rolf Zimmermann (Hrsg.): Vom Wert der Arbeit. Schweizer Gewerkschaften – Geschichte und Geschichten. Rotpunktverlag, Zürich 2006. Peter Bremme, Ulrike Fürniß, Meinecke (Hrsg.): Never work alone. Organizing – ein Zukunftsmodell für Gewerkschaften. VSA-Verlag, Hamburg 2007. Gary N. Chaison: Unions in America. 2005, ISBN 0-7619-3034-5. F. U. Berlin: Gewerkschaftshandbuch. 1997. Jochen Gollbach: Europäisierung der Gewerkschaften. 2005, ISBN 3-89965-126-X. Thomas Haipeter, Klaus Dörre (Hrsg.): Gewerkschaftliche Modernisierung. VS Verlag, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-17753-3. Juri Hälker, Vellay Claudius (Hrsg.): Union Renewal. Gewerkschaften in Erneuerung. In: Texte aus der internationalen Gewerkschaftsforschung. Edition der Hans-Böckler-Stiftung, 2006. Wolfgang Kowalsky, Peter Scherrer (Hrsg.): Gewerkschaften für einen europäischen Kurswechsel. 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Rob Sewell: In the Cause of Labour: A History of the British Trade Unions, 1792–2003. Well Red Publications, November 2003, ISBN 1-900007-14-2. Hans-Wolfgang Platzer: Europäisierung der Gewerkschaften: Gewerkschaftspolitische Herausforderungen und Handlungsoptionen auf europäischer Ebene – Perspektiven gemeinsamer Politik mit der Sozialdemokratie. PDF 150 kB, Friedrich-Ebert-Stiftung, April 2010. Werner Rügemer, Elmar Wigand: Die Fertigmacher. Arbeitsunrecht und professionelle Gewerkschaftsbekämpfung. PapyRossa, Köln 2014, ISBN 978-3-89438-555-2. Hans Rühle, Hans-Joachim Veen (Hrsg.): Gewerkschaften in den Demokratien Westeuropas. 2 Bände, Schöningh, Paderborn u. a. 1983. Band 1: Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland (= Studien zur Politik. Bd. 7). ISBN 3-506-79307-1. Band 2: Grossbritannien, Niederlande, Österreich, Schweden, Dänemark (= Studien zur Politik. Bd. 8). ISBN 3-506-79308-X. Weblinks Volltexte in der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn Industrialisierung/Anfänge der Gewerkschaftsbewegung Gewerkschaften - Bundeszentrale für politische Bildung Geschichte der Gewerkschaften in Deutschland Wozu gibt es Gewerkschaften heute? Knud Andresen: Gewerkschaftsgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 26. August 2021 Einzelnachweise Arbeitsrecht Organisation der Arbeiterbewegung Organisationsform
1874
https://de.wikipedia.org/wiki/Gernika
Gernika
Gernika [] (offiziell baskisch Gernika-Lumo, kastilisch Guernica y Luno) ist eine Stadt von spezifischer historisch-politischer Bedeutung in der spanischen autonomen Region Baskenland (baskisch Euskadi). Vom 14. bis 16. Jahrhundert reisten die kastilischen Könige jeweils im ersten Jahr nach ihrer Machtübernahme nach Gernika, um einen Eid auf die Wahrung der baskischen Freiheitsrechte, der Fueros, zu leisten. In der Folge war Gernika nicht nur das administrative Zentrum von Bizkaia, sondern wurde mit dem „Baum von Gernika“ als Freiheitssymbol auch zur heiligen Stadt der Basken. Am 26. April 1937, während des Spanischen Bürgerkriegs, flogen Kampfflugzeuge der deutschen Legion Condor und des italienischen Corpo Truppe Volontarie mit Spreng-, Splitter- und Brandbomben den Luftangriff auf Guernica. Bei den darauf folgenden Großfeuern kamen mehrere hundert Menschen, nahezu ausschließlich Zivilisten, ums Leben. Noch im selben Jahr schuf Pablo Picasso für die Pariser Weltausstellung das Gemälde Guernica oder Die Schrecken des Krieges, das Gernikas Zerstörung zu einem weltweit bekannten Sinnbild der Kriegsächtung hat werden lassen. In Spanien und Deutschland hingegen kam es erst nach dem Ende der Diktatur Francisco Francos ab den späten 1970er Jahren zur historischen Aufarbeitung des Geschehens und zu Schritten der Aussöhnung. Gernikas 2003 eröffnetes Friedensmuseum ist zugleich Friedensforschungsstätte. Der am 13. März 1977 entdeckte Asteroid des äußeren Hauptgürtels (2293) Guernica wurde nach der Stadt benannt. Geografie Gernika liegt nordöstlich von Bilbao (Bilbo) und gehört zur Provinz Bizkaia. Das Municipio Gernika-Lumo besteht aus der Stadt Gernika und dem 1,5 km entfernten Vorort San Pedro de Luno. Die verkehrsgünstige Lage am Fluss Oka machte Gernika in früheren Jahrhunderten zu einem regionalen Handelszentrum. Die Kleinstadt liegt am Camino de la Costa (Jakobsweg an der Küste), ca. 10 km nordöstlich befindet sich der Bemalte Wald von Oma des Künstlers Agustín Ibarrola. Historischer Sammelpunkt baskischer Identität Schon im Mittelalter, heißt es bei Michael Kasper, hätten sich die Volksvertreter der Provinz unter dem heiligen Baum, der Eiche von Gernika, zur Beratung aller anstehenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Fragen versammelt. Den kastilischen Herrschern, die ebendort jeweils von Neuem die baskischen Freiheitsrechte garantierten, sicherten die Versammelten ihrerseits die Gefolgschaft der Provinz zu. Nach dem 16. Jahrhundert sahen die Herrscher von dieser Anreise ab, versicherten aber durch ihre Stellvertreter weiter die Beachtung der Fueros. Neben der Provinzregierung und dem Stellvertreter der Krone ließen sich auch andere wichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Gernika nieder, das sich so „zu einer eleganten Kleinstadt mit hauptstädtischem Flair“ entwickelte. Auch Wilhelm von Humboldt sah in Gernika 1801 den Verwaltungsmittelpunkt von Bizkaia, „da alle öffentlichen Verhandlungen immer mit den Worten: so el arbol de Guernica, unter dem Baum von Guernica, anheben.“ Über den vor Ort angetroffenen Baum äußerte Humboldt: „Man wünschte eine durch ihr Alter ehrwürdige, laubreiche Eiche auf einem schönen freien, ländlichen Platz zu sehen, um sich lebhafter jene Zeiten zurückrufen zu können, in welchen die Angelegenheiten einer Nation einfacher, als jetzt kaum die einer Familie entschieden wurden. Allein man findet zwar eine ziemlich grosse, aber nichts weniger als mahlerische Steineiche, mit einem vom Winde gewundenen aufgeborstenen Stamm, und einigen vertrockneten Ästen, ein Bild, wenn man will, der Verfassung, die auch manchen Stürmen getrotzt, allein auch manchen unterlegen hat, und in mehr als einem Stück von ihrer ursprünglichen Form ausgeartet ist. Neben dem eigentlichen Baum sind einige jüngere gepflanzt, um jenen, wenn er ausgehen sollte, sogleich zu ersetzen.“ Schon Jean-Jacques Rousseau hatte nach einem Besuch der Stadt beeindruckt notiert: „In Guernica leben die glücklichsten Menschen. Ihre Angelegenheiten regeln sie durch eine Körperschaft von Bauern unter einer Eiche, und stets verhalten sie sich klug.“ Globales Symbol für Luftkriegszerstörungen Der von den Basken ihrem geistigen Zentrum Gernika beigemessene hohe Symbolwert war laut Michael Kasper gewiss einer der Gründe für den zerstörerischen Luftangriff der deutschen Legion Condor und der italienischen Corpo Truppe Volontarie auf Seiten Francos im Spanischen Bürgerkrieg am 26. April 1937. Entgegen dem offiziellen Angriffsziel – Zerstörung der Brücke über die Oka, um dem baskischen Heer den Rückzug zu erschweren – fielen die Bomben auf das Stadtzentrum und die Zivilbevölkerung, die Hunderte von Toten zu beklagen hatte, während die Brücke und die nahegelegenen Waffenfabriken nicht getroffen wurden. Wolfgang Wippermann sieht als Ergebnis dieses Luftangriffs auf Gernika einen Holocaust im Sinne von „ganz und gar verbrannt“. Die Dimension der Zerstörung aber wurde unter der Diktatur Francos geleugnet und tabuisiert. Man bestritt, dass ein Bombardement überhaupt stattgefunden habe. Stattdessen wurden „die Roten“ und die baskischen Nationalisten beschuldigt, die Stadt bei ihrem Rückzug selbst in Brand gesteckt zu haben. In der deutschen Öffentlichkeit wurde – ungeachtet selbst der weltweiten Beachtung von Picassos Guernica-Gemälde – die Zerstörung Gernikas durch die nationalsozialistische Propaganda ebenfalls unterschlagen. Die Art des Vorgehens machte aber jenseits der faschistischen Herrschaftsgebiete deutlich, dass hier eine Strategie künftiger Kriegführung erprobt wurde. Hermann Göring bezeichnete in den Nürnberger Prozessen den Angriff „als eine Art Prüfstand für die Luftwaffe“. Die zivilen Opfer seien zu bedauern; doch habe man keine andere Möglichkeit gehabt: „Damals konnte man sich diese Erfahrung nirgendwo anders holen.“ Ein Ort der Aussöhnung und Friedensforschung Erst nach dem Tod des Diktators Francisco Franco 1975 konnten die Einwohner Gernikas den Jahrestag der Bombardierung ihrer Stadt als Gedenktag offiziell begehen; sie zeigten sich in der Folge auch zur Aussöhnung mit Deutschland bereit. Doch war die deutsche Reaktion zunächst weiterhin zwiespältig: Während es einerseits diejenigen Deutschen gab, die die NS-Vergangenheit zu verdrängen suchten, um eine Zukunft ohne Schuldkomplexe aufzubauen, gab es unter denen, die auf dem Erinnern bestanden, um eine bessere Zukunft zu gestalten, Befürworter einer Geste der Versöhnung gegenüber Gernika. Diese blieb aber unter vielerlei Vorwänden lange Zeit aus. Im Vorfeld des 50. Jahrestags der Bombardierung Gernikas schließlich legten aus eigener Initiative Petra Kelly und Gert Bastian am 18. April 1987 einen Kranz am heiligen Baum von Gernika nieder. Danach schlugen sie im Bundestag eine deutsche Unterstützung für das in der Planung befindliche Friedensforschungszentrum in Gernika vor, hatten damit jedoch keinen Erfolg. Im November 1988 erging dafür eine Beschlussempfehlung des Bundestags, in der eine Städtepartnerschaft zwischen Gernika und dem im Zweiten Weltkrieg durch Bombenangriffe ebenfalls nahezu vollständig zerstörten Pforzheim begrüßt wurde. Der Pforzheimer Oberbürgermeister erklärte nach Inkrafttreten der Städtepartnerschaft am 29. April 1989: „Deutsche haben über Ihre Stadt viel Leid und Elend gebracht. So bitte ich Sie ganz persönlich um Verzeihung für dieses schwere Unrecht, das Ihrer Stadt von Deutschen zugefügt wurde.“ Unterdessen verfügt Gernika über ein Museum des Friedens, das an das 1987 gegründete Friedensforschungszentrum Gernika Gogoratuz (baskisch für „Gernika erinnern“) angeschlossen ist. Die UNESCO hat Gernika als internationale Friedensstadt ausgezeichnet. 1991 wurde ein Park der Europäischen Völker mit mehreren Skulpturen eröffnet. Gure aitaren etxea (Das Haus unseres Vaters) von Eduardo Chillida und Large figure in a shelter (Große Figur in einer Schutzhütte) von Henry Moore sind die prominentesten. Noch Mitte der 1990er Jahre scheiterte eine von Pforzheim vorangetriebene Versöhnungsgeste, die die finanzielle Beteiligung Deutschlands an der Schaffung eines Berufsbildungszentrums in Gernika vorsah. Erst im November 1996 beschloss der Bundestagsausschuss für Bildung und Wissenschaft Mittel für den Bau einer Sporteinrichtung in Gernika in Höhe von jeweils einer Million DM für die drei darauffolgenden Jahre. Eine Initiative des Friedensforschungszentrums Gernika Gogoratuz führte schließlich 1997 dazu, dass Bundespräsident Roman Herzog sich offiziell an die Überlebenden des Luftangriffs auf Gernika wandte und durch den deutschen Botschafter ein Grußwort verlesen ließ, in dem es unter anderem hieß: „Ich möchte mich der Vergangenheit stellen und mich zur schuldhaften Verstrickung deutscher Flieger ausdrücklich bekennen. […] Ich trauere mit Ihnen um die Toten und Verletzten. Ihnen, die die Wunden der Vergangenheit noch in sich tragen, biete ich meine Hand mit der Bitte um Versöhnung.“ Am 24. April 1998 schloss sich der Bundestag in einer Erklärung anlässlich des 61. Jahrestags der Bombardierung den Worten des Bundespräsidenten an. Seit 2022 ist auch die ukrainische Stadt Irpin Partnerstadt von Gernika. Persönlichkeiten Söhne und Töchter der Stadt: Lope Alberdi Recalde (1869–1948), Orgelbauer Juan Allende-Salazar (1882–1938), Kunsthistoriker Rafael Iriondo (1918–2016), Fußballspieler und -trainer Luis Villasante (1920–2000), Franziskaner, Autor und Akademiker der Euskaltzaindia Mario Iceta (* 1965), römisch-katholischer Erzbischof von Burgos Roberto Laiseka (* 1969), Radrennfahrer Joane Somarriba (* 1972), Radrennfahrerin Gorka Gerrikagoitia (* 1973), Radrennfahrer Rubén Oarbeascoa (* 1975), Radrennfahrer Andoni Lafuente (* 1985), Radrennfahrer Pello Bilbao (* 1990), Radrennfahrer Eduardo Vallejo, Gernikas früherer Bürgermeister, wird mit dem Ausspruch zitiert: „Guernica wurde nicht berühmt, weil es bombardiert wurde. Guernica wurde bombardiert, weil es berühmt war.“ Weblinks Museo de la Paz de Gernika (baskisch, spanisch, englisch und französisch) Gernika Gogoratuz (baskisch, spanisch und englisch) Almut Finck: 26.04.1937 - Guernica im spanischen Bürgerkrieg zerstört WDR ZeitZeichen vom 26. April 2017. (Podcast) Anmerkungen Ort in der Autonomen Gemeinschaft Baskenland Spanischer Bürgerkrieg Gernika-Lumo Gegründet 1366 Stadt in Spanien Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden
1877
https://de.wikipedia.org/wiki/Galba
Galba
Lucius Livius Ocella Servius Sulpicius Galba (* 24. Dezember 3 v. Chr. bei Tarracina; † 15. Januar 69 in Rom) war vom 8. Juni 68 bis 15. Januar 69 römischer Kaiser. Im Jahr seines Todes wurden drei weitere Kaiser ernannt, weswegen es als Vierkaiserjahr in die Geschichte eingegangen ist. Galba war der erste Kaiser, der nicht aus dem julisch-claudischen Kaiserhaus stammte. Leben Familie und Herkunft Galba wurde am 24. Dezember 3 v. Chr. in einer Villa bei Tarracina geboren. Er stammte aus einer alten senatorischen Familie der Nobilität und galt charakterlich als untadelig. Sein Vater war Gaius Sulpicius Galba (Suffektkonsul 5 v. Chr.), seine Mutter Mummia Achaica. Über seine Mutter hatte er verwandtschaftliche Verbindungen zu Quintus Lutatius Catulus (Konsul 78 v. Chr.), einem großen Politiker der späten Republik, der Galba ein Vorbild war. Nach deren Tod adoptierte ihn Livia Ocellina, die zweite Frau seines Vaters, wodurch er deren großen Besitz bei Tarracina erbte. Fortan nannte er sich Lucius Livius Ocella Servius Sulpicius Galba, wodurch eine nähere Verbindung zu Livia entstand, der Frau des Augustus und Mutter des Tiberius, die ihn in seiner Karriere förderte. Zudem vermachte Livia Ocellina ihm eine beachtliche Menge an Reichtum. Galba hatte einen älteren Bruder, Gaius, der 22 das Amt des Konsuls erreichte, jedoch sein Vermögen verschleuderte und sich aus Rom zurückzog. Nachdem er bei Tiberius in Ungnade gefallen war, beging Gaius 36 Selbstmord. Galba heiratete um 20 Aemilia Lepida, mit der er zwei Söhne hatte. Sowohl seine Frau als auch die beiden Kinder verstarben jedoch, woraufhin Galba als Witwer lebte. Karriere Galba begann die senatorische Ämterlaufbahn (cursus honorum) unter der Herrschaft des Tiberius. Als Prätor ließ er bei den ludi florales, den Spielen zu Ehren der Göttin Flora, seiltanzende Elefanten auftreten. Noch vor seinem ersten ordentlichen Consulat 33 war Galba für ein Jahr praetorischer Statthalter von Aquitanien. Nachdem im Sommer 39 eine Verschwörung gegen Caligula aufgedeckt wurde, bei der Gnaeus Cornelius Lentulus Gaetulicus (Konsul 26), der Kommandant des obergermanischen Heeres, eine tragende Rolle spielte, wurde Galba dessen Nachfolger. Mit harten Maßnahmen stellte er die Disziplin des Heeres wieder her. Etwa um diese Zeit, vielleicht noch unter seinem Vorgänger, war ein Einfall der Chatten über den Rhein erfolgt, weshalb Galba 39/40 einen Vorstoß in deren Gebiet unternahm. Dieser Feldzug wurde im Frühjahr oder Sommer 40 unter dem Oberbefehl Caligulas auf rechtsrheinischem Gebiet fortgesetzt. Als jedoch Caligula im Spätsommer 40 nach Rom abreiste, kam es zu einem erneuten Vorstoß der Chatten. Dieser wurde im folgenden Jahr, unter der Herrschaft des Claudius, durch Galba zurückgeschlagen, wobei er auch in das Gebiet der Chatten eindrang. Die Siege Galbas sorgten dafür, dass in den folgenden zehn Jahren die Chatten den Frieden hielten. 43 begleitete er Claudius, der ihn sehr schätzte, als comes auf dessen Britannienreise und 44–46 war er Prokonsul von Africa. Dort sollte Galba die Ordnung in der Provinz wiederherstellen, die sowohl durch innere Streitigkeiten als auch rebellierende Stämme bedroht war. Hier besiegte er 45 die Musulamier. Auch sein Beharren auf Disziplin und sein Gerechtigkeitssinn, gerade auch in unbedeutenden Angelegenheiten, halfen ihm bei der Ausführung seiner Aufgabe. Für seine Dienste in Africa und Germanien bekam Galba die Auszeichnungen eines Triumphators und drei Priesterämter verliehen. In der folgenden Zeit zog sich Galba ins Privatleben zurück, wobei wohl die Missgunst Agrippinas, der Schwester des Caligula und Mutter Neros, die Claudius 49 geheiratet hatte, eine Rolle spielte. Nach deren Ermordung im März 59 wurde Galba 59/60 wieder rehabilitiert, da er immer noch als tüchtig und loyal galt. Von Nero wurde Galba 60 als Statthalter in die Provinz Hispania Tarraconensis gesandt. Herrschaftsübernahme Bereits nach der Ermordung Caligulas durch die Prätorianer am 24. Januar 41, soll Galba ein erstes Mal von seinen Freunden dazu gedrängt worden sein, nach der Macht zu greifen, was er jedoch ablehnte. Im Winter 67/68 begann unter der Initiative von Gaius Iulius Vindex, dem Statthalter der unbewaffneten Provinz Gallia Lugdunensis, eine Aufstandsbewegung gegen Nero. Galba verhielt sich auf dessen Bitte um Unterstützung zuerst neutral, da er sich weder anschloss, noch die Nachricht von der Rebellion nach Rom übersandte, wie dies andere Kommandeure taten. Dies scheint daran gelegen zu haben, dass Galba den Briefen kein Vertrauen schenkte. Erst Anfang April 68 schloss Galba sich der Aufstandsbewegung an und wurde am 3. April in Carthago Nova durch Soldaten und Provinziale zum Kaiser ausgerufen. Er nannte sich jedoch zunächst legatus Senatus Populique Romani, da die letztendliche Entscheidung über den Nachfolger Neros dem Senat überlassen werden sollte. Galba sandte zudem Briefe an die anderen Provinzstatthalter, in denen er um ihre Unterstützung bat. Diesen Bitten kamen Aulus Caecina Alienus, der Quaestor von Baetica, und Marcus Salvius Otho, der Statthalter von Lusitania, nach, die sich ihm anschlossen. Gerade Othos finanzielle Unterstützung brauchte Galba, um seine Truppen zu bezahlen. Zu Beginn verfügte er nur über eine Legion, die Legio VI Victrix, drei Auxiliarkohorten und zwei Reiterschwadronen. Galba ordnete deshalb Aushebungen an und stellte eine zweite Legion, die Legio VII Galbiana, und zwei weitere Auxiliarkohorten aus dem Gebiet der Vasconen auf, wodurch sich seine Streitkraft fast verdoppelte. Unterdessen hatte Vindex die Belagerung von Lugdunum aufgenommen, der Hauptstadt der Provinz Gallia Lugdunensis. Als Lucius Verginius Rufus, der Statthalter in Obergermanien, davon erfuhr, zog er los, um den Aufstand niederzuschlagen. Hierzu führte er seine zwei Legionen aus Mogontiacum, die Legio IV Macedonica und die Legio XXII Primigenia, sowie Teile weiterer vier Legionen aus Niedergermanien inklusive Auxiliartruppen ins Feld. Vindex soll zu diesem Zeitpunkt etwa 100.000 Mann unter Waffen gehabt haben, die jedoch größtenteils schlecht ausgerüstet waren. Als er davon erfuhr, dass Rufus Vesontio belagerte, das ihn nicht mit offenen Toren empfangen hatte, eilte Vindex der Stadt zur Hilfe und schlug sein Lager in der Nähe auf. Die beiden Befehlshaber schickten untereinander Nachrichten und trafen sich letztendlich sogar persönlich, wobei sie sich gegen Nero aussprachen. Dennoch kam es danach unter ungeklärten Umständen zur Schlacht zwischen den beiden Heeren, die wohl durch die Initiative der Soldaten zustande kam und bei der Vindex, nach dem Verlust von 20.000 Soldaten, Selbstmord beging. Als die Legionäre Rufus nun zum Kaiser ausrufen wollten, lehnte dieser jedoch ab, weshalb seine Truppen weiterhin zu Nero standen. Nachdem Galba die Nachricht von der Niederlage des Vindex bei Vesontio erhalten hatte, schrieb er sofort an Rufus und bot eine Kooperation an, bekam jedoch keine Antwort und zog sich daraufhin nach Clunia zurück. Im Juni 68 änderte sich die Lage für Galba jedoch, da der Prätorianerpräfekt Gaius Nymphidius Sabinus die Prätorianer mit dem Versprechen eines gewaltigen Geldgeschenkes von 7.500 Denaren (30.000 Sesterzen) zum Abfall von Nero bewegte. Daraufhin bestätigte der Senat am 8. Juni 68 Galba als neuen Kaiser und erklärte Nero zum Staatsfeind, woraufhin dieser am 9. Juni Selbstmord beging. Herrschaft Die Nachricht von seiner Bestätigung als Kaiser erreichte Galba wohl am 16. oder 18. Juni, als dessen Freigelassener Icelus in Clunia eintraf. Zwei Tage später folgte eine Nachricht mit dem exakten Text des Senatsbeschlusses, die der Senator Titus Vinius überbrachte. Galba übernahm nun den Namen Servius Galba Imperator Caesar Augustus und die tribunicia potestas. Vor seinem Aufbruch nach Italien regelte er jedoch zuerst die Verhältnisse in Hispania und übertrug die Kontrolle über die drei Provinzen Tarraconensis, Lusitania und Baetica Cluvius Rufus. Vermutlich am 16. Juli brach Galba von Tarraco nach Italien auf, wobei er die Legio VII Galbiana mit sich führte. Auf seinem Weg nach Rom bestrafte Galba die Städte Spaniens und Galliens, die gezögert hatten, sich ihm anzuschließen, durch höhere Steuerabgaben sowie in einigen Fällen die Schleifung der Stadtmauern. Bei der Stadt Narbo traf er eine Abordnung des Senats, die ihn bat, die Reise zu beschleunigen. Dieses Treffen lässt sich etwa auf den 5. August datieren. Galba setzte seinen Weg in Gallien fort und setzte Iunius Blaesus als Statthalter der Provinz Lugdunensis ein, in deren Hauptstadt er die Legio I Italica und die ala Tauriana stationierte. Die Stämme der Haeduer, Arverner und Sequaner, die Vindex unterstützt hatten, wurden mit zusätzlichen Gebieten und der Befreiung von Tributen belohnt, während die Treverer und Lingonen, die mit den Rheinlegionen kooperiert hatten, bestraft wurden. Dieses Verhalten der Belohnung von Unterstützern und Bestrafung von Zauderern oder Widersachern wandte Galba auch in weiteren Fällen an. Den Statthalter der Provinz Aquitania, Betuus Cilo, ließ er hinrichten, wohl weil dieser um Unterstützung angefragt hatte, als der Aufstand des Vindex ausgebrochen war. Auch in Germanien griff Galba ein und ließ Verginius Rufus durch Marcus Hordeonius Flaccus ablösen. Rufus schloss sich daraufhin dem Zug des Kaisers nach Rom an. Aulus Caecina Alienus, der Galba schon früh unterstützt hatte, wurde mit einem Legionskommando in Obergermanien betraut. In Niedergermanien war der Befehlshaber Fonteius Capito unter unklaren Umständen umgekommen. Er wurde durch Aulus Vitellius ersetzt. In der Provinz Belgica wurde Pompeius Propinquus als Prokurator eingesetzt. In Mauretania wurde Lucceius Albinus, dem prokuratorischen Statthalter von Mauretania Caesariensis, durch Galba ebenfalls die Verwaltung von Mauretania Tingitana übertragen. In Pannonia und Dalmatia wurde Cornelius Fuscus zum Prokurator ernannt, wohl um die beiden Statthalter der Provinzen zu überwachen. Ebenso wurde die Legio VII Galbiana im November 68 unter dem Befehl des Marcus Antonius Primus nach Carnuntum in Pannonia verlegt. Galatia und Pamphylia wurden durch den neu eingesetzten Calpurnius Asprenas verwaltet. Nach dem Tode Lucius Clodius Macers in der Provinz Africa hatte Gaius Vipstanus Apronianus das Amt des Prokonsuls auf Galbas Geheiß inne. Auch in Rom selbst griff der Kaiser zu Gunsten seiner Anhänger ein und ernannte Cornelius Laco zum Prätorianerpräfekten. Ebenso erhielt Aulus Ducenius Geminus das Amt des praefectus urbi und Plotius Firmus wurde zum praefectus vigilum ernannt. Bei der Behandlung der Soldaten zeigte Galba kein besonderes Geschick. Die Legionen Germaniens erhielten von ihm keine Anerkennung für ihren Einsatz zur Aufstandsniederschlagung des Vindex und fürchteten eine Bestrafung, da sie in dieser Angelegenheit auf der scheinbar falschen Seite gekämpft hatten. Weitere Feindschaft erregten die Absetzung des Verginius Rufus und der mysteriöse Tod des Fonteius Capito. Weiteren Hass unter den Soldaten erzeugte Galbas Vorgehen gegen die unter Nero ausgehobene Legio I Adiutrix aus Marinesoldaten, die vor Rom ihr Lager aufgeschlagen hatte. Diese wollten von Galba eine Bestätigung ihres Status erhalten und versammelten sich dazu an der Milvischen Brücke. Als ihre Forderungen jedoch zurückgewiesen wurden, versuchten die Soldaten durch einen Aufruhr der Sache Nachdruck zu verleihen. Galba ließ daraufhin seine Infanterie und Kavallerie gegen die Aufständischen vorgehen, wobei viele getötet wurden. Die Überlebenden wurden dezimiert. Die darauf folgende Erfüllung der Forderungen und offizielle Anerkennung als Legio I Adiutrix änderte wenig an dem Schaden, den Galbas Ansehen bei den Soldaten genommen hatte. Auch sein Verhalten gegenüber den Prätorianern nahm ihm den Rückhalt der Soldaten, da er nicht daran dachte, das von Gaius Nymphidius Sabinus versprochene Donativ zu zahlen. Dies wäre umso ratsamer gewesen, da die Prätorianer unter Führung des Militärtribunen Antonius Honoratus den Versuch des Sabinus, die Herrschaft zu übernehmen, niedergeschlagen hatten und dieser daraufhin getötet worden war. Ein politisches Ziel Galbas war die Sanierung des Staatshaushaltes, der unter den immensen Ausgaben Neros gelitten hatte. 2,2 Milliarden Sesterzen, die unter Nero verschenkt worden waren, sollten wieder eingetrieben werden, nur ein Zehntel der Schenkung sollte den betroffenen Personen überlassen werden. Für die Eintreibung der Summe wurden 30 Ritter eingesetzt. Da das Geld größtenteils schon in Güter umgesetzt worden war, wurden sie zwangsversteigert. Der größte Erfolg bei diesem Vorhaben scheint die Eintreibung von 40.000 Sesterzen gewesen zu sein, die Nero dem Orakel von Delphi geschenkt hatte. Durch eine Inschrift vom Herbst 68 ist ebenso bekannt, dass Galba Reparaturen an der Horrea Sulpicia, dem größten Getreidespeicher Roms, vornehmen ließ. Eine Wiederherstellung der frumentationes, der kostenlosen Getreideabgaben an die männlichen Bewohner Roms, nahm er jedoch nicht vor, wohl aus finanziellen Gründen. Als größtes Problem Galbas erwies sich jedoch die Abhängigkeit von seinen Beratern Titus Vinius, Cornelius Laco und Icelus, durch die er sich isolierte. All diese Männer hatten laut antiker Quellen charakterliche Mängel und verfolgten eigene Interessen. Die Karriere des Vinius war von Skandalen geprägt und er häufte sich ein Vermögen an. Laco hatte keine militärische oder administrative Erfahrung und soll arrogant und faul gewesen sein. Icelus, der erst kurz zuvor in den Ritterstand erhobene Freigelassene Galbas, raffte sich ebenso wie Vinius ein Vermögen zusammen. Zur Krise für Galbas Herrschaft kam es am 1. Januar 69, als sich die Legionen in Obergermanien weigerten, ihren Eid auf den Kaiser zu erneuern, und dessen Standbilder umstießen. Die Nachricht von diesem Ereignis erreichte Galba wenige Tage später durch einen Brief des Prokurators der Provinz Belgica, Pompeius Propinquus. Adoption Pisos und Ermordung Die Krise in Germanien beschleunigte nun die Wahl eines Nachfolgers. Da seine beiden Söhne sowie seine Frau vor ihm gestorben waren, musste Galba nach einem anderen potentiellen Kandidaten Ausschau halten. Hierfür kamen mehrere Männer in Frage. Eine Option war Marcus Salvius Otho, der Galba schon seit Spanien und dem Aufstand des Vindex als einer der frühesten Gefolgsleute begleitete. Als Alternative wurde Gnaeus Cornelius Dolabella gesehen, ein entfernter Verwandter und vermutlich sein Großneffe. Nachdem am 9. Januar der Brief des Prokurators der Provinz Belgica, Pompeius Propinquus, eintraf, der Galba über die Krise bei den germanischen Legionen informierte, sah sich der Kaiser gezwungen, eine Entscheidung in der Nachfolgerwahl zu treffen. Deshalb rief er am 10. Januar seine engsten Berater zu einem Treffen und erklärte, dass er Lucius Calpurnius Piso Frugi Licinianus auserkoren habe, ihm nachzufolgen. Die Adoption Pisos wurde zuerst den Prätorianern bekannt gemacht, jedoch versäumte es der Kaiser auch bei dieser Gelegenheit die Soldaten an sich oder seinen Nachfolger zu binden. Auch in dieser Situation versprach er kein Geldgeschenk, weder das von Nymphidius Sabinus versprochene Geld noch eine Summe zur Feier der Ereignisse. Danach suchte man den Senat auf, um diesem die Adoption Pisos zu verkünden. Viele Senatoren nahmen die Nachricht mit Freude auf oder täuschten dies vor, wenn sie Piso nicht wohlgesinnt waren. Die neutrale Mehrheit duldete die Entscheidung. Die Entscheidung Galbas musste Otho brüskieren, da dieser sich selbst Hoffnungen auf die Nachfolge gemacht hatte. Er plante nun eine Verschwörung gegen Galba, um sich den Kaisertitel zu sichern. Hilfreich war hierbei, dass Otho sich früher schon um die Prätorianer bemüht und diesen Geldgeschenke oder Gunstbeweise zukommen lassen hatte. Er soll unter anderem 100 Sesterze an jeden Mann der wachhabenden Kohorte verteilt haben, wenn Galba bei ihm speiste. Otho überließ nun die Planung des Putsches seinem Freigelassenen Onomastus, der den Ordonnanzoffizier Barbius Proculus, der für die Parole der kaiserlichen Leibgarde zuständig war, und den Optio Veturius mit Geld und Versprechungen bestach, damit diese weitere Soldaten für den Putsch gewinnen. Es wurde zuerst der Plan gefasst, Otho in der Nacht des 14. Januar zu ergreifen und zum Prätorianerlager zu bringen, dann jedoch verworfen, da er zu viele Risiken barg. Die Ausführung des Putsches wurde auf den Morgen des 15. Januar verschoben. An diesem Tag opferte Galba morgens vor dem Tempel des Apoll. Zuerst war auch Otho bei der Zeremonie anwesend, entschuldigte sich jedoch unter dem Vorwand eines Hauskaufes, nachdem Onomastus ihm die Nachricht überbracht hatte, dass man bereit zum Putsch sei, und eilte zum Milliarium Aureum. Dort traf er jedoch nur 23 Leibgardisten an, die ihn als Kaiser anriefen, weshalb man sich schleunigst auf den Weg zum Prätorianerlager machte, wobei sich die Zahl der Putschisten etwa verdoppelte. Als Galba über die Ereignisse informiert wurde, befahl er zuerst die Loyalität der Palastwache zu überprüfen, weshalb Piso dorthin geschickt wurde. Unterdessen wurden auch Gesandte zu den anderen in Rom verbliebenen Truppen gesandt, jedoch ohne großen Erfolg. Die Prätorianer bedrohten zwei gesandte Tribunen, Cetrius Severus und Subrius Dexter, den dritten, Pompeius Longinus, setzten sie fest. Die Legion der Marinesoldaten, die von Galba bestraft worden waren, hatte sich auf die Seite der meuternden Prätorianer geschlagen. Die illyrischen Truppenteile vertrieben den Gesandten Celsus Marius und die germanischen Truppen zögerten, obwohl sie Galba wohlgesinnt waren. Der Kaiser musste sich nun entscheiden, ob er sich im Palast verschanzen oder den Putschisten aktiv entgegentreten wolle, bevor sie sich organisierten. Galba entschied sich dafür, den Putsch zu zerschlagen und machte sich in Begleitung einer ihm wohlgesinnten Menschenmenge, die sich vor dem Palast versammelt hatte, auf zum Forum. Unterdessen hatte Otho die Soldaten im Prätorianerlager für sich gewonnen und bewaffnen lassen. Da die Nachricht umging, dass Galba den Pöbel bewaffnen lasse, ließ er die Soldaten überstürzt aufbrechen, die daraufhin auf das Forum stürmten und die Menge auseinandertrieben. Als diese in Sichtweite kamen, desertierten auch die verbliebenen Soldaten der Palastwache, lediglich der Prätorianerzenturio Sempronius Densus verteidigte Galba, starb jedoch dabei. Der Kaiser, der im Chaos aus seiner Sänfte geschleudert worden war, wurde in der Nähe des Lacus Curtius getötet. Sein verstümmelter Leichnam wurde von Gaius Helvidius Priscus mit Erlaubnis Othos geborgen und vom Rechnungsführer Argius in seinen Privatgärten an der Via Aurelia bestattet. Über ihn wurde zuerst die Damnatio memoriae verhängt, doch am 1. Januar 70 wurde Galbas Ansehen durch Vespasian wiederhergestellt. Quellen Die wichtigsten antiken Quellen für Leben und Herrschaft Galbas sind Suetons Kaiserviten, die Historien des Tacitus (1,1–49), die Galba-Biografie des Plutarch und das Geschichtswerk Cassius Dios (63,22–64,7). Vermutlich gab es auch von Cluvius Rufus, Fabius Rusticus und Plinius dem Älteren Werke über Galba, diese sind jedoch nicht erhalten. Cassius Dio: Römische Geschichte. Übersetzt von Otto Veh. 5 Bände, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-538-03103-6.(englische Übersetzung). Für Galba ist das Buch 63 relevant. Plutarch: Galba. Deutsche Übersetzung: Große Griechen und Römer. Übersetzt von Konrat Ziegler. Band 6. dtv, München 1980, ISBN 3-7608-3611-9 (englische Übersetzung bei LacusCurtius). Sueton: Galba. Ausführlichste antike Biographie aus der Sammlung der Kaiserbiographien von Caesar bis Domitian. Zahlreiche Ausgaben, beispielsweise mit deutscher Übersetzung in: Gaius Suetonius Tranquillus: Sämtliche erhaltene Werke. Magnus, Essen 2004, ISBN 3-88400-071-3 (lateinischer Text, englische Übersetzung). Tacitus: Historiae/Historien. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und Herausgegeben von Helmuth Vretska. Stuttgart 1984, ISBN 3-15-002721-7.(englische Übersetzung). Für Galba ist das Buch 1 wichtig. Literatur Egon Flaig: Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich. Frankfurt/Main 1992, ISBN 3-593-34639-7. Dietmar Kienast, Werner Eck, Matthäus Heil: Römische Kaisertabelle. Grundzüge einer römischen Kaiserchronologie. 6., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2017, ISBN 978-3-534-26724-8, S. 94 f. Gwyn Morgan: 69 AD. The Year of Four Emperors. Oxford University Press, Oxford 2006, ISBN 0-19-512468-5. Charles L. Murison: Galba, Otho and Vitellius: Careers and Controversies. Georg Olms Verlag, Hildesheim u. a. 1993. Kenneth Wellesley: The year of the four emperors. 3. Auflage. London 2000, ISBN 0-415-23228-7. Weblinks Galba bei Imperium Romanum Anmerkungen Kaiser (Rom) Augur Ocella Servius Sulpicius Galba, Lucius Livius Herrscher (1. Jahrhundert) Geboren 3 v. Chr. Gestorben 69 Mann Statthalter (Africa) Statthalter (Obergermanien)
1879
https://de.wikipedia.org/wiki/Gen
Gen
Als Gen wird meist ein Abschnitt auf der Desoxyribonukleinsäure (englische Abkürzung: DNA) bezeichnet, der Grundinformationen für die Entwicklung von Eigenschaften eines Individuums und zur Herstellung einer biologisch aktiven Ribonukleinsäure (englische Abkürzung: RNA) enthält. Bei diesem Prozess der Transkription wird vom codogenen DNA-Strangabschnitt eine komplementäre Kopie in Form einer RNA hergestellt. Es gibt verschiedene Arten der RNA. Bei der Translation, einem Teilvorgang der Proteinbiosynthese, wird die Aminosäuresequenz des betreffenden Proteins von der mRNA abgelesen. Die Proteine übernehmen im Körper jeweils spezifische Funktionen, mit denen sich die Merkmale ausprägen können. Der Aktivitätszustand eines Gens bzw. dessen Ausprägung, seine Expression, kann in einzelnen Zellen verschieden reguliert werden. Als Erbanlage oder Erbfaktor werden allgemein die nur elektronenmikroskopisch sichtbaren Gene auf spezifischen Plätzen in den Chromosomen bezeichnet, da sie die Träger von Erbinformation sind, die durch Reproduktion an Nachkommen weitergegeben wird. Die Erforschung des Aufbaus, der Funktion und Vererbung von Genen ist Gegenstand der Genetik. Die gesamte Erbinformation einer Zelle wird Genom genannt. Forschungsgeschichte Abtei in Brünn 1856 begann Johann Gregor Mendel, Erbsen zu kreuzen, um die Vererbung von sichtbaren Merkmalen zu untersuchen. Er schlug als erster die Existenz von bestimmten „materiellen Elementen“ vor, die als Erbfaktoren von Eltern auf die Nachkommen übertragen werden. Er fand, dass Merkmale voneinander unabhängig vererbt werden können und dass es dominante und rezessive Faktoren gibt. Er entwickelte die Hypothese, dass es homozygote und heterozygote Individuen gibt und legte damit die Grundlage für die Unterscheidung zwischen Genotyp und Phänotyp. In einem Brief an Carl Nägeli schrieb Mendel am 3. Juli 1870 (erstmals) von „Genen“ der Hieracium-Arten. Gene als Erb-Elemente 1900 gilt als das Jahr der „Wiederentdeckung“, als die Botaniker Carl Correns, Hugo de Vries und Erich Tschermak Mendels Entdeckungen aufgriffen. Sie bestätigten, dass es numerische Regeln gibt, nach denen die Faktoren, die für die Ausprägung von Merkmalen verantwortlich sind, an Nachkommen weitergegeben werden. Correns nannte einen solchen Faktor Anlage bzw. Erbanlage. William Bateson erinnerte 1902 in daran, dass es in jeder Zelle zwei Varianten eines jeden Erbfaktors gibt. Er nannte die zweite Variante Allelomorph (griechisch für „Andere Gestalt“) und prägte damit den Begriff des Allels. Archibald Garrod, ein britischer Arzt, hatte bei Stoffwechselerkrankungen festgestellt, dass diese in Familien vererbt werden. Mendels Regeln gelten also auch für Menschen. Garrod vermutete, die Erbanlagen seien die Basis für die chemische Individualität jedes Menschen. Die Bezeichnungen „Gen“ und „Genotypus“ verankerte schließlich 1903 der Däne Wilhelm Johannsen in der Fachsprache der neuen Wissenschaft, der „Erblickeitslehre“. Drei Jahre zuvor hatte William Bateson für sie das Hauptwort Genetik vorgeschlagen – nach dem griechischen Adjektiv für „hervorbringend“. Zu jener Zeit war die materielle Natur der Gene nicht bekannt bzw. nicht anerkannt. August Weismann machte einen Unterschied zwischen Körperzellen und Keimzellen. Beide Zelltypen enthalten dieselbe „Vererbungssubstanz“, die sich aus einzelnen Elementen zusammensetzt, die er Determinanten nannte. Doch nur die Keimzellen können neue Organismen hervorbringen, in denen diese Determinanten für sichtbare Ausprägung von Merkmalen, beispielsweise der Gliedmaßen, verantwortlich sind. Damit war die Theorie der Keimbahn formuliert: Durch geschlechtliche Fortpflanzung werden die Gene von Generation zu Generation weitergegeben. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts nahmen sich die Genetiker nach verschiedenen Pflanzen auch Insekten und später Vögel vor, um die Vererbungsgesetze zu testen. Färbbare Genträger im Zellkern Die 1842 bei sich teilenden Zellkernen entdeckten färbbaren Strukturen benannte Wilhelm Waldeyer 1888 als Chromosomen. Durch verbesserte Färbetechniken war beobachtet worden, dass sich die Chromosomen vor einer mitotischen Kernteilung auf 4n verdoppeln und sich dann genau zweiteilen, sodass jeder Tochterkern und damit jede Tochterzelle je 2n Chromosomen erhält. Deswegen kamen sie als Träger der Gene in Frage. Dieser Sachverhalt begründete die Chromosomentheorie der Vererbung. Dass die von Mendel „Elemente“ genannten Faktoren in den Chromosomen zu finden sind, argumentierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Theodor Boveri sowie Walter Sutton. Kritiker taten eine Verbindung von Genen und Chromosomen als „Physikalismus“ und „Mendelismus“ ab, da sie Gene als abstrakte Einheiten betrachteten. Thomas Hunt Morgan war ebenfalls überzeugt, dass die Einheiten, die die verschiedenen Merkmale verantworten, nicht physikalischer Natur seien. Er versuchte, den Mendelismus zu widerlegen und begann 1910 mit Kreuzungsversuchen an Schwarzbäuchigen Taufliegen. Seine Arbeiten erbrachten jedoch das Gegenteil: den endgültigen Beweis, dass Gene in Chromosomen liegen und damit materieller Natur sind. Zusammen mit seinen Mitarbeitern, darunter Calvin Bridges, Alfred Sturtevant und Hermann Muller, fand er viele natürliche Mutationen und untersuchte in unzähligen Kreuzungen die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Merkmale gemeinsam vererbt werden. Sie zeigten, dass Gene an bestimmten Stellen der Chromosomen liegen und hintereinander aufgereiht sind. Unter dem Mikroskop wurde Crossing-over beobachtet. So lernte man, dass Chromosomen Abschnitte austauschen können. Je näher zwei Gene auf dem Chromosom beieinander liegen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie gemeinsam vererbt und nicht durch ein Crossing-over-Ereignis getrennt werden. Dadurch konnte der Abstand zweier Gene auf ihrem Chromosom bestimmt werden, der nach Morgan in centiMorgan angegeben wird. Gemeinsam erstellte die Forschergruppe in jahrelanger Arbeit die erste Genkarte. Hermann Muller entdeckte, dass Röntgenstrahlen die Mutationsrate bei Fliegen stark erhöhen. Dies war eine Sensation, da dadurch zum ersten Mal gezeigt wurde, dass Gene physikalische Objekte sind, die von außen zu beeinflussen sind. Gene molekular 1928 wies Frederick Griffith in dem nach ihm benannten „Griffiths Experiment“ zum ersten Mal nach, dass Gene aus Bakterien auf andere übertragen werden können. Der von ihm nachgewiesene Vorgang war die genetische Transformation. 1941 zeigten George Wells Beadle und Edward Lawrie Tatum, dass Mutationen in Genen für Defekte in Stoffwechselwegen verantwortlich sind. Die Erkenntnis, dass spezifische Gene spezifische Proteine codieren, führte zur „Ein-Gen-ein-Enzym-Hypothese“, die später zur „Ein-Gen-ein-Polypeptid-Hypothese“ präzisiert wurde. Oswald Avery, Colin MacLeod und Maclyn McCarty bewiesen 1944, dass die DNA die genetische Information enthält. 1953 wurde die Struktur der DNA von James D. Watson und Francis Crick, basierend auf den Arbeiten von Rosalind Franklin und Erwin Chargaff, entschlüsselt und das Modell der DNA-Doppelhelix vorgestellt. 1969 gelang Jonathan Beckwith und Kollegen erstmals, ein einzelnes Gen chemisch zu isolieren. Definition des Begriffs Die Definition, was genau ein Gen ist, hat sich verändert und wurde neuen Erkenntnissen angepasst. 2006 suchten 25 Wissenschaftler des der Universität Berkeley nach einer treffend formulierten aktuellen Definition. Sie einigten sich nach zwei Tagen auf eine gemeinsame Version. Ein Gen ist demnach . Durch das Projekt ENCODE (), bei dem die Transkriptionsaktivität des Genoms gemappt wurde, wurden neue komplexe Regulationsmuster entdeckt. Dabei wurde auch festgestellt, dass die Transkription nichtcodierender RNA in weit größerem Umfang als bislang angenommen stattfindet. Dieser Befund wird im folgenden Definitionsvorschlag berücksichtigt: . Aufbau Auf molekularer Ebene besteht ein Gen aus zwei unterschiedlichen Bereichen: Einem DNA-Abschnitt, von dem durch Transkription eine einzelsträngige RNA-Kopie hergestellt wird. Allen zusätzlichen DNA-Abschnitten, die an der Regulation dieses Kopiervorgangs beteiligt sind. Es gibt verschiedene Besonderheiten im Aufbau von Genen verschiedener Lebewesen. In der Zeichnung wird der Aufbau eines typischen eukaryotischen Gens dargestellt, das ein Protein codiert. Schematischer Aufbau eines eukaryotischen Gens Vor der Transkriptionseinheit oder auch innerhalb der Exons (hellblau und dunkelblau) und Introns(rosa und rot) liegen regulatorische Elemente, wie zum Beispiel Enhancer oder Promotor. An diese binden, abhängig von der Sequenz, verschiedene Proteine, wie beispielsweise die Transkriptionsfaktoren und die RNA-Polymerase. Die prä-mRNA (unreife mRNA), die im Zellkern bei der Transkription zunächst entsteht, wird in dem Reifungsprozess zur reifen mRNA modifiziert. Die mRNA enthält neben dem direkt proteincodierenden Offenen Leserahmen noch untranslatierte, also nichtcodierende Bereiche, den 5' untranslatierten Bereich (5' UTR) und den 3' untranslatierten Bereich (3' UTR). Diese Bereiche dienen zur Regulation der Translationsinitiation und zur Regulation der Aktivität der Ribonukleasen, die die RNA wieder abbauen. Die Gene der Prokaryoten unterscheiden sich im Aufbau von eukaryotischen Genen dadurch, dass sie keine Introns besitzen. Zudem können mehrere unterschiedliche RNA-bildende Genabschnitte sehr nah hintereinander geschaltet sein (man spricht dann von polycistronischen Genen) und in ihrer Aktivität von einem gemeinsamen regulatorischen Element geregelt werden. Diese Gencluster werden gemeinsam transkribiert, aber in verschiedene Proteine translatiert. Diese Einheit aus Regulationselement und polycistronischen Genen nennt man Operon. Operons sind typisch für Prokaryoten. Gene codieren nicht nur die mRNA, aus der dann die Proteine translatiert werden, sondern auch die rRNA und die tRNA sowie weitere Ribonukleinsäuren, die andere Aufgaben in der Zelle haben, beispielsweise bei der Proteinbiosynthese oder der Genregulation. Ein Gen, das ein Protein codiert, enthält eine Beschreibung der Aminosäure-Sequenz dieses Proteins. Diese Beschreibung liegt in einer chemischen Sprache vor, nämlich im genetischen Code in Form der Nukleotid-Sequenz der DNA. Die einzelnen „Kettenglieder“ (Nukleotide) der DNA stellen – in Dreiergruppen (Tripletts, Codon) zusammengefasst – die „Buchstaben“ des genetischen Codes dar. Der codierende Bereich, also alle Nukleotide, die direkt an der Beschreibung der Aminosäuresequenz beteiligt sind, wird als offener Leserahmen bezeichnet. Ein Nukleotid besteht aus einem Teil Phosphat, einem Teil Desoxyribose (Zucker) und einer Base. Eine Base ist entweder Adenin, Thymin, Guanin oder Cytosin. Gene können mutieren, sich also spontan oder durch Einwirkung von außen (beispielsweise durch Radioaktivität) verändern. Diese Veränderungen können an verschiedenen Stellen im Gen erfolgen. Demzufolge kann ein Gen nach einer Reihe von Mutationen in verschiedenen Zustandsformen vorliegen, die man Allele nennt. Eine DNA-Sequenz kann auch mehrere überlappende Gene enthalten. Durch Genduplikation verdoppelte Gene können sequenzidentisch sein, dennoch aber unterschiedlich reguliert werden und damit zu unterschiedlichen Aminosäuresequenzen führen, ohne dass sie Allele sind. Verhältnis Introns zu Exons Generell schwankt das Verhältnis zwischen Introns und Exons von Gen zu Gen sehr stark. So gibt es einige Gene ohne Introns, während andere zu über 95 % aus Introns bestehen. Beim Dystrophin-Gen – mit 2,5 Millionen Basenpaaren das größte menschliche Gen  – besteht das daraus codierte Protein aus 3685 Aminosäuren. Der Anteil der codierenden Basenpaare beträgt somit 0,44 %. In der nachfolgenden Tabelle sind einige Proteine und das jeweils codierende Gen aufgeführt. Genaktivität und Regulation Gene sind dann „aktiv“, wenn ihre Information in RNA umgeschrieben wird, das heißt, die Transkription stattfindet. Je nach Funktion des Gens entsteht also mRNA, tRNA oder rRNA. In der Folge kann also, muss aber nicht zwingend, bei mRNA aus dieser Aktivität auch ein Protein translatiert werden. Eine Übersicht über die Vorgänge bieten die Artikel Genexpression und Proteinbiosynthese. Die Aktivität einzelner Gene wird über eine Vielzahl von Mechanismen gesteuert und kontrolliert. Ein Weg ist die Steuerung über die Rate ihrer Transkription in hnRNA. Ein anderer Weg ist der Abbau der mRNA, bevor sie translatiert wird, beispielsweise durch siRNA-vermittelte RNA-Interferenz (Posttranskriptionelles Gen-Silencing). Kurzfristig erfolgt die Genregulation durch Bindung und Ablösung von Proteinen, sogenannten Transkriptionsfaktoren, an spezifische Bereiche der DNA, die sogenannten „regulatorischen Elemente“. Langfristig wird dies über Methylierung oder das „Verpacken“ von DNA-Abschnitten in Histon­komplexe erreicht. Auch die regulatorischen Elemente der DNA unterliegen der Variation. Der Einfluss von Änderungen in der Genregulation einschließlich der Steuerung des alternativen Splicings dürfte vergleichbar mit dem Einfluss von Mutationen proteincodierender Sequenzen sein. Mit klassischen genetischen Methoden – durch Analyse von Erbgängen und Phänotypen – sind diese Effekte in der Vererbung normalerweise nicht voneinander zu trennen. Lediglich die Molekularbiologie kann hier Hinweise geben. Eine Übersicht über die Regulationsvorgänge von Genen wird im Artikel Genregulation dargestellt. Organisation von Genen Bei allen Lebewesen codiert nur ein Teil der DNA für definierte RNAs. Die übrigen Teile der DNA werden als nichtcodierende DNA bezeichnet. Sie hat Funktionen in der Genregulation, beispielsweise für die Regulation des alternativen Splicings, und hat Einfluss auf die Architektur der Chromosomen. Der Ort auf einem Chromosom, an dem sich das Gen befindet, wird als Genort bezeichnet. Gene sind darüber hinaus nicht gleichmäßig auf den Chromosomen verteilt, sondern kommen zum Teil in sogenannten Clustern vor. Gencluster können dabei aus zufällig in räumlicher Nähe zueinander liegenden Genen bestehen, oder es handelt sich um Gruppen von Genen, die für Proteine codieren, die in einem funktionellen Zusammenhang stehen. Gene, deren Proteine ähnliche Funktion haben, können aber auch auf verschiedenen Chromosomen liegen. Es gibt Abschnitte auf der DNA, die für mehrere verschiedene Proteine codieren. Der Grund dafür sind überlappende offene Leserahmen. Genetische Variation und genetische Variabilität Als genetische Variation wird das Auftreten von genetischen Varianten (Allele, Gene oder Genotypen) bei individuellen Lebewesen bezeichnet. Sie entsteht durch Mutationen, aber auch durch Vorgänge bei der Meiose („Crossing over“), durch die Erbanlagen der Großeltern unterschiedlich auf die Geschlechtszellen verteilt werden. Für die Entstehung neuer Gene können ebenfalls Mutationen oder De-novo-Entstehung ursächlich sein. Genetische Variabilität ist dagegen die Fähigkeit einer gesamten Population, Individuen mit unterschiedlichem Erbgut hervorzubringen. Hierbei spielen nicht nur genetische Vorgänge, sondern auch Mechanismen der Partnerwahl eine Rolle. Die genetische Variabilität spielt eine entscheidende Rolle für die Fähigkeit einer Population, unter veränderten Umweltbedingungen zu überleben, und stellt einen wichtigen Faktor der Evolution dar. Besondere Gene RNA-Gene in Viren Obwohl bei allen zellbasierten Lebensformen Gene als DNA-Abschnitte vorliegen, gibt es einige Viren, deren genetische Information in Form von RNA vorliegt. RNA-Viren befallen eine Zelle, die dann sofort mit der Produktion von Proteinen direkt nach Anleitung der RNA beginnt; eine Transkription von DNA nach RNA entfällt. Retroviren hingegen übersetzen ihre RNA bei der Infektion in DNA, und zwar unter Mitwirkung des Enzyms Reverse Transkriptase. Pseudogene Als Gen im engeren Sinne bezeichnet man in der Regel eine Nukleotidsequenz, die die Information für ein Protein enthält, das unmittelbar funktionsfähig ist. Pseudogene stellen dagegen Genkopien dar, die kein funktionelles Protein in voller Länge codieren. Oftmals sind diese durch Genduplikationen entstanden und/oder durch Mutationen, die sich in der Folge ohne Selektion auch im Pseudogen akkumulieren (anhäufen), und ihre ursprüngliche Funktion verloren haben. Einige scheinen dennoch eine Rolle bei der Regulierung der Genaktivität zu spielen. Das menschliche Genom enthält etwa 20.000 Pseudogene. Das Humangenomprojekt wurde mit dem Ziel gegründet, das Genom des Menschen vollständig zu entschlüsseln. Springende Gene Sie werden auch als Transposons bezeichnet und sind mobile Erbgutabschnitte, die sich innerhalb der DNA einer Zelle frei bewegen können. Aus ihrem angestammten Ort im Erbgut schneiden sie sich selbst aus und fügen sich an einer beliebig anderen Stelle wieder ein. Biologen um Fred Gage vom Salk Institute for Biological Studies in La Jolla (USA) haben nachgewiesen, dass diese springenden Gene nicht nur wie bislang angenommen in den Zellen der Keimbahn vorkommen, sondern auch in Nerven-Vorläuferzellen aktiv sind. Forschungsergebnisse von Eric Lander et al. (2007) zeigen, dass Transposons eine wichtige Funktion haben, indem sie als kreativer Faktor im Genom wichtige genetische Innovationen rasch im Erbgut verbreiten können. Orphangene Orphan-Gene sind Gene ohne nachweisbare Homologie in anderen Linien. Sie werden auch ORFans genannt, insbesondere in der mikrobiellen Literatur (mit ORF als Akronym für ). Orphan-Gene sind eine Teilmenge von taxonomisch eingeschränkten Genen, die auf einer bestimmten taxonomischen Ebene (z. B. pflanzenspezifisch) einzigartig sind. Sie gelten in der Regel als einzigartig für ein sehr schmales Taxon, sogar für eine Art (Spezies). Orphan-Gene unterscheiden sich dadurch, dass sie linienspezifisch sind und keine bekannte Geschichte der gemeinsamen Verdoppelung und Neuordnung außerhalb ihrer spezifischen Spezies oder Gruppe haben. In Menschen gibt es beispielsweise 634 Gene, die dem Schimpansen fehlen. Umgekehrt fehlen dem Menschen 780 Schimpansen-Gene. Typische Genomgrößen und Genanzahl Literatur Pilar Cacheiro, Damian Smedley: Essential genes: A cross-species perspective. In: Mamm Genome 34 , 3, 2023: 357–363. PDF. → Gene, deren Funktionen das Überleben der Zellen und ganzer Organismen garantieren, vertragen keine Mutation. Diese „intoleranten“ Gene enthalten die Informationen für Zellvermehrung und Organ-Entwicklung. Sie sind Gucklöcher zu molekularen Mechanismen von Krankheiten. Ruth L Seal, Bryony Braschi, Kristian Gray, Tamsin E M Jones, Susan Tweedie, Liora Haim-Vilmovsky, Elspeth A Bruford: Genenames.org: the HGNC resources in 2023. In: Nucleic Acids Res 51, D1, 2023: D1003–D1009. PDF. → Diese Datenbank enthält 2023 für das menschliche Genom über 43 000 anerkannte Gen-Symbole: 19 200 davon codieren Proteine, 14 000 bezeichnen Pseudogene und beinahe 9000 sind nicht-codierende RNA-Gene. Siddhartha Mukherjee: Das Gen. Fischer, Frankfurt 2017, ISBN 978-3-10-002271-4. Benjamin Lewin: Genes 8. Pearson Prentice Hall, London 2004, ISBN 0-13-143981-2 (englisch). Inge Kronberg: Welche Gene machen den Menschen zum Menschen? In: Biologie in unserer Zeit. 34.2004, 4, S. 206–207, Ernst Peter Fischer: Geschichte des Gens. Fischer, Frankfurt 2003, ISBN 3-596-15363-8. Benjamin Lewin: Molekularbiologie der Gene. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2002, ISBN 3-8274-1349-4. Weblinks vcell.de: Der lange Weg zum Gen: Meilensteine . Pressemitteilung Universität Freiburg, 3. September 2008 Joachim Bauer: swr.de: Aus der Werkstatt der Evolution – Neue Erkenntnisse über die Gene. Vortrag in der SWR-2-Sendereihe Aula, 23. November 2008 (Real Audio ca. 30 Min. – Manuskript ca. sechs Seiten) genecards.org: Human Gene Database (englisch) Michael Stang: deutschlandfunk.de: Gehackte Gene. Deutschlandfunk, Wissenschaft im Brennpunkt, 3. Oktober 2014. Zum Datenschutz der „genetischen Privatsphäre“ Einzelnachweise Nukleinsäure
1880
https://de.wikipedia.org/wiki/Gordian%20III.
Gordian III.
Marcus Antonius Gordianus (* 20. Januar 225; † 244), auch bekannt als Gordian III., war von 238 bis 244 römischer Kaiser. Leben Herkunft Marcus Antonius Gordianus wurde am 20. Januar 225 in Rom geboren. Die Namen seiner Eltern in der spätantiken Historia Augusta sind fiktiv. Als sehr wahrscheinlich gilt, dass seine Mutter Antonia Gordiana eine Tochter von Gordian I. und damit eine Schwester Gordians II. war. Gesichert ist dank Herodian, dass er ein Enkel Gordians I. war. Wohl im Mai 241 heiratete er Furia Sabinia Tranquillina, Tochter seines späteren Prätorianerpräfekten Gaius Furius Sabinus Aquila Timesitheus. Anlässlich dieser Hochzeit wurden Denare mit der Diana Lucifera auf der Rückseite geprägt. Die Ehe blieb kinderlos. Erlangung der Herrschaft Nach dem unerwarteten Tod der beiden älteren Gordiane Anfang 238 übernahm der Senat notgedrungen den Widerstand gegen den amtierenden Kaiser Maximinus Thrax, den man zuvor zum Staatsfeind erklärt hatte, und ernannte zwei gleichrangige Augusti aus den eigenen Reihen, Balbinus und Pupienus. Teile der stadtrömischen Bevölkerung setzten daraufhin laut Herodian mit Hilfe der Prätorianer, die sich durch das Vorgehen des Senates um die Mitsprache bei der Auswahl des Kaisers gebracht fühlten, die Ernennung des 13-jährigen Gordian (III.) zum Caesar und princeps iuventutis durch. Nach Maximinus’ gewaltsamem Tod bei Aquileia Mitte April (?) 238 traten offensichtliche Differenzen zwischen Balbinus und Pupienus deutlich hervor. Beide strebten die alleinige Herrschaft an und arbeiteten gegeneinander. In dieser Situation ergriffen die Prätorianer die Initiative: Sie töteten die beiden Augusti im Kaiserpalast und zwangen den Senat zur Anerkennung von Gordians Herrschaftsanspruch. Gordian wurde daraufhin wohl Anfang Mai 238 zum alleinigen Kaiser proklamiert und zum Augustus ernannt. Regierung Zu Beginn seines Prinzipats stand Gordian III., der gerade erst mündig geworden war, unter dem Einfluss des Senats, der den Kaiser durch einen Beraterstab lenkte. Innenpolitisch galt es zunächst, die Lage nach den chaotischen Verhältnissen der ersten Monate des Jahres 238 zu stabilisieren. Das bedeutete, die Autorität der Regierung auf Basis der Akzeptanz durch Heer und Senat (bzw. formal auch der stadtrömischen Bevölkerung) wiederherzustellen. Als Zeichen des Konsenses wurde zunächst die Legio III Augusta, die unter dem mauretanischen Statthalter Capelianus die Erhebung der beiden Gordiane in der Provinz Africa niedergeschlagen hatte, aufgelöst (was bald zu militärischen Problemen im nun fast wehrlosen Nordafrika führen sollte). Neuer Prätorianerpräfekt wurde der Senator Aedinius Julianus – eine sehr ungewöhnliche Entscheidung, da der Posten eigentlich Rittern vorbehalten war. Der Provinzstatthalter von Hispania Citerior, Quintus Decius Valerinus, der Gordian III. die Anerkennung verweigert hatte, wurde gegen Ende 238 abgelöst. Die stadtrömische plebs wurde durch Zuwendungen und die Ausrichtung von Spielen befriedigt, und dem Heer wurden die bei Herrscherwechseln üblichen Geldzahlungen (Donative) versprochen. Der Steuerdruck auf die Reichsbevölkerung wurde leicht gemindert und die Selbstverwaltung der Städte gestärkt. Zeugnis der vielfältigen Maßnahmen ist eine spürbare Steigerung der Rechtsaktivitäten zu Beginn der Herrschaft Gordians III. Die enorme finanzielle Belastung führte allerdings zu einer Geldentwertung mit spürbaren Auswirkungen auf Preise und Löhne. In den Jahren 239 und 241 bekleidete Gordian selbst das Konsulat. Im Jahr 240 wurde Sabinianus in Karthago zum Gegenkaiser ausgerufen. Die Usurpation wurde aber durch den Statthalter von Mauretanien noch im selben Jahr niedergeschlagen. Im gleichen Jahr fiel die wichtige, mit Rom verbündete Grenzstadt Hatra in Mesopotamien an das erstarkende neupersische Sassanidenreich. Die Perser überschritten den Euphrat und bedrohten Antiochia am Orontes und die Provinz Syria. Die persische Bedrohung sollte die letzten Regierungsjahre Gordians III. prägen (siehe auch Römisch-Persische Kriege). Die Römer reagierten mit den Vorbereitungen zu einem Perserfeldzug, den wohl bereits Pupienus und Balbinus beschlossen hatten. Mit dieser Aufgabe wurde der Ritter Gaius Furius Sabinus Aquila Timesitheus beauftragt. Timesitheus wurde Anfang 241 zum Prätorianerpräfekten ernannt und führte von nun an die Regierungsgeschäfte für den Kaiser, auf den er großen Einfluss gewann. Die Vorbereitungen waren Anfang 242 abgeschlossen. Nach der rituellen Öffnung der Tore des Janustempels (wohl zum letzten Mal in der Antike) begab sich der Kaiser mit dem Heer in den Osten. Im Herbst 242 erreichte das Heer Antiochia und konnte die Sicherheit in der Provinz wiederherstellen. Ende 242 oder Anfang 243 starb der loyale Timesitheus unter unbekannten Umständen, ihm folgte sein Stellvertreter Philippus Arabs im Amt des Prätorianerpräfekten nach. Zu Beginn des Jahres 243 rückten die römischen Legionen in die Provinz Mesopotamien ein und schlugen die Armee des Perserkönigs Schapur I., der inzwischen die Nachfolge seines Vaters Ardaschir I. angetreten hatte, in der Schlacht bei Resaina (vermutlich noch unter der Führung des Timesitheus). Damit war die Kontrolle über die Provinz Mesopotamien wiederhergestellt. Gegen Herbst 243 stieß das römische Heer wahrscheinlich gegen die persische Hauptresidenz Ktesiphon vor, doch erlitten die Römer Anfang 244 bei Mesiche eine schwere Niederlage. Tod Gordian III. starb wohl im Februar 244. Sowohl über den Ort als auch über die genauen Todesumstände liegen uns in den Quellen unterschiedliche Versionen vor, so dass offen bleibt, ob er im Kampf mit den Persern oder durch die Hände seiner eigenen Soldaten starb. Möglicherweise befand er sich schon wieder auf dem Rückweg außerhalb des persischen Gebiets, als er einer Meuterei der Soldaten zum Opfer fiel. Es wird oft angenommen, dass Philippus Arabs aus eigenem Machtstreben zumindest die Diskreditierung Gordians III. beim Heer betrieb, wenn nicht gar für seine Ermordung direkt verantwortlich war, doch ist dies umstritten. Die persische Darstellung, nach der Gordian während (oder infolge) der Schlacht von Mesiche fiel, wird von mehreren Forschern als durchaus glaubwürdig angesehen, zumal auch spätere byzantinische Quellen (etwa Johannes Zonaras), die auf älteres Material zurückgreifen konnten, nicht auf eine Ermordung des Kaisers hinweisen. Die Quellen zeichnen ein recht positives Bild von ihm – nur in der Historia Augusta erscheint er im Angesicht des Todes recht jämmerlich –, können aber nicht verleugnen, dass er wohl alles in allem aufgrund seiner Jugend ein schwacher und von seiner Umgebung abhängiger Herrscher war. Porträts Gordian III. gehörte zu den ersten sogenannten Kinderkaisern Roms. Trotz der relativ kurzen Dauer seines Wirkens konnte die Forschung fünf Bildnistypen ausmachen. a) Typ 1 (Archetypus, vor Regierungsantritt) Die Bildnisse zeigen wenig differenziert ausgearbeitete, symmetrische Gesichtszüge. Die Physiognomie Gordians III. ist dennoch erkennbar, wenn auch die für Gordian typischen Gesichtsfalten noch fehlen. Ein Beispiel für diesen Typ findet sich im Konservatorenpalast in Rom (Inv. 995). b) Typ 2 (ca. 238 bis 239) Dieser Bildnistyp stellt Gordian III. mit zwei Querfalten auf der Stirn und zwei senkrechten Falten über der Nasenwurzel dar. Der Kaiser blickt äußerst konzentriert. Das Stilmittel der Querfalten, die sich in späteren Bildnistypen kaum mehr finden, sowie des wachen Blicks sind offensichtlich zur Darstellung von Herrscherwürde und Reife angewandt worden. Das Leitstück für diesen Typ stellt die Trabeabüste im Pergamonmuseum in Berlin dar. c) Typ 3 (ca. 238 bis 239) Das Bestimmungsmerkmal dieses Typs, der offenbar zeitgleich mit Typ 2 kursierte, ist die gewollte Ähnlichkeit mit Severus Alexander. Dazu wurden andere Stilmittel als bei Typ 2 verwendet. Die Konturen sind nicht so hart ausgeführt und die Querfalten auf der Stirn fehlen. Dadurch strahlen die Bildnisse mehr Ruhe und Milde aus. Das Leitstück für diesen Typ stellt eine Büste im Louvre in Paris dar (Inv. 2331). d) Typ 4 (ca. 240 bis 242) Dieser Bildnistyp verzichtet sowohl auf die Strenge des Typs 2 als auch auf die Nachahmung der Physiognomie von Severus Alexander aus Typ 3. Durch ein markanteres und annähernd rechteckiges Schädelprofil, durch angedeuteten Bartwuchs und die Führung der Augenbrauen wirkt der Kaiser reifer und strahlt Optimismus aus. Das Leitstück für diesen Typ stellt eine Büste im Konservatorenpalast in Rom dar (Inv. 479). e) Typ 5 (ca. 242 bis 244) Diese letzten Bildnisse Gordians III. sind in den Proportionen des Typs 4 in der Länge gestreckt, vielleicht um den Herrscher im Zuge des Perserkrieges heroisch entrückt darzustellen. Das Leitstück für diesen Typ stellt eine Panzerbüste im Louvre in Paris dar (Inv. 1063). Quellen Gordian III. ist in einer ganzen Reihe von Quellen belegt, darunter in Herodian, Geschichte des Kaisertums nach Marc Aurel 7, Historia Augusta, Das Leben der drei Gordiane 17–34, Zosimos, Neue Geschichte 1, 16–19, Aurelius Victor, Leben der Caesaren 27 und Johannes Zonaras, Epitome 12, 17–18. Auch wenn keine dieser Quellen als besonders zuverlässig gilt und die späteren vielfach auf den früheren beruhen, so ergeben sie doch in ihrer Gesamtheit ein relativ klares Bild vom Leben Gordians, schildern ihn aber vielleicht insgesamt zu positiv. Literatur Liesbeth Claes, Jan Tavernier: Exit Gordianus, but how? Shapur’s trilingual inscription revisited. In: Syria. Band 95, 2018, S. 357–371 (online). Hans-Joachim Gehrke: Gordian III. In: Manfred Clauss (Hrsg.): Die römischen Kaiser. Beck, München 1997, ISBN 3-406-42727-8, S. 202–209. Robert Göbl: Der Triumph des Sāsāniden Šahpuhr über Gordian, Philippus und Valerianus. Die ikonographische Interpretation der Felsreliefs (= Denkschriften der Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse. Band 116). Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1974, ISBN 3-7001-0072-8. Katrin Herrmann: Gordian III. Kaiser einer Umbruchszeit. Kartoffeldruck-Verlag, Speyer 2013, ISBN 978-3-939526-20-9 (ausführliche fachwissenschaftliche Besprechung bei Plekos; PDF; 191 kB). Erich Kettenhofen: The Persian Campaign of Gordian III and the Inscription of Sahpuhr at the Ka’be-ye Zartost. In: Stephen Mitchell (Hrsg.): Armies and Frontiers in Roman and Byzantine Anatolia (= British Archaeological Reports. International Series. 156, = British Institute of Archaeology at Ankara. Monograph. 5). British Archaeological Reports, Oxford 1983, S. 151–171. Dietmar Kienast, Werner Eck, Matthäus Heil: Römische Kaisertabelle. Grundzüge einer römischen Kaiserchronologie. 6., überarbeitete Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2017, ISBN 978-3-534-26724-8, S. 187–189. David S. Potter: The Roman Empire at Bay. AD 180–395. Routledge, London u. a. 2004, ISBN 0-415-10058-5, S. 170–172, 229 ff. Michael Sommer: Die Soldatenkaiser. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17477-1, S. 37–39. Weblinks Biografie aus der Historia Augusta (englisch) Kaiser (Rom) Herrscher (3. Jahrhundert) Geboren 225 Gestorben 244 Mann
1881
https://de.wikipedia.org/wiki/Geisteswissenschaft
Geisteswissenschaft
Der Begriff Geisteswissenschaft ist in der deutschsprachigen Denktradition eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche Einzelwissenschaften („Disziplinen“). Diese Geisteswissenschaften arbeiten in und untersuchen mit unterschiedlichen Methoden Gegenstandsbereiche, welche mit kulturellen, geistigen, medialen, teils auch sozialen bzw. soziologischen, historischen, politischen und religiösen Phänomenen zusammenhängen. Die meisten Geisteswissenschaften betreiben dabei also auch in einem gewissen Maße Anthropologie, da in allen Disziplinen der Mensch und seine Werke im Mittelpunkt stehen (→ Anthropologie). Eine einheitliche Begründung der Geisteswissenschaften wurde von Wilhelm Dilthey auf der Basis einer philosophischen Lehre vom Sinn und Verstehen von Lebensäußerungen (Hermeneutik) angestrebt. Geschichte Begriffsgeschichte Das Wort „Geisteswissenschaft“ ist schon in einer 1787 anonym verfassten Schrift mit dem Titel Wer sind die Aufklärer? belegt. Dort steht: „Wenn sage ich, Geistliche, die doch in der Gottesgelehrtheit und Geisteswissenschaft sorgfältigst sind unterrichtet worden …“ Der Autor bezieht sich also noch auf eine Theorie der „Pneumatologie des Geistes“. Damit ist eine Wissenschaft gemeint, welche Erklärungen gibt, die sich nicht auf natürliche, sondern „geistige“ Ursachen beziehen. In diesem Sinne redet auch z. B. Gottsched von einer „Geisterlehre“. Fritz van Calker und Friedrich Schlegel verwenden „Geisteswissenschaft“ als Synonym für Philosophie überhaupt. Näher am heutigen Wortsinn ist, was David Hume mit „moral philosophy“ meint, was Jeremy Bentham als „Pneumatologie“ von „Somatologie“ abgrenzt und was Ampère „Noologie“ im Gegensatz zur „Kosmologie“ nennt. John Stuart Mill bezeichnet in seinem System der deduktiven und induktiven Logik von 1843 mit „moral sciences“ die Disziplinen Psychologie, Ethologie und Soziologie. Mill bezieht dabei die induktive Logik auf die Datenbeschaffung aus geschichtlichen und gesellschaftlichen Phänomenen, weshalb die moral sciences so ungenau seien wie z. B. die Meteorologie. Jacob Heinrich Wilhelm Schiel hatte in einer ersten Übersetzung (in der zweiten nicht mehr) für moral sciences „Geisteswissenschaft“ gesetzt. Diese Verwendung dürfte zwar einflussreich gewesen sein, aber der deutsche Ausdruck wurde nicht, wie früher oft angenommen, als Lehnübersetzung aus Mill geprägt, sondern ist, wie angezeigt, schon früher zu finden. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Franz Hillebrand und andere deutsche Autoren sprechen von einer Geisteslehre oder Geisteswissenschaft. Hegels Geist-Begriff bezieht sich dabei nicht nur auf Individuen, sondern auch auf Gruppen und als objektiver Geist auf die Welt überhaupt. Etwa im heutigen Sinne tritt das Wort „Geisteswissenschaft“ bei dem sonst unbekannten Ernst Adolf Eduard Calinich (* 25. März 1806 in Bautzen – 1824 stud.phil. in Leipzig, Mitglied in der Lausitzer Predigergesellschaft – 1844 Vizedirektor am Seminar in Dresden) auf, der 1847 zwischen der „naturwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen Methode“ unterscheidet, eine Zweiheit, von der unspezifisch auch schon 1824 bei W. J. A. Werber die Rede ist. Der Ausdruck „Geisteswissenschaft“ bekommt seine Prägnanz wesentlich durch Wilhelm Dilthey (Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1883) und ist eng mit den politischen und universitären Voraussetzungen im deutschen Sprachgebiet verbunden. Prägend ist dabei u. a. die Ausbildung der historischen Schule im Gefolge u. a. von Friedrich Carl von Savigny, Leopold von Ranke und Johann Gustav Droysen, die in kritischer Absetzung u. a. zu Hegel ein Ideal für Näherbestimmungen des methodischen Propriums von „Geisteswissenschaften“ vorgibt. Dilthey definierte die Geisteswissenschaften in scharfer Entgegensetzung zu den Naturwissenschaften durch die ihnen eigene Methode des Verstehens, wie sie als Hermeneutik seit Friedrich Schleiermacher auch außerhalb der Philologie gebräuchlich geworden war. Dilthey suchte sie als „Erfahrungswissenschaft der geistigen Erscheinungen“ beziehungsweise als „Wissenschaft der geistigen Welt“ zu begründen. Sie sollte eine ursprünglich konzipierte „Kritik der historischen Vernunft“ empirisch erweitern. Dilthey griff zur Wortbildung „Geisteswissenschaften“ Hegels Begriff des Geistes auf. Hegel bezog den Begriff „Geist“ auf das „Geistesleben“ einer Gruppe, eines Volkes oder einer Kultur. Der Begriff ist daher stark an die deutsche idealistische Tradition und Hegels Konzept des objektiv-objektivierten Geistes gebunden. Dies ist bis heute Grund dafür, dass er sich kaum übersetzen lässt. Übliche Analoga sind humanities, (liberal) arts und human studies. Das französische Analogon ist meist sciences humaines. Wichtig für die frühe Konzeption der Geisteswissenschaften waren die Gegensatzpaare Geist–Natur, Geschichte–Naturwissenschaft, Verstehen-Erklären. Während die Naturwissenschaft versuchte, die Natur aufgrund ewiger Gesetze zu erklären, sah man es als Aufgabe einer historisch ausgerichteten Geisteswissenschaft, das Geistesleben vergangener Völker in ihrer Einmaligkeit zu verstehen. Zu Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts orientieren sich außerdem viele Autoren an der kantischen Erkenntnistheorie und v. a. am sogenannten Psychologismus. So definiert etwa Wilhelm Wundt, dass die Geisteswissenschaften ansetzen, „wo der Mensch als wollendes und denkendes Subject ein wesentlicher Faktor der Erscheinungen ist“. Theodor Lipps definierte – bezogen auf das Individuum – die „Geisteswissenschaft“‘ als „Wissenschaft der inneren Erfahrung“. Er hielt die individuelle „innere Erfahrung“ für den grundlegenden Maßstab von Erkenntnistheorie, Logik, Psychologie und Wahrnehmung. Ähnlich die „Südwestdeutsche Schule“ des Neukantianismus (Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert). Im Sinne von Psychologismus und historischer Schule wird hier postuliert: Geisteswissenschaften sind ideographisch, nicht nomothetisch (Windelband); sie sind individualisierend und wertbezogen, nicht generalisierend (H. Rickert), „auf historische Einmaligkeiten und nicht nur auf Gesetzmäßigkeiten gerichtet“. Rickert nennt die Geisteswissenschaften, da er sie auf Kulturwerte bezieht, auch „Kulturwissenschaften“. Auch Max Weber und Ernst Troeltsch stehen dieser Wertphilosophie nahe. Die Marburger Schule (Hermann Cohen u. a.) dagegen sieht die Logik der Geisteswissenschaften in der Rechtswissenschaft. Um 1900 ist dann der lebensphilosophische Geistbegriff u. a. Diltheys weithin prägend, so etwa bei Philosophen und Pädagogen wie Nicolai Hartmann, Otto Friedrich Bollnow, Eduard Spranger, Theodor Litt, Herman Nohl, Georg Misch, Hans Freyer und Erich Rothacker. Im Gefolge des Linkshegelianismus wird die nach Hegel und der Lebensphilosophie übliche Rede von „Geisteswissenschaften“ Mitte des 20. Jahrhunderts im marxistischen Sprachgebrauch weitgehend ersetzt durch „Sozialwissenschaften“ oder „Gesellschaftswissenschaften“. Der Begriff umfasst im „deutschen Sprachgebrauch sämtliche Wissenschaften, die nicht Naturwissenschaften sind (mit Ausnahme der Mathematik), also alle, die in der theologischen, juristischen und philosophischen (d. i. philologisch-historischen) Fakultät gepflegt werden“. Auch wenn in den Geisteswissenschaften heute noch davon ausgegangen wird, dass sich kulturelle Bedeutungszusammenhänge, Sinnstrukturen, Verstehens- und Wahrnehmungsweisen nicht allein im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise behandeln lassen, so ist die starke Opposition zwischen den Disziplinen inzwischen verschwunden, und es wird versucht, durch interdisziplinäre Ansätze beide Zugangsweisen zu kombinieren. Gesellschaftlicher Hintergrund Über diese erkenntnistheoretischen Erörterungen hinaus führten jedoch auch politische und soziale Absichten zu solchen Schlüssen: Die Nützlichkeit technischer Neuerungen täuschte nach der Julirevolution von 1830 und der Märzrevolution von 1848 über den gescheiterten gesellschaftlichen Konsens hinweg. Die aufstrebenden Natur- und Ingenieurwissenschaften stützten mindestens vordergründig die restaurative Macht des Spätabsolutismus. Hermeneutik hat dagegen mit einem stets neu zu findenden und zu erhaltenden Konsens von Beobachtern zu tun und entzieht sich der empirischen Nachweisbarkeit in Spurensicherung oder Experiment, die mit Erfolg gegen ältere wissenschaftliche Methoden ausgespielt wurden. Um dem gewachsenen Anspruch auf Wertfreiheit und Objektivität zu genügen, musste sich allerdings auch die Hermeneutik vermehrt der Spurensicherung bedienen. Dieses Konzept einer Wissenschaft erschien Dilthey verteidigenswert. Der Aufschwung der Naturwissenschaften seit Anfang des 19. Jahrhunderts war einhergegangen mit der Herausbildung neuartiger Disziplinen im Rahmen der alten Philosophischen Fakultät, die sich durch rigorose Methodik auszeichneten; die alte Einheit war unwiederbringlich verloren. Damit war ein Großteil der alten Fächer in Frage gestellt. Das Konzept der Geisteswissenschaften half diesen, sich zu behaupten und zu modernisieren. So haben sich die alten Fakultätswissenschaften Theologie und Rechtswissenschaft erfolgreich als Geisteswissenschaften neu definiert. Eine ähnliche und parallel laufende Unterscheidung ist die zwischen nomothetischen („regelsetzenden“) und idiographischen („beschreibenden“) Wissenschaften, die manchmal dazu dient, die Sozialwissenschaften als nomothetisch abzugrenzen. Sie geht auf Wilhelm Windelband zurück. Ein weiterer wichtiger Faktor für die Entstehung der Geisteswissenschaften war das Verhältnis zwischen Universität und Staat: Im 19. Jahrhundert hatten sich die bürgerlichen Gelehrten, Künstler und Literaten einen Geistesadel und eine Hochkultur geschaffen, und diesen „Geist“ galt es nicht zuletzt gegenüber der führenden Oberschicht zu behaupten. Der Adel dagegen benötigte keine Reputation durch künstlerische oder wissenschaftliche Betätigung. Er zog sich zurück und tendierte eher zur populären Unterhaltung. Ob eine Geschichtlichkeit von „Seelenvorgängen“ (Dilthey) etwas Kollektives sein kann, war nicht zuletzt eine politische Haltung. Georg Friedrich Hegel betrachtete den Geist als etwas Überindividuelles, nicht bloß Subjektives. Dies traf in einer Zeit der fehlenden staatlichen Einheit und der missglückten Emanzipation des Bürgertums von partikularisierenden Interessen des Adels auf breite Zustimmung. Mehr als in anderen Sprachgebieten ist im deutschen das Wollen und Handeln („Wirken“) eines gemeinschaftlichen Geistes behauptet worden. Aus dieser Tradition heraus entstanden Allgemeinbegriffe wie Zeitgeist, „Geist einer Nation“, „Geist einer Epoche“. Max Weber sprach von einem „Geist“ des Kapitalismus (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904/05). Dieser Begriff des Geistes, der Institutionen, Strukturen und Erklärungsmuster zu etwas von sich aus Lebendigem macht, blieb nicht unumstritten. So gab es immer den Vorwurf, dass die traditionellen Autoritäten de facto durch technische und bürokratische Apparate ersetzt worden seien, die die Willensfreiheit zum Sachzwang machten. Eine ähnliche Ansicht hat Friedrich Kittler mit seiner Forderung einer „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“ vertreten. In der interdisziplinär angelegten Aktion Ritterbusch wurden Geisteswissenschaften in die völkische Ideologie des Nationalsozialismus und die Verherrlichung des Krieges eingebunden. Als Gegenbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte eine starke Individualisierung. Die wissenschaftliche Würdigung großer Persönlichkeiten und ihrer Werke blendete mitunter ihre geschichtlichen Bedingtheiten aus. In der Literaturwissenschaft wurde die werkimmanente Interpretation üblich. Der Titel der 1959 erschienenen These der Zwei Kulturen von C. P. Snow wurde zum Schlagwort: Geisteswissenschaften (englisch humanities) und Naturwissenschaften trennen unvereinbare Wissenschaftskulturen, die sich derart diametral gegenüberstehen, dass eine Kommunikation unmöglich scheint. Als Reaktion auf diese stark rezipierte Studie erschien im Jahr 1995 John Brockmans Die dritte Kultur als Vision einer Vermittlung zwischen den Wissenschaften. Aktuelle Bestimmung der Geisteswissenschaften Wissenschaftsgliederung Wie die Begriffsgeschichte illustriert, hat der Ausdruck „Geisteswissenschaft“ eine wechselhafte Verwendung erfahren. Bis in die Gegenwart hat die Vielfalt unterschiedlicher Einzelwissenschaften weiter zugenommen, wobei unterschiedliche institutionelle Systematiken entstanden, etwa was die unterschiedliche verwaltungsmäßige Zusammenlegung zu universitären Fachbereichen und Fakultäten betrifft. Unter die verschiedenen heute gebrauchten Sammelbegriffe zählen beispielsweise neben „Geisteswissenschaften“ Bezeichnungen wie Sozialwissenschaften, Naturwissenschaften, Humanwissenschaften (Wissenschaften, die irgendeinen Aspekt der Menschen zum Untersuchungsgegenstand haben, wie neben Geistes- und Sozialwissenschaften Humanbiologie, Medizin u. a.), Kulturwissenschaften, Lebenswissenschaften usw. Auch hier besteht im Detail und in Grenzfällen, v. a. was neuere interdisziplinäre Fächer und Studiengänge betrifft, kein Konsens über Begriffsbestimmung oder Begriffsumfang, also insbesondere darüber, welche faktischen Studiengänge aus welchen kriteriologischen Gründen unter welchen dieser Sammelbegriffe gehören. Der Theologe Arno Anzenbacher schlug 1981 beispielsweise folgende Wissenschaftsgliederung vor: Realwissenschaften Naturwissenschaften, u. a.: Physik Chemie Astronomie Biologie Kulturwissenschaften, u. a.: Geisteswissenschaften, u. a.: Geschichtswissenschaften Kunstgeschichte Musikwissenschaft Literaturwissenschaften Religionswissenschaften Sprachwissenschaften Sozialwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften Formalwissenschaften, u. a.: formale Logik Mathematik Strukturwissenschaften Zahlreiche Theoretiker sowie eine Vielzahl der Institute rechnen weder die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften noch die Humanwissenschaften (im engeren Sinne) zu den Geisteswissenschaften. Aufgabe der Geisteswissenschaften Odo Marquard vertrat 1986 die These, es sei die Aufgabe der Geisteswissenschaften bei fortlaufender Umwälzung und Modernisierung der Lebensverhältnisse in der technisch-zivilisatorischen Gesellschaft, ein Asyl für Kultur und Tradition zu bieten und so die Modernisierung erträglich zu machen: „Die Geisteswissenschaften helfen den Traditionen, damit die Menschen die Modernisierung aushalten können; sie sind […] nicht modernisierungsfeindlich, sondern – als Kompensation der Modernisierungsschäden – gerade modernisierungsermöglichend. Dafür brauchen sie die Kunst der Wiedervertrautmachung fremd gewordener Herkunftswelten.“ Prominente Wissenschaftler wie Wolfgang Frühwald, Hans Robert Jauß und Reinhart Koselleck forderten Anfang der 1990er Jahre eine verstärkte Umorientierung der Geisteswissenschaften hin zu Kulturwissenschaften. In ihrer Denkschrift „Geisteswissenschaften heute“ als Ergebnis eines Forschungsprojektes des Wissenschaftsrates und der Westdeutschen Rektorenkonferenz bestimmen sie 1991 die Aufgabe und Zukunft der Geisteswissenschaften wie folgt: „Die Geisteswissenschaften sind der ‹Ort›, an dem sich moderne Gesellschaften ein Wissen von sich selbst in Wissenschaftsform verschaffen. […] es ist ihre Aufgabe, dies in der Weise zu tun, daß ihre Optik auf das kulturelle Ganze, auf Kultur als Inbegriff aller menschlichen Arbeit und Lebensformen, auf die kulturelle Form der Welt geht, die Naturwissenschaften und sie selbst eingeschlossen.“ Auf die Frage nach der Zukunft der Geisteswissenschaften in einer zunehmend technisierten Umwelt antwortete Norbert Schneider, seinerzeit (2009) Vorsteher des von der Schließung bedrohten Instituts für Kunstgeschichte der Universität Karlsruhe: „Jedenfalls gab und gibt es eine große Fraktion innerhalb der technischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen, die […] die eminent wichtige Funktion der Geisteswissenschaften [übersieht], die zu großen Teilen das historisch-kulturelle Erbe bewahren, auch das von technisch-naturwissenschaftlichen Errungenschaften, z. B. in der Wissenschaftsgeschichte, an der unter anderem auch die Kunstgeschichte maßgeblich beteiligt ist. Darüber hinaus halten die Geisteswissenschaften institutionell auch eine Reflexion über die Selbstverständigung der Gesellschaft lebendig in Gang, die über reines Effizienzdenken hinausgeht.“ Kritik Hans Albert hat den methodologischen Autonomieanspruch der Geisteswissenschaft als solchen kritisiert. Er vertritt demgegenüber die Ansicht, dass es für Wissenschaft grundsätzlich gesehen nur eine einheitliche Methode gebe. Damit leugne er nicht, dass das (Sinn-)Verstehen eine für die Geisteswissenschaften spezifische Funktion habe; nur sei dies seiner Meinung nach keine methodologische, sondern eine der Rolle der Wahrnehmung in den Naturwissenschaften vergleichbare Funktion, ein „Sonderfall der Wahrnehmung“. Literatur Überblicksdarstellungen Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Erstausgabe 1883. Stuttgart 1922. (Text bei Zeno.org) Wilhelm Dilthey, Manfred Riedel (Hrsg.): Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1970, ISBN 3-518-27954-8. Carl Friedrich Gethmann u. a.: Manifest Geisteswissenschaft der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Jörg Schreiter: Hermeneutik – Wahrheit und Verstehen. Darstellung und Texte. Studien zur spätbürgerlichen Ideologie. Akademieverlag, Berlin 1988, ISBN 3-05-000664-1. Gunter Scholz: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-518-28566-1. Bernward Grünewald: Geist – Kultur – Gesellschaft. Versuch einer Prinzipientheorie der Geisteswissenschaften auf transzendentalphilosophischer Grundlage. Duncker & Humblot, Berlin 2009, ISBN 978-3-428-13160-0. Julian Hamann: Die Bildung der Geisteswissenschaften. Zur Genese einer sozialen Konstruktion zwischen Diskurs und Feld. UVK, Konstanz 2014, ISBN 978-3-86764-523-2. Steffen Martus / Carlos Spoerhase: Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften, Suhrkamp, Berlin 2022, ISBN 978-3-518-29979-1. Reformdebatte Ulrich Arnswald (Hrsg.): Die Zukunft der Geisteswissenschaften. Manutius, Heidelberg 2005, ISBN 3-934877-33-8. Jörg-Dieter Gauger, Günther Rüther (Hrsg.): Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben! Ein Beitrag zum Wissenschaftsjahr 2007. Herder, Freiburg 2007, ISBN 978-3-451-29822-6. Ludger Heidbrink, Harald Welzer (Hrsg.): Ende der Bescheidenheit. Zur Verbesserung der Geistes- und Kulturwissenschaften. C.H. Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-55954-9. Klaus W. Hempfer, Philipp Antony (Hrsg.): Zur Situation der Geisteswissenschaften in Forschung und Lehre. Eine Bestandsaufnahme aus der universitären Praxis. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-515-09379-8. (Rezension) Hans Joas, Jörg Noller (Hrsg.): Geisteswissenschaft – was bleibt? Zwischen Theorie, Tradition und Transformation (= Geist und Geisteswissenschaft, Bd. 5). 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1884
https://de.wikipedia.org/wiki/Republikaner
Republikaner
Republikaner steht für: Anhänger der Staatsform der Republik Anhänger der politischen Theorie des Republikanismus Parteien: US-amerikanische Partei, siehe Republikanische Partei deutsche rechtsgerichtete Partei, siehe Die Republikaner französische konservative Volkspartei, siehe Les Républicains Anhänger der irischen und nordirischen Unabhängigkeit, siehe Nordirlandkonflikt Schweizer Kleinpartei der 1970er-Jahre, siehe Republikanische Bewegung Parteigänger der Zweiten Spanischen Republik Zeitungen: Der Republikaner, Schweizer Tageszeitung (1798–1803) Schweizerischer Republikaner, Wochenzeitung (1830–1851) Der Republikaner (20. Jahrhundert), Schweizer Zeitschrift (1961–1978) Siehe auch: Republikanische Partei (Begriffsklärung)
1887
https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%B6ttingen
Göttingen
Göttingen (, ) ist eine Universitätsstadt in Südniedersachsen. Mit einem Anteil von rund 20 Prozent Studenten an der Bevölkerung ist das städtische Leben stark vom Bildungs- und Forschungsbetrieb der Georg-August-Universität, der ältesten und (nach der Leibniz-Universität Hannover) zweitgrößten Universität Niedersachsens, und zweier weiterer Hochschulen geprägt. Das erstmals 953 als Gutingi urkundlich erwähnte Dorf am Fluss Leine entstand im Umfeld der heutigen St.-Albani-Kirche. Der später gegründete Marktflecken Gotingen erlangte um 1230 die Stadtrechte, während das ursprüngliche Dorf Gutingi für lange Zeit außen vor blieb und ein Schattendasein fristete. Göttingen wurde 1964 zur Großstadt und ist eines der neun Oberzentren von Niedersachsen. Die Kreisstadt und größte Stadt des Landkreises Göttingen wurde 1964 als bis dahin kreisfreie Stadt durch das vom Niedersächsischen Landtag verabschiedete Göttingen-Gesetz in den gleichnamigen Landkreis integriert, ist jedoch weiterhin den kreisfreien Städten gleichgestellt. Göttingen liegt im Süden der Europäischen Metropolregion (EMR) Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg. Nach Angaben der Stadt lag die Einwohnerzahl im Jahr 2020 bei 131.436, davon hatten 118.480 ihre Hauptwohnung in Göttingen. Geographie Lage Göttingen liegt am Leinegraben an der Grenze der Leine-Ilme-Senke zum Göttinger Wald und wird in Süd-Nord-Richtung von der Leine durchflossen, der nördliche Stadtteil Weende von der Weende, mehrere nordöstliche Stadtgebiete von der Lutter und mehrere westliche Stadtbereiche von der Grone. Wenige Kilometer weiter nördlich schließt sich der Nörtener Wald an. Am südlichen Stadtrand von Göttingen liegt der vom Wasser der Leine gespeiste Göttinger Kiessee, drei Kilometer südlich davon der Rosdorfer Baggersee. Das zu Göttingen gehörende Gebiet liegt auf 138 bis 427 m ü. NN westlich der Berge Kleperberg (332 m) und Hainberg (315 m), wobei die Mackenröder Spitze (427 m) an der Ostgrenze des Göttinger Walds der höchste Berg Göttingens ist. Im Stadtgebiet sowie westlich der Leine liegen mit gleichnamigen Stadtvierteln der Hagenberg (auch Kleiner Hagen genannt; 174 m) und ungefähr 2 km südlich davon die sanfte Erhöhung des Egelsbergs. An der westlichen Stadtgrenze erheben sich Knutberg (363 m) und Kuhberg (288 m). Das direkt westlich des Göttinger Walds befindliche Göttingen liegt zwischen Solling (etwa 34 km nordwestlich), Harz (etwa 60 km nordöstlich), Kaufunger Wald (etwa 27 km südsüdwestlich), Dransfelder Stadtwald (13 km südwestlich) und Bramwald (19 km westlich); die Entfernungen beziehen sich per Luftlinie gemessen auf die Strecke Göttingen-Innenstadt bis zu den Zentren und Hochlagen der jeweiligen Mittelgebirge. Naturschutzgebiete Im Gebiet der Stadt Göttingen sind zur Erhaltung wertvoller und gefährdeter Lebensräume zwei Naturschutzgebiete ausgewiesen: Das Naturschutzgebiet Stadtwald Göttingen und Kerstlingeröder Feld wurde im Mai 2007 ausgewiesen und umfasst eine Fläche von 1193 Hektar, das Naturschutzgebiet Bratental in den Gemarkungen Nikolausberg und Roringen besteht seit September 1982 und umfasst 115 Hektar in drei räumlich voneinander getrennten Flächen. Klima Die Stadt Göttingen liegt innerhalb der gemäßigten Breiten im Übergangsbereich zwischen ozeanisch und kontinental geprägten Gebieten. Die Jahresmitteltemperatur beträgt 9,2 °C, die durchschnittliche jährliche Niederschlagsmenge liegt bei 644 mm. Die wärmsten Monate sind Juli mit durchschnittlich 17,8 °C und August mit 17,6 °C und die kältesten Januar mit 0,9 °C und Februar mit 1,8 °C im Mittel. Der meiste Niederschlag fällt im Mai bis Juli mit durchschnittlich 65–66 mm, der geringste im Februar mit durchschnittlich 39 mm. Im Juli ist mit 6,6 Stunden täglich der meiste Sonnenschein zu erwarten. Ende Februar 2021 wurde laut DWD die höchste Temperaturdifferenz seit 1880 (in Jena) binnen einer Woche verzeichnet. Innerhalb einer Woche stieg die Temperatur in Göttingen ausgehend von der Tiefsttemperatur des 14. Februar von −23,8 °C um 41,9 °C auf die Höchsttemperatur des 21. Februar 18,1 °C. Stadtgliederung Das Stadtgebiet Göttingens ist in 18 Stadtbezirke und Stadtteile eingeteilt. Einige Stadtteile sind allein oder mit benachbarten Stadtteilen zusammen Ortschaften im Sinne des Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetzes (NKomVG). Sie haben einen vom Volk gewählten Ortsrat, der je nach Einwohnerzahl der Ortschaft zwischen 9 und 13 Mitglieder hat; deren Vorsitzender ist ein Ortsbürgermeister. Die Ortsräte sind zu wichtigen, die Ortschaft betreffenden Angelegenheiten zu hören. Die endgültige Entscheidung über eine Maßnahme obliegt jedoch dem Rat der Stadt Göttingen. Nachbargemeinden Folgende Gemeinden grenzen an die Stadt Göttingen. Sie werden im Uhrzeigersinn beginnend im Norden genannt und gehören alle zum Landkreis Göttingen: Flecken Bovenden, Waake und Landolfshausen (beide Samtgemeinde Radolfshausen), Gleichen, Friedland, Rosdorf, Stadt Dransfeld (Samtgemeinde Dransfeld) und Flecken Adelebsen. * Entfernungen sind gerundete Straßenkilometer bis zum Ortszentrum. Geschichte Die Geschichte Göttingens: Ur- und Frühgeschichte Das Stadtgebiet Göttingens ist seit der frühen Jungsteinzeit besiedelt, wie zahlreiche Fundstellen der bandkeramischen Kultur zeigen. Eine dieser Fundstellen wurde beim Bau des heutigen Einkaufszentrums Kauf Park im Stadtteil Grone in den 1990er Jahren von der Stadtarchäologie großflächig ausgegraben. Darüber hinaus finden sich Besiedlungsspuren der Bronze- und Eisenzeit. Dorf Gutingi Göttingen geht auf ein Dorf zurück, das sich archäologisch bis ins 7. Jahrhundert nachweisen lässt. Dieses Dorf wurde 953 unter dem Namen Gutingi erstmals in einer Urkunde König Ottos I. erwähnt – mit der Beurkundung schenkte der spätere Kaiser dem Kloster St. Moritz in Magdeburg Besitz im damaligen Gutingi  – und lag am Ostrand des Leinetalgrabens im Umkreis der heutigen St.-Albani-Kirche auf einem Hügel. Diese Kirche wurde spätestens zu Beginn des 11. Jahrhunderts dem Heiligen Albanus geweiht und ist damit die älteste Kirche Göttingens, wobei das heutige Gebäude ein Nachfolgebau aus dem 14. und 15. Jahrhundert ist. Neuere archäologische Funde im Bereich des alten Dorfes weisen auf ein ausgebildetes Handwerk hin und lassen auf weitreichende Handelsbeziehungen schließen. Durch das Dorf floss ein kleiner Bach, die Gote, von der das Dorf seinen Namen bezog („-ing“ = „Bewohner bei“). Pfalz Grona Während – abgesehen von den archäologischen Funden – über das Schicksal des Dorfes Gutingi im frühen Mittelalter nicht viel bekannt ist, tritt mit der Pfalz Grona (dt. Grone) zwei Kilometer nordwestlich des Dorfes ein Ort deutlicher in der Geschichte hervor. Als neu erbaute Burg 915 urkundlich erwähnt, wurde sie später zur Pfalz ausgebaut. Diese über dem gegenüberliegenden Ufer der Leine auf dem südlichen Sporn des Hagenbergs gelegene Pfalz gilt mit ihren insgesamt 18 bezeugten Königs- und Kaiseraufenthalten zwischen 941 und 1025 als spezifisch ottonische Pfalz mittleren Ranges. Insbesondere für Kaiser Heinrich II. und seine Gemahlin Kunigunde war Grone ein beliebter Aufenthaltsort. Hierher zog sich Heinrich II. schwer erkrankt im Sommer 1024 zurück, wo er am 13. Juli 1024 verstarb. Die Burg verlor später ihre Funktion als Pfalz und wurde im 13. Jahrhundert zur Burg der Herren von Grone umgebaut. Zwischen 1323 und 1329 wurde sie von den Bürgern der Stadt Göttingen zerstört. Die Reste wurden 1387 von Otto der Quade wegen seiner Fehde mit der Stadt Göttingen abgetragen. Stadtgründung An der zur Furt über die Leine führenden Straße, westlich des Dorfes Gutingi, entstand im Laufe der Zeit ein Wik (= eine kaufmännische Siedlung), das den Ortsnamen als „gotingi“ weiterführte und später 1230 als „Gotingen“ das Stadtrecht erhielt. Das nunmehr so genannte Alte Dorf, das der Stadt anfangs den Namen gab, war nicht die eigentliche Keimzelle der neuen Stadt; es lag vielmehr außerhalb der ersten Stadtmauer und ist noch im Stadtgrundriss als gesonderter Bereich um die Albanikirche und die heutige Lange-Geismar-Straße erkennbar. Unter welchen Umständen die Stadt Göttingen entstand, ist historisch nicht exakt zu bestimmen. Man geht davon aus, dass Heinrich der Löwe die Stadtgründung zwischen 1150 und 1180/1200 initiierte. In der Zeit zwischen 1201 und 1208 wird Pfalzgraf Heinrich, der Bruder Ottos IV., als Stadtherr angegeben. In dieser Zeit wurden bereits von Göttingen aus welfische Besitz- und Herrschaftsrechte wahrgenommen. Zu dieser Zeit wurden erstmals Göttinger Bürger (burgenses) erwähnt, was darauf schließen lässt, dass Göttingen bereits auf spezifisch städtische Weise organisiert war. Die Welfen verwalteten ihren Besitz um Göttingen von einem Hofe aus, der nördlich des alten Dorfes, am heutigen Ritterplan, lag und in späterer Zeit zu einer Burg, dem „Ballerhus“ (balrus) ausgebaut wurde. Die Ackerflur, die zu diesem Wirtschaftshof gehörte, wird als „Bünde“ (gebundenes Land) bezeichnet und so noch in spätmittelalterlichen Urkunden erwähnt. Die Hofleute besaßen ihren Wohnsitz neben dem Herrensitz. In enger Verbindung zum Hof und zur späteren Burg befand sich zudem die Jacobikirche, welche eine Stiftung Heinrichs des Löwen war, und ein südlich angrenzender Hof, der 1303 von Herzog Albrecht an das Kloster Walkenried verkauft wurde. Es liegt nahe, dass durch die Einbeziehung der Jacobikirche und des angrenzenden Hofes der gesamte Burgkomplex im Süden bis an die heutige Speckstraße sowie bis in die Nähe der Weender Straße gereicht haben mag. Göttingen war jedoch keine Reichsstadt, sondern den welfischen Herzögen von Braunschweig-Lüneburg unterworfen. Die landesherrlichen Statthalter hatten ihre Residenz in der Burg, die in der nordöstlichen Ecke der ältesten, vor 1250 errichteten Stadtbefestigung lag und an die noch der Name Burgstraße erinnert. Gleichwohl mussten die Herzöge der Stadt gewisse Freiheiten zubilligen und Kompromisse schließen. Göttingen wurde in der Frühzeit seiner Geschichte als Stadt in Konflikte der Welfen mit ihren Widersachern im südlichen Niedersachsen hineingezogen. Die Auseinandersetzungen in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts waren den politischen Interessen der Göttinger Bürger förderlich, und diese konnten die politisch-militärische Situation geschickt ausnutzen und sich umwerben lassen. In einer Urkunde aus dem Jahre 1232 bestätigte Herzog Otto das Kind den Göttingern die Rechte, die sie zur Zeit seiner Onkel – also Otto IV. und Pfalzgraf Heinrich – besessen hätten. Dabei wird es sich um solche Privilegien gehandelt haben, die den Handel erleichterten, am Ort wohnende Kaufleute schützten und Befugnisse der Göttinger Selbstverwaltung absteckten. Er stellte in Aussicht, dass die Stadt nicht in fremde Hände gelangen solle. Es ist davon auszugehen, dass spätestens zu dieser Zeit ein von den Bürgern gestellter Stadtrat und damit ein praktikables Instrument der Selbstverwaltung existierte. Namen von Ratsherren werden erstmals in einer Urkunde aus dem Jahre 1247 genannt. Ausbau und Erweiterung Der von der alten Stadtbefestigung zunächst geschützte Bereich umfasste den Markt, das heutige alte Rathaus, die beiden Hauptkirchen St. Johannis und St. Jacobi, die kleinere St.-Nikolai-Kirche, sowie die wichtigsten Verkehrswege Weender, Groner und Rote Straße. Außerhalb dieser Befestigung, vor dem inneren Geismarer Tor, lag noch das alte Dorf, das danach Geismarer altes Dorf genannt wurde, mit der Kirche St. Albani. Das Dorf gehörte im Hochmittelalter nur zu Teilen zum welfischen Herrschaftsbereich und konnte deswegen nicht an den städtischen Privilegien und am Schutz durch die Stadtmauer teilhaben. Geschützt wurde die Stadt zunächst durch Wälle, spätestens Ende des 13. Jahrhunderts durch Mauern auf den Wällen. Von dieser alten Stadtbefestigung ist nur in der Turmstraße der Mauerturm sowie ein Teil der Mauer erhalten. Das damals befestigte Areal umfasste maximal 600 mal 600 m, etwa 25 ha, und war damit zwar kleiner als Hannover, jedoch größer als die benachbarten welfischen Städte Northeim, Duderstadt und Münden. Die Genehmigung zur Errichtung des Walls wurde 1362 von Herzog Ernst von Braunschweig-Göttingen erteilt, der Bau zog sich schließlich über 200 Jahre hin. Nimmt man die von den Landesfürsten angeordnete Anlage von Außenwerken und die notwendigen Instandsetzungsarbeiten und späteren Verbesserungen hinzu, summiert sich die Bauzeit auf insgesamt 400 Jahre. Gewaltige Geldsummen und Anstrengungen waren nötig, um den Wall in einem solchen Zustand zu errichten, wie er auf alten Stichen und Plänen zu sehen ist. Zunächst bildete er einen einfachen Graben mit niedrigem Aufwurf, welcher durch Zäune und Knicks, später mittels Planken und einer niedrigen gemauerten Brustwehr verstärkt wurde. In ihrem Endzustand besaß der Wall eine starke Stützmauer und Brustwehr, einen breiten, aus einer Kette von Teichen zusammengesetzten Festungsgraben, mindestens 30 am Außenrand der Wälle errichtete Türme sowie eine Reihe von Schanzen und Außenbastionen. Vier Haupttore entstanden im Kontext zu den jeweiligen Toren der alten Stadtmauer und wurden als äußere Tore bezeichnet. Der südlich der Mauern fließende Bach Gote wurde um diese Zeit durch einen Kanal mit der Leine verbunden. Der danach Leinekanal genannte Wasserlauf der Leine führte wesentlich mehr Wasser in und durch die Stadt hindurch. Im Zuge der welfischen Erbteilungen erhielt 1286 Herzog Albrecht der Feiste die Herrschaft über Südniedersachsen. Er wählte Göttingen zu seinem Herrschaftssitz und zog in die in der nördlichen Altstadt befindliche Burg, das Ballerhus (auch Bahlrhus) ein. Von diesem wurde außerhalb der Mauern im Westen auf der gegenüberliegenden Seite des Leinekanals eine Neustadt, ein beidseitig bebauter Straßenzug von nur etwa 80 m Länge, noch vor 1300 angelegt. Albrecht beabsichtigte mit der Neugründung ein Gegengewicht zur wirtschaftlich und politisch schnell wachsenden Stadt zu schaffen, um von diesem Stützpunkt aus seine Macht neu zu festigen. Der Herzog konnte das aufstrebende Göttingen jedoch nicht daran hindern, sich nach Westen weiter auszudehnen, da es dem Göttinger Rat gelang, der Neustadt alle Entwicklungsmöglichkeiten zu verbauen. Nachdem sich das Projekt schlecht entwickelte, kaufte der Rat der Stadt Göttingen diese unangenehme Konkurrenzgründung im Jahre 1319 für nur 300 Mark auf. Im Süden an die Neustadt wurde zunächst als Pfarrkirche der Neustadt die St.-Marien-Kirche errichtet, die im Jahre 1318 mitsamt den angrenzenden Höfen dem Deutschen Ritterorden übertragen wurde. Am Rande der Altstadt wurden zudem im späten 13. Jahrhundert zwei Klöster gegründet. Im östlichen Teil der Altstadt, auf dem Gelände des heutigen Wilhelmsplatzes, wurde zunächst ein Franziskanerkloster errichtet. (→ eigener Artikel: Franziskanerkloster Göttingen) Nach Angaben des späteren Stadtchronisten Franciscus Lubecus sollen sich die Brüder des 1210 gegründeten Franziskanerordens seit 1268 dort angesiedelt haben, möglicherweise aber auch bereits 1246. 1306 wurde wahrscheinlich die Kirche des Barfüßerklosters („Barfüßerkirche“) geweiht, von der ein 1424 entstandenes Altarretabel erhalten ist. Der Konvent gehörte zunächst zur Kölnischen Franziskanerprovinz (Colonia); 1462 wurde er von der Ordensleitung gezwungen, die Ordensregeln der Observanz anzunehmen, und der Sächsischen Franziskanerprovinz (Saxonia) zugewiesen. Das Kloster bestand bis 1533, nachdem es dort ab 1529 zu einem teilweise gewalttätigen Konflikt zwischen dem Stadtrat, der Bevölkerung und den Franziskanern gekommen war. Der frühere Provinzial der Saxonia, Andreas Grone (Fricke), wurde vom Rat 1531 wegen „aufwiegelnder Reden“ aus der Stadt vertrieben. Am 23. Juli 1533 verließen alle Ordensbrüder auf Druck des Rates hin in einer feierlichen Prozession die Stadt. Ihre Bibliothek mit rund 450 bis 500 Bänden wurde 1545 aufgelöst. Da die Franziskaner als Ausdruck ihrer Armut und Demut keine Schuhe trugen, wurde ihr Orden im Volksmund Barfüßer genannt; daher erhielt die zum Kloster führende Straße ihren heutigen Namen Barfüßerstraße. Ausgrabungen am Wilhelmsplatz förderten im Jahr 2015 zahlreiche Skelette zutage, bei denen es sich um bestattete Franziskanerbrüder handelte. Im Dreißigjährigen Krieg versuchten die Franziskaner ab 1628, geschützt von der katholisch-kaiserlichen Besatzung, ihr Kloster in Göttingen zu reaktivieren und gerieten dabei in Konkurrenz zu den Minoriten; mit Hilfe von Kaiser Ferdinand II. und Nuntius Aloisius Carafa konnten sich die Franziskaner durchsetzen. Bereits im Februar 1632 mussten sie jedoch aus Göttingen fliehen und das Kloster aufgeben, nachdem die Stadt von protestantischen Truppen zurückerobert worden war. Im Jahre 1294 gestattete Albrecht der Feiste den Dominikanern im Papendiek, am Leinekanal gegenüber der Neustadt, ein Kloster zu gründen, als dessen Klosterkirche die 1331 geweihte Paulinerkirche diente. Juden wurden im späten 13. Jahrhundert in der Stadt angesiedelt. Unter dem Datum des 1. März 1289 erteilten die Herzöge zu Braunschweig und Lüneburg dem Göttinger Rat die Erlaubnis, den Juden Moses in der Stadt aufzunehmen. Die Juden wohnten hauptsächlich in der Nähe der St.-Jacobi-Kirche in der heutigen Jüdenstraße. In Göttingen war die Geschichte der Juden schon im Mittelalter von großem Leid geprägt. Nachdem im Jahre 1369/1370 Herzog Otto III. der Stadt das Recht der Gerichtsbarkeit über die Juden abgetreten hat, kam es hier immer wieder zu blutigen Pogromen und Vertreibungen. Von 1460 bis 1599 wohnten über 100 Jahre überhaupt keine Juden in Göttingen. Das 14. und das 15. Jahrhundert bildeten für Göttingen eine Blütezeit wirtschaftlicher Machtentfaltung, von der die Werke der Baukunst Zeugnis ablegen. In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts begann der Neubau der St.-Johannis-Kirche als gotische Hallenkirche. Ab 1330 ersetzte ein gotischer Bau die kleinere St.-Nikolai-Kirche. Nach dem Abschluss der Arbeiten an der St.-Johannis-Kirche wurde in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit dem Neubau der St.-Jacobi-Kirche begonnen. In den Jahren nach 1366 entstanden wesentliche Teile des (jetzigen alten) Rathauses. Die heutige Gestalt des Gebäudes erhielt es in Grundzügen erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts. In den Jahren um 1360 wurde zudem der Befestigungsring um die Stadt neu abgesteckt und umfasste nunmehr die Neustadt und das Alte Dorf. Im Zuge dieser Baumaßnahmen wurden die vier Stadttore weiter nach außen verlegt und das Gebiet der Stadt wuchs auf ein Areal von etwa 75 ha. Ab 1380 entstand im Umland die weiträumige Göttinger Landwehr mit zunächst zwei unregelmäßigen Ringen um die Stadt. Wachstum und Selbständigkeit Nach dem Tode Albrecht des Feisten 1318 kam Göttingen über Otto den Milden († 1344) an Herzog Ernst I. († 1367). Das von ihm regierte Fürstentum Göttingen bildete ein Teilfürstentum im Herzogtum Braunschweig-Lüneburg. Das Fürstentum Göttingen war das wirtschaftlich ärmste der welfischen Fürstentümer. Unter Ernsts Nachfolger, Otto I. († 1394), gelang es Göttingen, seinen Status als autonome Stadt weiter zu befestigen. Otto I., der Quade (der Bösewicht) genannt, wird als markanter Vertreter des damaligen Rittertums beschrieben, dessen Hass den Städten galt, deren aufblühende Macht ihm ein Dorn im Auge war. Dementsprechend stand seine Herrschaft ununterbrochen im Zeichen von Fehden und außenpolitischen Konflikten. Obwohl die Stadt Göttingen anfangs heftig von ihm bedrängt wurde, gelang es ihm letztlich nicht, die Landesherrschaft weiter auszubauen, wovon die Selbständigkeit Göttingens profitierte. Das vor den Toren der Stadt gelegene herzogliche Landgericht am Leineberg geriet unter Göttinger Einfluss und wurde 1375 von Otto an die Stadt verpfändet. Es gelang der Stadt, neben der Erlangung der gerichtsherrschaftlichen Rechte, grundherrschaftliche Rechte von Otto zu erwerben. Im April 1387 erreichten die Auseinandersetzungen zwischen der Stadt und Otto ihren Höhepunkt: Die Göttinger erstürmten die herzogliche Burg innerhalb der Stadtmauern, im Gegenzug verwüstete Otto Dörfer und Ländereien in der Umgebung. Die Bürger konnten jedoch im Juli in einer offenen Feldschlacht unter dem Stadthauptmann Moritz von Uslar zwischen Rosdorf und Grone einen Sieg über die fürstliche Streitmacht erringen. Otto musste danach im August 1387 die Freiheit der Göttinger Güter in der Umgebung anerkennen. Insofern markiert das Jahr 1387 einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte der Stadt. Nach Ottos Tod konnte Göttingen unter dessen Nachfolger Otto Cocles (der Einäugige) seine Autonomie weiter ausbauen, nicht zuletzt, weil mit Otto Cocles das Haus Braunschweig-Göttingen ausstarb und die offene Erbfrage sowie seine vorzeitige Abdankung 1435 zu einer weiteren Destabilisierung der landesherrschaftlichen Macht führten. Das Verhältnis zur welfischen Landesherrschaft war in der Folgezeit bis zum Ende des 15. Jahrhunderts durch eine ständige und erfolgreiche Zurückdrängung des landesherrlichen Einflusses auf die Stadt gekennzeichnet. Auch wenn Göttingen offiziell keine Freie Reichsstadt war, sondern stets den Braunschweiger Herzögen untertan blieb, so konnte es sich doch eine bedeutende Selbständigkeit erkämpfen und wurde teilweise in Urkunden unter den Reichsstädten geführt und zu besonders wichtigen Reichstagen geladen. Nach diversen weiteren dynastischen Teilungen und Herrschaftswechseln, die mit dem Tode Otto Cocles’ (1463) einsetzten, erhielt Erich die Herrschaft über das zusammengelegte Fürstentum Calenberg-Göttingen. Die Stadt verweigerte zunächst dem neuen Herrscher die Huldigung, woraufhin Erich 1504 bei König Maximilian eine Reichsacht gegen Göttingen erwirkte. Die andauernden Spannungen führten zu einer wirtschaftlichen Schwächung der Stadt, so dass die Stadt letztendlich 1512 die Huldigung leistete. Schon bald darauf zeichnete sich das Verhältnis zwischen Erich und der Stadt durch eine eigenartige Friedfertigkeit aus, die darauf zurückgeführt wird, dass Erich finanziell auf die Stadt angewiesen war. Grundlage für den politischen und allgemeinen Aufschwung Göttingens im Spätmittelalter war die wachsende wirtschaftliche Bedeutung der Stadt. Diese beruhte vor allem auf der verkehrsgünstigen Lage im Leinetal an einem alten und wichtigen Nord-Süd-Handelsweg. Dieser begünstigte den heimischen Wirtschaftszweig, die Wollweberei in Göttingen. Neben den Leinenwebern, die zwar zum inneren Kreis der Göttinger Gilden gehörten, allerdings im sozialen Ansehen am unteren Ende rangierten, siedelten sich in der Neustadt die Wollenweber an. Die dort verarbeitete Wolle kam hauptsächlich aus der Umgebung der Stadt; teilweise standen hier bis zu 3000 Schafe und 1500 Lämmer. Die Wolltücher wurden erfolgreich bis nach Holland und über Lübeck exportiert. Ab 1475 wurde mit der Anwerbung neuer Fachkräfte die heimische Tuchproduktion ausgebaut. Diese so genannten neuen Wollenweber brachten neue, bisher nicht angewandte Techniken mit nach Göttingen und festigten die Stellung der Stadt als exportorientierte Tuchmacherstadt für drei Generationen. Erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts, als mit den billigen englischen Tüchern kaum noch konkurriert werden konnte, kam es zum Niedergang des Göttinger Tuchmachergewerbes. Von der guten Verkehrslage zwischen den bedeutenden Handelsstädten Lübeck und Frankfurt am Main profitierten die Göttinger Kaufleute. Der Göttinger Markt erreichte überregionale Bedeutung. Viermal im Jahr kamen zum Jahrmarkt fremde Händler in großer Zahl nach Göttingen. Die Kaufleute, die den Fernhandel als Zulieferer für den Göttinger Markt und als Transithändler im überregionalen Geschäft betrieben, besaßen in Göttingen die großen Vermögen. Göttingen trat der Hanse bei. Die erste Ladung der Stadt zum Hansetag wird auf 1351 datiert. Das Verhältnis zur Hanse blieb jedoch weitgehend distanziert. Als Binnenstadt nutzte Göttingen zwar gerne das funktionierende Wirtschaftsnetz der Hanse, wollte sich aber nicht in die Politik des Gesamtverbandes verwickeln lassen. Zahlendes Mitglied wurde Göttingen erst 1426, und 1572 folgte bereits der endgültige Austritt aus der Hanse. Reformation und Dreißigjähriger Krieg Das 16. Jahrhundert begann in Göttingen mit wirtschaftlichen Problemen, die schließlich zu Spannungen führten. Zum offenen Konflikt zwischen Handwerksgilden und Rat, der im Wesentlichen von der Schicht der Kaufleute gestellt wurde, kam es 1514, als der Rat zur Haushaltssanierung neue Steuern erlassen wollte. Am 6. März 1514 stürmten die Gilden das Rathaus, setzten den Rat kurzerhand gefangen und jagten ihn anschließend aus der Verantwortung. Der Rat konnte zwar mit Hilfe von Herzog Erich I. seine alte Stellung wieder zurückgewinnen, der Konflikt schwelte jedoch weiter und bildete damit den Nährboden für die Einführung der Reformation in Göttingen. Die Reformation, die infolge von Martin Luthers Thesenanschlag 1517 und dem Reichstag zu Worms im Jahre 1521 nach und nach weite Teile Deutschlands und insbesondere die großen Städte ergriffen hatte, schien jedoch zunächst an Göttingen vorbeizugehen. Selbst als der Bauernkrieg 1524/25 durch Deutschland tobte, blieb es in Göttingen ruhig. Erst 1529, also zwölf Jahre nach Luthers Thesenanschlag, kam in Göttingen die Reformation auf. Anlass dazu war zunächst eine Szene ganz mittelalterlicher Prägung: eine Bartholomäus-Prozession. Derartige Prozessionen waren in den großen Städten Deutschlands in diesen Zeiten selten geworden. Das alte Kirchenwesen war in Göttingen bis zu diesem Zeitpunkt jedoch noch unbestritten. Der Umbruch wurde von den neuen Wollenwebern eingeleitet, jenem Personenkreis also, der erst ab 1475 in Göttingen angesiedelt war, und insofern dem neuen Gedankengut offener gegenüberstand als die Alteingesessenen, also gewissermaßen das progressive Element in der Stadt bildete. Diese neuen Wollenweber hatten eine Gegendemonstration zu der Bartholomäus-Prozession formiert und die Prozession auf der Groner Straße mit Luthers Choral „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ empfangen sowie den Zug mit weiteren christlichen Psalmen und Spottliedern begleitet. Über den religiösen Aspekt hinaus stellten damit die neuen Wollenweber zugleich das in der Stadt bestehende Herrschaftssystem in Frage. Nunmehr drängten sich die Ereignisse, der vorherigen Verspätung folgte eine überraschende Beschleunigung des Umbruchs: Mit dem ehemaligen Rostocker Dominikaner Friedrich Hüventhal war jetzt ein evangelischer Prediger in der Stadt. Dieser gewann zunehmend an Einfluss, hielt eine öffentliche Predigt auf dem Marktplatz und konnte schließlich nach kontroversen Verhandlungen mit dem Rat gegen den Willen der Paulinermönche in der Paulinerkirche am 24. Oktober 1529 den ersten regulären evangelischen Gottesdienst in Göttingen feiern. Dieser Ort musste gewählt werden, da der Rat der Stadt Göttingen anfangs noch keine Verfügungsgewalt über die Pfarrkirchen in der Stadt hatte. Diese unterstanden der Verfügungsgewalt des Herzogs Erich I. Dieser hing noch dem alten Glauben an und wollte evangelische Predigten in den ihm unterstellten Pfarrkirchen nicht zulassen. Erich I. war bereits 1525 dem Dessauer Bund, einem antiprotestantischen Bündnis norddeutscher Staaten, beigetreten, und sah durch die Einführung der Reformation in der größten Stadt in seinem Fürstentum Calenberg-Göttingen das Verhältnis zwischen der Stadt und ihrem Landesherrn empfindlich gestört. Nachdem die Göttinger mit einem abschließenden Rezess am 18. November 1529 die Kirchenreform und politische Neuerungen zusammenfassten, reagierte Erich prompt und schroff. Er wandte sich an die Stadt in der harten Form eines Fehdebriefes. Hüventhal, der in der reformatorischen Bewegung der Stadt nicht mehr unumstritten war, musste daraufhin die Stadt verlassen. Dies bedeutete jedoch nicht das Ende der Reformation in Göttingen, die Göttinger holten den gemäßigteren Prediger Heinrich Winkel aus Braunschweig in die Stadt. Um diese Zeit wurde Johann Bruns einer der bestimmenden Köpfe der Göttinger Kirchenpolitik. Schon vorher hatte er als Pfarrer von Grone als einer der ersten in der Region lutherisch gepredigt; später wurde er Syndicus der Stadt. Nachdem der Rat der Stadt die Pfarrkirchen, in denen nicht lutherisch gepredigt werden durfte, hatte schließen lassen, wurde am Palmsonntag des Jahres 1530 die neu ausgearbeitete Kirchordnung Göttingens verlesen, die der Göttinger Reformation den Abschluss gab. Die Kirchenordnung wurde Martin Luther zur Korrektur und Absegnung vorgelegt und erschien 1531 in einer Wittenberger Druckerei mit einem zustimmenden Vorwort des Reformators. Nach dem Abschluss der Reformation durch die neue Kirchenordnung spitzte sich die Situation nochmals zu. Herzog Erich I. erlangte auf dem Landtag zu Moringen die Unterstützung der Stände für die Forderung an die Stadt, zur alten Kirche zurückzukehren. Göttingen seinerseits tat einen Schritt in die Reichspolitik hinein und entschloss sich am 31. Mai 1531, dem Schmalkaldischen Bund beizutreten, einem Zusammenschluss der protestantischen Reichsstände zur Verteidigung ihres Glaubens. Im April 1533 gelang es der Stadt, sich mit dem Herzog ins Benehmen zu setzen und in einem Vertrag die Kontroverse auszuräumen. Daran nicht unbeteiligt war Erichs Frau Elisabeth von Brandenburg, die selbst 1538 öffentlich zum evangelischen Glauben übertrat. Nach Erichs Tod im Jahre 1540 übernahm sie die vormundschaftliche Regierung für ihren Sohn Erich II. und begann von ihrer Leibzucht Münden aus, im Fürstentum Calenberg-Göttingen die Reformation durchzusetzen. Elisabeth machte den Pfarrer Anton Corvinus aus dem hessischen Witzenhausen zum Superintendenten für das Fürstentum und ließ von diesem die Calenberger Kirchenordnung ausarbeiten, die 1542 in Druck ging. Nach der Niederlage der Protestanten im Schmalkaldischen Krieg 1548 mussten diese das Augsburger Interim hinnehmen. Wie in vielen Teilen des Reiches fiel dies den Göttingern schwer und sie weigerten sich, dieses durchzusetzen. Herzog Erich II. kehrte nach längerer Abwesenheit wieder in sein Fürstentum zurück, trat 1549 zum katholischen Glauben über und begann – sehr zum Leidwesen seiner Mutter – das Interim durchzusetzen. In Göttingen führte dies dazu, dass die Stadt ihren Superintendenten Mörlin, der sich zu harsch gegen das Interim und gegen den Herzog gewandt hatte, entlassen musste. In dieser Entlassung kann ein erster Schritt zur Beseitigung der städtischen Autonomie im Kirchenwesen und in anderen Bereichen der Selbstverwaltung im späten 16. und im 17. Jahrhundert gesehen werden. Nachdem im Augsburger Reichs- und Religionsfrieden 1555 den Reichsständen das Recht zugesprochen wurde, das Bekenntnis ihrer Untertanen zu bestimmen, versprach Erich II., obwohl er dem katholischen Glauben treu blieb, das Fürstentum bei der Kirchenordnung von 1542 und bei der evangelischen Lehre zu belassen. Der Rat der Stadt Göttingen unterzeichnete 1580 die lutherische Konkordienformel von 1577. Nach dem Tode Erichs II. 1584, der keinen männlichen Nachfolger hinterließ, fiel das Fürstentum an Herzog Julius von Wolfenbüttel, wodurch das Fürstentum Calenberg-Göttingen wieder an das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel gelangte. Göttingen, das schon 1582 durch den Verlust der umgebenden Leinedörfer an die Herzöge an Einfluss verloren hat, musste neben dem wirtschaftlichen Niedergang, der nunmehr einsetzte, 1597, 1611 und zuletzt 1626 mehrere Pestausbrüche verkraften. Im Jahre 1623 wurde Göttingen erstmals in den 1618 ausgebrochenen Dreißigjährigen Krieg einbezogen. Göttingen war von den kämpfenden Heeren umgeben und musste auf Drängen des Landesherren Friedrich Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel vorübergehend eine Garnison aufnehmen. Dessen Bruder Christian, genannt der tolle Halberstädter, hatte den niedersächsischen Reichskreis, zu dem Göttingen gehörte, mit in den Krieg gezogen. 1625 begann Göttingen mit Genehmigung des Landesherrn, die Befestigungsanlagen auszubauen. Diese sollte die Stadt brauchen, denn schon im Herbst 1625 belagerte der kaiserliche Feldherr Albrecht von Wallenstein die Stadt und stellte Proviant- und Quartierwünsche. Wallenstein zog weiter und gab sich damit zufrieden, die gesamte Göttinger Kuhherde von etwa 1000 Stück Vieh als Beute davon zu führen. Göttingen strengte seine Verteidigungsvorbereitungen an, doch schon kurz darauf stand Tilly, der Feldherr der katholischen Liga, im Sommer 1626 vor der Stadt, nachdem er kurz zuvor im benachbarten Münden ein Blutbad angerichtet hatte. Tilly ließ Göttingen angeblich fünf Wochen lang beschießen und die Leine durch Harzer Bergleute umleiten, so dass die Stadt Tilly am 3. August 1626 die Tore öffnen musste. Tilly nahm Residenz in der Weender Straße 32, dem Kommandantenhaus. Nach dem Siege Tillys in der Schlacht bei Lutter am Barenberge über die dänischen Truppen konnte dieser seine Position in Niedersachsen sichern und Göttingen blieb von kaiserlich-katholischen Truppen besetzt. Göttingen litt sehr unter der Besatzung und den für die Stadt unerträglichen Kontributionslasten, woraufhin ein großer Teil der Bevölkerung die Stadt verließ und bis zu 400 Häuser leer standen. Erst sechs Jahre später änderten sich die Machtverhältnisse, und nach dem Sieg der Schweden über Tilly in der Schlacht bei Breitenfeld 1631 wurde Göttingen von schwedischen und weimarischen Truppen unter Wilhelm von Weimar für die evangelische Seite zurückerobert. Göttingen wurde im Herbst des Jahres 1632 zwar nochmals von Pappenheimer Truppen bedroht, anschließend war die Stadt aber fest in der Hand protestantischer Truppen. Dies bedeutete für die Stadt jedoch zunächst keine Besserung der Verhältnisse, die Besatzung lastete weiterhin schwer auf der Zivilbevölkerung. 1634 erlosch mit dem Tode Friedrich Ulrichs das Mittlere Haus Braunschweig. Göttingen fiel nach der abermaligen welfischen Erbteilung an Georg von Braunschweig und Lüneburg-Calenberg, der Hannover zu seiner Residenz wählte. Nach dessen Tod 1641 musste Göttingen unter Herzog Christian Ludwig die letzte große Belagerung durch Piccolomini ertragen. Anschließend war der Krieg für Göttingen zwar zu Ende, die Stadt hatte aber noch lange Jahre die Last der Garnison und der Kriegskosten zu tragen. Wiederaufstieg als Universitätsstadt Nach dem Dreißigjährigen Krieg setzte sich der wirtschaftliche Niedergang der Stadt weiter fort. Der Export von Tuchen und Leinwand war fast völlig zusammengebrochen. Die Einwohnerzahl, die im Jahre 1400 noch 6000 Personen betrug, sank um 1680 auf unter 3000. Dem wirtschaftlichen Niedergang folgte der politische. Die Vorherrschaft der Gilden in Rat und Bürgerschaft wurde abgelöst durch die Herrschaft des Landesherrn. Herzog Ernst August erreichte es 1690, dass durch den so genannten Stadtrezess der Rat faktisch in ein fürstliches Verwaltungsorgan umgestaltet wurde. Außenpolitisch änderte sich die Situation. Das Fürstentum Braunschweig-Calenberg, zu dem Göttingen seit 1634 gehörte, wurde unter Herzog Ernst August im Jahre 1692 von Kaiser Leopold I. zum Kurfürstentum ernannt. Die nunmehr Kurfürsten von Braunschweig-Lüneburg (Kurhannover) waren ab 1714 zugleich in Personalunion König von Großbritannien. Ernst Augusts Sohn, Kurfürst Georg Ludwig von Hannover, sollte als Georg I. den britischen Thron besteigen. Das Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg, das sich zu einer territorialen Macht in der Mitte Deutschlands zu entwickeln begann, verfügte bis dahin über keine eigene Universität. Es wurde daher beschlossen, eine Universität neu zu gründen, die der Ausbildung der im Land benötigten Theologen, Juristen und Ärzte dienen sollte. Die kurhannoversche Landesregierung entschied, diese in Göttingen anzulegen. Für Göttingen sprach, dass sich in der Stadt bereits seit einiger Zeit ein Gymnasium, das Pädagogium, befand, das als Keimzelle der neuen Universität fungieren konnte. Während der Regierungszeit Georgs II. August von Großbritannien, der der Universität ihren Namen gab, konnte 1734 der Lehrbetrieb der Georg-August-Universität eröffnet werden. Im Jahre 1737 folgte die feierliche Einweihung. Der schnelle Erfolg, den die Neugründung hatte, ist nicht zuletzt auf das Engagement des ersten Kurators der Universität, Gerlach Adolph von Münchhausen, zurückzuführen. Die Universität brachte neuen Aufschwung in die Stadt und beförderte das Bevölkerungswachstum. Durch intensive Bautätigkeit veränderte sich rasch das Gesicht der Stadt. Ein repräsentatives Beispiel für das Selbstbewusstsein Göttinger Neubürger verkörpert noch das barocke Grätzelhaus in der Goetheallee. Neue Wohnungen, Gaststätten und Speiselokale sowie Herbergen wurden eröffnet (siehe Londonschänke). Um das kulturelle Angebot der Professoren und Studenten zu verbessern, wurde ein Universitätsreitstall errichtet. Göttingen erhielt in der Folgezeit in ganz Europa und in Übersee einen Ruf als Ort der Wissenschaft, viele berühmte Gelehrte kamen in die Stadt und wirkten dort. Das hohe Ansehen der Universität beruhte nicht zuletzt auf der klugen Anschaffungspolitik der neu gegründeten Universitätsbibliothek. Zudem wurde 1751 die Königliche Societät der Wissenschaften in Göttingen, die spätere Akademie der Wissenschaften zu Göttingen gegründet, die die Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen herausgab, eine schnell international bekannt gewordene Zeitschrift für Informationen über wissenschaftliche Neuerungen. Der Siebenjährige Krieg bedeutete für Göttingen zwischen 1757 und 1762 neue Besatzungen. Die französische Armee quartierte sich ein, die Universität erhielt jedoch ihren Lehrbetrieb aufrecht. Nach dem Krieg wurden in Göttingen die Stadtwälle geschleift, aus dem Stadtwall wurde eine Promenade. Die insofern entmilitarisierte Universitätsstadt konnte sich wieder voll dem Universitätsbetrieb widmen und trat in ihre Blütezeit ein. Von Napoleon bis 1866 In den von Napoléon Bonaparte geführten Kriegen wurde das Kurfürstentum Hannover 1803 kampflos von französischen Truppen besetzt. Göttingen selbst blieb von Besatzungen und anderen Belastungen verschont. Dies mag mit dem hohen Ansehen der Universität zu tun haben. Kurzfristig wurde Hannover 1805 Preußen zugesprochen. Göttingen wurde daraufhin von preußischen Truppen besetzt. Nach dem Frieden von Tilsit im Jahre 1807 verschwand das Kurfürstentum Hannover von der Landkarte. Göttingen wurde Teil des Königreichs Westphalen mit der Residenzstadt Kassel unter Napoléons Bruder Jérôme Bonaparte. Im Königreich Westphalen war Göttingen Hauptstadt des Leine-Departements, das sich zeitweise bis nach Rinteln erstreckte. Göttingen wurde dadurch Sitz mehrerer Behörden und Gerichte mit Zentralfunktion, die Präfektur hatte ihren Sitz im Michaelishaus. Die Fremdherrschaft wurde mit der Zeit nicht als bedrückend angesehen. Die Studentenzahlen stabilisierten sich nach einem anfänglichen Rückgang, und Göttingen passte sich der französischen Herrschaft an, die bis 1813 dauerte. Nach dem Zusammenbruch der französischen Herrschaft in Deutschland wurde das Kurfürstentum Hannover zum Königreich erhoben. Göttingen gehörte ab 1823 zur Landdrostei Hildesheim, der neu gebildeten Zwischenbehörde. Im Jahr 1807 wurde Carl Friedrich Gauß Leiter der Sternwarte der Universität; er zählt zu den weltweit angesehensten Mathematikern und Physikern. Das letzte bekannte Beispiel der Hinrichtungsmethode des Zerstoßens der Glieder mit eisernen Keulen im Hannöverschen datiert vom 10. Oktober 1828. Als Vergeltung für den aus Habsucht begangenen Mord an Vater und Schwester wurde Andreas Christoph Beinhorn aus Grone auf einer Kuhhaut zum Richtplatz geschleift und dort, auf dem Leineberg in Göttingen, öffentlich von unten auf gerädert – wie es in einem zeitgenössischen Flugblatt heißt – „mit Keulen zerschlagen und nachher sein Körper auf das Rad geflochten“ (wenn auch nur für einen Tag). Die in Deutschland aufkommende Nationalbewegung ging einher mit Forderungen nach politischer Liberalisierung und Demokratisierung. Als im Jahre 1830 die Pariser Julirevolution auf Deutschland übergriff, erlebte Göttingen im Januar 1831 die so genannte Göttinger Revolution. Während das Land Hannover weitgehend ruhig blieb, kam es in Göttingen durch eine Verkettung verschiedener Ursachen zu einem gewaltsamen Ausbruch, in deren Folge unter der Führung des Johann Ernst Arminius von Rauschenplat ein Revolutionsrat gebildet und am 8. Januar 1831 der Magistrat der Stadt Göttingen aufgelöst wurde. Vom König wurde eine freie Verfassung für das Königreich Hannover verlangt und der Sturz der Regierung. Die Regierung zeigte sich unnachgiebig und sandte Truppen in größerem Ausmaß auf die Stadt zu. Am 16. Januar mussten die Aufrührer kapitulieren. Die Truppen zogen in die Stadt ein und quartierten sich dort ein. Die Anführer des Aufstandes wurden, soweit sie nicht ins Ausland geflohen waren, zu drakonischen Strafen verurteilt. Erst gegen Anfang März 1831 kehrte in Göttingen wieder Ruhe ein. Die Universität, die von der Regierung am 18. Januar geschlossen worden war, konnte Mitte April wiedereröffnet werden. Als Folge des Aufstandes nahm die Regierung tiefgreifende Veränderungen an der Stadtverfassung vor und ersetzte die alte Stadtverfassung von 1690 durch eine neue. Die jahrhundertealte politische Rolle der Gilden endete, und an ihre Stelle traten Repräsentanten einer bürgerlichen Honoratiorenschicht. 1837 – 100 Jahre nach Eröffnung der Universität – konnte als Repräsentations- und Verwaltungsgebäude der Universität die Aula eingeweiht werden. Auf dem Platz davor, dem heutigen Wilhelmsplatz, wurde dem damaligen Landesherrn und Stifter, Wilhelm IV., ein Denkmal errichtet. Unter dessen Nachfolger König Ernst August I., mit dem die 123-jährige Personalunion zwischen Großbritannien und Hannover beendet wurde, kam es noch im gleichen Jahr zum Konflikt. Bei seinem Amtsantritt hob dieser die freiheitliche Verfassung, die sein Vorgänger 1833 erlassen hatte, wieder auf, woraufhin sieben Göttinger Professoren Protest einlegten. Am 12. Dezember 1837 entließ Ernst August I. die Professoren und verwies drei von ihnen des Landes. Dieses Ereignis hatte eine enorme Wirkung – nicht nur im Königreich Hannover, sondern in ganz Deutschland. Die Göttinger Sieben, wie sie von nun an genannt wurden, galten bald als Märtyrer eines politisch aufmerksamer werdenden Bürgertums. Durch die Protestaktion wurde die Opposition im Königreich aufgerüttelt. Der Widerstand des Bürgertums hatte teilweise Erfolg: mit dem Landesverfassungsgesetz vom 6. August 1840 erhielt Hannover wieder eine konstitutionelle Verfassung, in der jedoch die Rechte der Stände zugunsten des Monarchen stark beschnitten waren. In Göttingen kehrte zwar bald wieder Ruhe ein, die Universität, die ohnehin schon seit den 1820er Jahren an zurückgehenden Studentenzahlen zu leiden hatte, verlor jedoch zusehends an Ansehen. Nach den Verfassungskämpfen gab es jedoch wenig Entspannung bei den politischen Freiheiten. Versammlungen mussten genehmigt werden, Leihbibliotheken wurden kontrolliert, und die drei ausgewiesenen Professoren durften bis 1848 nicht zurück nach Göttingen kommen. Die Universitätsangehörigen waren der Ansicht, dass das strenge Polizeiregiment, das in Göttingen herrschte, für die Universität verderblich sei. Die Deutsche Revolution 1848/1849, bei der es in vielen Teilen Deutschlands zu Tumulten und Aufständen kam, blieb in Göttingen ohne größeres Blutvergießen. Es kam nur in der Nacht vom 11. zum 12. März 1848 zu einer kleineren Auseinandersetzung zwischen der Polizei und einigen Korpsstudenten. In deren Folge verließen die Studenten aus Protest geschlossen die Stadt. Da sich das Semester ohnehin dem Ende neigte, war dieser Auszug wenig überzeugend. In Göttingen wurden als revolutionäre Institutionen eine Bürgerversammlung und eine Bürgerwehr gegründet. Erstere löste sich jedoch schon zum Jahresende auf, da sie mit und an ihrer Politisierung gescheitert war. Die Zeit nach den Märzunruhen war für Göttingen eine eher ruhige Zeit. Die politischen Bewegungen verhielten sich ruhiger als vorher und die 1850er Jahre werden als Zeit behäbiger Behaglichkeit beschrieben. Ein Datum von überragender Bedeutung für die Stadtentwicklung war der 31. Juli 1854. An diesem Tage wurde die Eisenbahnstrecke von Alfeld nach Göttingen eröffnet und der Göttinger Bahnhof mit einem prächtigen Fest eingeweiht. Nunmehr machte Göttingen einen großen Schritt in die Moderne, die Einwohnerzahlen stiegen an, Wirtschaftsbetriebe siedelten sich in Göttingen an und außerhalb des mittelalterlichen Walles entstanden neue Wohnviertel. Die letzte öffentliche Hinrichtung unter der Gerichtslinde auf dem Leineberg fand am 20. Januar 1859 statt. Friederike Lotze hieß die zum Tode verurteilte Delinquentin. Sie hatte den Bäckermeister Sievert zu Münden, der ihr die Ehe versprochen hatte und dessen Dienstmagd sie war, am 13. März 1858 vergiftet. Sie wurde mit dem Schwert enthauptet. Das Verhältnis der Stadt zu ihrem Monarchen, seit 1851 Georg V., war weiterhin angespannt. Königsbesuche in der Stadt waren selten und wenn, dann galten sie der Universität, auf die er stolz war. Georg misstraute dem Göttinger Bürgertum, das er als Opposition kritisch beobachtete. Zwar wurde in Göttingen keine Revolution gegen den wenig überzeugenden Monarchen geplant, aber als am 22. Juni 1866 preußische Truppen in Göttingen einrückten, und wenig später nach der Schlacht bei Langensalza Hannover an Preußen fiel, gab es in Göttingen keine wesentliche Opposition gegen das Preußischwerden. 1866 bis 1919 Unter preußischer Herrschaft passten sich die Göttinger rasch den neuen Verhältnissen an. Insbesondere entwickelte sich in Göttingen eine Begeisterung für Otto von Bismarck, der von 1832 bis 1833 an der Georgia Augusta immatrikuliert war. Im Göttinger Stadtgebiet wurde neben einem Bismarckturm auf dem Kleperberg, wie es ihn in vielen Städten Deutschlands gab, ein Bismarckstein am Klausberg errichtet. In der Stadt erinnern zwei Göttinger Gedenktafeln, eine davon an seiner letzten Studentenwohnung in Göttingen, dem Bismarckhäuschen, an den bekanntesten Göttinger Studenten des 19. Jahrhunderts. In der Stadt Göttingen erzielte die Preußen-freundliche Nationalliberale Partei starken Zulauf, während die hannoveranerfreundliche Welfen-Partei eher im Göttinger Landkreis Erfolge erzielte. Die Industrialisierung setzte in Göttingen spät ein. Erst ab der Jahrhundertwende kann man von einem Vordringen der industriellen Produktionsweise in Göttingen sprechen. Bedingt durch die Nähe zur Universität, die inzwischen zu einer weltweit geachteten Hochburg der Naturwissenschaften aufgestiegen war, entwickelte sich in Göttingen die feinmechanische, optische und elektrotechnische Industrie, die jetzt die Textilwirtschaft als wichtigsten Göttinger Wirtschaftszweig ablöste. Die Stadtbevölkerung Göttingen begann seit den 1870er Jahren stark zu wachsen. 1875 zählte Göttingen 17.000 Einwohner, 1900 waren es bereits 30.000. Der Großteil der Bevölkerung lebte damals noch in der Altstadt; lediglich die Angehörigen der Mittel- und Oberklasse, insbesondere die Professoren, setzten sich östlich der Stadt auf den Anhöhen des Hainbergs nieder. Erst um 1895 herum begann die Bevölkerung in den Gebieten außerhalb der Altstadt stärker anzuwachsen. In der Zeit des Kaiserreiches wurde unter den Göttinger Bürgermeistern Merkel und Calsow damit begonnen, die unterentwickelten öffentlichen Versorgungseinrichtungen auszubauen und die Stadt zu modernisieren. Nach fast dreißigjähriger Diskussion entschloss sich die Stadt im April 1914, eine Straßenbahn einzurichten. Am 29. Juni begannen die Bauarbeiten. Schienen waren bereits geliefert, aber nicht eingebaut. Bei Kriegsausbruch am 1. August wurden die Arbeiten eingestellt und nie wiederaufgenommen. In Göttingen wurde der Erste Weltkrieg überwiegend enthusiastisch begrüßt. Viele Professoren ließen sich von der nationalen Hysterie mitreißen. Schon bald trat hier Ernüchterung auf. Die Gewerbebetriebe mussten sich auf die Kriegsökonomie einstellen, und die Lebensmittelversorgung wurde zum Problem. Der Krieg kam Göttingen insofern nahe, als schon ab August 1914 im Ebertal unterhalb des Lohberges ein Kriegsgefangenenlager eingerichtet wurde, in dem zeitweise bis zu 10.000 Kriegsgefangene untergebracht waren. Als 1918 der Niederlage im Ersten Weltkrieg die Novemberrevolution folgte, wurde in Göttingen ein Soldaten- und Volksrat gewählt und eine Resolution verabschiedet. Am 10. November wurde durch den Arbeiter Willi Kretschmer auf dem Rathaus die rote Fahne gehisst. Faktisch änderte sich in Göttingen jedoch trotz der Tumulte nicht allzu viel; die Stadtverwaltung unter Bürgermeister Georg Calsow konnte nahezu ungestört weiterarbeiten. Im 20. Jahrhundert war es von Beginn an – bis zur nationalsozialistischen Epoche – zu einer enormen Blüte der Fächer Mathematik und Physik an der Universität gekommen. Mathematiker wie Felix Klein, David Hilbert, Hermann Minkowski, Emmy Noether, Hermann Weyl, Richard Courant und andere, sowie Physiker wie Max Born und James Franck setzten Maßstäbe, genossen weltweites Ansehen und verbreiteten den Glanz der Stadt. Dass das jetzt vorbei sein sollte, wurde von den Nazis bewusst in Kauf genommen. Nationalsozialismus, Kriegs- und Nachkriegszeit Die innere Instabilität der Weimarer Republik schlug sich auch in Göttingen nieder. Während des Kapp-Putsches im Frühjahr 1920 wurde in Göttingen der Generalstreik beschlossen. Das Militär demonstrierte daraufhin seine Macht und marschierte am 15. März in der Innenstadt auf und sperrte die Straßen ab. In den folgenden unruhigen Jahren der Weimarer Republik konnte die NSDAP hier schnell Fuß fassen. Bereits im Frühjahr 1922 wurde die NSDAP-Ortsgruppe Göttingen gebildet, und schon in der ersten Hälfte der 1920er Jahre galt Göttingen als Hochburg der Nationalsozialisten, die hier überdurchschnittlich hohe Wahlerfolge verbuchten. Die NSDAP und allen voran die SA zeigten regelmäßig bei Massenaufmärschen Präsenz auf der Straße, wobei Zusammenstöße mit den politischen Gegnern bewusst provoziert wurden. Bereits im März 1930 kam es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen SA und dem kommunistischen Rotfrontkämpferbund. Schlägereien zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten blieben in der Folge in Göttingen an der Tagesordnung. Infolge der Weltwirtschaftskrise ab 1929 mussten große Betriebe schließen, die Arbeitslosigkeit stieg an und in Göttingen steigerte sich die Not. Die NSDAP erhielt dadurch weiteren Zulauf. Am 21. Juli 1932 bildete ein Auftritt Hitlers den Höhepunkt des Göttinger Reichstagswahlkampfs. Rund 20.000 bis 30.000 Zuhörer fanden sich trotz strömenden Regens zu der Veranstaltung im Kaiser-Wilhelm-Park ein. Bei der anschließenden Wahl am 31. Juli wählten 51 % der Göttinger (in ganz Deutschland waren es nur 37 %), also die absolute Mehrheit, die Nationalsozialisten. Im Gegensatz zur Stadt Göttingen hatten es die Nationalsozialisten in vielen der umliegenden, damals noch selbständigen Gemeinden wesentlich schwerer, Fuß zu fassen. Insbesondere in der Gemeinde Grone blieben selbst bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 die Sozialdemokraten stärkste Kraft. Grone war eine von vier Gemeinden im damaligen Wahlkreis Braunschweig-Südhannover, in denen die NSDAP bei dieser Wahl nicht stärkste Kraft wurde. Zwar gingen die Wahlerfolge der NSDAP in Göttingen kurz vor der Machtergreifung noch leicht zurück, Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wurde in Göttingen am nächsten Tag jedoch mit einem großen Fackelzug gefeiert, an dem mehr als 2000 uniformierte Angehörige von SA, SS und Hitlerjugend teilnahmen. Die Machtübernahme in Göttingen verlief ohne Zwischenfälle. Nach der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar ging die Polizei gezielt gegen die Kommunisten vor, und bereits am 5. März konnte die SA auf dem Rathaus ungehindert die Hakenkreuzflagge hissen. Die SA schlug am 28. März 1933 die Schaufenster jüdischer Geschäfte ein und griff jüdische Mitbürger tätlich an. Nicht weit von Göttingen, im Arbeitshaus Moringen im Landkreis Northeim, wurde schon 1933 das KZ Moringen eingerichtet, das ab 1940 als Jugendkonzentrationslager diente. Es gelang den Nationalsozialisten, nachdem sie durch das Ermächtigungsgesetz den Parlamentarismus der Weimarer Republik beendet hatten, im April 1933 durch ein einziges Regierungsdekret, das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, alle gegnerisch eingestellten und „nicht-arischen“ Beamten zu entlassen bzw. in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen, wodurch allein die Universität schlagartig fast ein Fünftel ihrer Professoren verlor. Personen jüdischer „Abstammung“ wurden systematisch aus Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft herausgedrängt. Für die Universität, insbesondere im Bereich der Mathematik und Physik, führte dies zu einem Aderlass, von dem sich die Naturwissenschaften in Göttingen und in ganz Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nur langsam erholte. Zugleich kam es langfristig zu einer nicht sofort sichtbaren Verarmung des Geisteslebens in der Stadt. Im Gefolge der Bücherverbrennung, bei der die deutschen Studenten in vielen Universitätsstädten Bücher als „undeutsch“ bezeichneter Autoren öffentlich verbrannten, wurde das schon bald spürbar. Die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 wurde vom Rektor der Georg-August-Universität, Friedrich Neumann eröffnet. Nach einer „Feuerrede“ des Germanisten Gerhard Fricke zogen die studentischen Gruppen um den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund in einem Fackelzug vom Weender Tor zum Adolf-Hitler-Platz, dem heutigen Theaterplatz. Dort hielt der Führer der Studentenschaft, Heinz Wolff, vor dem Scheiterhaufen mit einem „Lenin“-Schild auf der Spitze, eine kurze Rede über den „undeutschen Geist“. Nach dem Singen des Lieds „Flamme empor“ und des Horst-Wessel-Lieds löste sich die Menge auf. Im Zuge der Gleichschaltung der Studentenverbindungen mit dem Ziel ihrer Überführung in die nationalsozialistischen Kameradschaften (der Feickert-Plan) kam es zu Auseinandersetzungen, die von der Stadt unter dem nationalsozialistischen Bürgermeister Albert Gnade noch geschürt wurden und 1934 in den Göttinger Krawallen einen Höhepunkt fanden. Dennoch setzte sich die Staatsmacht durch, und alle Verbindungen wurden, beschleunigt durch die reichsweite Wirkung des Heidelberger Spargelessens im Mai 1935, bis Mitte 1936 entweder aufgelöst oder in Kameradschaften übergeleitet. Am 12. Mai 1936 ordnete Rudolf Heß im Sinne einer Unvereinbarkeit an, dass kein Parteigenosse oder Mitglied einer NS-Organisation gleichzeitig Mitglied einer Studentenverbindung sein dürfe. Während der Novemberpogrome vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die Göttinger Synagoge in der Maschstraße, die schon bei den Übergriffen im März 1933 erstmals verwüstet worden war, von (systematisch auswärtigen) SA- und SS-Angehörigen und Pöbel verbrannt. Von den vor 1933 fast 500 jüdischen Einwohnern lebten 1938 noch an die 220 in der Stadt. Diese wurden fast ausnahmslos Opfer der Angriffe von SA und SS. Am 30. September 1938 wurde den jüdischen Ärzten die Approbation entzogen. 1940 erhielten die Göttinger Heil- und Pflegeanstalten die Meldebögen, nach denen im Rahmen der Aktion T4 1941 die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ durchgeführt wurde. Im Dezember 1941 beschwerte sich die NSDAP-Kreisleitung Göttingen, dass die bevorstehende Deportation der Göttinger Juden in der Bevölkerung bereits bekannt geworden sei und sie mit Anträgen auf Wohnungszuweisung überhäuft werde. Widerstand gegen die Aktionen regte sich aber nicht. Die letzten 140 Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Göttingen wurden 1942 in die Vernichtungslager deportiert. Bei Luftangriffen auf Göttingen im Zweiten Weltkrieg entstanden im Vergleich zu vielen anderen Städten nur geringe Schäden. Ab dem 7. Juli 1944 erlitt die Stadt zwar acht Luftangriffe, diese aber galten vorwiegend den Bahnanlagen. Zerstört wurden die Anatomie (heute Busbahnhof), das Empfangsgebäude des Bahnhofs, der Güterbahnhof, das Gaswerk, die Eisenbahnbrücke über die Leine und die Brauerei. Die historische Altstadt blieb weitgehend unzerstört. Sprengbomben vernichteten hier die Hälfte der Unteren Maschstraße, ebenso die Lutherschule, die Junkernschänke, den Rheinischen Hof und mehrere Wohnhäuser in der Jüden- und Angerstraße. Schwer beschädigt wurde die Paulinerkirche, die Universitätsbibliothek, die sich damals in der Prinzenstraße befand, und das Zoologische Institut (neben der Anatomie), ebenso das Auditoriengebäude am Weender Tor, wobei eine Tankstelle (Iduna-Zentrum) und weitere Gebäude (heutiges Gericht) verschwanden. Weiter wurden die Johanniskirche und das Rathaus beschädigt. Außerhalb der nicht niedergebrannten Altstadt wurden in Grone und Treuenhagen sowie in der Kasseler Landstraße, Arndtstraße, Emilienstraße und Weender Landstraße Wohnhäuser vernichtet. Insgesamt waren 107 Tote zu beklagen; zudem wurden 235 Wohnungen restlos zerstört, viele Häuser und öffentliche Gebäude beschädigt. Die nicht weit entfernten Städte Kassel, Hannover und Braunschweig wurden unter massiven alliierten Bombenangriffen weitgehend zerstört, Kassel brannte mehrmals nachts sichtbar (unter Verdunkelung) aus. Auf dem Schützenplatz befand sich ein Ostarbeiterlager und auf der Eiswiese am Sandweg bestand ein Westarbeiterlager, die 1942 von der hannoverschen Abteilung Rüstungsbau des Ministeriums Albert Speer geplant und dann sofort von der Küchenvereinigung e. V. übernommen wurden. Göttingen wurde mit Bombenflüchtlingen überfüllt. Unter anderem wegen der gut ausgestatteten Krankenhäuser war es im Laufe des Krieges zur Lazarettstadt geworden, in der sich bei Kriegsende 3000 bis 4000 verwundete Soldaten befanden. Mit Rücksicht darauf hatte man das Glück, dass das von General Otto Hitzfeld zur Offenen Stadt erklärte Göttingen vor den anrückenden amerikanischen Truppen von allen Kampfeinheiten verlassen wurde und so ohne größere Kampfhandlungen am 8. April 1945 befreit werden konnte. Durch Artilleriebeschuss wurden an diesem Tage noch mehrere Häuser in Geismar und der Wilhelm-Weber-Straße sowie die St.-Paulus-Kirche beschädigt. Insgesamt wurde Göttingen im Zweiten Weltkrieg nur zu 2,1 % zerstört. Nach dem Krieg wurde die Stadt der britischen Besatzungszone zugeschlagen, die amerikanischen Einheiten durch britische abgelöst. Göttingen lag nunmehr in einem Zonendreieck: Das benachbarte Thüringen gehörte zur sowjetischen Besatzungszone, Kassel im Süden zur amerikanischen. Durch diese Lage und da Göttingen weitgehend intakt den Krieg überstanden hatte, wurde es Anlaufstelle für viele Interzonenwanderer und Flüchtlinge. Die Göttinger Universität nahm als erste in Deutschland (kurz vor Heidelberg) zum Wintersemester 1945/46 den Lehrbetrieb wieder auf. Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland Aufgrund der Kriegs- und Nachkriegswirren nahm die Bevölkerung der Stadt schlagartig zu. Nicht wenige kamen über das nahe Grenzdurchgangslager Friedland. Während 1939 in Göttingen noch knapp 50.000 Einwohner gelebt hatten, waren es 1949 unter Wohnungsbeschlagnahmen zur Einquartierung von Vertriebenen 80.000. Göttingen gehörte in dieser Zeit zu den am dichtesten besiedelten Städten Deutschlands. Während des Industrialisierungsprozesses im 19. Jahrhundert war die Stadt nicht schon wie andere Städte durch Eingemeindungen ausgeweitet worden. In den ersten Nachkriegsjahren wurde vorrangig die Weststadt bebaut. Am 12. April 1957 kam es erneut zu einer Göttinger Erklärung: 18 deutsche Atom- und Kernphysiker, darunter Nobelpreisträger wie Max Born, Otto Hahn, Werner Heisenberg und Max von Laue warnten unter der Federführung von Carl Friedrich von Weizsäcker vor der Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen, wie sie damals vom Kanzler der jungen Bundesrepublik, Konrad Adenauer, ins Gespräch gebracht worden war. Die Initiative der Göttinger Achtzehn, die sich selbst in der Nachfolge der oben erwähnten Göttinger Sieben sahen, war von Erfolg gekrönt, denn Adenauers Vorstellungen waren von diesem Zeitpunkt an hinfällig. Eingemeindungen und Industrialisierung wurden durch das Göttingen-Gesetz vom 1. Juli 1964 nachgeholt. Einerseits wurden die Gemeinden Geismar, Grone, Nikolausberg und Weende mit Wirkung vom 4. Juli 1964 in die Stadt eingegliedert, andererseits wurde die Stadt Göttingen in den Landkreis Göttingen eingegliedert. Dennoch erhielt Göttingen eine Sonderstellung im Kreis, da für die Stadt weiterhin die Vorschriften für kreisfreie Städte anwendbar sind, soweit nicht landesrechtlich etwas anderes bestimmt ist. Göttingens Stadtgebiet wurde durch die Eingliederungen auf 7371 Hektar mehr als verdoppelt; die Einwohnerzahl erhöhte sich um 31 % von 83.000 auf 109.000. Parallel dazu entstanden in den eingemeindeten Außenbezirken große Neubaugebiete und neue Stadtteile. Die Weichen für eine Entwicklung zu einer modernen Großstadt waren gestellt. Größere Planungsvorhaben in den 1970er Jahren wollten das Gepräge der alten Universitätsstadt erhalten, Göttingen sollte nach dem Raumordnungsplan als Oberzentrum für den gesamten südniedersächsischen Raum fungieren. Im Zuge dieses Vorhabens wurden große Teile der im Krieg unzerstörten und gut erhaltenen Altstadt im Rahmen von „Flächensanierungen“ vollständig abgerissen und durch Neubauten, Parkhäuser oder Brachflächen ersetzt. Einschneidender Schritt hierbei war der 1968 erfolgte Abriss des 1735 errichteten universitären Reitstalls in der Weender Straße, der von heftigen Bürger- und Studentenprotesten begleitet wurde. Zwischen 1966 und 1975 wurden die innerstädtischen Straßen weitgehend zu Fußgängerzonen ausgebaut. Die Verwaltung bezog 1978 ihr Neues Rathaus, für das ursprünglich der Reitstall weichen musste, das aber an ganz anderer Stelle südöstlich der Altstadt gebaut wurde. Anstelle des Rathauses wurde im Reitstallviertel ein Kaufhaus (heute 'Carre') gebaut. Daneben wurde das Jugendstil-Bad von 1906 im Jahre 1968 durch das neue Stadtbad ersetzt. Dieses wurde nach längerem Leerstand 2004 abgerissen. Wie die Stadt modernisierte sich auch die wachsende Universität. Die Studentenzahlen stiegen von 4680 im Wintersemester 1945/46 auf 30.000 Anfang der 1990er Jahre; anschließend waren sie wieder rückläufig. Ab 1964 entstand der heutige Campus und das geisteswissenschaftliche Zentrum (GWZ) auf dem Gebiet des ehemaligen Universitätssportzentrums nördlich der Altstadt. Zwischen Weende und Nikolausberg wurde die Nord-Uni aufgebaut, in der sich ein Großteil der naturwissenschaftlichen Einrichtungen befindet. Ab 1973 wurde mit dem Bau eines neuen Universitätsklinikums begonnen. 1993 wurde der architektonisch anspruchsvolle Neubau der Staats- und Universitätsbibliothek auf dem Campus eröffnet. Mit der Grenzöffnung 1989 und dem Beitritt der ostdeutschen Bundesländer 1990 verlor Göttingen seine Randlage und liegt seither verkehrsgünstig mitten in Deutschland. Der Wandel war jedoch damit verbunden, dass die Bundeswehr 1993 ihren Standort in Göttingen aufgab und so nicht nur die Geschichte der Stadt als Garnisonsstadt ein Ende fand (siehe 2. Kurhessisches Infanterie-Regiment Nr. 82), sondern ein bedeutender Wirtschaftsfaktor verschwand. Die im Jahre 1968 in Göttingen aufgetretenen Studentenunruhen gingen hier nicht so schnell zu Ende wie anderswo. Noch Anfang der 1990er Jahre geriet Göttingen wegen der „Scherbendemos“ der Autonomen Antifa sowie der spektakulären Bündnisdemonstrationen gegen Rechtsextremismus unter Beteiligung des linksradikalen Schwarzen Blockes, dessen Teilnehmer vermummt an der Spitze der bis ins bürgerliche Spektrum reichenden Demonstrationen auftraten, in die Schlagzeilen. Seit 1990 fast durchgängig gibt es aus dieser linksradikalen Bewegung zahlreiche Aktionen, die ein bundesweites Medienecho auf sich ziehen. Das entschlossene Vorgehen weiter Teile der Göttinger Bevölkerung gegen rechtsradikale Demonstrationen, häufig in Form von Bündnissen, an denen sich kirchliche Gruppen sowie Gewerkschaften und autonome Gruppen aus dem linksradikalen Spektrum Göttingens beteiligen, hat mit dazu beigetragen, dass der Rechtsextremismus hier wenig bis gar keinen Boden gewinnen konnte. Trotzdem finden regelmäßig NPD-Demonstrationen, Naziaufmärsche und -kundgebungen mit Teilnehmern aus ganz Deutschland statt, die regelmäßig viele Gegendemonstranten dazu bringen, sich aktiv gegen Rechtsextremismus zu positionieren. Während derartiger Ereignisse müssen die Rechtsextremen und die Gegendemonstranten von einem hohen Polizeiaufgebot getrennt werden. Bei der Explosion eines 65 Jahre alten Blindgängers aus dem Zweiten Weltkrieg auf dem Göttinger Schützenplatz starben am 1. Juni 2010 drei Mitarbeiter des Kampfmittelbeseitigungsdienstes, zwei wurden schwer und vier leicht verletzt; alle waren mit den Vorarbeiten zur Bombenentschärfung beschäftigt. Eingemeindungen Folgende Gemeinden wurden nach Göttingen eingegliedert: 1. April 1963: Herberhausen 4. Juli 1964: Geismar, Grone, Nikolausberg und Weende 1. Januar 1973: Deppoldshausen, Elliehausen, Esebeck, Groß Ellershausen, Hetjershausen, Holtensen, Knutbühren und Roringen Einwohnerentwicklung Die Einwohnerentwicklung weist seit dem Mittelalter ein Wachstum auf, das sich mit Beginn der frühen Neuzeit stark beschleunigt hat. 1986 wurde mit offiziell 133.796 hauptwohnlich gemeldeten Einwohnern ein vorläufiger Höchststand erreicht, der jedoch nach der Volkszählung 1987 um 20.000 Personen nach unten korrigiert werden musste, auf 114.698, da die zu hohe Zahl auf einer fehlerhaften Fortschreibung beruhte. In den folgenden Jahren stieg die offizielle Einwohnerzahl zwischenzeitlich auf 128.419 (1997), sank danach leicht ab und pendelte sich ab 2004 bei ca. 122.000 Einwohnern ein. Bis 2013 blieb diese Zahl etwa konstant, als die Zensusdaten zugrunde gelegt wurden und Göttingens offizielle Zahl der hauptwohnlich gemeldeten Personen ein weiteres Mal um etwa 5000 Personen auf 116.420 im Juni 2013 nach unten korrigiert wurde. Sehr viele Studenten hatten sich in der Zwischenzeit beim Fortzug nicht abgemeldet und waren noch als hauptwohnlich gemeldet registriert, was in zu hohen Einwohnerzahlen resultierte. Auf der anderen Seite sind nur etwa die Hälfte der Studenten in Göttingen hauptwohnlich gemeldet. Ende 2019 waren 134.632 Personen mit Haupt- (121.150) oder Nebenwohnsitz (13.482) in Göttingen gemeldet. Das statistische Landesamt ermittelte zum selben Stichtag 118.911 Einwohner. Studentenzahlen der Uni Göttingen: Sommersemester 2004: 23.446, Wintersemester 2004/05: 24.398, Sommersemester 2005: 23.649, Wintersemester 2005/06: 24.400. 2014 lag diese Zahl bei 27.456, von denen 18.391 in Göttingen haupt- oder nebenwohnlich gemeldet waren. Daneben gibt es noch weitere Hochschulen wie die Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst oder die Private Fachhochschule Göttingen (beide zusammen mit 1802 am Standort Göttingen eingeschriebenen Studenten), was einen Studentenanteil von etwa 22 % ergibt (2014). Religion Konfessionsstatistik Laut der Volkszählung 2011 waren 43,4 % der Einwohner evangelisch, 15,6 % römisch-katholisch und 41,0 % waren konfessionslos, gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Die Zahl der Katholiken und vor allem die der Protestanten ist seitdem beträchtlich gesunken. Jahresende 2021 waren von den 118.510 Einwohnern (nur Hauptwohnung) 33,4 % (39.601) evangelisch und 13,3 % (15.712) katholisch. 53,3 % waren konfessionslos, gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Geschichte Das Gebiet der Stadt Göttingen gehörte anfangs zum Erzbistum Mainz beziehungsweise zu dessen Archidiakonat Nörten. Nach der Reformation war Göttingen über viele Jahrhunderte eine fast ausschließlich lutherische Stadt. 1530 erhielt die Stadt eine neue Kirchenordnung mit einem Stadtsuperintendenten, welcher dem Landessuperintendenten in Grubenhagen unterstand. Alle Kirchengemeinden der Stadt bildeten einen Gesamtverband. Im späteren Königreich Hannover wurde Göttingen Sitz eines Sprengels, zu dem mehrere Kirchenkreise, darunter der Kirchenkreis Göttingen gehört. Alle lutherischen Kirchengemeinden der Stadt Göttingen gehören zum Kirchenkreis Göttingen der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers. Ab 1713 wurden in Göttingen reformierte Hausgottesdienste gehalten, 1736 gab es französisch-reformierte Gottesdienste. Dies alles führte 1748 zur Gründung einer reformierten Gemeinde, die 1752 in die Konföderation reformierter Kirchen in Niedersachsen aufgenommen wurde. 1928 war die reformierte Gemeinde Göttingens Gründungsmitglied des Bundes Evangelisch-reformierter Kirchen Deutschlands, in dem sie über 50 Jahre den Vorsitzenden stellte; 2013 verließ sie diesen Bund selbständiger Gemeinden und schloss sich der Evangelisch-reformierten Kirche an. Ab 1746 wurden für die Studenten in Göttingen wieder katholische Gottesdienste erlaubt, ein Jahr später für alle Einwohner der Stadt. Erst 1787 konnte die erste katholische Kirche (St. Michael) nach der Reformation gebaut werden. 1825 entstand eine selbständige Pfarrgemeinde, die zum Bistum Hildesheim gehörte. 1929 wurde eine zweite katholische Kirche, die Pauluskirche, geweiht. Später wurde Göttingen Sitz eines Dekanats des Bistums Hildesheim, zu dem alle römisch-katholischen Pfarrgemeinden der Stadt gehören. Neben den beiden großen Kirchen gibt es Gemeinden, die zu Freikirchen gehören, darunter eine Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde (Baptisten, gegründet 1894), eine Mennoniten-Gemeinde (gegründet 1946), die Evangelische Freikirche Ecclesia, eine Adventgemeinde, eine Gemeinde der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) und eine Freie evangelische Gemeinde (FeG). In Göttingen gibt es eine seit dem 16. Jahrhundert nachweisbare jüdische Gemeinde. Die alte Synagoge von 1869 wurde in der Reichspogromnacht 1938 niedergebrannt. Auf dem jüdischen Friedhof neben dem Stadtfriedhof sind über 400 Grabsteine erhalten. Mittlerweile gibt es wieder ein reges jüdisches Gemeindeleben. Zum Jahresbeginn 2004 wurde in der Angerstraße ein neues Gemeindezentrum eingeweiht. Am 6. Februar 2004 wurde der erste Erev-Sabbat-Gottesdienst im neuen Gotteshaus gefeiert. Das neue Synagogengebäude war aus Bodenfelde nach Göttingen transloziert worden. Ebenso gibt es mehrere muslimische Gemeinden, unter anderem einige in Grone, in der Nordstadt und eine in der Südstadt. Im Königsstieg stellte 2006 die türkische DITIB-Gemeinde die Salimya-Moschee fertig. Die Al-Taqwa-Moschee liegt in der Güterbahnhofstraße. Seit Mitte der 1980er Jahre haben Jesiden in Göttingen Fuß gefasst, 2015 wurden 160 Familien in Südniedersachsen geschätzt. Darüber hinaus sind Gemeinden der Zeugen Jehovas, der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, der Neuapostolischen Kirche, der Russisch-Orthodoxen Kirche und anderer Orthodoxer in Göttingen vertreten. Politik Politik- und Verwaltungsgeschichte An der Spitze der Stadt stand schon seit dem 12. Jahrhundert der Rat mit 24 Ratsherren. Ab 1319 unterstand die Neustadt dem Rat. Die Wahl des Rates erfolgte am Montag nach dem Michaelistag. Ab 1611 wurden die 24 Ratsherren von der gesamten Bürgerschaft gewählt. Der Rat wählte aus seiner Mitte den Bürgermeister. Ab 1669 gab es nur noch 16 Ratsherren, später nur noch 12. Ab 1690 wurde das Stadtregiment völlig neu geordnet. Danach gab es den Rat, der aus dem Gerichtsschulze, zwei Bürgermeistern, dem Syndikus, dem Stadtsekretär und acht Ratsherren, die von der Regierung zu wählen waren, bestand. Während der Zugehörigkeit der Stadt zum Königreich Westphalen leitete ein Maire die Stadtverwaltung. Ihm stand ein Munizipalrat zur Seite. 1831 wurde ein neues Verfassungs- und Verwaltungsreglement erlassen. Danach gab es einen Bürgermeister beziehungsweise ab 1844 einen Oberbürgermeister. Mit der neuen Städteordnung von 1852 gab es wieder einen Bürgermeister, der ab 1885 erneut den Titel Oberbürgermeister trug. Während des Dritten Reichs wurde das Stadtoberhaupt von der NSDAP eingesetzt. 1946 führte die Militärregierung der Britischen Besatzungszone die Kommunalverfassung nach britischem Vorbild ein. Danach gab es einen vom Volk gewählten Rat. Dieser wählte aus seiner Mitte den Oberbürgermeister als Vorsitzenden und Repräsentanten der Stadt, welcher ehrenamtlich tätig war. Daneben gab es ab 1946 einen ebenfalls vom Rat gewählten hauptamtlichen Oberstadtdirektor als Leiter der Stadtverwaltung. Im Jahre 2000 wurde in Göttingen die Doppelspitze aufgegeben. Seither gibt es nur noch den hauptamtlichen Oberbürgermeister, der Leiter der Stadtverwaltung und Repräsentant der Stadt ist. Er wird seit 1999 direkt von den Bürgern für acht (zuvor fünf) Jahre gewählt. Aus der ersten Wahl im Jahr 1999 ging Jürgen Danielowski (CDU) als Sieger hervor. Er trat das Amt am 1. Januar 2000 an und übergab es am 1. November 2006 an seinen Nachfolger, Wolfgang Meyer (SPD). Ihm folgten im Juni 2014 Rolf-Georg Köhler (SPD) und im November 2021 Petra Broistedt (SPD) nach. In der konstituierenden Ratssitzung am 12. November 2021 wurde Julian Schlumberger (Bündnis 90/Die Grünen) zum neuen Ratsvorsitzenden gewählt. In der vorausgegangenen Wahlperiode waren Sylvia Binkenstein (SPD) von 2016 bis 2018, gefolgt von Christian Henze (SPD) bis 2020 und Karola Margraf (SPD) bis 2021 die Ratsvorsitzenden. Rat Der Rat der Stadt Göttingen setzt sich aus 47 Ratsmitgliedern (46 Ratsfrauen und Ratsherren und einem direkt gewählten hauptamtlichen Oberbürgermeister) zusammen. Die Abgeordneten von Piraten (2) und Die PARTEI (1) haben sich nach der Kommunalwahl 2016 zu einer Ratsgruppe zusammengeschlossen. Die GöLinke-Ratsfraktion (3) hat mit der Alternativen-Liste-Göttingen (1) ebenfalls die „GöLinke/ALG-Ratsgruppe“ gebildet. Es besteht ein Haushaltsbündnis aus SPD und Grünen, andere Entscheidungen werden mit wechselnden Mehrheiten getroffen. Zur Wahlperiode 2021–2026 wird das Rot-Grüne Haushaltsbündnis nicht fortgesetzt. Weitere Wahlen In der folgenden Tabelle sind die Ergebnisse von Bundestags-, Landtags- und Europawahlen in Göttingen dargestellt. Oberbürgermeister Am 15. Juni 2014 wurde Rolf-Georg Köhler (SPD) in einer Stichwahl mit 58,9 % zu Göttingens Oberbürgermeister gewählt. Er trat sein Amt am 1. November 2014 an. Bei den Kommunalwahlen am 12. September 2021 trat Köhler nicht mehr an. In der Stichwahl am 26. September 2021 setzte sich Petra Broistedt (SPD) mit 52,96 % der gültigen Stimmen gegen Doreen Fragel (parteilos, aufgestellt von den Grünen) durch. Sie trat ihr Amt am 1. November 2021 an. Abgeordnete Im Bundestag wird Göttingen derzeit durch den direkt gewählten Abgeordneten Andreas Philippi (SPD) und die über der Landesliste eingezogenen Abgeordneten Fritz Güntzler (CDU), Jürgen Trittin (Grüne) und Konstantin Kuhle (FDP) vertreten. Das Direktmandat des Wahlkreises Göttingen erhielt bei der Bundestagswahl 2017 der 2020 verstorbene Thomas Oppermann (SPD). Im 2022 gewählten Niedersächsischen Landtag vertreten die Abgeordneten Marie Kollenrott (Grüne, Direktwahl Göttingen-Stadt), Gerd Hujahn (SPD, Direktwahl Göttingen/Münden), Carina Hermann (CDU, Landesliste), Michael Lühmann (Grüne, Landesliste) die Stadt Göttingen. Ortsräte Die Ortschaften der Stadt Göttingen werden durch insgesamt 93 Ratsmitglieder in neun Ortsräten vertreten. Seit der Kommunalwahl 2021 verteilen die Ratsmitglieder sich wie folgt: * Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung Göttingen, ** Einzelkandidatin Vera Rohrdanz Wappen Das Stadtwappen wurde in seiner heutigen Form zuletzt 1961 in der Hauptsatzung der Stadt festgelegt. Zeitweise verwendete die Stadt ein einfacheres Wappen, das in Schwarz den golden gekrönten, goldenen Großbuchstaben G zeigte. Flagge Die Flagge der Stadt zeigt die Farben schwarz und gold in zwei gleich breiten Längsstreifen. Wahlspruch Göttingens Wahlspruch, der sich am Eingang zum Ratskeller befindet, lautet: „Extra Gottingam non est vita, si est vita non est ita“ (zu deutsch „Außerhalb Göttingens gibt es kein Leben; gibt es Leben, dann kein solches“) und soll auf den Schriftsteller und Historiker August Ludwig von Schlözer zurückgehen. Städtepartnerschaften Göttingen unterhält mit folgenden Städten eine Städtepartnerschaft: Cheltenham (Vereinigtes Königreich), seit 1951 Toruń/Thorn (Polen), seit 1978 Pau (Frankreich), seit 1983 Lutherstadt Wittenberg (Deutschland), seit 1988 La Paz Centro (Nicaragua), seit 1989 Solidaritätsvereinbarung Qixia (Volksrepublik China), seit 2010 Kooperationsvertrag San Juan Comalapa (Guatemala) Seit August 1987 ist Göttingen Mitglied im „Hiroshima-Nagasaki-Städtebündnis“ („Mayors For Peace“). Bildung und Forschung Göttingen ist eine Stadt, die seit dem 18. Jahrhundert durch die Georg-August-Universität (Georgia Augusta) im Wesentlichen von Bildung und Forschung geprägt wird, daher die Bezeichnung Universitätsstadt. 45 Nobelpreisträger kamen aus der Stadt und/oder haben dort gewirkt. (Dies wird als Göttinger Nobelpreiswunder bezeichnet.) Dominierend in Stadtbild und Wahrnehmung ist die Georg-August-Universität Göttingen. Sie wurde 1737 durch den damaligen Kurfürsten Georg II. August von Hannover, König von Großbritannien und Irland, gegründet und hat eine lange Liste bekannter Persönlichkeiten hervorgebracht. 2007 gewann die Universität die zweite Runde der Exzellenzinitiative. Im Stadtbild erinnern die für Göttingen seit 1874 typischen Gedenktafeln an den Häusern an die Wohnstätten von etwa 320 berühmten Göttinger Gelehrten und Studenten. Sie sind zumeist aus weißem Marmor und verweisen auf die Wohnzeit der geehrten Person im jeweiligen Haus. Mit der Anbringung der Tafeln ist eine Göttinger Laudatio verbunden. 1751 wurde die Königliche Societät der Wissenschaften in Göttingen, die spätere Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, gegründet. Seit 1974 hat die Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst einen Standort in Göttingen. 1983 wurde die Berufsakademie Göttingen gegründet, 1994 die Private Fachhochschule Göttingen und 2002 die Fachhochschule im Deutschen Roten Kreuz, die nicht mehr besteht. Daneben gibt es die Verwaltungs- und Wirtschafts-Akademie Göttingen e. V. sowie die Volkshochschule Göttingen Osterode gGmbH (bis 2008 VHS Göttingen e. V.). Neben den Hochschulen sind vier Institute der 1948 gegründeten Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Göttingen ansässig, es handelt sich um das Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften, das Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften und das Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. 2014 wurde das bis dahin noch in Katlenburg-Lindau ansässige Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung nach Göttingen verlegt. Die Stadt Göttingen ist außerdem „Korporativ Förderndes Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft. Mit dem Thema Perspektive Sprache gehörte Göttingen zu den zehn deutschen Städten, die im Wissenschaftsjahr 2009 Treffpunkt der Wissenschaft waren. Bibliotheken und wissenschaftliche Serviceeinrichtungen Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen Gesellschaft für wissenschaftliche Datenverarbeitung mbH Göttingen (GWDG); Rechenzentrum für die Universität und die Max-Planck-Institute Stadtbibliothek Göttingen; gegründet 1897 Sonstige wissenschaftliche Einrichtungen Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR) Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) Laser-Laboratorium Göttingen e. V. Deutsches Primatenzentrum Soziologisches Forschungsinstitut (SOFI) e. V. IWF Wissen und Medien gGmbH (seit dem 1. Januar 2011 geschlossen) Septuaginta-Unternehmen; gegründet 1907 Nordwestdeutsche Forstliche Versuchsanstalt XLAB – bundesweit führendes Schülerlabor als Bindeglied zwischen Schulen und Universität wie Forschungsinstituten im Bereich der Natur- und Technikwissenschaften Geisteswissenschaftliches Schülerlabor der Georg-August-Universität Göttingen – Geisteswissenschaftliches universitäres Schülerlabor als Brücke zwischen Schulen, Universität, Lehrerbildung, Forschungs- und Bildungseinrichtungen in den Bereichen der Geistes-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation (früher Strömungsforschung) Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften (früher MPI für Geschichte) Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung Göttinger Zentrum Molekulare Biologie (GZMB) European Neuroscience Institute (ENI) Gesellschaft für wissenschaftliche Datenverarbeitung mbH Göttingen (GWDG) Anwendungszentrum für Plasma und Photonik des Fraunhofer-Institut für Schicht- und Oberflächentechnik Schulen Göttingen hat neben fünf Gymnasien (Felix-Klein-Gymnasium, Hainberg-Gymnasium, Max-Planck-Gymnasium, Otto-Hahn-Gymnasium, Theodor-Heuss-Gymnasium) die Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule, die Geschwister-Scholl-Gesamtschule und das Abendgymnasium Göttingen, an welchem man ebenso sein Abitur absolvieren kann. Außerdem besteht diese Möglichkeit an den Berufsbildenden Schulen I (Arnoldischule) im Fachgymnasium Wirtschaft, im Fachgymnasium Technik der Berufsbildenden Schulen II sowie an den Berufsbildenden Schulen III im Fachgymnasium Gesundheit und Soziales. Schulen in freier Trägerschaft sind die Freie Waldorfschule Göttingen als Gesamtschule mit allen Abschlussmöglichkeiten sowie eigenem Waldorfabschluss und die Montessori-Schule Göttingen. Allgemein gibt es in Göttingen ein vollständiges Angebot an Allgemeinbildenden und beruflichen Schulen. Kultur und Sehenswürdigkeiten Theater Die Göttinger Theaterlandschaft umfasst das Deutsche Theater Göttingen, das Junges Theater Göttingen (JT), das Theater im OP, welches einen ehemaligen Schauoperationssaal der alten chirurgischen Klinik der Göttinger Universität als Bühne nutzt, sowie die Großbühne der Freien Waldorfschule Göttingen in Weende, auf der jährlich mehrere Theater- und Eurythmieaufführungen in einem 450 Personen fassenden Festsaal stattfinden. In Göttingen gibt es weiterhin verschiedene Theatergruppen, wie die Stillen Hunde, das boat people projekt oder den Verein Domino. Musik Die jährlich im Frühsommer von der Händelgesellschaft veranstalteten Internationalen Händel-Festspiele gehen auf die ersten Wiederaufführungen von Händel-Opern in nachbarocker Zeit zurück, die in den 1920er Jahren von Musikwissenschaftlern in Göttingen initiiert wurden. Im späten 20. Jahrhundert wurden die Festspiele unter der Leitung von John Eliot Gardiner und später Nicholas McGegan zu einem Zentrum der musikalischen und szenischen historischen Aufführungspraxis der Werke Georg Friedrich Händels. Seit 2012 ist der Brite Laurence Cummings Künstlerischer Leiter der Festspiele. Die Festspiele ziehen ein internationales Publikum an, insbesondere aus Händels Wahlheimat Großbritannien. Einer der zahlreichen Konzertorte ist das Deutsche Theater Göttingen. Im Sommer 2007 hat Judith Kara in Zusammenarbeit mit der Universität Göttingen die Alte Fechthalle renoviert und zu einem Kulturzentrum ausgebaut. Es entstand ein Veranstaltungsort mit guter Akustik, um unterschiedliche Kunstformen zusammenzuführen. Hier findet im Herbst die Tanz-Kultur-Woche statt. Seit vielen Jahren ist das Goethe-Institut ein Veranstaltungsort für Kammerkonzerte. Die Levinsche Villa wurde Ende des 19. Jahrhunderts von einem Göttinger Unternehmer erbaut. Zwischen den Weltkriegen wurde das Gebäude von der Stadt Göttingen Wissenschaftlern als Wohnung zur Verfügung gestellt. Seit März 2012 betreibt der Pianist Gerrit Zitterbart einen Clavier-Salon, wo internationale junge Preisträger solistisch und mit Kammermusik auftreten. Im Jahr 1964 erschien das Chanson Göttingen der französischen Sängerin Barbara. Einrichtungen wie das Göttinger Symphonie Orchester, das Jugend-Sinfonieorchester Göttingen, der Göttinger Flowmarkt und die Guano Apes und Ganz Schön Feist sind über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Daneben besitzt Göttingen im Bereich der klassischen Musik eine Laienmusikszene mit fünf Sinfonieorchestern verschiedener thematischer Ausrichtung. Orchester Göttinger Musikfreunde (OGM), concierto Göttingen (Kammerorchester mit modernem und historischem Musizierstil im Sinne der historischen Aufführungspraxis), Universitätsorchester Göttingen (als offizielles Orchester der Georg-August-Universität), Akademische Orchestervereinigung Göttingen (AOV) (Schwerpunkt auf Orchesterwerke der Klassik und Romantik) Orchester der Studentischen Musikvereinigung Blaue Sänger (Kammerorchester mit Schwerpunkt spätes 18. bis frühes 19. Jahrhundert). Die Stadt hat mit dem Göttinger Knabenchor einen seit den 1970er Jahren über die Landesgrenzen hinaus bekannten Chor. Solisten der Chorakademie Göttingen werden an Musiktheatern der Region regelmäßig engagiert. Weiterhin gibt es in Göttingen mehrere Laien-Bigbands und andere Jazz-Formationen. Seit 1978 findet am ersten Wochenende im November das Göttinger Jazzfestival mit internationalen Stars sowie Göttinger Jazzkünstlern statt. Der Verein stallarte organisiert jedes Jahr ein Festival mit Bildender Kunst, Literatur und Neuer Musik. Nach neunundzwanzig Jahren Göttinger Altstadtfest gibt es seit 2006 jährlich stattdessen ein Indoor-Altstadtfest in den Räumen verschiedener Lokalitäten. Für Veranstaltungen stehen die Stadthalle (nach Abschluss der im November 2018 begonnenen Sanierungsarbeiten) und die Lokhalle zur Verfügung. Literatur Seit 1992 findet jährlich im Herbst der zehntägige Göttinger Literaturherbst statt, mit Lesungen und Vorträgen internationaler Autoren im Alten Rathaus und im Deutschen Theater. Im Jahr 2002 fand der Festakt zum 75. Geburtstag von Günter Grass im Rahmen des Literaturherbstes statt, in Anwesenheit von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Bundespräsident Johannes Rau. Das Literarische Zentrum Göttingen bestreitet ein ganzjähriges regelmäßiges Programm, zu dem als „begehbarem Feuilleton“ nicht nur Autorinnen und Autoren, sondern auch Kulturschaffende aus den angrenzenden Bereichen eingeladen werden. Das Literarische Zentrum besteht seit dem Jahr 2000 als feste Institution. Kunst Neben dem im Juni 2021 eröffneten Kunsthaus Göttingen ist zeitgenössische Kunst seit 1968 in den Ausstellungen des Kunstvereins erlebbar, welche teils im Alten Rathaus, teils in den Räumlichkeiten des 1976 gegründeten Künstlerhauses stattfinden. Daneben besitzt Göttingen eine größere Anzahl Galerien und Ateliers, allen voran die 1982 gegründete Galerie Ahlers und das 1878 entstandene Kunsthaus Nottbohm mit Galerie. Doch auch jüngere Galerien, wie die Alte Feuerwache, die Galerie Art Supplement oder der Salon für Kunst und Kultur, sowie die städtische Torhaus-Galerie sind fester Bestandteil der Göttinger Kunstlandschaft. Im November 2021 eröffnete mit dem neighbours ein von jungen Menschen betriebenes Café mit wechselndem Ausstellungsbetrieb. In der Vergangenheit gab es weitere bedeutende Kunstvereinigungen und -galerien. So war von 1962 bis 1969/70 vor allem die Galerie im Centre ein überregional bedeutender Kunst- und Ausstellungsraum. In ihm fand z. B. 1968 eine Aktion von Joseph Beuys und Henning Christiansen statt, aber auch Werke von namhaften oder damals noch jungen Künstlerinnen und Künstlern, wie Werner Schreib, Attersee und Frauke Migge, wurden präsentiert. Organisiert wurde das Centre unter anderem von Heinz Raumschüssel, Udo Breger und Gerhard Bodenstein. Letzterer gründete 1971 das apex mit, welches bis 2011 als Kunstverein maßgeblicher Bestandteil der Kulturlandschaft Göttingens war. Es existiert weiterhin als Bistro, in welchem Jacqueline Amirfallah kocht, und als Veranstaltungsraum für Theater, Kabarett und Musik. Vor dem Zweiten Weltkrieg besaß die Vereinigung Göttinger Kunstfreunde (gegr. 1898) ein gewisses Renommee. So eröffnete in ihr im Mai 1930 die internationale Ausstellung Fotografie der Gegenwart, auf Einladung der Kunstfreunde hielt 1913 Aby Warburg in Göttingen einen Vortag. Auch damals bereicherten kleinere Galerien und Einrichtungen die Göttinger Kunstlandschaft, 1907 feierte z. B. eine Ausstellung der Künstlergruppe Die Brücke Vernissage im Kunstsalon Werner. Die längste Tradition örtlicher Kunsteinrichtungen besitzen die Kunstsammlung der Universität und das Städtische Museum Göttingen. Museen und Archive Forum Wissen, Wissenschaftsmuseum im Gebäude des Naturhistorischen Museums der Universität Göttingen Städtisches Museum Göttingen Kunstsammlung der Universität Akademisches Museum der Universität: Inzwischen aufgelöst Archäologische Sammlungen der Universität (darunter die Sammlung der Gipsabgüsse antiker Skulpturen) Geowissenschaftliches Museum der Universität Göttingen Karzer der Universität (historische Graffiti) Ethnologische Sammlung der Universität Göttingen (mit der Baron von Asch-Sammlung und der Cook/Forster-Sammlung) Zoologische Sammlungen der Universität Bismarckhäuschen am Wall (die Studentenwohnung Otto von Bismarcks) Museum der Göttinger Chemie Saline Luisenhall (eine der letzten noch aktiven Produktionsstätten von Siedesalz in Europa) Stadtarchiv Sammlung historischer Musikinstrumente der Universität Historische Sammlung zur Geburtsmedizin und Moulagensammlung der Universität Humanembryologische Dokumentationssammlung Blechschmidt der Universität Botanische Gärten der Universität In Göttingen gibt es folgende Botanische Gärten der Georg-August-Universität: Alter Botanischer Garten: ältester Botanischer Garten in Niedersachsen und einer der reichsten in Deutschland mit über 10.000 Pflanzenarten Neuer Botanischer Garten: ökologischer Versuchsgarten Forstbotanischer Garten: reiche Sammlung an Gehölzen (siehe auch Liste der Naturdenkmale in Göttingen) Denkmäler In Göttingen gibt es zahlreiche Denkmäler. Von besonderer kunst- und kulturhistorischer Bedeutung sind: Dem Landesvater seine Göttinger Sieben (Soziale Plastik der Bildhauerin Christiane Möbus von 2015) Gauß-Weber-Denkmal (Ferdinand Hartzer, Erzbildgießerei Gladenbeck, Steinsockel mit Bronzeskulpturen, 1899) Friedrich Wöhler-Denkmal (Ferdinand Hartzer, Erzbildgießerei Gladenbeck, Bronzestandbild auf Sockel aus schwedischem Granit, 1890) Denkmal Gottfried August Bürger (Gustav Eberlein, Granitsockel mit lebensgroßer Bronzebüste, 1895, ursprünglich auf dem Bartholomäusfriedhof, jetzt an der Bürgerstraße) Gänselieselbrunnen (Bildhauer Paul Nissen und Architekt Heinrich Stöckhardt, Brunnen mit Bronzeskulptur, 1901) Rohns-Gedenkstein (1895, neben dem Rohns'schen Badehaus) Merkelstein (Ferdinand Hartzer, Steinblock mit Bronzereliefbild, 1897) Gedenkstein Pfalz Grona (1884) Denkmal König Wilhelms IV. von Hannover, Stifter der Aula (Ernst von Bandel, Bronzestandbild, 1837, auf dem Wilhelmsplatz) Langensalza-Denkmal (7,32 m hoher Fialen-Baldachin aus Gusseisen, 1872, an der Berliner Straße) Hainbund Denkmal (1872) Eichendorff-Gedenkstein (1960) Hirtenbrunnen (Dietrich Wilhelm Rathkamp, 1914, am Groner Tor) Kleiner Reinsbrunnen Nixe (Bildhauer Friedrich Küsthardt, Grotte mit Bronzeplastik, 1901) Bismarckturm auf dem Kleperberg (Stadtbaurat Heinrich Gerber und Architekt Conrad Rathkamp, 1896) Bismarckstein (7 m hohe Aussichtsplattform aus Kalkstein, 1903, Entwurf Stadtbaumeister Friedrich Jenner, Bauausführung Rudolf Hannig, Hannover) Mahnmal Synagoge (Entwurf Corrado Cagli, Rom, 1973, auf dem Platz der Synagoge) Mahnmal für Zwangsarbeiter/-innen Göttinger Erhebung (Bildhauer Andreas Welzenbach, Skulpturenensemble vor der Kornmarktpassage, 2012) Bauwerke Im Rahmen einer von 2008 bis 2010 durchgeführten Nachinventarisierung der Kulturdenkmale in der Innenstadt von Göttingen wurde der gesamte vom mittelalterlichen Wall umschlossene Bereich bis zum äußeren Wallfuß unter der Bezeichnung Baukulturensemble Innenstadt Göttingen als denkmalgeschützte Gruppe baulicher Anlagen im Denkmalverzeichnis ausgewiesen. Innerhalb dieses Bereichs sind 179 Bauwerke als Einzelbaudenkmale im Denkmalverzeichnis. Weitere 819 Gebäude, in 90 Gruppen zusammengefasst, zählen als konstituierende Bestandteile des Baukulturensembles Innenstadt. Eine Auflistung der Baudenkmale im Innenstadtbereich östlich der Weender Straße ist in der Liste der Baudenkmale in Göttingen/Baukulturensemble Innenstadt-Ostteil, ab der Weender Straße westlich in der Liste der Baudenkmale in Göttingen/Baukulturensemble Innenstadt-Westteil und die Befestigungsanlagen sowie Baudenkmale der Kernstadt außerhalb des Stadtwalles sind in der Liste der Baudenkmale in Göttingen aufgeführt. Für die weitere bauliche Entwicklung der Innenstadt wurde im Jahr 2011 ein Innenstadtleitbild herausgegeben. In der Innenstadt innerhalb des Walles liegen acht Kirchen: St. Albani, im Osten der Innenstadt, leicht erhöht gelegen im Gebiet des ursprünglichen Gutingi, der Keimzelle der heutigen Stadt. Sie ist die älteste Kirche Göttingens. St. Jacobi, weithin sichtbares Wahrzeichen und mit 72 Metern höchste Kirche der Stadt. Sie beherbergt einen wertvollen Flügelaltar von 1402. St. Johannis, zweitürmige Markt- und Ratskirche und in ihrer Geschichte oft umgestaltet. Am 23. Januar 2005 brannte der Nordturm der Kirche nach einer Brandstiftung aus. St. Marien ist die Kirche der ehemaligen Deutschordenskommende. St. Michael, die einzige katholische Kirche in der Innenstadt, ist wie ein Bürgerhaus in die Kurze Straße eingereiht; 2014/2015 hat eine grundlegende Modernisierung stattgefunden. St. Nikolai, seit 1820 aufgrund einer Petition der Studentschaft aus dem Jahr 1819 Universitätskirche in deren Eigentum, ist von der Baugestalt her unscheinbar. Sie wurde von 1800 bis 1818 als Magazin genutzt. Im Zuge der Herrichtung für diese Nutzung wurde eine baufällige Doppelturmanlage abgetragen. Der Sandsteinbau stammt aus der Zeit des ausgehenden 13. Jahrhunderts. Jedoch wurden bei archäologischen Untersuchungen romanische Fundamente (12. Jahrhundert (?)) angetroffen. Zu den Ausstattungsdetails gehört ein aus der Paulinerkirche umgesetztes Epitaph zur Erinnerung an den berühmten Universitätskanzlers von Mosheim. Paulinerkirche, heute umfunktioniert als alte Universitätsbibliothek, ist eine ehemalige Dominikanerkirche. Sie ist die älteste gotische Kirche der Stadt. Am 24. November 1944 wurde sie durch eine Luftmine schwer beschädigt und nach dem Krieg wieder aufgebaut. Reformierte Kirche (Untere Karspüle 10A), wurde nach der Universitätsgründung auf Initiative des von Göttingen aus unter anderem als Begründer der modernen Physiologie wirkenden Schweizer Professors und Universalgelehrten Albrecht von Haller 1752/53 erbaut. Davon sind die fünf ältesten Stadtpfarrkirchen St. Albani, St. Jacobi, St. Johannis, St. Nikolai und die Paulinerkirche. St. Marien als Kirche der Neustadt kam wahrscheinlich erst nach einer Stadterweiterung hinzu. Der Vierkirchenblick ist mit einer Bronzeplatte im Pflaster an der Ecke Marktplatz/Kornmarkt gekennzeichnet. Von dort ist in jeder Himmelsrichtung eine Kirche zu sehen (N: Jacobi, O: Albani, S: Michaelis, W: Johannis). Die Bronzeplatte wurde von dem Inhaber des Bekleidungshauses Diekmann, Harro Tubbesing, gestiftet. 1981 wurden bei Umbauarbeiten im Bekleidungshaus Diekmann die Grundmauern des 1251 erbauten Schuhhofes, das älteste Gildehaus der Stadt mit gotischem Tonnengewölbe und Kreuzgratgewölbe, entdeckt. Das Kellergewölbe wird als Gaststätte genutzt. Die Gebäude mit den Hausnummern Markt 7 und 8 wurden in die Liste niedersächsischer Kulturdenkmale aufgenommen und stehen an der Südseite des Marktplatzes. Das Alte Rathaus (Markt 9) ist im Kern gotisch von 1270 und hat rund hundert Jahre später den markanten Zinnenkranz erhalten. An der Treppe des Rathauses befinden sich zwei steinerne, wappentragende Löwen. Auf dem davor gelegenen Marktplatz steht der berühmte Gänselieselbrunnen, das Wahrzeichen der Stadt. In der Altstadt befinden sich zahlreiche mitunter stark restaurierte Fachwerkhäuser (13. bis 19. Jahrhundert), wie die Rote Straße 25 von 1276, ein typisches gotisches Wohnhaus, und – nach zwei Fachwerkhäusern in Esslingen am Neckar von 1262/63 und 1267 – das drittälteste bislang dendrochronologisch datierte Fachwerkhaus in Deutschland. Ferner erwähnenswert sind die Ratsapotheke und die am 21. März 1945 durch Bomben zerstörte und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaute Junkernschänke (1547, Barfüßerstraße 5), das Bornemannsche Haus, der Schwarze Bär, das Schrödersche Haus und das Lichtenberghaus, mit dem sich die Stadt Göttingen im Zeit-Wettbewerb 365 Orte im Land der Ideen bewirbt. Die Innenstadt ist noch fast vollständig umgeben vom im 18. Jahrhundert zu einem Spazierweg umgebildeten Wall. Zu den universitären Sehenswürdigkeiten zählen die Aula (Wilhelmsplatz) mit dem Karzer (in dem entgegen einem weit verbreiteten politischen Mythos der Reichskanzler Otto von Bismarck nicht als Student einsaß), die neben anderen Göttinger Bauten auf dem 10-D-Mark-Schein zu sehen war, das Alte Auditorium (Weender Landstraße 2) und der Alte Botanische Garten (Untere Karspüle 1). Die ehemalige Sternwarte (Geismar Landstraße 11) ist ein 1803–1816 errichteter klassizistischer Bau, in dem der berühmte Mathematiker, Astronomen und Geodät Carl Friedrich Gauß lebte und arbeitete. Am Geismartor befindet sich das 1785–1790 erbaute Accouchierhaus (Kurze-Geismar-Straße 1), eine ehemalige Entbindungsanstalt, die von der Universität genutzt wird. An die Studienzeit Bismarcks erinnert neben dem Karzer das Bismarckhäuschen am Wall (Bürgerstraße 27a). Auf dem Kleperberg steht der 1892–169 als Aussichtsturm errichtete Bismarckturm. Im Stadtteil Nikolausberg findet man in exponierter Lage eine malerische Dorfkirche, deren romanischen Bauteile stilistisch mit der „Bauschule“ von Königslutter am Elm in Verbindung zu stehen scheinen. Ursprünglich wurde sie als Klosterkirche gegründet; der Konvent siedelte aber schon früh in das nahe im Tal gelegene Weende (heute Stadtteil von Göttingen) über. Im Stadtteil Weende beeindruckt der 1987 fertiggestellte, in der Region architektonisch einzigartige Schulbau der Freien Waldorfschule Göttingen mit seinem 2007 eingeweihten Südflügel (Entwurf: Jochen Brandi). Nördlich von Göttingen, oberhalb von Bovenden, befindet sich die Ruine der mittelalterlichen Burg Plesse. In weiterer Entfernung um die historische Innenstadt von Göttingen herum wurden im Mittelalter 11 Warttürme angelegt. Erhalten sind die Rieswarte (Nikolausberg), die Diemardener Warte und die Roringer Warte. Im Stadtgebiet gibt es zahlreiche Beispiele für moderne Kunst im öffentlichen Raum, beispielsweise die Bronzeskulptur Der Tanz von Bernd Altenstein (1982). Ihr Standort in der Mitte der Altstadt wird im Volksmund Nabel genannt. 2019–2021 wurde das Kunsthaus Göttingen im Kunstquartier (Düstere Straße 7) errichtet, die erste Ausstellung wurde am 4. Juni 2021 eröffnet. Glockenspiel Der Turm der Jakobikirche beherbergt ein Carillon, größtenteils aus dem Jahre 1968, welches aus 14 Glocken besteht. Die zwei größten davon (c2 und d2) werden für den Viertelstundenschlag genutzt. Das Glockenspiel erklingt jeden Samstag um 11:30 Uhr. Am Gebäude Lange-Geismar-Str. 44 ertönt mehrfach täglich ein Glockenspiel. Regelmäßige Veranstaltungen Januar: internationaler Sparkasse & VGH CUP, Lokhalle Göttingen, größtes U19-Hallenfußball Turnier Europas April: Ostermarkt Mai oder Juni: Internationale Händel-Festspiele Juni: Göttinger Spieleautorentreffen Juli: Göttinger Nacht der Kultur, Altstadtlauf, Schützenfest September: Gänseliesel-Fest, Lernfest, Gesundheitsmarkt, Nikolausberger Musiktage, Tanz-Kultur-Woche in der Alten Fechthalle, NDR 2 Soundcheck Neue Musik Oktober: Göttinger Literaturherbst November: Keiner soll einsam sein, Göttinger Jazzfestival Dezember: Göttinger Weihnachtsmarkt Eine bekannte Veranstaltung mit zahlreichen über die gesamte Fußgängerzone verteilten Bühnen für die Präsentation von satirischen und musikalischen Liveaufführungen war das zeitweilig jeweils am letzten Augustwochenende stattfindende Altstadtfest. Der letzte Veranstalter wurde jedoch zahlungsunfähig, ein Nachfolger ließ sich aufgrund des finanziellen Risikos nicht mehr finden und zudem gab es eine Lärmschutzklage einer Anwohnerin, die den Prozess gewann. Diese beiden Gründe führten dazu, dass das letzte Altstadtfest im Jahre 2004 stattfand. Auf Initiative verschiedener Einrichtungen in Göttingen findet seit 2007 das Indoor-Altstadtfest zum gleichen Zeitpunkt in einigen Kneipen statt. Gemeinsam mit der Stadt Toruń verleiht Göttingen alljährlich den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Damit ehrt sie das Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Samuel Linde. Studentenverbindungen und Logen Durch die Universität gründeten sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts etliche Burschenschaften und andere Studentenverbindungen in Göttingen. Es gibt hier noch über 40 aktive Studentenverbindungen. Von den Burschenschaften sind noch die Hannovera, Holzminda und Brunsviga aktiv. Als Gegner der Burschenschaften entstand seit den 1960er Jahren eine größere Gruppe linker Aktivisten, welche ein Gebäude in der Roten Straße zu ihrem Treffpunkt machte und regelmäßig Demonstrationen veranstaltet. Nach Gründung der Universität wurde in Göttingen 1747 auf Wunsch von Carl Phillip Freiherr von Knigge, der in Göttingen studiert hatte und in Hannover Meister vom Stuhl der Freimaurerloge Friedrich geworden war, eine Deputationsloge (Zweigloge) ins Leben gerufen. Damit war Göttingen eine der ersten Städte mit einer Loge. Erster Meister vom Stuhl wurde der Professor und Rechtswissenschaftler Georg Ludwig Böhmer. Nach anfänglichen Schwierigkeiten wurde die Loge 1753 aufgelöst, 1765 und 1793 erneut gegründet und 1810 unter dem jetzigen Namen Augusta zum Goldenen Zirkel mit der Matrikelnummer 22 gegründet. Die Loge, die knapp 50 Mitglieder umfasst, stellt sich selbst als offene Gemeinschaft für jeden dar. Sie nimmt nur Männer auf, lädt aber auch deren Familien ein und trifft sich regelmäßig in ihrem Logenhaus in der Oberen Karspüle 47. Aktueller Meister vom Stuhl ist Dietmar Meinshausen. Nachtleben Göttingen hat ein vielfältiges und buntes Nachtleben. Beispielsweise bietet der Nörgelbuff Funk- bis Rock-Musik und ist ebenfalls Veranstaltungsort für Livemusik. Das Dots, eine gemütliche „Spielunke“ im Börner Viertel (Barfüßerstraße), hat ein vielfältiges kulturelles Angebot sowie regelmäßig Live Acts, zudem wird das Dots im Kollektiv organisiert. Auf dem Zentral Campus der Universität befindet sich das von Studenten verwaltete Stilbrvch, ein Veranstaltungsort für alle möglichen Events. Weitere Feiermöglichkeiten bieten das Amavi Wild Göttingen, das Eins B, Der Freihafen, T-Keller, Exil, der in der ehemaligen Landeszentralbank Niedersachsens befindliche Club Savoy und das Alpenmax Göttingen. Des Weiteren gibt es unzählige Kneipen in der Innenstadt. Dem Club Savoy und dem Alpenmax Göttingen wurden in der Vergangenheit immer wieder rassistische Einlasspraktiken vorgeworfen. Laut dem Göttinger Integrationsrat komme es immer häufiger vor, dass Ausländern in Diskotheken der Zutritt verwehrt werde. Wirtschaft und Infrastruktur Im September 2017 betrug die Arbeitslosenquote 5,0 % (Im Jahr 2017: 5,8 %, 2010: 8,3 %). Im Rahmen eines Divestment-Beschlusses zum Klimaschutz hat die Stadt sich verpflichtet, öffentliche Gelder nur noch in Geldanlagen zu investieren, die ethischen und ökologischen Kriterien entsprechen und damit z. B. Anlagen in fossile Energien oder Kinderarbeit ausschließen. Verkehr Durch das westliche Stadtgebiet von Göttingen führt von Nord nach Süd die Bundesautobahn 7 Hannover–Kassel. Südlich von Göttingen entstand mit dem Autobahndreieck Drammetal der Anschluss an die Bundesautobahn 38 nach Halle (Saale) und Leipzig. Ferner führen die Bundesstraßen 3 und 27 durch Göttingen. Rund um die Innenstadt verläuft entlang des ehemaligen Stadtwalls der Verkehrsring, der das Stadtzentrum fußläufig stark von den angrenzenden Quartieren abschneidet, den Autoverkehr weitestgehend aus dem Stadtkern heraushält und in die entlegenen Stadtteile in allen Richtungen hin verteilt. Dennoch gibt es Überschneidungen unterschiedlicher Nutzergruppen, insbesondere im Bereich des Übergangs zwischen Fußgängerzone und kleingekammerter Bebauung. Bus- und Parksuchverkehr stören sich hier mit Fahrradfahrern und Fußgängern. Der Bahnhof Göttingen liegt an der alten Hannöverschen Südbahn, die Hannover mit Kassel verband. Seit 1991 ist Göttingen ICE-Halt der Schnellfahrstrecke Hannover–Würzburg. Die Linienverläufe des InterCityExpress führen über Kassel nach Frankfurt am Main, München und Stuttgart, teils in die Schweiz und nach Österreich, sowie in Gegenrichtung nach Hannover, Hamburg, Bremen und über Hildesheim, Braunschweig und Wolfsburg nach Berlin. Die Bahnstrecke Göttingen–Bodenfelde führt an die Weser und in den Solling. Ab Göttingen verkehren wochentags durchschnittlich etwa 109 ICE, 6 IC und 114 Nahverkehrszüge. Hinzu kommt eine Zahl von internationalen Nachtzügen. Der Regionalverkehr wird seit einigen Jahren auf der Südstrecke nach Ausschreibungen durch private Anbieter gewährleistet. In Richtung Kassel fährt über Eichenberg–Witzenhausen–Hann.Münden eine Regionalbahn, wobei ein Zugteil südlich Eichenberg die Strecke über Bad Sooden–Eschwege bis nach Bebra bedient. Seit 1980 ist die in Göttingen abzweigende Dransfelder Bahn, die als Bestandteil der Hannöverschen Südbahn die erste Bahnverbindung zwischen Hannover und Kassel war, stillgelegt. 1957 wurde die Gartetalbahn, eine Schmalspurbahn nach Duderstadt für den Personenverkehr stillgelegt. Die nächsten Verkehrsflughäfen sind in Hannover (etwa 105 km Luftlinie), Paderborn/Lippstadt (etwa 90 km Luftlinie) und Kassel-Calden (etwa 40 km Luftlinie). Göttingen hat einen Flugplatz in Günterode in Thüringen, den Flugplatz Eichsfeld (20 km Luftlinie). Weitere Flugplätze in der Umgebung sind der Flugplatz Witzenhausen (20 km Luftlinie), der Flugplatz Höxter-Holzminden (47 km Luftlinie) und der Flugplatz Northeim (etwa 20 km Luftlinie). 1914 sollte in Göttingen eine Straßenbahn von 8,5 km Streckenlänge in Normalspur gebaut werden, kriegsbedingt wurden die Arbeiten jedoch eingestellt und nach 1918 nicht wieder aufgenommen. Seit 1925 gibt es Stadtbusse. 27 Stadtbuslinien (Linien 11/12, 21/22, 23, 31/32, 33, 41/42, 50, 61/62, 71/72, 73, 80, 91/92 sowie Nachtbuslinien N1 bis N8) der Göttinger Verkehrsbetriebe und zahlreiche Taxis bedienen den öffentlichen Personennahverkehr Göttingens. Vielfach bevorzugtes Verkehrsmittel in der Studentenstadt ist das Fahrrad. Durch seine weitgehend hügellose Lage ist der Stadtkern Göttingens für den Fahrradverkehr prädestiniert. Es gibt zahlreiche ausgebaute Fahrradwege und Stellplätze, darunter eine kostenpflichtige Fahrradstation am Bahnhof. Im Jahr 2006 hat die Stadt Göttingen den Landeswettbewerb Fahrradfreundliche Kommune des Landes Niedersachsen gewonnen. In den Jahren 2016 und 2018 erreichte die Stadt jeweils den ersten Platz im Fahrradklimatest des ADFC in ihrer Einwohnerkategorie. Seit 2008 ist ein im Auftrag der Stadt herausgegebener Fahrrad-Stadtplan erhältlich. Durch die Stadt führt der Leine-Heide-Radweg. Ansässige Unternehmen Göttingen hat eine hohe Anzahl von Firmen, welche sich mit Messtechnik beschäftigen. Deshalb wurde 1998 der regionale Wirtschaftsverband Measurement Valley gegründet. Zu den 34 Mitgliedern gehören Einrichtungen wie Berufsbildende Schulen, die Georg-August-Universität Göttingen, die Fachhochschule Hildesheim/Holzminden/Göttingen oder die Industrie- und Handelskammer Hannover. Ebenfalls Mitglieder sind die Sartorius AG und die Mahr-Gruppe. Die Sartorius AG ist ein weltweit agierender Konzern mit Hauptsitz in Göttingen und als Anbieter in Teilbereichen von Labor- und Prozesstechnologie international führend. Mit rund 8125 Mitarbeitern weltweit erzielte das Unternehmen 2018 einen Umsatz von 1,566 Milliarden Euro. Die Mahr-Gruppe mit weltweit circa 1700 Mitarbeitern hat ebenfalls ihren Hauptsitz in Göttingen, beschäftigte 2012 rund 750 Mitarbeiter in Göttingen und erzielte einen Umsatz in Höhe von 214 Millionen Euro. Die zehn größten Unternehmen nach Bilanzsumme sind: Sparkasse Göttingen Sartorius AG Volksbank Kassel Göttingen eG Novelis (vormals Alcan) Sartorius Stedim Biotech GmbH Amedes Medizinische Dienstleistungen GmbH Coherent GmbH (Lasertechnik) Logistikunternehmen Zufall Sartorius Weighing Technology GmbH Wohnungsgenossenschaft eG Göttingen Von Bedeutung sind ebenfalls: optische Industrie (Zeiss, Qioptiq, ISK OPTICS) Naturwissenschaftliche Lehr- und Lernsysteme (Phywe) Vakuumsysteme (Pfeiffer Vacuum Components & Solutions GmbH) Regionale Wurstspezialitäten (Börner-Eisenacher GmbH) Pressevertriebsunternehmen (Tonollo) Gesundheitswesen (AQUA-Institut) Genussmittel (Kaufmanns AG) Buchverlage (Vandenhoeck & Ruprecht; Steidl-Verlag; Wallstein-Verlag) Energieversorgung Im Jahr 2012 wurde Göttingen für sein Engagement für erneuerbare Energien als Energie-Kommune ausgezeichnet. Biogas-getriebene Blockheizkraftwerke (BHKWs) und ein mit Altholz befeuertes Heizwerk versorgen dort zahlreiche Haushalte über Fernwärmenetze. In Zukunft sollen die Netze Stück für Stück ausgeweitet werden. Trinkwasserversorgung Die Versorgung mit Trinkwasser wird von den Stadtwerken Göttingen übernommen. Das Wasser stammt zu 80 % aus der Sösetalsperre im Harz und wird von den Harzwasserwerken über eine 40 km lange Fernleitung bezogen. Die übrigen 20 % sind Grundwasser aus den eigenen Gewinnungsanlagen Springmühle , Stegemühle und Weendespring . Alle Wässer werden an drei Mischstationen vermischt und an die Haushalte abgegeben. Am Standort Springmühle werden über ein Wasserrad etwa 50.000 kWh elektrische Energie jährlich erzeugt. Nach der Aufbereitung gelangt das Trinkwasser in das 493 km lange Leitungsnetz. Mit einer Gesamthärte von 1,2 mmol/l (6,5 °dH) fällt das Wasser in den Härtebereich „weich“. Der Brutto-Verbrauchspreis liegt bei 2,03 Euro je Kubikmeter. Bei einem Test der Zeitschrift Öko-Test im August 2014 belegte das Trinkwasser aus Göttingen von 69 getesteten Städten den ersten Platz. Abwasserentsorgung Die Ableitung und Reinigung des anfallenden Abwassers fällt in den Zuständigkeitsbereich der Göttinger Entsorgungsbetriebe. Die 720 Kilometer lange Kanalisation (überwiegend im Trennsystem) befördert das Abwasser über drei Hauptsammler zum zentralen Klärwerk im Rinschenrott . Das Einzugsgebiet der Anlage reicht im Norden bis Lenglern und im Süden bis zur Landesgrenze von Thüringen und Hessen Täglich werden 30.000 m³ Abwasser gereinigt (bei Regen 80.000 m³) und in die Leine abgegeben. Der anfallende Klärschlamm wird verfault, getrocknet und anschließend als Dünger an die Landwirtschaft abgegeben (10.000 t jährlich). Das bei der Faulung entstehende Klärgas wird zur Stromerzeugung verwendet. Gesundheitswesen Die Gesundheitsversorgung der Einwohner wird von mehreren Krankenhäusern sichergestellt. Die Universitätsmedizin Göttingen steht mit ca. 1500 Betten, davon 1362 Planbetten an der Spitze der Krankenversorgung, gefolgt vom psychiatrischen Asklepios Fachklinikum Göttingen mit 428, dem Evangelischen Krankenhaus Göttingen-Weende mit 421, dem Krankenhaus Neu-Mariahilf mit 104 und dem Agaplesion Krankenhaus Neu Bethlehem mit 100 Planbetten. Behörden und öffentliche Einrichtungen Göttingen ist Verwaltungssitz des Landkreises Göttingen und der Bildungsregion Südniedersachsen. Die Stadt ist weiterhin Sitz einer Polizeidirektion und eines Reviers der Bundespolizei. Neben dem Amtsgericht Göttingen befinden sich das Landgericht Göttingen, das Verwaltungsgericht Göttingen und das Arbeitsgericht Göttingen in der Stadt, außerdem weitere Behörden wie Finanzamt, Zollamt, eine Dienststelle der Bundesagentur für Arbeit und eine Filiale der Deutschen Bundesbank. Medien Printmedien mit hohem Verbreitungsgrad Göttingen ist Einzeitungskreis; hier erscheint als einzige lokale Tageszeitung das Göttinger Tageblatt, das von der Verlagsgesellschaft Madsack in Hannover herausgegeben wird. Es handelt sich um eine regionalisierte Variante der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Wöchentlich erscheinen die kostenlosen Anzeigenblätter blick (ebenfalls Madsack) und ExtraTip (Madsack hält 20 % der Anteile). weitere In vierteljährlichem Abstand wird seit 2008 das Magazin GÖKick herausgegeben, welches die regionale Fußballsituation thematisiert. Monatlich erscheinen das Straßenmagazin TagesSatz und K3-Das Magazin, zehn Mal im Jahr erscheinen die Stadtmagazine 37°, pony und trends&fun sowie vierteljährlich Faktor, das Entscheider-Magazin für die Region Göttingen, und das Regional-Journal für Südniedersachsen RegJo. im Umland/eingestellt Die Hessische/Niedersächsische Allgemeine (HNA) ist in Göttingen mit einer Redaktion vertreten. Für die HNA-Lokalredaktionen in Südniedersachsen (Hann. Münden, Northeim und Uslar) werden dort die landespolitischen Seiten sowie die Seite Blick nach Göttingen (erscheint in der Witzenhäuser Allgemeinen) hergestellt. Außerdem zeichnet die Redaktion für die wöchentlich erscheinende Veranstaltungsseite Das ist los in der Region verantwortlich. Der Versuch, eine unabhängige und genossenschaftlich organisierte Göttinger Wochenzeitung zu etablieren, scheiterte im Juli 2006. Alle ein bis zwei Wochen erschien die als linksradikal wahrgenommene Göttinger Drucksache. Bis zur Gleichschaltung der Presse 1933 erschienen in Göttingen und dem Umland die Göttinger Zeitung und das Göttinger Volksblatt. Hörfunk Als Lokalsender bietet das StadtRadio Göttingen ein nichtkommerzielles Lokalradio-Programm an. Lokale Fenster werden ebenfalls von den niedersächsischen Privatsendern Hit-Radio Antenne und radio ffn ausgestrahlt. NDR 1 Niedersachsen sendet werktags aus dem Studio Braunschweig für Süd- und Ostniedersachsen Regionalfenster aus, wobei südniedersächsische Beiträge in einem in Göttingen ansässigen Regionalstudio produziert werden, das für die anderen NDR-Hörfunkwellen sowie für Das Erste und NDR Fernsehen produziert. Wegen der für UKW-Empfang ungünstigen Tallage ist der stadtweite Empfang auf die Sender Bovenden, Hoher Meißner und Nikolausberg beschränkt. Letzterer wurde im Dezember 2022 gesprengt, nachdem durch den NDR ein Neubau in Stahl-Skelettbauweise erfolgte. Die folgenden Frequenzen werden von diesen ausgestrahlt: NDR 1 Niedersachsen auf 88,5 MHz (Nikolausberg) NDR 2 auf 94,1 MHz (Nikolausberg) NDR Kultur auf 96,8 MHz (Nikolausberg) NDR Info auf 99,9 MHz (Nikolausberg) N-Joy vom NDR auf 95,9 MHz (Nikolausberg) StadtRadio Göttingen auf 107,1 MHz (Bovenden) Radio 21 auf 93,4 MHz (Bovenden) radio ffn auf 102,8 MHz (Bovenden) Hit-Radio Antenne auf 106,0 MHz (Bovenden) Deutschlandfunk auf 101,0 MHz (Bovenden) hr1 auf 99,0 MHz (Hoher Meißner) hr2-kultur auf 95,5 MHz (Hoher Meißner) hr3 auf 89,5 MHz (Hoher Meißner) hr4 auf 101,7 MHz (Hoher Meißner) Hit Radio FFH auf 105,1 MHz (Hoher Meißner) Die von den starken Sendeanlagen auf dem Brocken ausgestrahlten Programme sind ebenfalls überwiegend gut zu empfangen: MDR Sachsen-Anhalt auf 94,6 MHz MDR Figaro auf 107,8 MHz MDR Jump auf 91,5 MHz Deutschlandradio Kultur auf 97,4 MHz 89.0 RTL auf 89,0 MHz Radio SAW auf 101,4 MHz In einigen höher gelegenen Stadtteilen kann eine Vielzahl weiterer Sender auf UKW aus den Bundesländern Sachsen-Anhalt, Thüringen und Nordrhein-Westfalen gehört werden. Fernsehen In Göttingen existiert kein Lokalfernsehen. Am 29. Mai 2006 wurde das analoge terrestrische Fernsehsignal der Sender Göttingen (Nikolausberg) und Hoher Meißner, die bisher das Stadtgebiet mit Analogfernsehen abdeckten, abgeschaltet und DVB-T eingeführt. Zwar können die Privatsender RTL und Sat.1 nicht mehr terrestrisch empfangen werden; dafür steht jedoch eine im Vergleich zum Analogempfang größere Anzahl öffentlich-rechtlicher Programme zur Verfügung. Der Sender Espol überträgt Das Erste, Arte, Phoenix, tagesschau24, 3sat, ZDF, KiKA/ZDFneo, ZDFinfo sowie die dritten Programme von NDR, WDR, hr-fernsehen und MDR. Im gesamten Stadtgebiet können die im Wesentlichen aus den gleichen Programmen bestehenden Bouquets vom Hohen Meißner bzw. vom Sender Hetjershausen empfangen werden. Neben dem Kabel- und Satellitenfernsehen ist in einigen Stadtteilen IPTV vom Anbieter Telekom verfügbar. Online-Medien 1999 bis Anfang 2020 brachte die Göttinger Stadtinfo (goest.de) als nichtkommerzielles Online-Magazin im Internet Berichte zu lokalen Ereignissen politischer wie kultureller Art und einem ausführlichen Veranstaltungskalender. Von Mitte 2005 bis Ende 2012 war die Internet-Zeitung www.buergerstimmen.de online. Gö-Polis – Göttinger Stadtmagazin (früher: Polis – Göttinger Stadtmagazin) von 2004 bis 2013 als Printmedium, ab 2010 auch, ab 2014 nur noch als Online-Magazin (www.goe-polis.de) mit Schwerpunkt auf tagesaktueller lokalpolitischer und ökologischer Berichterstattung. Das Projekt wurde 2018 eingestellt. Die Tageszeitung Göttinger Tageblatt (kostenpflichtig) und die Lokalausgabe der Hessisch/Niedersächsischen Allgemeinen bringen Online-Ausgaben. Filmstadt Göttingen 1945 bis 1960 war Göttingen Produktionsstätte von über 90 Spielfilmen, unter anderem 1949: Liebe 47 (Regie: Wolfgang Liebeneiner, Hauptdarstellerin: Hilde Krahl, nach Wolfgang Borcherts Stück Draußen vor der Tür) 1950: Frauenarzt Dr. Prätorius (Regie: Curt Goetz und Karl Peter Gillmann, Darsteller: Curt Goetz, Valérie von Martens, Albert Florath, Rudolf Reif, Erich Ponto) 1950: Es kommt ein Tag (Regie: Rudolf Jugert, Darsteller: Dieter Borsche, Maria Schell, Lil Dagover, Herbert Hübner, Gustav Knuth) 1951: Das Haus in Montevideo (Regie: Curt Goetz und Valérie von Martens, Darsteller: Curt Goetz, Valérie von Martens, Albert Florath) 1953: Hokuspokus (Regie: Kurt Hoffmann, Darsteller: Curt Goetz, Valérie von Martens, Hans Nielsen, Erich Ponto) 1958: Hunde, wollt ihr ewig leben (Regie: Frank Wisbar, Darsteller: Joachim Hansen, Ernst Wilhelm Borchert, Wolfgang Preiss, Karl Lange, Horst Frank, Peter Carsten, Richard Münch, Günter Pfitzmann, Sonja Ziemann) 1958: Wir Wunderkinder (Regie: Kurt Hoffmann, Darsteller: Johanna von Koczian, Hansjörg Felmy, Wera Frydtberg, Robert Graf) 1959: Rosen für den Staatsanwalt (Regie: Wolfgang Staudte, Darsteller: Martin Held, Walter Giller, Ingrid van Bergen, Camilla Spira) 1959: Buddenbrooks (Regie: Alfred Weidenmann, Darsteller: Liselotte Pulver, Nadja Tiller, Hansjörg Felmy, Lil Dagover, Werner Hinz, Hanns Lothar, Rudolf Platte, Günther Lüders) 1959: Natürlich die Autofahrer (Hauptdarsteller: Heinz Erhardt, Maria Perschy, Erik Schumann, Ruth Stephan, Trude Herr) sowie zahlreiche weitere Heinz-Erhardt-Filme Produktionsfirma war die Göttinger Filmaufbau-Gesellschaft, die von Hans Abich und Rolf Thiele 1946 gegründet wurde. Die Gesellschaft steht für den problemorientierten Kinofilm der 1950er Jahre sowie die Produktion zahlreicher Komödien mit Heinz Erhardt. 1960 siedelte die Gesellschaft nach München um. Die Curt-Goetz-Filme wurden von der Domnick-Filmproduktion GmbH produziert. 2004 wurde in Göttingen und Hann. Münden die Folge Dunkle Wege aus der Kriminalreihe Tatort gedreht. 2012 wurde in Göttingen Harder und die Göre gedreht, um Göttingen wieder zu einer Filmstadt zu machen (Regie: Oliver Clark, Hauptdarsteller: Harry Baer, Paula Hans, Thomas Lehmann, Thomas Kahler) Seit 1994 gibt es alle zwei Jahre im Mai in der Himmelfahrtswoche in der innerstädtischen Pauluskirche das Göttingen International Ethnographic Film Festival. Seit 2019 wurden mehrere Tatorte in Göttingen gedreht: 2019: Das verschwundene Kind – Erster Fall der Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) in Göttingen. Erste Folge mit Anaïs Schmitz (Florence Kasumba) 2020: Krieg im Kopf – Kommissarin: Charlotte Lindholm, Drehorte: Göttingen und Hamburg 2020: National feminin – Kommissarin: Charlotte Lindholm, Drehorte: Göttingen und Hamburg 2022: Die Rache an der Welt – Kommissarin: Charlotte Lindholm, Drehorte: Göttingen und Hamburg Sport Alpinsport Die Sektion Göttingen des Deutschen Alpenvereins mit 3.954 Mitgliedern (Stand: 31. Dezember 2021) ist einer der größten Sportvereine in Göttingen. Sie wurde am 22. November 1889 gegründet und ist damit eine der ältesten Vereine Göttingens. Sie betreibt eine Kletterhalle in Weende und eine mobile Kletterwand. Fußball Ein überregional bekannter Fußballclub Göttingens ist der 1. SC Göttingen 05. Dieser ist der Nachfolgeverein des gleichnamigen 1. SC Göttingen 05, der zwischen 1948 und 1958 in der damals erstklassigen Oberliga Nord spielte und im Jahre 2003 insolvenzbedingt aufgelöst wurde. Der Club spielt aktuell in der Landesliga Braunschweig. Spielort des 1. SC Göttingen 05 ist der Maschpark. Langjähriger sportlicher Rivale ist der Nachbarverein, die SVG Göttingen 07. Dieser ist (vom Jahnstadion gesehen) auf der anderen Seite des Leineufers beheimatet, im SVG-Stadion am Sandweg und spielt in der Landesliga Braunschweig. Höhepunkt waren die Göttinger Stadtderbys in der Landesliga Braunschweig in der Saison 2010/2011 an der Göttinger Benzstraße mit ca. 1800 Zuschauern und dem Rückspiel vor etwa 2500 Zuschauern im SVG-Stadion. Die Partie ging 1:1 aus und der RSV 05 stieg Monate danach überraschend in die Oberliga auf. Einige Funktionäre der größeren Vereine in Göttingen planten bereits mehrmals eine Fusion zu einem Großverein, um den höherklassigen Fußball wieder in die Universitätsstadt zu bringen (wie in anderen Städten auch geschehen, beispielsweise beim FC Ingolstadt 04). Dies konnten sie aufgrund vieler negativen Stimmen von Vereinen und Fans nicht umsetzen. Zuletzt wurde dabei im November 2008 durch Vorstandsmitglieder der SVG Göttingen, des RSV Göttingen 05, dem SCW Göttingen, dem TSV Holtensen und Sparta Göttingen der FC Göttingen gegründet. Ziel war der höherklassige Fußball in Göttingen. Der Verein wurde teilweise begrüßt, teilweise strikt abgelehnt. Nachdem die SVG Göttingen sich nach Vorstandsgesprächen schnell wieder aus dem Projekt zurückgezogen hatte, wurde der Verein nach nur 21 Tagen wieder aufgelöst. Ein Sprecher der SVG begründete dies mit den Worten: Fußballturniere In Göttingen wird jährlich ein A-Jugend-Hallenturnier, Sparkasse & VGH Cup, statt. Das früher kurz vor Weihnachten in der Lokhalle stattfindende Turnier musste auf Grund des in diesem Zeitraum angesetzten Viertelfinales des DFB-Junioren-Ligapokals auf Mitte Januar verlegt werden. Vier Tage lang kämpfen international bekannte Vereine (FC Barcelona, Chelsea London, Inter Mailand, PSV Eindhoven, Brøndby IF, Manchester United, FC Fulham, FK Austria Wien), acht Bundesliga-Mannschaften (wie VfL Wolfsburg, Hannover 96 oder Borussia Dortmund) und 12 Regionalvereine um den Turniersieg. Das Turnier hat regelmäßig hohe Zuschauerzahlen und gilt als Europas größtes A-Jugend-Hallenturnier. Die mexikanische Nationalmannschaft hatte anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 ihr WM-Quartier in Göttingen aufgeschlagen. Die Mannschaft gastierte dabei im Hotel Freizeit In und trug ein Testspiel vor 15.000 Zuschauern gegen eine Göttinger Regionalauswahl aus. Zudem war Göttingen 2006 Austragungsort der inoffiziellen deutschen Meisterschaft im Futsal. Basketball Göttingen ist ebenfalls ein traditionsreicher Basketballstandort. Die BG 74 Göttingen ist mit dem Herrenteam derzeit als BG Göttingen in der ersten Basketball-Bundesliga vertreten. Diese Mannschaft hat 2010 die EuroChallenge gewonnen. In den Jahren 1980, 1983 und 1984 gewannen die Göttinger Basketballer des ASC 1846 Göttingen, der zweite große Verein der Stadt, die deutsche Meisterschaft, 1984 und 1985 wurde man deutscher Pokalsieger. Als erfolgreichste Basketballmannschaft gelten die Damen des 1. SC Göttingen 05. In den Jahren 1968, 1970, 1971, 1972 und 1974 gewannen die Göttingerinnen insgesamt fünf Mal die deutsche Meisterschaft. Darüber hinaus gewannen sie 1973 den erstmals ausgespielten DBB-Pokal. Mitte der 1970er Jahre wollte der Vorstand des Vereins mehr Geld in die Fußballabteilung stecken, so dass die Frauenbasketballabteilung gänzlich aufgelöst wurde. Viele Spielerinnen schlossen sich der BG 74 Göttingen an. Die Damenmannschaft der BG 74 Göttingen spielte von 2003 bis 2009 ebenfalls in der ersten Damen-Basketball-Bundesliga, in der Saison 2008/2009 unter dem Namen Trinos Göttingen. Nach der Saison 2008/2009 gab es jedoch erneute finanzielle Probleme, die dazu führten, dass dem Team keine Erstligalizenz erteilt wurde. Des Weiteren spielt das Team Göttingen (bestehend aus Spielern des ASC 1846, der BG 74 sowie dem Sportgymnasium Bad Sooden-Allendorf) in der Nachwuchs-Basketball-Bundesliga (NBBL). Dass drei Teams in der höchsten deutschen Liga spielten, war bisher einzigartig in der deutschen Basketballgeschichte. Spielort des Damenteams ist die Sporthalle des Felix-Klein-Gymnasiums, welche etwa 1500 Zuschauer fasst. Spielort der Herren seit der Saison 2007/2008 war die Göttinger Lokhalle. Seit der Saison 2011/12 spielt die Herrenmannschaft die meisten ihrer Heimspiele in der neu gebauten Sparkassen-Arena am Schützenplatz, trägt aber auch weiterhin einzelne Partien in der Lokhalle aus. Der ASC 1846 spielt in der Halle der IGS. Die Wettkampfgemeinschaft der Universität Göttingen war zudem mehrfacher deutscher Hochschulmeister, zuletzt 2006. Standard-Formationstanzen Das Tanzsportteam Göttingen wurde 1994 gegründet und stieg mit seiner A-Formation 1999 erstmals in die 1. Bundesliga der Standard-Formationen auf. Seit dem erneuten Aufstieg in die 1. Bundesliga im Jahr 2008 tanzt das Team ununterbrochen in der höchsten Klasse und arbeitete sich Schritt für Schritt an die Weltspitze heran. Einem 5. Platz bei der Weltmeisterschaft in Pécs im Jahr 2016 folgte 2019 der erstmalige Gewinn der 1. Bundesliga. Im gleichen Jahr wurde die Mannschaft Deutscher Meister der Standard-Formationen und belegte bei der Weltmeisterschaft in Moskau als bester deutscher Teilnehmer den 3. Platz. In den Saisons 2020 und 2022 gelang es dem Team, den 1. Platz in der Bundesliga erfolgreich zu verteidigen. Am 24. September 2022 gelang der Göttinger Standardformation in Nürnberg der Gewinn der Europameisterschaft. Bei der Weltmeisterschaft in Braunschweig am 15. Oktober 2022 belegte das Team den 2. Platz. Zur Nachwuchsarbeit des Tanzsportteams gehören eine B- und in vielen Jahren auch eine C-Formation. Das Team wird, vor allem bei der jedes Jahr stattfindenden Teampräsentation und dem Bundesligaheimturnier in der Sparkassen-Arena, von zahlreichen freiwilligen Helfern unterstützt. American Football Die BG 74 Göttingen Generals, die 2018 ihr 30-jähriges Bestehen feiern, sind die American Football Abteilung des Göttinger Traditionsvereins BG 74. Die Generals stellen ein U19 Jugendteam sowie ein Herrenteam. Das Herrenteam tritt in der Saison 2018 in der Oberliga Nord an. Kanupolo Kanupolo ist eine der erfolgreichsten Sportarten Göttingens. Das Herrenteam des Göttinger Paddler Clubs (GPC) wurde 2012 nach zwei Vizemeisterschaften (2006 in Essen und 2007 in Berlin) und einem dritten Platz 2009 zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte Deutscher Meister der Kanupolo Bundesliga und erreichte bei den European Club Championships (Championsleague) in Duisburg den 8. Platz. Das Damenteam, eine der erfolgreichsten Mannschaften des Landes (Meister:2004,2005,2007,2011 – Vizemeister 2008,2010 Dritter:2009,2012 – European Club Championshipssiegerin 2007), erreichte 2012 den dritten Platz. Die Nachwuchsmannschaften des GPC konnten schon einige Erfolge feiern: beispielsweise den ersten Platz in der Niedersachsenmeisterschaft, den ersten Platz auf dem hochkarätig besuchten Karnath-Cup und den bisher größten Erfolg bei der Deutschen Meisterschaft 2007 in Berlin mit dem dritten Platz. Neben den Erfolgen auf nationaler Ebene hat Göttingen zahlreiche erfolgreiche Nationalspieler hervorgebracht. Aktuell spielen Lukas Richter (Vizeweltmeister 2012) und Tonie Lenz (Weltmeisterin 2006, 2012 – 1. Platz World Games 2005) in den höchsten Nationalkadern. Alljährlich findet am letzten April Wochenende mit internationaler und hochkarätiger Besetzung eins der größten nationalen Turniere im Freibad am Brauweg statt. Hockey Seit dem 1. Juli 1982 existiert der Hockey-Club Göttingen e. V., der sich aus dem ESV Rot-Weiß Göttingen abspaltete. Die Trainingsplätze befinden sich für die Feldsaison auf der Bezirkssportanlage (BSA) im Greitweg, dort wird auf dem Naturrasen gespielt und für die Hallensaison in der großen Halle der Geschwister-Scholl-Gesamtschule (KGS). Der Clubraum befindet sich ebenfalls auf dem Schulgelände. Nach einem Doppel-Aufstieg im Februar 2019 spielen die 1. Damen und 1. Herren des HC Göttingens in der Hallensaison 2019/20 beide in der Regionalliga Nord. Die 2. Herren treten nach ihrem Aufstieg (ebenfalls 2019) in der 2. Verbandsliga Niedersachsen an. Neben diesen drei Teams gibt es noch Kinder- und Jugendmannschaften sowie eine Freizeitmannschaft, die hauptsächlich an Turnieren in der Region teilnimmt. Inline-Skater Hockey Die Black-Lions vertreten den Tuspo 1861 Göttingen in der Norddeutschen Inlinehockey Liga (NIHL). Tischfußball Die Tischfußballer des ASC vertreten ihren Verein in der 2. Tischfußball-Bundesliga. Neben dem Mannschaftswettbewerb starten Spieler der Mannschaft des ASC Göttingen auch in Einzel- und Doppelwettbewerben. So wurde neben der hessischen Verbandsmeisterschaft 2009 und der nordhessischen Meisterschaft 2009 im Doppel, die Weltmeisterschaft im Einzel in der Amateur-Klasse von einem Spieler des ASC gewonnen. Göttinger Fallschirmsportclub Gegründet wurde der Fallschirmsportclub 1986 zur Förderung und Implementierung im Hochschulsport der Georg-August-Universität. Eine Vierermannschaft unter Polizeihauptkommissarin Jacqueline Emmermann wurde 2013 Deutscher Meister im Formationsspringen. Fallschirmsprungsplatz für das Team ist Kassel-Calden. Inklusion 2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Südafrika ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. Persönlichkeiten Eine Zusammenstellung von Ehrenbürgern, Söhnen und Töchtern der Stadt, Angehörigen der Universität, (Ober-)Bürgermeistern, Oberstadtdirektoren sowie weiteren Persönlichkeiten der Stadt findet sich im Sonstiges Auf der letzten Serie der D-Mark-Banknoten fand sich auf der 10-D-Mark-Banknote, links neben dem Porträt des Mathematikers und Astronomen Carl Friedrich Gauß, eine Collage verschiedener historischer Bauwerke von Göttingen. Dort sind die Sternwarte, die Johanniskirche, die Universitätsaula, das Rathaus, der Kirchturm von Jacobi und das Museum zu sehen. Ein Airbus A340-311 der Lufthansa mit der Kennung D-AIGF trug bis zu dessen Außerdienststellung im Jahre 2014 den Namen Göttingen, zwischenzeitlich rückte ein etwas kleinerer Airbus A321-231 mit der Kennung D-AIDG an dessen Stelle. Seit 2019 trägt der Airbus A350-900 mit der Kennung D-AIXN den Namen der Universitätsstadt. Ein ICE der Deutschen Bahn mit dem Triebzug Tz 330 (ICE-Baureihe 3) wurde 2003 auf den Namen Göttingen getauft. Literatur Historische Stadtbeschreibungen (chronologisch) Moses Rintel: Versuch einer skizzirten Beschreibung von Göttingen nach der gegenwärthigen Beschaffenheit. Ruprechtische Buchhandlung, Göttingen 1794. (Digitalisat auf digitale-sammlungen.de, abgerufen am 17. September 2023) Christoph Meiners: Kurze Geschichte, und Beschreibung der Stadt Göttingen, und der umliegenden Gegend. Haude und Spener, Berlin 1801. (Digitalisat auf digitale-sammlungen.de, abgerufen am 17. September 2023) Ernst Spangenberg: Beitraege zu einer Geschichte und Beschreibung der Stadt Goettingen, in: Neues Hannoversches Magazin, Jg. 17, 1807, S. 417–458. Heinrich Veldeck (= Georg Heinrich Klippel): Göttingen und seine Umgebungen. Ein Taschenbuch vorzüglich für Studirende [sic] und Reisende. Verlag C. E. Rosenbusch, Göttingen o. J. (1824), S. 365. (Digitalisat auf digitale-sammlungen.de, abgerufen am 17. September 2023) Wilhelm Mithoff: Kunstdenkmale und Alterthümer im Hannoverschen. Band 2: Fürstenthümer Göttingen und Grubenhagen nebst dem hannoverschen Theile des Harzes und der Grafschaft Hohnstein. Helwing'sche Hofbuchhandlung, Hannover 1873 (Digitalisat auf books.google.de, abgerufen am 17. September 2023), S. 66–89. Allgemeine Literatur (chronologisch geordnet) Gustav Schmidt (Hrsg.): Urkundenbuch der Stadt Göttingen bis zum Jahre 1400. Hannover 1863. August Tecklenburg: Göttingen. Die Geschichte einer deutschen Stadt. Turm, Göttingen 1930. Albrecht Saathoff: Geschichte der Universitätsstadt Göttingen. Göttingen 1937. Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte. Band 3. Nordwestdeutschland. 1. Teilband. Niedersachsen/Bremen. Im Auftrage der Arbeitsgemeinschaft der historischen Kommissionen und mit Unterstützung des Deutschen Städtetages, des Deutschen Städtebundes und des Deutschen Gemeindetages, hrsg. von Erich Keyser, Stuttgart 1952. Otto Fahlbusch: Topographie der Stadt Göttingen (= Studien und Vorarbeiten zum historischen Atlas Niedersachsens 21), Göttingen 1952. August Deppe, Richard Jäger, Heinrich Troe: Das tausendjährige Göttingen: Ursprung und Entwicklung im Spiegel seiner Straßen und Bauten. Reise, Göttingen 1953. Wiebke Fesefeldt: Der Wiederbeginn des kommunalen Lebens in Göttingen. Die Stadt in den Jahren 1945 bis 1948. Göttingen 1962. Ludwig Börne: Die Göttinger Unruhen (1818). Sämtliche Schriften, Band 1, Düsseldorf 1964. Jürgen Höltken, Günther Meinhardt: Göttingen im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1976. Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Baudenkmale in Niedersachsen, Bd. 6.1 Stadt Göttingen. Bearbeitet von Ilse Rüttgerodt-Riechmann. Friedr. 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Weblinks www.goettingen.de – offizielle Website der Stadt Göttingen Literatur über Göttingen in der Niedersächsischen Bibliographie stadtplan.goettingen.de – Stadtplan, historische Luftbilder von Göttingen und ein Satellitenbild von Südniedersachsen goesis.goettingen.de – GÖSIS: Göttinger Statistisches Informationssystem goecam.de – GöCam: Webcams und virtueller Stadtrundgang mit über 300 Panorama-Aufnahmen aus Göttingen Wiki-Göttingen Artikel Göttingen im GenWiki Die Inschriften der Stadt Göttingen via Deutsche Inschriften Online Plan der Stadt Göttingen von 1737 Plan der Stadt Göttingen von 1747 Plan der Stadt Göttingen von 1760 jüngere Geschichte Göttingens Nationalsozialismus in Göttingen – Dissertation von Cordula Tollmien (2002). Zwangsarbeit in Göttingen – Homepage über die NS-Zwangsarbeiter in Göttingen. Dokumentation der Bücherverbrennung 1933 in der Universitätsstadt Göttingen …”und plötzlich waren wir Feinde” Die Vertreibung der Juden aus Göttingen Film von Jürgen Hobrecht. Fotos aus der Geschichte Göttingen – von Karlheinz Otto, aus den 1960er Jahren bis 2000. auf www.ndr.de am 20. Dezember 2013. Frauenporträts: Streetart in Göttingen nach Madrider Vorbild am 19. Juli 2023 auf ndr.de/kultur Anmerkungen Ort im Landkreis Göttingen Gemeinde in Niedersachsen Hansestadt Deutsche Universitätsstadt Masterplan-Kommune Kreisstadt in Niedersachsen Kreisangehörige Stadt mit Sonderstatus in Niedersachsen Ehemalige kreisfreie Stadt in Niedersachsen Ersterwähnung 953 Stadtrechtsverleihung im 13. Jahrhundert
1891
https://de.wikipedia.org/wiki/Germanische%20Sprache
Germanische Sprache
Mit germanische Sprache kann gemeint sein: eine Einzelsprache aus der Sprachgruppe Germanische Sprachen das Urgermanisch oder Protogermanisch als rekonstruierte Stammform der germanischen Sprachgruppe das Prägermanisch als rekonstruierte Vorform des Urgermanischen
1892
https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fe%20Koalition
Große Koalition
Als Große Koalition (auch große Koalition) wird in der Regel eine Regierungskoalition der mandatsstärksten Parteien im Parlament bezeichnet. Der Begriff wird hauptsächlich in Deutschland und Österreich benutzt. Allgemeines Je nach politischem System bzw. Parteiensystem kann auch eine Koalition der beiden größten Parteien eine Koalition der knappsten Mehrheit sein oder eine Minderheitsregierung zur Folge haben. Für westeuropäische Staaten wird der Begriff in der Regel verwendet, um eine Koalition zwischen den beiden größten in einem von zwei so genannten Volksparteien dominierten Parteiensystem zu beschreiben, bei dem rechnerisch auch kleinere Koalitionen möglich gewesen wären. Große Koalitionen sind teilweise umstritten, da sie nach Meinung der Kritiker über zu große Regierungsmacht verfügen und aufgrund ihrer Breite zu viele Kompromisse erfordern. Andererseits schafft eine Große Koalition die Möglichkeit, manche dringend erforderlichen Reformprojekte auch dann durchzusetzen, wenn ihre Begleiterscheinungen von den Betroffenen als stark negativ empfunden werden, wie Steuererhöhungen, Subventions- oder Rentenkürzungen. Eine starke Opposition würde diese Projekte – sei es aus Überzeugung oder aus parteitaktischen Gründen – angreifen und eventuell verhindern. Große Koalitionen werden oft aus einem oder mehreren der folgenden Gründe bzw. Motive gebildet: als Notlösung, wenn sich aufgrund des Machtgleichgewichtes keine eindeutigen, weltanschaulich fundierten Parlamentsmehrheiten bilden, vor allem in Ländern mit einer großen Parteienvielfalt. Abwehrbewegungen gegen aggressive Klein- oder Randparteien, was z. B. im 20. Jahrhundert mehrmals zu einer Großen Koalition in Österreich führte. außenpolitische oder allgemein-politische Krisen. So hatten viele Staaten jeweils Große Koalitionen in den beiden Weltkriegen. Beispielsweise hatte Großbritannien eine Allparteienregierung. Deutschland Weimarer Republik In der Weimarer Republik wurden die beiden Kabinette Stresemann I und II (1923) und das Kabinett Müller II (1928–1930) als Große Koalitionen bezeichnet. Mit dem Wort „groß“ meinte man dabei, dass sowohl links die SPD als auch rechts die DVP eingebunden wurde. Meistens regierte in der Weimarer Zeit eine Koalition von DDP und Zentrum, die jeweils entweder nach links (SPD) oder rechts (DVP, DNVP) erweitert wurde. Oft wurde eine bürgerliche Minderheitsregierung von der SPD toleriert. So gesehen war dieses Modell die eigentliche „Weimarer Koalition“, auch wenn man mit diesem Begriff gemeinhin etwas anderes meint: die drei republiktreuen Parteien SPD, Zentrum und DDP, die seit der Reichstagswahl am 6. Juni 1920 allerdings keine gemeinsame Mehrheit mehr hatten. Es gab auch große Koalitionen auf Landesebene. Als deren bekannteste gelten die SPD-Zentrums-Regierungen im Freistaat Preußen (→ Freistaat Preußen#Große Koalition). DDR 1990 Unter Lothar de Maizière bildete sich nach langwierigen Verhandlungen eine Große Koalition aus der Allianz für Deutschland (einem aus der Christlich-Demokratischen Union (CDU-Ost), Deutschen Sozialen Union (DSU) und Demokratischem Aufbruch (DA) gebildeten Wahlbündnis), der SPD und den Liberalen. Am 12. April 1990 wurde Lothar de Maizière (CDU) von der Volkskammer mit 265 Stimmen bei 108 Gegenstimmen und 9 Enthaltungen zum Ministerpräsidenten der DDR gewählt. Die Abgeordneten bestätigten danach en bloc auch die Regierung de Maizière. Am 20. August verließen die Sozialdemokraten die Regierung, nachdem de Maizière die Entlassung unter anderem eines SPD-Ministers angekündigt hatte. Damit bestand die Regierung nur aus parteilosen Ministern sowie solchen der Allianz und den Liberalen; in der Bundesrepublik würde man von einer christlich-liberalen Koalition sprechen. Die Regierung konnte sich also nicht mehr auf eine „Große“ Koalition stützen. Am 23. August 1990 trat die DDR mit Wirkung zum 3. Oktober 1990 der Bundesrepublik bei, und die Volkskammer löste sich auf. Ihre Legislaturperiode hatte somit nur gute sechs Monate gedauert. Am 2. Dezember 1990 folgte die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl. Bundesrepublik Da bisher in der Bundesrepublik die Parteien CDU/CSU und SPD die größten Fraktionen stellten, bestanden Große Koalitionen meist aus diesen beiden Parteien. Sie werden aufgrund ihrer Farben im Parteienspektrum umgangssprachlich auch Schwarz-Rot bzw. Rot-Schwarz genannt. Koalitionen aus CDU und SPD werden oft auch dann als Große Koalition bezeichnet, wenn sie nicht die beiden größten Parteien stellen. Andere Koalitionen von zwei zahlenmäßig größten Parteien im Parlament, z. B. SPD und Linke (rot-rote Koalition), SPD und Grüne (rot-grüne Koalition) oder Grüne und CDU (grün-schwarze Koalition) werden nicht als Große Koalition bezeichnet. Große Koalition 1966–1969 In den 1950er Jahren dominierte die CDU/CSU die westdeutsche Parteienlandschaft, musste aber 1961 abermals eine Koalition mit der FDP eingehen. 1962 war im Verlauf der Spiegel-Affäre die Koalition in Frage gestellt worden. So diskutierten Christdemokraten und Sozialdemokraten sehr ernsthaft über eine Große Koalition, nicht nur, wie Kritiker meinten, weil Konrad Adenauer die FDP disziplinieren wollte. Adenauer ging zu Recht davon aus, dass die SPD ihn als Kanzler akzeptieren würde, um in die Regierung zu gelangen (die FDP wollte einen neuen Kanzler). Andere Christdemokraten wie Bauminister Paul Lücke dachten vor allem daran, gemeinsam mit der SPD das Mehrheitswahlsystem einzuführen. Schließlich aber einigten sich die Koalitionsparteien CDU/CSU und FDP auf eine Fortsetzung der Koalition, bis im Herbst 1963 Adenauer durch Erhard abgelöst werden würde. Die (erste) Große Koalition kam zustande, nachdem die Koalition aus CDU/CSU und FDP daran zerbrochen war, dass die CDU/CSU das entstandene Haushaltsdefizit und die immer größer werdende Staatsverschuldung im Haushalt 1967 durch eine Steuererhöhung eindämmen wollte. Die FDP war dazu nicht bereit und trat daher im Oktober 1966 aus der Koalition aus. Nach dem Rücktritt der FDP-Minister nahm die CDU/CSU Verhandlungen mit der SPD auf, die sich nach Erwägen einer sozialliberalen Koalition für die Kooperation mit der CDU entschied, woraufhin am 1. Dezember 1966 die Große Koalition geschlossen wurde (siehe auch Fünfter Bundestag (1965–1969)). Geführt wurde die Regierung von dem früheren Ministerpräsidenten Baden-Württembergs Kurt Georg Kiesinger, der den letztlich glücklosen Bundeskanzler Ludwig Erhard ablöste. Im Kabinett Kiesinger wurde der SPD-Vorsitzende Willy Brandt Vizekanzler und Außenminister. Die Große Koalition sah sich während der verbleibenden Zeit zur nächsten Wahl (28. September 1969) drei großen Aufgaben gegenüber: der Sanierung des Haushalts und der Eindämmung der Staatsschulden sowie die Bekämpfung der ersten Rezession nach 1945. Es gelang der Koalition recht schnell, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, was vor allem ein Verdienst von Franz Josef Strauß und Karl Schiller war, welche in der Öffentlichkeit den Spitznamen „Plisch und Plum“ innehatten. Als schwieriger erwies sich die Umsetzung einer Finanzreform. Sie gelang 1969 und schuf die noch heute geltenden Grundzüge der Finanzverfassung des Grundgesetzes. Im Ergebnis stellte sie den Steuerverbund aus Einkommens- und Körperschaftsteuer sowie der Umsatzsteuer her. Der Länderanteil an der Umsatzsteuer richtete sich von nun an nach den Einwohnern. Der Länderfinanzausgleich wurde neu gefasst. Schließlich erhielt der verfassungsrechtlich kontroverse Bereich der Mischfinanzierungen mit der Einführung der Gemeinschaftsaufgaben, der Regelung über Geldleistungsgesetze und Investitionshilfen des Bundes eine neue verfassungsrechtliche Basis. Außerdem wurden Planungselemente in das Grundgesetz eingeführt. Die Mittelfristige Finanzplanung und das Haushaltsgrundsätzegesetz sind hier zu nennen. sollten die noch bestehenden Eingriffsrechte der Alliierten in die Souveränität Deutschlands abgelöst werden. Diese forderten dazu die Verabschiedung der so genannten Notstandsgesetze, um die Sicherheit ihrer in Deutschland stationierten Truppen gewährleistet zu wissen. Für die nötige Änderung der Verfassung war eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag vonnöten. Besonders daran schieden sich die Geister, da es der Regierung während eines nationalen Notstandes nun möglich war, Grundrechte vorübergehend außer Kraft zu setzen. Die Außerparlamentarische Opposition (APO) nahm dieses Thema auf und machte ihrem Unmut darüber auf der Straße Luft. Das Phänomen, dass Teile der Jugend rebellierten, gab es jedoch auch in anderen westlichen Ländern ebenso wie Notstandsgesetze. war ein Ziel der Großen Koalition, das Mehrheitswahlrecht nach britischem oder US-amerikanischem Modell einzuführen, damit nach Wahlen stets eine Partei die absolute Mehrheit innehabe und man nicht mehr auf Koalitionsverhandlungen angewiesen sei. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch am Ende an der SPD, die auf ihrem Parteitag 1968 die Einführung in die Zukunft schob. So bestand die – von den meisten nur als Übergangslösung betrachtete – „Vernunftehe“ aus CDU/CSU und SPD nur bis zur nächsten Wahl im Jahre 1969, bei der die CDU/CSU die angestrebte absolute Mehrheit verfehlte. So bildeten SPD und FDP unter Bundeskanzler Willy Brandt die erste sozialliberale Koalition auf Bundesebene (Kabinett Brandt I). Große Koalition 2005–2009 Bei der vorgezogenen Bundestagswahl vom 18. September 2005 erreichte keines der beiden angestrebten Koalitionsbündnisse (weder eine schwarz-gelbe Koalition aus CDU/CSU und FDP noch ein rot-grünes Bündnis aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen) die absolute Mehrheit der Bundestagsmandate. Dies war unter anderem auf den Einzug der Linkspartei.PDS zurückzuführen, die 8,7 % der Stimmen erhielt und mit der keine der anderen Parteien bereit war, eine Koalition einzugehen. Nach kurzen Sondierungsgesprächen, den kategorischen Absagen der FDP an eine Ampelkoalition mit Bündnis 90/Die Grünen und SPD sowie von Bündnis 90/Die Grünen an eine Jamaika-Koalition mit CDU und FDP und weiterhin von SPD und Bündnis 90/Die Grünen an eine Koalition unter Tolerierung durch Die Linke.PDS, standen alle Zeichen auf Schwarz-Rot. Am 11. November 2005 einigten sich die Verhandlungspartner auf den endgültigen Wortlaut des Koalitionsvertrages. Die Parteitage von Union und SPD stimmten mit großer Mehrheit dem Vertragswerk zu. Am 18. November unterzeichneten die Vorsitzenden der drei Parteien den Koalitionsvertrag; am 22. November 2005 wurde Angela Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt und die Minister des ersten Kabinetts Merkel ernannt. Damit hatte die Bundesrepublik Deutschland zum zweiten Mal eine große Koalition auf Bundesebene. Entscheidender Einfluss bei den Koalitionsverhandlungen wurde neben Angela Merkel vor allem dem damaligen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering zugeschrieben. Nach der Niederlage bei der Abstimmung im Bundesvorstand über den neuen Generalsekretär der Partei legte Müntefering allerdings den Vorsitz der SPD nieder, den Matthias Platzeck übernahm, der damit auch für die SPD den Koalitionsvertrag am 18. November unterzeichnete. Matthias Platzeck leitete die SPD in der großen Koalition aber nur kurzzeitig, da er am 10. April 2006 aus gesundheitlichen Gründen sein Amt niederlegte. Sein Nachfolger wurde der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck. Die Zweite Große Koalition nahm sich, wie die erste, besondere Hauptaufgaben vor, um die Chancen durch absolute Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat zu nutzen. Die erste war das Erreichen eines ausgeglichenen Haushaltes, also eines Haushaltsplanes ohne Nettokreditaufnahme, bis 2011. Eine erste Maßnahme war das Anheben der Umsatzsteuer auf 19 %. Weiterhin wurde in der Föderalismusreform das Verhältnis von Bund und Ländern zueinander neu geordnet. Außerdem wurde mit dem Schacht Konrad das erste Endlager für leicht und mittelstark radioaktive Abfälle beschlossen und damit für 90 % des in Deutschland erzeugten Atommülls. Große Koalition 2013–2017 Nach der Bundestagswahl 2013 konnte die bisherige schwarz-gelbe Koalition nicht fortgeführt werden, da die FDP nicht mehr im Bundestag vertreten war. Eine absolute Mehrheit hatten CDU/CSU knapp verfehlt. Die Sondierungsgespräche der Unionsparteien mit SPD und Grünen sowie die Absage der SPD gegenüber einer rot-rot-grünen Koalition führten zu alleinigen Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD. Diese wurden am 28. November vorläufig mit einem Koalitionsvertrag abgeschlossen. Die SPD wartete zunächst noch auf das Ergebnis eines Mitgliederentscheids, bevor sie in die Koalition ging. Nachdem die Abstimmung zugunsten der Großen Koalition ausgegangen war, wurden am 15. Dezember die Mitglieder der Regierung durch CDU/CSU und SPD in den Berliner Parteizentralen bekanntgegeben und einen Tag später der Koalitionsvertrag unterzeichnet. Die neue Regierung nahm ihre Arbeit mit der Wahl der Kanzlerin und der folgenden Vereidigung der Minister am 17. Dezember 2013 auf. Das Kabinett Merkel III wurde am 24. Oktober 2017 durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier entlassen, blieb aber bis zur Ernennung der neuen Regierung am 14. März 2018 geschäftsführend im Amt. Große Koalition 2017–2021 Fast sechs Monate nach der Bundestagswahl 2017 nahm am 14. März 2018 eine weitere Große Koalition unter Angela Merkel ihre Arbeit auf. GroKo Die Abkürzung GroKo für Große Koalition wurde bereits während der großen Koalition unter Kiesinger in den 60er-Jahren verwendet, setzte sich jedoch erst während der Koalitionsverhandlungen des Kabinetts Merkel III durch. 2013 wurde es zum deutschen Wort des Jahres gewählt. Große Koalitionen auf Landesebene Große Koalitionen waren und sind auf Ebene der deutschen Länder nicht selten. Seit der Wiederentstehung der Länder nach der NS-Zeit (westdeutsche Länder) bzw. 1990 (ostdeutsche Länder) gab es auf Landesebene in 14 der 16 Länder (außer Hamburg und Nordrhein-Westfalen) zeitweise eine Große Koalition aus CDU bzw. CSU und SPD. Derzeit (April 2023) gibt es in Berlin eine Große Koalition. Baden-Württemberg 1966–1972 Hans Filbinger (CDU) 1992–1996 Erwin Teufel (CDU) seit 2016 Winfried Kretschmann (Grüne) mit der CDU Bayern 1947 Hans Ehard (CSU) 1950–1954 Hans Ehard (CSU) Berlin 1955–1957 Otto Suhr (SPD) trotz absoluter SPD-Mehrheit 1957–1963 Willy Brandt (SPD) trotz absoluter SPD-Mehrheit 1991–2001 Eberhard Diepgen (CDU) 2011–2014 Klaus Wowereit (SPD) 2014–2016 Michael Müller (SPD) seit 2023 Kai Wegner (CDU) Brandenburg 1999–2002 Manfred Stolpe (SPD) 2002–2004 Matthias Platzeck (SPD) 2009–2013 Matthias Platzeck (SPD) mit der Linken 2013–2014 Dietmar Woidke (SPD) mit der Linken Bremen 1995–2005 Henning Scherf (SPD) 2005–2007 Jens Böhrnsen (SPD) 2011–2015 Jens Böhrnsen (SPD) mit den Grünen Hamburg seit 2020 Peter Tschentscher (SPD) mit den Grünen Hessen 1946–1950 Christian Stock (SPD) 2019–2022 Volker Bouffier (CDU) mit den Grünen seit 2022 Boris Rhein (CDU) mit den Grünen Mecklenburg-Vorpommern 1994–1998 Berndt Seite (CDU) 2006–2008 Harald Ringstorff (SPD) 2008–2016 Erwin Sellering (SPD) Niedersachsen 1965–1970 Georg Diederichs (SPD) 2017–2022 Stephan Weil (SPD) Rheinland-Pfalz 1948–1951 Peter Altmeier (CDU) Saarland 2012–2018 Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) 2018–2022 Tobias Hans (CDU) Sachsen 2004–2008 Kabinett Milbradt II (CDU/SPD) 2008–2009 Kabinett Tillich I (CDU/SPD) 2014–2017 Kabinett Tillich III (CDU/SPD) 2017–2019 Kabinett Kretschmer I (CDU/SPD) Sachsen-Anhalt 2006–2011 Kabinett Böhmer II (CDU/SPD) 2011–2016 Kabinett Haseloff I (CDU/SPD) Schleswig-Holstein 2005–2009 Peter Harry Carstensen (CDU) seit 2022 Daniel Günther (CDU) mit den Grünen Thüringen 1994–1999 Bernhard Vogel (CDU) Österreich Bundesregierung In Österreich ist die Große Koalition aus der konservativen ÖVP und der sozialdemokratischen SPÖ die am längsten regierende Koalitionsform der Nachkriegszeit. Seit 1945 gab es nur zwischen den Jahren 1966 und 1987 sowie 2000 und 2007 keine Große Koalition auf Bundesebene. Vom 11. Jänner 2007 bis zum 18. Dezember 2017 gab es in Österreich wieder eine Große Koalition, die nach den Nationalratswahlen 2008 und 2013 fortgesetzt wurde. Große Koalitionen gab es auf Bundesebene zwischen 1945 und 1966 unter den konservativen Bundeskanzlern Leopold Figl (bis 1953), Julius Raab (1953–1961), Alfons Gorbach (1961–1964) und Josef Klaus (1964–1966). Ab 1987 gab es SPÖ-ÖVP-Koalitionen unter den sozialdemokratischen Kanzlern Franz Vranitzky (1987–1997), Viktor Klima (1997–2000), Alfred Gusenbauer (2007–2008), Werner Faymann (2008–2016) und Christian Kern (Mai 2016–Dezember 2017). Bis auf die sehr kurze Legislaturperiode zwischen Herbst 1994 und 1995 hatten alle Große Koalitionen vor 2008 auch jeweils die notwendige Zweidrittelmehrheit im Parlament zum Beschluss von Verfassungsgesetzen. Bundesländer Auch Regierungen österreichischer Bundesländer waren und sind häufig Große Koalitionen (oftmals bedingt durch das von der jeweiligen Landesverfassung vorgeschriebene Proporzsystem, das nach wie vor in einigen der österreichischen Bundesländer für die Regierungsbildung gilt). Beispiele: Steiermark (2005–2010 Landesregierung Voves I; 2010–2015 Landesregierung Voves II unter SPÖ-Führung, Proporzsystem; seit 2015 Landesregierung Schützenhöfer I, Schützenhöfer II bzw. Drexler unter ÖVP-Führung) Niederösterreich (unter ÖVP-Führung, Proporzsystem) In Salzburg und Tirol gibt es seit 2013 keine Großen Koalitionen mehr. Schweiz Die Schweiz besitzt, anders als die meisten anderen Demokratien, keine Konkurrenz-, sondern eine Konkordanzdemokratie. Deren Merkmale sind vor allem: Die Schweizer Regierung besteht nicht aus einem Koalitionsbündnis mehrerer Parteien, dem im Parlament eine Opposition gegenübersteht, sondern sie setzt sich proportional aus Mitgliedern aller größeren Parteien zusammen, die zusammen eine Mehrheit der Wählerschaft repräsentieren (siehe auch: Zauberformel). Die Politik der Regierung wird von den Parlamentsfraktionen der Regierungsparteien immer nur von Fall zu Fall unterstützt, sodass sich diese größeren Parteien zugleich in der Regierung und in der Opposition befinden. Bulgarien Zwischen 2005 und 2009 bestand zwischen der Bulgarischen Sozialistischen Partei, der Nationalen Bewegung Simeon der Zweite und der Bewegung für Rechte und Freiheiten eine Große Koalition im bulgarischen Parlament. Griechenland In Griechenland herrschte 1967–1974 eine Militärdiktatur. Nach Wiedereinführung der Demokratie kristallisierten sich die Parteien PASOK und Nea Dimokratia als die beiden großen Parteien heraus. Bis 2011 kam es zu keiner großen Koalition. Im November 2011 bot – nach fast zweijährigem Kampf gegen die griechische Finanzkrise, die auch Teil einer Eurokrise ist – der bis dahin regierende Ministerpräsident Giorgos Andrea Papandreou seinen Rücktritt an. Der griechische Staatspräsident wirkte massiv auf die beiden Parteien ein, bis zu Neuwahlen eine Große Koalition zu bilden. Kai Strittmatter (Süddeutsche Zeitung) kommentierte: Island Nach der Parlamentswahl in Island 2007 bestand nach zwölf Jahren liberal-konservativer Regierung eine Große Koalition aus der konservativen Unabhängigkeitspartei und der sozialdemokratischen Allianz. Diese hielt allerdings nur zwei Jahre lang. Nach der Parlamentswahl in Island 2013 kam es mit der Koalition von Unabhängigkeitspartei und Fortschrittspartei erneut zu einer Großen Koalition. Italien Japan In Japan wurde angesichts der wiederholten politischen Lähmung des Landes in den letzten Jahrzehnten (Nejire Kokkai) immer wieder die Bildung einer Großen Koalition (, dairenritsu) der Liberaldemokratischen Partei (LDP) mit der jeweils größten Oppositionspartei ins Spiel gebracht. Historisch wurde während der Besatzungszeit nach dem Pazifikkrieg über eine Große Koalition zwischen Liberaler Partei Japans (LPJ) und Sozialistischer Partei Japans (SPJ) verhandelt. Erstmals verwirklicht wurde eine „große“ Koalition aber erst ab 1994 zwischen LDP und SPJ im Kabinett Murayama, wobei die SPJ allerdings bereits 1993 nur noch knapp zweitstärkste Partei geworden war, während ihrer Regierungsbeteiligung zahlreiche Abgeordnete verlor (im Unterhaus von 70 1993 auf 30 vor den Wahlen 1996) und nach den Wahlen 1996, als sie noch mal die Hälfte ihrer Unterhausmandate verlor, als kleine Sozialdemokratische Partei aus der Regierungskoalition ausschied. In späteren Jahren diskutierte die LDP mehrfach über eine Große Koalition, insbesondere mit der Neuen Fortschrittspartei von Ichirō Ozawa (1996) und der Demokratischen Partei unter Ichirō Ozawa (2007) sowie nach dem Großen Ostjapanischen Erdbeben 2011 unter Naoto Kan; diese Gespräche erreichten aber nicht den Status konkreter Koalitionsverhandlungen. Luxemburg In Luxemburg gibt es den Begriff der Großen Koalition nicht. Dort stellte die konservative Christlich Soziale Volkspartei in den letzten Jahrzehnten immer die größte Fraktion. Von 1979 bis 2013 stellte diese Partei den Premierminister und hatte dabei stets die zweitstärkste Partei als Koalitionspartner. Zwischen 1999 und 2004 war die liberale Demokratesch Partei zweitstärkste Partei, zwischen 1979 und 1999 sowie zwischen 2004 und 2013 war es die Lëtzebuerger Sozialistesch Aarbechterpartei. Nach den Wahlen 2013 kam es zu einer Gambia-Koalition, wodurch die CSV nunmehr der Opposition angehört, obwohl sie nach wie vor stärkste Partei in der Chambre des Députés ist. Niederlande In den Niederlanden gibt es den Begriff der Großen Koalition nicht. Gleichwohl waren Christdemokraten und Sozialdemokraten meist die beiden stärksten Parteien im Parlament. Allerdings gibt es den Christen-Democratisch Appèl (CDA) offiziell erst seit 1980, davor war meist die Vorgängerpartei Katholieke Volkspartij (KVP) stärkste Kraft. Die Sozialdemokraten der Partij van de Arbeid (PvdA) waren in der Legislaturperiode 2002–2003 wegen der Lijst Pim Fortuyn nur drittstärkste Fraktion. Seit den Wahlen von 2010 und 2012 hat die rechtsliberale VVD die Position der stärksten Kraft im rechten Lager, während die Christdemokraten zur Mittelpartei herabgesunken sind. Für die 1950er- und 1960er-Jahre, als oftmals mehr Parteien in der Regierung vertreten waren als rechnerisch für die Mehrheit nötig, spricht man von den brede cabinetten (Kabinetten auf breiter Grundlage). Die Zusammenarbeit von KVP und PvdA nannte man rooms-rood, römisch-rot. Römisch-rote Kabinette gab es unter Willem Drees 1948–1958 und noch einmal kurz 1965/1966 unter dem Katholiken Jo Cals. Das Kabinett Cals hatte mit KVP und PvdA eine große Mehrheit im Parlament, nahm aber noch die protestantische ARP mit hinzu. Es endete dramatisch, nachdem die KVP-Fraktion auf mehr Zurückhaltung bei den Ausgaben gedrängt hatte (sogenannte Nacht von Schmelzer). PvdA und KVP arbeiteten von 1973 bis 1977 unter dem PvdA-Ministerpräsidenten Joop den Uyl zusammen. Sie hatten aber keine gemeinsame Mehrheit; vertreten waren in der Regierung auch noch eine protestantische, eine radikaldemokratische und eine sozialliberale Partei (ARP, PPR und D66). Überhaupt war die PvdA zusammen mit PPR und D66 ein lockeres Wahlbündnis eingegangen. Das Kabinett litt unter großen Spannungen vor allem zwischen Ministerpräsident Den Uyl und dem KVP-Justizminister Dries van Agt. Der CDA entstand 1977 zunächst als gemeinsame Wahlliste von KVP und zwei kleineren protestantischen Parteien (ARP und CHU). Offiziell kam der Zusammenschluss 1980 zustande. Gemeinsam in der Regierung vertreten waren CDA und PvdA in den Jahren 1981/1982 (Dries van Agt, zusammen mit D66), 1989–1994 (Ruud Lubbers) und 2007–2010 (Jan Peter Balkenende, zusammen mit der ChristenUnie). Alle CDA-Ministerpräsidenten haben damit während eines Teils ihrer Amtszeit mit den Sozialdemokraten regiert. Bei den niederländischen Parlamentswahlen am 12. September 2012 erzielte die VVD, die Partei des bisherigen Ministerpräsidenten Mark Rutte die meisten und die PvdA die zweitmeisten Stimmen. PvdA-Vorsitzender Diederik Samsom äußerte Bereitschaft, . Ukraine In der Ukraine wurde angesichts der anhaltenden politischen Lähmung des Landes immer wieder die Bildung einer Großen Koalition (/Schirka, deutsch wörtlich Die Breite) aus dem Block Julija Tymoschenko und der Partei der Regionen ins Spiel gebracht. Presseberichten zufolge standen die Verhandlungen über eine solche Koalition Anfang Juni 2009 kurz vor dem Abschluss. Die Koalition kam jedoch aufgrund tiefer Differenzen zwischen den Blöcken nie zustande. Trivia Der Begriff wurde früher auch für ein Bündnis von Staaten verwendet. Thomas Mann hat 1915 den Essay Friedrich und die große Koalition geschrieben. Literatur Sebastian Bukow, Wenke Seemann (Hrsg.): Die Große Koalition. Eine Bilanz. VS Verlag, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-531-16199-0. Jürgen Dittberner: Große Koalition. 1966 und 2005, in: APuZ 35–36/2007, S. 11–18. Christoph Egle, Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.): Die Große Koalition 2005-2009, VS Verlag, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-531-16796-1. Joachim Samuel Eichhorn: Durch alle Klippen hindurch zum Erfolg. Die Regierungspraxis der ersten Großen Koalition (1966-1969). Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2009, ISBN 978-3-486-58944-3 (Volltext online verfügbar) (Rezension) Lothar Höbelt (Hrsg.): Republik im Wandel. Die Große Koalition und der Aufstieg der Haider-FPÖ, Universitas Verlag, München 2001, ISBN 3-8004-1422-8. Benedikt Pott: Liebesheirat oder Zwangsehe? Regierungsbildungen zwischen CDU/CSU und SPD 1966 und 2005. Ein politikwissenschaftlicher Vergleich. Müller, Saarbrücken 2009, ISBN 978-3-8364-5730-9. Manfried Rauchensteiner: Die Zwei. Die Große Koalition in Österreich 1945-1966. Österreichischer Bundesverlag, Wien 1987, ISBN 3-215-06433-2. Paulina Starski: Die 'Große Koalition' als Problem des Verfassungsrechts – Recht auf effektive Opposition vs. Gleichheit der Abgeordneten. In: Die öffentliche Verwaltung (DÖV) 18, 750–761 (2016)(). Weblinks Einzelnachweise Regierungskoalition Politik (Zweite Republik Österreich) Politik (Deutschland)
1894
https://de.wikipedia.org/wiki/Georgius%20Agricola
Georgius Agricola
Georg Agricola oder Georgius Agricola, latinisiert aus Georg Bauer (* 24. März 1494 in Glauchau; † 21. November 1555 in Chemnitz), war ein deutscher Arzt, Apotheker und Wissenschaftler, der als „Vater der Mineralogie“ und als Begründer der modernen Geologie und Bergbaukunde gilt. Als herausragender Renaissance-Gelehrter und Humanist zeichnete er sich außerdem durch besondere Leistungen in Pädagogik, Medizin, Metrologie, Philosophie und Geschichte aus. Biografie Jugendjahre und Studium Georg Bauer wurde 1494 als zweites von sieben Kindern eines Tuchmachers und Färbers in Glauchau geboren. Dort erhielt er seinen ersten Unterricht, so dass er im Alter von zwölf Jahren nach Chemnitz in die Lateinschule gehen konnte. Er tauchte zwar kurz in Magdeburg auf, aber sicher ist erst wieder seine Immatrikulation an der Universität Leipzig. Dort studierte er von 1514 bis 1518 alte Sprachen (vor allem Latein und Griechisch) bei Petrus Mosellanus (1493–1524), einem Anhänger des Erasmus von Rotterdam, der ihn anschließend in Zwickau empfahl. So wurde Bauer (latinisiert Agricola) dort zuerst Konrektor (1518), dann als Nachfolger seines Freundes Stephan Roth, den es nach Joachimsthal zog, Rektor der Zwickauer Ratsschule (1519) und schuf einen neuen Schultyp mit Latein-, Griechisch- und Hebräisch-Unterricht in Kombination mit Gewerbekunde: Ackerbau, Weinbau, Bau- und Messwesen, Rechnen, Arzneimittelkunde und Militärwesen. Seine erste Publikation, eine Grammatik der lateinischen Sprache (Libellus de prima ac simplici institutione grammatica), erschien 1520 in Leipzig. Aufenthalt in Italien Nachdem Agricola 1522 erneut in Leipzig studiert hatte, diesmal Medizin, Physik und Chemie sowie zusätzlich geisteswissenschaftliche Fächer, ging er 1523 an die Universitäten von Bologna und Padua. 1524 begab er sich nach Venedig, um im Verlag Aldus Manutius die Galen-Ausgabe zu bearbeiten. 1526 kehrte er nach Chemnitz zurück. Zurück in Deutschland Im Jahre 1527 heiratete Agricola die Witwe Anna Meyner aus Chemnitz und ließ sich nun als Arzt und Apotheker in St. Joachimsthal (heute: Jáchymov) nieder, wahrscheinlich auf Vermittlung des dort ansässigen und nach Erfurt zurückwechselnden Georg Sturtz. 1531 wurde er Stadtarzt in Chemnitz, dort hatte er viermal das Bürgermeisteramt inne (1546, 1547, 1551 und 1553). Zudem war er im Staatsdienst als sächsischer Hofhistoriograph beschäftigt. Als Universalgelehrter forschte Agricola im Bereich der Medizin, Pharmazie, Alchemie, Philologie und Pädagogik, Politik und Geschichte, Metrologie, Geowissenschaften und Bergbau. Agricola verband humanistische Gelehrsamkeit mit technischen Kenntnissen. So entstand sein Erstlingswerk Bermannus, sive de re metallica (1530), in dem er Verfahren zur Erzsuche und -verarbeitung sowie Metallgewinnung ebenso beschreibt wie die Fortschritte der Bergbautechnik, das Markscheidewesen, den Transport, die Aufbereitung und die Verarbeitung der Erze. In De Mensuris et ponderibus von 1533 beschreibt er die griechischen und römischen Maße und Gewichte – seinerzeit gab es keine einheitlichen Maße, was den Handel erheblich behinderte. Dieses Werk legte den Grundstein für Agricolas Ruf als humanistischer Gelehrter. Mit mehreren Werken begründete Agricola die Geowissenschaften: So beschreibt er die Entstehung der Stoffe im Erdinneren in De ortu et causis subterraneorum von 1544, die Natur der aus dem Erdinneren hervorquellenden Dinge in seinem Werk De natura eorum, quae effluunt ex terra von 1545, Mineralien in De natura fossilium sowie die Erzlagerstätten und den Erzbergbau in alter und neuer Zeit (De veteribus et novis metallis). Auch der Meurer-Brief (Epistula ad Meurerum) von 1546 gehört zu diesen Werken. Agricola war zweimal verheiratet und hatte (mindestens) sechs Kinder. Seine erste Frau starb 1540. Zwei Jahre später heiratete er im Alter von 48 Jahren die 30 Jahre jüngere Tochter Anna von Ulrich Schütz d. J., dem ehemaligen Besitzer der Saigerhütte Chemnitz. Dadurch heiratete er in die damals reichste Chemnitzer Familie ein. Am 21. November 1555, im Alter von 61 Jahren, starb er in Chemnitz. Nach der Reformation in Sachsen verweigerte die Stadt dem katholischen Agricola die Beerdigung auf Chemnitzer Flur. Auf Initiative seines Freundes, des Gelehrten und Bischofs Julius Pflugk von Zeitz, wurde er daraufhin in der Schlosskirche von Zeitz begraben. De natura fossilium libri X Gegründet auf viele eigene Untersuchungen fasste Agricola in den zehn Büchern von De natura fossilium (1546) das mineralogische und geologische Wissen seiner Zeit zusammen. Unter Fossilien verstand man damals nicht nur versteinerte Lebewesen, sondern auch Steine und Mineralien. Das Werk gilt als erstes umfassendes Lehrbuch bzw. Handbuch der Mineralogie, welches sich eines systematischen wissenschaftlichen Ansatzes bediente. Darin werden Vorkommen, Gewinnung, Eigenschaften und Verwendung von Mineralien beschrieben. Vor allem klassifizierte Agricola die Mineralien anhand ihrer physikalischen Eigenschaften wie Form, Farbe, Transparenz, Glanz und Gewicht (Dichte). Im ersten Buch werden allgemeine Mineraleigenschaften behandelt, im zweiten Erden, gefolgt von Büchern über „magere“ und „fette“ Salze (Bitumen). Im fünften bis siebten Buch werden unter anderem Edelsteine beschrieben, im achten und neunten Buch metallische Schlacken. Das zehnte Buch schließlich befasst sich mit mineralischen Gemischen. Im siebten Buch wurde von ihm auch der Gesteinsbegriff Basalt geprägt und das Vulkanitvorkommen bei Stolpen aufgeführt. Hauptwerk – De re metallica libri XII Durch zahlreiche Reisen im Bergbaurevier des sächsischen und böhmischen Erzgebirges gewann Agricola einen Überblick über die gesamte Technik des Bergbaus und Hüttenwesens zu seiner Zeit. Das Ergebnis ist sein ein Jahr nach seinem Tod in lateinischer Sprache in Basel 1556 erschienenes Hauptwerk De re metallica libri XII. Es handelt sich um die erste systematische technologische Untersuchung des Berg- und Hüttenwesens und blieb zwei Jahrhunderte lang das maßgebliche Werk zu diesem Thema. Später wurde es in zahlreiche andere Sprachen übersetzt. Philippus Bechius (1521–1560), ein Freund Agricolas und Professor an der Universität Basel, übertrug die Schrift ins Deutsche und veröffentlichte sie 1557 unter dem Titel Vom Bergkwerck XII Bücher. Der erste Band stellt eine zeitgemäße Apologie dar und vergleicht den Bergbau mit anderen Gewerben, beispielsweise der Landwirtschaft oder dem Handel. Im zweiten Band werden die Erschließungsbedingungen erörtert, also geographische Beschaffenheit, Wasserhaltung, Wege, Bodenbesitz und Landesherrschaft; im dritten Band das Markscheidewesen. Der vierte Band äußert sich zur Verteilung der Grubenfelder und den Pflichten des Bergbeamten. Im fünften Band werden die verschiedenen Schachtarten und ihr Ausbau beschrieben, zudem der Gangbau und das Vermessen unter Tage. Die mathematischen Aussagen dieses Bands enthalten mehrere Fehler, siehe Anmerkungen Nr. 35 und 37 der Ausgabe von 1961. Der sechste ist der umfangreichste Band und behandelt die Geräte und Maschinen des Bergbaus. Das Probieren der Erze findet sich im siebten Band, ihr Aufbereitungsprozess im achten Band. Das Schmelzen und die Verfahren zur Metallgewinnung inklusive einer Anleitung zum Schmelzofenbau finden sich im neunten Band. In den Bänden zehn, elf und zwölf geht es dann noch um das Scheiden von Edelmetallen, das Gewinnen von Salzen, Schwefel und Bitumen sowie um Glas. Im Gesamtwerk stehen ausschließlich objektive Eigenschaften zur Diskussion, alle Überlieferungen und alchemistische Aussagen werden auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht. Mangels einheitlicher Maße nimmt Agricola Bezug auf bekannte Angaben: oder Die Beschreibungen der Minerale bauen auf den Werken von Avicenna und Albertus Magnus auf. Agricola beschreibt sehr detailliert und durch viele Abbildungen illustriert die Werkzeuge der Metallgewinnung, aber immer nur sehr ungenau und lückenhaft den Prozess der Verhüttung. Dieses Buch der Metallkunde war auch Francis Bacon bekannt, der daraus wichtige Anregungen entnahm. Es enthält neben einer modernen Theorie der Entstehung von Erzgängen auch Abschnitte über Kobolde und Drachen in den Gruben, die Agricola „Lebewesen unter Tage“ (De animantibus subterraneis) nannte. Aus heutiger Sicht interessant sind Agricolas Beschreibungen von Umweltschäden durch Bergbau und Hüttenwesen. Auf den Abbildungen im dritten Buch sieht man deutlich, dass die Umgebung der Gruben und Schmelzöfen verwüstet war und nur noch Baumreste vorhanden waren. Im neunten Buch wird die Gefahr der Quecksilbergewinnung für die Hüttenarbeiter beschrieben: wenn sie im Wind stehen, fallen ihnen die Zähne aus. Postume Ehrungen 1926 gründeten Oskar von Miller, Schöpfer des Deutschen Museums, und Conrad Matschoß, Direktor des Vereins Deutscher Ingenieure und Nestor der deutschen Technikgeschichtsschreibung, die Georg-Agricola-Gesellschaft beim Deutschen Museum. Erstes Ziel der Gesellschaft war die Herausgabe der ersten modernen deutschen Ausgabe von Agricolas Hauptwerk. 1960 konstituierte sich beim Verein Deutscher Ingenieure – unter maßgeblicher Beteiligung des Deutschen Verbandes Technisch-Wissenschaftlicher Vereine e.V. und der Montanindustrie – die „Georg-Agricola-Gesellschaft zur Förderung der Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik e.V.“ 1961 benannte sich das Saalfelder Krankenhaus (heute Thüringen-Kliniken) „Georgius Agricola“. Die Universitätsbibliothek der TU Bergakademie Freiberg wurde 1980 nach Georg Agricola benannt. In Freiberg gibt es darüber hinaus eine Agricolastraße. Seit dem Jahr 1995 trägt die Fachhochschule Bergbau in Bochum den Namen Technische Hochschule Georg Agricola. Auch eine Straße in Zeitz ist nach ihm benannt, bis Ende März 2020 auch das kommunale Klinikum (jetzt SRH Klinikum Zeitz). Eine Studentenverbindung mit Sitz in Aachen und Clausthal-Zellerfeld gab sich 1948 den Namen Akademischer Verein Agricola Schlägel und Eisen und änderte ihn später in Agricola Akademischer Verein. Die Westsächsische Hochschule Zwickau besitzt einen Georgius-Agricola-Bau. In Glauchau und Chemnitz sowie in Hohenmölsen (Sachsen-Anhalt) gibt es Georgius-Agricola-Gymnasien. In den Städten Chemnitz, Clausthal-Zellerfeld, Glauchau, Schneeberg und Zwickau sind Straßen sowie die Glauchauer Stadtbibliothek nach ihm benannt. Der Asteroid des inneren Hauptgürtels (3212) Agricola ist nach ihm benannt. Schriften Bermannus sive de re metallica, Basel 1530 (Digitalisat) und Paris 1541 (mit einem Vorwort von Erasmus) De bello adversus Turcas, Nürnberg 1531, deutsch (Digitalisat/PDF) Ausgabe Basel 1538, lateinisch (Digitalisat/PDF) Ausgabe Leipzig 1594, lateinisch (Digitalisat/Transkript) De mensuris et ponderibus libri V, Paris 1533 Ausgabe Basel 1533 (Digitalisat) De ortu et causis subterraneorum libri V, Basel 1546 und 1558 De natura eorum, quae effluunt ex terra, Basel 1546 (Nachdruck: SNM, Bratislava 1996, ISBN 80-85753-91-X) De veteribus et novis metallis libri II, Basel 1546 De natura fossilium libri X, Basel 1546 De animantibus subterraneis liber, Basel 1549 (Nachdruck: VDI-Verlag, Düsseldorf 1978, ISBN 3-18-400400-7) De mensuris quibus intervalla metimur liber, 1550 De precio metallorum et monetis liber III, 1550 De peste libri tres Basel 1554 (Digitalisat) De re metallica libri XII, Basel 1556 (Digitalisate der ETH-Bibliothek Zürich) Vom Bergkwerck 12 Bücher (ins Deutsche übersetzt durch den Basler Arzt und Professor Philippus Bechius/Philipp Beck), Basel 1557 (Faksimile-Druck mit Kommentarband von Hans Prescher, VCH Verlagsgesellschaft, Weinheim 1985, ISBN 3-527-17535-0; andere Ausgabe: Verlag Glückauf, Essen 1985 mit begleitendem Text von Wilhelm Treue, ISBN 3-7739-0463-0). Digitalisat der Universität Innsbruck Berckwerck Buch (deutsche Übersetzung, gewidmet Joachim Strüppe), Frankfurt am Main (Sigmund Feyerabend) 1580 (Digitalisat) Ausgaben und Übersetzungen Hans Prescher (Hrsg.): Ausgewählte Werke. I–X und zwei Ergänzungsbände. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1955–1997. De natura fossilium libri X, englische Übersetzung von Mark Chance Bandy 1955 (Nachdruck: Dover Publ., Mineola, N.Y. 2004, ISBN 0-486-49591-4; Digitalisat). Zwölf Bücher vom Berg- und Hüttenwesen. Deutsche Übersetzung von Carl Schiffner zusammen mit Ernst Darmstaedter u. a., München 1928 (; Faksimile-Druck der 3. Auflage von 1953, VDI-Verlag, Düsseldorf 1961 und (deklariert als 4. Auflage.) 1978, ISBN 3-18-400400-7). Digitalisat der Universität Innsbruck Literatur Weblinks Webpage der TU Bergakademie Freiberg über das Leben und Wirken von Georgius Agricola Agricola-Forschungszentrum Chemnitz Agricola auf www.Historisches-Chemnitz.de Georg-Agricola-Gesellschaft zur Förderung der Geschichte der Naturwissenschaften und Technik Nachweis von digitalisierten neulateinischen Werken im Internet Agricola Projekt Von der EU gefördertes Projekt zur Rekonstruktion historischer Agricola-Anlagen durch Schüler aus Deutschland, Frankreich und Spanien Einzelnachweise Universalgelehrter Chemiker (16. Jahrhundert) Person (Bergbau) Geologe (16. Jahrhundert) Mineraloge Bürgermeister (Chemnitz) Bildung und Forschung in Leipzig Autor Literatur (16. Jahrhundert) Literatur (Neulatein) Sachliteratur Person (Glauchau) Deutscher Geboren 1494 Gestorben 1555 Mann Person als Namensgeber für einen Asteroiden
1896
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Geologie
Die Geologie (von „Erde“ und -logie) ist die Wissenschaft von Aufbau, Zusammensetzung und Struktur der Erdkruste, der Eigenschaften ihrer Gesteine und ihrer Entwicklungsgeschichte sowie der Prozesse, welche die Erdkruste formten und bis heute formen. Der Begriff wird auch für den geologischen Aufbau verwendet, etwa Die Geologie der Alpen. Die Bezeichnung Geologie im heutigen Sinn findet sich erstmals 1778 bei Jean-André Deluc (1727–1817). Als feststehenden Begriff führte sie 1779 Horace-Bénédict de Saussure (1740–1799) ein. Davor war die Bezeichnung Geognosie gebräuchlich. Grundzüge Geologen beschäftigen sich mit der Erdkruste, Gesteinen sowie Erdöl und -gas. Sowohl die räumlichen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Gesteinskörpern als auch die Zusammensetzung und innere Struktur der einzelnen Gesteine liefern Informationen zur Entschlüsselung der Bedingungen, unter denen diese entstanden sind. Der Geologe ist dabei für den Nachweis und die Erschließung von Rohstoffen wie Metallerzen, industriell genutzten Mineralien sowie Baustoffen wie Sanden, Kiesen und Tonen sowie neuerdings Silizium für die Solarindustrie zuständig, ohne die eine weitere wirtschaftliche Entwicklung nicht möglich wäre. Darüber hinaus ist er auch für die Sicherung von Trinkwasser sowie von Energierohstoffen wie Erdöl bzw. -gas und Kohle tätig. Schließlich obliegt den Geologen die Erkundung des Baugrundes, insbesondere bei größeren Bauprojekten, um Setzungen, Rutschungen und Grundbrüche langfristig zu vermeiden. Im Gelände oder unter Tage gliedert der Geologe die aufgeschlossenen (offen zugänglichen) Gesteine anhand von äußeren Merkmalen in definierte Einheiten. Diese Kartiereinheiten müssen sich bei dem gewählten Maßstab auf einer geologischen Karte, oder in einem geologischen Profil, darstellen lassen. Durch Extrapolation kann er so vorhersagen, wie die Gesteine im Untergrund mit großer Wahrscheinlichkeit gelagert sind. Die genauere Untersuchung der Gesteine (Petrographie, Petrologie) findet aber meist im Labor statt. Mit den einzelnen, teilweise mikroskopisch kleinen, Bestandteilen der Gesteine, den Mineralen, befasst sich die Mineralogie. Mit dem Fossilinhalt sedimentärer Gesteine beschäftigt sich die Paläontologie. Solche detaillierten Untersuchungen auf kleinem Maßstab liefern die Daten und Fakten für die großräumigen Untersuchungen der Allgemeinen Geologie. Die Geologie hat vielfältige Berührungspunkte mit anderen Naturwissenschaften, die als Geowissenschaften zusammengefasst werden. So betrachtet die Geochemie chemische Prozesse im System Erde – und nutzt Methoden aus der Chemie, um zusätzliche Informationen über geowissenschaftliche Fragestellungen zu erhalten. Ähnliches gilt für die Geophysik und Geodäsie. Selbst die Mathematik hat einen speziellen Zweig, die Geostatistik, hervorgebracht, der besonders im Bergbau Verwendung findet. Seit den 1970er Jahren besteht in den Geowissenschaften allgemein ein gewisser Trend von eher qualitativ beschreibenden Untersuchungen hin zu mehr quantitativ messenden Methoden. Trotz der erhöhten Rechenleistung moderner Computer stoßen solche numerischen Methoden, wegen der enormen Variabilität und Komplexität geowissenschaftlicher Parameter, immer noch an ihre Grenzen. Im Grenzgebiet zur Astronomie bewegt sich die Planetengeologie oder Astrogeologie als Teilgebiet der Planetologie, die sich mit der Zusammensetzung, dem inneren Aufbau und den formenden Prozessen auf fremden Himmelskörpern beschäftigt. Geologische Fragestellungen und die Anwendung geologischer Methoden außerhalb der Erde gewannen vor allem seit Beginn der Raumfahrt und der Erforschung unseres Sonnensystems mit Sonden und Satelliten an Bedeutung. Geschichte der Geologie Bereits in der Antike verfügten die Menschen schon seit langem über praktische Kenntnisse für die Suche nach mineralischen Rohstoffen, deren Abbau und Verwertung. Die ersten Versuche einer theoretischen Behandlung geologischer Fragestellungen, wie die Ursache von Erdbeben, oder die Herkunft von Fossilien, finden sich jedoch erst in der ionischen Naturphilosophie im 5. Jahrhundert v. Chr. Bis in die frühe Neuzeit hinein blieb die Lehre des Empedokles von den vier Elementen und die Lehre des Aristoteles von der Transmutation der Elemente auch richtungsweisend für die Vorstellungen über die Natur von Metallen, Mineralen und Gesteinen. Während des Niedergangs des Römischen Reiches in der Spätantike wurden diese Ansichten nur im östlichen, griechisch geprägten Teil überliefert, wo sie im frühen Mittelalter von arabischen Gelehrten, wie Ibn Sina, wieder aufgenommen wurden. In Westeuropa hingegen gingen selbst viele praktische Kenntnisse im Bergbau wieder verloren. Erst im 12. und 13. Jahrhundert begannen sich abendländische Alchemisten wieder mit der Bildung von Metallen und Gesteinen im Inneren der Erde zu befassen. Im Laufe der Renaissance wurden solche Spekulationen nicht nur von humanistischen Gelehrten, wie Paracelsus, ausgebaut, sondern auch um umfangreiche empirische Daten und praktische Methoden ergänzt, besonders von Georgius Agricola. Aus solchen Ansätzen entwickelte sich bis ins 17. Jahrhundert eine Art „Proto-Geologie“, die viele Gemeinsamkeiten mit der „Proto-Chemie“ des Ökonomen, Alchemisten und Bergbauingenieurs Johann Joachim Becher hatte. Einen wichtigen Schritt zur Etablierung der Geologie als eigenständige Wissenschaft ging der dänische Naturforscher Nicolaus Steno, indem er 1669 das stratigraphische Prinzip einführte. Hiermit begründete er den Grundsatz, dass die räumliche Lagerung von Sedimentschichten übereinander in Wirklichkeit einer zeitlichen Abfolge von Gesteinsablagerungen nacheinander entspricht. Auch Robert Hooke spekulierte etwa zur selben Zeit, ob man aus dem Fossilinhalt der Gesteine nicht den historischen Ablauf der Gesteinsbildung rekonstruieren könne. Im Lauf des 18. Jahrhunderts bemühten sich Bergwerksleiter und Ingenieure zunehmend um ein theoretisches Verständnis von geologischen Zusammenhängen. Hierbei entwickelten sie Mitte des Jahrhunderts die grundlegenden Methoden der geologischen Kartierung und der Erstellung stratigraphischer Profile. Der Beginn der Geologie als moderne Wissenschaft wird meist mit der Kontroverse zwischen den Denkrichtungen des Plutonismus und Neptunismus angesetzt. Als Begründer des Plutonismus gilt James Hutton (1726–97) mit seinem Postulat, alle Gesteine seien vulkanischen Ursprungs. Hutton popularisierte ebenfalls den Gedanken, dass die Erdgeschichte um viele Größenordnungen länger sei, als die menschliche Geschichte. Die Neptunisten wurden von Abraham Gottlob Werner (1749–1817) geführt, mit der heute verworfenen Grundannahme, alle Gesteine seien Ablagerungen eines primordialen Urozeans. Aus der Verbindung von Magmatismus, Sedimentation und Gesteinsumwandlung entwickelte sich im Folgenden die Vorstellung vom Kreislauf der Gesteine. Um 1817 etablierte William Smith den Gebrauch von Leitfossilien zur relativen Datierung der Schichten einer sedimentären Abfolge. Etwa in der Zeit von 1830 bis 1850 bildete der Streit zwischen Katastrophismus in der Nachfolge von Georges de Cuvier (1769–1832), und Aktualismus um Sir Charles Lyell (1797–1875) die zweite große Kontroverse in der Geschichte der Geologie. Während die Katastrophisten von plötzlichen und globalen Umwälzungen in der Erdgeschichte ausgingen, mit anschließender Neuschöpfung der ausgerotteten Lebewesen, betonten die Aktualisten die gleichmäßige und stetige Entwicklung der Erde in unzähligen kleinen Schritten, die sich im Laufe langer Zeiträume nach und nach akkumulieren (Gradualismus). Auch Charles Darwin (1809–1882) folgte in seiner Evolutionstheorie, mit ihrer langsamen Entwicklung neuer biologischer Arten, weitgehend dem aktualistischen Prinzip. In der Folge befassten sich die Geologen vermehrt mit den Problemen der Gebirgsbildung und den globalen Bewegungen der Erdkruste. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dominierte die auf Léonce Élie de Beaumont (1798–1874) zurückgehende Vorstellung, dass die weltweiten Gebirgsgürtel das Resultat der Abkühlung und Schrumpfung des Erdkörpers seien. Aus der Beobachtung von gefalteten und tektonisch gestörten Gesteinen entwickelte James Dwight Dana (1813–1895) um 1875 die Geosynklinal-Theorie. Dieses tektonische Erklärungsmodell wurde von Eduard Suess (1831–1914) und Hans Stille (1876–1966) maßgeblich weiter entwickelt. Hierbei wurden die geotektonischen Hypothesen vom Prinzip des Fixismus dominiert. Die Position der Kontinente und Ozeane zueinander galt als weitgehend unveränderlich. Seitliche Bewegungen der Erdkruste, deren Spuren man in Faltengebirgen oder an regionalen Spaltensystemen beobachten konnte, wurden als weitgehend lokale Phänomene angesehen. Hingegen galten vertikale Bewegungen der Erdkruste als ausschlaggebend für die Absenkung von Ozeanbecken oder den Aufstieg von Landbrücken zwischen den Kontinenten. Die ersten wichtigen Vorstellungen, über die Möglichkeit bedeutender horizontaler Bewegungen von Festlandsmassen, finden sich in der Kontinentaldrift-Hypothese Alfred Wegeners (1880–1930) aus dem Jahr 1915. Der Durchbruch des Mobilismus erfolgte aber erst drei Jahrzehnte später, als grundlegend neue Beobachtungen der Geophysik und Ozeanographie zur Entwicklung der heute allgemein akzeptierten Theorie der Plattentektonik führten. Allgemeine Geologie Die Allgemeine Geologie befasst sich mit den Kräften, die auf den Erdkörper einwirken und mit den Prozessen, die in großem Maßstab zur Gesteinsbildung beitragen. Jedes Gestein kann anhand seiner spezifischen Ausbildung (Gefüge, Struktur) einer der drei großen Gesteinsklassen zugeordnet werden: Sedimentite, Magmatite und Metamorphite. Jedes Gestein kann durch geologische Vorgänge in ein Gestein der jeweils anderen beiden Familien umgewandelt werden (Kreislauf der Gesteine). Die Prozesse, die an der Erdoberfläche wirken, werden als exogen, die im Erdinneren als endogen bezeichnet. Exogene Dynamik Die exogene Dynamik (auch exogene Prozesse) wird durch auf die Erdoberfläche einwirkende Kräfte wie Schwerkraft, Sonneneinstrahlung und Rotation der Erde generiert und führt zur Bildung von Sedimentgesteinen. Dies geschieht durch physikalische Erosion anderer Gesteine durch Wind, Wasser oder Eis, und Massenbewegungen großer Gesteinsmengen, wie Bergstürze, chemische Verwitterung, physikalische Ablagerung des zerkleinerten Materials (Detritus) in Form klastischer Sedimente (Schotter, Sand, Ton usw.) und die nachfolgende Verfestigung der Lockergesteine zu Festgesteinen (Diagenese) chemische Ausfällung von Evaporiten (wie etwa anorganische Kalke, Gips, Salz) und biogene Bildung von Sedimenten (wie die meisten Kalksteine oder Diatomit). Ein eigenes, komplexes Gebiet exogener Prozesse behandelt die Bodenkunde. Die Quartärgeologie befasst sich mit den Vorgängen und Ablagerungen der letzten Eiszeiten im Quartär, die einen großen Teil der heutigen Landschaftsformen auf der nördlichen Hemisphäre prägen. Endogene Dynamik Die endogene Dynamik (auch endogene Prozesse) beruht auf Kräften innerhalb der Erdkruste, wie Spannungen, Wärmeentwicklung durch radioaktive Zerfallsprozesse oder dem Magmakern der Erde und führt zur Bildung von Metamorphiten und Magmatiten. Sie beginnt mit der Erhöhung des Drucks, unter der andauernden Ablagerung von weiteren Sedimenten auf die unterlagernden Schichten. Durch Entwässerung, Kompaktion und Verfestigung (Diagenese) wird aus den Lockersedimenten festes Gestein, wie etwa Sandstein. Die Verformung von Gesteinen und die Rekristallisierung von Mineralen, unter zunehmend höherer Temperatur und steigendem Druck, wird als Metamorphose bezeichnet. Dabei bleibt das Gestein aber zunächst noch in festem Zustand. Aus magmatischen Gesteinen und grobkörnigen Sedimenten entstehen dabei oft Ortho- und Para-Gneise, aus feinen Sedimenten Schiefer. Schließlich kann es aber doch zur Aufschmelzung der Gesteine kommen (Anatexis). Glutflüssige Magmen steigen dann wieder aus dem Erdmantel auf. Wenn die Magmen in der Erdkruste stecken bleiben und erkalten, bilden sich Plutonite, etwa aus Granit, wenn sie die Erdoberfläche erreichen, kommt es zur Bildung von Vulkaniten wie Lava oder vulkanische Asche. Die Bewegungen, die die Oberflächengesteine in die Tiefe verfrachten, verformen und falten, aber gleichzeitig die Tiefengesteine wieder an die Oberfläche bringen, sowie die Spuren, die diese Kräfte in den Gesteinen hinterlassen, wie Faltung, Scherung und Schieferung, werden von der Tektonik und der Strukturgeologie untersucht. Historische Geologie Die historische Geologie erforscht die Geschichte der Erde von ihrer Entstehung bis zur Gegenwart im Allgemeinen, und die Entwicklungsgeschichte (Evolution) der Lebewesen im Besonderen. Mit diesem historischen Ansatz stellt die Geologie (zusammen mit der physikalisch-astronomischen Kosmologie) eine Ausnahme innerhalb der Naturwissenschaften dar. Letztere befassen sich vorrangig mit dem Ist-Zustand ihres Studienobjekts und weniger mit dessen Werden. Als Informationsquellen dienen in der Geologie die Ausbildung der Gesteine (Lithofazies) und die in ihnen eingeschlossenen Fossilien (Biofazies). Die Gliederung der Erdgeschichte in einer geologischen Zeitskala erfolgt durch stratigraphische und geochronologische Methoden. Stratigraphie Die Grundlage der Stratigraphie bildet ein einfaches Prinzip: die Lagerungsregel. Eine Schicht im Hangenden (‚oben‘) wurde später abgelagert als die Schicht im Liegenden ('unten'). Allerdings sollte beachtet werden, dass ursprünglich horizontal abgelagerte Schichten durch spätere tektonische Bewegungen verstellt oder sogar überkippt sein können. In diesem Fall ist man auf die Existenz von eindeutigen Oben-Unten-Kriterien angewiesen, um die ursprüngliche Lagerung zu bestimmen. Weiterhin gilt, dass Schichten, die solche verstellten Gesteine mit einer Diskordanz überlagern, das heißt schiefwinklig zur Schichtung, ebenfalls jünger sind als letztere. Dasselbe gilt aber auch für magmatische Gänge und Intrusionen aus der Tiefe, die die Schichten von unten durchschlagen. Bei der Erstellung eines stratigraphischen Profils werden besonders Erkenntnisse der Paläontologie angewandt. Wenn die Reste eines bestimmten Lebewesens nur in ganz bestimmten Schichten auftreten, gleichzeitig aber eine weite, überregionale Verbreitung haben, und möglichst unabhängig von örtlichen Variationen der Ablagerungsbedingungen sind, dann spricht man von einem Leitfossil. Alle Schichten, in denen sich diese Leitfossilien finden, haben somit dasselbe Alter. Nur wenn keine Fossilien vorhanden sind, muss man Zuflucht zur Lithostratigraphie nehmen. Dann kann die Zeitgleichheit bestimmter Schichten nur bei seitlicher Verzahnung nachgewiesen werden. Um tektonische Abläufe zu rekonstruieren, untersucht der Geologe den Versatz und die Verformung der Gesteine durch Klüftung, Schieferung, Störung und Faltung. Auch hier sind diejenigen Strukturen die jüngsten, die die anderen durchschlagen, aber selbst nicht versetzt sind. Die Kunst ist hier „Verwickeltes einfach, Ruhendes bewegt zu sehen.“ (Hans Cloos) Geochronologie Ein prinzipielles Problem ist hierbei die Tatsache, dass man mit obigen Methoden nur eine relative Zeitskala, ein Vorher-Nachher der verschiedenen Gesteinsbildungen, aber keine absoluten Datierungen erhält. Zwar hatte man schon früh versucht, die Sedimentationsraten bestimmter Gesteine zu schätzen, aber die meiste Zeit „steckt“ ja nicht in den Schichten selbst, die sich in relativ kurzer Zeit gebildet haben können, sondern vor allem in den Lücken zwischen den Schichten und in den Diskordanzen zwischen verschiedenen Schichtpaketen. Deshalb reichte die absolute Zeitskala, die mit Hilfe von Jahresringen in Bäumen (Dendrochronologie), oder durch Auszählung der Warven-Schichtung in Ablagerungen der letzten Eiszeit gewonnen wurde, nur wenige tausend Jahre zurück. Erst mit der Entdeckung der natürlichen Radioaktivität fanden sich zuverlässige Methoden für die absolute Datierung, auch von ältesten Gesteinen. Diese basieren auf den bekannten Zerfallsraten von radioaktiven Isotopen innerhalb der Minerale und Gesteine, zuweilen kombiniert mit paläomagnetischen Messungen. Siehe auch: Entstehung der Erde, Strontiumisotopenanalyse, Kalium-Argon-Methode, Radiokarbon-Methode, so wie die detailliertere Chronologie der Erdgeschichte Aktualismus Um aus der heutigen Situation Rückschlüsse auf die Vergangenheit ziehen zu können, bedienen sich die Geologen des Prinzips des Aktualismus. Dieses lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Der Schlüssel zur Vergangenheit ist die Gegenwart. Findet ein Geologe z. B. alte Gesteine, die fast identisch mit ausgeflossenen Laven eines heute aktiven Vulkans sind, dann kann er davon ausgehen, dass es sich bei dem gefundenen Gestein ebenfalls um vulkanisches Material handelt. Allerdings lässt sich der Aktualismus nicht auf alle Gesteine anwenden. Die Bildung von Eisenerzlagerstätten (BIF—„Banded Iron Formations“) lässt sich etwa heute nicht mehr beobachten, da sich die chemischen Bedingungen auf der Erde derart geändert haben, dass die Entstehung solcher Gesteine nicht mehr stattfindet. Andere Gesteine bilden sich eventuell in solchen Tiefen, dass ihre Bildung außerhalb des Zugriffs des Menschen liegt. Um die Entstehung solcher Gesteine zu verstehen, greifen die Geowissenschaftler auf Laborexperimente zurück. Angewandte Geologie Die angewandte Geologie beschäftigt sich mit der praktischen Nutzbarmachung geologischer Forschung in der Gegenwart. Der Nutzen besteht nicht nur in der effizienten Ausbeutung der natürlichen Ressourcen der Erde, sondern auch in der Vermeidung von Umweltschäden und der Frühwarnung vor Naturkatastrophen, wie Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Tsunamis. Sie gliedert sich in eine Vielzahl unterschiedlichster Felder, die sich sowohl untereinander als auch mit anderen Wissenschaften verzahnen. Siehe: Geowissenschaften Einige wichtige Teilgebiete der angewandten Geologie sind beispielsweise: die Hydrogeologie, die sich mit dem Fließverhalten und der Qualität des (Grund-)Wassers beschäftigt und unter anderem bei der Trinkwassergewinnung und dem Hochwasserschutz von Bedeutung ist; die Ingenieurgeologie, die sich beispielsweise der Statik des Bodens beim Bau von Gebäuden widmet; die Lagerstättenkunde oder Montangeologie, die sich als ältester Forschungsbereich der Geologie mit der Erforschung von natürlichen Bodenschätzen (Kohle, Erdöl, Erdgas, Erze usw.) befasst; die Bodenkunde, die sich mit der Qualität, Zusammensetzung und Horizontalabfolge von Böden beschäftigt; die Umweltgeologie. Es besteht eine enge Verzahnung angewandter geologischer Gebiete mit anderen Disziplinen, wie etwa Bauingenieurwesen, Bergbau- und Hüttenwesen, Materialkunde oder Umweltschutz. Siehe auch Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe GeoUnion Alfred-Wegener-Stiftung Deutsche Gesellschaft für Geowissenschaften Geological Society of London Geologische Vereinigung Geologische Bundesanstalt Geologie Österreichs Wollaston-Medaille Liste geologischer Begriffe Liste von Geologen Liste geologischer Museen Literatur Toni Labhart: Geologie – Einführung in die Erdwissenschaften. Bern 1988, ISBN 3-444-50063-7. Heinrich Bahlburg, Christoph Breitkreuz: Grundlagen der Geologie. 2. Auflage. Spektrum, Heidelberg 2003, ISBN 3-8274-1394-X. Frank Press, Raymond Siever: Allgemeine Geologie. 3. Auflage. Spektrum, Heidelberg 2003, ISBN 3-8274-0307-3 (Originalausgabe: Understanding Earth. Freeman, New York). Peter Faupl: Historische Geologie. 2. Auflage. (UTB 2149). Facultas, Wien 2003, ISBN 3-8252-2149-0. Steven M. Stanley: Historische Geologie. 2. Auflage. Spektrum, Heidelberg 2001, ISBN 3-8274-0569-6. Helmut Hölder: Kurze Geschichte der Geologie und Paläontologie. Springer, Berlin 1989, ISBN 3-540-50659-4. Alan Cutler: Die Muschel auf dem Berg. Knaus, München 2004, ISBN 3-8135-0188-4. Dierk Henningsen, Gerhard Katzung: Einführung in die Geologie Deutschlands. 6. Auflage. Spektrum, Heidelberg 2002, ISBN 3-8274-1360-5. Hans Murawski, Wilhelm Meyer: Geologisches Wörterbuch. Spektrum, Heidelberg 2004, ISBN 978-3-8274-1445-8. Richard C. Selley, L. Robin M. Cocks, Ian R. Plimer (Hrsg.): Encyclopedia of geology. Elsevier Academic Press, Amsterdam u. a. O. 2005, ISBN 0-12-636380-3. Weblinks Berufsverbände BDG – Berufsverband Deutscher Geowissenschaftler GV – Geologische Vereinigung DGG – Deutsche Gesellschaft für Geowissenschaften (ehem. Deutsche Geologische Gesellschaft e. V.) CHGEOL – Schweizer Geologenverband Universitäten (inkl. freies Kursmaterial) GEO-LEO – Virtuelle Fachbibliothek Geowissenschaften, Geographie, Bergbau, Thematische Karten Vorlesung Dynamik der Erde. Videoaufzeichnungen einer Vorlesung zur Geologie. Von TIMMS, Tübinger Internet Multimedia Server der Eberhard Karls Universität Tübingen Free Course Material, MIT, Earth and Planetary Sciences (englisch) Scott T. Marshall, Appalachian State University (Vorlesungen zur Geologie) (englisch) Ken Hon, University of Hawaii, Hilo (Vorlesungen zur Geologie) (englisch) Wissenschaftliches Fachgebiet
1897
https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeines%20Abkommen%20%C3%BCber%20den%20Handel%20mit%20Dienstleistungen
Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen
Das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (; GATS) ist ein internationales, multilaterales Handelsabkommen der Welthandelsorganisation (WTO), das den grenzüberschreitenden Handel mit Dienstleistungen regelt und dessen fortschreitende Liberalisierung zum Ziel hat. Das Übereinkommen soll der zunehmenden Bedeutung des Handels mit Dienstleistungen für das Wachstum und die Entwicklung der Weltwirtschaft Rechnung tragen und einen multilateralen Rahmen von Grundsätzen und Regeln für den Handel mit Dienstleistungen schaffen. Die Ausweitung dieses Handels soll durch Markttransparenz und durch fortschreitende Liberalisierung erleichtert werden und das Wirtschaftswachstum aller Handelspartner sowie speziell die Weiterentwicklung der Entwicklungsländer sollen gefördert werden. Diese Ziele sollen durch aufeinanderfolgende Runden weiterer multilateraler Verhandlungen erreicht werden. Ausdrücklich sollen die zunehmende Beteiligung der Entwicklungsländer am Handel mit Dienstleistungen und die Ausweitung ihrer Dienstleistungsausfuhren erleichtert werden und die schwerwiegenden Probleme der am wenigsten entwickelten Länder angesichts ihrer besonderen wirtschaftlichen Lage und ihrer Bedürfnisse im Entwicklungs-, Handels- und Finanzbereich sollen berücksichtigt werden. Die Europäische Gemeinschaft hat hinsichtlich ihrer Zuständigkeit die Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986–1994) genehmigt und die rechtsverbindliche Unterzeichnung des Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation freigegeben. Damit konnte auch GATS, das im Anhang 1 des Übereinkommens enthalten war, EG-weit in Kraft treten. Inhalt Das Übereinkommen gliedert sich in die Artikel I bis Artikel XXIX. Einige wichtige Artikel seien nachfolgend besonders erwähnt. Artikel I Geltungsbereich und Begriffsbestimmung Als Geltungsbereich sind Maßnahmen der Mitgliedsstaaten zu sehen, die den Handel mit Dienstleistungen beeinträchtigen. Ausgenommen vom Geltungsbereich sind Dienstleistungen, die in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbracht werden. In Ausübung hoheitlicher Gewalt erbracht werden Dienstleistungen, die weder zu kommerziellen Zwecken noch im Wettbewerb mit einem oder mehreren Dienstleistungserbringern erbracht wird. Der Handel mit Dienstleistungen unterscheidet bei der Erbringung einer Dienstleistung vier Varianten: aus dem Hoheitsgebiet eines Mitglieds in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitglieds (Mode 1: Grenzüberschreitende Lieferungen) Die Dienstleistung wird vom Heimatland des Anbieters zum Konsumenten ins Ausland transferiert (z. B. E-Banking, wenn die Dienstleistung per Internet oder Telefon zu einem ausländischen Kunden übermittelt wird, E-Learning). im Hoheitsgebiet eines Mitglieds an den Dienstleistungsnutzer eines anderen Mitglieds (Mode 2: Ausländischer Konsum im Inland) Die Dienstleistung wird im Heimatland des Anbieters für einen ausländischen Konsumenten erbracht (z. B. (Auslands-)Tourismus, Aufsuchen eines Zahnarztes im Ausland, Studenten aus dem Ausland). durch einen Dienstleistungserbringer eines Mitglieds mittels kommerzieller Präsenz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitglieds (Mode 3: Handelsniederlassungen im Ausland) Die Dienstleistung wird im Heimatland des Konsumenten durch die Niederlassung eines ausländischen Anbieters erbracht (z. B. Direktinvestitionen oder Joint-Ventures im Ausland, Sprachschule eines ausländischen Anbieters). durch einen Dienstleistungserbringer eines Mitglieds mittels Präsenz natürlicher Personen eines Mitglieds im Hoheitsgebiet eines anderen Mitglieds (Mode 4: Natürliche Personen im Ausland) Die Dienstleistung wird im Heimatland des Konsumenten durch eine ausländische, natürliche Person erbracht (z. B. Persönliche Beratung durch einen ausländischen Rechtsanwalt (in seinem Heimatrecht) im Inland; Erntehelfer aus dem Ausland, muttersprachliches Lehrpersonal an einer Sprachschule). Artikel II Meistbegünstigung Jeder Mitgliedstaat gewährt Handelsvorteile, die einem Staat gewährt werden, im Zuge der Gleichberechtigung auch allen anderen Mitgliedstaaten. So soll es unmöglich werden, Handelsvergünstigungen nur einzelnen oder wenigen Staaten zu gewähren. Allerdings verweist der Artikel auf eine Anlage, in der zulässige Ausnahmen von der Meistbegünstigung aufgelistet sind und die nach Artikel XXIX als wesentlicher Bestandteil des Übereinkommens gelten. Diese Anlage ist fast so lang wie das Übereinkommen selbst. Eine Ausnahme von der Meistbegünstigung gilt namentlich für regionale Integrationsabkommen nach Artikel V, so dass beispielsweise die EU Handelsvorteile ihres Binnenmarkts nicht auch Drittstaaten gewähren muss. Artikel III Transparenz Artikel IV Zunehmende Beteiligung der Entwicklungsländer Artikel V Wirtschaftliche Integration Artikel VI Innerstaatliche Regelung Artikel VII Anerkennung Artikel VIII Monopole und Dienstleistungserbringer mit ausschließlichen Rechten Artikel IX Geschäftspraktiken Artikel XI Zahlungen und Übertragungen Artikel XII Beschränkungen zum Schutz der Zahlungsbilanz Artikel XIII Öffentliches Beschaffungswesen Artikel XIV Allgemeine Ausnahmen Artikel XIV bis Ausnahmen zur Wahrung der Sicherheit Artikel XV Subventionen Artikel XVI Marktzugang Artikel XVII Inländerbehandlung Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ausländische Anbieter inländischen gleichzustellen. Staatliche Aufwendungen müssen auch privaten Anbietern aus dem Ausland zur Verfügung stehen. Die folgenden Artikel befassen sich mit der angestrebten fortschreitenden Liberalisierung. Dazu gehört nach Artikel XX, dass in einer Liste jedes Mitglied die spezifischen Verpflichtungen festlegt, die es nach Artikel XVI, XVII oder XVIII hinsichtlich Marktzugang und Inländerbehandlung übernimmt. So legen die einzelnen Staaten fest, welche Dienstleistungen sie freigeben, bzw. welche Einschränkungen es gibt. Die Öffnung der einzelnen Dienstleistungssektoren geschieht schrittweise in mehreren Runden und erfolgt etwa nach dem Muster: „Gibst du mir die Dienstleistung Bildung, gebe ich dir die Dienstleistung Verkehr“. Die Liberalisierung der Dienstleistung wird in sehr vielen Einzelpunkten – 12 Sektoren bzw. 155 Subsektoren „mal“ den jeweils vier verschiedenen Dienstleistungserbringungsarten (Modes) – verhandelt. Die Liberalisierung soll, in jeder Runde zunehmend, verstärkt betrieben werden. Der Artikel XIX des GATS spricht ausdrücklich von einer fortschreitenden Liberalisierung. Die Rücknahme von einmal eingegangenen Liberalisierungsverpflichtungen ist nur möglich, wenn die dadurch geschädigten Handelspartner Kompensationen, z. B. in Form von und für Liberalisierung anderer Bereiche, erhalten. Auf die Artikel zur fortschreitenden Liberalisierung folgen die verfahrensrechtlichen institutionellen Bestimmungen. In den Schlussbestimmungen gibt es noch den recht umfangreichen Artikel XXVIII Begriffsbestimmungen Zum Schluss des Übereinkommens ist die Anlage zu Ausnahmen von Artikel II abgedruckt, die auch folgende Teile enthält: Anlage zum grenzüberschreitenden Verkehr natürlicher Personen, die im Rahmen des Übereinkommens Dienstleistungen erbringen Anlage zu Luftverkehrsdienstleistungen Anlage zu Finanzdienstleistungen Zweite Anlage zu Finanzdienstleistungen Anlage zu Verhandlungen über Seeverkehrsdienstleistungen Anlage zur Telekommunikation Anlage zu Verhandlungen über Basistelekommunikation Der Abdruck des Übereinkommens endet mit 15 Fußnoten, die auf Einzelheiten des Textes Bezug nehmen. Geschichte Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand zwischen den Industriestaaten ein Konsens darüber, dass ein friedliches Zusammenleben der Nationen durch wirtschaftliche Verflechtungen gefördert werden soll. Dazu wurde zunächst eine Internationale Handelsorganisation (ITO) entworfen und die Charta von Havanna, die u. a. Wohlstand, Frieden, Beschäftigung und faire Sozialstandards forderte, beschlossen, deren Inkrafttreten jedoch am US-amerikanischen Kongress scheiterte. An ihrer Stelle wurde das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) gegründet. Das GATT übernahm zunehmend die Funktion eines multilateralen Rahmens für den internationalen Handel. Bis 1994 fanden acht Runden des GATT statt, in deren Verlauf die Mitgliedsstaaten ihre Zölle massiv gesenkt und nicht-tarifäre Handelshemmnisse abgebaut haben. Die letzte Runde, die Uruguay-Runde, die von 1986 bis 1994 stattfand, bezog auch Dienstleistungen und geistige Eigentumsrechte (Patente und Urheberrechte) in das Abkommen mit ein. Ergebnisse der Uruguay-Runde sind die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO), das , „TRIPs“ und das GATS. Das GATS-Abkommen wurde am Ende der Uruguay-Runde unterzeichnet und trat am 1. Januar 1995 in Kraft (GATS 1995). Zugleich wurde damals beschlossen, den Vertrag nach fünf Jahren zu überarbeiten. So wird das GATS seit Beginn 2000 neu verhandelt (GATS 2000). Die Verhandlungen sollten bis zum Ende der „Neuen Runde“ (der in Doha unter gewissen Konditionen vereinbarten neuen Verhandlungsrunde) 2005 abgeschlossen sein (siehe Doha-Runde). Zu einem Verhandlungsabschluss kam es aber aufgrund unterschiedlicher Ansichten der WTO-Mitglieder bisher nicht. Zuletzt wurde, angesichts der weltweiten Finanzkrise, vom Weltfinanzgipfel im November 2008 in Washington die beschleunigte Wiederaufnahme der Welthandelsgespräche beschlossen. Die GATS-Diskussion Der zentrale Diskussionspunkt ist, ob öffentliche Dienstleistungen (Gesundheitsdienstleistungen, Bildungsdienstleistungen, …) durch Artikel I:3 ausgenommen sind, oder doch unter das GATS fallen. So argumentiert etwa das österreichische Wirtschaftsministerium, dass das System der österreichischen Sozial- und Pensionsversicherung aus dem GATS ausgenommen sei, da es sich um Dienstleistungen handelt, die gemäß Artikel I:3 lit. b des GATS-Abkommens in staatlicher Zuständigkeit erbracht werden. Was laut den Kritikern das Wirtschaftsministerium regelmäßig verschweige, ist Punkt c dieses Artikels. In dieser Bestimmung heißt es, dass Dienstleistungen die Es besteht weder unter WTO-Mitgliedern noch im WTO-Sekretariat Einigkeit über die Bedeutung des Begriffs „erbracht in Ausübung staatlicher Gewalt“. Besonders das Sekretariat der WTO scheint, je nach Umstand, unterschiedliche Ansätze zu verfolgen. In einem Hintergrundpapier zu Gesundheitsdienstleistungen und soziale Dienste (S/C/W/50) argumentiert das Sekretariat, dass es in Fällen, in denen private, kommerziell orientierte und öffentlich-gemeinnützige Krankenhäuser parallel existieren, unrealistisch sei, zu behaupten, dass keine Wettbewerbssituation herrsche. Folglich sind öffentliche Krankenhäuser, obwohl sie ein öffentlicher Dienst sind, nicht vom GATS ausgenommen. Um die Bedeutung von Artikel I:3 für die EU zu verstehen, sind die Ausnahmeregelungen im Zuge der „horizontalen Verpflichtungen“ heranzuziehen. Die EU hat in die Länderlisten des GATS eintragen lassen, dass „Dienstleistungen, die auf nationaler oder örtlicher Ebene als öffentliche Aufgaben betrachtet werden, staatlichen Monopolen oder ausschließlichen Rechten privater Betreiber unterliegen“ können (vgl. WTO 1994: Liste der spezifischen Verpflichtungen – deutsche Übersetzung der Europäischen Gemeinschaften und ihrer Mitgliedstaaten. GATS/SC/31, 15. April, Genf. In: Bundesgesetzblatt. Teil II, S. 1678–1683). Dies stellt demnach die Grundlage für die Beschränkungen des Marktzuganges im Bereich öffentlicher Aufgaben dar. Diskutiert wird weiters der Artikel VI:4, wo unter anderem ein sog. Notwendigkeitstest beschrieben wird. Dieser soll prüfen, ob staatliche Umwelt- oder sonstige Auflagen handelsneutral sind und ob es andere Auflagen geben könnte, die einen größeren Anreiz für ausländische Investoren bieten. Dieser bedrohe den demokratischen Gestaltungsspielraum, da der Nationalstaat beweisen muss, dass seine Auflagen die geringstmöglichen sind. Die OECD schlägt vor, Dienstleistungen, die im Rahmen staatlicher Zuständigkeit erbracht werden, als gemeinnützig aufzufassen. GATS und EU Unerwünschterweise sind die Forderungen der EU wie auch die Angebote an die EU an die Öffentlichkeit gekommen und haben für Unmut gesorgt, da u. a. von den USA gefordert wird, im Bildungssektor zu privatisieren. Von den 109 Ländern, an deren Adresse die EU ihre Liberalisierungsforderungen (so genannte Requests) richtete, sind die große Mehrheit (94) Entwicklungs- oder Schwellenländer. In Europa gibt es das „European Services Forum“ (ESF), das von Sir Leon Brittan (Handelskommissar vor Pascal Lamy) geschaffen wurde, um die europäischen Dienstleistungskonzerne in die GATS-Verhandlungen einzubinden. GATS und Österreich Österreich trat 1994 durch einen 4 Parteien-Beschluss im Nationalrat dem GATS bei (siehe Bundesgesetzblatt 1/95). In Österreich hat sich eine besonders starke Gruppierung gegen GATS gebildet – beteiligt sind: der Gemeindebund, der Städtebund, die Caritas, Attac und Ex-ÖVP-Vizekanzler Josef Riegler. Auch der Gewerkschaftsbund ist beteiligt; so hat der ÖGB zum ersten Mal mit anderen Trägerorganisationen zusammengearbeitet. Der frühere Gegner Greenpeace, etwa beim Kraftwerksbau Hainburg, wurde einer von 80 Bündnispartnern. Die EU eröffnete zu den Offers aufgrund der Bürgerproteste einen so genannten Konsultationsprozess: eine Umfrage von NGO und Sektorverbänden wurde begonnen; von tausenden Anfragen kamen über 60 % aus Österreich. Um diesen Bedenken zu begegnen, hat die EU nun ein Dokument veröffentlicht, in dem über die an sie gerichteten Forderungen Auskunft gegeben wird. Der Nahverkehr, Gesundheit, Bildung und die audiovisuellen Medien seien nach offiziösen Meldungen für Österreich aus den GATS ausgenommen, eine Nachprüfbarkeit ist aufgrund der Geheimverhandlungen nicht möglich. Auch wie lange diese Ausnahmen für die Dauer der Verhandlungen erhalten bleiben, ist fraglich, da ja genau darüber verhandelt wird. Auch die Länder und Gemeinden in Österreich melden Kritik an: So meint Sepp Rieder, Vize-Bürgermeister von Wien, dass zwar zuerst versichert worden sei, dass die Sozialpartner mit eingebunden werden würden, es aber keine konkreten Verhandlungen oder Informationen gebe. Er schlug vor, dass die GATS-Regeln der Notwendigkeitsprüfung und der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Bereich der Daseinsvorsorge nicht gelten sollten Länder und Gemeinden mitverhandeln sollten, in der Bundesverfassung wäre dafür ein Spielraum vorhanden Garantien abgegeben werden, dass die zu Anfang der Verhandlungen versprochenen Bereiche auch wirklich fortwährend aus den Verhandlungen ausgenommen blieben. GATS-Kritik Folgendes sind die Hauptkritikpunkte: Elementare Dienste werden über Öffentlich-private Partnerschaft zumindest teilweise privatisiert (Wasser als Handelsware, Erdgas­versorgung, Gesundheitswesen, Bildung, Krankenhäuser, Pflegeheime). Der Privatisierung folgten oft Lohnkürzungen in den vormals staatlichen Betrieben. Speziell die Ökonomisierung der Bildung (unter anderem über Studiengebühren) wird von Studierenden (Studentenprotest), aber auch vom UN-Bildungsbeauftragten Vernor Muñoz kritisiert. Im Gegensatz zu industriellen Lobbygruppen wie dem ESF ist weder das jeweilige nationale Parlament direkt in die Verhandlungen eingebunden und informiert, noch ist die Zivilgesellschaft eingebunden. Die Verhandlungen sind geheim und ihre Ergebnisse werden in Abkommen festgeschrieben. Es ist mit irreversiblen Verträgen zu rechnen, die keinem politischen Meinungsbildungsprozess unterworfen waren. Die beachteten und kritisierten Maßnahmen sind nicht mehr Zollpolitik, sondern innerstaatliche Regelungen. Damit werden Gebiete staatlicher Hoheitspolitik berührt und möglicherweise durch das GATS-Vertragswerk außer Kraft gesetzt. Dazu meint etwa Rufus H. Yerxa (WTO-Generaldirektor): Die Entscheidungen werden von den Mitgliedstaaten getragen, das WTO-Büro führe nur aus. Ein freier Handel sei für ein friedvolles Zusammenleben notwendig. Kritiker sehen durch GATS Versorgungssicherheit und -stabilität im Sinne einer Daseinsvorsorge nicht zweifelsfrei garantiert. Im Rahmen des so genannten „mode 4“ könnte es zu einer Ablösung regulärer Einwanderung, an deren Ende bisher nicht selten die Rechtsgleichheit mit Inländern gestanden habe, durch prekäre Entsendearbeit kommen, bei der die Lasten und Risiken vor allem von den stets nur befristet zugelassenen Entsendekräften selbst, den möglicherweise durch diese ersetzten Inlandskräften sowie den Gesellschaften der Herkunftsländer zu tragen seien. Diese Risiken bestünden vor allem in der Talentabwanderung, in der vollen Tragung des Alters-, Krankheits- und Invaliditätsrisikos und in den Kosten für Erst- und Fortbildung sowie in der Versorgung von Familienangehörigen der entsandten Kräfte. Reichen Gesellschaften gelänge es so, ansonsten notwendige Einwanderung und eine nachhaltige Bewirtschaftung ihrer Arbeitskraftressourcen zu vermeiden und die Kosten der Bereitstellung qualifizierter Arbeitskräfte zu externalisieren. Ausländischen Arbeitskräften könnten im Rahmen von Entsendearbeit durch häufigen Austausch der Personen die gleichen Rechte mit den Inländern auf Dauer verweigert werden. Es entstehe so eine neue Apartheid oder eine neue Heloten­klasse. Neben Banken und Versicherungen zählten große Wasserversorger (Veolia, Suez Environnement, RWE), Energie-, Bildungs- und Gesundheitskonzerne, wie private Krankenhauskonzerne, zu den vermutlichen Gewinnern des GATS. Siehe auch Neoliberalismus Meistbegünstigungsprinzip Dienstleistungsrichtlinie Cross-Border-Leasing General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) Trade in Services Agreement (TiSA) Multilaterales Abkommen über Investitionen (MAI) Literatur Werner Welf: Das WTO-Finanzdienstleistungsabkommen. Oldenbourg, München 1999. Norbert Wimmer, Thomas Müller: Wirtschaftsrecht. International – Europäisch – National. 1. Auflage. Springer, Wien/New York 2007, ISBN 978-3-211-34037-0. Rolf Adlung: Turning hills into mountains? Current commitments under the GATS and prospects for change. WTO staff working papers ERSD-2005-01, WTO, Genf 2005. (zum Herunterladen: WTO | Research and Analysis – working paper – Turning hills into mountains?) Ralf Kronberger, Yvonne Wolfmayr: Liberalisierung des Dienstleistungshandels im Rahmen des GATS. In: Wifo Monatsberichte. Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, Wien 6/2005, S. 443–463. Weblinks Vertragswerk – http://www.wto.org/english/tratop_e/serv_e/gatsqa_e.htm ESF – http://www.esf.be/ (Europäisches Dienstleisterforum) Pro GATS – http://www.progats.at/ Schlussbericht der Bundestags-Enquete-Kommission Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten (PDF; 10 MB) GATS-Kritik – http://www.gatswatch.org/ http://www.weed-online.org/themen/gats/index.html Trägerorganisationen in Österreich http://www.stoppgats.at/ und in der Schweiz http://www.stoppgats.ch/ Verschiedene Gutachten über Auswirkungen des GATS auf die Bildung: http://www.gew.de/Publikationen_Bildung_Politik.html TiSA-Themenseite / Trade in Service Agreement (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie) Einzelnachweise Internationaler Handel Urheberrecht Zollpolitik Globalisierung Abkommen der Welthandelsorganisation
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https://de.wikipedia.org/wiki/GNU-Lizenz%20f%C3%BCr%20freie%20Dokumentation
GNU-Lizenz für freie Dokumentation
Die GNU-Lizenz für freie Dokumentation (oft auch GNU Freie Dokumentationslizenz genannt; englische Originalbezeichnung GNU Free Documentation License; Abkürzungen GNU FDL, GFDL) ist eine Copyleft-Lizenz, die für freiheitsgewährende Software-Dokumentationen gedacht ist, die aber auch für andere freie Inhalte verwendet wird. Die Lizenz wird von der Free Software Foundation (FSF), der Dachorganisation des GNU-Projekts, herausgegeben. Die Lizenz liegt ausschließlich in englischer Sprache vor, die aktuelle Fassung 1.3 wurde im November 2008 veröffentlicht. Die Lizenz drohte – wie alle anderen freien Lizenzen auch – in Deutschland durch einen vom Bundesjustizministerium eingereichten Gesetzesvorschlag zur Modernisierung des Urheberrechts vom 22. März 2000 ungültig zu werden. Das Institut für Rechtsfragen der Freien und Open Source Software reichte am 26. Juni 2001 jedoch eine erweiternde Bestimmung, heute besser bekannt als Linux-Klausel, ein, welche die Verwendbarkeit von freien Lizenzen in Deutschland sicherte. Begriff „GNU“ ist ein rekursives Akronym. Es steht für „GNU is not Unix“. Unix ist ein älteres, unfreies Betriebssystem. Das Softwareprojekt GNU sollte dafür stattdessen eine freiheitsgewährende Variante werden. Beabsichtigter Zweck Wenn ein Urheber oder Rechte-Inhaber (Lizenzgeber) ein Werk unter diese Lizenz stellt, bietet er damit jedermann weitgehende Nutzungsrechte an diesem Werk an: Die Lizenz gestattet die Vervielfältigung, Verbreitung und Veränderung des Werkes, auch zu kommerziellen Zwecken. Im Gegenzug verpflichtet sich der Lizenznehmer zur Einhaltung der Lizenzbedingungen. Diese sehen unter anderem die Pflicht zur Nennung des Autors oder der Autoren vor und verpflichten den Lizenznehmer dazu, abgeleitete Werke unter dieselbe Lizenz zu stellen (Copyleft-Prinzip). Wer sich nicht an die Lizenzbedingungen hält, verliert damit automatisch die durch die Lizenz eingeräumten Rechte. Geschichte Die GNU-Lizenz für freiheitsgewährende Dokumentation wurde ursprünglich geschaffen, um Dokumente, wie beispielsweise Handbücher, die im Rahmen des GNU-Projekts verfasst wurden, unter eine ähnliche Lizenz zu stellen wie die Software selbst und damit entsprechend dem Geist der Bewegung für freie Software die Bekanntgabe und Übertragung von Rechten für jede Person zu garantieren. Das Pendant der GNU-Lizenz für freie Dokumentation im Software-Bereich ist die GNU General Public License (GPL). Der erste Entwurf mit der Versionsnummer 0.9 wurde von Richard Stallman am 12. September 1999 in der Newsgroup gnu.misc.discuss zur Diskussion vorgestellt. Die erste Version erschien im März 2000 mit der Versionsnummer 1.1. Nach der Version 1.2 vom November 2002 erschien im November 2008 die aktuelle Version 1.3. Sie erlaubt es den Betreibern sogenannter Massive Multiauthor Collaboration Sites – als Beispiel werden öffentliche Wikis mit Bearbeitungsmöglichkeit für jedermann genannt – Inhalte, die vor bestimmten Stichtagen veröffentlicht worden sind, unter Creative-Commons-Share-alike-Lizenzen zu relizenzieren. Verwendung in der Wikipedia Alle Texte der Wikipedia sowie die Texte der meisten Schwesterprojekte der Wikipedia stehen unter der GNU-Lizenz für freiheitsgewährende Dokumentationen. Aufgrund von Problemen mit der GFDL sowie der großen Verbreitung der später erschienenen Creative-Commons-Lizenzen gab es von vielen Benutzern den Wunsch, auf die der GFDL ähnliche Creative-Commons-Lizenz CC-BY-SA umzusteigen. Da dies jedoch nur mit Zustimmung aller Autoren ginge, einigten sich die Wikimedia Foundation, Creative Commons und die FSF darauf, einen Lizenzwechsel über einen Umweg zu ermöglichen. Dafür wurde am 3. November 2008 die neue Version 1.3 der GFDL veröffentlicht, welche eine projektweite Migration zu CC-BY-SA ohne ausdrückliche Zustimmung der Autoren ermöglichen soll. Da die Dokumente in den Projekten immer mit der Klausel Version 1.2 oder später lizenziert sind, sei ein Umstieg von GFDL 1.2 zu GFDL 1.3 und damit wiederum ein Umstieg auf CC-BY-SA 3.0 möglich, ohne alle Autoren um Zustimmung nachfragen zu müssen. Kritik Bemängelt wird, dass die Lizenz im Vergleich zu anderen, später entstandenen Lizenzen für freiheitsgewährende Inhalte zu kompliziert sei und dass sie nur in einer englischsprachigen Fassung vorliege – es gibt lediglich inoffizielle, nicht rechtsverbindliche Übersetzungen. Die GFDL erlaubt dem Urheber zudem, für bestimmte Abschnitte die Modifikation zu untersagen (so genannte „invariant sections“), falls diese weitere Informationen über die Autoren oder Herausgeber enthalten. Kritiker bemängeln, dass dies dem Gedanken der Softwarefreiheit zuwiderlaufe. In der Vergangenheit führte dies beispielsweise dazu, dass die GFDL vom Debian-Projekt eine Zeit lang als unfrei angesehen wurde. Beispielsweise Bruce Perens sah die GFDL sogar außerhalb des „Freien-Software-Ethos“. Im März 2006 wurde diese kritische Einschätzung durch das Debian-Projekt jedoch auf Dokumente mit invariant sections eingeschränkt. Die Tatsache, dass die Wirksamkeit der GFDL in Deutschland (im Gegensatz zur GPL) noch nicht in einem Prozess von einem deutschen Gericht bestätigt wurde, wird von einigen Kritikern als Nachteil der GFDL angeführt. Befürworter interpretieren dies als Beleg für die Wirksamkeit der GFDL, da mögliche Kläger gegen eine Wirksamkeit unter deutschem Recht durch spekulativ geringe Erfolgsaussichten abgeschreckt seien. Kritisiert wird auch die Haftungsausschlussklausel in der GFDL, so kann im deutschen Recht beispielsweise Vorsatz ( Abs. 3 BGB) vertraglich nicht wirksam von einer Haftung ausgeschlossen werden. Literatur Weblinks (Für lizenzkonforme Nutzung von GFDL-Inhalten in Printmedien; PDF) Guide to the new drafts of documentation licenses (Neuer Entwurf der GFDL, Möglichkeit zum Kommentar; engl.) Draft Debian Position Statement about the GFDL (Kritische Auseinandersetzung mit einigen Freiheitsbeschränkungen der GFDL von Debian-Entwicklern; engl.) Inoffizielle Übersetzungen Nicht rechtsverbindlich – da nicht von der Free Software Foundation herausgegeben: Selflinux.org: Deutsche inoffizielle Übersetzung der GFDL, Version 1.2, November 2002 Einzelnachweise Urheberrecht GNU Freies Wissen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ganymed%20%28Mond%29
Ganymed (Mond)
Ganymed (auch Jupiter III) ist der dritte und größte der vier Galileischen Monde des Gasplaneten Jupiter. Er ist mit einem Durchmesser von 5262 km der größte Mond des Sonnensystems und hat – ebenso wie der zweitgrößte (Saturnmond Titan) – einen etwas größeren Durchmesser als der (allerdings massereichere) Planet Merkur. Ganymed gehört zum Typ der Eismonde und besitzt einen Kern aus Eisen. Er verfügt über eine sehr dünne Atmosphäre und ist der einzige Trabant mit einem ausgeprägten Magnetfeld. Entdeckung und Benennung Ganymed wurde im Jahre 1610 von dem italienischen Gelehrten Galileo Galilei mit Hilfe eines relativ einfachen Fernrohrs entdeckt. Weil er alle vier großen Monde (Io, Europa, Ganymed und Kallisto) entdeckt hat, werden diese daher auch als die Galileischen Monde bezeichnet. Benannt wurde der Mond nach dem Jüngling Ganymed, einem Mundschenk der Götter und Geliebten des Zeus aus der griechischen Mythologie. Er ist der einzige Jupitermond, der nach einer männlichen Figur benannt ist. Obwohl der Name Ganymed bereits kurz nach seiner Entdeckung von Simon Marius vorgeschlagen worden war, konnte er sich über lange Zeit nicht durchsetzen. Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts kam er wieder in Gebrauch. Vorher wurden die Galileischen Monde üblicherweise mit römischen Ziffern bezeichnet und Ganymed war Jupiter III. Ganymed ist kein offizielles oder allgemein verwendetes astronomisches Symbol zugeordnet (wie auch sonst keinem Trabanten im Sonnensystem außer dem Erdmond). Umlaufbahn und Rotation Ganymed umkreist Jupiter in einem mittleren Abstand von 1.070.400 km in 7 Tagen, 3 Stunden und 42,6 Minuten. Er befindet sich damit in Resonanz mit seinen beiden inneren Nachbarn Europa (1:2) und Io (1:4), ein Effekt, der zu den verhältnismäßig großen Exzentrizitäten der Bahnen dieser Monde beiträgt. Er hat große Bedeutung für die Gezeitenreibung im Inneren dieser Monde und ist damit eine Erklärung für den Vulkanismus auf Io. Ganymeds Bahn hat eine Exzentrizität von 0,0015 und ist nur 0,21° gegenüber Jupiters Äquatorebene geneigt. Ganymed rotiert in 7 Tagen, 3 Stunden und 42,6 Minuten um die eigene Achse und weist damit, wie der Erdmond und die übrigen inneren Jupitermonde, eine gebundene Rotation auf. Wegen seiner im Vergleich zum Erdmond geringen Bahnexzentrizität und der sehr kleinen Achsneigung sind Librationseffekte gering. Die maximale Libration der Länge, die proportional zur Exzentrizität ist, beträgt nur etwa 10′ (beim Erdmond etwa 7°). Die durch diese Taumelbewegung bewirkten Gezeiteneffekte, die bei Io als Hauptursache für den starken Vulkanismus gelten, sind daher (auch wegen des wesentlich größeren Abstandes) viel geringer. Physikalische Eigenschaften Ganymed hat einen mittleren Durchmesser von 5262 km und ist damit der größte Mond im Sonnensystem. Er ist etwas größer als der Saturnmond Titan (5150 km) und sogar größer als der Planet Merkur (4878 km), wobei er allerdings mit seiner geringen Dichte von 1,94 g/cm3 nur 45 % von Merkurs Masse aufweist. Ganymed erscheint mit einer scheinbaren Helligkeit von bis zu 4,6 mag zu Oppositionszeiten so hell, dass er freiäugig sichtbar wäre, wenn er nicht vom nahen Jupiter überstrahlt würde. Oberfläche Ganymeds Oberfläche, die aus Hunderte Kilometer dickem Wassereis besteht, kann in zwei unterschiedliche Gebiete unterteilt werden: eine geologisch sehr alte, dunkle Region mit einer großen Anzahl an Einschlagkratern und eine etwas jüngere, hellere Region mit geringerer Kraterdichte, aber mit ausgeprägten Gräben und Verwerfungen. Die beiden Regionen sind auf tektonische Aktivitäten zurückzuführen. Ganymeds Oberfläche besteht aus zwei kontinentalen Platten, die sich unabhängig voneinander bewegen, wobei an ihren Randzonen flache Gebirgszüge aufgeworfen werden können. Darüber hinaus sind Gebiete sichtbar, durch die sogenannte wässrige Lava geflossen sein könnte, deren Ursprung auf vergangenen Kryovulkanismus zurückzuführen ist. Hinsichtlich der Tektonik ähnelt Ganymed dem Planeten Erde, obwohl die Aktivitäten auf Ganymed zum Erliegen gekommen sind. Die dunklen Regionen ähneln der Oberfläche von Kallisto; ein ähnliches System von Gräben und Verwerfungen existiert auf dem Saturnmond Enceladus und den Uranusmonden Miranda und Ariel. Beide Regionen weisen viele Einschlagskrater auf; ihre Anzahl und Verteilung ergeben für Ganymeds Oberfläche ein Alter von 3 bis 3,5 Milliarden Jahren, vergleichbar dem Erdmond. Dabei überlagern die Krater die Gräben oder werden von diesen durchbrochen, was darauf schließen lässt, dass die Gräben ebenfalls geologisch alt sind. Daneben gibt es auch Einschläge jüngeren Datums, bei denen Material aus dem Untergrund in Form von Strahlensystemen ausgeworfen wurde. Anders als auf dem Erdmond oder dem Merkur sind die meisten Krater relativ flach und weisen keine Ringwälle oder Zentralberge auf. Offensichtlich hat die Eiskruste über geologische Zeiträume nachgegeben und diese Strukturen eingeebnet. Sehr alte Krater sind nur noch als dunkle Reliefs zu erkennen. Der mit Abstand größte benannte Krater namens Epigeus hat einen Durchmesser von 343 km und befindet sich auf dem Zentralmeridian der von Jupiter abgewandten Hemisphäre, zwischen den dunklen Regionen Galileo Regio und Marius Regio. Die größte zusammenhängende Struktur auf Ganymed ist die dunkle Ebene Galileo Regio. Sie bedeckt mit 3.200 km Durchmesser ein Drittel der jupiterabgewandten Hemisphäre und kann bisweilen von der Erde in Großteleskopen gesehen werden. Die Ebene ist äußerst kraterreich und von hellen Streifen durchzogen; wahrscheinlich stellt sie die älteste Oberfläche des Mondes dar. Weiter sind auf Ganymed ausgedehnte konzentrische Erhebungen sichtbar, die das Überbleibsel eines gewaltigen Impaktereignisses aus der Frühzeit des Mondes sind. Eine in der Planetengeologie ungewöhnliche Struktur ist der Tiamat Sulcus, ein fast 2.000 km langes Band gefurchten Geländes nahe dem Äquator zwischen Marius Regio und Melotte Regio, das durch eine Verwerfung unterbrochen wird. Nördlich davon hat der Sulcus 14 parallele Furchen, südlich hingegen 20, was durch Bruchtektonik unterschiedlicher Zeiträume erklärt werden kann. Ganymeds Albedo beträgt 0,44, das heißt 44 % des einfallenden Sonnenlichts werden von der Oberfläche reflektiert. Im Vergleich zu den Monden Io und Europa ist seine Oberfläche relativ dunkel. Die Oberflächentemperatur beträgt im Durchschnitt etwa −160 °C. Innerer Aufbau Die Auswertung der Daten der Raumsonde Galileo wies darauf hin, dass es sich bei Ganymed um einen differenzierten Körper mit Schalenaufbau handelt. Ein relativ kleiner Kern aus Eisen oder Eisensulfid ist von einem Mantel aus silikatischem Gestein umgeben. Darüber befindet sich ein leicht salzhaltiger Ozean, der mehr Wasser als alle Ozeane der Erde zusammen enthalten könnte. Die äußerste Schicht ist eine harte Wassereiskruste. Nach einem neuen Modell bilden sich im unteren Bereich der Eiskruste Kristalle einer dichteren Eisform. Die enthaltenen Salze werden frei und sinken nach unten, wo sie mit Wasser einen unteren salzhaltigeren Ozeanteil bilden. Der schwimmt auf einer weiteren Schicht aus einer noch dichteren Eisform, und eine solche Schichtung von flüssigem Wasser und Eis könnte sich mehrmals wiederholen. Von der äußersten Eisoberfläche bis zum steinigen „Ozeangrund“ sind es etwa 800 km Tiefe. Ferner zeigte die Bahnbewegung der Raumsonde Galileo kleine Anomalien im Schwerefeld, die entweder auf einen ungleichmäßigen Gesteinsmantel hinweisen oder von größeren Mengen an im Eismantel eingeschlossenen Gesteinen zeugen. Vielleicht werden sie auch von Gesteinstrümmern in oberflächennahen Eisschichten verursacht. Der metallische Kern ist ein Anzeichen dafür, dass Ganymed in der Frühzeit seiner Entstehung im Innern höhere Temperaturen aufwies, als man bislang angenommen hatte. Tatsächlich scheint Ganymed ähnlich aufgebaut zu sein wie Io, nur dass er zusätzlich von Wasser und Eis umgeben ist. Atmosphäre Erste Anzeichen der Existenz einer Atmosphäre um den Jupitermond wurden bereits im Jahr 1972 bei der Bedeckung des Sterns SAO 186800 durch Ganymed gefunden. Der Druck in der extrem dünnen Atmosphäre wurde damals mit größer als 10−6 bar angegeben. Beobachtungen mit dem Hubble-Weltraumteleskop ergaben 1997 Hinweise auf eine extrem dünne Atmosphäre aus Sauerstoff. Es wird angenommen, dass der Sauerstoff durch die Einwirkung der Sonnenstrahlung auf die Eiskruste entsteht, wobei das Wassereis in Sauerstoff und Wasserstoff gespalten wird. Der flüchtige Wasserstoff entweicht in den Weltraum, der massereichere Sauerstoff wird durch Ganymeds Gravitation festgehalten. Magnetfeld Im Rahmen der beiden ersten Vorbeiflüge der Raumsonde Galileo am Mond Ganymed im Juni 1996 (G1) in einer Höhe von 838 km und im September 1996 (G2) in einer Höhe von nur 264 km konnte nachgewiesen werden, dass Ganymed über ein eigenes magnetisches Dipolfeld verfügt. Neben der Erde und dem Merkur ist Ganymed damit der einzige feste planetare Körper im Sonnensystem mit nennenswertem eigenen Dipolfeld, insbesondere der einzige Mond. Spekulationen über ein ebensolches Feld des Jupitermondes Io haben sich hingegen nicht bestätigt. Das Magnetfeld kann in einer ersten Näherung als einfache Überlagerung eines Dipolfeldes mit dem Feld des Jupiters im Vakuum angenommen werden. Das Jupiterfeld kann dabei in einer Umgebung des Mondes von etwa 10 Ganymedradien als konstant angesehen werden, wobei die Stärke dieses homogenen Feldes etwa 120 nT beträgt. Die Ausrichtung des Magnetfeldes kann allerdings während des Umlaufes um Jupiter variieren. Das Modell passt zu den Daten des Vorbeiflugs G1, wenn eine äquatoriale Feldstärke des Dipolfeldes von 750 nT angenommen wird (dargestellt in nebenstehendem Bild). Die Feldstärke ist zwar viel geringer als die des Erdmagnetfeldes (äquatorial 30.000 nT), aber größer als die des Planeten Merkur (äquatorial 450 nT). Die Richtung des magnetischen Dipols weicht etwa 10° von der Rotationsachse ab und zeigt im Ganymed-zentrierten Koordinatensystem in die Richtung des 220. Längengrades (der Nullmeridian zeigt dabei wegen der gebundenen Rotation immer zum Jupiter). Die Struktur des Magnetfeldes ist etwas verschieden von den planetaren Magnetfeldern der Erde oder der Gasplaneten. Das umgebende Magnetfeld des Jupiters ist so stark, dass es auf der Oberfläche des Ganymeds nur eine relativ kleine Zone am Äquator gibt, wo die Magnetfeldlinien vom Mond wieder auf den Mond zurücklaufen. In den relativ großen polaren Regionen verlaufen die Feldlinien hingegen zum Jupiter oder kommen dorther. Die grüne Linie im Bild „Modell des Magnetfeldes...“ – die Separatrix – trennt Gebiete, in denen die Feldlinien von Ganymed zu Ganymed, Ganymed zu Jupiter und von Jupiter zu Jupiter laufen. Bessere Modelle des Magnetfeldes ziehen die Tatsache in Betracht, dass sich Ganymed nicht im Vakuum durch das Magnetfeld des Jupiters bewegt, sondern dass es ein mit Jupiter korotierendes Plasma gibt, in dem der Mond sich befindet (beidseitige Rotationsbindung). Die Einbeziehung des Plasmas in das Modell geschieht im Rahmen der Magnetohydrodynamik und erklärt die Ausbildung einer Magnetosphäre. Die Existenz einer Magnetopause wurde von Galileo bestätigt, allerdings gibt es im Gegensatz zur Erdmagnetosphäre keine Bugstoßwelle. Zur Ausbildung einer solchen Stoßwelle müsste das einströmende Plasma eine Geschwindigkeit relativ zu Ganymed besitzen, die größer als die Alfvén-Geschwindigkeit ist. Anders als bei der Erde, bei der der Sonnenwind mit etwa achtfacher Alfvén-Geschwindigkeit (und zehnfacher Schallgeschwindigkeit) auf die Magnetopause trifft, hat das korotierende Plasma des Jupiters zwar 2,4-fache Schallgeschwindigkeit, aber nur etwa halbe Alfvén-Geschwindigkeit. In den polaren Regionen Ganymeds, in denen Feldlinien von Jupiter zu Ganymed laufen, kann Plasma bis zur Atmosphäre des Planeten vordringen und führt dort zu Polarlichtern, die vom Hubble-Weltraumteleskop im UV-Licht tatsächlich beobachtet werden konnten. Die Tatsache, dass die Richtung des Dipols von der Richtung der Rotationsachse nur um 10° abweicht, deutet darauf hin, dass die Ursache des Magnetfeldes in einem Dynamoeffekt zu suchen ist. Als möglicher Träger des Dynamoeffekts kommen leitfähige Flüssigkeiten in Frage. Diskutiert werden als Kandidaten sowohl flüssiges Metall im Kern des Mondes als auch Salzwasser im Mantel. Erkundung durch Sondenmissionen Die Erkundung Ganymeds durch Raumsonden begann in den Jahren 1973 und 1974 mit den Jupiter-Vorbeiflügen von Pioneer 10 und Pioneer 11. 1979 konnten Voyager 1 und Voyager 2 erstmals genauere Beobachtungen dieses Mondes vornehmen. Der Großteil des Wissens über Ganymed stammt jedoch vom Galileo-Orbiter, der 1995 das Jupitersystem erreichte und während der darauffolgenden acht Jahre mehrere nahe Vorbeiflüge am Jupitermond vollführte. Für das Jahr 2020 hatten die Raumfahrtbehörden NASA und ESA die gemeinsame Europa Jupiter System Mission Laplace vorgeschlagen, die mindestens zwei Orbiter vorsah, die jeweils in einen Orbit um Europa und Ganymed eintreten und das gesamte Jupitersystem mit einem revolutionären Tiefgang erforschen sollten. Die NASA, die den Jupiter Europa Orbiter (JEO) bauen wollte, stieg jedoch aus dem Projekt aus. Die ESA verwirklicht jedoch den Jupiter Ganymede Orbiter (JGO) mit leicht abgewandelter Missionsplanung als JUICE. JUICE soll nach ihrer Ankunft am Jupiter im Jahr 2030 nach zwei Vorbeiflügen an Europa und zwölf Vorbeiflügen an Kallisto 2032 in einen Orbit um Ganymed einschwenken. Da die NASA-Sonde entfällt, wurden die Europa-Vorbeiflüge als Ersatz dafür in den Missionsplan für JUICE aufgenommen. Kulturgeschichte Ganymed ist Schauplatz in den Handlungen von Romanen, Kurzgeschichten, Fernsehserien oder Filmen. Eine unvollständige Auswahl: Der Roman Farmer im All (, 1950) von Robert A. Heinlein hat das Terraforming und die Besiedlung von Ganymed zum Thema. Horst Müller schrieb den SiFi-Roman Kurs Ganymed, der am 1. Januar 1962 erschien. Im britischen Spielfilm The Night Caller (auch Blood Beast From Outer Space) von John Gilling aus dem Jahr 1865 stammt der Außerirdische Medra, gespielt von Robert Crewdson, vom Jupitermond Ganymed. In vielen Romanen und Kurzgeschichten von Philip K. Dick spielt Ganymed eine wesentliche Rolle. Am prominentesten vertreten ist der Mond in dem Roman The Ganymede Takeover („Die Invasoren von Ganymed“), der 1967 zusammen mit Ray Nelson geschrieben wurde. Der deutsche Spielfilm Operation Ganymed von 1977 handelt von den Erlebnissen einer fiktiven Raumschiffbesatzung, die von einer Reise zu Ganymed zur Erde zurückkehrt. In der Fernsehserie Babylon 5 (1996) wurde ein Schiff der „Schatten“ unterhalb der Oberfläche von Ganymed entdeckt und von einem „Whitestar“-Schiff zerstört. In der Anime-Serie Cowboy Bebop (1998) ist der Mond Geburtsort der Figur Jet Black. In der Giants-Serie von James P. Hogan taucht Ganymed im 2. Buch auf, worin es um eine Gruppe von Außerirdischen geht, die mit irdischen Wissenschaftlern zusammenarbeitet, um die seltsame Geschichte einer früheren Epoche des Sonnensystems zu erforschen. Der britisch-amerikanische Wissenschaftler und Science-Fiction-Autor Charles Sheffield platzierte in der Buchreihe Das dunkle Universum (1992–2002) die Handlung auf dem Ganymed und den anderen Galileischen Monden. Sie umfasst drei Bücher, die auch in deutschsprachiger Ausgabe vorliegen. In der Roman- und Fernsehserie The Expanse von James Corey ist Ganymed ein besiedelter Mond und die Kornkammer des äußeren Sonnensystems. Im 2. Buch Calibans Krieg ist Ganymed Hauptschauplatz der Handlung. Im Brettspiel Ganymede rekrutiert der Spieler Siedler auf der Erde, um sie mit Schiffen von Ganymed aus zur Eroberung des Alls aufbrechen zu lassen. Der französische Designer Marc-Antoine Barrois veröffentlichte im Jahre 2019 in Zusammenarbeit mit dem Parfumeur Quentin Bisch sein zweites, nach dem Mond benannte, Eau de Parfum Ganymede. Weblinks Chr. Pinter: . In: wienerzeitung.at. 13. Dezember 2002. Einzelnachweise Jupitermond Astronomisches Objekt (entdeckt 1610)
1900
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Galaxis
Galaxis steht für: die Milchstraße, die Galaxie mit unserem Sonnensystem selten auch allgemeinsprachlich und fachlich falsch als Synonym für Galaxie Galaxis, Science-Fiction-Film (1995) mit Brigitte Nielsen Galaxis (Heftreihe), die deutsche Ausgabe des Magazins Galaxy Siehe auch:
1901
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Glarus (Begriffsklärung)
Glarus steht für: Glarus, der Hauptort des Kantons Glarus und seit 2011 eine Fusionsgemeinde im mittleren Kantonsteil Glarus Nord, eine Fusionsgemeinde, die den nördlichen Kantonsteil umfasst Glarus Süd, eine Fusionsgemeinde, die den südlichen Kantonsteil umfasst Kanton Glarus, ein Kanton in der Schweiz Siehe auch: New Glarus, eine Gemeinde in Wisconsin, USA Glaris Clarus
1902
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Gary Gygax
Ernest Gary Gygax [ˈgaɪ.gæks] (* 27. Juli 1938 in Chicago, Illinois; † 4. März 2008 in Lake Geneva, Wisconsin) war ein US-amerikanischer Spieleautor und einer der Erfinder des Pen-&-Paper-Rollenspiels Dungeons & Dragons. Leben und Werk Gary Gygax war der Sohn des aus der Schweiz nach Amerika emigrierten Musikers Martin Gygax, der im Symphonieorchester von Chicago Violine spielte, und einer Amerikanerin. Gygax wurde in Chicago geboren und wuchs in Lake Geneva auf, wohin seine Familie zog, als er acht Jahre alt war. Er ging ohne Abschluss von der High School ab, nahm verschiedene Gelegenheitsjobs an, besuchte die Abendschule und hörte Anthropologie an der University of Chicago. Er verdiente sein Geld als Versicherungsvertreter, bis seine Spielsysteme Erfolg hatten. Er und Jeff Perren erfanden das Spiel Chainmail, aus dem in den späten 1960ern dann das mittelalterlich anmutende Dungeons & Dragons (kurz D&D) entwickelt wurde. Gygax und Don Kaye gründeten einen eigenen Spieleverlag, Tactical Studies Rules (TSR), mit dem sie 1974 die erste Version von D&D veröffentlichten. 1975 fiel Gygax ein englisches Magazin namens Owl and Weasel in die Hände. Er nahm mit den Verfassern, unter anderem Ian Livingstone, Kontakt auf und schickte ihnen eine Version von D&D. Die Engländer waren sofort begeistert und verkauften das Spiel in England mit enormem Erfolg. Gygax entwickelte später eine neue Version von D&D, die von 1977 bis 1997 unter dem Namen Advanced Dungeons & Dragons herausgegeben wurde. 1980 wurde er in die Hall of Fame des Origins Award aufgenommen. Vor D&D beschäftigte sich Gygax zusammen mit seinem Freund Dave Arneson mit Wargaming („Chainmail“) – hier wurden Schlachtfeldszenarien mit Plastikfiguren nachgestellt. Arneson kam auf die Idee, die Soldaten in einem Kommandounternehmen die Burg einnehmen zu lassen, wobei sie Fallen entschärfen und Türen öffnen mussten. So lernte jeder Spieler, sich mit seinem Krieger zu identifizieren. Der Erfolg blieb nicht aus, und nun entstanden ganze Welten wie Arnesons Blackmoor und Gygax’ World of Greyhawk. Da Chainmail dafür nicht ausgereift war, wurde es erweitert, und Dinge wie „Trefferpunkte“ wurden integriert. Zunächst erhielt es den Titel „The Fantasy Game“. Doch der Name war nicht zugkräftig genug, und Gygax’ Frau kam auf den Namen „Dungeons & Dragons“. Eine weitere Kreation von Gygax war DragonChess, eine dreidimensionale Fantasy-Variante von Schach, das im August 1985 in Ausgabe 100 des Magazins Dragon veröffentlicht wurde. Es wird auf drei Spielbrettern der Größe 8×12 gespielt, die aufeinandergesteckt sind. Das obere Spielbrett steht dabei für den Himmel, das mittlere für die Erde und das untere für die Unterwelt. Die Spielsteine sind Figuren und Monstern aus der D&D-Serie nachempfunden: König, Magier, Paladin, Kleriker, Drache, Griffin, Oliphant, Held, Dieb, Elementar, Basilisk, Einhorn, Zwerg, Sylph und Krieger. Nachdem Gygax TSR verlassen hatte, publizierte er Dangerous Journeys, ein fortgeschrittenes Rollenspiel, das mehrere Genres miteinander verband. 1995 begann er die Arbeit an einem komplett neuen Rollenspiel, das ursprünglich als Computerspiel gedacht war, dann aber 1999 unter dem Namen Lejendary Adventure herausgegeben wurde. Es wird teilweise als seine beste Arbeit angesehen. Ein besonderes Augenmerk hatte er dabei auf einfache Spielregeln gelegt, da Gygax meinte, dass Rollenspiele mit der Zeit zu komplex geworden seien und somit neue Spieler abschreckten. Gygax lieh in der englischen Originalversion der Zeichentrickserie Futurama in der Episode Geschichten von Interesse I sowie im Zeichentrickfilm Futurama: Bender’s Game (postum aus Archivmaterial) sich selbst die Stimme. Außerdem erhielt er ein Denkmal auf einem Friedhof in der MMORPG-Umsetzung „Dungeons & Dragons Online: Stormreach“, in der er auch in einem Dungeon dem Spielleiter seine Stimme leiht. Er starb am 4. März 2008 im Alter von 69 Jahren an den Folgen eines Herzinfarktes in seinem Haus in Lake Geneva, Wisconsin, wo er noch im Januar D&D-Spielrunden leitete. Schriften Schriften außerhalb einer konkreten Welt 1974: Dungeons& Dragons 1976: Eldritch Wizardry 1977: Monster Manual 1978: Players Handbook (dt. Advanced Dungeons& Dragons Spieler-Handbuch) 1979: Dungeon Masters Guide 1983: Monster Manual II 1985: Unearthed Arcana Greyhawk Adventures 1975: Greyhawk 1978: Tomb of Horrors (dt. Gruft des Grauens) 1978: Descent into the Depths of the Earth 1979: The Keep on the Borderlands 1980: Expedition to the Barrier Peaks 1980: Queen of the Demonweb Pits 1980: World of Greyhawk Fantasy Game Setting 1981: Against the Giants 1982: The Forgotten Temple of Tharizdun 1982: The Lost Caverns of Tsojcanth 1983: World of Greyhawk Fantasy World Setting 1983: Dungeonland 1983: The Land Beyond the Magic Mirror 1984: Mordenkainen's Fantastic Adventure 1985: Isle of the Ape 1985: The Temple of Elemental Evil 1985: Saga of Old City 1986: Queen of the Spiders 1986: Artifact of Evil Gord the Rogue Adventures 1987: Sea of Death 1987: Night Arrant (Kurzgeschichtensammlung) 1987: City of Hawks 1988: Come Endless Darkness 1988: Dance of Demons Dangerous journeys 1992: The Anubis Murders (dt. Die Anubis-Morde) 1993: The Samarkand Solution (dt. Die Lösung von Samarkand) 1993: Death in Delhi (dt. Tod in Delhi) Weblinks Konrad Lischka: Der Herr der Dungeons (Nachruf), Spiegel Online, 5. März 2008 Gary Gygax (Nachruf), Times Online, 6. März 2008 (englisch) Emily Fredrix: Dungeons & Dragons Co-Creator Dies at 69 (Nachruf), ABC News/AP, 4. März 2008 (englisch) Seth Schiesel: Herald of a Global Imagination Revolution, New York Times, 8. März 2008 (englisch) Einzelnachweise Spieleautor Spieleverleger Autor Mitglied der Clausewitz Hall of Fame Literatur (20. Jahrhundert) Literatur (Englisch) Literatur (Vereinigte Staaten) Fantasyliteratur Dungeons & Dragons Roman, Epik Kurzgeschichte Erzählung Essay US-Amerikaner Geboren 1938 Gestorben 2008 Mann
1903
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Ferdinand von Zeppelin
Ferdinand Adolf Heinrich August Graf von Zeppelin (* 8. Juli 1838 in Konstanz; † 8. März 1917 in Berlin) war ein deutscher württembergischer Graf, General der Kavallerie und der Entwickler und Begründer des Starrluftschiffbaus. Den Durchbruch des Baus von Starrluftschiffen und die Gründung der noch existierenden Luftschiffbau Zeppelin GmbH und der Zeppelin-Stiftung bewirkte die „Zeppelinspende des deutschen Volkes“ von 1908. Die von ihm entwickelten Zeppeline kamen von 1909 bis 1914 in der zivilen Luftfahrt zum Einsatz (DELAG), dann verstärkt im Ersten Weltkrieg. Eine zweite Blüte erlebten sie nach von Zeppelins Tod in den 1920er und 1930er Jahren. Leben Familie, Kindheit Ferdinand von Zeppelin wurde am 8. Juli 1838 auf der Dominikanerinsel in Konstanz im heutigen Inselhotel geboren. Er war der Sohn des früheren fürstlich hohenzollernschen Hofmarschalls und Baumwollfabrikanten Graf Friedrich von Zeppelin (1807–1886) und dessen Frau Amélie Françoise Pauline geb. Macaire d’Hogguèr (1816–1852). Deren Vater David Macaire d’Hogguèr (1775–1845) schenkte der Familie von Zeppelin das Schloss Girsberg in Emmishofen (Schweiz), wo Ferdinand von Zeppelin zusammen mit seinen Geschwistern Eugenia und Eberhard aufwuchs und das er bis zu seinem Tod bewohnte. Ferdinand erfuhr eine Erziehung durch Hauslehrer. Von seinem Onkel Kaspar Macairé, dem Besitzer einer Indigo-Färberei auf der Konstanzer Dominikanerinsel, erhielt er 1846 dessen Naturalien-Sammlung, die er in der Folgezeit auf Schloss Girsberg neu inventarisierte und den Bestand vergrößerte. Ab 1853 besuchte er zunächst die Realschule und das Polytechnikum in Stuttgart. Ferdinand von Zeppelin führte von Kindheit an für nahezu sein gesamtes Leben ein Tagebuch. Frühe Militärlaufbahn und Studium In seinem 17. Lebensjahr trat er 1855 als Kadett in die Kriegsschule Ludwigsburg ein. Er wurde 1858 Leutnant in der Württembergischen Armee und im selben Jahr für ein Studium in den Fächern Staatswissenschaften, Maschinenbau und Chemie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen beurlaubt. Aufgrund der vorsorglichen Mobilmachung wegen des österreichisch-italienischen Konflikts musste er 1859 sein Studium abbrechen und wurde zum Ingenieurkorps einberufen. Beurlaubt, reiste Zeppelin über Liverpool nach Nordamerika und erhielt dort eine Audienz bei Präsident Abraham Lincoln. Nachdem er Ausweispapiere für die Armeen der Nordstaaten erhalten hatte, nahm er ab 1863 als Beobachter am Sezessionskrieg teil. Hierzu wurde er der Potomac-Armee der Nordstaaten zugeteilt. Zeppelin erlebte zum ersten Mal den militärischen Einsatz von Ballons und konnte am 30. April 1863 selbst an einer Ballonfahrt teilnehmen. Dieses Erlebnis ließ ihn zeitlebens nicht mehr los. Er erkannte jedoch auch die Schwäche der Freiballone: ihre Abhängigkeit von der jeweiligen Windrichtung bzw. ihre Unlenkbarkeit. Im November 1863 kehrte er nach Württemberg zurück und wurde im April 1865 Adjutant des württembergischen Königs Karl I. Den Deutschen Krieg 1866 erlebte er als Generalstabsoffizier und wurde mit dem Ritterkreuz des Württembergischen Militärverdienstordens ausgezeichnet. Hochzeit Graf Zeppelin heiratete am 7. August 1869 in Berlin Isabella Freiin von Wolff-Alt-Schwanenburg (* 4. Mai 1846 in Alt Schwanenburg, Livland; † 2. Januar 1922 in Stuttgart). Sie war eine Cousine von Sophie Freiin von Wolff-Stomersee (1840–1919), welche ein Jahr zuvor Ferdinands Bruder Eberhard von Zeppelin geheiratet hatte. Aus der Ehe von Ferdinand und Isabella ging als einziges Kind Helene (Hella) von Zeppelin (1879–1967) hervor. Weiterer Militärdienst, Gedanken zum Luftschiffbau Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 wurde Zeppelin aufgrund eines ausgedehnten Erkundungsritts hinter den feindlichen Linien berühmt. Auch in diesem Krieg spielte der Einsatz von Freiballons, besonders auf französischer Seite, eine gewisse Rolle. In seinem Tagebuch findet sich für den 25. April 1874 die erste Eintragung über die Idee, ein lenkbares Luftschiff zu bauen, nachdem er an diesem Tag einen Vortrag von Reichspostminister Heinrich von Stephan zum Thema „Weltpost und Luftschifffahrt“ verfolgt hatte. Im selben Jahr wurde er zum Major befördert. Als Oberstleutnant wurde Zeppelin 1882 Kommandeur des (1. Württembergischen) Ulanen-Regiments Nr. 19 „König Karl“ in Ulm, wo er 1884 zum Oberst befördert wurde. Im September 1885 wurde er zum Militärbevollmächtigten an der württembergischen Gesandtschaft in Berlin berufen und 1887 selbst zum württembergischen Gesandten ernannt. In dieser Zeit verfasste er eine Denkschrift an den württembergischen König über die „Notwendigkeit der Lenkballone“. Insbesondere stellte er dar, dass im Gegensatz zu Ballonen nur lenkbare Luftschiffe für die Kriegführung sinnvoll seien. Eine weitere „persönliche Denkschrift“ aus dem Jahr 1891 an das preußische Außenministerium, in der er das preußische Oberkommando über württembergische Truppenteile kritisierte, rief den Unwillen des Kaisers hervor. Im Herbstmanöver des Jahres 1890, bei dem Zeppelin eine Division führte, wurde er durch den Inspekteur der Kavallerie, den preußischen General von Kleist, ungünstig beurteilt, worauf er seinen Abschied aus dem aktiven Militärdienst nahm. Er wurde aber vom württembergischen König zum Generalleutnant befördert und blieb weiterhin „General à la suite“. 1891 nahm er in der Schweiz an einer Fahrt des Ballonfahrers Eduard Spelterini mit dem Ballon Urania teil. Pläne für ein starres Luftschiff Nach seiner Verabschiedung widmete er sich ganz der Konstruktion eines starren Luftschiffs. Eine von Kaiser Wilhelm II. berufene Sachverständigenkommission, der unter anderem die Hochschullehrer Hermann von Helmholtz, Richard Aßmann, Adolf Slaby, Heinrich Müller-Breslau und der spätere Konstrukteur von halbstarren Militärluftschiffen Premierleutnant Hans Groß angehörten, riet dem preußischen Kriegsministerium nach der Beratung in zwei Sitzungen von einer Förderung des Projekts ab. Zwar kämpfte Zeppelin gegen die Entscheidung und einzelne Mitglieder der Kommission an, doch waren die folgenden Jahre für ihn wenig erfolgreich. In der Bevölkerung wurde er ab 1895 als Narr verschrien und teilweise auf offener Straße ausgelacht. Sein Versuch, das für den Bau eines Luftschiffs notwendige Kapital von rund einer Million Mark aufzubringen, gelang nicht: Der Kaiser bezuschusste Zeppelin mit nur 6.000 Mark, durch alte Freunde und Mitglieder des Württembergischen Königshauses kamen weitere 100.000 Mark zusammen. Im Jahr 1896 wurde Zeppelin Mitglied im Verein Deutscher Ingenieure (VDI), der das Luftschiffprojekt unterstützte. Neben der Einberufung einer Kommission unterbreitete der VDI auch einen groß angelegten Aufruf zur Unterstützung des Vorhabens. Tatsächlich gelang es Zeppelin durch diesen Aufruf im Jahr 1898 in Kooperation mit deutschen Unternehmern die Aktiengesellschaft zur Förderung der Luftschiffahrt zu gründen. Allerdings blieben einige Unternehmer in ihrer finanziellen Beteiligung noch zurückhaltend, sodass Zeppelin die Hälfte des 800.000 Mark umfassenden Stammkapitals der Aktiengesellschaft aus seinem Privatvermögen aufbringen musste. Realisierung des ersten lenkbaren Starrluftschiffs Am 13. August 1898 erwarb Zeppelin das Reichspatent Nummer 98580 für einen „Lenkbaren Luftfahrzug mit mehreren hintereinander angeordneten Tragkörpern“. Der Entwurf für sein Starrluftschiff wurde hierdurch rückwirkend zum 31. August 1895 geschützt, und 1899 begann die Phase der Ausführung des ersten Luftschiffs. Die wichtigsten Merkmale von Zeppelins Konstruktion waren das starre Gerippe aus Aluminium, das aus Ringen und Längsträgern aufgebaut war, die feste Verbindung der beiden Gondeln mit dem Gerippe, die Einteilung des Gasraumes in gleich große zylindrische Zellen und die Anbringung von Luftschrauben in der Höhe des Luftwiderstands-Mittelpunkts. Die Luftschiffe wurden Zeppeline genannt. Von der Fachwelt und der breiten Öffentlichkeit wurden Zeppelins Ideen weiterhin überwiegend abgelehnt und verspottet; Kaiser Wilhelm II. bezeichnete den Grafen als den „Dümmsten aller Süddeutschen“. Zeppelin äußerte in dieser Zeit: „Für mich steht naturgemäß niemand ein, weil keiner den Sprung ins Dunkel wagen will. Aber mein Ziel ist klar und meine Berechnungen sind richtig“. 1900 kam es zu drei Aufstiegen des LZ 1 über dem Bodensee, Zeppelins technischer Leiter war dabei der Ingenieur Fritz Burr. Die immer besseren Resultate führten zu einer spontanen Begeisterung in der Bevölkerung, was entscheidend dazu beitrug, dass der Graf die Technik der Luftschiffe und ihres Betriebs weiterentwickeln konnte. Am 7. Januar 1901 verlieh der Kaiser ihm den preußischen Roten Adlerorden I. Klasse. Am 5. Dezember 1905 erhielt er den Charakter als württembergischer General der Kavallerie. Zeppelin kaufte der Witwe des ungarischen Luftfahrt-Enthusiasten und Erfinders David Schwarz die Entwürfe und Patente ihres Ehemanns ab und nutzte sie für seine Entwicklungen. Zeppelinspende des deutschen Volkes 1908 Der Bau des zweiten Zeppelins war trotz erster Erfolge nur durch Spenden und die Einnahmen einer Art Lotterie möglich. Die finanzielle Lage blieb weiterhin schwierig. Durch eine Serie von Unfällen mit seinen Luftschiffen wurde er im Volksmund auch der Narr vom Bodensee genannt. Als am 5. August 1908 der Zeppelin LZ 4 bei Echterdingen in der Nähe von Stuttgart verunglückte, löste das eine Welle der Hilfsbereitschaft aus und es kam zu einer Wende. Ausschlaggebend dafür war eine von einem Unbekannten gehaltene Ansprache, in der dieser das deutsche Volk zu einer Sammlung aufforderte, um so einen neuen Zeppelin entstehen zu lassen. Die als Nationalspende durchgeführte „Zeppelinspende des deutschen Volkes“ erbrachte über sechs Millionen Mark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: etwa 38 Millionen Euro), mit denen Zeppelin die Luftschiffbau Zeppelin GmbH und die Zeppelin-Stiftung gründen konnte. Zivile und militärische Nutzung 1908 kaufte die Militärverwaltung das voll funktionsfähige Luftschiff LZ 3 und stellte es als Z I in Dienst. Ab 1909 wurden Zeppeline in der zivilen Luftfahrt eingesetzt. Im November 1909 wurde die Deutsche Luftschiffahrts-AG (DELAG) gegründet. 1910 nahm Zeppelin an einer Expedition nach Spitzbergen teil, um die Bedingungen für einen Einsatz der Luftschiffe bei der Erforschung der Arktis zu erkunden. Im gleichen Jahr erwarb er ein 25 Hektar großes Areal an der Pirschheide in Potsdam West. 1912 wurde hier die größte Luftschiffhalle Deutschlands errichtet. Die DELAG beförderte bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 auf mehr als 1500 Fahrten insgesamt fast 35.000 Personen, danach wurden LZ 11, LZ 13 und LZ 17 an das deutsche Heer abgegeben. Ab 1914 wurden Kriegsluftschiffe für den Ersten Weltkrieg gebaut. Zunächst waren die Luftschiffe als Bomber und Aufklärer wichtiger Bestandteil der Kriegsführung. Im späteren Verlauf übernahmen Flugzeuge mehr und mehr die Rolle der Zeppeline. Zeppelins Pläne sahen vor, Potsdam zum Luftfahrtzentrum für Europa auszubauen. 1917 musste die Produktion jedoch eingestellt werden. Flugzeugbau Obwohl Zeppelin sich dem Luftschiffbau verschrieben hatte, war er dennoch weitsichtig genug, um den Bau von Großflugzeugen voranzutreiben. So unterstützte er die Unternehmensgründungen der Maybach Motorenwerke und des Flugzeugbaus Friedrichshafen und gründete selbst die Zeppelin-Werke Friedrichshafen (später Dornier) und Staaken. Der Flugzeugbau Friedrichshafen wurde zu einem der führenden Hersteller von zweimotorigen Großflugzeugen, während bei den Zeppelin-Werken in Berlin-Staaken und Friedrichshafen noch größere, sogenannte Riesenflugzeuge entstanden. Chefkonstrukteur Claude Dornier führte die von den Luftschiffen übernommene Leichtmetallbauweise im Flugzeugbau ein, und Zeppelin erlebte noch den Erstflug der ersten Riesenflugboote. Lebensende Von 1916 bis zu seinem Tod war Zeppelin als Vertreter der Ritterschaft Abgeordneter in der Ersten Kammer des Württembergischen Landtags. Ferdinand von Zeppelin starb am 8. März 1917 in Berlin, vier Monate vor seinem 79. Geburtstag. Seine Grabstätte befindet sich auf dem Stuttgarter Pragfriedhof. Nachkommen Zeppelins Tochter Helene heiratete 1909 Alexander von Brandenstein-Zeppelin (1881–1949). Deren Sohn Alexander Graf von Brandenstein-Zeppelin (der Jüngere, 1915–1979) heiratete Ursula Freiin von Freyberg-Eisenberg-Allmendingen (1917–1985). Aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor, u. a. Albrecht von Brandenstein-Zeppelin (* 1950) und Constantin von Brandenstein-Zeppelin (* 1953). Nachwirkung Auf Ferdinand von Zeppelin gehen die noch existierende Luftschiffbau Zeppelin GmbH und die Zeppelin-Stiftung zurück. Der 1911 errichtete Luftschiffhafen Potsdam wird heute für Sportzwecke und als Kongresszentrum genutzt. Nach dem vorläufigen Aus für seine Luftschiffe gegen Ende des Ersten Weltkrieges und aufgrund des Versailler Vertrags kam es unter seinem Nachfolger Hugo Eckener zu einer zweiten Blüte großer Starrluftschiffe, die mit dem Unglück der LZ 129 „Hindenburg“ am 6. Mai 1937 ihr Ende fand. Die Insektensammlung der Familie hat von Zeppelin 1872, die Mineraliensammlung 1874 dem Rosgartenmuseum in Konstanz übergeben. Auszeichnungen Ferdinand Graf von Zeppelin ist Ehrenbürger der Städte Friedrichshafen (1907), Konstanz (1908), Worms (1908), Stuttgart (1908), München (1909), Lindau (1909), Baden-Baden (1910) und Ulm (1912). Großkreuz des Württembergischen Militärverdienstordens Großkreuz des Ordens der Württembergischen Krone Großkreuz des Friedrichs-Ordens Große Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft am Bande des Ordens der Württembergischen Krone Goldene Karl-Olga-Medaille Württembergisches Dienstehrenzeichen I. Klasse Komtur II. Klasse des Ordens vom Zähringer Löwen Goldene Badische Medaille für Kunst und Wissenschaft am Band des Ordens Berthold des Ersten Großkreuz des Bayerischen Militärverdienstordens Goldene Prinzregent-Luitpold-Medaille mit Krone Verdienstzeichen für Kunst und Wissenschaft in Gold Großkreuz des Verdienstordens Philipps des Großmütigen Großkreuz mit der Krone in Gold des Hausordens der Wendischen Krone Mecklenburgisches Militärverdienstkreuz II. Klasse Schwarzer Adlerorden (November 1908) Kronenorden I. Klasse Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste Eisernes Kreuz (1870) II. Klasse Rechtsritter des Johanniterordens Hausorden der Rautenkrone Großkreuz des Albrechts-Ordens Komtur des Hausordens vom Weißen Falken Großkreuz des Herzoglich Sachsen-Ernestinischen Hausordens Großkreuz des Dannebrog-Ordens Ritter der Ehrenlegion Orden der Eisernen Krone III. Klasse K. u. k. Österreichisch-Ungarisches Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft Russischer Orden vom Weißen Adler Russischer Orden der Heiligen Anna I. Klasse Orden des Heiligen Wladimir III. Klasse Ehrenmitglied des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung (1908) Ehrenmitglied des Vereins für vaterländische Naturkunde in Württemberg (1910) Ehrenpräsident Königlich Württembergischer Yacht-Club Ehrenbürgerwürde der Stadt Konstanz (1908) Ehrendoktor der Universität Leipzig (1908) Ehrendoktor der Technischen Hochschule Dresden Ehrendoktor der Universität Tübingen (1908) Grashof-Denkmünze des Vereins Deutscher Ingenieure (1908) Rezeption in Kunst und Kultur Die Person und das Werk Ferdinand von Zeppelins fand zu seinen Lebzeiten und nach seinem Tod vielfältige Rezeption in Kunst und Kultur. Diese reichte von achtungsvoller Ehrung bis zu komischer bzw. spöttischer Bloßstellung. Im Rahmen der Zeppelin- bzw. Luftfahrtbegeisterung hauptsächlich vor und während des Ersten Weltkrieges wurden an vielen Orten Zeppelinsteine aufgestellt. Musical Am 16. Oktober 2021 feierte "Zeppelin - Das Musical" in Füssen im Festspielhaus Neuschwanstein Weltpremiere. Ein Musical über den Pionier der Luftschifffahrt, den berühmten Grafen Zeppelin und den letzten Flug der Hindenburg. Karikaturen Zu den bekannten Karikaturen gehört eine am 18. August 1908 und damit kurz nach dem Unglück von Echterdingen im Magazin Simplicissimus erschienene Illustration. Graf Zeppelin wird hier in einer „Galerie berühmter Zeitgenossen“ karikaturistisch abgebildet und dabei als Mann dargestellt, welcher einen kleinen Luftballon an der Hand hält. Zeising interpretiert diese Karikatur als Darstellung eines „infantilen Luftgreises mit Frack und Kinderluftballon an der Hand“. Eine weitere bekannte Karikatur erschien 1928 ebenfalls im Simplicissimus. Von Zeppelin wird hier als liegende, wolkenähnliche Gestalt gezeichnet, welche auf das nach ihm benannte Luftschiff LZ 127 Graf Zeppelin hinunterschaut, welches im Jahr 1928 seinen Erstflug absolvieren sollte. Kleinkunst und Cabaret Ebenso haben viele Künstler aus dem Bereich des Cabarets und der Kleinkunst Lieder und Szenen auf und über den Zeppelin gemacht, die auf Edisoncylindern und Grammophonplatten erhalten sind. Mit Zeppelin im Luftballon. Gustav Schönwald. Edison Goldguß-Walze EGW 15 946 Kinderlied an Zeppelin. Robert Steidl. Grammophon 942.691 (mx. 17 981 L) Zeppelin kommt! Scene (Bendix) Paul Bendix mit Ensemble. Homocord 4-2964 (T.M.) Erinnerung an den 29. August 1909, Teil 1 u. 2. Henry Bender. Grammophon 2-22 154 (mx. 1840 ab) Graf Zeppelin und Die Wacht am Rhein. Zeppelin-Couplet. Henry Bender. Grammophon 2-22 155 (mx. 1841 ab) Zeppelin-Marsch (Hugo Hirsch – Text: Artur Rebner) Robert Koppel. Beka B.5248 (mx. 32 669) Tünnes un Schäl em Zeppelin. Scene. Gerhard Ebeler, rheinischer Humorist. Grammophon 23 601 (mx. 2541) Eine Zeppelinreise. Weiß Ferdl. Gloria G.O.10 230 (Bi 132) The Golden Age of Ballooning. Monty Python’s Flying Circus. Erste Fogle der 4. Staffel (1974). Hörbeispiele Mit dem Zippel, mit dem Zappel, mit dem Zeppelin. Couplet (Otto Reutter) gesungen von Otto Reutter mit Orchesterbegleitung, Berlin. Zonophone Record X-2-22 016, aufgen. 1908 (youtube.com) Mit dem Zippel, mit dem Zappel, mit dem Zeppelin. Humoristischer Vortrag mit Klavierbegleitung. Kalliope Nr. 1617, c. 1910/11; anonym singt hier Gustav Schönwald das Couplet von Otto Reutter. (youtube.com) Comic Graf Zeppelin. Über Land und Meer, Abenteuer der Weltgeschichte. Die interessante Jugendzeitschrift, Nr. 45. (Walter Lehning Verlag, Hannover) o. J. [ca. 1955]. Heftroman K. v. Bossewitz: Graf Zeppelins Heldenritt. Band 2 der Heftromanreihe Unter deutscher Flagge (1911). Gedenken In Bützow gibt es das erste Zeppelin-Denkmal Deutschlands, dass dem Grafen Ferdinand von Zeppelin am 31. Mai 1910 gewidmet wurde. In Friedrichshafen gibt es ein Zeppelindenkmal und einen Zeppelin-Brunnen an der Uferpromenade. In Konstanz steht ein Zeppelindenkmal am Gondelhafen. Bei Echterdingen steht ein Gedenkstein, der an den Brand des LZ4 erinnert. Weitere Zeppelinsteine an anderen Orten. Auf zehn von Bernhard Hoetger 1934 geschaffenen Bildtafeln am Haus des Glockenspiels in der Bremer Böttcherstraße sind sogenannte „Ozeanbezwinger“ dargestellt, darunter auf einer Tafel Ferdinand Graf von Zeppelin und Hugo Eckener. Deutschland ehrte Zeppelin 1992 zu seinem 75. Todestag mit der Herausgabe einer Sonderbriefmarke (MiNr. 1597). Außerdem gab es 1992 eine Marke aus der Reihe „Historische Luftpostbeförderung“ mit einer Abbildung des LZ 127 „Graf Zeppelin“ (MiNr. 1525), 2000 die Marke „100 Jahre Zeppelin-Luftschiffe“ mit der Abbildung des LZ1 (MiNr. 2128) sowie 2007 die Marke „Historischer Luftschiffverkehr nach Südamerika“ mit einer Abbildung des LZ 127 „Graf Zeppelin“. Namensgebungen Die Kaiserliche Marine stellte im Ersten Weltkrieg das Vorpostenboot Graf Zeppelin in Dienst. Die Kriegsmarine benannte nach ihm die Graf-Zeppelin-Klasse von Flugzeugträgern, von der jedoch lediglich das Typschiff Graf Zeppelin gebaut, aber nicht in Dienst gestellt wurde. In Deutschland existieren hunderte Zeppelinstraßen, eine Reihe von Zeppelinwegen, einige Zeppelinplätze und zwei Zeppelinbrücken, in Frankfurt am Main die Zeppelinallee und der Zeppelinpark sowie in Neu-Isenburg den Stadtteil Zeppelinheim. Das Zeppelin-Gymnasium in Lüdenscheid und das Graf-Zeppelin-Gymnasium in Friedrichshafen wurden nach ihm benannt In Friedrichshafen besteht die Zeppelin-Universität, eine private, staatlich anerkannte Universität Kultur- und Kongresszentrum Graf-Zeppelin-Haus in Friedrichshafen Das Marinefliegergeschwader 3 „Graf Zeppelin“ der Deutschen Marine trägt seit 1967 den Traditionsnamen „Graf Zeppelin“. Ein Neigezug ICN der Schweizerischen Bundesbahnen aus der RABDe-500-Flotte ist auf Graf Zeppelin getauft. Das Hotel und Restaurant „Zum Zeppelin“ in Hamburg-Schnelsen bekam seinen Namen von Graf Zeppelin verliehen. Dieser hatte im Jahr 1912 mit seinem Automobil eine Panne vor der Gaststätte. Ihm wurde geholfen. „Und Otto Scheel erbat sich statt klingender Münze die Erlaubnis, das Radfahrerheim fortan ‚Zum Zeppelin‘ nennen zu dürfen. Auf scherzhafte Weise taufte Graf Zeppelin die Gaststätte um.“ In der Antarktis trägt der Mount Zeppelin seinen Namen. Museen, Ausstellungen Das Zeppelin Museum Friedrichshafen, das Zeppelin-Museum Zeppelinheim bei Frankfurt am Main und weitere Zeppelinmuseen in Deutschland, Dänemark und den USA würdigen die Arbeit von Zeppelins. 17. Mai – 15. September 2013: Ausstellung Graf Zeppelin – Techniker und Luftschiffer im Zeppelin Museum Friedrichshafen Trivia Nach eigenem Bericht baute von Zeppelin in den 1860er Jahren einen Fischerkahn in ein Sportsegelboot um und war damit einer der ersten Sportsegler auf dem Bodensee. Dokumentarisches Fernsehspiel 1970: Ferdinand Graf von Zeppelin – Stunde der Entscheidung – Regie: Falk Harnack, mit Wolfgang Büttner in der Titelrolle. Literatur Michael Bélafi: Ferdinand Graf von Zeppelin. 3., verbesserte Auflage. Teubner Verlag, Leipzig 1990, ISBN 3-322-00402-3. Karl Clausberg: Zeppelin: Die Geschichte eines unwahrscheinlichen Erfolges. Weltbild Verlag, Augsburg 1990, ISBN 978-3-89350-030-7. Erich Gröner u. a.: Die deutschen Kriegsschiffe 1815–1945. Bd. 8/2: Vorpostenboote, Hilfsminensucher, Küstenschutzverbände (Teil 2), Kleinkampfverbände, Beiboote. Koblenz (Bernard & Graefe) 1993, S. 533. ISBN 3-7637-4807-5. Gunter Haug: Ferdinand Graf Zeppelin. 1. Auflage, Landhege-Verlag, Schwaigern 2013. ISBN 978-3-943066-18-0. Franz Hoben (Hrsg.): Spazierfahrt in der Luft: Literarische Zeppelinaden. Eine Anthologie. 2. Auflage, Klöpfer & Meyer Verlag, Tübingen 2017. ISBN 978-3-86351-446-4. Jörg Koch: Ferdinand von Zeppelin und seine Luftschiffe, ARES Verlag, Graz 2016, ISBN 978-3-902732-68-2. Hartmut Löffel et al.: Graf Ferdinand von Zeppelin. In: Hartmut Löffel (Hrsg.): Oberschwaben als Landschaft des Fliegens. Eine Anthologie. Edition Isele, Konstanz/Eggingen 2007, ISBN 978-3-86142-429-1, S. 177–310. Ulrich Queck: Graf Ferdinand v. Zeppelin – Pionier und Wegbereiter der Weltluftschiffahrt. In: Horst Schädel (Hrsg.): Fliegerkalender der DDR 1988. Militärverlag der DDR, Berlin 1987, S. 74–79. Günter Schmitt, Werner Schwipps: Pioniere der frühen Luftfahrt. Verlag Gondrom, Bindlach 1995, ISBN 3-8112-1189-7. Alexander Vömel: Graf Ferdinand von Zeppelin. Ein Mann der Tat. 6. Auflage. Christliche Verlags-Anstalt, Konstanz 1933. Weblinks Ferdinand Graf von Zeppelin bei friedrichshafen.de Ferdinand Graf von Zeppelin bei leo-bw.de Ferdinand Graf von Zeppelin – Ansprache an das deutsche Volk Aufnahme vom 24. August 1908 im Online-Archiv der Österreichischen Mediathek Einzelnachweise Zeppelin Erfinder Luftschiffer General der Kavallerie (Württemberg) Generalstabsoffizier (Preußen) Unternehmer (Württemberg) Mitglied der Württembergischen Kammer der Standesherren Ehrenmitglied des Physikalischen Vereins Ritter des Schwarzen Adlerordens Träger des Mecklenburgischen Militärverdienstkreuzes Träger des Herzoglich Sachsen-Ernestinischen Hausordens (Großkreuz) Träger des Hausordens vom Weißen Falken (Kommandeur) Träger des Roten Adlerordens 1. Klasse Träger des Preußischen Königlichen Kronenordens 1. Klasse Träger des Pour le Mérite (Friedensklasse) Träger des Württembergischen Militärverdienstordens (Großkreuz) Träger des Ordens der Württembergischen Krone (Großkreuz) Träger des Friedrichs-Ordens (Großkreuz) Träger des Ordens vom Zähringer Löwen (Kommandeur II. Klasse) Ritter des Hausordens der Rautenkrone Träger des Verdienstordens Philipps des Großmütigen (Großkreuz) Großkreuz des Hausordens der Wendischen Krone Träger des Ordens der Eisernen Krone (III. Klasse) Träger des Ordens des Heiligen Wladimir Träger des Ordens der Heiligen Anna Träger des Bayerischen Militärverdienstordens (Großkreuz) Träger des Großkreuzes des Dannebrogordens Träger des Albrechts-Ordens (Großkreuz) Träger des Kaiserlich-Königlichen Ordens vom Weißen Adler Träger des Eisernen Kreuzes II. Klasse Rechtsritter (Johanniterorden) Mitglied der Ehrenlegion (Ritter) Ehrenbürger von Baden-Baden Ehrenbürger von Friedrichshafen Ehrenbürger von Konstanz Ehrenbürger von Lindau (Bodensee) Ehrenbürger von München Ehrenbürger von Stuttgart Ehrenbürger von Ulm Ehrenbürger von Worms Ehrendoktor der Eberhard Karls Universität Tübingen Ehrendoktor der Technischen Universität Dresden Ehrendoktor der Universität Leipzig Ferdinand Person im Deutschen Krieg Person im Deutsch-Französischen Krieg Ferdinand Namensgeber für eine Universität Mineraliensammler Person (Stuttgart) Württemberger Deutscher Geboren 1838 Gestorben 1917 Mann
1904
https://de.wikipedia.org/wiki/GfK%20%28Unternehmen%29
GfK (Unternehmen)
GfK ist das größte deutsche Marktforschungsinstitut, derzeit weltweit die Nummer fünf der Branche. GfK ist seit März 2017 im mehrheitlichen Besitz (96,7 %) des Investmentfonds Acceleratio Capital N.V., einer Holdinggesellschaft des amerikanischen Private-Equity-Konzerns Kohlberg Kravis Roberts & Co. Das Unternehmen erhebt die Einschaltquoten für das Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland. Die Gemeinde Haßloch diente von 1986 bis 2021 als durchschnittlicher Ort als Testmarkt für das Instrument GfK BehaviorScan, mit dem vor allem die Wirkung von Fernsehwerbung untersucht und die Neueinführung von Produkten simuliert wurde. Vom Unternehmen wird unter anderem auch der GfK-Konsumklimaindex errechnet. Im Juli 2023 wurde der Verkauf des Unternehmens an das Unternehmen YouGov für 315 Millionen Euro bekannt gegeben – mit dem Ziel des Zusammenschlusses der GfK mit dem US-Riesen NielsenIQ (NIQ). Geschichte GfK wurde im Februar 1934 als GfK-Nürnberg Gesellschaft für Konsumforschung e. V. von Nürnberger Hochschullehrern, darunter dem späteren deutschen Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard, gegründet. Das Konzept wurde vom Mitbegründer Wilhelm Vershofen gestaltet. Anfänglich führte der Verein 71 verschiedene Untersuchungen durch, u. a.: Die Bekanntheit von Warenzeichen Körperpflege und Seifenverbrauch in Deutschland Struktur des Getränkeverbrauchs in Deutschland Patient und Arzneimittel Der Autofahrer beurteilt die Straßenkarten von Treibstofffirmen Die Aktivitäten des GfK Vereins in den Jahren 1934 bis 1945 wurden nach dem Krieg von der amerikanischen Besatzungsmacht untersucht. Diese Untersuchung führte dazu, dass der Verein im Jahr 1947 eine Lizenz zur Weiterführung seiner Aktivitäten erhielt. 1984 wurden die kommerziellen Aktivitäten in die GfK GmbH ausgegliedert, diese wurde am 23. Januar 1990 zur GfK AG umfirmiert. Zu diesem Zeitpunkt beschränkte sich der „GfK-Verein“ auf die Förderung der Markt- und Absatzforschung. Im September 1999 vollzog die GfK AG ihren Börsengang und wurde mit Wirkung zum 20. März 2000 in den MDAX aufgenommen. Am 24. März 2003 stieg das Unternehmen in den SDAX ab, in welchem es bis zum 22. März 2017 verblieb. Im Jahr 2009 folgte die Umwandlung in eine Europäische Gesellschaft (SE). Die Börsennotierung der GfK SE endete durch einen Squeeze Out im Oktober 2017. Im August 2016 senkte GfK seine Gewinnprognosen für das laufende Geschäftsjahr als Folge hoher Abschreibungen auf Firmenwerte. Die Wirtschaftswoche berichtete über Verkaufspläne des GfK-Vereins. Im Dezember 2016 unterbreitete die Beteiligungsgesellschaft KKR ein Übernahmeangebot für 18,54 Prozent der Unternehmensanteile. Vorstand und Aufsichtsrat von GfK unterstützten das Angebot von KKR mit einem Volumen von mindestens 294 Millionen Euro. Im Herbst 2018 erwarb der französische Wettbewerber Ipsos für 105 Millionen Euro einen Geschäftsbereich mit 1.000 Mitarbeitern, der sich mit kundenspezifischen Einzelaufträgen beschäftigt. Anfang 2020 wurde der Firmenhauptsitz vom Nordwestring in das neue Gebäude „Orange Campus“ in der Sophie-Germain-Straße verlegt. Nach dem Wegfall von 400 Arbeitsplätzen in Nürnberg war das neu errichtete Gebäude zu groß, sodass Teile der dortigen Büroräume an die DATEV eG weitervermietet wurden. Im Jahr 2020 startete GfK außerdem eine neue durch künstliche Intelligenz unterstützte Plattform. Kunden können damit auf relevante Daten in Echtzeit zugreifen und erhalten Handlungsempfehlungen auf Basis von Vorhersagen. Im Juli 2022 wurde bekanntgegeben, dass die Kapitalbeteiligungsgesellschaft Advent International das Unternehmen übernehmen und mit dem seit 2021 ebenfalls in ihrem Besitz befindlichen US-amerikanischen Konkurrenten NielsenIQ (ehemals der Geschäftsbereich Global Connect von The Nielsen Company, der sich an Hersteller von Konsumgütern richtete) vereinen wird. Die EU-Wettbewerbskommission stimmte dem grundsätzlich zu, unter der Voraussetzung, dass GfK den Geschäftsbereich Consumer Panel (Verbraucherbefragung und -analyse) veräußert. Im Juli 2023 wurde bekannt, dass YouGov den Zuschlag für den Verkauf des GfK Consumer-Panels für 315 Millionen Euro bekommen hat. Das Bundeskartellamt hatte bereits dem Verkauf im Vorfeld zugestimmt. Als Formsache gilt ebenfalls die noch die Zustimmung der EU-Kommission, die im zweiten Halbjahr 2023 noch erwartet wird – womit die Übernahme dann vollzogen wäre. Akquisitionen und Beteiligungen 2016: Übernahme von Netquest mit dessen Tochter Wakoopa, um im lateinamerikanischen Markt für Online-Panels Fuß zu fassen. 2015: Übernahme von NORM Research & Consulting sowie Aufstockung der Anteile bei YouEye Inc., GfK Retail and Technology GmbH, GfK Latinoamerica Holding, GfK Retail and Technology Asia Holding, GfK Marketing Services K.K., GfK Retail and Technology Argentina, ENCODEX International, Incoma GfK und GfK CR Japan. 2014: Übernahme von TerrEtude, Cogenta, PT Primera Indonesia und PanelVet sowie Aufstockung der Anteile bei IFR South America und Genius Digital. 2013: Übernahme von acmr, PCNData und Sensemetric sowie Aufstockung der Anteile bei GfK Etilize, media control (GfK international), GfK-Conecta und GfK UK Entertainments (jeweils auf 100 Prozent). 17. September 2012: Übernahme des US-amerikanischen Unternehmens für User Experience-Forschung User Centric (jetzt GfK User Centric) 2. Juli 2012: Aufstockung der Anteile an nurago und SirValUse Consulting auf 100 Prozent (jetzt GfK nurago / GfK SirValUse Consulting). 2. März 2012: Übernahme des britischen Healthcare-Marktforschers Bridgehead International (jetzt GfK Bridgehead) 9. Dezember 2011: Übernahme des US-amerikanischen Unternehmens für Online-Forschung Knowledge Networks Inc. 1. Januar 2011: Aufstockung der Anteile an SirValUse Consulting auf 60 Prozent. 2. November 2010: Übernahme des US-amerikanischen Beratungsunternehmens Interscope 8. Juli 2010: Übernahme der GfK Mode in Indien und vollständige Übernahme der dmrkynetec (jetzt: GfK Kynetec) 6. Mai 2010: Beteiligung an dem Deutschen Unternehmen SirValUse Consulting 1. April 2009: Übernahme des britischen Marktforschungsinstituts Ascent Market Intelligence (Ascent-MI) 1. März 2009: Aufstockung der Anteile an der IFR Monitoring Group um 24,2 Prozent auf 100 Prozent 1. Februar 2009: Die Beteiligung an dmrkynetec wurde auf nunmehr 75 Prozent der Anteile ausgebaut. 7. August 2008: Die GfK Gruppe übernahm die US-amerikanische Arbor Strategy Group (ASG) zu 100 Prozent. Die ASG, die zu den führenden Beratungsunternehmen im Bereich strategischer Markenentwicklung gehört, firmiert als GfK Strategic Innovation. 15. Juli 2008: Im Sektor Custom Research beteiligte sich die GfK an dem Unternehmen dmrkynetec in Großbritannien. Außerdem erhöhte die GfK Gruppe ihre Anteile an Chart-Track, Großbritannien und der GfK Danmark, Dänemark. Mit der neu gegründeten GfK Albania, Albanien, kam ein neues GfK-Tochterunternehmen in der Region Zentral- und Osteuropa hinzu. 9. April 2008: GfK hat das Marktforschungsunternehmen Bilesim International in der Türkei sowie die restlichen 34 Prozent der Anteile an dem schweizerischen Unternehmen GfK Research Matters erworben 21. September 2006: GfK Macon, GfK Prisma und GfK Regionalforschung schlossen sich zu GfK GeoMarketing zusammen. Das neue GfK-Tochterunternehmen war damit einer der größten Geomarketing-Anbieter Europas. 1. Juli 2005: Vollständige Übernahme des amerikanischen Unternehmens GfK V2 13. Juni 2005: 33 Prozent an der Research Matters AG erworben 11. Mai 2005: Komplette Übernahme des Geomarketing-Spezialisten GfK Macon AG; Erwerb von jeweils 51 Prozent an dem kanadischen Unternehmen Research Dynamics Inc. und an Adimark S. A. in Chile 15. April 2005: GfK erwarb die Marktforschungsgruppe NOP World vollständig vom britischen Medienkonzern United Business Media Organisation CEO 1998–2011: Klaus L. Wübbenhorst 2011–2016: Matthias Hartmann 2017–2022: Peter Feld seit 2022: Lars Nordmark (Interim) Geschäftsfelder Zum Kerngeschäft von GfK gehört neben der Erhebung und Aufbereitung von Daten über das Konsumverhalten auch die Beratung von Unternehmen mit Hilfe technologiebasierter Anwendungen. GfK bietet seine Dienstleistungen weltweit in folgenden Branchen an: Technologie & Gebrauchsgüter, Einzelhandel, Verbrauchsgüter, Automobil, Finanzdienstleistungen, Medien und Unterhaltung an. Dazu werden Daten von mehr als 180 Millionen SKUs erhoben und mehr als zwei Millionen Personen in 15 Ländern befragt – dies geschieht nach anerkannten Regeln der Markt- und Meinungsforschung sowie den Richtlinien der Markt- und Sozialforschungsverbände (z. B. den ESOMAR Standards), die verbindliche Vorgaben enthalten. Durch Einblicke in das Marktgeschehen in Echtzeit ermöglicht GfK seinen Kunden wichtige Geschäftsentscheidungen u. a. in den Bereichen Marketing oder Vertrieb zu treffen. Seit 2020 bietet GfK seinen Kunden eine AI getriebene Plattform, die auf Basis relevanter Daten Vorhersagen erstellt und mit Handlungsempfehlungen kritische Geschäftsentscheidungen erleichtert. Messung der Einschaltquoten Innerhalb Deutschlands ist GfK vor allem dafür bekannt, dass sie mit der Messung der Einschaltquoten des Fernsehens beauftragt ist. Dafür werden spezielle Messgeräte (GfK-Meter, auch als GfK-Telemeter bekannt) benutzt, die an den Fernsehapparat angeschlossen werden. Die Entwicklung der GfK-Meter geht zurück in das Jahr 1963. Das erste Fernseh-Meter, Tammeter genannt, wurde von der britischen „Television Audience Measurement“ (TAM) entwickelt. Die ARD und ZDF gründeten mit der „Infratam“ mit Sitz in Wetzlar eine gemeinsame Tochtergesellschaft und führten von 1963 bis 1974 die ersten kontinuierlichen Quotenmessungen durch. Das Tammeter maß dabei minutengenau, lieferte die Ergebnisse (Geräteeinschaltung, Kanal, Uhrzeit) aber erst vier Wochen später und nur für den kompletten Fernsehhaushalt. 1975 wurde das Tammeter vom Teleskomat (ebenfalls von Infratam) abgelöst, welches personenbezogene Ergebnisse aus 1.200 Haushalten im 30-Sekunden-Takt bis zu sechs Programme und bis zu sieben Personen im Haushalt erfasste und über Nacht über die Telefonleitung an den Zentralrechner lieferte. Einen weiteren Fortschritt stellte das Telecontrol (TC 3, TC 6, TC XL) dar, das bei der Messung der Einschaltquote alle Programme, alle Personen, die an der jeweiligen Fernsehübertragung beteiligt sind, berücksichtigt und mit Hilfe der Telefonleitung die Daten ins GfK-Daten-Center übermittelt. Seit 1985 wird die Fernsehnutzung von ursprünglich ca. 2.700 repräsentativ ausgewählten Haushalten sekundengenau mittels der GfK-Meter in Deutschland gemessen. Das Panel wurde wegen der Aufnahme der neuen Bundesländer 1991 und wegen neuer regionaler Sollvorgaben 1996 erweitert. Zusätzlich wurden 2001 noch 140 Haushalte aus der Europäischen Union hinzugefügt. Nach einem Höchststand von 5.500 besteht das Fernsehpanel seit 2012 aus 5.000 täglich abgerufenen Haushalten, in denen ca. 10.500 Personen leben. Das System (GfK-Meter) besteht aus drei Teilen: dem eigentlichen Messgerät, einer Fernbedienung, mit der alle Personen des Haushalts sich individuell an- und abzumelden haben, sowie einer Anzeige. Nachts werden die Daten über Telefonleitung zur GfK nach Nürnberg geschickt, dort ausgewertet und stehen am nächsten Morgen den Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung zur Verfügung. Logo Literatur Helmut Bräuer: Die Verpackung als absatzwirtschaftliches Problem. Eine absatzwirtschaftliche und werbepsychologische Untersuchung des deutschen Verpackungswesens. Dissertation vom 15. Mai 1957 an der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Nürnberg. (Kallmünz über Regensburg), 1958, 271 S. (Marktwirtschaft und Verbrauch. Band 9, Schriftenreihe der Gesellschaft für Konsumforschung e. V., Nürnberg) Georg Bergler: Das Schrifttum über den Markenartikel. 4. auf den neuesten Stand gebrachte Auflage. Nürnberg: Gesellschaft für Konsumforschung, 1960, 332 S. (Marktwirtschaft und Verbrauch, Band 12, Schriftenreihe der Gesellschaft für Konsumforschung e. V.) Ludwig Berekoven: Die Werbung für Investitions- und Produktionsgüter, ihre Möglichkeiten und Grenzen. (Marktwirtschaft und Verbrauch, Schriftenreihe der GfK-Gesellschaft für Konsumforschung e. V. Band 16). München: Moderne Industrie 1961, 178 S. S. Jonathan Wiesen: Creating the Nazi Marketplace: Commerce and Consumption in the Third Reich. Cambridge : Cambridge Univ. Press, 2011 Siehe auch Nürnberg Institut für Marktentscheidungen (Bis 2019 GfK-Verein e.V.) Weblinks Offizielle Website Einzelnachweise Marktforschungsunternehmen Dienstleistungsunternehmen (Nürnberg) Ehemals börsennotiertes Unternehmen (Deutschland) Gegründet 1934
1911
https://de.wikipedia.org/wiki/Kanton%20Glarus
Kanton Glarus
Glarus [] (Kürzel GL; , , , ) ist ein Kanton in der Deutschschweiz und zählt zu den Regionen Nordost- und Südostschweiz. Der Hauptort ist die gleichnamige Stadt Glarus, der einwohnerstärkste Ort ist die Gemeinde Glarus Nord. Geographie Der Kanton umfasst das Einzugsgebiet der Linth bis zum Walensee und die Linthebene westlich der Linth bis Bilten sowie den Kerenzerberg. Grosse Höhenunterschiede prägen das Bild des Glarnerlandes: Vom flachen Talboden auf 414 Metern Höhe steigt das Gelände bis auf über 3600 Meter (Tödi, ). Diese Gegensätze widerspiegeln sich im Klima: Es wechselt innerhalb weniger Kilometer von mild am Walensee mit seiner südländischen Pflanzenwelt zu hochalpin auf den vergletscherten Berggipfeln; und bläst der Föhn durchs Tal, können Temperaturrekorde gemessen werden. Das Tal ist nur nach Norden zur Linthebene hin geöffnet. Der 685 Quadratkilometer grosse Kanton entspricht etwa dem Einzugsgebiet der Linth. Das Sernf- oder Kleintal bietet als einziges Seitental dörflichen Siedlungen Platz. Das Klöntal, das wichtigste westliche Seitental, ist, wie Carl Spitteler rühmt, mit seinem Bergsee «so schön, wie es kein Traum errät». Als sichtbarster Eingriff des Menschen zur Zähmung der Natur zeigt sich das imposante Linthwerk, welches das Antlitz der ganzen Region prägt. Die Linthkorrektion wurde 1807 als erstes Nationalwerk der Schweiz in Angriff genommen. Die Linth wird in den Walensee geleitet und ihr Lauf in den Zürichsee kanalisiert. Zuvor floss sie, den Ausfluss des Walensees immer mehr zurück stauend und die Linthebene versumpfend, träge dem Zürichsee zu. Bevölkerung Einwohner Per betrug die Einwohnerzahl des Kantons Glarus . Die Bevölkerungsdichte liegt mit  Einwohnern pro Quadratkilometer unter dem Schweizer Durchschnitt ( Einwohner pro Quadratkilometer). Der Ausländeranteil (gemeldete Einwohner ohne Schweizer Bürgerrecht) bezifferte sich am auf  Prozent, während landesweit  Prozent Ausländer registriert waren. Per betrug die Arbeitslosenquote  Prozent gegenüber  Prozent auf eidgenössischer Ebene. Sprachen Amtssprache im Kanton Glarus ist Deutsch. 83,6 Prozent der Einwohner sind deutsch- und 6,8 Prozent italienischsprachig. Die Glarner Mundart ist nicht einheitlich, gemeinsam jedoch ist den glarnerischen Idiomen die melodiöse, singende Sprache. Das Glarnerdeutsche zählt zu den Dialekten des Höchstalemannischen. Religionen – Konfessionen Die eidgenössische Volkszählung aus dem Jahr 2000 ergab folgendes Konfessionsbild: 44,0 % protestantisch (das Bundesamt für Statistik zählt dazu auch die Zeugen Jehovas und die neuapostolische Glaubensgemeinschaft) 37,3 % römisch-katholisch 2,3 % christlich-orthodox 6,5 % muslimisch 3,5 % andere Konfessionen bzw. keine Angaben 6,5 % konfessionslos Die Evangelisch-Reformierte Landeskirche des Kantons Glarus und die römisch-katholische Kirche sind staatlich anerkannte Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die beiden Kirchen ordnen ihre inneren Angelegenheiten selbständig und erlassen eine Verfassung, die der Genehmigung des Landrates bedarf. Verfassung und Politik Die gegenwärtige Verfassung des Kantons Glarus wurde am 1. Mai 1988 von der Landsgemeinde angenommen und seither mehrmals revidiert. Legislative Landsgemeinde Die Landsgemeinde ist die Versammlung der stimmberechtigten Einwohner und damit das oberste Organ des Kantons. Die ordentliche Landsgemeinde findet alljährlich am ersten Sonntag im Mai statt und wird vom Landammann geleitet. Die Grundlage für die Verhandlungen bilden die im Memorial oder im Amtsblatt veröffentlichten Vorlagen des Landrates (des Parlaments); andere Gegenstände dürfen nicht beraten werden. Jeder stimmberechtigte Teilnehmer hat das Recht, zu den Sachvorlagen Anträge auf Unterstützung, Abänderung, Ablehnung, Verschiebung oder Rückweisung zu stellen. Die Landsgemeinde wählt den Landammann (Präsidenten der Kantonsregierung) und den Landesstatthalter (Vizepräsidenten der Kantonsregierung), die Gerichtspräsidenten und die weiteren Richter. Sie beschliesst über den Erlass und die Änderungen der Kantonsverfassung und über den Erlass, die Änderung und die Aufhebung der kantonalen Gesetze. Sie fasst die Beschlüsse über alle einmaligen Ausgaben von mehr als 1 Million Franken und über alle wiederkehrenden Ausgaben von mehr als 200 000 Franken im Jahr. Überdies legt sie den Steuerfuss fest. Anders als im Kanton Appenzell Innerrhoden finden die Wahlen zum Regierungsrat und in den Ständerat nicht an der Landsgemeinde statt, sondern in geheimer Wahl an der Urne. Landrat Der Landrat ist das Parlament des Kantons. Er zählt sechzig Mitglieder, die vom Volk an der Urne in drei (den drei Gemeinden entsprechenden) Wahlkreisen im Proporzwahlsystem auf jeweils vier Jahre gewählt werden. Der Landrat wählt alljährlich aus seiner Mitte den Präsidenten, den Vizepräsidenten und die weiteren Mitglieder des Landratsbüros. Er ist die oberste Aufsichtsbehörde über die Regierung, die Verwaltung und die Gerichte. Er berät die Verfassungs- und Gesetzgebung und die übrigen Beschlüsse zu Handen der Landsgemeinde vor und erlässt in eigener Kompetenz Verordnungen, Verwaltungs- und Finanzbeschlüsse. Überdies entscheidet er über grundlegende oder allgemeinverbindliche Planungen. Die letzten Landratswahlen fanden am 15. Mai 2022 statt und ergaben folgende Sitzverteilung: Exekutive Der Regierungsrat ist die Regierung des Kantons. Er besteht seit 2006 aus fünf (vorher sieben) Mitgliedern, die vom Volk an der Urne in einem einzigen Wahlkreis im Majorzwahlsystem auf jeweils vier Jahre gewählt werden. Sein Präsident (Landammann) und sein Vizepräsident (Landesstatthalter) werden für jeweils zwei Jahre von der Landsgemeinde gewählt. Er ist die leitende und oberste vollziehende Behörde, plant das staatliche Handeln, vertritt den Kanton nach aussen und führt die kantonale Verwaltung. Er entwirft die Gesetze und rechtsetzenden Verordnungen zu Handen des Landrates und der Landsgemeinde und erlässt in eigener Kompetenz Vollzugs- und Verwaltungsverordnungen. Seit den Wahlen vom 4. März 2018 setzt sich der Regierungsrat wie folgt zusammen: Bei der Ersatzwahl für den Ende April 2021 zurücktretenden Rolf Widmer wurde am 28. März 2021 Markus Heer (SP) im zweiten Wahlgang gewählt. Ihm unterlegen war Jürg Feldmann (CVP/Die Mitte). Judikative Erste gerichtliche Instanz ist das Kantonsgericht, das in zwei Zivilkammern, eine Strafkammer und eine Strafgerichtskommission gegliedert ist. Zweite gerichtliche Instanz ist das Obergericht. Der Kanton Glarus kennt eine kantonale Schlichtungsbehörde, welche die Aufgabe hat, bei zivilrechtlichen Streitigkeiten vor einem Gerichtsverfahren eine gütliche Einigung zwischen den Parteien herbeizuführen. Eingeführt per Landsgemeindebeschluss von 2017 ersetzte sie je eine kantonale Schlichtungsbehörde für Mietverhältnisse und die Gleichstellung und drei kommunale Vermittlerämter. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wird vom Verwaltungsgericht ausgeübt. Daneben gibt es für besondere Verwaltungsstreitigkeiten verwaltungsunabhängige Rekurskommissionen. Die Richter werden von der Landsgemeinde auf jeweils vier Jahre gewählt. Die Strafverfolgung findet durch die Staats- und die Jugendanwaltschaft statt. Politische Gemeinden Mit dem Landsgemeindebeschluss vom 7. Mai 2006 wurden die Glarner Ortsgemeinden, Schulgemeinden, Fürsorgegemeinden und Tagwen (Bürgergemeinden) per 1. Januar 2011 zusammengelegt (siehe Glarner Gemeindereform), sodass seither nur noch drei Gemeinden existieren. Dieser Beschluss wurde an einer ausserordentlichen Landsgemeinde vom 25. November 2007 deutlich bestätigt. Neben diesen drei Einheitsgemeinden gibt es die ebenfalls öffentlichrechtlich anerkannten Kirchgemeinden der Evangelisch-Reformierten Landeskirche des Kantons Glarus und der römisch-katholischen Kirche. Der Kanton Glarus kennt keine Einteilung in Bezirke. Das Bundesamt für Statistik (BFS) führt den gesamten Kanton jedoch als einen Bezirk unter der BFS-Nr.: 0800. Stimmrechtsalter 16 Mit dem Landsgemeindebeschluss vom 6. Mai 2007 wurde das Stimmrechtsalter auf 16 festgesetzt. In einer hart umkämpften Debatte und mit einem knappen Resultat konnte sich der Antrag der JUSO Glarus durchsetzen. So können seither im Kanton Glarus – als erstem und bisher einzigem Schweizer Kanton – Staatsbürger ab dem 16. Lebensjahr das aktive Stimm- und Wahlrecht in kantonalen Angelegenheiten wahrnehmen. Das passive Wahlrecht bleibt weiterhin bei 18 Jahren. Vertretung in der Bundesversammlung Der Kanton Glarus entsendet einen Vertreter in den Nationalrat und zwei in den Ständerat. Derzeitiger Glarner Nationalrat ist Martin Landolt (BDP), die Glarner Ständeräte sind Thomas Hefti (FDP, seit 2014) und Mathias Zopfi (Grüne, seit 2019). Für die beiden Vertreter im Ständerat ist das passive Wahlrecht insofern eingeschränkt, als sie nicht wieder gewählt werden können, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet haben. Infrastruktur und Wirtschaft Verkehr Das Glarnerland wird stündlich von der der S-Bahn Zürich bedient. Sie löste im Juni 2014 den Glarner Sprinter ab und bedient alle Stationen auf dieser Strecke sowie Siebnen-Wangen, Lachen, Pfäffikon SZ, Wädenswil und Zürich HB. Damit besteht erstmals ein Stundentakt nach Zürich. Daneben bedient die der S-Bahn St. Gallen die Strecke Ziegelbrücke – Schwanden ebenfalls stündlich, woraus sich ein Halbstundentakt ergibt. Mühlehorn an der Bahnstrecke Ziegelbrücke–Sargans wird stündlich von der Ringbahn bedient. Konzessionäre für den Busverkehr sind die Schweizerischen Bundesbahnen, der Schweizerische Postautodienst und im Hinterland der Autobetrieb Sernftal (AS) als Nachfolger der 1969 stillgelegten Sernftalbahn. Der Kanton Glarus gehört dem Tarifverbund Ostwind an. Eine Kombination von Abos und Tickets mit dem Zürcher Verkehrsverbund ist über den Z-Pass möglich. Im Jahr 2022 lag der Motorisierungsgrad (Personenkraftwagen pro 1000 Einwohner) bei 590. Die Autobahn A3 verläuft teils, die Autostrasse 17 vollständig im Kanton Glarus. Hauptachse im Glarnerland ist die Hauptstrasse 17, welche entlang der Linth verläuft. Landwirtschaft und Industrie In der Landwirtschaft überwiegt die Vieh- und besonders die Milchwirtschaft. Im Jahr 2020 wurden 32 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Kantons durch 97 Betriebe biologisch bewirtschaftet. Hauptwirtschaftszweig ist aber die Industrie, vor allem Textilindustrie, Maschinen- und Apparatebau, Holzverarbeitung und Baustoffindustrie. Der Kanton Glarus war eine der ersten und die am stärksten industrialisierte Gegend der Schweiz. Daneben sind Elektrizitätsgewinnung durch Wasserkraftwerke und Fremdenverkehr wichtig. Tourismus Dem Tourismus kommt – insbesondere in den Orten Braunwald, Elm und Filzbach – grosse Bedeutung zu, der Dienstleistungssektor wächst stetig und die Infrastruktur im Tal ist sehr gut ausgeprägt. Der Glarner Industrieweg führt in mehreren Etappen an die wichtigsten Stationen der Glarner Industriegeschichte, und die Via Glaralpina führt in 19 Etappen als Bergwanderweg rund um den Kanton. Schule und Kultur Das Schulsystem des Kantons Glarus ist gut ausgebaut: Kindergarten, Volksschule (teilweise Einführungsklassen, Sonder- und Hilfsschule) mit den Oberstufenzügen Ober-, Real- und Sekundarschule; zudem gibt es das Werkjahr, das freiwillige zehnte Schuljahr, den hauswirtschaftlichen Jahreskurs und die Integrationsklasse. An der Kantonsschule Glarus kann die schweizerische Maturität erlangt und die Fachmittelschule besucht werden. Es finden auch Volkshochschulkurse statt. In Ziegelbrücke wird eine Gewerbliche Berufsschule, in Glarus diejenige der kaufmännischen Berufe und die Pflegeschule geführt. Im Kanton können in rund 400 Lehrbetrieben etwa 130 Berufe erlernt werden. Die reichen Angebote von Landesarchiv und vor allem der modernen Glarner Landesbibliothek dienen nicht nur den Bildungshungrigen, sondern auch geschichtlich und kulturell Interessierten oder einfach dem Lese-, Hör- und Sehvergnügen. Die Landesbibliothek (Kantonsbibliothek) verfügt mit der Kartensammlung von Walter Blumer und der Kartografie-Bibliothek von Arthur Dürst über ein wenig bekanntes, aber kartenhistorisch interessantes Forschungsmaterial. Glarus besitzt ein renommiertes, als solches errichtetes Kunsthaus. Auch die Galerie Tschudi in Glarus und verschiedene private Galerien zeigen immer wieder Sehenswertes aus dem Bereich der darstellenden Künste, die von zahlreichen Künstlern und Künstlerinnen im Kanton ausgeübt werden. Die Musikwoche Braunwald ist die traditionsreichste derartige Veranstaltung in ganz Europa. Sie lädt die Teilnehmenden nicht nur zum Zuhören, sondern auch zum aktiven Mittun ein. Die Glarner Musikschule Glarus trägt, zusammen mit zahlreichen Vereinen und Gruppen, zum Musikleben bei. Und die Modern Music School – Glarnerland ergänzt das traditionelle Ausbildungs-Angebot mit einem auf die modernen Stilrichtungen spezialisierten Programm. Weiter sind die Glarner Konzert und Theatergesellschaft sowie das Kultur- und Vereinszentrum Holenstein Glarus (vor allem in alternativer Kultur) aktiv. Im sportlichen Bereich besteht ein Angebot in verschiedenen Sportzentren und locken natürlich die nahen Berge und Seen zu lokaler Aktivität. Die erste Schweizer-Alpen-Club-Hütte der Schweiz, die Grünhornhütte, wurde im Kanton Glarus, am Tödi, erstellt, und die Wiege des schweizerischen Skisports stand im Glarnerland. Geschichte Wappen Das Glarner Wappen zeigt als einziges Kantonswappen der Schweiz einen Menschen: den heiligen Fridolin mit Wanderstab und Bibel. Der Legende nach war Fridolin ein irischer Glaubensbote, der Anfang des 6. Jahrhunderts lebte und durch dessen Einfluss die Bewohner des Glarnerlandes zu Christen wurden. In kirchlichen Darstellungen wird er von einem Skelett begleitet. Die Sage berichtet, Fridolin, der vom sterbenden, reichen Ursus grosse Teile des Glarnerlandes geschenkt bekam, habe diesen im Erbstreit mit dessen Bruder Landolf aus dem Grab um Hilfe geholt. Landolf sei, als er den bereits in Verwesung übergegangenen Bruder vor Gericht erscheinen sah, darob so erschrocken und beschämt worden, dass er Fridolin auch seinen Teil des Glarnerlandes schenkte. Auf diese Art wurde die Zugehörigkeit des Glarnerlandes zu dem von Fridolin gegründeten Kloster Säckingen in Deutschland erklärt, und Fridolin gilt als Schutzpatron vor Erbschleicherei. Literatur Fridolin Baumgartner, Fridolin Walcher (Fotos): Glarner Heimatbuch. Hrsg. vom Departement Bildung und Kultur des Kantons Glarus. Lehrmittelverlag des Kantons Glarus, Glarus 2008, ISBN 978-3-85546-188-2 (online-Version: Glarner Heimatbuch, abgerufen am 10. August 2010). Josef Schwitter, Urs Heer (Fotos): Das Glarnerland. Ein Kurzporträt. Baeschlin, Glarus 2000 (Erstauflage 1996), ISBN 3-85546-112-0. Weblinks Offizielle Website des Kantons Glarus Offizielle Statistik Einzelnachweise Glarus
1913
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Glarus
Die Stadt Glarus (örtlich , , ) ist eine politische Gemeinde (bis 2010 Ortsgemeinde, heute Einheitsgemeinde) und der Hauptort des gleichnamigen Schweizer Kantons Glarus. Im Rahmen der Glarner Gemeindereform fusionierte Glarus auf den 1. Januar 2011 mit den Gemeinden Ennenda, Netstal und Riedern zur neuen politischen Gemeinde Glarus. Geographie Glarus liegt in der geografischen Mitte des gleichnamigen Kantons an der Linth und am Fusse des rund 2300 m hohen Vorderglärnisch. Der höchste Punkt des Gemeindegebiets ist der hohe Bächistock, der zum Massiv des Glärnisch gehört. Nachbargemeinden sind die Gemeinden Glarus Nord, Glarus Süd sowie Muotathal und Innerthal (beide Kanton Schwyz). Klima Für die Normalperiode 1991–2020 beträgt die Jahresmitteltemperatur 9,3 °C, wobei im Januar mit 0,0 °C die kältesten und im Juli mit 18,3 °C die wärmsten Monatsmitteltemperaturen gemessen werden. Im Mittel sind hier rund 86 Frosttage und 19 Eistage zu erwarten. Sommertage gibt es im Jahresmittel rund 41, während im Schnitt 6 Hitzetage zu verzeichnen sind. Die Messstation von MeteoSchweiz liegt auf einer Höhe von Geschichte Erstmals schriftlich erwähnt wird das Land Clarona im 8. Jahrhundert in der Vita der Heiligen Felix und Regula. Der Name geht wahrscheinlich, nach einem Vorschlag von Hubschmid (1949), auf eine lateinische Grundform , im übertragenen Sinn «Waldlichtung», zurück; andere, weitgehend als verfehlt geltende Ansätze leiteten den Namen her von lateinisch , oder von einem rätischen Volksstamm der *Claroneses o. ä., oder aber vom Namen des hl. Hilarius. Die Lautentwicklung dürfte über ein romanisches Claróna mit Akzentverschiebung zu einem althochdeutschen geführt haben. Die Endung in -s dürfte analogisch zu anderen romanischen Ortsnamen eingeführt worden sein, und aus der Form *Gláruns wäre dann das -n- regulär geschwunden. Die dialektale Form Glaris wurde als analog zum Heiligennamen Hilarius (dialektal Gläri) gedeutet. Erste Siedlungsspuren stammen aus dem 6. oder 7. Jahrhundert. Ab dem mittleren 8. Jahrhundert dürfte die alemannische Besiedlung einsetzen, und Glarus gehörte von dieser Zeit bis ins späte 14. Jahrhundert zur Grundherrschaft des Klosters Säckingen. Das grundherrliche Gericht fand im 13. und 14. Jahrhundert im Kelnhof in Glarus statt. 1240 ist erstmals ein Markt erwähnt. Ein eigenes Glarner Siegel wird ab den 1280er-Jahren verwendet. 1387 fand die erste Landsgemeinde statt, eine Institution, die noch heute hier besteht und in der Regel am ersten Sonntag im Mai abgehalten wird. Der Loskauf von der Säckinger Grundherrschaft gelang 1388, durch Zürcher Vermittlung im Rahmen der Friedensgespräche nach der Schlacht bei Näfels. Zum Hauptort des Linthtals wurde Glarus durch Beschluss der Landsgemeinde 1419, da hier lange die einzige Kirche der Talschaft stand. 1506 bis 1516 war der spätere Reformator Ulrich Zwingli beliebter katholischer Priester in Glarus. 1522 bis 1555 war Valentin Tschudi der erste evangelische Pfarrer, ein gemässigter Reformator und Vermittler zwischen beiden Konfessionen. 1555 bis 1570 folgte Fridolin Brunner als Pfarrer, der zuvor in mehreren Glarner Dörfern die Reformation durchgeführt hatte. Während der Helvetik (1798–1803) war Glarus Hauptort des Kantons Linth. Im Jahr 1861 wütete ein verheerender Grossbrand, der grosse Teile des Ortes zerstörte. Nur wenige Gebäude aus der Zeit vor dem Brand blieben im Stadtbild erhalten. Der Wiederaufbau erfolgte sehr schnell nach einem städtebaulichen Plan, der auf einem rechteckigen Raster beruhte. Diese vor allem aus den Vereinigten Staaten bekannte Art der Städteplanung wurde gewählt, um weitere derartige Feuersbrünste zu verhindern. Politik Gemeindepräsident ist Peter Aebli (FDP), der bei den Gemeinderatswahlen vom 13. Februar 2022 als Nachfolger von Christian Marti gewählt wurde. Dem Gemeinderat gehören neben ihm noch sechs weitere Mitglieder an. Die neue Gemeinde Glarus bildet einen Landratswahlkreis, der 18 der 60 Glarner Landräte stellt. Wirtschaft Die einst wichtige Textilindustrie ist fast völlig verschwunden. Es überwiegt heute Holz- und Kunststoffindustrie sowie Stoff- und Buchdruckerei. Der Dienstleistungssektor ist zum wichtigsten Wirtschaftszweig geworden. Grösster Arbeitgeber ist heute das Kantonsspital mit etwa 450 Arbeitsplätzen. Auch der Tourismus gewinnt an Bedeutung. Verkehr Der Bahnhof Glarus wird von der der S-Bahn St. Gallen und der der S-Bahn Zürich bedient. Die stündlich verkehrenden Regionalzüge fahren zeitlich versetzt und bieten so einen Halbstundentakt zwischen Schwanden und dem Knotenpunkt Ziegelbrücke. Weiter wird der Bahnhof von mehreren Regionalbuslinien bedient. Sehenswürdigkeiten Stadtkirche Glarus, Wahrzeichen der Stadt (Architekt Ferdinand Stadler) Fridolinskirche, katholisch (1964, Architekt: Ernest Brantschen) Burgkapelle St. Michael Der Bahnhof und Güterschuppen, Lokomotiv-Remisen und Drehscheibe Kraftwerk am Löntsch Kunsthaus Glarus Landesbibliothek Stählihaus Städtepartnerschaften mit Kobryn in Belarus, initiiert vom ehemaligen Gemeindepräsidenten Heinrich Aebli. In Kobryn hatte General Suworow, der 1799 im Glarnerland Station machte, ein Anwesen besessen. mit Wiesbaden-Biebrich in Deutschland (seit Januar 2009). Persönlichkeiten Heinrich Aebli (* 1933), 1985–2002 Stadtpräsident von Glarus, danach Entwicklungshelfer Mario Andreotti (* 1947), Germanist Gianni Antoniazzi (* 1998), Fussballspieler Joachim Bäldi (vor 1527–1571), Hauptmann, Landschreiber, Landvogt und Landammann Marcel Bernasconi (* 1940), Jazzpianist Othmar Blumer (1848–1900), Industrieller und Politiker Franz Böckle (1921–1991), römisch-katholischer Priester und Moraltheologe Pierangelo Boog (* 1957), Künstler und Illustrator Walter Bräm (1915–1996), Politiker, Nationalrat Fridolin Brunner (1498–1570), Reformator und evangelischer Pfarrer in Glarus 1555–1570 Maria Anna Brunner (1655–1697), Benediktinerin und Äbtissin Ernst Buss (1843–1928), evangelischer Geistlicher, Heimatforscher, Begründer der Deutschen Ostasienmission und Vizepräsident des Schweizer Alpen-Clubs. Erwin C. Dietrich (1930–2018), Schauspieler, Drehbuchautor, Filmproduzent und Regisseur, geboren in Glarus Melchior Dürst (1886–1950), Lehrer, Theatergründer, Regisseur und Bühnenautor Ekkehard Fasser (1952–2021), Leichtathlet und Bobfahrer Andy Fischli (1973–2022), Comiczeichner und Illustrator Pankraz Freitag (1952–2013), Mathematiker, Politiker, Baudirektor im Regierungsrat Cosmus Freuler (1780–1838), Lehrer, Buchdrucker und Bibliothekar Friedrich Frey (1867–1933), Archivar und Heimatforscher Frieda Gallati (1876–1955), Historikerin Anna Göldi (1734–1782), «letzte Hexe Europas», in Glarus hingerichtet William Nicholas Hailmann, US-amerikanischer Pädagoge Eveline Hasler (* 1933), Schriftstellerin Walter Haug (1927–2008), Mediävist Walter Hauser (1957–2022), Schriftsteller und Journalist Joachim Heer (1825–1879), Landammann und Bundesrat Markus Heer (* 1976), Politiker (SP), Regierungsrat und ehemaliger Richter im Kanton Glarus Jodok Hösli (um 1592–1637), Abt des Klosters Pfäfers Heinrich Hössli (1784–1864), Schriftsteller, Vorkämpfer für die «Männerliebe» Heinrich Jenny-Fehr, Schweizer Autor und Gründer der Glarner Lichtspiele AG This Jenny (1952–2014), Unternehmer und Politiker Heinrich Jenny-Fehr (1884–1962), Kaufmann, Bühnenautor und Gründer der Glarner Lichtspiele AG Johann Melchior Kubli (1750–1835), Politiker, «Whistleblower» des Anna-Göldi-Justizmordes Dafi Kühne (* 1982), Plakatgestalter und Buchdrucker Fritz Künzli (1946–2019), Fussballspieler Adèle Lilljeqvist (1862–1927), Malerin Christian Marti (* 1974), Gemeindepräsident von Glarus und Glarner Landrat Hanspeter Marti (* 1947), Germanist Bernhard Milt (1896–1956), Arzt und Medizinhistoriker Patrick Mitidieri (* 1975), Rapper Innocenz Müller (1675–1727), Bibliothekar des Klosters St. Gallen Christoph Dietrich Müller (* 1944), evangelischer Theologe Raoul Mutter (* 1991), Fussballspieler Herbert Noser (* 1961), Fussballspieler Fridolin Paravicini (1742–1802), Offizier und Ratsherr in Glarus Yvan Pestalozzi (* 1937), Eisenplastiker Yves Rüedi (* 1976), Bundesrichter Giaco Schiesser (* 1953), Kulturwissenschaftler, Philosoph, Publizist Alfred Schmid (1899–1968), Naturwissenschaftler, Erfinder, Philosoph Rudolf Schmid (1894–1989), Mediziner und Politiker Karl Schnyder (1931–2016), Politiker Johannes Schweizer (1901–1983), Gartenarchitekt Urs Sonderegger (* 1964), Autorennfahrer Willy Spieler (1937–2016), Publizist, Redaktor und Politiker Rösli Spiess (1896–1974), Musikerin und Musikpädagogin Johann Rudolf Steinmüller (1773–1835), reformierter Pfarrer und Pädagoge, Schulreformer und Naturforscher Jean-Fritz Stöckli (* 1949), Rechtswissenschaftler und Hochschullehrer Rösli Streiff (1901–1997), Skirennfahrerin Eduard Horst von Tscharner (1901–1962), Sinologe Aegidius Tschudi (1505–1572), Historiker und Politiker Johann Jakob von Tschudi (1818–1889), Naturforscher, Forschungsreisender, Linguist und Diplomat Rudolf Tschudi (1884–1960), Philologe und Orientalist Valentin Tschudi (1499–1555), Reformator, erster evangelischer Pfarrer von Glarus Sam Trümpy (1941–2003), Jazzmusiker Jakob Vogel (1816–1899), Druckereibesitzer und Dichter Jakob Wäch (1893–1918), Kunstmaler Christoph Walter (* 1967), Militärmusiker, Komponist und Dirigent Jürg Wickihalder (* 1973), Jazzmusiker und Komponist Abraham Wild (1628–1689), evangelischer Geistlicher Josua Zweifel (1854–1895), Afrikaforscher, Entdecker der Nigerquellen Ulrich Zwingli (1484–1531), Reformator (1506–1516 Pfarrer in Glarus) Trivia In Glarus befindet sich die einzige Rekrutierungsstelle der Päpstlichen Schweizergarde, die von einer privaten Personalagentur betrieben wird. Weblinks Offizielle Website der Gemeinde Glarus Einzelnachweise Ort im Kanton Glarus Schweizer Gemeinde Hauptort eines Kantons (Schweiz) Ortsbild von nationaler Bedeutung im Kanton Glarus Ersterwähnung im 8. Jahrhundert
1916
https://de.wikipedia.org/wiki/Gregorianischer%20Kalender
Gregorianischer Kalender
Der gregorianische Kalender, auch bürgerlicher Kalender, ist der weltweit meistgebrauchte Kalender. Er entstand gegen Ende des 16. Jahrhunderts durch eine Reform des julianischen Kalenders. Benannt ist er nach Papst Gregor XIII., der ihn 1582 mit der päpstlichen Bulle Inter gravissimas verordnete. Er löste im Laufe der Zeit sowohl den julianischen als auch zahlreiche andere Kalender ab und bildet die Basis der Datumsdarstellung nach ISO 8601. Der gregorianische ist wie der julianische Kalender ein Sonnenkalender, jedoch mit diesem gegenüber durch Interkalation verbesserter Schaltjahresregelung. Damit liegt ihm eine durchschnittliche Jahreslänge von 365,2425 Tagen zugrunde, die den etwa 365,2422 Tagen des Sonnenjahres näherkommt als noch die 365,25 Tage des julianischen Kalenders (siehe auch Tropisches Jahr und Kalenderjahr). Der Zweck der gregorianischen Kalenderreform bestand darin, ein weiteres Auseinanderdriften von Kalender- und Sonnenjahr zu verhindern und beide besser zu synchronisieren. Der Darische Kalender ist ein Kalenderentwurf für den Planeten Mars, der im Wesentlichen auf den gleichen Prinzipien basiert wie der gregorianische Kalender. Gregorianische Kalenderreform Grund für die gregorianische Kalenderreform war nicht allein das im Vergleich zum Sonnenjahr zu lange julianische Kalenderjahr, sondern auch die zunehmende falsche Datierung des christlichen Osterfestes (Osterdatum). Der julianische Kalender hinkte dem Jahreslauf der Sonne im 16. Jahrhundert, im Verhältnis zum 4. Jahrhundert, bereits um zehn Tage nach. Der nötige, in einem Stück angeordnete Ausfall von zehn Kalendertagen erzeugte allgemeine Irritation und führte auch innerhalb der katholischen Kirche zur nur zögernden Annahme des gregorianischen Kalenders. Die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen verzögerten die Annahme aus ideologischen Gründen, weil die Reform vom Papst ausgegangen war. Mängel im julianischen Kalender Da ein julianisches Kalenderjahr mit seinen durchschnittlich 365,25 Tagen um etwa elf Minuten länger ist als das Sonnenjahr, verschob sich der astronomische Frühlingsanfang etwa alle 130 Jahre um einen Tag auf ein früheres Kalenderdatum. Im Jahr 1582, noch vor der Korrektur durch die gregorianische Kalenderreform im selben Jahr, fiel er auf den 11. März. Das bedeutete, zeit seines Bestehens hatten sich im julianischen Kalender die astronomischen Ereignisse im Sonnenjahr um 10 Kalendertage früher verschoben. Da außerdem 19 julianische Jahre etwa um 0,06 Tage länger sind als die 235 synodischen Monate des Mondzirkels, verschob sich etwa alle 16 19-Jahre-Perioden (also etwa alle 300 Jahre) der berechnete („zyklische“) gegenüber dem astronomischen Vollmondzeitpunkt auf einen Tag später im julianischen Kalender (der astronomische Vollmondzeitpunkt eilte dem auf Basis des julianischen Kalenders berechneten voraus). Das vom Datum des Frühlingsanfangs und vom Datum des Frühlingsvollmondes abhängige Osterdatum wurde infolgedessen nicht mehr richtig bestimmt. Das Schema für die Vorhersage der in Ostertafeln (siehe Komputistik) eingetragenen künftigen Osterdaten war im 6. Jahrhundert als Ergebnis der Arbeiten von Dionysius Exiguus fixiert worden. Bereits Beda stellte im Jahre 725 fest, dass der Vollmond den berechneten Terminen voraus war. Reformansätze Seit dem 14. Jahrhundert wurden immer wieder Vorschläge für eine Kalenderreform unterbreitet – unter anderem durch Nikolaus von Kues im Auftrag des Konzils von Basel, Regiomontanus und Nikolaus Kopernikus. Diese waren aber stets abgelehnt worden. Gleichwohl bildeten Kopernikus’ Werk De revolutionibus orbium coelestium („Von den Umdrehungen der Himmelskörper“) sowie die prutenischen Tafeln von Erasmus Reinhold die Basis für die schließlich von Papst Gregor XIII. dekretierte Reform. In der Reformkommission unter dem Vorsitz von Kardinal Guglielmo Sirleto arbeiteten Aloisius Lilius (bis 1576, danach sein Bruder Antonio), Christophorus Clavius, Ignazio Danti, Pedro Chacón (1526–1581), Séraphin Olivier-Razali und Vincenzo Lauro. Die Kommission entschied sich dafür, den Kalender derart zurechtzurücken, dass das Primar-Äquinoktium wieder in der Nähe des 23. März wie im Jahre 46 v. Chr., als der julianische Kalender geschaffen wurde, stattfinden sollte, und es mittels einer genaueren mittleren Jahreslänge dort zu stabilisieren. Hauptbestandteil der vorgesehenen Reform war ein korrigierter Algorithmus zur Bestimmung des Osterfestes. Außer dem korrigierten und künftig einzuhaltenden richtigen Datum des Frühlingsanfangs war dafür das korrigierte und künftig einzuhaltende Datum des (Frühlings-)Vollmondes nötig. Mit der mathematischen Ausarbeitung des neuen Kalenders wurde der in Rom als Mathematiker am Collegio Romano lehrende deutsche Jesuit Christophorus Clavius vom Papst beauftragt. Er folgte dabei weitgehend den Vorschlägen des Mediziners und Astronomen Aloisius Lilius. Reformjahr 1582 Die Reform erfolgte durch die päpstliche Bulle Inter gravissimas curas vom 24. Februar 1582. Die Verspätung des Kalenders gegenüber den Jahreszeiten (z. B. dem Frühlingsanfang) wurde 1582 durch Auslassen von zehn Kalendertagen korrigiert. Man stellte dabei die Verhältnisse zur Zeit des Konzils von Nicäa im Jahre 325 wieder her, da auf diesem Konzil erstmals Beschlüsse über das Osterdatum gefasst worden waren. Der Frühlingsanfang hatte sich vom 23. März zur Zeit Julius Cäsars bis zum 4. Jahrhundert auf den 21. März verschoben. Im Jahr 1583 fand in allen Ländern, die den neuen (gregorianischen) Kalender sofort angenommen hatten, der Frühlingsanfang dann wieder am 21. März statt. Die aktuellen vorhergesagten (zyklischen) Daten der Mondphasen wurden durch Verschieben im reformierten Kalender um drei Tage auf früher korrigiert. Bei der Suche nach einem geeigneten Zeitpunkt für die Reform war die Wahl auf den Oktober gefallen, da der Kalender für diesen Monat vergleichsweise wenige Heiligenfeste enthielt und die ausgelassenen Tage auf diese Weise nur eine geringe Störung des Heiligenkalenders verursachten. Wegen der hohen Bedeutung des Sonntags im Christentum unterbrach die Reform nicht die Abfolge der Wochentage. Auf Donnerstag, den 4. Oktober, folgte Freitag, der 15. Oktober. Alle Sonntage im julianischen Kalender sind auch Sonntage im gregorianischen. Neue Jahreslänge (Sonnengleichung) Um ein fortwährendes Abrücken des Frühlingsanfangs vom 21. März in Zukunft zu vermeiden, wurde im gregorianischen Kalender die Dauer des mittleren Kalenderjahres mit 365,2425 statt wie bisher mit 365,25 Tagen berücksichtigt. Die Verkürzung erfolgte mit Hilfe einer weiteren, übergeordneten Schaltregel, nach der diejenigen Säkularjahre (Jahre, deren Zahl durch 100 ohne Rest teilbar ist), deren Zahl dividiert durch 400 keine ganze Zahl ergibt, keine Schaltjahre sind. Danach waren die Jahre 1700, 1800 und 1900 keine Schaltjahre. Die Jahre 1600 und 2000 waren Schaltjahre. Die Jahre 2100, 2200 und 2300 sowie 2500, 2600 und 2700 usw. werden ohne Schalttag sein (Sonnengleichung, Metemptose). Da zwischen der Datumskorrektur im Jahr 1582 und dem Jahr 1700 mit der erstmaligen Anwendung dieser neuen Ausnahmeregel 117 Jahre vergingen, liegt der Frühlingsanfang im Kalender im Durchschnitt um einen Tag zu früh. Er pendelt zwischen dem 19. und dem 21. März, anstatt symmetrisch um den 21. März. Korrektur des Monddatums (Mondgleichung) Zur Bestimmung des Osterdatums wird die Periode des Mondzirkels verwendet, nach der die Mondphasen alle 19 Sonnenjahre wieder auf den gleichen Tag fallen. Bisher wurde der dabei gemachte kleine Fehler von einem Tag in etwa 310 Jahren ignoriert. Bei der Reform wurde der aufgelaufene Fehler von etwa drei Tagen durch Vorverlegen um drei Tage im Kalender beseitigt und eine genauere künftige Übereinstimmung mit Hilfe der Mondgleichung vorgesehen. Diese besagt, dass der Tag des Frühlingsvollmondes alle 312,5 Jahre um einen Kalendertag auf früher zu verschieben ist. Dafür sind acht Säkularjahre in 2500 Jahren vorgesehen. Die Korrektur der Länge des Kalenderjahres mit ausgelassenen Schalttagen würde die Korrektur des Mond-Datums verfälschen. Deshalb ist in den Säkularjahren ohne Schalttag das Monddatum um einen Tag später im Kalender anzugeben (umgekehrte Sonnengleichung). Wenn in einem Säkularjahr sowohl die Mond- als auch die Sonnengleichung anzuwenden ist, bleibt das Monddatum unverändert: − 1 Tag + 1 Tag = 0 Tage. Jahresbeginn Parallel zur Kalenderreform, nicht gleichzeitig mit ihr, wurde der Jahresbeginn auf den 1. Januar verschoben (Circumcisionsstil), der sich aufgrund seines Namens (lat. ianua bedeutet „Tür“) und der zeitlichen Nähe zum Christfest und der Wintersonnenwende als Neujahrstag anbot; außerdem hatte sich darin die römische Tradition bewahrt. Im Mittelalter hatte das Jahr ansonsten an unterschiedlichen Tagen begonnen, darunter Weihnachten, Ostern und Mariä Verkündigung (Annunciationsstil). Dennoch hatte die gregorianische Reform einen Einfluss darauf, weil der päpstlichen Bulle eine Liste mit den neuen Namenstagen der Heiligen beilag, die die restlichen Feiertage 1582 bis zum 31. Dezember und die des ganzen folgenden, neu aufgeteilten Jahres (und aller zukünftigen) aufführte. Damit kam es zu Überschneidungen von elf Tagen (gregorianischer/julianischer Kalender) und gleichzeitig einem Jahr (zwischen Neujahr und Ostern): „am 10./21. Februar 1750/1751“. Übernahme des gregorianischen Kalenders Eine weitere zeitliche Übersicht ist zum Beispiel unter Adoption of the Gregorian calendar zu finden. Verbreitung Nur die Länder Spanien, Portugal, Polen und teilweise Italien übernahmen den gregorianischen Kalender tatsächlich am Donnerstag, dem 4. Oktober 1582 (es folgte dann Freitag, der 15. Oktober 1582). Die meisten katholischen Länder Europas folgten in den nächsten Jahren, während die protestantischen Länder den neuen vom Papst dekretierten Kalender zunächst ablehnten. Vor dem Hintergrund der einsetzenden Konfessionalisierung führte dies zu heftigen Polemiken, beispielsweise brachte der Kalenderstreit die seit 1555 bikonfessionelle Stadt Augsburg 1584 an den Rand eines Bürgerkriegs. Ähnliches ereignete sich bei den Kalenderunruhen in Riga. Im selben Jahr führten ihn die meisten katholischen Kantone der Schweiz ein; dort folgte damals auf den 28. Februar der 11. März 1584. Einige katholische schweizerische Territorien folgten allerdings erst später, nämlich Unterwalden im Juni 1584, das Wallis 1655 und katholisch Glarus 1700. Die ersten 117 Jahre nach 1582 betrug der Datumsunterschied zwischen gregorianischem und julianischen Kalender unverändert und einprägsam zehn Tage, da die neue Schaltjahresregelung (kein Schaltjahr bei Jahrhundertwechsel mit nicht durch 400 teilbarer Jahreszahl) nur theoretisch zu bedenken war. Mit deren erstmaliger aktueller Anwendung nach dem 28. Februar 1700 stand jedoch eine Erhöhung der Differenz zwischen von zehn auf elf Tage an. Dadurch drohte aus der Perspektive Ende des 17. Jahrhunderts ein weiteres Festhalten am julianischen Kalender die Umrechnung auf den gregorianischen Kalender weiter zu erschweren, erweitert um die Diskussion, ob man ihn angesichts dessen um einzelne Elemente der Reform wie die neue Schaltjahresregelung (was das Anwachsen der Differenz vermeiden hätte) oder die verbesserte Osterberechnung ergänzen solle. Die evangelischen Territorien des Heiligen Römischen Reichs übernahmen den gregorianischen Kalender 1700 nach einem Beschluss des Corpus Evangelicorum. Außerhalb des Reiches hatte schon 1612 das mit dem Kurfürstentum Brandenburg in Personalunion verbundene Herzogtum Preußen als erstes protestantisches Territorium den katholischen Kalender eingeführt, auf Druck des Lehnsherrn Königreich Polen. Auf den 18. Februar folgte im Reich unmittelbar der 1. März 1700. Zuvor hatten beispielsweise Verträge zwischen katholischen und protestantischen Fürsten mit beiden Daten versehen werden müssen (bei Beibehalten des julianischen Kalenders auch noch danach, nun aber um elf Tage, etwa als 3./14. April 1750; siehe Beispiel rechts). Um die Jahreswende differierten die Jahreszahlen zwischen den Gebieten des alten und des neuen Kalenders. Aus dieser Zeit stammt der Ausdruck „zwischen den Jahren“ für die Tage nach Weihnachten. Das Königreich Dänemark, zu dem damals auch Norwegen und Island gehörten, führte den gregorianischen Kalender ebenfalls vom 18. Februar auf den 1. März 1700 ein. Die reformierten Orte der Schweiz folgten knapp ein Jahr später, sie sprangen vom 31. Dezember 1700 auf den 12. Januar 1701, allerdings mit vier Ausnahmen: Der protestantische Halbkanton Appenzell Ausserrhoden, die protestantische Stadt St. Gallen und die protestantischen Teile von Glarus schlossen sich erst 1724 an, und in Graubünden erfolgte der offizielle Übergang zum neuen Kalender je nach Gemeinde zwischen 1760 und 1812. Der alte Kalender blieb aber in einigen Gegenden der Schweiz noch länger in der Bevölkerung lebendig; so wurde im evangelischen Engadin Neujahr bis etwa 1870 am 13. Januar gefeiert, und die Appenzeller Silvesterkläuse treten noch immer am 13. Januar auf, dem 31. Dezember nach dem julianischen Kalender (Alter Silvester). In England (und auch in den späteren USA) wurde der gregorianische Kalender in der Nacht vom 2. auf den 14. September 1752 eingeführt, in Schweden vom 17. Februar auf den 1. März 1753. Die Osterrechnung blieb im Heiligen Römischen Reich noch mehr als 70 Jahre unterschiedlich, was in den Jahren 1724 und 1744 zu unterschiedlichen Terminen führte (1724: ev. 9., kath. 16. April; 1744: ev. 29. März, kath. 5. April) und auch 1778 und 1798 dazu geführt hätte. Auf Antrag Friedrichs des Großen beschloss das Corpus Evangelicorum am 13. Dezember 1775 ein Reichsgutachten anzunehmen, in dem man die freiwillige Einigung betonte. In Vermeidung des päpstlichen Namens wurde der „Verbesserte Reichskalender“ angenommen. Kaiser Joseph II. bestimmte daraufhin im Einvernehmen mit allen Reichsständen im Jahre 1776 unter förmlicher Bestätigung des Gutachtens den gregorianischen Kalender als „Verbesserten Reichskalender“. Die evangelischen Kantone der Schweiz, Dänemark und Schweden schlossen sich dieser Regelung ebenfalls an. In Japan, wo zuvor mit einigen Abweichungen der chinesische Kalender gegolten hatte, wurde der gregorianische Kalender am 1. Januar 1873 im Zuge der Modernisierung des Landes eingeführt. Nur in der Jahreszählung verwendet Japan bis heute gleichzeitig ein eigenes System (siehe japanische Zeitrechnung), in dem die Jahre seit Regierungsantritt des jeweils amtierenden Kaisers gezählt werden; diese Zahl wird durch ein von Kaiser zu Kaiser wechselndes zweisilbiges Motto (Nengō) ergänzt. Die orthodoxen Länder Osteuropas, also auch Russland, behielten den julianischen Kalender noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts bei. Da die Jahre 1700, 1800 und 1900 nach dem julianischen Kalender Schaltjahre sind, machte seit 1900 (und macht noch bis zum Jahr 2100) die Abweichung vom gregorianischen Kalender mittlerweile 13 Tage aus. Die russische Oktoberrevolution vom 25. Oktober 1917 war nach dem gregorianischen Kalender eigentlich eine „Novemberrevolution“ vom 7. November. An diesem Kalendertag wurde die Revolution auch bis zum Ende der Sowjetunion gefeiert, nachdem Russland am 14. Februar 1918 die neue Kalenderrechnung eingeführt hatte. Einige orthodoxe Kirchen (z. B. in Russland, Serbien und Georgien) begehen ihre feststehenden Feste weiterhin nach dem julianischen Kalender. Ihr Weihnachtsfest (25. Dezember) fällt darum derzeit auf den 7. Januar (gregorianischer Kalender). Andere orthodoxe Kirchen (z. B. in Griechenland und Bulgarien) verwenden hierfür den sogenannten neo-julianischen Kalender, der bis zum Jahr 2799 dem gregorianischen Kalender entsprechen wird. Alle orthodoxen Kirchen berechnen Ostern und die anderen beweglichen Feste nach dem julianischen Frühlingsanfang sowie nach dem Vollmond im Mondzirkel; das Fest fällt daher nur gelegentlich mit dem Osterdatum der westlichen Kirchen zusammen; meistens sind es eine, vier oder fünf Wochen später als im Westen. Am 1. Januar 1912, nach dem Sturz des Kaiserreiches, übernahm auch die Republik China den gregorianischen Kalender, der sich aber wegen der Beherrschung weiter Teile des Landes durch Warlords nicht durchsetzen konnte. Die von der Kuomintang gestellte Regierung veranlasste seine Verwendung schließlich ab dem 1. Januar 1929 in den von ihr beherrschten Gebieten. Die Volksrepublik China verwendet ihn seit ihrer Proklamation am 1. Oktober 1949. Komplizierter ist die Lage in der Türkei. Diese übernahm nach dem vorherigen Beschluss ihrer Nationalversammlung vom 26. Dezember 1925 den gregorianischen Kalender ab 1. Januar 1926 als „Internationalen Kalender“. Tatsächlich wurde dabei aber lediglich die Jahreszählung nach Christi Geburt eingeführt und der islamische Kalender endgültig abgeschafft. In der Türkei bzw. dem Osmanischen Reich hatte bis dahin neben dem islamischen Kalender der Rumi-Kalender gegolten. Der Rumi-Kalender war ursprünglich ein julianischer Kalender mit Jahreszählung nach der Hedschra, der ursprünglich nur für fiskalische Zwecke bestimmt war, aber seit dem 19. Jahrhundert nach seiner allgemeinen amtlichen Einführung eine immer weitere Verbreitung im Gebrauch gefunden und den islamischen Kalender zunehmend verdrängt hatte. Der Rumi-Kalender war aber schon 1917 (mit Ausnahme der Jahreszählung) an den gregorianischen Kalender angepasst worden. Heute ist der gregorianische Kalender auch in den meisten islamischen Staaten eingeführt und letztlich wichtiger als der islamische Kalender, der im Alltag außer für islamische Feste keine Rolle spielt. Nationalfeiertage und andere nationale Gedenktage, Neujahr, der Tag der Arbeit, Muttertag und andere internationale Feier- und Gedenktage werden nach dem gregorianischen Kalender gefeiert. Im bürgerlichen Leben, etwa für Arbeitsverhältnisse, Mietverhältnisse etc., ist meist der gregorianische, nicht aber der islamische Kalender ausschlaggebend. Die nicht zeitgleiche Einführung des gregorianischen Kalenders in den verschiedenen Ländern sorgt bis heute für Verwirrung: So sind sowohl William Shakespeare als auch Miguel de Cervantes am 23. April 1616 gestorben, obwohl Shakespeare Cervantes um zehn Tage überlebt hat. Auch die Feiern des Geburtstags von George Washington wurden in den USA verschiedentlich am 11. und am 22. Februar ausgerichtet, bis es zu einer bundesgesetzlichen einheitlichen Feiertagsregelung kam. In Deutschland, Österreich, der Schweiz und in vielen anderen Ländern gilt für Datumsangaben die Norm ISO 8601. Sie basiert auf dem gregorianischen Kalender und erweitert seine Gültigkeit auf den Zeitraum vor der Kalenderreform. In dieser Norm sind ein Jahr null und negative Jahreszahlen vorgesehen, die es weder im julianischen noch im gregorianischen Kalender gibt. Bei dem – vom Computerhersteller Apple entwickelten – Kalenderprogramm iCal wurde der Sprung vom julianischen zum gregorianischen Kalender (4. auf den 15. Oktober 1582) berücksichtigt. Das Unix-Standard-Tool cal berücksichtigt diesen Sprung ebenfalls, setzt ihn jedoch, entsprechend dem Zeitpunkt der Einführung des gregorianischen Kalenders in Großbritannien, auf September 1752. Charakteristika Kalender- und tropisches Jahr Das Kalenderjahr orientiert sich am tropischen Jahr (Sonnenjahr) in der alten Definition – dem zwischen zwei aufeinanderfolgenden Frühlingsanfängen (Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleichen) liegenden Zeitraum, der auf das Jahr 2000 bezogen im Mittel 365,242375 mittlere Sonnentage lang ist. Somit ist auch das gregorianische Kalenderjahr im Vergleich zur astronomischen Wirklichkeit noch etwas zu lang, nämlich 0,000125 Tage (= 11 Sekunden). Mit dieser Differenz würde der Frühlingsanfang erst nach rund 8000 Jahren wieder einen ganzen Kalendertag früher eintreten. Vorher wäre keine Kalenderkorrektur nötig. Der Differenzwert nimmt bis zum Ende des dritten Jahrtausends aber ab, nähert sich dann wieder dem Wert des Jahres 2000, den er Anfang des fünften Jahrtausends erreicht haben wird. Ab dem fünften Jahrtausend vergrößert sich der Differenzwert dann kontinuierlich. Schaltjahrzirkel Das Verteilschema zwischen Gemein- und Schaltjahren wiederholt sich erst nach je 400 Jahren. Der vier Jahre lange julianische Schaltjahr-Zirkel hat die hundertfache Periode bekommen. Schaltregeln Die julianische Schaltregel wird im gregorianischen Kalender mit Hilfe zweier weiterer Regeln relativiert: Die durch vier ganzzahlig teilbaren Jahre der christlichen Zeitrechnung sind wie bisher im julianischen Kalender Schaltjahre. Da jedes vierte Kalenderjahr einen Tag länger als die 365 Tage langen, dazwischen liegenden Gemeinjahre ist, beträgt die mittlere Länge eines Kalenderjahres 365,25 Tage, was aber gegenüber dem tropischen Jahr mit 365,24219 Tagen zu lang ist (einen Tag Abweichung nach 128 Jahren). In den durch 100 ganzzahlig teilbaren (und damit auch durch vier ganzzahlig teilbaren) Jahren (1600, 1700, 1800, 1900, 2000, 2100 usw.) entfällt entgegen der ersten (julianischen) Regel der Schalttag, so dass das mittlere Kalenderjahr mit 365,24 Tagen nur noch etwa 0,0022 Tage vom tropischen Jahr abweicht, etwas zu kurz ist (einen Tag Abweichung nach 457 Jahren). Die ganzzahlig durch 400 teilbaren (und damit auch durch 100 ganzzahlig teilbaren) Jahre (1600, 2000 usw.) sind entgegen der zweiten und in Übereinstimmung mit der ersten Regel Schaltjahre. Die mittlere Länge des Kalenderjahres ist daher genau = 365,2425 Tage. Wichtig ist dabei, dass jede Schaltregel einem Stammbruch entspricht, der die mittlere Länge der Kalenderjahre (siehe arithmetisches Mittel) um diesen Bruchteil verändert. Außerdem muss der Nenner jedes Stammbruchs ein ganzzahliges Vielfaches des vorherigen Stammbruchs sein und die Stammbrüche müssen eine endliche alternierende Reihe darstellen. Dies stellt sicher, dass ein Schaltjahr immer 366 Tage hat. Bei einer nicht alternierenden Reihe könnte ein Schaltjahr auch mehr als 366 oder weniger als 365 Tage haben. Für Schaltregeln, die auf einer endlichen alternierende Reihe basieren und daher nur Gemeinjahre mit 365 Tagen und Schaltjahre mit 366 Tagen definieren und das tropischen Jahr hinreichend gut approximieren, gibt es viele Möglichkeiten. Für den gregorianischen Kalender wurden drei Schaltregeln gewählt, die mit einem Zyklus von 4, 100 und 400 Jahren einfache Teilbarkeitsregeln im Dezimalsystem gewährleisten. Die verbleibende Differenz 0,00031 Tage zum mittleren tropischen Jahr wurde von den Kalenderreformern als vernachlässigbar klein hingenommen. Die Abweichung wird erst nach etwa 3225 Jahren einen Tag betragen. Über so lange Zeiträumen ist aber eine exakte Berechnung wegen säkularer Änderungen nicht mehr möglich, so dass es sinnlos wäre, eine weitere Schaltregel aufzustellen. Zuordnung zwischen Kalenderdaten und Wochentagen (Sonnenzirkel) Die Periode des Sonnenzirkels ist im julianischen Kalender 28 Jahre lang. Nach dieser Zeit wiederholt sich die Zuordnung der Kalenderdaten auf die Wochentage. Im gregorianischen Kalender ist auch diese Periode länger, beträgt aber „nur“ 400 Jahre, weil dieser Zeitraum mathematisch exakt aus einer ganzen Zahl von Wochen besteht. Innerhalb eines Jahrhunderts gilt auch im gregorianischen Kalender die 28-Jahre-Periode. Weil das Jahr 2000 ein Schaltjahr war, gilt diese sogar zwei Jahrhunderte lang. Für heute lebende Menschen wiederholt sich die Verteilung ihrer Geburtstage auf die Wochentage also bis 2100 immer nach 28 Jahren. Kalenderwochen pro Jahr Die Sonnenzirkel-Periode enthält genau 20.871 Wochen (wo). In jeder Periode gibt es 71 Jahre mit einer 53. Kalenderwoche. 400 a · 365,2425 d/a = 146.097 d 146.097 d / 7 d/wo = 20.871 wo (400 Jahre umfassen 20.871 Wochen) 400 a · 52 wo/a = 20.800 wo (400 Jahre zu 52 Wochen ergäben 20.800 Wochen) 20.871 wo – 20.800 wo = 71 wo Die überzähligen 71 Wochen verteilen sich auf 71 Jahre mit einer 53. Kalenderwoche. Durchschnittliche Monatslänge und durchschnittliche Wochenzahl pro Monat Ein Monat (mo) ist im Durchschnitt 30,436875 Tage oder 4,348125 Wochen lang, das heißt vier Wochen, zwei Tage, zehn Stunden, 29 Minuten und sechs Sekunden oder 2.629.746 Sekunden (ohne Berücksichtigung von Schaltsekunden). (Betrachtet wird ein ganzer Schaltjahrzirkel von 400 a.) 146.097 d ÷ 4.800 mo = 30,436875 d/mo 20.871 wo ÷ 4.800 mo = 4,348125 wo/mo Freitag, der 13. Ein bestimmtes Datum (Tag und Monat oder nur Tag) fällt nicht gleich häufig auf alle Wochentage. Der 13. eines beliebigen Monats fällt geringfügig öfter (nämlich 688 mal in 400 Jahren) auf einen Freitag als auf andere Wochentage (Donnerstag und Samstag: 684 mal, Montag und Dienstag: 685 mal, Sonntag und Mittwoch: 687 mal). Osterzyklus Im gregorianischen Kalender beträgt die Dauer des Osterzyklus 5.700.000 Jahre. Siehe auch Darischer Kalender Liste der Kalendersysteme Umrechnung zwischen julianischem und gregorianischem Kalender Umrechnung zwischen julianischem Datum und gregorianischem Kalender Epakte Ewiger Kalender Literatur Volker Reinhardt: Der Tage-Dieb. In: Arne Karsten / Volker Reinhardt: Kardinäle, Künstler, Kurtisanen. Wahre Geschichten aus dem barocken Rom, WBG, Darmstadt 3. Aufl. 2021, S. 135–143, ISBN 978-3-534-27352-2. [historischer Essay über die Einführung des Gregorianischen Kalenders] Weblinks Allgemein Kalendergenerator Jahreskalender ausdrucken zu Kalenderrechnung im Allgemeinen siehe die Weblinks im Artikel Kalender Spezielle Aspekte des gregorianischen Kalendersystems Päpstliche Bulle, die den gregorianischen Kalender verordnete Alternativen zum gregorianischen Kalender (private Website) Portable Bibliothek für internationale Datums- und Uhrzeitberechnungen Hermann Grotefend: Zeitrechnung des Deutschen Mittelalters und der Neuzeit Daten der Kalenderumstellung auf wiki-de.genealogy.net; abgerufen am 16. August 2018 Einzelnachweise ! Religion 1582 Astronomischer Kalender Gregor XIII.
1917
https://de.wikipedia.org/wiki/Glasgow
Glasgow
Glasgow [ oder ] (Scots: , schottisch-gälisch: , amtlich City of Glasgow; Glaswegian = Adjektiv, Einwohner) ist mit über 635.640 Einwohnern vor Edinburgh die größte Stadt Schottlands und nach London und Birmingham die drittgrößte Stadt des Vereinigten Königreichs. Sie ist eine der 32 Council Areas Schottlands und liegt am Fluss Clyde. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hatte Glasgow mehr als eine Million Einwohner; 2017 lebten in der Greater Glasgow and Clyde Area 1.169.110 Personen. Glasgow gilt im Gegensatz zur schottischen Hauptstadt Edinburgh als „Arbeiterstadt“. Es gibt eine Kathedrale aus dem 12. Jahrhundert und vier Universitäten, die Universität Glasgow, Universität Strathclyde, Glasgow Caledonian University und die University of the West of Scotland sowie die Glasgow School of Art und das Royal Conservatoire of Scotland (ehemals Royal Scottish Academy of Music and Drama) zu finden. 2018 belegte Glasgow in einem weltweiten Ranking von Städten nach ihrer Lebensqualität den 50. Platz von 231. Vom 31. Oktober bis 12. November 2021 war Glasgow Tagungsort der 26. Weltklimakonferenz (COP 26). Geographie Klima Geschichte und Stadtgründung Seit Jahrtausenden haben Menschen an der Stelle des heutigen Glasgow gesiedelt, wobei der Clyde optimale Voraussetzungen zum Fischfang bot. Um 80 n. Chr. besiedelten die Römer den Ort, der wohl damals Cathures hieß. Später errichteten die Römer um 140 n. Chr. den Antoninuswall, um das römische Britannien vom keltischen und piktischen Caledonia zu trennen. Glasgow selbst wurde der Legende nach vom christlichen Missionar Sankt Mungo (auch bekannt als Sankt Kentigern) im 6. Jahrhundert gegründet. An der Stelle der heutigen Kathedrale soll er eine Kirche errichtet haben, und in den folgenden Jahren wurde Glasgow zu einem religiösen Zentrum. Die Wunder, die man Sankt Mungo zuschreibt, finden sich noch heute im Stadtwappen wieder. Mittelalter Die Geschichte Glasgows ist vage, bis es im 12. Jahrhundert zur Stadt heranwuchs und der Bau der St Mungo’s Cathedral begann. 1451 wurde durch päpstliches Dekret die Universität zu Glasgow gegründet. Anfang des 16. Jahrhunderts war Glasgow zu einem bedeutenden religiösen und akademischen Zentrum geworden. Handel und industrielle Revolution Ebenfalls zu dieser Zeit waren die Händler und Facharbeiter der Stadt zu erheblichem Einfluss gelangt, was die Macht der Kirche zu schmälern begann. Durch den Schiffsverkehr auf dem Clyde wurde Glasgow ein geschäftiges Handelszentrum und zum Tor nach Edinburgh und zum Rest Schottlands. Glasgows Position im Zentrum des Britischen Empires machte es darüber hinaus zum zentralen Umschlagplatz im Handel mit den britischen Kolonien. Der leichte Zugang zum Atlantischen Ozean erleichterte den Import von amerikanischem Tabak, der dann in ganz Europa verkauft wurde. Handel mit der Karibik erlaubte den Import von Zucker. Seit den 1770er Jahren ermöglichte die Entschlammung des Clyde, mit größeren Schiffen weiter den Fluss hinaufzufahren, was den Grundstein für den Industrie- und Werftbau während des 19. Jahrhunderts legte. Durch den Überfluss an Kohle und Eisen aus Lanarkshire wurde Glasgow eine Industriestadt, die den Beinamen „zweite Stadt des Empire“ erhielt. Auch die Baumwollindustrie und Textilherstellung florierte. Arbeiter aus Schottland, Irland und dem übrigen Europa zog es in die aufstrebende Stadt. Sie mussten sich oft in überfüllten Quartieren mit schlechten Wohnungen wie den Gorbals niederlassen. Glasgow hatte noch nach dem Zweiten Weltkrieg die höchste Bevölkerungsdichte aller britischen Großstädte: Auf einen Acre kamen hier 36,2 Personen; in Liverpool 31,5; in Manchester 28,1 und in Edinburgh 13,5 Personen. Durch die industrielle Revolution wurde Glasgow zu einer der reichsten Städte der damaligen Welt. Wohlhabende Händler finanzierten spektakuläre Bauten, Parks, Museen und Bibliotheken. Fabriken wurden als wahre Prachtbauten errichtet, so zum Beispiel eine Teppichfabrik (Templeton’s carpet factory), die als Kopie des Dogenpalastes von Venedig gestaltet wurde. Hier fanden große internationale Industrieausstellungen statt, 1888 zum Beispiel im Kelvingrove Park und 1938 die Empire Exhibition im Bellahouston Park. Glasgow wurde auch kulturell zu einem wichtigen Zentrum. Zahlreiche Galerien siedelten sich an, und außergewöhnliche Gebäude entstanden, wie die Glasgow School of Art, erbaut von Charles Rennie Mackintosh, oder die (heute rekonstruierten) Willow Tearooms desselben Architekten. Nachkriegszeit Am 31. Januar 1919 wurden beim sogenannten 'Battle of George Square‘ Panzer gegen für die 40-Stunden-Woche Streikende eingesetzt. Nach dem Ersten Weltkrieg litt Glasgow am weltweiten Niedergang der Wirtschaft. Obwohl in Glasgow weiterhin Schiffe und Züge hergestellt wurden, wurden billigere Arbeitskräfte außerhalb der Stadt zur Konkurrenz. Die Lage der Arbeiterklasse in der Stadt verschärfte sich, es entwickelte sich ein Bewusstsein für die eigene Situation. Die Arbeiterschaft politisierte sich zunehmend. So entsandten die Glasgower Arbeiter zur Unterstützung der spanischen Republik eine ganze Brigade in den Spanischen Bürgerkrieg 1936–1939. Seit den 1960er Jahren ging es mit der Wirtschaft der Stadt steil bergab. In den 1970er und 1980er Jahren wurden Stahlwerke, Kohleminen, Motorenwerke und andere Schwerindustrie in und um Glasgow geschlossen, was zu Massenarbeitslosigkeit und zum Zerfall der Stadt führte. Trotz Schiffsneubauten wie der Queen Elizabeth 2 wurde eine Werft nach der anderen geschlossen. Zur Jahrtausendwende existierten nur noch zwei Werften, die beide ausschließlich aus Rüstungsaufträgen der Regierung finanziert wurden. Seit Mitte der 1980er Jahre gibt es jedoch durch Strukturwandel hin zur Dienstleistungsbranche einen beschwerlichen Aufschwung – ein Finanzdistrikt wurde geschaffen. Die ehemaligen Fabrikgelände in den Vororten wurden von der Unterhaltungsindustrie bezogen. Seit 1990 In den 1990er Jahren hat sich Glasgow kontinuierlich von seinem Niedergang erholt. Die Stadt hat in den vergangenen 15 bis 20 Jahren große Summen in die Renovierung und Restaurierung einer Vielzahl von Gebäuden investiert. Durch diesen Aufwand ist die Lebensqualität in der Stadt spürbar gestiegen. 1990 wurde (statt London oder Edinburgh) überraschenderweise Glasgow 6. Europäische Kulturhauptstadt und wurde 1999 mit dem Titel UK City of Architecture and Design ausgezeichnet. 2003 wurde Glasgow Europäische Sporthauptstadt. Mit dem Strukturwandel bekam Glasgow auch ein modernes Kultur- und Kongresszentrum, wo zahlreiche unterschiedliche Veranstaltungen stattfinden, darunter solche wie die Science-Fiction-World-Cons „Intersection“ 1995 und „Interaction“ 2005 mit etwa 4000 Teilnehmern. Tourismus, Sportveranstaltungen und große Konferenzen prägen das Bild des modernen Glasgow. Mit dem Glasgow Science Centre, dem Glasgow Tower von Richard Horden und dem Clyde Auditorium von Norman Foster hat die Stadt auch einiges an moderner Architektur zu bieten. Dennoch waren nach einer Studie des ONS im Jahr 2012 30,2 % aller Wohnungen von arbeitslosen Familien bewohnt. Viele Bewohner der Stadt haben keinen Anteil am Aufschwung. In Vierteln wie Calton liegt, bedingt durch den Niedergang der schottischen Stahlindustrie und daraus folgende Phänomene wie Massenarbeitslosigkeit, Armut, soziales Elend und weit verbreiteten Alkoholismus, die statistische Lebenserwartung bei 53 Jahren. Diese, auch im Vergleich mit anderen deindustrialisierten britischen Städten, hohe Sterblichkeit wird in der Medizin auch als Glasgow-Effekt bezeichnet. Als Grund wird zum einen eine in Schottland, verglichen mit England und Wales, generell höhere Sterblichkeit genannt. Speziell in Glasgow und der umliegenden Region waren erhöhte Werte langer und schwerer Erkrankungen, von Krebs, Alkoholismus und psychischen Erkrankungen, insbesondere bei Männern, festgestellt worden. Ein medizinischer Report gibt als Gründe an: die in Glasgow, verglichen mit anderen britischen Städten, von vornherein besonders hohe Bevölkerungsdichte, die seit den 1950er Jahren vom Londoner Schottland-Amt verfolgte Strategie der Ansiedlung ausgebildeter Arbeitskräfte in neuen Siedlungen am Rand der Stadt, in der die ungelernten Arbeitskräfte übrig blieben, der im britischen Vergleich ungewöhnliche Bau vieler Hochhäuser und die Politik der Glasgower Stadtverwaltungen seit den 1980er Jahren, die mehr auf Eigentumsbildung und Abriss von Mietshäusern als auf deren qualitative Verbesserung setzte. Jugendkriminalität ist weit verbreitet. Besonders betroffen sind Stadtviertel in der Peripherie wie Drumchapel, Castlemilk und Easterhouse. Für die meisten Jugendlichen ist die Beteiligung an einer Jugendgang aber ein Übergangsritus und sie steigen nach einer Weile wieder aus; ein Verbleiben oder Hineinwachsen in die organisierte Kriminalität ist seltener als in anderen Städten. Glasgow war lange das Gebiet mit dem höchsten Prozentsatz an Morden innerhalb des Vereinigten Königreiches. 2007 kamen 4,5 Morde auf 100.000 Einwohner. 2012 sank die Quote auf 2,7 Morde, lag aber immer noch klar vor London mit 1,67 Morden und dem Landesdurchschnitt von 1,0 Morden. Ein Report über die möglichen Folgen des Brexits für Glasgow verlangt von den Regierungen Schottlands und Großbritanniens eine gezielte Unterstützung der Region, insbesondere einen vollständigen Ersatz der Zuwendungen aus der EU. Stadtgliederung Häufig teilt man Glasgow in fünf Bezirke ( oder Districts) ein, die jedoch keiner verwaltungstechnischen Untergliederung entsprechen: City Centre North Glasgow East End South Side West End Die administrative Gliederung umfasst die folgenden Ortsteile (): Politik Parlamente Für Wahlen zum Stadtparlament, dem Glasgow City Council, ist Glasgow in 21 Wahlkreise („Wards“) aufgeteilt. Bei der Wahl zum Schottischen Parlament am 3. Mai 2016 gewannen die Labour Party in Glasgow 4 (+1) Sitze, die SNP 9 (−2) Sitze sowie Konservative 2 (+1) und Grüne wie bisher einen Sitz (in Klammern die Differenz zur Wahl 2011). Für Wahlen zum britischen Unterhaus ist Glasgow in sieben Wahlkreise eingeteilt. Bei der Unterhauswahl 2017 konnte die SNP sechs und die Labour Party einen Wahlkreise gewinnen. Verwaltungsgeschichte Historisch zur Grafschaft Lanarkshire gehörig, war Glasgow neben Edinburgh, Aberdeen und Dundee ab 1893 eine der vier Counties of Cities in Schottland. 1975 wurde Glasgow zu einem District der Region Strathclyde. Gleichzeitig wurden aus Lanarkshire die Orte Rutherglen, Cambuslang, Baillieston, Garrowhill, Mount Vernon und Carmyle nach Glasgow eingemeindet. 1996 wurde Glasgow im Rahmen der Einführung einer einstufigen Verwaltungsstruktur zur Council Area „City of Glasgow“. Gleichzeitig wurden einige Eingemeindungen von 1975 wieder rückgängig gemacht. Rutherglen und Cambuslang wurden wieder ausgegliedert und gehören seitdem zur Council Area South Lanarkshire. Glasgow ist auch eine der Lieutenancy Areas von Schottland. Kirchen Das Kirchengebäude der Glasgower Kathedrale ist im Besitz der Krone und wird von Historic Scotland instand gehalten. Den Gottesdienst hält die Gemeinde der Church of Scotland. Sie steht in der reformierten Tradition der Universalkirche, die mit Christus und den Aposteln begann, und wird presbyterianisch geführt. Die Kathedrale St. Andrew’s ist der Sitz des römisch-katholischen Erzbischofs und der Erzdiözese von Glasgow. 1935 wurde die katholische St Anne’s Church erbaut. Die klassizistische Kirche St Andrew’s in the Square ist heute Veranstaltungsstätte. Kultur Glasgow bietet eine Reihe von ebenso architektonisch spektakulären wie überregional bedeutenden Museen. Das herausragende Kunstmuseum ist Kelvingrove Art Gallery and Museum. Außerdem gibt es das Hunterian Museum and Art Gallery (an der University of Glasgow), das Centre for Contemporary Art (CCA) und die Burrell Collection. Letztere geht auf die Privatsammlung von William Burrell zurück, die er der Stadt vermacht hat. Das Riverside Museum beherbergt das Glasgow Museum of Transport am Pointhouse Quay im Hafen Glasgows und widmet sich damit der Vergangenheit der Stadt als Fabrikationsstandort der Eisenbahn und des Schiffsbaus. Der von Zaha Hadid entworfene Neubau eröffnete im Juni 2011. Das Glasgow Science Centre verlangt als einzige Kulturinstitution Eintritt. Es ist das größte seiner Art in Schottland und belebt das ehemalige Industriegelände des Pacific Quay. Verkehr Die beiden Hauptbahnhöfe der Stadt sind Glasgow Central und Queen Street. Glasgow besitzt die viertälteste U-Bahn der Welt. Am 14. Dezember 1896 eröffnete die Glasgow Underground Railway, heutzutage Glasgow Subway, ihren Betrieb. Der Nahverkehr wird organisiert von der Strathclyde Partnership for Transport (SPT). Luftverkehr Glasgow ist über die beiden Flughäfen Glasgow International und Glasgow Prestwick an den Luftverkehr angebunden. Während ersterer von zahlreichen Fluggesellschaften aus verschiedenen Ländern angeflogen wird, wird letzterer fast nur von der Fluggesellschaft Ryanair bedient, die von dort aus allerdings ebenfalls ein stattliches Streckennetz unterhält. 2,5 Kilometer westlich des Stadtzentrums am Südufer des Flusses Clyde befindet sich der Glasgow Seaplane Terminal. Der Wasserlandeplatz liegt am Princes Dock neben dem Glasgow Science Centre. Etwa 2,5 Kilometer westlich des Glasgow Seaplane Terminal, ebenfalls am Südufer des Flusses Clyde, befindet sich der Glasgow City Heliport, ein Hubschrauberlandeplatz. Sport Das sportliche Geschehen in Glasgow wird von den beiden Fußballclubs Celtic und Rangers und ihrer traditionsreichen, Old Firm genannten Rivalität dominiert. Die wichtigsten Fußballstadien der Stadt sind Celtic Park (Celtic F.C.) im Stadtteil Parkhead, 60.832 Plätze Hampden Park (Queen’s Park F.C. und Nationalmannschaft) im Stadtteil Mount Florida, 52.054 Plätze Ibrox Stadium (Rangers F.C.) im Stadtteil Ibrox, 50.467 Plätze Firhill Stadium (Partick Thistle F.C.) im Stadtteil Maryhill, 10.887 Plätze. Für die Commonwealth Games 2014 wurde ein großer Sportkomplex errichtet, der 2012 fertiggestellt wurde: Emirates Arena im Stadtteil Parkhead Die Turn-Weltmeisterschaften 2015 und die Turn-Europameisterschaften 2018 fanden in der SSE Hydro Arena statt. Glasgows professionelle Rugbymannschaft, die Glasgow Warriors, bestreiten im Scotstoun Stadium ihre Heimspiele während der Pro14. Glasgow war unter anderem einer der Austragungsorte bei der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 1999. Glasgow ist im August 2023 Austragungsort der Radsport-Weltmeisterschaften, die es zum ersten Mal in dieser Form gibt. Bereits 2018 fanden hier die Radsport-Ereignisse während der European Championships 2018 statt. Städtepartnerschaften Partnerstädte von Glasgow sind: Persönlichkeiten Siehe auch Glasgow Necropolis (Hauptfriedhof) Liste der Kategorie-A-Bauwerke in Glasgow (5805) Glasgow (Asteroid) Literatur Tobias Gerstung: Stapellauf für ein neues Zeitalter. Die Industriemetropole Glasgow im revolutionären Wandel nach dem Boom (1960–2000). Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen 2016, ISBN 978-3-525-30086-2. Andrew Gibb: Glasgow. The Making of a City. Routledge, London 1983. Irene Maver: Glasgow. Edinburgh University Press, Edinburgh 2000. Thomas Christopher Smout: A history of the Scottish people. 1560–1830. 9th imprint. Fontana Press, London 1990, ISBN 0-00-686027-3. Weblinks Stadtverwaltung – Glasgow City Council website Link zur Geschichte Glasgows Website mit Details zum Stadtviertel Merchant Einzelnachweise City (Schottland) Council Area (Schottland) Ort mit Seehafen Hochschul- oder Universitätsstadt in Schottland Ort in Glasgow (Council Area) Ort am Clyde Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden
1919
https://de.wikipedia.org/wiki/Geozentrisches%20Weltbild
Geozentrisches Weltbild
Das geozentrische Weltbild ( „erdzentriert“) basiert auf der Annahme, dass die Erde und damit auch der Mensch im Universum eine zentrale Position einnehmen, so dass alle Himmelskörper (Mond, Sonne, die anderen Planeten und die Fixsterne) die Erde umkreisen. Das geozentrische Weltbild entspricht dem unmittelbaren Augenschein und wurde schon im klassischen Altertum in Griechenland, insbesondere bei Aristoteles (384–322 v. Chr.), detailliert ausgearbeitet. Es war dann in Europa für etwa 1800 Jahre die vorherrschende Auffassung. Auch im alten China und in der islamischen Welt wurde ein geozentrisches Weltbild gelehrt. Ob es bereits vor den Griechen im alten Mesopotamien vertreten wurde, ist nicht sicher. In der Renaissance wurde das geozentrische durch das heliozentrische Weltbild mit der Sonne als Mittelpunkt des Kosmos abgelöst, das in seiner ersten Form bei Aristarchos von Samos (310–230 v. Chr.), also ebenfalls schon in der Antike, erschien. Während sich die Fixsterne gemeinsam und, soweit mit dem Auge festzustellen, gleichförmig um die Erde drehen, bewegen sich Mond, Sonne und Planeten auf unterschiedliche Weise etwas langsamer, bei den Planeten zuweilen aber auch schneller als die Fixsterne. Nach dem einfachsten geozentrischen System erfolgen ihre Umläufe daher in verschiedenen, von innen nach außen konzentrisch angeordneten rotierenden Sphären, deren Drehachsen durch das Erdzentrum gehen. Diese Sphären wurden teilweise als durchsichtige Hohlkugeln aufgefasst. An der äußersten und schnellsten Sphäre sind die Fixsterne befestigt, an der innersten, die auch die langsamste ist, der Mond. Die besonderen Unregelmäßigkeiten bei den Planeten machten es nötig, ihnen statt der einfachen Kreisbahn zusammengesetzte Kreisbahnen zu geben (Epizykeltheorie) und, nach einer Hipparch zugeschriebenen Idee, die Erde aus dem genauen Mittelpunkt der Planetenbahnen zu verschieben (Äquant), um die Beobachtungen mit ausschließlich gleichförmigen Kreisbewegungen beschreiben zu können. Durch Claudius Ptolemäus (ca. 100–160 n. Chr.) und seine Nachfolger nahm das geozentrische Weltbild zur Berechnung der Positionen der Gestirne am Himmel die Form eines mathematisch detailliert ausgearbeiteten Systems mit bis zu 80 Epizykeln an. Im geozentrischen Weltbild wurde seit Aristoteles überwiegend eine Kugelform der Erde angenommen. Das geozentrische Weltbild ist nicht mit dem Konzept der flachen Erde zu verwechseln. Griechische Antike Die Erde im Zentrum Im geozentrischen Weltbild wird angenommen, dass alle Bewegungen des Mondes, der Sonne und der Planeten geometrisch auf Kurvenbewegungen ablaufen um die als ruhend oder um ihre Achse rotierend gedachte Erde. Beim homozentrischen System des Eudoxos von Knidos (ca. 390–338 v. Chr.) findet diese Kurvenbewegung auf Kreisbahnen statt, deren Achsen durch das Erdzentrum gehen und somit perfekt erscheinen. Apollonios von Perge (262–190 v. Chr.) und Hipparchos (ca. 190–120 v. Chr.) passten in ihren Modellen die planetarischen Bewegungen mit Hilfe von Exzentern und Epizykeln den Beobachtungsdaten besser an. Herakleides Pontikos (ca. 390–322 v. Chr.) wird ein System zugeschrieben, bei dem sich die Planeten Merkur und Venus um die Sonne drehen, die sich ihrerseits wie der Mond und die Fixsternsphäre um die in ihrer Zentralstellung bewahrte Erde dreht. Dies stellt einen Kompromiss zwischen dem geozentrischen und dem heliozentrischen Weltsystem dar. In der neueren Forschung ist es allerdings heftig umstritten, ob Herakleides dieses Weltsystem lehrte. Eine wichtige Begründung des geozentrischen Weltbildes lag in der Beobachtung, dass die Erde als ruhend empfunden wird und von den Himmelskörpern umkreist wird. Weiterhin ließ sich die Schwerkraft leicht damit erklären, dass alles Schwere seinem natürlichen Ort zustrebe, der nur der Mittelpunkt der Welt sein könne. Auch Aristoteles war ein einflussreicher Verfechter des geozentrischen Weltbilds. Die Aristotelische Physik verträgt sich aber streng genommen nicht mit den Hilfsannahmen von Exzentern, Epizyklen und Äquanten. Am besten harmoniert sie mit der homozentrischen Variante. Von der Sonne und den Planeten nahm man teilweise an, sie bestünden aus einem überirdischen „fünften Element“, der Quintessenz, dessen natürliche Bewegung die Kreisbahn sei. Ptolemäisches Weltbild Das Ptolemäische Weltbild ist ein geozentrisches Weltbild, das von der aristotelischen Annahme ausgeht, dass Himmelskörper sich nur mit konstanter Geschwindigkeiten auf Kreisbahnen bewegen können. Es wurde von Claudius Ptolemäus (ca. 100–160 n. Chr.) ausgearbeitet. Sein Werk Mathematices syntaxeos biblia XIII schrieb dieses geozentrische Weltbild im europäischen Raum für fast 1500 Jahre fest. Eine Herausforderung für das geozentrische Weltbild mit seiner Annahme ausschließlich gleichförmiger Kreisbewegungen um die Erde sind die Unregelmäßigkeiten der am Himmel beobachteten Bewegungen von Sonne, Mond und Planeten gegen den Sternenhintergrund. Merkur und Venus überholen periodisch die Sonne und fallen dann wieder zurück, während bei den äußeren Planeten (Mars, Jupiter, Saturn) immer dann rückläufige Bewegungen auftreten, wenn sie der Sonne gegenüber stehen. Dieses Phänomen, das auch als retrograde Bewegung bezeichnet wird, führt insgesamt aus der Erdperspektive zu einer scheinbaren Schleifenbewegung des Planeten. Um diese Beobachtungen mit dem geozentrischen Weltbild in Einklang zu bringen, wurde angenommen, dass die betreffenden Himmelskörper sich auf einer Kombination von mehreren Kreisbahnen bewegen. Danach bewegen sie sich in einer kleinen Kreisbahn (Epizykel) um einen Punkt, der seinerseits auf einem größeren Kreis (Deferent) umläuft. Allerdings erfolgt diese Bewegung nicht mit konstanter Geschwindigkeit, und die Erde steht auch nicht genau im Zentrum des Deferenten. Zwecks besserer Übereinstimmung mit den Beobachtungen nahm Ptolemäus vielmehr zwei weitere Punkte in gleichem Abstand vom Mittelpunkt des Deferenten an, den Exzenter und den Äquanten. Im Exzenter steht die Erde, vom Äquanten aus erscheint die Bewegung auf dem Deferenten gleichförmig. Damit stellt sich der von der Erde aus beobachtete Planetenumlauf als Überlagerung dieser Bewegungen dar. Teilweise wurden dann auch noch weitere Bahnen um diese Kreise modelliert. Berechnungen innerhalb dieses Modells waren sehr kompliziert. Durch den Einsatz von insgesamt etwa 80 solcher Bahnen konnte Ptolemäus das geozentrische Weltbild mit den damals möglichen Beobachtungen der Planetenbewegungen in Einklang bringen. Bei optimaler Wahl der Parameter hätte allerdings ein System mit nur neun Epizyklen eine vergleichbare Genauigkeit erreichen können. Religiöse Rezeption Das geozentrische Weltbild war nahe an der alltäglichen Erfahrung des Beobachters und widersprach nicht der Bibel. Die christlichen Kirchen übernahmen und verteidigten es entschieden. Der Kirchenvater Basilius der Große (330–379) behandelte in neun Homilien exegetisch den Schöpfungsbericht und zeichnete ein Naturbild, das unmittelbar an die Antike anknüpfte. Seine Fastenpredigten beeinflussten seinen Freund Ambrosius von Mailand (340–397). Über diesen wurde es auch dessen Schüler Augustinus von Hippo bekannt. Die griechischen Originaltexte des Ptolemäus lagen dem Westen im Mittelalter nicht vor, seine und des Aristoteles Theorien waren durch lateinische Kompendienliteratur bekannt. Auch die Scholastiker des 13. Jahrhunderts sahen in der Erde das absolute Zentrum, mit dem die Stellung des Menschen definiert sei. Dagegen befinde sich in der höchsten Sphäre des Himmels das Reich Gottes und der Heiligen: das Empyreum. Nachfolgemodelle des geozentrischen Weltbildes Das geozentrische Weltbild wurde im Mittelalter und auch in der beginnenden Renaissance nicht hinterfragt. Nachhaltige Zweifel daran kamen erst mit Nikolaus Kopernikus auf, Giordano Bruno und Galileo Galilei wurden schließlich wegen Befürwortung des heliozentrischen Systems des Kopernikus von der Inquisition wegen Häresie angeklagt. Tychonisches Weltmodell Im Tychonischen Weltmodell wird der Äquant des ptolemäischen Weltbildes mit der Sonne identifiziert um welche alle anderen Planeten kreisen, während sie selbst und der Mond um die Erde kreisen. Heliozentrisches Weltbild Durch die Arbeiten von Nikolaus Kopernikus und Johannes Kepler, der zu den Gesetzen der elliptischen Planetenbewegung gekommen war, erwies sich das geozentrische Weltbild als überholt. Es wurde durch das einfachere und mathematisch leichter benutzbare heliozentrische Weltbild ersetzt, das sich etwas später mit Isaac Newtons Gravitationstheorie auch physikalisch erklären ließ. Die Naturgesetze, die auf der Erde wirksam waren, wurden von nun an auch für den Kosmos als gültig angesehen. Aufhebung der zentrischen Weltbilder Bereits im 17. Jahrhundert hatte Galileo Galilei gesehen, dass der Nebel der Milchstraße – in der auch unser Sonnensystem liegt – aus Sternen besteht. Spätestens nach der Entdeckung des Aufbaus und der Rotation der Milchstraße Anfang des 20. Jahrhunderts konnte auch die Sonne nicht mehr als Mittelpunkt des Universums gelten. Der Massenmittelpunkt unserer Milchstraße wird als galaktisches Zentrum bezeichnet, um das die Sonne kreist. Die im 18. Jahrhundert von Astronomen entdeckten Nebel stellten sich zum großen Teil als eigene Galaxien heraus. Dass die Milchstraße nur eines von vielen rotierenden Systemen ist, geht erst auf Edwin Hubble in den 1920ern zurück. Der modernen wissenschaftlichen Kosmologie und der Einsteinschen Relativitätstheorie (1905, 1916) zufolge ist kein Punkt im Raum fundamental ausgezeichnet, wodurch sich die Frage nach einem absoluten Zentrum erübrigt. Heutige Verwendung des geozentrischen Standpunktes In praktischen Anwendungen können heute je nach Bedarf verschiedene Perspektiven eingenommen werden. Die Mittelpunktsfrage ist rein rechentechnischer Natur, man verlegt ihn dorthin, wo er die brauchbarste Darstellung ergibt. In der beobachtenden Astronomie, wo es ein zweckmäßiger Zwischenschritt der Rechenverfahren ist, spricht man vom geozentrischen Koordinatensystem (auf den Erdmittelpunkt bezogen) in Abgrenzung zu topozentrischen Anblicksproblemen (denen auf den Oberflächen rotierender Körper), also dem tatsächlichen Standpunkt des Beobachters. In der subjektiven Wahrnehmung des Beobachters auf der Erde bewegen sich Sonne, Mond und Planeten um seinen Beobachtungsstandpunkt (Koordinatenursprung). Typische topozentrische Daten sind die Zeitpunkte des Auf- und Untergangs von Sonne und Mond. Auch die Nachführungen von Teleskopen oder Steuerungen eines Planetariums rechnen streng topozentrisch. Moderne analytische Planetentheorien wie die VSOP oder die Mondtheorie ELP sind in geozentrischer, heliozentrischer oder baryzentrischer Fassung ohne und mit relativistischen Effekten ausformuliert, sodass je nach Anwendung in Astronomie und Raumfahrt möglichst wenig Rechenaufwand notwendig ist. Die zwischenzeitlichen Erklärungsversuche kleinerer Schwankungen wie die Epizyklen der Planeten in Bezug zur Erde sind dort dann in Form periodischer Terme enthalten. Besonders die Probleme der erdnahen Raumfahrt (wie Satelliten) werden naturgemäß rein geozentrisch gerechnet und die anderen Himmelskörper, einschließlich der Sonne, als je nach Fall unterschiedlich genau zu berücksichtigende sich bewegende Bahnstörung aufgefasst. Anwendungen wie die Vermessung des Schwerefeldes der Erde aus Satellitendaten oder GPS-Navigation wären ohne Modell einer feststehenden Erde nicht lösbar. Bei genauer Rechnung ist aber die exakte Lokalisierung des Geozentrums (Erdmittelpunkts) je nach Anwendung zu berücksichtigen (Erdkörpermodelle). Ungeachtet der wissenschaftlichen Erkenntnisse stimmen bei Umfragen in westlichen Gesellschaften regelmäßig 20–30 % der Befragten der Aussage zu, dass „sich die Sonne um die Erde drehe“. Auch in Schulbüchern werden die Sachverhalte oft verkürzt, missverständlich und teilweise falsch dargestellt. Siehe auch Geographike Hyphegesis Epizykeltheorie Kosmologie des Mittelalters Abd al-Aziz ibn Baz Literatur Oskar Becker: Das mathematische Denken der Antike (= Studienhefte zur Altertumswissenschaft Heft 3). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1957. Jürgen Mittelstraß: Artikel Geozentrisch, geozentrisches Weltsystem. In: Joachim Ritter u. a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Schwabe, Basel 2010. ISBN 978-3-7965-2685-5 (EA Basel 1971/2007) Árpád Szabó: Das geozentrische Weltbild – Astronomie, Geographie und Mathematik der Griechen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1992. ISBN 3-423-04490-X. Jürgen Teichmann: Wandel des Weltbildes. (= Kulturgeschichte der Naturwissenschaften und Technik. hrsg. vom Deutschen Museum München), 2. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1983. Weblinks Video Dokumentation: Die Geschichte des Abschieds vom geozentrischen Weltbild, arte copernican-revolution.org (Englisch, ausführliches Projekt mit verständlichen Skizzen, z. B. wird oft Ptolemäisches Weltbild ohne Exzentrik und Äquant dargestellt und die Parallaxensuche an der Fixsternsphäre falsch dargestellt, 2. September 2013) Einzelnachweise Überholte Theorie (Astronomie) Überholte Theorie (Geowissenschaften) Kosmologie Christentumsgeschichte (Mittelalter) Weltbild
1920
https://de.wikipedia.org/wiki/Ghibellinen%20und%20Guelfen
Ghibellinen und Guelfen
Die Ghibellinen und Guelfen waren zwei verfeindete politische Gruppierungen im mittelalterlichen Reichsitalien. Während die Ghibellinen (Waiblinger) die Parteigänger des Kaisers waren, unterstützten die Guelfen (Welfen) die Politik des Papsttums. Die Ghibellinen nannten sich nach der heute württembergischen Stauferstadt Waiblingen und dem Kampfruf der Staufer. Die Existenz dieses Namens ist erstmals um 1215 zur Zeit des Stauferkaisers Friedrich II. bezeugt. Der Name der Guelfen entstammt den Rivalen des Stauferhauses, dem Geschlecht der Welfen. Allerdings unterstützten die italienischen Guelfen gegebenenfalls auch die Sache des Kaisers, wenn es in ihrem Interesse war. Daher war die Trennung in Ghibellinen und Guelfen keineswegs immer so ausgeprägt, wie es gelegentlich dargestellt wird. So spalteten sich um 1300 in Florenz die Guelfen in die weißen Guelfen (kaiserfreundliche Guelfen), die für einen Kompromiss mit dem Kaiser eintraten, und die schwarzen Guelfen, die eine harte Politik gegenüber dem Kaiser verfolgten. Je nach aktueller Regierung in den Kommunen wurden Anhänger der einen oder der anderen Partei aus der Stadt verwiesen und ins Exil geschickt. Opfer dieser Machtpolitik wurde in Florenz beispielsweise auch der berühmte Dichter Dante. Der Kampf zwischen beiden Parteien überdauerte den Untergang der Staufer und stand im Spätmittelalter oft nur für verschiedene Gruppen innerhalb einer italienischen Kommune, die sich feindlich gegenüberstanden. Historische Entwicklung Innerstädtische Kämpfe spielten in der Geschichte vieler italienischer Städte eine große Rolle. Solche Fehden gab es in fast allen italienischen Städten – mit Ausnahme Venedigs – und sie sind in ihren Einzelheiten nicht leicht zu beschreiben. Es gab zunächst einmal den großen und das ganze Land durchziehenden Antagonismus zwischen den „weißen“ Ghibellinen und den „schwarzen“ Guelfen, also zwischen den Anhängern des Kaisers und denen des Papstes. Diese Auseinandersetzung zwischen Papst und Kaiser bestimmte jahrhundertelang die mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte. Mit Beginn des Mittelalters bestand im 6. Jahrhundert und später zunehmend im 10. und 11. Jahrhundert ein umfassender Konkurrenzkampf um die Macht im christlichen Abendland. Neben dem Machtanspruch des Kaisers gab es den des Papstes in Rom. Zwar wird regelmäßig behauptet, dass es eine Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt gab, die sogenannte Zwei-Schwerter-Theorie, aber eine saubere Trennung war nicht immer möglich. Vor allem sollte eine solche oft gar nicht vorgenommen werden. Karl der Große und Heinrich IV. empfanden sich beispielsweise nicht nur als weltliche Herrscher, die von Fürsten gewählt und von diesen abhängig waren; vielmehr sahen sie ihre Herrschaft als gottgegeben an und gelangten damit in die Einflusssphäre des Papstes. Ebenso war es nicht die Absicht des Papstes, sich lediglich um das sogenannte Seelenheil seiner Untertanen zu kümmern. Die Kirche hatte klare weltliche Machtansprüche, und schließlich waren die „Untertanen“ dieselben wie jene des Kaisers. Der Papst war somit nicht nur geistliche Autorität. Der Kirchenstaat sorgte durch Ausdehnung seines geographischen Gebietes und seiner finanziellen Einnahmen zunehmend für die Möglichkeit, seine Vorstellungen konkret durchzusetzen – auch mit Waffengewalt. Aus einem Streit um die Aufteilung des menschlichen Lebens zwischen religiösen und weltlichen Prinzipien war ein rein politischer Machtkampf geworden. Eine der zentralen Fragen war, wie die Rangordnung zwischen Papst und Kaiser zu definieren sei, woraus sich die Folgefrage ableitete, wer wen einsetzen – und damit auch absetzen – dürfe; diese Auseinandersetzung wird als Investiturstreit bezeichnet. Diese umfassende Auseinandersetzung zwischen den beiden Gruppen, den Ghibellinen und den Guelfen, also zwischen Kaisertreuen und Papsttreuen, durchzog und beeinflusste in weiterer Folge alle zwischen- und innerstädtischen Vorgänge. Die Polarität zwischen Ghibellinen und Guelfen war seit dem beginnenden 13. Jahrhundert ein altes, traditionelles Raster, um private Fehden jedweder Couleur auf diese Bühne zu verlagern. Klaus Zimmermanns beschreibt das Grundmuster dieser Situation folgendermaßen: Das ist das historische Raster, das immer wieder in den Stadtgeschichten auftaucht und das man einmal in seiner Grundstruktur verstanden haben muss, um die jeweiligen Feinheiten in den einzelnen Städten zu durchschauen. Im mittelalterlichen Florenz beispielsweise gab es viele Türme, wie sie heute noch ähnlich in San Gimignano vorhanden sind. Diese sogenannten „Geschlechtertürme“ der einzelnen Patrizierfamilien waren nicht regelmäßig über das Stadtgebiet verteilt, sondern zu Familiengruppen vereint. Florenz war damals eine Stadt aus privaten Festungen, zwischen denen die Häuser der Kleinbürger sich in engen Gässchen zusammendrängten. „Jeder hatte allen Grund, vor jedem [anderen] auf der Hut zu sein, darum gab es statt Fenstern meist nur Schießscharten, durch die man den Raum vor den ebenfalls engen, verrammelten Türen stets beobachten und beschießen konnte.“ Das Leben in diesen Türmen war also alles andere als luxuriös und änderte sich erst später mit dem Aufkommen der Paläste im 15. Jahrhundert. Auf diesen Palästen wurde dann gerne als Erkennungszeichen eine bestimmte Zinnenform im Kranz angebracht, wobei besonders die Schwalbenschwanzform unter der Bezeichnung Ghibellinenzinnen bekannt geworden ist. Ursprünglich handelte es sich dabei aber eher um eine technische, von der politischen Ausrichtung unabhängige Weiterentwicklung der Rechteckzinnen, um eine Armbrust sicherer auflegen und genauer zielen zu können. Im 13. Jahrhundert hatte Florenz mehr als 150 solcher Geschlechtertürme und sie erreichten eine Höhe bis zu 70 Metern. Der noch heute erhaltene Torre Asinelli in Bologna war sogar 97 Meter hoch. Die erste demokratische Verfassung 1250 brachte das Verbot, höher als 29 Meter zu bauen, und alle privaten Bauwerke wurden auf diese Höhe abgetragen. „Aber nicht nur die Zwecke der Verteidigung und die Unsicherheit des damals üblichen Kampfes aller gegen alle trieb die Bauwerke der Patrizier so in die Höhe, sondern allein schon die Enge des Raumes innerhalb der alten Stadtmauer war Grund genug, diese ersten Wolkenkratzer der Menschheit zu errichten.“ Nicht zuletzt war die Höhe der Türme auch eine Prestigefrage für die Familien. Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gruppen wurden teilweise mit großer Zerstörungswut ausgetragen. In Florenz wurden beispielsweise vor dem Auszug der Guelfen zur Schlacht von Montaperti am 4. September 1260 gegen die sienesischen Ghibellinen deren Florentiner Türme abgebrochen. Doch die Ghibellinen gewannen die Schlacht und rissen nun ihrerseits 47 Paläste, 198 Häuser und 59 Türme der Guelfen in Florenz und weitere 464 Gebäude auf dem Land nieder. Andere wichtige Schlachten zwischen Ghibellinen und Guelfen waren die Schlacht von Cortenuova am 27. November 1237, die Schlacht bei Tagliacozzo am 23. August 1268, die Schlacht von Campaldino am 11. Juni 1289 und die Schlacht von Altopascio im Jahr 1325. Als heraldisches Symbol wählte sich die Guelfenpartei die Lilie, die sich vom Lilienwappen des Kapetingers Karl von Anjou ableitete, der mit päpstlicher Unterstützung die Kaiserpartei der Staufer bekämpfte. Die Ghibellinen hingegen verwendeten den kaiserlichen Reichsadler. Die Lilie ist daher in zahlreichen Wappen einst guelfisch gesinnter italienischer Adelsgeschlechter oder auch Kommunen (etwa von Florenz und Bologna, hier im Turnierkragen) zu finden, während der doppelköpfige Adler auf ghibellinische Anhängerschaft hindeutet. Parteizugehörigkeit der italienischen Städte Ghibellinische Städte Arezzo Assisi Cremona Forlì Genua Modena Osimo Pisa Pistoia Prato Siena Spoleto Todi Terni Städte mit schwankender Zugehörigkeit Bergamo Ferrara Lodi Lucca Mailand Narni Padua Parma Piacenza Treviso Verona Vicenza Guelfische Städte Bologna Brescia Crema Florenz Mantua Orvieto Perugia Viterbo Neuzeit Im 16. Jahrhundert nannte man die Bestrebungen des spanisch-habsburgischen Großkanzlers Mercurino Arborio di Gattinara, seinem König Karl I. das Kaisertum des Heiligen Römischen Reichs als Voraussetzung zur Errichtung einer Universalmonarchie zu verschaffen, Neoghibellinismus. Der Neoguelfismo war dagegen unter den Vorzeichen des italienischen Risorgimento bis um 1850 die Option, die nationale Einung unter der Führung des Papstes zu vollziehen. Stattdessen vollzog sie sich unter der Führung des Hauses Savoyen und des Königreichs Sardinien-Piemont. Bezeichnungen wie Ghibellinia oder Guelphia kamen im 19. Jahrhundert auch bei Studentenverbindungen auf. Mit diesen wurde Bezug auf die Reichspolitik der mittelalterlichen Staufer nach der deutschen Nationalstaatsgründung 1871 genommen. Literatur Peter Herde: Dante als florentiner Politiker (= Frankfurter historische Vorträge. Bd. 3). Steiner, Wiesbaden 1976, ISBN 3-515-02506-5. Peter Herde: Guelfen und Neoguelfen. Zur Geschichte einer nationalen Ideologie vom Mittelalter zum Risorgimento (= Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bd. 22, Nr. 2). Steiner-Verlag-Wiesbaden-GmbH., Stuttgart 1986, ISBN 3-515-04596-1. Kurt Leonhard: Dante Alighieri in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (= Rowohlts Monographien 167). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1970, ISBN 3-499-50167-8, S. 21–22. Roland Pauler: Die deutschen Könige und Italien im 14. Jahrhundert. Von Heinrich VII. bis Karl IV. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997, ISBN 3-534-13148-7. Daniel Waley: Die italienischen Stadtstaaten. Kindler, München 1969. Klaus Zimmermanns: Toscana. Das Hügelland und die historischen Stadtzentren. (Pisa, Lucca, Pistoia, Prato, Arezzo, Siena, San Gimignano, Volterra). DuMont, Köln 1980, ISBN 3-7701-1050-1. Weblinks Guelfen und Ghibellinen (englisch) Einzelnachweise Organisation (Mittelalter) Geschichte Italiens im Mittelalter Italienische Kriege Krieg (Mittelalter)
1923
https://de.wikipedia.org/wiki/Gambia
Gambia
Gambia [] (offiziell bzw. ) ist eine Republik in Westafrika, die an den Ufern des Flusses Gambia liegt. Mit Ausnahme eines kurzen Küstenabschnittes an der Mündung des Flusses in den Atlantischen Ozean wird Gambia vollständig vom Staat Senegal umschlossen. Mit einer Gesamtfläche von ungefähr 11.000 Quadratkilometern ist das Land der kleinste Staat des afrikanischen Festlandes. Die Hauptstadt ist Banjul. Geographie Gambia liegt an der Westküste des afrikanischen Kontinents und ist mit 11.295 km² dessen flächenkleinster Staat und z. B. nur halb so groß wie Hessen. Die ungefähr 740 Kilometer lange Grenze folgt auf einer Länge von etwa 480 Kilometern sowie einer Breite von zehn bis 50 Kilometern dem Verlauf des Gambia-Flusses. Abgesehen vom Küstenabschnitt ist Gambia vom zwanzigmal größeren Senegal umschlossen. Häufig wird das Land als eine Enklave bezeichnet, was aber den Zugang zum Atlantischen Ozean nicht berücksichtigt. Der ungewöhnliche Grenzverlauf Gambias wird mit der weit verbreiteten Geschichte erklärt, britische Schiffe hätten vom schiffbaren Teil des Flusses mit Kanonen nach beiden Seiten geschossen, um mit der Reichweite dieser Kanonen eine Grenzlinie gegenüber den Franzosen festzulegen. Gambia ist ein flaches Land, dessen Höhe über dem Meeresspiegel zwischen und beträgt. Klima Das Klima ist tropisch mit einer ausgeprägten Regenzeit und Trockenzeit. Die Trockenzeit dauert von November bis Mai. Sie ist beeinflusst vom trockenen Nordost-Wind aus der Sahara, genannt Harmattan. Die Durchschnittstemperaturen steigen dabei auf Werte zwischen 21 und 27 Grad Celsius an, wobei Spitzenwerte bis über 40 °C erreicht werden können. Die relative Luftfeuchtigkeit bleibt im Bereich zwischen 30 und 60 Prozent. Aufgrund der globalen Erwärmung haben in Gambia Überflutungen und Stürme in den letzten Jahren stark zugenommen. Gewässer Gambia hat eine Küstenlinie von ungefähr 80 Kilometern Länge. Etwa 1300 Quadratkilometer, also 11,5 Prozent der Landesfläche, sind Wasserflächen. Davon trägt der Gambia-Fluss – einer der Hauptströme Afrikas – mit seinen Seitenarmen den Hauptanteil. Flora und Fauna Flora Die geographische Position des Landes, kombiniert mit den umfangreichen Feuchtgebieten, sorgt für eine große Anzahl verschiedenster Pflanzenarten. Ungefähr 530 verschiedene Pflanzenarten sind in Gambia bekannt. Der nördliche Teil des angrenzenden Senegal liegt in der Sahelzone, weiter im Süden Westafrikas schließt sich der tropische Regenwald (Guineazone) an. Die Übergangszone, in der auch Gambia liegt, nennt man Sudanzone. Feuchtsavanne ist der vorherrschende Vegetationstyp, wobei nördlich des Gambias die Vegetation spärlicher ist. Nach der Landnutzungsstudie von 1998 waren etwa 45 Prozent der Landesfläche mit unterschiedlichen Waldtypen bedeckt. Allerdings betrug der Anteil geschlossenen Waldes („dense forest“, mit geschlossenem Kronendach) nur knapp 9 Prozent der Landesfläche, während etwa dreiviertel der Waldfläche als „Waldsavanne“ klassifiziert wurde. Weitere 32 Prozent der Landesfläche wurden als parkartige, offene Busch-Savanne bezeichnet, die meist saisonal beackert wird. Typischerweise werden bei der Umwandlung von Wald in landwirtschaftliche Fläche Einzelbäume bestimmter Baumarten auf den Feldern stehen gelassen, meist solche, die einen übergeordneten Wert haben, z. B. als Lieferant von Früchten (z. B. „Buschmango“ (Cordyla pinnata), Baobab), Medizinalprodukten (z. B. „westafrikanisches Mahagoni“ Khaya senegalensis), Viehfutter (grünes Laub während der Trockenzeit, z. B. Anabaum (Faidherbia albida)) oder technische Fasern (z. B. Rinde des Baobab für die Herstellung von Seilen). Die Waldsavanne kann man grob einteilen in eine Variante auf tiefgründigeren, besseren Böden mit höheren Niederschlägen (besonders in der West Coast Region und in der westlichen Hälfte der Lower River Region) und in eine Variante, die eher auf den flachgründigeren Plateaus mit niedrigeren Niederschlägen im Osten des Landes zu finden ist. Die häufigsten Baumarten sind Khaya senegalensis, Cordyla pinnata, Daniellia oliveri, Pterocarpus erinaceus und Prosopis africana. Auf den trockeneren Plateaus sind außerdem der rote Seidenwollbaum und Afzelia africana vertreten. Auf den besseren Standorten im Westen sind dagegen Anogeissus leiocarpa, Néré (Parkia biglobosa) und Sterculia setigera häufiger zu finden. Auf weiter Fläche ist die Waldsavanne durch Waldbrände, Überweidung und übermäßige Nutzung seit Jahrzehnten degradiert und in der Artenzusammensetzung stark verändert worden. Statt der ursprünglichen Artenvielfalt sind robuste Pionierpflanzen wie Terminalia macroptera und verschiedene Combretum-Arten vorherrschend geworden. Über eine Strecke von gut 200 Kilometern von der Mündung landeinwärts finden sich, soweit der Einfluss des Salzwassers reicht – der sogenannten Brackwasserzone, am Ufer des Gambia dicht verschlungene Mangrovenwälder. Weiter flussaufwärts sowie an einigen der meist kurzen Frischwasserzuflüsse, die zum Teil nur in der Regenzeit Wasser führen, finden sich an den Rändern der Fließgewässer Reste von immergrünem Galeriewald. Hier wachsen außer den meisten der für die Waldsavanne genannten Baumarten auch Ebenholz, Erythrophleum guineense, Milicia regia, sowie die Äthiopische Palmyrapalme (Borassus aethiopum) und zahlreiche Lianen. Typische Beispiele von Galeriewald sind im Abuko Nature Reserve und bei dem Ort Pirang in einem kleinen staatlichen Forest Park erhalten geblieben. Entlang des Atlantiks erstreckte sich vor der Überbauung der Küste durch hauptsächlich touristische Infrastruktur ein Streifen von Küstenwald (Coastal Woodland), der besonders durch geschlossene Bestände der Äthiopischen Palmyrapalme gekennzeichnet ist. Weiterhin sind dort Allophyllus africanus, Malacantha alnifolia mit charakteristisch unrundem Stamm und der dornige Busch Fagara zanthoxyloides häufig vertreten. Ein gut erhaltener und geschützter Rest des typischen Küstenwaldes ist bei Bijilo zu finden. Einige in Gambia nicht heimische Baumarten werden in größerem Maße angepflanzt. Insbesondere wurden Plantagen mit der aus Südostasien stammenden Gmelina arborea angelegt, beispielsweise im Nymbai Forest Park in der West Coast Region, wo eine kleine Sägewerks-Industrie entstanden ist. Diese schnellwachsende Baumart hat sich auch gut bewährt zur Pflanzung auf Feuerschutzstreifen und zur Markierung von unterschiedlichen Besitzverhältnissen in der Waldsavanne, weshalb in Reihen gepflanzte Gmelina ziemlich augenfällig entlang von Straßen und Wegen zu sehen sind. Weitere Baumarten, die in Westafrika nicht heimisch sind, aber in Gambia aus forst- oder landwirtschaftlichen Gründen regelmäßig angepflanzt werden, sind z. B. Teakbaum (Tectona grandis), Mango (Mangifera indica), Niembaum (Azadirachta indica) und Eukalyptusarten. Fauna Großwild wie Elefanten, Löwen oder Giraffen wurde im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts von den Kolonialherren und Wilderern ausgerottet. Dennoch bietet Gambia mit seinen umfangreichen Savannen- und Feuchtgebieten noch heute einer großen Anzahl von Tierarten Lebensraum. Ungefähr 108 Säugetierarten, wie die verschiedenen kleine Antilopenarten, sind hier heimisch, beispielsweise die Sitatungas oder die Buschböcke. Primaten sind häufig anzutreffen, darunter Guinea-Paviane und Grüne Meerkatzen, aber auch Temminck-Stummelaffen und Husarenaffen. Erfolgreich hat man die letzten Schimpansen des Landes in ein Naturreservat übersiedelt. Bekannt ist das Land für die große Vielfalt seiner bunten Vogelwelt. Über 540 Vogelarten sind in der Fachliteratur beschrieben – ein Drittel dieser Vögel sind Zugvögel. Einst galt der Gambia als krokodilreichster Fluss Afrikas; heute sind in freier Wildbahn nur noch selten Krokodile anzutreffen, darunter das Nilkrokodil und das Stumpfkrokodil. Zu den Echsen gehört auch der bis zu zwei Meter große Nilwaran. Selten geworden, aber gefährlicher sind die Flusspferde, von denen oberhalb von Elephant Island noch ungefähr 100 Exemplare leben. Die geschützte Küstenlinie ist ein beliebtes Laich- und Aufwuchsgebiet für diverse Fische. Delfine sind in der Flussmündung zu beobachten. Städte und Ortschaften Weil die Hauptstadt Banjul auf einer Insel liegt, kann sie nicht weiter expandieren. Dadurch ist Serekunda in der Kombo-St. Mary Area mit Abstand die größte Ortschaft und mit 415.962 Einwohnern das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Landes. Bevölkerung Ethnien Die größte Bevölkerungsgruppe ist die der Mandinka mit einem Anteil von fast 40 Prozent, gefolgt von den Fulbe, den Wolof, den Diola und den Serahuli, die zusammen weitere 53 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Weniger als 8 Prozent gehören kleineren Minderheiten an. Sprachen Englisch blieb nach der Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich 1965 offizielle Amtssprache. Der meiste Schriftverkehr wird auf Englisch abgewickelt. Da in Gambia viele verschiedene Ethnien leben, die sich hauptsächlich durch ihre eigene Sprache definieren, sind die Gambier recht polyglott. Häufig sprechen sie mehrere Sprachen fließend oder können sich zumindest darin verständigen. Neun Sprachen sind hauptsächlich verbreitet, aber über zwanzig verschiedene Sprachen werden in dem kleinen Land gesprochen. Am weitesten verbreitet ist mit etwa 454.000 Sprechern das Mandinka aus der Gruppe der Mande-Sprachen. Topographische Bezeichnungen sind häufig in Mandinka. Das Wolof mit etwa 165.000 Sprechern hat die größte Verbreitung in Senegal und wird vor allem in der Küstenregion um Banjul und in der Kombo-St. Mary Area gesprochen. Wolof wird oft als Handels- und Geschäftssprache benutzt und diente auch in der Zeit der Konföderation Senegambia als Parlamentssprache. Das Fulfulde (oder Fulani) wird von etwa 263.000 Gambiern gesprochen. Die arabische Sprache ist eine alte Schriftsprache im Gambia-Tal. Im Zuge des Transsaharahandels kamen schon seit dem 10. Jahrhundert nordafrikanische Händler zu den westafrikanischen Herrscherhäusern. Durch die Annahme des Islam wurde die arabische Sprache, die heute als Bildungssprache und Sprache der Religion gilt, auch in die Region südlich des Maghreb verbreitet. Durch die grenznahen Kontakte mit Senegal haben viele Gambier auch fundierte Französischkenntnisse. Gambier, die Kontakt mit dem Tourismus haben, besitzen oft zusätzlich Sprachkenntnisse in Deutsch, Niederländisch, Schwedisch oder Finnisch. Religionen Gambias Bevölkerung ist zu 90 Prozent muslimisch, 9 Prozent christlich und etwa 1 Prozent gehört traditionellen indigenen afrikanischen Religionen an. Gambia verstand sich bis 2015 als ein weltlicher Staat, der den Respekt vor allen kulturellen und traditionellen Werten fördert. Es war in Gambia traditionell üblich, offizielle Veranstaltungen mit Gebeten eines muslimischen Imams und eines christlichen Geistlichen zu eröffnen. Am 11. Dezember 2015 erklärte Staatspräsident Yahya Jammeh jedoch Gambia zu einer „islamischen Republik“. Seine Kritiker wiesen darauf hin, dass es für seine Entscheidung keine „verfassungsmäßige Grundlage“ gebe. Unter den indigenen Religionen findet sich der Voodoo. Im Gegensatz zum Voodoo-Kult in Haiti versteht sich der Voodoo in Westafrika in der Regel als eine weiße, heilende und gute Magie. Trotzdem werden gelegentlich Geschichten verbreitet, in denen jemand böswillig etwas mit Voodoo bewirkt haben soll. Es wurde beispielsweise ein Beschuldigter gelyncht, weil er angeblich einem anderen das Geschlechtsteil weggezaubert hatte. Ein Tier mit mythologischer Bedeutung ist das Krokodil. Es gilt als heiliges Tier und Fruchtbarkeitssymbol. So sehen die Westafrikaner zum Beispiel im Vollmond – in der Mandinka-Sprache Bambo genannt – ein Krokodil. In den Dalasi-Banknoten ist dieses Tier als Wasserzeichen eingearbeitet. Es gibt drei bekannte heilige Krokodilbecken, die unter anderem für den Tourismus betrieben werden. Das meistbesuchte ist das Heilige Krokodilbecken von Kachikally bei Bakau. Daneben gibt es Anlagen bei Barra und Allahein. Dort werden in langer Familientradition Krokodile aufgezogen, die dann die Besucher – sofern sie mutig sind – berühren dürfen. Dieses Berühren soll Glück und Fruchtbarkeit bringen. Auch das Wasser aus diesen Kultstätten wird für rituelle Zwecke benutzt. Als Baum mit mystischer Bedeutung gilt der Affenbrotbaum Baobab. Bildung Der Alphabetisierungsgrad der Erwachsenen (über 15 Jahren) liegt 2015 bei 50,8 Prozent (zum Vergleich 2000: 36,8 Prozent) oder 55,5 Prozent. Nach Geschlechtern aufgeteilt sind das 63,9 Prozent der Männer und 47,6 Prozent der Frauen. Die Staatsausgaben für das Bildungswesen lagen 2018 bei 2,42 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (zum Vergleich 1985: 4,30 Prozent; 2004: 0,62 Prozent). Das Schulsystem ist ans britische System angelehnt, eine Schulpflicht besteht in der Greater Banjul Area. Das Einschulungsalter liegt bei sieben Jahren in der Primary School, die sechs Schuljahre umfasst. Nach einem guten Abschluss folgt die fünfjährige Secondary High School. Danach ist der Weg offen für die zweijährige High School in Banjul. Dieser Abschluss berechtigt zum Besuch einer Universität. In Serekunda gibt es die im Jahr 1998 gegründete Universität von Gambia, die 1999 ihren Lehrbetrieb aufnahm. Zuvor mussten die Studenten ins Ausland gehen, wenn sie ein Medizin- oder Agrarstudium beginnen wollten. Demografie Gambia hatte nach Berechnungen des nationalen Statistikamtes 2020 eine Einwohnerzahl von über 2,23 Millionen und wächst mit einer Rate von 2,9 Prozent pro Jahr. Dieser Wert ist im Laufe der Zeit angestiegen und erreichte im Jahr 1993 den Zenit mit 3,88 Prozent. Seitdem sinkt die Wachstumsrate wieder. Bei einer Fläche von 10.689 Quadratkilometern macht das eine Bevölkerungsdichte von 209 Einwohnern pro Quadratkilometer. Größter Ballungsraum ist die Kombo-St. Mary Area. Die Bevölkerungsstruktur zeigt den für ein Entwicklungsland typischen Aufbau, was man in der leichten Pagodenform in der Alterspyramide erkennen kann. So macht zum Beispiel die Altersgruppe der bis 14-Jährigen einen Anteil von 44 Prozent aus. Die Gruppe der Alten hat nur einen Anteil von unter 3 Prozent. Die restlichen 53 Prozent sind die Einwohner zwischen 15 und 64 Jahren. In der Altersstruktur ist kein Ausschlag zu erkennen, der auf gesellschaftliche Veränderungen wie zum Beispiel Kriege, Katastrophen oder einen Pillenknick hindeutet. In Gambia liegt das mittlere Alter (Median) bei 17,7 Jahren (♂ 17,6 / ♀ 17,8). Man kann für die im Jahr 2015 Geborenen von einer Lebenserwartung von 60,3 Jahren ausgehen (♂ 59,1 / ♀ 61,6). Die Todesrate beträgt 12,3 Sterbefälle pro Jahr und 1000 Einwohner. Die Geburtenrate beträgt 38,1 Geburten pro Jahr und 1000 Einwohner. Dabei liegt die durchschnittliche Kinderzahl bei 5,15 Geburten pro Frau. Die Säuglingssterblichkeit liegt bei 71,6 Todesfällen pro 1000 Geburten (♂ 78,1/♀ 64,9). Das Land verzeichnete eine positive Einwanderungsrate, die bei 1,29 Einwanderern pro 1000 Einwohner liegt. Im Jahre 2017 waren 9,8 % der Bevölkerung im Ausland geboren. Die Gründe liegen wohl in den wirtschaftlichen Verhältnissen, die besser sind als in Guinea und Guinea-Bissau; auch aus Ghana gibt es viele Immigranten. Seit 2015 hat sich jedoch auch die Auswanderung beschleunigt; allein unter den in Italien im Jahr 2015 angekommenen Bootsflüchtlingen waren etwa 8500 Gambier. Gesundheit Die Staatsausgaben für das Gesundheitswesen, gemessen an dem Anteil am Bruttoinlandsprodukt, betrugen 1990 2,2 Prozent, stiegen bis 2000 auf 6,6 Prozent und sind danach wieder auf 3,2 Prozent im Jahr 2018 gesunken. Erfolgreiche Programme zur AIDS-Bekämpfung sorgten dafür, dass die AIDS-Rate in Gambia rückläufig ist. Sie lag 2020 bei rund 2 Prozent, was im Vergleich mit dem subsahara-afrikanischen Durchschnitt von 9 Prozent besonders niedrig ist. Auch das Malaria-Kontroll-Programm Gambias gilt als vorbildlich für ganz Westafrika. Durch die neue Universität ist es nun auch möglich, Ärzte im eigenen Land auszubilden. Weibliche Genitalverstümmelung Wie in den Nachbarstaaten stellt auch in Gambia die Tradition der weiblichen Genitalverstümmelung eine große Gefahr für die körperliche und seelische Gesundheit von Mädchen und Frauen sowie ihrer Kinder dar. Im Zusammenhang mit der niedrigen Alphabetisierungsquote der Frauen, der vor allem auf dem Land fehlenden Bildung und den zementierten, von Aberglauben beeinflussten Vorstellungen über weibliche Sexualität hat sich die Praxis bis ins 21. Jahrhundert fortgesetzt. Abhängig von der Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen Ethnien liegt der Prozentsatz genitalverstümmelter Frauen zwischen 12,5 Prozent bei den Wolof und 98 Prozent bei den Sarahule. Terre des Femmes spricht von 76 Prozent genitalverstümmelter Frauen in Gambia. Allerdings sinkt, auch in Folge von Aufklärungskampagnen, die Anzahl der Befürworterinnen allmählich von 71 Prozent im Jahr 2005 auf 64 Prozent wenige Jahre später. Die Beschneidungen werden nur von Frauen vorgenommen, und Frauen sind auch diejenigen, die am stärksten an der Praxis festhalten. 2015 wurde die weibliche Genitalverstümmelung verboten, weil sie „unislamisch“ ist. Landesnamen Die genaue etymologische Herkunft des Namens Gambia ist nicht bekannt; es gibt mehrere Deutungen dazu. Er wurde in der Zeit der europäischen Entdecker vor rund 500 Jahren zum ersten Mal schriftlich benutzt. Als diese ihre Expeditionen immer weiter nach Süden ausdehnten, fertigten sie gleichzeitig Karten über die Regionen für zukünftige Reisen an. Ortsnamen wurden in ihren Berichten erwähnt und auf den Karten markiert. Da die Expeditionen zuerst auf dem Wasserweg erfolgten, waren die Flüsse in der Region Senegambia von großer Bedeutung. Alvise de Cadamosto bezieht sich in den Berichten seiner Expeditionen 1455 und 1456 auf den Fluss und das Land als Gambra oder Cambra. Duarte Pacheco Pereira berichtet, dass der Fluss die Grenze zwischen dem Königreich Jolof im Norden und dem der Guambea bildet, das in der Sprache der Mandinka auch Guabu genannt wird. Im Jahr 1552 kennt João de Barros zwei Bezeichnungen für den Fluss; die Menschen entlang des Flusses nennen ihn Gambu, während die Portugiesen ihn Gambea nennen. Richard Jobson stellte 1632 fest, dass der Fluss von einigen Gambia genannt wird, von anderen aber wiederum Gamba. Aus linguistischer Sicht gab es einige Verwirrung darüber, ob sich die Worte Cambra, Gambra, Gambu, Guabu und Guambea auf den Fluss, das Mandinka-Reich Kaabu oder auf Fluss und Reich beziehen. Beide Wortstämme teilen sich Ka oder Ga (Kam/Gam). Die Silben bra, bu und bea scheinen unterschiedliche Bedeutungen zu haben. Die Silbe bu bezieht sich im Speziellen auf das Land der Kaabu, während sich die Silben bra und bea auf den Fluss beziehen. Die Silbe bra von Cadamosto könnte ihren Ursprung vom Wort Bur der Wolof haben, das so viel wie König bedeutet. Dies könnte erklären, dass Gambia ursprünglich von Gambura in der Bedeutung als ‚Platz des Königs‘ zu verstehen ist. Die Nähe des Jolof-Reiches zur nördlichen Grenze zu Kaabu könnte erklären, wie ein Wolof-Wortstamm sich mit der Sprache der Mandinka vermischt haben kann. Aus der mündlichen Überlieferung, die in Westafrika eine weitere wichtige historische Quelle ist, stammt eine andere Deutung des Namens Gambia. Nach einer Wiedergabe des Griot Fabala Kanuteh an Samuel Carter heißt es, als die Portugiesen James Island besuchten, sandte der König von Niumi, Seneke Jamme, einen Boten zu den Fremden. Dieser Bote mit dem Namen Kambi Manneh wurde von den Portugiesen gefragt: „Was ist der Name dieses Ortes?“ Seine Antwort auf die Frage, die er wohl nicht richtig verstanden hatte, war: „Mein Name ist Kambi.“ Kambi-yaa bedeutet Kambis Ort oder an Kambis Ort. Die Geschichte wurde in dieser Form ebenfalls vom Griot Foday Musa Suso wiedergegeben, nur der vollständige Name des Boten war Kambi Sonko. Im 19. Jahrhundert beziehen sich die Dokumente auf die Siedlung am Fluss Gambia (). 1888 wurde die Kolonie als „die Kolonie von Gambia“ () bezeichnet. In der kolonialen Zeit wurden keine Unterschiede zwischen den Schreibweisen Gambia und The Gambia gemacht. Seit der Unabhängigkeit Gambias ist der offizielle Name des Staates The Gambia mit einem großgeschriebenen Artikel. Auf diese Schreibweise wird besonders in englischsprachigen Schriften geachtet. Nach einer weiteren Theorie stammt der Ursprung des Namens vom portugiesischen Wort câmbio („Austausch“, „Wechsel“ oder „Handel“). Câmbio könnte die Übersetzung der Bezeichnung für den Fluss der damaligen Bevölkerung im 15. Jahrhundert sein. Das Wort ba dimma (nach anderer Deutung fura) wird dabei als Quelle genannt. Ba dimma kommt aus der Mandinka-Sprache (ba-djio = Fluss). Die Bewohner am Fluss haben keinen speziellen Namen für ihn; das allgemeine Wort für Fluss in Fula ist maayo, baa in Mandinka oder dex in Wolof. Der Begriff Kambi Bolongo, der eine Schlüsselrolle in Alex Haleys Roman Roots spielt, ist einzig im Flussmündungsgebiet bekannt. Bolongo ist ein Wort für Creek. Geschichte Die fruchtbaren Ufer des Gambia-Flusses sind seit Jahrtausenden besiedelt. Ein schriftliches Zeugnis gab der Karthager Hanno der Seefahrer um 470 v. Chr. im Bericht seiner Reise nach Westafrika. Die Verbindung zum Mittelmeerraum riss erst mit dem Fall des Römischen Reiches und der Ausbreitung des Islams ab. Mitte des 15. Jahrhunderts führten zahlreiche von Heinrich dem Seefahrer initiierte Entdeckungsfahrten an die Westspitze von Afrika. Darunter waren die Seefahrer Dinis Dias, Alvise Cadamosto und Nuno Tristão. In den folgenden Jahren übernahmen portugiesische Händler die Seeroute. Zu diesem Zeitpunkt war Gambia Teil des Reiches Mali. 1618 vergab König James I. einer britischen Gesellschaft das Privileg zum Handel mit Gambia und der Goldküste, dem heutigen Ghana. Auch die Niederlande und das Herzogtum Kurland hatten kurzzeitig Kolonien auf dem Gebiet des heutigen Gambia. Vom späten 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts stritten sich England und Frankreich um die politische und wirtschaftliche Herrschaft über die Flüsse in Senegal und Gambia. Der Pariser Frieden von 1763 übertrug Großbritannien die Herrschaft über Gambia, die Franzosen bekamen lediglich eine kleine Enklave um Albreda nördlich des Flusses. Diese wurde 1857 an Großbritannien abgetreten. In der Zeit des transatlantischen Sklavenhandels wurden mehr als drei Millionen Sklaven nach Amerika verschleppt. Erst 1807 beendete Großbritannien den Sklavenhandel offiziell, was dem Handel in Gambia vorerst keinen Abbruch tat. Im Jahr 1816 bauten die Engländer in Bathurst (heute Banjul) einen Militärstützpunkt. Die folgenden Jahre unterstand Banjul zeitweise dem britischen General-Gouverneur in Sierra Leone. Erst 1888 wurde Gambia eine eigenständige Kolonie. Dabei wurde die Grenze zwischen der französischen Kolonie Senegal und Gambia endgültig festgelegt. Das allgemeine Wahlrecht wurde 1960 garantiert, damit war das aktive und passive Frauenwahlrecht eingeführt. Das Frauenwahlrecht wurde bei der Unabhängigkeit 1965 bestätigt. Am 18. Februar 1965 wurde Gambia als konstitutionelle Monarchie ins Commonwealth aufgenommen. Bei einem Besuch von Senegals Präsident Léopold Sédar Senghor 1967 in Gambia wurde ein Abkommen über intensive Zusammenarbeit zwischen dem damals noch nicht so genannten Banjul und Dakar geschlossen. Am 24. April 1970 wurde Gambia in eine Republik innerhalb des Commonwealth umgewandelt. Erster Präsident der Republik wurde der bisherige Ministerpräsident David Dawda Kairaba Jawara, der bis 1994 fünfmal wiedergewählt wurde. In seiner Amtszeit erschütterte 1981 ein gewaltsamer Staatsstreich das Land. Im Nachspiel zum Putsch unterzeichneten Gambia und Senegal am 12. Dezember 1981 einen Vertrag, der die Vereinigung der Streitkräfte, der Währung und des Wirtschaftsraumes in der Konföderation Senegambia vorsah. Diese Konföderation bestand vom 1. Februar 1982 bis zum 30. September 1989, als Gambia aus dem Bund austrat. Der junge Leutnant Jammeh kam 1994 durch einen militärischen, aber weitgehend unblutigen Staatsstreich an die Macht, der aus einem Protest der Soldaten über verspätete Soldauszahlungen entstand. Er verkündete damals, mindestens bis zum Jahr 1998 allein regieren zu wollen. Dennoch wurden bereits 1996 wieder Wahlen abgehalten, aus denen Jammeh klar als Sieger hervorging. Tatsächlich waren die Jahre von 1996 bis 2000 von einer gewissen Stabilität und wirtschaftlichem Aufschwung geprägt: Der internationale Flughafen in Banjul sowie zahlreiche Straßen wurden modernisiert, ein neues Krankenhaus, neue Schulen, eine Fernsehstation und ein riesiges Revolutionsdenkmal entstanden, der Tourismus war wieder eine gute Einnahmequelle. 2001 wurde Jammeh erneut wiedergewählt. 2002 gewann die Alliance for Patriotic Reorientation and Construction (APRC) die Wahl zur Nationalversammlung, allerdings boykottierte die Oppositionspartei UDP die Wahl. Sie kritisierte die Wahl, die von der Independent Electoral Commission (IEC) organisiert wurde, weil nach ihrer Ansicht das Wahlsystem fehlerhaft war. Vor der gambischen Küste ereignete sich 2002 eine der größten Katastrophen der Seefahrt der Nachkriegszeit. Die senegalesische Fähre Le Joola, die damals einzige Fähre zwischen Ziguinchor in der Region Casamance und Dakar, sank in einem Sturm. Dabei kamen über 1800 Menschen um. Bei den Präsidentschaftswahlen 2006 wurde Yahya Jammeh mit 67,3 Prozent der Stimmen wiedergewählt und im November 2011 für eine vierte Amtszeit bestätigt. Er erhielt nach Angaben der Wahlkommission 72 Prozent der Stimmen, die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft hatte im Vorfeld aber die Präsidentschaftswahlen als „nicht frei, fair und transparent“ kritisiert und die Entsendung von Wahlbeobachtern abgelehnt. 2011 gründeten Regimegegner in der Diaspora, vor allem in den USA und Großbritannien, die Coalition for Change, die sich als oppositionelle politische und Bürgerrechtsbewegung versteht. Einer der Gründer war der ehemalige Informationsminister des Landes, Amadou Scattred Janneh, der auch die US-Staatsbürgerschaft besitzt und bis zu seiner Ernennung zum Minister 2003 in der US-Botschaft in Gambia arbeitete. 2011 wurde er inhaftiert, 2012 unter dem Druck amerikanischer Bürgerrechtler wieder freigelassen. Präsident Jammeh suchte daraufhin neue Verbündete in Nahost, besuchte im Jahr 2014 Katar und verstärkte die islamische und antiimperialistische Propaganda. Nach einem gescheiterten Putschversuch am 30. Dezember 2014 verschärfte sich die Repression. Jammeh beschuldigte ausländische Regierungen, die Verschwörer unterstützt zu haben. Im Juni 2015 wurde die ständige EU-Vertreterin ohne Angabe von Gründen des Landes verwiesen. Bereits zwei Jahre vorher erklärte Jammeh am 2. Oktober 2013 mit sofortiger Wirkung die Mitgliedschaft im Commonwealth für beendet. Großbritannien hatte zuletzt, wie auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die Menschenrechtslage in Gambia gerügt. Die Regierung in der Hauptstadt Banjul teilte mit, das westafrikanische Land wolle „niemals Mitglied einer neokolonialen Einrichtung“ oder einer Institution sein, „die für eine Fortsetzung des Kolonialismus steht“. Politik Gambia ist laut Verfassung von 1997 eine präsidentielle Republik. Von 2015 bis 2017 trug der Staat die Bezeichnung islamische Republik. Exekutive Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und gleichzeitig Regierungschef und Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Einen Premierminister gibt es seit 1970 nicht mehr. Das Staatsoberhaupt wird alle fünf Jahre direkt vom Volk gewählt. Im Jahr 2002 ließ der damalige Staatspräsident Yahya Jammeh eine Verfassungsänderung beschließen, nach der der Präsident unbegrenzt wiedergewählt werden kann. Präsidentschaftswahlen fanden im September 2006, November 2011 und Dezember 2016 statt. Bei der Präsidentschaftswahl am 1. Dezember 2016 siegte überraschend der Herausforderer Adama Barrow von der National People’s Party gegen den langjährigen Amtsinhaber Yahya Jammeh, der nach 22 Jahren Amtszeit abgewählt wurde. Im Wahlkampf kam es zu zahlreichen Verhaftungen und Gefängnisstrafen und sogar Todesdrohungen des Amtsinhabers in Richtung Opposition. Nachdem Jammeh zunächst seine Niederlage eingestanden hatte, widerrief er eine Woche später diese Aussage und kündigte Neuwahlen an, die er wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei der Wahl abhalten wolle. So lange wolle er im Amt bleiben. Die internationale Staatengemeinschaft (Afrikanische Union, Vereinte Nationen, Vereinigte Staaten) verurteilte dieses Verhalten und forderte Jammeh zum Rücktritt auf. Ab Mitte Dezember 2016 versuchten das Nachbarland Senegal sowie Nigeria und weitere Länder der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS in Verhandlungen, Yahya Jammeh von einer geordneten Machtübergabe an Adama Barrow zu überzeugen. Diese Verhandlungen verliefen erfolglos und ECOWAS drohte daraufhin mit einem militärischen Eingreifen. Jammeh bezeichnete dies als „Kriegserklärung“. Nach Ablauf seiner regulären Präsidentschaft marschierten am 19. Januar 2017 senegalesische Truppen in Gambia ein, um die Machtübergabe zu erzwingen. Zuvor hatte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Resolution zum Eingreifen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) in Gambia beschlossen. Am selben Tag wurde Adama Barrow in der gambischen Botschaft im Nachbarland Senegal als neuer Präsident vereidigt. Nach Ablauf des Ultimatums starteten die Nachbarstaaten am 20. Januar einen letzten Versuch, mit Jammeh zu verhandeln; Jammeh gab schließlich auf, trat von seinem Amt als Präsident Gambias zurück und ging nach Guinea ins Exil. Barrow kehrte aus seinem Exil in Senegal zurück, übernahm die Regierungsgeschäfte und stellte am 1. Februar sein Kabinett vor. Für das zweithöchste Amt als Vizepräsidentin hat Adama Barrow Fatoumata Tambajang vorgeschlagen. Allerdings erfüllt sie nicht die Altersvorgabe der Verfassung. Halifa Sallah fungiert seit 2017 als Sprecher (spokesperson) für den neuen Präsidenten Barrow. Legislative Gambias Parlament ist die National Assembly (Nationalversammlung). Es besteht aus 53 Mitgliedern, von denen 48 in direkter Wahl vom Volk gewählt werden. Fünf Mitglieder werden vom Präsidenten ernannt. Das aktive Wahlrecht hat jeder Gambier, der über 18 Jahre alt ist und sich zuvor zur Wahl hatte registrieren lassen. Die Wahlen selber fanden in der Vergangenheit frei und ohne Druck statt, es wurde keine Kritik von Oppositionellen und ausländischen Beobachtern geäußert. Gambia war lange Zeit von einer Partei dominiert. Noch bei den Parlamentswahlen 2012 ging die Partei des Präsidenten Jammeh, die Alliance for Patriotic Reorientation and Construction, als stärkste Kraft hervor. Oppositionelle Parteien erlangten keinen großen Einfluss. Eine Ausnahme bildeten die Wahlen 2005, als fünf oppositionelle Parteien, also praktisch die gesamte Opposition des Landes, eine Koalition mit dem Namen National Alliance for Democracy and Development (NADD) bildeten. Bei den Parlamentswahlen 2017 verlor die bis dahin dominierende Partei nahezu alle Sitze, während die Partei des neugewählten amtierenden Präsidenten Barrow, die United Democratic Party, mit 31 von 48 Sitzen die absolute Mehrheit erringen konnte. Politische Indizes Menschenrechte 2000 wurden laut Amnesty International mindestens 14 Personen bei einer Straßenschlacht zwischen studentischen Demonstranten und der Polizei getötet. Schulen waren zeitweilig geschlossen, Patrouillen prägten das nächtliche Stadtbild. Am 16. Dezember 2004 wurde der regierungskritische Journalist Deyda Hydara ermordet. Zuvor hatte er das neue Mediengesetz angeprangert, nach dem Journalisten für das Schreiben eines „verleumderischen Artikels“, wie üble Nachrede, Veröffentlichung aufrührerischer Artikel, zu einer Haftstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt werden können. Vier Tage nach der Tat protestierten Hunderte von Journalisten gegen Hydaras Ermordung und für den Erhalt der Pressefreiheit. Am 23. August 2012 wurden neun politische Häftlinge in Todeszellen standrechtlich erschossen. Es waren die ersten „offiziellen“ Hinrichtungen in Gambia seit 30 Jahren. Bereits im Sommer 2008 haben mehrere europäische Regierungen ihre Reisewarnungen an schwule Männer verschärft, nachdem zwei Spanier lediglich ihrer Homosexualität wegen verhaftet worden waren. „Man müsse bei einem Besuch des westafrikanischen Landes äußerst vorsichtig sein, so die Empfehlung.“ Seit dem Jahr 2014 häuften sich Berichte über massive Menschenrechtsverletzungen, u. a. über Folter, außergerichtliche Hinrichtungen und die Verfolgung von Homosexuellen. Präsident Yahya Jammeh bezeichnete Homosexuelle als „Ungeziefer“, das man „töten solle, wie Moskitos“. Weiterhin äußerte er, sie seien „gefährlicher als Tsunamis und Erdbeben“, er werde Homosexuellen „eigenhändig den Hals durchschneiden“. EU und USA froren daraufhin ihre wirtschaftlichen Förderprogramme für Gambia ein. Zum Ende der Amtszeit des Langzeitpräsidenten Jammeh rangierte Gambia in der Rangliste der Pressefreiheit 2017, die von Reporter ohne Grenzen herausgegeben wird, auf Platz 143 von 180 Ländern. Bereits 2005 nahm die Organisation den internationalen Tag der Pressefreiheit zum Anlass, Präsident Jammeh in die Liste der „Feinde der Pressefreiheit“ aufzunehmen und machte dadurch weltweit darauf aufmerksam, dass die Bedingungen für Journalisten in Gambia kritisch sind. Laut dem Bericht der Nichtregierungsorganisation war die Situation der Pressefreiheit im Land „schwierig“. Seitdem hat sich die Situation verbessert und die Nichtregierungsorganisation sieht nur noch erkennbare Probleme für die Pressefreiheit. Verwaltungsgliederung Der Staat Gambia ist in fünf Regionen und zwei Gemeinden (), die Stadt Banjul und die Gemeinde Kanifing, unterteilt. Zahlen auf Basis des Zensus 2013 bzw. nach Berechnungen des nationalen Statistikamtes für 2020 (Werte gerundet) Mitgliedschaft in internationalen Organisationen Gambia ist Mitglied in verschiedenen internationalen Organisationen und Gruppierungen. Zu den wichtigsten zählen die Vereinten Nationen und ihre Unter- und Sonderorganisationen, der Internationale Währungsfonds und die Weltbank. Auf regionaler Ebene sind die Afrikanische Union und die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) am wichtigsten. Militär Der Anteil der Staatsausgaben für Verteidigung (Military expenditures) lag 2021 geschätzt bei einem 0,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Damit gehört Gambia zu den Staaten mit den geringsten Militärausgaben weltweit. Die gambischen Streitkräfte, die sogenannten Gambia Armed Forces, sind etwa 2000 Mann stark und beinhalten die Landstreitkräfte (Gambia National Army), die Marine (Gambia Navy) und die Luftstreitkräfte (Gambia Air Wing). Eine Wehrpflicht besteht nicht. Die Armee wurde, zunächst infolge des Putsches von 1981, als eine 200 Mann starke Einheit 1983 gegründet. Vorher gab es seit der Unabhängigkeit keine bewaffneten Streitkräfte im Land, lediglich eine 750 Mann starke Polizei und einen halb so großen Verband mit dem Namen Field-Force. Man hatte bis zum Putsch ein Verteidigungsabkommen mit dem Senegal abgeschlossen. Obwohl das Land nur eine kleine Armee besitzt, beteiligt es sich intensiv an Friedensmissionen der Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union (AU), so zum Beispiel an der United Nations Mission in Liberia (UNMIL). Seit Dezember 2004 beteiligt sich Gambia an einer Friedensmission im Sudan unter Führung der Afrikanischen Union. Infrastruktur Seit der Ankunft der Portugiesen im 15. Jahrhundert war der Fluss ein Haupthandels- und Transportweg zum afrikanischen Hinterland. Von Elfenbein, Eisen, Gold, Sklaven bis hin zu Erdnüssen wurde auf dem Fluss alles transportiert. Seit den 1980er Jahren wird der Flusstransport durch den Passagierverkehr beherrscht. Obwohl der Gambia weitestgehend schiffbar ist, wird er heute für Transportzwecke in das gambische Hinterland fast nicht mehr genutzt. Auch der öffentliche Personenverkehr in West-Ost-Richtung hat sich auf die Straße verlagert. Die Kraftwerksleistung zur Erzeugung von Strom betrug 2009 etwas mehr als 60 Megawatt Leistung, die ausschließlich von Dieselgeneratoren erzeugt werden. 80 Prozent aller Staatsausgaben dienen dem Öleinkauf, und damit ist Gambia anfällig für steigende Energiepreise. Die Energieversorgung ist lückenhaft, nur jeder zweite Bewohner in den städtischen Siedlungen und jeder vierte in den ländlichen Siedlungen ist ans Stromnetz angeschlossen. Die Netzverluste sind gravierend, rund 40 Prozent der eingespeisten Energie gehen verloren. Gründe liegen in der Leitungsschwäche und im Diebstahl. Im Bereich der erneuerbaren Energien hat man in Gambia noch kaum investiert, eine erste 150-Kilowatt-Windkraftanlage entstand in Batokunku an der Atlantikküste. Straßenverkehr Ein Jahr nach der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1965 hat Gambia den Linksverkehr auf den Straßen abgeschafft. Seitdem wird auf den Straßen wie in den anderen westafrikanischen Staaten rechts gefahren. Fahrzeuge, die rechts gesteuert werden, sind nicht mehr zugelassen. Das Straßennetz hatte 2003 eine Länge von ungefähr 3742 Kilometern. Davon sind 723 Kilometer asphaltiert. Nördlich des Gambia-Flusses befindet sich die wichtige Straße North Bank Road, die das Land durchquert. Bedeutender für den Fernverkehr ist jedoch die South Bank Road, die von Banjul über Brikama bis nach Basse Santa Su durch das ganze Land verläuft. Seit einigen Jahren werden auch zunehmend Ampeln installiert, meist aber noch mit Unterstützung eines Verkehrspolizisten, da sich die Ampel noch nicht bei allen Fahrern als ernstzunehmendes Verkehrssignal durchgesetzt hat. 2009 waren bereits sechs Ampeln vorhanden. Den öffentlichen Personennahverkehr übernehmen Sammeltaxis. Die Minibusse fahren die Hauptverkehrsstraßen ab und lassen sich einfach durch Handzeichen anhalten. Konventionelle Taxis in gelber Farbe mit einem grünen Querstrich sind zahlreich vorhanden. In den Touristenzentren fahren aber auch noch grün lackierte Taxis. Sie haben spezielle staatliche Lizenzen, die sie auch als Touristenführer auszeichnen. Schienenverkehr Gambia besitzt heute kein aktiv betriebenes Streckennetz mehr. In den 1930er Jahren gab es bei Brikama eine zwölf Kilometer lange Strecke. Luftverkehr Etwas außerhalb von Banjul befindet sich Gambias einziger Flughafen. Das Flugfeld des Banjul International Airport wurde 1987 von der NASA als transatlantische Notlandestelle für Space Shuttles ausgewählt und in den folgenden Jahren für diese Aufgabe angepasst, so wurde die Start- und Landebahn auf 3600 Meter ausgebaut. Wasserverkehr Der Tiefwasserhafen von Banjul spielt für den internationalen Warenverkehr eine große Rolle, betrieben wird er von der staatlichen Gambia Ports Authority. Der Gambia-Fluss ist bis 390 Kilometer ins Landesinnere schiffbar. Hochseeschiffe können, bedingt durch den Tiefgang, den Gambia etwa 190 Kilometer befahren. Auf dem Fluss gibt es einige Fähren, die für den Personen- und Kraftfahrzeugverkehr eine wichtige Nord-Süd-Verbindung darstellen. Bis in die 1970er Jahre war die Binnenschifffahrt nahezu die einzige Möglichkeit, ins Landesinnere zu kommen. Erst in den 1980er Jahren schritt der Ausbau der Fernstraßen voran, seit dem Untergang der Lady Chilel Jawara 1984 wurde keine regelmäßige Fährverbindung längs des Flusses aufgenommen. Eine wichtige Fährverbindung befindet sich zwischen Banjul und Barra am nördlichen Ufer der Gambia-Mündung, auf der wichtigen Verkehrsstrecke nach Dakar. Für den Fährverkehr wurde am 25. Juli 2005 die in der Ukraine gebaute Fähre Kanilai vom Präsidenten Jammeh in Dienst gestellt. Die Fähre mit 50 Metern Länge, 12,5 Metern Breite und einem Tiefgang von 1,7 Metern kann maximal 250 Tonnen Fracht sowie 1200 Personen befördern. Die maximale Zahl der Passagiere wurde aber auf 600 begrenzt. Telekommunikation Die staatliche Gambia Telecommunications Company, kurz Gamtel, ist Gambias wichtigstes Telekommunikations­unternehmen. Neben den rund 50.000 Festnetz-Anschlüssen (Stand 2004) betreibt sie ein Mobilfunknetz. In der Banjul Greater Area und im Westen der Western Division ist dies flächendeckend, in den anderen Landesteilen besteht Netzversorgung mit Mobilfunk nur in den Ballungsräumen. Ein weiteres Unternehmen, das in Gambia ein Mobilfunknetz betreibt, ist die afrikaregionale Africell. Zusammen hatten die beiden Anbieter im September 2005 über 220.000 Mobilfunkteilnehmer, das sind 25 Prozent der 15- bis 64-Jährigen oder 1,9 Handys pro Haushalt. Die Anzahl der Teilnehmer stieg von 5624 im Jahr 2000 innerhalb von fünf Jahren um das Vierzigfache, damit hat Gambia eine der höchsten Mobilfunkquoten von ganz Afrika. Im Jahr 2020 nutzten 36,5 Prozent der Einwohner Gambias das Internet. Es gibt eine Vielzahl von Telecentern, die verschiedene Kommunikationsdienste wie Internet-Terminals, Faxgeräte oder Festnetztelefone gegen Entgelt zur Verfügung stellen. Wirtschaft Gambia besitzt keine Bodenschätze, die sich wirtschaftlich erschließen ließen – Landwirtschaft, Tourismus und Fischerei sind die Haupterwerbszweige des Landes. Von den Exporten – im Jahr 2016 geschätzt auf 120 Millionen US-Dollar – gingen 2017 38 Prozent nach China, 22 Prozent nach Indien, 7 Prozent nach Mali und nach Chile 5 Prozent. Im selben Jahr kamen 38 Prozent der Importe aus China, 10 Prozent aus Indien und je 5 Prozent aus Senegal und Brasilien. Das Land hat aufgrund der niedrigen Wettbewerbsfähigkeit der einheimischen Industrie ein hohes Handelsbilanzdefizit. 2016 betrug es knapp 20 % der Wirtschaftsleistung. Um seinen Importbedarf zu decken, muss sich das Land hoch verschulden. Im Jahr 2017 betrug die geschätzte Staatsverschuldung (Public debt) 88 % des BIP, im Weltvergleich Rang 35. Die Schätzungen für das Bruttoinlandsprodukt schwanken extrem je nach Wechselkurs. Kaufkraftbereinigt soll es 2016 3,38 Milliarden US-Dollar betragen haben. Das entspricht 1700 US-Dollar pro Einwohner. Andere Schätzungen liegen um 50 % niedriger. Damit zählt Gambia zu den ärmsten Ländern der Welt: 2003 belief sich der Anteil der Bevölkerung mit einem Einkommen von weniger als 1 US-Dollar pro Tag (nicht kaufkraftbereinigt) auf 59 Prozent. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegt Gambia Platz 117 von 137 Ländern (Stand 2017–2018). Zum Umbau der Energieinfrastruktur Gambias auf erneuerbare Energien beschlossen die Europäische Union (41 Millionen Euro) die Europäische Investitionsbank (65 Millionen Euro Darlehen) und die Weltbank (35,7 Millionen Euro Darlehen) 2019, das Saubere-Energie-Programm des staatlichen Stromversorgers NAWEC zu finanzieren. Landwirtschaft Zwei Drittel bis drei Viertel der Erwerbstätigen arbeiten im Bereich der Landwirtschaft, die ein Viertel bis ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. Der Gambia-Fluss mit seinen Nebenflüssen ist Gambias Lebensader. Das Flusswasser lässt sich am effizientesten in der Bewässerung landwirtschaftlich genutzter Flächen verwenden. Die dicht besiedelten Gebiete Westgambias hängen völlig von der Nutzung des Grundwassers für den industriellen und häuslichen Gebrauch ab. Die mit Abstand wichtigste Kulturpflanze ist die Erdnuss, die leicht sandige Böden bevorzugt. Jedes zweite landwirtschaftlich genutzte Feld ist ein Erdnussfeld. Sie bringt mit ihren Nebenprodukten 78 Prozent der Exporterlöse ein. Die exportorientierte, auf die Erdnuss ausgerichtete Landwirtschaft macht es aber notwendig, dass ein Fünftel der benötigten Nahrungsmittel eingeführt werden muss. Daneben werden Hirse und Sorghum, Maniok und Mais kultiviert. Reis, das Grundnahrungsmittel Nummer Eins, wird nicht ausreichend im Land produziert und muss zusätzlich importiert werden. Eine untergeordnete Rolle für den Export spielen Baumwolle, die in den östlichen Landesteilen angebaut wird, und Palmkernöl. Die Ölpalme wird in erster Linie an der Küste angebaut. Außerdem werden Tierhäute exportiert. Die Nutztierhaltung in Gambia erfolgt weitgehend extensiv mit geringem Mitteleinsatz. Unter den Nutztieren sind zahlenmäßig Rinder (ca. 300.000), Ziegen (200.000–230.000) und Schafe (ca. 150.000) am stärksten vertreten. Tourismus Der Tourismus in Gambia leistet nach der Landwirtschaft mit etwa 18 % den zweitwichtigsten Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt. Die meisten Touristen besuchen das Land der Strände wegen. Daneben sind Fluss- und Vogelexkursionen besonders wichtig. Auch kulturell Interessierte kommen nach Gambia, um das Trommeln auf einer Djembé in einem mehrtägigen Kurs zu lernen. Mitte der 1960er Jahre begann ein schwedisches Reisebüro, Reisen nach Gambia anzubieten. Die Zahl der Hotelbetten stieg von anfänglich 52 auf 4500 im Jahr 1989. Durch die Zunahme des Tourismus in den letzten 30 Jahren wurde nach und nach mehr als die Hälfte der erschlossenen Küstenlinie bebaut, und die Regierung Jammeh forcierte die weitere Zunahme des Fremdenverkehrs. In den Schlagzeilen erscheint Gambia im Zusammenhang mit Sextourismus. Die sogenannten Bumster versuchen, sich auf charmante Weise als Reisebegleiter anzupreisen. Allein reisende Frauen, die sich sicher im Land bewegen wollen, nehmen die Dienste gelegentlich an. Die Bumster hoffen, für sich und ihre Familien Almosen zu erhalten, oder spekulieren auf eine Heirat mit anschließender Emigration nach Europa. 2014 kam es zu einem Einbruch des Tourismus aufgrund der Ebola-Epidemie in anderen Ländern Westafrikas. Industrie und verarbeitendes Gewerbe Es gibt keine ausgeprägte industrielle Fertigung in Gambia. Den größten Industriezweig bildet die lokale Verarbeitung von Erdnüssen. Die größeren privaten Unternehmen beschäftigen sich mit dem Straßen- und Häuserbau. Weiter gibt es die Brauerei Banjul Breweries, Bäckereien, einen Fahrradhersteller und eine Gießerei. Ein Betrieb eines Pharmaherstellers wurde 2007 eröffnet. Es gibt auch viele Kleinbetriebe, die Möbel herstellen, Metall verarbeiten, Holzschnitzereien fertigen oder Fisch verarbeiten. Viele Betriebe werden staatlich subventioniert. Im Jahr 2017 investierte die Volksrepublik China 33 Millionen Dollar in die Entwicklung von Landwirtschaft und Fischerei in Gambia und errichtete drei Fischmehlfabriken entlang der gambischen Küste. Seither werden täglich große Mengen Fischmehl aus Gunjur hauptsächlich nach China und Norwegen verschifft, wo es in der industriellen Aquakultur vor allem an Lachse für den europäischen und amerikanischen Markt verfüttert wird. Die schädlichen sozioökonomischen und ökologischen Folgen der Fischmehlproduktion in Gambia selbst, wo die heimische Fischerei unter der Überfischung der Küstengewässer durch chinesische Fangschiffe leidet, während die ursprünglich versprochenen Infrastrukturinvestitionen ausbleiben und durch die Fabriken auch kaum Arbeitsplätze, wohl aber beträchtliche Umweltprobleme geschaffen werden, werden von der Regierung des Landes systematisch heruntergespielt. Staatshaushalt Der Staatshaushalt (Budget) umfasste 2017 Ausgaben von umgerechnet 339 Millionen US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 300 Millionen US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 2,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Staatsverschuldung (Public debt) belief sich 2017 auf geschätzte 88 Prozent des BIP. Kultur Literatur Viele gambische Schriftsteller wie Ebou Dibba und Sally Singhateh haben das Land verlassen und leben in England oder den USA. Eine Ausnahme bildet Nana Grey-Johnson. Die Fabel The Golden Days of the Jungle (1998) von Saikou S. Ceesay wurde auch in Europa bekannt. Medien Zeitungen Zeitungen haben in den letzten Jahren mit dem Sinken der Analphabetenquote an Bedeutung gewonnen. Die Regierung Jammeh war bestrebt gewesen, die Rechte der Presse einzuschränken oder gar sie zu verbieten. Unter anderem wurde das Erscheinen der Tageszeitung The Point untersagt. Radio und Fernsehen Die staatliche Rundfunkgesellschaft, die Gambia Radio & Television Service (GRTS) ist der einzige Fernsehsender. Von GRTS gibt es fünf Hörfunkprogramme, es wird aber auch Rundfunk aus dem benachbarten Senegal empfangen. Nach einer Schätzung von 1997 gibt es 197.000 Radios. Musik Traditionelle Instrumente in Gambia sind Balafon, Kora und Djembé. Man findet im ganzen Land immer Männer, die zum Zeitvertreib auf einer Djembé spielen. Für die Touristen werden Trommelkurse angeboten, bei denen die Gäste das Trommelspielen vor Ort erlernen können. In Westafrika gibt es eine Reihe von Musikern, die populäre Musik produzieren. So ist im Nachbarland Senegal Youssou N’Dour ein Superstar, dies ist in Gambia nicht anders. Aus Gambia ist der Musiker Foday Musa Suso international bekannt, in der Schweiz und Deutschland hat sich der Kora-Spieler und Sänger Tata Dindin einen Namen gemacht. Weit verbreitet sind neben der internationalen Popmusik auch Reggae und die afrokaribische Musik. Der Afrikanische Hip-Hop wird auch verbreitet gehört, es konnte sich mit dem Gambischen Hip-Hop eine eigene Musikszene entwickeln. Essen und Trinken Die gambische Küche gehört zur westafrikanischen Küche und ist wie diese durch die nordafrikanischen Länder von der arabischen Küche beeinflusst worden. Es gibt in diesem kleinen Land keine typisch gambischen Spezialitäten; die verbreiteten Gerichte sind in Variationen oder mit anderem Namen auch in Senegal und den anderen westafrikanischen Ländern zu finden. Im Gegensatz zu Senegal, wo sich die französische Küche der ehemaligen Kolonialmacht mehr durchgesetzt hatte, konnte die englische Küche in Gambia nicht Fuß fassen. Gekocht wird viel mit frischem und getrocknetem Fisch. Folgende Fische werden beispielsweise dabei verwendet: Frauenfisch, Barrakuda, Meeräsche, Korallenfische und Seezunge. Als Beilage werden Reis, Süßkartoffeln, Maniok, Okra und andere Gemüsesorten verwendet. Typisch für die gambische Küche ist die Erdnusssoße. Die Hauptgerichte sind Chicken Yassa (oder sisay yassa), ein in Zitronensaft und Zwiebeln sauer eingelegtes Hähnchen und Benachin, ein Reisgericht, das mit frischem Gemüse und getrocknetem Fisch zubereitet wird. Daneben gibt es Domoda, einen Eintopf mit Erdnusssoße, der mit Fleisch und Gemüse zubereitet wird. Als kleine Zwischenmahlzeit gelten die Fish Cakes, mit Fisch und Gewürzen gefüllte frittierte Teigtaschen. Als Süßspeise gibt es das Chakery, das mit Joghurt zubereitet wird. Neben frischem Obst wird man immer frisch geröstete Erdnüsse bekommen. Auf Grund des islamischen Glaubens ist Alkohol nicht weit verbreitet. Die Volksgruppen Aku und Diola aber trinken gerne Palmwein. Dazu wird gegorener Saft aus Palmen mittels aufgehängter Flaschen gesammelt. Das Hauptgetränk der Gambier ist aber Ataya, ein grüner Tee, der wie im nordafrikanischen Raum im Rahmen einer rituellen Teezeremonie getrunken wird. Ferner werden Fruchtsäfte (Mango, Guave, Papaya, Tamarinde) und der aus getrockneten Hibiskusblüten (Hibiscus sabdariffa) zubereitete Bissap-Saft getrunken. Eine weitere Spezialität des Landes ist der Kinkéliba-Tee. Kleidung Die Westafrikaner tragen gerne bunte Kleider, die Stoffe sind dünn gewebt und in der Batik-Technik gefärbt. Im Straßenbild der Küstenregion um Serekunda mischt sich die europäische Kleidung gleichberechtigt mit den traditionellen Gewändern. Trotz vielfach staubiger und unbefestigter Straßen sind Gambier stets bestrebt, sauber und modisch gekleidet zu sein. Für das islamische Freitagsgebet kleiden sich die meisten Männer, auch die jungen Männer in der Küstenregion, die sonst gerne westliche Kleidung tragen, in einen Kaftan. Die muslimischen Sitten werden aber hier freier ausgelegt, Frauen haben hier andere Möglichkeiten, Modebewusstsein zu zeigen. So ist eine freie Schulter überhaupt nichts Verwerfliches, selbst eine entblößte Brust einer stillenden Frau wird dort eher akzeptiert als in westlichen Ländern. Einzig das Knie einer Frau sollte bedeckt sein; selbst diese Regel wird in der Küstenregion lockerer gehandhabt. Sport An den Olympischen Spielen 2004 nahmen zwei Sportler aus Gambia teil: zum einen Jaysuma Saidy Ndure, der an den Leichtathletikwettbewerben 100-Meter- und 200-Meter-Lauf der Männer teilnahm, und zum anderen Adama Njie, die am 800-Meter-Lauf der Frauen teilnahm. Drei Teilnehmer vertraten Gambia bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking: der Boxer Badou Jack, die Leichtathletin Fatou Tiyana und der Leichtathlet Suwaibou Sanneh. In der olympischen Geschichte Gambias gab es bisher noch keine Medaillen. Special Olympics Gambia wurde 1990 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Wurzen betreut. Internationale Golfturniere werden auf dem Fajara Golf Course ausgetragen. Fußball Die Nation ist stark vom Fußball begeistert, in der Nähe von Banjul gibt es ein großes Stadion, das 40.000 Zuschauer fassen kann. Das 29 Millionen Euro teure Independence Stadium wurde von den Chinesen im Rahmen eines Entwicklungshilfeprojektes gebaut. Dieses Stadion wird auch für kulturelle Veranstaltungen genutzt. Die The Scorpions genannte gambische Fußballnationalmannschaft befindet sich zurzeit in der FIFA-Weltrangliste auf Platz In der Qualifikation für die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 unterlag die Mannschaft in der ersten Qualifikationsrunde gegen die Mannschaft aus Liberia und konnte sich damit nicht weiter qualifizieren. Das U-20-Team hingegen qualifizierte sich für die Junioren-WM. Dort konnte das unerfahrene Team am 9. Juli 2007 durch einen 2:1-Erfolg über das portugiesische Team den Einzug in das Achtelfinale der U-20-Weltmeisterschaft in Kanada perfekt machen, wo es sich allerdings Österreich mit 1:2 geschlagen geben musste. Wrestling Volkssport mit großer Tradition unter den Männern, vor allem der Ethnie der Diola, ist das afrikanische Wrestling, eine Form des Ringkampfes. Dieses Wrestling hat in Gambia eine ähnliche Stellung wie das Sumō-Ringen in Japan. Unter den Herrscherfamilien gab es schon im 11. Jahrhundert Ringerwettkämpfe. Heute wird der Wettkampf in jedem Dorf, besonders im Süden an der Grenze zu der senegalesischen Region Casamance, ausgetragen. Cricket In der Vergangenheit stellte Gambia zusammen mit Ghana, Nigeria und Sierra Leone Spieler für die Westafrikanische Cricket-Nationalmannschaft zur Verfügung. Seit 2002 wird das Land von seiner eigenen Nationalmannschaft vertreten, qualifizierte sich jedoch noch nicht für ein internationales Cricketturnier. Sehenswürdigkeiten Als Wahrzeichen des Landes und der Hauptstadt gilt der Never Again Memorial Arch (vormals Arch 22). Die Geschichte des Landes ist im National Museum in Banjul, in der noch einige Gebäude aus kolonialer Zeit erhalten sind, zu erkunden. Weitere koloniale Reste sind unter anderem auf Kunta Kinteh Island, in Juffure und in Janjanbureh (früher Georgetown) zu finden. Von der Lamin Lodge lässt sich gut das Ökosystem Mangrovenwald im Tanbi Wetland Complex beobachten. Der Abuko Nature Reserve zeigt anschaulich einen Galeriewald. Schwer erreichbar ist das Mungo Park Memorial bei Karantaba Tenda. Größtenteils ungeklärt sind noch die Herkunft und der Zweck der megalithischen Steinkreise von Wassu. Ähnliche Anlagen sind in der gesamten Region zu finden. Feiertage Die elf gesetzlichen Feiertage gründen sich auf die beiden Nationalfeiertage am 18. Februar (Independence Day) und am 22. Juli (Republic Day) und die religiösen Feiertage der beiden größten im Land vertretenen Religionen. Trotz der Mehrheit der muslimischen Bevölkerung haben die christlichen Feiertage ihren Platz, dies liegt begründet in der britischen Kolonialgeschichte. Der Sonntag ist seit der Kolonialzeit wöchentlicher Ruhetag. Fällt ein Feiertag auf einen Sonntag, so wird er auf den folgenden Montag verschoben, der dann arbeitsfrei ist. Der Freitag ist der Gebetstag der Muslime, Strenggläubige halten nach dem Mittagsgebet am Freitag ihre Geschäfte geschlossen. Umwelt Die häufigsten Naturkatastrophen, die das Land bedrohen, sind Buschfeuer, Dürren, Küstenerosion, Überschwemmungen, Sandstürme und Heuschreckenplagen. Seit den 1970er Jahren kommt es – zusammen mit Buschbränden – zu häufigerem Auftreten von Dürrekatastrophen. Seit Mitte der 1980er Jahre treten Sandstürme, die mehr als drei Tage dauern, fast jährlich auf. In den letzten 20 Jahren sind weite Abschnitte der Küstenlinie zwischen Banjul und Tanji durch Erosion bei Sturmfluten beschädigt worden, wobei es auch zu erheblichen Verlusten an Besitztümern gekommen ist. Seit kurzem treten Überschwemmungen des Flusses jährlich auf, die in vielen Teilen des Landes Felder und Gebäude beschädigen. Im Jahr 2004 bekämpfte die gesamte westafrikanische Region eine riesige Population Heuschrecken. Die gambische Regierung rief deshalb vorsorglich den Notstand aus. Die Erweiterung der Ackerflächen, Überweidung durch Viehwirtschaft, Buschbrände und unerlaubter Holzeinschlag hat den Waldanteil von ungefähr 70 Prozent in den 1960er Jahren auf weniger als 9 Prozent im Jahr 2000 verringert. Naturschutzgebiete Der Abuko Nature Reserve ist das bekannteste Naturschutzgebiet in Gambia. Der 1968 eingerichtete etwa 100 Hektar große Park liegt ungefähr 20 Kilometer südlich der Kombo-St. Mary Area. Siehe auch Liste der Abkürzungen (Gambia) Liste der gambischen Orden und Ehrenzeichen Literatur Allgemein Ulla Ackermann: Merian live!, Senegal, Gambia. Gräfe und Unzer, München 2002, ISBN 3-7742-0730-5. Thomas Baur: Senegal, Gambia: [Senegambia und den Bijagos-Archipel mit diesem praktischen Urlaubshandbuch entdecken, erleben und genießen]. Rump, Bielefeld 2002, ISBN 3-8317-1112-7. Hartmut Buchholz: Senegal, Gambia. DuMont, Köln 1998, ISBN 3-7701-4189-X. Jojo Cobbinah: Senegal/Gambia. Meyer Reiseführer, Frankfurt 2002, ISBN 3-89859-103-4. Ilona Hupe, Manfred Vachal: Gambia. Kleines Urlaubsparadies in Westafrika. Hupe, München 1999, ISBN 3-932084-19-5. Rosel Jahn: Gambia: Reiseführer mit Landeskunde; mit einem Reiseatlas. Mai, Dreieich 1997, ISBN 3-87936-239-4. Gertrud Premke: Erlebnis Gambia: Erlebnisse – mystische Geschichten – Landeskunde. Books on Demand GmbH, Norderstedt 2004, ISBN 3-8334-2044-8. Michel Renaudeau: The Gambia/La Gambie. Delroisse, Boulogne 1978, ISBN 2-85518-036-8. Reisebegleiter, The Gambia. FTI Touristik Publications, München 1999. Katharina Kane: Lonely Planet – the Gambia & Senegal. Lonely Planet Publications, Footscray 2006, ISBN 1-74059-696-X. Flora und Fauna Clive Barlow, Tim Wacher, Tony Disley: Birds of the Gambia and Senegal. Christopher Helm Publishers, London 2005, ISBN 0-7136-7549-7. Phyllis Kasper: Some Common Flora of The Gambia. Traute Warnke Verlag, Reinbek 1993, ISBN 3-9801591-3-2. Lamin Bojang, Ralf Ludwig: Results and Analysis of the National Forest Resources Inventory of The Gambia 1997/98. DFS/GTZ 1998. Sprache Michael Franke: Wolof für den Senegal, Wort für Wort. Kauderwelsch. Band 89. Rump, Bielefeld 1998, ISBN 3-89416-280-5. Karin Knick: Mandinka für Gambia, Wort für Wort. Kauderwelsch. Band 95. Rump, Bielefeld 1994, ISBN 3-89416-286-4. Geschichte Werner Forman: Schwarze Königreiche: das Kulturerbe Westafrikas. Atlantis-Verlag, Luzern/ Herrsching 1988, ISBN 3-7611-0715-3. Colin McEvedy: The Penguin atlas of African history. Penguin Books, London 1995, ISBN 0-14-051321-3. Donald R. Wright: The world and a very small place in Africa: a history of globalization in Niumi, the Gambia. M.E. Sharpe, London 2004, ISBN 0-7656-1007-8. Karten Stephen C. Stringall: Gambia Map. International Travel Maps, Vancouver 2003, ISBN 1-55341-217-6. World Mapping Project (Hrsg.): Senegal & Gambia Mit exakten Höhenlinien, Höhenschichten-Relief, Gradnetz und Ortsindex. GPS-tauglich. Rump, Bielefeld 2004, ISBN 3-8317-7123-5. Weblinks Offizielle Webpräsenz der Republik Gambia (englisch) Länderübersicht Gambia auf der Website des Auswärtigen Amtes The Gambia profile auf BBC News (englisch) Offizielle Website des Gambia Tourism Board (englisch) Einzelnachweise Staat in Afrika Least Developed Country Mitgliedstaat der Vereinten Nationen Gegründet 1965 Ehemaliges Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung Mitgliedstaat des Commonwealth of Nations
1924
https://de.wikipedia.org/wiki/Glas
Glas
Glas (von germanisch glasa „das Glänzende, Schimmernde“, auch für „Bernstein“) ist ein Sammelbegriff für eine Gruppe amorpher Feststoffe, die beim Erhitzen im Bereich der Glasübergangstemperatur in den flüssigen Zustand übergehen, während nicht glasartige amorphe Substanzen dabei kristallisieren. Gläser können für sichtbares Licht durchlässig sein, da hindurchtretende elektromagnetische Strahlung in diesem Wellenlängenbereich nicht durch Kristallgrenzen abgelenkt oder durch freie Elektronen absorbiert wird. Im Alltagsgebrauch bezeichnet Glas meist transparente Silikatgläser wie Trink- und Fenstergläser, die überwiegend aus Quarzsand bzw. Siliciumdioxid bestehen und zu den anorganischen Gläsern gehören. Amorph erstarrte Metalle werden als metallisches Glas bezeichnet. Natürlicher Bernstein sowie transparente Kunststoffe wie Acrylglas sind organische Gläser. Es gibt Behauptungen, Glas sei eine sehr zähflüssige Flüssigkeit, weil seine Atome im Gegensatz zu anderen Feststoffen nicht geordnet sind; wissenschaftlich gesehen ist das aber nicht haltbar. Definition Glas ist eine amorphe Substanz, die durch Schmelzen erzeugt wird. Die Herstellung von Glas ist auch durch die Erwärmung von Sol-Gel und durch Stoßwellen möglich. Thermodynamisch wird Glas als gefrorene, unterkühlte Flüssigkeit bezeichnet. Diese Definition gilt für alle Substanzen, die geschmolzen und entsprechend schnell abgekühlt werden. Das bedeutet, dass sich beim Erstarren der Schmelze zum Glas zwar Kristallkeime bilden, für den Kristallisationsprozess jedoch nicht genügend Zeit bleibt. Vereinfachend dargestellt ist der atomare Aufbau eines Glases dem einer hochviskosen Flüssigkeit vergleichbar. Auch nach Jahrzehnten fließt Glas jedoch nicht in dem Maße, dass dies zu der an historischen Gläsern häufig zu beobachtenden Schlierenbildung führen würde. Diese sind vielmehr auf die damaligen Herstellungsprozesse wie den Fourcault-Prozess zurückzuführen. Der Transformationsbereich, das ist der Übergangsbereich zwischen Schmelze und Feststoff, liegt bei vielen Glasarten um 600 °C. Trotz des nicht definierten Schmelzpunkts sind Gläser Festkörper. Allerdings werden sie in der Fachterminologie als „nichtergodisch“ bezeichnet. Das heißt, ihre Struktur befindet sich nicht im thermodynamischen Gleichgewicht. Viele Kunststoffe, wie zum Beispiel Plexiglas, fallen wegen ihres amorphen Aufbaus und eines Glasübergangs ebenfalls in die Kategorie Gläser, obwohl sie eine völlig andere chemische Zusammensetzung aufweisen als Silikatgläser. Sie werden daher oft als organisches Glas bezeichnet. Aus der Beobachtung der Eigenschaften der Gläser und ihrer Struktur wurden viele Versuche angestrengt, eine umfassende Definition für den Begriff Glas zu geben. Der anerkannte Glaswissenschaftler Horst Scholze führte eine Auswertung der gängigsten Definitionsversuche des Begriffs Glas durch. In seiner Monographie „Der Glaszustand“ (1933) formierte Gustav Tammann folgende Definition: „Im Glaszustand befinden sich die festen, nicht kristallisierten Stoffe.“, während die ASTM 1945 als Definition „Glas ist ein anorganisches Schmelzprodukt, das im wesentlichen ohne Kristallisation erstarrt.“ vorschlug. Franz Eugen Simon gab bereits 1930 eine Definition aus thermodynamischer Sicht: „Im physikochemischen Sinn ist Glas eine eingefrorene unterkühlte Flüssigkeit.“. Nach Scholze haben alle diese Definitionen ihre Berechtigungen, jedoch auch ihre Schwächen. So ist die Definition nach Tammann zu allgemein und schließt Kieselgel, das ebenfalls ein nichtkristalliner Festkörper ist, nicht als Glas aus. Die Beschränkung der ASTM-Definition auf anorganische Substanzen wurde von Scholze als bedenklich bewertet, da mittlerweile einige organische Gläser bekannt sind. Eine umfassende Definition wurde von der Kommission für Terminologie der Sowjetunion gegeben: „Als Gläser werden alle amorphen Körper bezeichnet, die man durch Unterkühlung einer Schmelze erhält, unabhängig von ihrer chemischen Zusammensetzung und dem Temperaturbereich ihrer Verfestigung und die infolge der allmählichen Zunahme der Viskosität die mechanischen Eigenschaften der fester Körper annehmen. Der Übergang aus dem flüssigen in den Glaszustand muß dabei reversibel sein.“ Die Beschränkung der Gläser auf Festkörper, die aus einer Schmelzphase erhalten wurden, ist aus heutiger Sicht ebenfalls bedenklich, da auch der Sol-Gel-Prozess amorphe Festkörper bzw. Gläser hervorbringen kann. Die Besonderheit des Glaszustandes der Materie geht so weit, dass einige Forscher ihn als „vierten Aggregatzustand zwischen Festkörper und Flüssigkeit“ ansahen. Einteilung der Gläser Nach Art der GeneseNeben künstlichen finden sich auch natürliche Gläser: Obsidian und Bims sind vulkanischen Ursprungs, Impaktgläser und Tektite entstehen durch Meteoriteneinschlag, Fulgurite bei Blitzeinschlag, Trinitit durch Atombombenexplosion und der Friktionit Köfelsit durch Bergstürze. Diese Gläser entstehen aus dem Schmelzen von Sanden. Durch Einwirkung einer Stoßwelle kann ein Kristallgitter seine geregelte Struktur verlieren und sich so in einen amorphen Festkörper umwandeln. So entstandene Gläser werden als diaplektisch bezeichnet. Hierzu zählt Maskelynit, das aus Feldspat entstanden ist. Künstliche Gläser werden hauptsächlich durch Schmelzen von Rohstoffen in verschiedensten Schmelzaggregaten erzeugt. Ein weiterer Syntheseweg zur Herstellung von Gläsern ist der Sol-Gel-Prozess, mit dem dünne Schichten oder Aerogele erzeugt werden können. Nach Art des „Chemismus“ Der größte Teil der heute hergestellten Gläser sind Kalk-Natron-Gläser, welche zur Gruppe der Silikatischen Gläser gehören. Alle Gläser dieser Gruppe haben gemeinsam, dass ihr Netzwerk hauptsächlich aus Siliziumdioxid (SiO2) gebildet wird. Durch Zugabe weiterer Oxide wie beispielsweise Aluminiumoxid oder verschiedener Alkalioxide entstehen die Alumo- oder Alkali-Silikatgläser. Für die Einordnung entscheidend ist, welches Oxid mengenmäßig das zweithäufigste im silikatischen Grundglas ist. Ein Silikatglas ohne weitere Bestandteile – also reines SiO2 – wird als Kiesel- oder Quarzglas bezeichnet. Aufgrund seiner hohen chemischen Beständigkeit und thermischen Belastbarkeit sowie des geringen Wärmeausdehnungskoeffizienten wird es oft in technischen Spezialanwendungen genutzt. Treten als Hauptnetzwerkbildner eines Glases Phosphorpentoxid oder Bortrioxid auf, spricht man von Phosphat- bzw. Boratgläsern, deren Eigenschaften ebenfalls durch Zugabe weiterer Oxide eingestellt werden können. Alle zuvor genannten Gläser bestehen größtenteils aus Oxiden, weshalb man sie zusammenfassend als Oxidische Gläser bezeichnet. Ist das Anion eines Glases ein Halogenidion spricht man von Halogenidglas oder von einem Chalkogenidglas, wenn es sich hauptsächlich um Schwefel, Selen oder Tellur als Anion im Glasnetzwerk handelt. Diese Gläser zeichnen sich durch eine hohe Transparenz, weit über den sichtbaren Bereich des Lichtes hinaus, aus und werden deshalb in der Infrarotoptik eingesetzt. Neben diesen anorganisch-nichtmetallischen Gläsern existieren noch organische Gläser, beispielsweise amorphe Kunststoffe, welche mit den zuvor genannten als nichtmetallische Gläser zusammengefasst werden können und den metallischen Gläsern gegenüberstehen. Die Grenzen zwischen den einzelnen Glastypen sind fließend und es gibt zahlreiche Untertypen. Ein Beispiel hierfür sind die Oxy-Nitridgläser, in denen ein Teil der Sauerstoffionen durch Stickstoff ersetzt wurde, um gezielt Eigenschaften zu erzeugen. Dadurch ist dieses Glas als ein Hybrid zwischen oxidischen und nichtoxidischen Gläsern aufzufassen. Gläser, welche nur aus einem Bestandteil, also dem Netzwerkbildner, bestehen, werden als Einkomponentengläser bezeichnet. Das typische Beispiel hierfür ist das Quarzglas. Durch Zugabe weiterer Bestandteile erhält man die sogenannten Zweikomponentengläser wie das Alkaliboratglas oder die Dreikomponentengläser wie das Kalk-Natron-Glas. In der Regel enthalten Gläser mehr als nur drei Bestandteile, jedoch werden nur die Hauptbestandteile genannt, da sich die Gläser dieser Zusammensetzungen in ihren Eigenschaften und Einsatzgebieten weitestgehend ähneln. Die hierarchische Beziehung der Gläser untereinander ist in der untenstehenden Abbildung dargestellt. Nach der Grundform des Produkts und dem Produktionsverfahren Die Glasindustrie wird gewöhnlich in Hohlglas-, Flachglas- und Spezialglasherstellung gegliedert, auch wenn diese einfache Gliederung nicht alle Bereiche der Glasindustrie erfasst. Hohlglas bezeichnet in der Regel Behältnisse für Lebensmittel, wie beispielsweise Flaschen und Konservengläser. Diese Massenprodukte werden maschinell im Press-Blas- oder Blas-Blas-Prozess gefertigt. Glasbausteine und Trinkgläser werden nur durch einen Pressvorgang geformt. Höherwertige Produkte wie Weingläser, werden als sogenanntes Tableware bezeichnet und meist in einem aufwendigen mehrstufigen Prozess hergestellt. Im Gegensatz zu den Glasflaschen werden sie nicht mit Hilfe von IS-Maschinen, sondern sogenannten Rotationsblasmaschinen produziert. Für Glühlampen ist ein besonderes Verfahren notwendig, welches sich besonders durch die hohen Produktionsgeschwindigkeiten der Ribbonmaschine (1926 von Corning Glass Works entwickelt) auszeichnet. Rohrglas kann nach verschiedenen Verfahren hergestellt werden, welche sich durch die unterschiedlichen Abmessungen des herzustellenden Halbzeugs unterscheiden. Flachglas wird je nach Produktionsverfahren Floatglas oder Walzglas genannt. Das Grundprodukt ist eine Glasscheibe. Endprodukte sind zum Beispiel Automobilglas, Spiegel, Temperglas oder Verbundglas, welche auf verschiedenste Weise nachbearbeitet wurden. Anwendungen in Form von Fasern umfassen Lichtwellenleiter, Glaswolle und glasfaserverstärkten Kunststoff sowie Textilglas. Mundgeblasene Gläser existieren praktisch nur noch im Kunstgewerbe sowie bei kostspieligen Vasen und Weingläsern. Nach ihren hergebrachten Handelsnamen Antikglas, Diatretglas, optische Gläser wie Kronglas und Flintglas (Bleiglas), Hyalithglas (opakes Glas, im 19. Jahrhundert benutzt für Tafel- und Pharmaglas), Kryolithglas (opakes, weißes Fluoridglas). Nach ihren Markennamen als Gattungsbegriff Häufig hat sich der Markenname eines Glasherstellers als Sammelbegriff für verschiedene Produkte eines oder sogar mehrerer Glashersteller eingebürgert. Ceran wird sehr oft als Synonym für Glaskeramiken oder Kochfelder verwandt. Jenaer Glas steht umgangssprachlich oft für alle Varianten von hitzefestem Borosilikatglas. Im angelsächsischen Raum hat sich der Markenname Pyrex von Corning für diese Sorte von Gläsern eingebürgert. Nach ihrer Verwendung Die wichtigsten optischen Gläser zur Herstellung von Linsen, Prismen, Spiegeln und anderen optischen Bauteilen für Mikroskope, Ferngläser, Objektive usw. sind Quarzglas, Kronglas, Flintglas und Borosilikatglas. Als Substratmaterial für optische Elemente in der Astronomie und Raumfahrt kommt der glaskeramische Werkstoff Zerodur (Schott) zum Einsatz. Dieser weist einen äußerst geringen Ausdehnungskoeffizienten auf und eignet sich somit z. B. hervorragend als Spiegelträger für große astronomische Teleskope. Ein weiteres Beispiel ist Geräteglas als Oberbegriff für alle Sorten von Gläsern im Bereich der technischen Laborgläser. Ein ähnlicher Oberbegriff für verschiedene weiterverarbeitete Gläser ist Architektur- oder Bauglas. Eigenschaften Struktur Obwohl Glas zu den ältesten Werkstoffen der Menschheit gehört, besteht noch Unklarheit in vielen Fragen des atomaren Aufbaus und seiner Struktur. Die mittlerweile allgemein anerkannte Deutung der Struktur ist die Netzwerkhypothese, die 1932 von W. H. Zachariasen aufgestellt und B. E. Warren 1933 experimentell bekräftigt wurde. Diese besagt, dass im Glas grundsätzlich dieselben Bindungszustände oder Grundbausteine wie in einem Kristall vorliegen müssen. Im Falle silikatischen Glases also die SiO4-Tetraeder, welche aber im Gegensatz zu einem Quarzkristall ein regelloses Netzwerk bilden. Um die Glasbildung weiterer chemischer Verbindungen vorhersagen zu können, stellte Zachariasen weitere Regeln in seiner Netzwerkhypothese auf. Unter anderem muss ein Kation in einer Verbindung relativ klein im Verhältnis zum Anion sein. Die sich bildenden Polyeder aus den Anionen und Kationen dürfen nur über deren Ecken verbunden sein. Werden die betrachteten Verbindungen auf Oxide beschränkt, so erfüllen unter anderen Phosphorpentoxid (P2O5), Siliciumdioxid (SiO2) und Bortrioxid (B2O3) diese Bedingungen zur Netzwerkbildung und werden daher als Netzwerkbildner bezeichnet. Wie die zweidimensionalen Abbildungen des Quarzes und des Quarzglases zeigen, liegt der Unterschied in der Regelmäßigkeit des atomaren Aufbaus. Beim Quarz, welcher ein Kristall ist, liegt ein Gitteraufbau vor – beim Quarzglas hingegen ein regelloses Netzwerk von aneinandergereihten SiO4-Tetraedern. Zur besseren Anschaulichkeit ist die vierte Oxidbindung, die aus der Zeichenebene hinaus ragen würde, nicht dargestellt. Die Bindungswinkel und Abstände im Glas sind nicht regelmäßig und die Tetraeder sind ebenfalls verzerrt. Der Vergleich zeigt, dass Glas ausschließlich über eine Nahordnung in Form der Tetraeder verfügt, jedoch keine kristalline Fernordnung aufweist. Diese fehlende Fernordnung hat die sehr schwierige Analyse der Glasstruktur zur Folge. Insbesondere die Analyse in mittlerer Reichweite, also die Verbindungen mehrerer Grundformen (hier den Tetraedern), ist Gegenstand der Forschung und wird zu den heutigen größten Problemen der Physik gezählt. Das liegt zum einen daran, dass Gläser röntgenographischen Untersuchungen nur sehr schwer zugänglich sind und zum anderen daran, dass die strukturbildenden Prozesse teilweise bereits in der Schmelze beginnen, wobei die vorliegenden Temperaturen eine genaue Untersuchung zusätzlich erschweren. Das Material, das diese Grundstruktur des Glases bestimmt, heißt Netzwerkbildner. Neben dem erwähnten Siliciumoxid können auch andere Stoffe Netzwerkbildner sein, wie Bortrioxid und auch nichtoxidische wie Arsensulfid. Einkomponentengläser sind jedoch sehr selten. Das trifft auch auf reines Quarzglas zu, das als einziges Einkomponentenglas wirtschaftliche Bedeutung hat. Die Ursache hierfür sind die enorm hohen Temperaturen (über 2000 °C) welche zu dessen Erzeugung notwendig sind. Weitere Stoffe binden sich anders in das Glasnetzwerk der Netzwerkbildner ein. Hier werden Netzwerkwandler und Stabilisatoren (oder auch Zwischenoxide) unterschieden. Netzwerkwandler werden in das vom Netzwerkbildner gebildete Gerüst eingebaut. Für gewöhnliches Gebrauchsglas – Kalk-Alkali-Glas (gebräuchlicher ist allerdings der engere Terminus Kalk-Natron-Glas) – sind dies Natrium- bzw. Kaliumoxid und Calciumoxid. Diese Netzwerkwandler reißen die Netzwerkstruktur auf. Dabei werden Bindungen des Brückensauerstoffs in den Siliciumoxid-Tetraedern aufgebrochen. Anstelle der Atombindung mit dem Silicium geht der Sauerstoff eine deutlich schwächere Ionenbindung mit einem Alkaliion ein. Zwischenoxide wie Aluminiumoxid können als Netzwerkbildner und -wandler fungieren, das heißt, sie können ein Glasnetzwerk verfestigen (stabilisieren) oder genau wie die Netzwerkwandler die Strukturen schwächen. Ihre jeweilige Wirkung in einem Glas ist stets abhängig von einer Reihe von Faktoren. Allerdings sind Zwischenoxide allein nicht zur Glasbildung fähig. Übergang von der Schmelze zum festen Glas Während bei kristallinen Materialien der Übergang von der Schmelze zum Kristall durch langsame Abkühlung erfolgt, ist dieser Vorgang bei Gläsern so rasch, dass sich keine Kristallstruktur bilden kann. Der Übergangsbereich von einer Schmelze zum Glas wird Transformationsbereich genannt. Im Laufe der Abkühlung nimmt die Viskosität des Materials stark zu. Dies ist das äußere Zeichen für eine zunehmende innere Struktur. Da diese Struktur kein regelmäßiges Muster aufweist, heißt der Zustand der Schmelze im Transformationsbereich, wie auch des erstarrten Glases, amorph. Am kühlen Ende des Transformationsbereichs liegt ein thermodynamischer Übergang, der für Glas charakteristisch ist und daher den Namen Glasübergang trägt. An ihm wandelt sich die Schmelze in den festen, glasartigen Zustand, den das Glas auch bei weiterer Abkühlung beibehält. Der Glasübergang zeichnet sich durch eine sprunghafte Änderung des Ausdehnungskoeffizienten sowie eine Abnahme der spezifischen Wärme aus. Diese Abfolge von Transformationsbereich und Glasübergang ist charakteristisch für alle Gläser, auch solche, die wie Plexiglas aus Kohlenwasserstoffen bestehen. Der amorphe, viskose Zustand der Schmelze im Transformationsbereich wird für die Bearbeitung von Glas durch Glasbläser ausgenutzt. Er erlaubt eine beliebige Verformung, ohne dass Oberflächenspannung und Gravitation das Werkstück sofort zerfließen lassen. Physikalische Eigenschaften Die im allgemeinen Sprachgebrauch tragende Eigenschaft von Glas ist die optische Durchsichtigkeit. Die optischen Eigenschaften sind so vielfältig wie die Anzahl der Gläser. Neben klaren Gläsern, die in einem breiten Band für Licht durchlässig sind, kann die Zugabe von speziellen Materialien zur Schmelze die Durchlässigkeit blockieren. Zum Beispiel werden damit optisch klare Gläser für Infrarotstrahlung undurchdringbar, die Wärmestrahlung ist blockiert. Die bekannteste Steuerung der Durchlässigkeit ist die Färbung. Die verschiedensten Farben können erzielt werden. Andererseits gibt es undurchsichtiges Glas, das schon aufgrund seiner Hauptkomponenten oder der Zugabe von Trübungsmitteln opak ist. Gebrauchsglas hat eine Dichte von ca. 2500 kg/m³ (Kalk-Natron-Glas). Die mechanischen Eigenschaften variieren sehr stark. Die Zerbrechlichkeit von Glas ist sprichwörtlich. Die Bruchfestigkeit wird stark von der Qualität der Oberfläche bestimmt. Glas ist weitgehend resistent gegen Chemikalien. Eine Ausnahme ist Flusssäure; sie löst das Siliciumdioxid und wandelt es zu Hexafluoridokieselsäure. Durch Verwitterung, bspw. jahrzehntelange Lagerung im Erdreich, entstehen mikroskopisch feine Risse an der Glasoberfläche, die sogenannte Glaskorrosion. Klarglas erscheint dann für das menschliche Auge trüb. Bei Raumtemperatur hat Kalk-Natron-Glas einen hohen elektrischen Widerstand, der allerdings mit steigender Temperatur stark abfällt. Quarzglas (glasartig erstarrtes reines Siliciumdioxid) ist auch noch bei deutlich höheren Temperaturen ein Isolator. Neben den Silikatgläsern gibt es aber auch sog. metallische Gläser wie Fe80B20, die bereits bei Raumtemperatur höhere Leitfähigkeiten besitzen, weil sie sich ähnlich wie eingefrorene flüssige Metalle verhalten. Wegen seiner Natur als unterkühlte Schmelze kann Glas auch in sehr begrenztem Umfang fließen. Dieser Effekt macht sich aber erst bei höheren Temperaturen bemerkbar. Die häufige Behauptung, dass Kirchenfenster unten dicker seien, weil das Glas im Laufe der Jahrhunderte durch die Schwerkraft nach unten geflossen sei, ist falsch, derartige Fließvorgänge hätten bei Raumtemperatur Jahrmillionen benötigt. Die Verdickung ist auf das damalige Produktionsverfahren (Zylinderblasen) zurückzuführen. Produktionsprozesse Gemenge Das Kalk-Natron-Glas ist das vorherrschende Massenglas und macht circa 90 % des weltweit produzierten Glases aus. Grundsätzlich besteht dieses Glas aus Siliziumdioxid (SiO2), Natriumoxid (Na2O) und Calciumoxid (CaO). Im alltäglichen Gebrauchsglas, welches nach wie vor zur Familie der Kalk-Natron-Gläser gehört, werden aber verschiedene weitere Bestandteile zugegeben, um die Gebrauchseigenschaften und Herstellungsbedingungen zu optimieren. Geringfügige Verunreinigungen der Rohstoffe, die mit den normalen Qualitätsanforderungen an das Gebrauchsglas vereinbar sind, stellen ebenfalls Quellen für weitere (unbeabsichtigte) Glasbestandteile dar. In normalem Glas, wie es zur Fertigung von farblosen Behältern oder Flachglas verwendet wird, finden sich oft gewisse Mengen Aluminiumoxid, Magnesiumoxid und Kaliumoxid, welche bewusst zugegeben werden. Durch Verunreinigungen finden sich weiterhin kleinere Mengen von Eisenoxiden, Titanoxid und beispielsweise Chrom(III)-oxid im Glas wieder. Die häufigsten Rohstoffe in der Massenglasproduktion können der nachfolgenden Liste entnommen werden: Quarzsand ist ein fast reiner SiO2-Träger zur Netzwerkbildung. Wichtig ist, dass der Sand nur einen geringen Anteil an Fe2O3 besitzen darf (< 0,05 %), da sonst bei Weißglas störende Grünfärbungen auftreten. Dieser Rohstoff macht mit über 70 % massenmäßig den größten Teil des Gemenges aus, und ist eine der Hauptquellen für Verunreinigungen. Soda (Na2CO3) dient als Natriumoxidträger, das als Netzwerkwandler und als Flussmittel dient und den Schmelzpunkt des SiO2 senkt. In der Schmelze wird Kohlenstoffdioxid frei und löst sich als Gas aus dem Glas. Soda ist im Bereich der Massengläser der teuerste Rohstoff, da er kaum als natürlich vorkommendes Mineral verfügbar ist. Natrium kann der Schmelze auch als Nitrat oder Sulfat zugeführt werden (Natriumsulfat ist Läutermittel zur Reduzierung des Blasengehaltes). Pottasche (K2CO3) liefert Kaliumoxid für die Schmelze, das wie Natriumoxid als Netzwerkwandler und Flussmittel dient. Feldspat (NaAlSi3O8) trägt neben SiO2 und Na2O auch Tonerde (Al2O3) in das Gemenge ein. Diese führt zu einer Erhöhung der chemischen Beständigkeit gegenüber Wasser, Nahrungsmitteln und Umwelteinflüssen. Kalk dient als Netzwerkwandler. Während der Schmelze zersetzt er sich zu Kohlendioxid und Calciumoxid. CaO erhöht in mäßiger Zugabe (10–15 %) die Härte und chemische Beständigkeit des Endproduktes. Dolomit ist ein Träger für CaO und MgO. Magnesiumoxid wirkt auf die Schmelze ähnlich wie Calciumoxid. Ein zu hoher MgO-Gehalt im Glas kann jedoch die Liquidustemperatur unerwünscht erhöhen und zu Entglasungen führen. Altglas oder Eigenscherben aus dem Produktionsbruch werden ebenfalls dem Gemenge wieder zugegeben. Altglas aus dem Glas-Recycling geht vor allem in die Behälterglasindustrie, denn Glasflaschen bestehen heute im Schnitt zu rund 60 % aus Altglas, grüne Flaschen aus bis zu 95 %, und in die Herstellung von Glaswolle, wo ihr Anteil bis zu 80 % beträgt. Dies spart Rohstoff und Energie, da Scherben leichter schmelzen als das Gemenge und die chemischen Reaktionen wie beispielsweise die Dekarbonatisierung von Soda, Kalk und Dolomit nicht mehr stattfinden müssen. Recycelte Scherben sind eine weitere Hauptquelle für Verunreinigungen, da die Farbsortierung bei Altglasrecycling Probleme bereitet und weitere unerwünschte Fremdstoffe wie Metalle, Keramik oder Spezialgläser nur ungenügend ausgelesen worden sein können. Die Fremdstoffe verursachen Glasfehler durch nicht vollständiges Aufschmelzen oder ungewollte Färbungen des Glases und Schäden in der Glasschmelzwanne, da sich Metalle in den feuerfesten Boden einfressen. Für Spezialgläser kommen auch Mennige, Borax, Bariumcarbonat und Metalle der Seltenen Erden zum Einsatz. Schmelze Die Glasschmelze lässt sich in drei Phasen unterteilen: Sie beginnt mit der Rauschmelze, die das Erschmelzen des Gemenges und seine Homogenisierung umfasst. Im Anschluss erfolgt die Läuterung, in der die Gase ausgetrieben werden. Zuletzt wird die geläuterte Schmelze auf die gewünschte Formgebungstemperatur abgekühlt („Abstehen des Glases“). Bei chargenweise arbeitenden Tageswannen und Hafenöfen geschehen diese Schritte nacheinander in demselben Becken. Dieses historische Produktionsverfahren findet heute nur noch bei kunsthandwerklicher Produktion und speziellen, optischen Gläsern in geringen Mengen statt. Im industriellen Maßstab finden ausschließlich kontinuierlich arbeitende Öfen Verwendung. Hier ist die Abfolge obiger Schritte nicht zeitlich, sondern räumlich getrennt, auch wenn die einzelnen Abschnitte fließend ineinander übergehen. Die Menge des zugeführten Gemenges muss derjenigen der Glasentnahme entsprechen. Die notwendige Energie zum Erschmelzen des Glases kann durch fossile Brennstoffe oder elektrische Energie, mittels Stromdurchgang durch die Schmelze, erbracht werden. Das Gemenge wird der Schmelzwanne mit einer Einlegemaschine am Einlegevorbau, dem Doghouse, aufgegeben. Da das Gemenge eine geringere Dichte als die Glasschmelze besitzt, schwimmt dieses auf der Schmelze und bildet den sogenannten Gemengeteppich. Bei Temperaturen von ca. 1400 °C und mehr schmelzen die verschiedenen Bestandteile langsam auf. Einige der Gemengebestandteile können zusammen Eutektika bilden und bereits bei wesentlich geringeren Temperaturen erste Schmelzphasen bilden. Die Konvektion im Glasbad bewirkt einen kontinuierlichen Abtransport von Material, das sich vom Gemengeteppich löst. Gleichzeitig bewirkt sie eine Erwärmung des Gemenges. Somit erzeugt sie sowohl eine thermische, als auch eine chemische Homogenität der Schmelze. Diese kann durch ein Bubbling, die Eindüsung von Luft oder Gasen in die Schmelze, unterstützt werden. Im Läuterbereich, der dem Schmelzbereich unmittelbar folgt, und häufig auch durch einen Wall in der Schmelze von diesem getrennt ist, werden in der Schmelze verbliebene Gase ausgetrieben. Zu diesem Zweck wird dem Gemenge zuvor ein sogenanntes Läutermittel zugegeben. Dieses Läutermittel zersetzt sich bei einer bestimmten Temperatur unter Gasbildung. Aufgrund von Partialdruckdifferenzen diffundieren nun Gase aus der Schmelze in die Läutermittel-Gasblasen ein, welche dadurch anwachsen und aufsteigen. Um diesen Prozess in wirtschaftlich vertretbaren Zeiten durchführen zu können, herrschen im Läuterteil einer Glasschmelzwanne ähnlich hohe Temperaturen wie im Schmelzteil, weil eine zu hohe Viskosität der Schmelze das Aufsteigen der Gasblasen stark verlangsamen würde. Da die Läuterung bestimmend für die Glasqualität ist, gibt es vielfältige unterstützende Maßnahmen. Dem Läuterbereich schließt sich die baulich klar getrennte Arbeitswanne an. Da für die Formgebung niedrigere Temperaturen als zur Schmelze und Läuterung nötig sind, muss das Glas vorher abstehen, das Gefäß heißt daher auch Abstehwanne. Der Kanal, der Schmelzwanne und Arbeitswanne verbindet, wird Durchlass genannt und arbeitet nach dem Siphon­prinzip. Bei Flachglaswannen sind Schmelz- und Arbeitswanne nur durch eine Einschnürung getrennt, da ein Durchlass eine optische Unruhe im Fertigprodukt entstehen ließe. Von der Arbeitswanne fließt das Glas weiter zum Entnahmepunkt, wo dann die Formgebung stattfindet. Bei der Produktion von Hohlglas sind dieses die Speiser oder Feeder. Hier werden Tropfen erzeugt, die über ein Rinnensystem in darunter stehende Glasmaschinen geleitet werden. Bei der Flachglasherstellung nach dem Floatglasverfahren fließt das Glas über einen Lippstein in das Floatbad. Formgebung Je nach Produkt wird Glas unterschiedlich geformt. Die Formung erfolgt durch Pressen, Blasen, Schleudern, Spinnen, Walzen oder Ziehen: Hohlglas wird in mehreren Verfahren durch Pressen, Blasen, Saugen und Kombinationen dieser Techniken hergestellt. Hier dominiert die IS-Maschine, die im Blas-Blas- oder Press-Blas-Verfahren arbeitet. Für höherwertige Tafelware kommen Press-Blas-Verfahren zum Einsatz, die karussellförmig arbeiten und als Rundläufer oder Rotationsblasmaschine bezeichnet werden. kontinuierliche Glasfasern werden durch Spinnen im so genannten TEL-Verfahren produziert Glasfasern für beispielsweise Glaswolle werden erzeugt, indem sie durch ein Sieb geschleudert werden Flachglas wird hauptsächlich im Floatverfahren hergestellt, kann aber auch nach verschiedenen älteren Verfahren gezogen, gewalzt oder gegossen werden. Manufakturen bieten seit einiger Zeit auch wieder vermehrt handgeblasenes Flachglas an, das Antikglas (oder in Anlehnung an seine Herstellungsmethode auch Zylinderglas) genannt wird. Rohrglas wird durch verschiedene kontinuierliche Ziehverfahren hergestellt, großformatige Glasrohre werden in einem speziellen Schleuderverfahren erzeugt. Kühlung In jedem Glasgegenstand entstehen bei der Formgebung mechanische Spannungen als Folge einer Zwangsformgebung oder Dehnungsunterschiede im Material aufgrund von Temperaturgradienten. Diese Spannungen lassen sich mit optischen Spannungsprüfern unter polarisiertem Licht geometrisch messen (Spannungsdoppelbrechung). Die Spannungsanfälligkeit hängt vom Ausdehnungskoeffizienten des jeweiligen Glases ab und muss thermisch ausgeglichen werden. Für jedes Glas lässt sich ein Kühlbereich festlegen, welcher von der sogenannten oberen und unteren Kühltemperatur begrenzt wird. Die Lage dieser Temperaturen definiert sich nach der Viskosität, so ist die obere Kühltemperatur diejenige Temperatur, bei der das Glas eine Viskosität von 1012 Pa·s besitzt. Bei der unteren Kühltemperatur liegt eine Viskosität 1013,5 Pa·s vor. In der Regel erstreckt sich der Kühlbereich für die meisten kommerziell genutzten Gläser zwischen 590 °C und 450 °C. Die Spannungen werden durch Tempern verringert, also durch definiertes langsames Abkühlen, da bei den hier vorherrschenden Viskositäten eine Spannungsrelaxation gerade noch möglich ist und bleibende Spannungen im Glaskörper vermieden werden. Die Zeit, in der ein Glasgegenstand den Kühlbereich durchlaufen kann, hängt maßgeblich von der je nach Glasart zu überbrückenden Temperatur und der Stärke (Dicke) des Gegenstands ab. Im Hohlglasbereich sind dies zwischen 30 und 100 Minuten, bei großen optischen Linsen mit 1 m Durchmesser und mehr kann eine langsame Abkühlung von einem Jahr notwendig sein, um sichtbare Spannungen und somit Bildverzeichnungen der Linse zu vermeiden. Die Kühlrate ist bei optischen Gläsern, nach der chemischen Zusammensetzung, der zweite wichtige Parameter zur Einstellung von Brechungsindex bzw. Dispersion und deshalb generell von besonderer Bedeutung im Produktionsprozess. Es gibt zwei Arten von Kühlaggregaten, die zum Entspannungskühlen von Glasgegenständen genutzt werden können: die periodisch arbeitenden Kühlöfen und kontinuierlich betriebene Kühlbahnen. In der Praxis geschieht jedoch zumeist keine klare Abgrenzung zwischen diesen beiden Fällen, so wird beispielsweise das kontinuierlich betriebene Kühlaggregat in der Flachglasindustrie häufig als Rollenkühlofen bezeichnet. Kühlöfen eignen sich nur für Sonderfertigungen und Kleinstchargen, da nach jeder Entnahme der Werkstücke der Ofen wieder auf Temperatur gebracht werden muss. Industriell werden Kühlbahnen genutzt. In der Hohlglasindustrie erfolgt der Transport der Glasgegenstände auf Stahlmatten oder Kettenbändern durch die Kühlbahn, während das kontinuierliche Glasband in der Flachglasindustrie mittels Rollen durch die Kühlbahn transportiert wird. Vor den Kühlbahnen (regional auch Kühlbänder genannt) wurden für mittlere Sortimente sogenannte Zugöfen verwendet. Nachdem der Zug im Ofen mit Gläsern gefüllt war, wurde der eine Wagen aus dem Ofen heraus- und ein leerer Wagen hineingefahren. Der heiße Wagen wurde mit isolierten Blechen verhängt und konnte langsam abkühlen, bevor er entleert wurde. Pro Schicht wurden meist drei Wagenwechsel durchgeführt. Die bisher geschilderten Vorgänge lassen sich unter dem Begriff des Entspannungskühlens, also dem Kühlen eines Glaskörpers mit dem Zweck, bleibende Spannungen zu vermeiden, zusammenfassen. Als einen umgekehrten Fall kann das thermische Vorspannen von Glas zur Herstellung von beispielsweise Einscheiben-Sicherheitsglas betrachtet werden. Dabei wird das Glas von einer Temperatur oberhalb seiner Transformationstemperatur so schnell abgekühlt, dass die thermisch erzeugten Spannungen nicht mehr abgebaut werden können. Infolgedessen entstehen im Glasvolumen Zugspannungen und in der Glasoberfläche Druckspannungen, die ursächlich für eine gesteigerte Festigkeit und Temperaturwechselbeständigkeit des Glaskörpers sind. Oberflächenveredelung Eine Oberflächenveredelung entsteht durch das Aufbringen von Schichten oder das Abtragen von Schichten sowie das Modifizieren der Struktur oder der Chemie der Glasoberfläche. Sinn und Zweck solcher Maßnahmen ist die Verbesserung der bestehenden Gebrauchseigenschaften eines Glasgegenstandes oder die Erzeugung neuer Anwendungsgebiete für einen Glasgegenstand. Durch chemische und physikalische Gasphasenabscheidung können feinste Metallbeschichtungen aufgebracht werden. Die meisten Fenster- und Autogläser werden auf diese Weise mit für Infrarotstrahlung undurchlässigen Beschichtungen versehen. Die Wärmestrahlung wird reflektiert und Innenräume heizen durch Sonneneinstrahlung weniger auf. Gleichzeitig werden die Wärmeverluste im Winter reduziert, ohne dabei die Durchsichtigkeit wesentlich zu beeinträchtigen. Die Beschichtung mit dielektrischem Material, das selbst durchsichtig ist, aber einen vom Glasträger abweichenden Brechungsindex aufweist, ermöglicht sowohl Verspiegelungen als auch eine Entspiegelung. Dies wird bei der Herstellung von Brillengläsern und Linsen für Fotoapparate eingesetzt, um störende Reflexionen zu vermindern. Für wissenschaftliche Zwecke werden Schichten hergestellt, die mehr als 99,9999 % des einfallenden Lichts einer bestimmten Wellenlänge reflektieren. Umgekehrt kann auch erreicht werden, dass 99,999 % des Lichts die Oberfläche passieren. Durch Sandstrahlen oder mit Flusssäure kann die Oberfläche so weit aufgeraut werden, dass das Licht stark gestreut wird. Es erscheint dann milchig und nicht mehr durchsichtig, jedoch wird weiterhin nur sehr wenig Licht absorbiert. Daher wird diese Technik häufig für Lampenschirme oder blickdichte Fenster angewandt (siehe auch Satiniertes Glas). Ebenfalls mit Flusssäure lässt sich die Oberfläche eines Glases säurepolieren. Dabei werden die beschädigten Oberflächenschichten abgetragen was zu defektfreien Oberfläche und somit einer erhöhten Festigkeit des Glasgegenstandes führt. Eine weitere häufig eingesetzte Oberflächenveredelungsmethode ist die Entalkalisierung der Glasoberfläche. Durch Reaktion der heißen Glasoberfläche mit aggressiven Gasen (z. B. HCl oder SO2) bilden sich mit den Alkalien aus dem Glas Salze, welche sich auf der Glasoberfläche abscheiden. Das an Alkalien verarmte Glas zeigt infolgedessen eine erhöhte chemische Beständigkeit. Während der Hohlglasproduktion wird dem Glas in zwei Schritten eine sogenannte Heiß- und Kaltendvergütung aufgebracht. Diese beiden Vergütungen sollen verhindern, dass sich die Glasflaschen während der Produktion und späteren Befüllung gegenseitig beschädigen, indem ihr Reibkoeffizient verringert wird und sie so im Falle eines Kontaktes aneinander vorbeigleiten, statt sich gegenseitig zu zerkratzen. Hierfür werden verschiedene Zinn- und Titanverbindungen als Schichten verwendet. Qualitätskontrolle Um die Qualität des Glases sicherzustellen, müssen regelmäßig umfangreiche Untersuchungen durchgeführt werden, hierzu zählen: Online-Kontrolle in der Glashütte (optische Prüfungen aller einzelnen Glaserzeugnisse auf Maßhaltigkeit, Risse, Relikten, Verunreinigungen etc.) tägliche oder wöchentliche chemische Glasanalyse mit der ICP-OES, um u. a. auch die Schwermetalle im Verpackungsglas zu überwachen (Forderung der Verpackungsverordnung) wöchentliche oder monatliche Fe2+-Analyse und Analyse des Redoxzustandes, um so das Schmelzaggregat und die Qualität der verwendeten Recyclingglasqualitäten zu beurteilen tägliche Spannungsprüfungen mit Rotlicht 1. Ordnung unter dem Mikroskop um Bruchprobleme zu reduzieren bei Bedarf Bruchanalysen mit der REM-EDX Glasfärbung und Entfärbung Grundsätze Die meisten Glassorten werden mit weiteren Zusatzstoffen produziert, um bestimmte Eigenschaften, wie ihre Färbung, zu beeinflussen. Grundsätzlich werden bei Gläsern drei Farbgebungsmechanismen unterschieden, die Ionenfärbung, die kolloidale Färbung und die Anlauffärbung. Während die erstgenannte Möglichkeit hauptsächlich auf der Wechselwirkung des Lichtes mit den Atomhüllen der farbgebenden Elemente beruht, treten bei den letzten beiden unterschiedlichste Beugungs-, Reflexions- und Brechungserscheinungen des Lichts auf, die stark abhängig von dispergierten Phasen sind. Im Falle der Anlauffärbung handelt es sich um eine Elektronenanregung im Kristallgitter des Chromophors. Ionenfärbung Als färbende Substanzen in Gläsern werden Metalloxide, sehr häufig 3d-Elemente, eingesetzt. Die Entstehung der Farbwirkung beruht auf der Interaktion der äußeren Elektronen mit elektromagnetischen Wellen. Dabei kann es zur Absorption bestimmter Wellenlängen und zur Emission anderer Wellenlängen kommen. Werden Wellenlängen des sichtbaren Lichtes absorbiert, entsteht eine Farbwirkung, da das übriggebliebene Wellenlängenspektrum kein weißes Licht mehr ergibt. Die Färbung kann also als eine selektive Transmission betrachtet werden. Die tatsächliche Färbung eines Glases ist von einer Vielzahl von Parametern abhängig. Neben der Konzentration der farbgebenden Ionen ist auch deren Koordination und die umgebende Glasstruktur von entscheidender Bedeutung. Beispielsweise ergibt Cobalt(II)-oxid in einem Silikatglas einen anderen Blauton als in einem Phosphatglas. Um einen speziellen Farbton zu erhalten, können die verschiedenen farbgebenden Oxide miteinander kombiniert werden, jedoch müssen dabei eventuell auftretende Wechselwirkungen beachtet werden. Anlauffärbung Zu den Anlaufgläsern gehören die durch Chalkogenide gefärbten Gläser, die hauptsächlich in silikatischen Gläsern mit hohen Zink- und Kaliumoxidgehalten Anwendung finden. Am häufigsten werden hierfür Cadmiumsulfid oder Cadmiumselenid in geringen Prozentbereichen zugegeben, aber auch andere Metallchalkogenide sind denkbar. Das Glas wird unter reduzierenden Bedingungen erschmolzen, wobei zunächst farbloses Glas entsteht. Erst eine anschließende Temperung bewirkt, dass die Gläser farbig werden – sie laufen an. Mit zunehmender Dauer wandert die UV-Kante des Glases immer mehr in den sichtbaren Bereich hinein. Durch eine gezielte Temperung können somit unterschiedliche Farbwirkungen erzielt werden. Ursache für dieses Verhalten sind mikroskopische (Cadmium-)Chalkogenidkristalle, die sich während des Temperns bilden und mit andauernder Temperzeit weiter wachsen. Es handelt sich also um eine gesteuerte Entglasung. Untersuchungen zeigten, dass sich mit zunehmender Kristallisation des Chalkogenids die Verbotene Zone zwischen Valenz- und Leitungsband vergrößert, was die Ursache für die Verschiebung der UV-Kante in den sichtbaren Bereich ist. Aufgrund ihrer scharfen Farbkante werden diese Gläser häufig als Filtergläser eingesetzt. Kolloidale Färbung Kolloidalgefärbte Gläser werden oft auch als (echte) Rubingläser bezeichnet. Bei diesen Gläsern werden Metallsalze der Schmelze zugegeben. Zunächst ergibt sich ebenfalls ein farbloses Glas. Durch eine anschließende Temperaturbehandlung werden Metalltröpfchen aus der Glasmatrix ausgeschieden und wachsen an. Die Farbwirkung der Kolloide beruht sowohl auf der Absorption des Lichtes durch die Teilchen als auch der Rayleigh-Streuung des Lichtes an ihnen. Je größer die erzeugten Kolloide werden, umso mehr nimmt ihre Extinktion zu. Gleichzeitig verschiebt sich die Wellenlänge ihrer maximalen Absorption zu langwelligerem Licht hin. Außerdem nimmt mit zunehmender Kolloidgröße der Effekt der Streuung zu, jedoch muss hierfür die Größe des Kolloids sehr viel kleiner als die Wellenlänge des zu streuenden Lichtes sein. Farbwirkung einzelner Bestandteile (Auswahl) Die nachfolgende Liste enthält einige der häufigeren zur Färbung genutzten Rohstoffe, unabhängig von deren Farbgebungsmechanismus. Eisenoxide: färben je nach Wertigkeit des Eisenions grün-blaugrün (Weinflaschengrün) oder gelb und in Verbindung mit Braunstein gelb sowie braun-schwarz in Verbindung mit Schwefel bei reduzierenden Schmelzbedingungen. Kupferoxide: Zweiwertiges Kupfer färbt blau; einwertiges färbt rot, daraus ergibt sich das Kupferrubinglas. Chrom(III)-oxid: wird in Verbindung mit Eisenoxid oder allein für die Grünfärbung verwendet. Uranoxid: ergibt eine sehr feine Gelb- oder Grünfärbung. (Annagelbglas oder Annagrünglas) mit grüner Fluoreszenz unter Ultraviolettstrahlung. Solche Gläser wurden vor allem in der Zeit des Jugendstils hergestellt. In England und Amerika ist diese Glassorte auch als uranium glass oder vaseline glass bekannt. Aufgrund der Radioaktivität des Urans wird es heutzutage nicht mehr verwendet. Cobalt(II)-oxid: färbt intensiv blau und wird auch für die Entfärbung verwendet. Das Cobaltoxid wurde früher in einem aus den Cobalterzen hergestelltem Gemisch zugegeben, das Zaffer oder Safflor genannt wird. Nickeloxid: violett, rötlich; es dient auch für die Graufärbung und zur Entfärbung. Mangan(IV)-oxid (Braunstein): Es wird als Glasmacherseife zur Entfernung des Grünstichs (durch Absorption der Komplementärfarben) verwendet. Selenoxid: färbt rosa und rot. Die rosa Färbung wird als Rosalin bezeichnet, die rote als Selenrubin. Silber: ergibt feines Silbergelb. Indiumoxid: Es erzeugt gelb bis bernsteinorange Farben. Neodym: rosa bis purpur, lila Praseodym: grün Samarium: gelb Europium: intensiv rosa Gold: wird erst in Königswasser aufgelöst und färbt rubinrot, eine der teuersten Glasfärbungen (Goldpurpur). Entfärbung von Gläsern Die Entfärbung eines Glases ist dann notwendig, wenn durch Verunreinigungen der Rohstoffe größere Mengen an farbgebenden Bestandteilen im Glas vorhanden sind (ungewollter Farbeffekt), oder falls in der regulären Glasproduktion ein Erzeugnis anderer Farbe hergestellt werden soll. Die Entfärbung eines Glases kann sowohl chemisch, als auch physikalisch geschehen. Unter der chemischen Entfärbung werden Änderungen an der Chemie des Glases verstanden, die zur Folge haben, dass die Färbung reduziert wird. Dies kann im einfachsten Fall durch eine Veränderung der Glaszusammensetzung geschehen. Sollten polyvalente Elemente in der Schmelze vorliegen, entscheidet neben deren Konzentration auch deren Oxidationszustand über die Farbwirkung. In diesem Fall kann ein veränderter Redoxzustand einer Glasschmelze die Farbwirkung des fertigen Produktes ebenfalls beeinflussen. Sofern eine Färbung des Glases durch Chalkogenide (Anlauffärbung) verursacht ist, kann der Schmelze Oxidationsmittel zugegeben werden. Diese bewirken eine Zersetzung der Chalkogenide in der Glasschmelze. Eine weitere Möglichkeit, Fehlfarben in einem Glas zu kompensieren, stellt die physikalische Entfärbung dar. Dazu werden kleinste Mengen farbgebender Bestandteile der Schmelze zugegeben. Grundsätzlich dient die komplementäre Farbe zur Beseitigung von Farbstichen. Dadurch entsteht der Effekt eines farblosen Glases. Mit steigender Intensität der ursprünglichen Fehlfärbung werden auch höhere Mengen an Entfärbungsmitteln notwendig, wodurch das Glas zwar farblos, aber zunehmend dunkler wirkt. Entfärbemittel werden Glasmacherseifen (auch Glasseifen) genannt. Phototropie und Elektrotropie Hierbei handelt es sich um Färbungen und Entfärbungen, die unter dem Einfluss von mehr oder weniger Sonnenlicht zustande kommen; sie eignen sich für bei starkem Sonnenlicht automatisch dunkel werdende Brillengläser. Ein ähnlicher Effekt ist mit einem veränderlichen elektrischen Feld erzielbar; er wird u. a. für verdunkelbare Windschutzscheiben verwendet. Einstellung der Glaseigenschaften allgemein Glaseigenschaften können mittels statistischer Analyse von Glasdatenbanken ermittelt und optimiert werden. Sofern die gewünschte Glaseigenschaft nicht mit Kristallisation (z. B. Liquidustemperatur) oder Phasentrennung in Zusammenhang steht, ist einfache lineare Regressionsanalyse anwendbar, unter Zuhilfenahme algebraischer Gleichungen der ersten bis zur dritten Ordnung. Viele Verfahren zur Vorausberechnung von Glaseigenschaften sind hauptsächlich empirischer Natur. Die nachstehende Gleichung zweiter Ordnung ist ein Beispiel, wobei C die Konzentrationen der Glaskomponenten wie Na2O oder CaO darstellen. Die b-Werte sind variable Koeffizienten, und n ist die Anzahl aller Glaskomponenten. Der Glas-Hauptbestandteil SiO2 ist in der dargestellten Gleichung ausgeschlossen und wird mit der Konstante bo berücksichtigt. Der Großteil der Glieder in der Beispielgleichung kann aufgrund von Korrelations- und Signifikanzanalyse vernachlässigt werden. Weitere Einzelheiten und Anwendungen siehe. Oft ist es erforderlich, mehrere Glaseigenschaften sowie die Produktionskosten gleichzeitig zu optimieren. Dies geschieht mit der Methode der kleinsten Quadrate, wodurch der Abstand zwischen den gewünschten Eigenschaften und den vorausberechneten einer fiktiven Glassorte durch Variation der Zusammensetzung minimiert wird. Es ist möglich, die gewünschten Eigenschaften unterschiedlich zu wichten. Glas-Zuschlagstoffe sind unter anderem: andere Flussmittel zur Herabsetzung des Schmelzpunkts Kaliumoxid Zinkoxid Thallium zur Veränderung des Brechungsindex Bariumoxid Bleioxid (absorbiert auch Röntgenstrahlung) Trübungsmittel: Zinndioxid Calciumphosphat Fluorid für Kryolithglas Zirkoniumdioxid Cer wird verwendet, um Glas gegen radioaktive und Röntgenstrahlung zu stabilisieren. Boroxid als Zusatz verändert die thermischen und elektrischen Eigenschaften. Aluminiumoxid erhöht die Bruchfestigkeit. Geschichte der Glasherstellung siehe: Geschichte des Glases Märkte für Glas Glas ist ein vielseitiges Material, das in vielen Bereichen des täglichen Lebens zum Einsatz kommt. So spielt Glas eine wichtige Rolle in Forschung und Wissenschaft, in der modernen Architektur sowie in Zukunftsbranchen. Kernbereiche, in denen Glas eingesetzt wird, sind: Bauindustrie, Ernährungs- und Getränkeindustrie, Kraftfahrzeugindustrie, Elektro(nik)industrie, Haushalt und Gastronomie, Medizin, Forschung und Wissenschaft, Chemie, Pharmazie, Kosmetik, Möbelindustrie und Innenausbau, Kunststoff- und Textilindustrie. Kunsthandwerk und Glaskunst Ägypten Das Glashandwerk im pharaonischen Ägypten lässt sich bis an den Beginn der 18. Dynastie zurückverfolgen; zunächst handelt es sich dabei um Kleinfunde wie Perlen, Amulette oder Kettenglieder sowie farbigen Einlagen in den typischen ägyptischen Schmuckobjekten (z. B. Pektorale). Diese sind meist in Türkis oder Dunkelblau gehalten, da sie solche Objekte aus Lapislazuli oder Türkis imitieren sollten; dies galt nicht als billiger Schmuck, sondern die Imitation dieser edlen, hoch machtgeladenen Steine galt als besondere Kunst. Das Verfahren war für die damalige Zeit sehr aufwändig und man arbeitete solche Kleinfunde aus Rohglasstücken, ganz und gar vergleichbar mit solchen aus Stein. Dafür spricht auch, dass ein ägyptisches Wort für „Glas“ so nicht existierte; es hieß künstliches Lapislazuli bzw. künstliches Türkis im Gegensatz zum wahren/echten Türkis bzw. Lapislazuli. In der Ersten ägyptischen Glaskunstblüte (18. bis 20. Dynastie) traten stabgeformte Gefäße auf (die auch kerngeformt genannt werden, nach der Sandkerntechnik). Sie gehen auf Vorbilder zeitgenössischer Gefäße, insbesondere solchen aus Stein, zurück. Typische Formen ägyptischer Glasgefäße sind Lotoskelchbecher, Granatapfelgefäße, Krateriskoi und Schminkgefäße wie Kohltöpfe und Kohlpalmsäulchen (für schwarze Augenschminke, sprich „kochel“). Seit Thutmosis III., aus dessen Regierungszeit auch die ältesten Hohlglasfunde stammen, treten auch Importgefäßformen aus dem Mittelmeergebiet hinzu (z. B. Amphoriskoi, Linsenflasche, Henkelflasche, Bilbils und andere Sonderformen); diese werden allgemein in das Spektrum der Gefäßformen eingeführt und betreffen somit auch Gefäßformen aus Keramik und Fayence beispielsweise. Die älteren kerngeformten Gefäße (etwa in der Zeit Thutmosis’ III. bis Amenophis III.) sind meistens türkis bis kräftig blau (wie der echte Türkis und Lapislazuli, denn Glas galt als Imitation dieser edlen Steine). Später, besonders in der Ramessidenzeit, wurden Gläser in hellen, kräftigen Farben wie Gelb und Grün, Weiß aber auch Braun beliebt. Als Dekor entstanden Fadenverzierungen in Zickzack- oder Girlandenform in Gelb, Weiß, und Hellblau sowie tordierte Fäden im Hell-Dunkel-Kontrast, manchmal wurden sie auch monochrom belassen und nur die Henkel oder Schulterumbrüche durch Fadenzier betont. Die ägyptischen Glasgefäße dienten der Aufbewahrung von Kosmetika wie Salben, Ölen, Parfüms und Augenschminke. Das stark gefärbte, undurchsichtige Glas wirkte konservierend. In der Spätzeit (ab der 3. Zwischenzeit bis zur Griechischen Epoche) blieb das Hohlglashandwerk unterrepräsentiert, nur gelegentlich kamen Hohlgläser vor, weiterhin in Form von kleinen meist unverzierten Salbgefäßen. Dagegen waren Glaseinlagen in Schmuck oder Figuren nicht selten und wurden wie zuvor den Edelsteinen gleichrangig behandelt. In der hellenistischen Zeit gewann die Glasproduktion wieder an Bedeutung, auch in Ägypten. Zusammen mit neuen Herstellungstechniken trat eine völlig neue Formenwelt auf, ist aber nicht für Ägypten, sondern eher zeittypisch. Bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. hatte sich Rhodos als wichtiges Zentrum der Glasherstellung etabliert. Neben Intarsien und Perlen fanden sich nun vielfarbige Mosaikschalen und die Gefäße der Canossa-Gruppe. Römisches Reich Im 1. Jahrhundert stieg die Glasproduktion derart, dass das vormals rare und teure Material für weite Kreise erschwinglich wurde. Eine umfangreiche Produktion von Trinkgefäßen, Krügen, Schalen und Tellern setzte ein, anfangs meist manuell geformt oder abgesenkt, dann zunehmend mundgeblasen. Eine Vielzahl hochwertiger Spezialgläser beweist handwerkliche Meisterschaft, so die Mosaik-Fadengläser, Kameogläser, Goldfoliengläser, Gläser mit Emailmalerei und besonders die Diatretgläser, meist glockenförmige, prunkvolle Leuchtgefäße in Netzglastechnik, die bis heute wegen ihrer künstlerischen Qualität bewundert werden. Eines der berühmtesten römischen Gläser ist der im Besitz des British Museum befindliche Lykurgosbecher aus dem 4. Jahrhundert, an dem eine dreidimensionale figurative Darstellung angebracht ist, die im Gegenlicht rot und im Auflicht opak-gelbgrün erscheint. Venezianisches Glas Venedig etablierte ab der Hälfte des 15. Jahrhunderts seinen internationalen Ruf als exquisiter Glashersteller mit der „Erfindung“ des cristallo. Diese Neuerung beruht auf der Einführung eines vorgelagerten Prozesses bei der Herstellung des vitrum blanchum, bei dem aus der Levantine-Asche unerwünschte Stoffe wie Eisen, die das Glas verunreinigten, entfernt wurden. Diese Weiterentwicklung geht auf den Muraneser maestro Angelo Barovier zurück. Um diese Zeit entstand beispielsweise die in ausnahmslosem Zustand erhaltene Coppa Barovier und die Flasche mit den Wappen der Familie Bentivoglio und Sforza, heute im Museo Civico in Bologna (2. Hälfte 15. Jahrhundert). Zu den aus dem 16. Jahrhundert erhaltenen Meisterwerken gehören ein emaillierter Kelch (ca. 1510), der 1902 unter dem eingestürzten Turm von San Marco gefunden wurde (heute im Museo del Vetro, Murano) und Handwaschgefäße in Form eines Schiffes aus durchsichtigem und blauem Glas (heute im Museo del Vetro, Murano). Über die Variationsbreite der venezianischen Renaissance-Gläser, ihre Formen und Dekore geben vor allem Gemälde aus naher Umgebung Venedigs, aber auch niederländische und flämische Stillleben Auskunft. Es handelt sich größtenteils um Becher, Schalen, Kannen und Flaschen, die aus hohl geblasenen Balustern zusammengesetzte Schäfte mit flachen Füßen hatten. Diese Schäfte wurden an dem späten 17. Jahrhundert immer ausgeklügelter, Flügel wurden in phantasievollen Ornamenten und figürlichen Dekorationen angesetzt, manchmal war auch der Schaft in figürlicher, beispielsweise in Tiergestalt ausgeführt. Für die Wandung gab es besondere Veredelungstechniken. Beim Eisglas (ital. ghiaccio) hergestellt durch Abschrecken in eiskaltem Wasser oder durch Rollen über kleine Splitter, wird auf der Oberfläche ein Effekt wie bei einem durch Eisblumen überzogenen Fensterglas erzielt. Beim Faden- oder Netzglas () – wurden Milchglas-Fäden in die klare Glasmasse eingeschmolzen und die so erhaltenen Glasstäbe durch Applizieren auf einen geblasenen Glaskörper so verwoben, dass ein faden- bzw. netzartiges Muster entstand. Diese Technik war in Ansätzen schon in der Antike bekannt, erlebte jedoch während des 17. und 18. Jahrhunderts ein Revival in Venedig, mit dem die Republik mit starken Konkurrenten aus Frankreich, England und Böhmen konkurrieren sollte. Dem Gusto des Barock entsprechend, wurde mit üppiger Transparenz gearbeitet – weniger mit Farben, stattdessen aber auf vielfältige Texturen (zum Beispiel battuto) gesetzt und vor allem pflanzliche Motive in Glas nachgeahmt (Blumen, Bäume etc.). Einer der herausragendsten Künstler dieser Zeit war Giuseppe Briarti, der eine Reihe bemerkenswert aufwendiger Lüster sowie Tischaufsätze schuf. Nach der Auflösung der Gilden um 1800 durch Napoleon, beeinflusst durch die starke ausländische Konkurrenz, erlebte die Glaskunst einen Untergang in Venedig. Um 1850 wurde sie durch Nachkommen der berühmten Glasmacher-Familien wieder zum Leben gebracht. Alte Rezepte wurden wiederentdeckt und verbessert. Die Fertigkeiten der alten Meister übte man vorrangig durch Kopieren der eigenen Produktion aus der Frühen Neuzeit (es entstanden beispielsweise einige Kopien der Flasche der Bentivoglio, der Coppa Barovier und des Klechs von San Marco bei Venice and Murano Company/ Salviati & Co.). Aber auch antike Glasformen wurden vielfach nachgeahmt, beflügelt durch neuste archäologische Entdeckungen. Dabei wurden nicht nur Gefäßtypen und Dekorationen/Techniken wie z. B. das Cameo nachgeahmt, sondern auch der Zustand der Funde. Mit avventurina-Glas imitierte man zum Beispiel die Oxidation und Anlagerung von Sediment auf antiker Keramik. Als Glas à la façon de Venise fand der venezianische Stil trotz aller Versuche der Republik Venedig, ihre Kunst geheim zu halten, Zugang in die Länder nördlich der Alpen. Schmucktechniken im Barock und Rokoko Barockes Schnittglas (und Rokoko-Glas) vornehmlich aus Böhmen und Schlesien, aber auch Nürnberg, Brandenburg und Sachsen, seltener Thüringen, Hessen, Norddeutschland und den Niederlanden lief ab dem 18. Jahrhundert venezianischem Glas den Rang ab, da deren Glas für den Glasschnitt und Glasschliff aufgrund seiner Dünnwandigkeit nicht geeignet war. Die Formen mit Fuß, Baluster-Schaft und dünnwandiger Kuppa ähnelten dem farblosen venezianischen Glas, jedoch ohne Flügel und wiesen eine stärkere Wandung auf. In Potsdam, Schlesien, Böhmen, Kassel und anderen Gebieten experimentierte man mit den Rezepten von Glas, um eine Masse herzustellen, die den Schliff und Schnitt erlaubte. Die Themen des Schnittes waren vielseitig. Jagdszenen waren häufig, Landschaften, aber auch allegorische Figuren mit Beischriften, Blumen- und Blattornamente sowie zeitgenössische Persönlichkeiten und Schlachtenszenen. Bereits im 17. Jahrhundert signierten Glasschneider vereinzelt ihre Werke und auch aus dem 18. Jahrhundert sind Glasschneider bekannt, etwa: Christian Gottfried Schneider (1710-1773) und Friedrich Winter (1672-1708) prägten den Glasschnitt Schlesiens wie Martin Winter und Gottfried Spiller denjenigen von Potsdam, Johann Christoph Kießling arbeitete für August den Starken, Franz Gondelach stand im Dienst des Landgrafen Carl von Hessen und David Wolff arbeitete in den Niederlanden. Gelegentlich weisen die barocken Schnittgläser Vergoldungen an Fuß, Schaft oder am Lippenrand auf. Im 18. Jahrhundert waren auch die Zwischengoldgläser beliebt. Für deren Herstellung wurden zwei Gläser verwendet, wobei eines passgenau in das Zweite, daher größere Glas, passte. Auf die Außenwand des inneren Glases wurde eine Goldfolie aufgelegt und mit einer Radiernadel Motive darin eingeritzt. Dann wurde es in das zweite Glas eingepasst und weiterverarbeitet. Von der Porzellanmalerei her kam die Technik der Schwarzlotmalerei, die in anderem Zusammenhang bereits im Mittelalter bekannt war. Johann Schaper und Ignaz Preissler prägten diese Kunst in Nürnberg und Schlesien (Riesengebirge, Adlergebirge), Böhmen und Sachsen. Eine rurale Veredelungstechnik barocken Glases ist die Emailmalerei. Sie findet sich vor allem an Gebrauchsglas in ländlichen Gegenden (z. B. Bierhumpen der Schützenvereine und Schnapsflaschen). Passend zur Provenienz sind die Motive: Bauer mit Vieh und Ackergerät, Wirtshausszenen, Spielkarten, Sinnsprüche. In Böhmen entsteht die Emailmalerei auch auf opakem Milchglas, was diese Technik in die Nähe der Porzellanmalerei rückt. Biedermeierglas Die Engländer übernahmen im 18. Jahrhundert die Arten und Formen der böhmischen Gläser und beherrschten mit Hilfe der Reinheit ihres Bleikristalls, dessen hervorragende lichtbrechende Eigenschaften durch den Brillantschliff wirkungsvoll zur Geltung kamen, Anfang des 19. Jahrhunderts schließlich den zu der Zeit von klassizistischen Geschmacksvorstellungen geprägten Markt. Um den Vorsprung der Engländer wettzumachen, bemühten sich die böhmischen Glasfabrikanten um größere Reinheit ihres bleifreien Kristallglases. Zugleich nutzten sie alle Möglichkeiten des Musterschliffes für abwechslungsreiche Dekore und versuchten vor allem auch, billiger zu produzieren. Das Ergebnis dieser Anstrengungen lässt sich an den meisterlich geschliffenen Biedermeiergläsern ablesen, die als bewundernswerte Beispiele kunsthandwerklichen Glasschliffs gelten. In den 1830ern erreichte der Biedermeierstil seinen Höhepunkt. Um Produktion und Absatz auszuweiten, bereicherten die Glashütten nach 1840 ihr Angebot mit dem neuentwickelten Farbglas und verdrängten damit das farblose Glas mehr und mehr vom Markt. Besonders die nordböhmischen Glashütten gestalteten ihre Gläser in immer wirkungsvollerer Farbigkeit. Im Zuge dieser Entwicklung verlor jedoch der Glasschliff gegenüber der Buntheit der Dekore an Bedeutung, Form und Schliff wurden nicht zuletzt aus Kostengründen zunehmend einfacher. Die Mannigfaltigkeit der aus Farbglas und überfangenem bzw. gebeiztem (siehe Rotbeize) Kristallglas mit Schnittdekor sowie aus Steinglas (Lithyalinglas und Hyalithglas, das mit Gold, Email- und Transparentfarben bemalt wurde) hergestellten Produkte erreichte schließlich ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß. Gängig waren zum Beispiel Trinkgläser und Karaffen aus buntem Glas, ganze Likör- und Dessertservice, Garnituren für Kommoden und Waschtische, Schreibzeuge und Parfümflakons, Schalen, Teller, Tafelaufsätze, und vor allem Vasen. Hinzu kamen die unzähligen Andenken- und Freundschaftsgläser, Dekorations- und Ehrenpokale, außerdem Exportartikel wie Wasserpfeifen und Sprenggefäße für Rosenwasser. Jugendstilglas Um 1900 waren sich die Gestalter der jungen Generation einig in ihrer Abkehr vom überkommenen Historismus. Für das daraus resultierende kunstgewerbliche Streben nach neuen, frischen, originellen Ausdrucksformen auf der Basis alter handwerklicher Techniken bürgerte sich im deutschsprachigen Raum, den Niederlanden und den Nordischen Ländern der Begriff Jugendstil ein, während sonst die Bezeichnung Art nouveau gebräuchlich ist. Die Fantasie der Jugendstil-Künstler wurde vor allem von der Farben- und Formenwelt des fernen Ostens beflügelt. So sind die wesentlichen Teile oder Elemente des Jugendstils durch dekorativ geschwungene Linien sowie flächenhafte florale Ornamente und Asymmetrie gekennzeichnet. Glas nahm in der Entwicklung des Jugendstils eine zentrale Rolle ein. Der Grund dafür ist in den gestalterischen Möglichkeiten zu suchen, die dem angestrebten organischen Wesen der Formgebung entgegenkamen. Die Zusammenarbeit von Designern und Handwerkern brachte fantasievolles, in limitierten Auflagen von Hand hergestelltes Atelierglas hervor, das durch die Vielfalt der Farbeffekte besticht. Französische Glasmacher wie Émile Gallé und die Daum Frères schufen geschnittenes und geätztes Überfangglas in kräftigen Farben. Das böhmische Jugendstilglas hat seinen guten Ruf vor allem Max Ritter von Spaun, Besitzer der Firma Joh. Loetz Witwe in Klostermühle in Böhmen, zu verdanken. Von jenseits des Großen Teiches, aus New York, kamen das irisierende Glas und die berühmten, in Europa als beispielhaft angesehenen Kreationen von Louis Comfort Tiffany. Der konstruktive Stil, der bestrebt war, alle Formen mit Hilfe einfachster Gebilde wie Quadrat, Rechteck, Kreis und Ellipse zu gestalten und starke Farbgegensätze zu verwenden, wurde am konsequentesten von der Wiener Schule verfolgt. Ihre führenden Repräsentanten waren Josef Hoffmann und Koloman Moser. Mit den wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Zeit des Ersten Weltkrieges ging die Ära des Jugendstils zu Ende. Sie währte knapp zwanzig Jahre, ihre Auswirkungen sind jedoch weiterhin spürbar. Fusing Beim Fusing (dt. Verschmelzung) oder Fusen (neudeutsch für Glasverschmelzung) werden verschiedene (weiße oder farbige, eventuell mit Glasschmelzfarbe bemalte) Glasstücke bei 780–900 °C miteinander verschmolzen. Die Schmelztemperatur ist von Zusammensetzung und Dicke der Gläser abhängig. Temperaturbeständige Gegenstände, wie etwa Metalle, können mit eingeschmolzen werden. Fusing ist in seinen Grundlagen, nach bisherigem archäologischem Wissensstand, ein mindestens 2200 Jahre altes Glasverarbeitungsverfahren. In den letzten Jahrzehnten wurde es zu einer der vielseitigsten und technisch anspruchsvollsten Glasverarbeitungstechniken weiterentwickelt. Viele Glasereien und künstlerische Glasstudios können Glas nach der Fusing-Technik verarbeiten. Das Verfahren wird in großer Variationsbreite eingesetzt: Von Modeschmuck und der Dekoration von Gegenständen bis hin zu Kunstobjekten (zum Beispiel in Murrine- und Millefiori-Technik), großen künstlerisch gestalteten Fenstern und anderen Glaselementen in Architektur und Innenarchitektur. Folgende Grundvarianten des Fusing werden unterschieden: Relief (engl. tack fuse) Vollverschmelzung (engl. full fuse) Glasfluss (franz. Pâte de verre), Glaspaste wird in Form geschmolzen. Konventionell handwerklich kann Fusing folgendermaßen ablaufen: Aus verschiedenfarbigen Glasplatten werden passende Teile mit einer besonderen Zange abgezwickt oder mit einem Glasschneider abgeschnitten. Die Glasstücke setzt der Glaskünstler dem Entwurf entsprechend zusammen, beispielsweise als Muster für den Rahmen eines Spiegels oder für die Herstellung einer Glasschüssel. Zwischenräume werden oft mit Glaspulver aus zerstampften Glasplatten ausgefüllt. Nun werden die Stücke in einem Glasfusingofen verschmolzen. Die Temperaturen werden so gewählt, dass das Glas noch nicht als Flüssigkeit verläuft, alle Glasteile und Partikel aber eine dauerhafte Verbindung eingehen. Bei entsprechender Temperaturführung kann ein vollkommen geschlossener und harter Glaskörper hergestellt werden. Dieser Brennvorgang dauert, abhängig von Dicke und Durchmesser des Glases, etwa 18 bis 22 Stunden. Der Glaskörper wird zunächst zu einer flachen Platte verschmolzen, die bei Bedarf in einem zweiten Arbeitsgang in einem Glasschmelzofen weiter geformt wird, z. B. wenn daraus eine Glasschüssel entstehen soll. Dazu werden Trägerformen oder Modelle verwendet, die oft aus Ton oder unglasierter Keramik bestehen. In konkave Modelle kann sich die erhitzte Glasplatte absenken und über konvexe Modelle kann sie sich aufbiegen. Die Form muss etwas größer als die Glasplatte sein, da Glas sich bei Erwärmung ausdehnt und beim Abkühlen zusammenzieht. Auf die entstandenen Objekte können nach dem Abkühlen Glasveredelungstechniken angewendet werden: Gravieren, Glasmalen, Schleifen, Sandstrahlen oder Ätzen. Eine fortgeschrittene Anwendung des Verfahrens ist die Herstellung großer selbsttragender Glasscheiben oder Glasobjekte, die beispielsweise als Gegenwartskunst oder als Kirchenkunst künstlerisch kontrolliert gestaltet werden können. Dafür werden auch industriell hergestellte Glasbruchstücke (Fritten) und Glaspulver aus farblosen und farbigen Gläsern verwendet. Beispiele für Fusingtechnik in der Glaskunst schafft die Künstlerin Ulrike Umlauf-Orrom. Die Herstellung derartiger Fusing-Stücke setzt künstlerisches Talent und die Kenntnis der Verfahrenstricks voraus. So müssen die zusammengeschmolzenen Gläser den gleichen Ausdehnungskoeffizienten (AKW) haben und die Erhitzung und Abkühlung des Glases muss genau kontrolliert bestimmten Temperaturkurven folgen. Andernfalls können im Glas mechanische Spannungen entstehen, die es zerreißen oder zerspringen lassen. Große Fusing-Stücke können daher nur in einem Flachbett in digital gesteuerten Brennöfen hergestellt werden. Besonders fortgeschrittene Glaskünstler verwenden Glasöfen der Bauart Glory Hole, weil sie es gestatten, kleinere Glasmassen direkt in verschiedenen angeschmolzenen oder nahezu flüssigen Zuständen künstlerisch zu bearbeiten. Glas wird dabei immer wieder für einen neuen Arbeitsgang durch das Loch in der Ofenwand gehalten und aufgeheizt, um es dann außerhalb des Ofens bearbeiten zu können. Zur ebenso direkten Bearbeitung dienen Öfen mit ausziehbarem Flachbett. Das im Flachbett liegende Glas wird auf Bearbeitungstemperatur gebracht und dann für kurze Zeit aus dem Ofen hervorgezogen. Unter Beachtung der richtigen Verfahren und Vorsichtsmaßnahmen werden dann beispielsweise Chemikalien, Metallstaub oder farbige Glaspulver auf das angeschmolzene oder geschmolzene Glas gebracht. Besondere Kenntnisse setzt es voraus, mit Werkzeugen direkt gestalterisch in diese Glasmasse einzugreifen. Eine weitere neue Variante ist die Pàte-de-Verre-Herstellung großformatiger Glasplastiken. Siehe auch Glasarten und Verwandtes Aluminiumoxynitrid Bauglas Blähglas Foturan Irisglas Metallisches Glas Verbund-Sicherheitsglas Schaumglas Herstellung Glasmacher Glasmacherstuhl Glasbläser Glasschleiferei Medizin In der Medizin werden Implantate mit einer Glasbeschichtung versehen, um eine Abstoßung vom Organismus zu unterdrücken. Je nach Zusammensetzung kann die Biokompatibilität angepasst werden. Bioglas mit der Bezeichnung 45S5 steht für 45 gewichts % SiO2 und einem molaren Verhältnis von 5:1 von Calcium zu Phosphor. Glasauge Brillengläser Dappenglas Spezifika Hydrolytische Klasse Sonstiges Corning Museum of Glass Glasmuseum Frauenau Glasmuseum Weißwasser Europäisches Flakonglasmuseum am Rennsteig Glasarchitektur Glasmodelle der Blaschkas Glasreich Islamische Glaskunst Meerglas Passauer Glasmuseum Tiffany-Glaskunst Vereinigte Lausitzer Glaswerke Literatur Glaschemie G. H. Frischat: Glas – Struktur und Eigenschaften. In: Chemie in unserer Zeit. 11. Jahrg., Nr. 3, 1977, S. 65–74, Glasherstellung und Glastechnik Jürgen Dispan: Glasindustrie in Deutschland. Branchenreport 2013. Stuttgart (= IMU-Informationsdienst. Nr. 3-2013). Link zur Branchenstudie Geschichte der Glasherstellung Heinrich Maurach: Glas als Wort und Begriff. In: Glastechnische Berichte. Band 25, 1952, S. 1–12. Kunsthandwerk und Glaskunst S. M. Goldstein: Pre-Roman and Early Roman Glass in the Corning Museum of Glass. Corning, New York 1979 und 1989. D. B. Harden: Ancient Glass I: Pre-roman. In: Archaeological Journal. Band 125, 1968, S. 46–72. D. B. Harden: Glass of the Caesars. Mailand 1987. C. Isings: Roman Glass from Dated Finds. Groningen/Djakarta 1957. H. A. Kordmahini: Glass from the Bazargan Collection. Iranian Cultural Heritage Organization, Iranisches Nationalmuseum, Teheran 1988. N. Kunina: Ancient Glass in the Hermitage Collection. Leningrad 1997. S. Matheson: Ancient Glass in the Yale University Art Gallery. New Haven, Connecticut, 1980. M. 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1925
https://de.wikipedia.org/wiki/Galaxie
Galaxie
Eine Galaxie ist eine durch Gravitation gebundene große Ansammlung von Sternen, Planetensystemen, Gasnebeln, Staubwolken, Dunkler Materie und sonstigen astronomischen Objekten mit einer Gesamtmasse von typischerweise 109 bis 1013 Sonnenmassen (M☉). Ihr Durchmesser kann mehrere hunderttausend Lichtjahre betragen. Während große Galaxien häufig die Struktur von Spiralen ausbilden, sind Zwerggalaxien zumeist irregulären Typs. Daneben existieren weitere Arten und Formen. Die Milchstraße, Heimatgalaxie unseres Sonnensystems, ist eine Balkenspirale von rund 1,5 Billionen M☉ mit etwa 250 Milliarden Sternen. Von der Erde aus lassen sich mit aktueller Technik mehr als 50 Milliarden Galaxien beobachten. Seit 2016 geht die Forschung davon aus, dass sich im beobachtbaren Universum ca. eine Billion Galaxien befinden. Die Bezeichnung entstammt dem gleichbedeutenden altgriechischen ὁ γαλαξίας κύκλος ho galaxías kyklos und geht auf eine antike Sage zurück, wonach es sich dabei um die verspritzte Milch () der Göttin Hera handelt, als diese Herakles stillen sollte. Als Galaxis (Singular) wird im Deutschen speziell die Milchstraße bezeichnet. Im Englischen (allgemein galaxy, für die Milchstraße neben the Milky Way Galaxy bzw. the Milky Way auch kurz the Galaxy) gibt es eine ähnliche Unterscheidung. Alexander von Humboldt verwendete die Bezeichnung „Welteninsel“, die auch heute noch in Gebrauch ist. Allgemeines Galaxien variieren stark in Aussehen (Morphologie), Größe und Zusammensetzung. Die Milchstraße hat einen Durchmesser von bis zu 200.000 Lichtjahren und gehört damit zu den größeren Galaxien. Ihre nächste Nachbargalaxie von vergleichbarer Größe ist die Andromedagalaxie in einer Entfernung von rund 2,5 Millionen Lichtjahren. Das entspricht etwa dem mittleren Abstand zwischen allen Galaxien von rund drei Millionen Lichtjahren. Zusammen mit weiteren Galaxien von geringerer Masse bilden beide Galaxien die Lokale Gruppe. Galaxien treten oft in Gruppen oder Haufen mit bis zu einigen tausend Mitgliedern auf. Geschichte der Erforschung Bevor die Leistung astronomischer Teleskope dazu ausreichte, entfernte Galaxien in einzelne Sterne aufzulösen, erschienen sie als „Nebelflecken“. Lange war unklar, ob diese „Spiralnebel“ zur Galaxis gehören oder eigene Sternensysteme bilden. Schon Immanuel Kant vermutete in den „nebligen Sternen“ milchstraßenähnliche Sternsysteme, und 1923 gelang es Edwin Hubble, diese Frage zu klären. Er bestimmte die Entfernung zum Andromedanebel und stellte fest, dass dieser viel zu weit entfernt ist, um zur Milchstraße zu gehören, also eine eigene Galaxie darstellt. Galaxientypen Klassifikation nach Hubble Galaxien werden nach ihrer Form in verschiedene Haupt- und Untergruppen der so genannten Hubble-Klassifikation eingeteilt (siehe Morphologie). Diese Klassifikation wurde von Edwin Hubble begründet und ist mit einigen Erweiterungen bis heute in Gebrauch, obwohl sie ursprünglich nur auf einer kleinen Stichprobe von nahen und hellen Galaxien basierte, die damals im optischen Wellenlängenbereich beobachtet werden konnten. Die Hubble-Klassifikation ist rein empirisch und besagt nichts über die Entwicklung von Galaxien. Die einzelnen Typen sind: Elliptische Galaxien zeigen keine besonderen Unterstrukturen. Die Linien gleicher Helligkeit haben die Form einer Ellipse. Die elliptischen Galaxien haben einen gleichmäßigen Helligkeitsabfall von innen nach außen. Sie beinhalten nahezu kein kaltes Gas, daher geht ihre Sternentstehungsrate gegen null. Ihr Spektrum wird von alten und daher roten Sternen dominiert. Elliptische Galaxien werden nach ihrer numerischen Exzentrizität in die Klassen E0 (kreisförmig) bis E7 (stark elliptisch) eingeteilt. Die Zahl hinter dem E gibt die erste Nachkommastelle der Exzentrizität an, das heißt eine Galaxie der Klasse E7 hat etwa die Exzentrizität 0,7. Die absoluten Helligkeiten elliptischer Galaxien umfassen einen großen Bereich. Die hellsten Galaxien sind zumeist elliptische Galaxien und sind in diesem Fall wahrscheinlich durch die Verschmelzung mehrerer kleiner bis mittelgroßer Galaxien entstanden. Elliptische Galaxien sind häufig in großen Galaxienhaufen anzutreffen. Lentikuläre (linsenförmige) Galaxien gehören der Klasse S0 an. Solche Galaxien weisen Eigenschaften sowohl von elliptischen als auch von spiralförmigen Galaxien auf. Sie haben einen Kern, der dem der Spiralgalaxien entspricht, ihre galaktische Scheibe enthält jedoch keine Spiralarme, sondern ist etwa gleichmäßig hell (Beispiel: M102). Spiralgalaxien (veraltet auch als Spiralnebel bezeichnet). mit regulärer Spirale haben einen sphäroidischen Kern, den so genannten Bulge, und davon ausgehende Spiralarme, die in einer flachen Scheibenkomponente liegen. Während der Bulge einer elliptischen Galaxie ähnelt und keine Sternentstehung mehr zeigt, erlauben das in der Scheibe vorhandene Gas und Staub die Sternentstehung in den Spiralarmen. Daher erscheinen die Spiralarme auf Bildern meistens blau und der Bulge meistens rötlich. Die Spiralarme werden weiter in die Klassen Sa, Sb und Sc unterteilt. Galaxien vom Typ Sa haben einen sehr ausgeprägten Kern und eng gewundene Spiralarme (Beispiel: Sombrerogalaxie M104). Der Typ Sc hat einen relativ schwachen galaktischen Kern, äußerst locker gewundene Spiralarme und dadurch manchmal fast die Gestalt eines in sich verschlungenen „S“ (Beispiel: der Dreiecksnebel M33). Zusammen mit den lentikulären Galaxien werden Sa, Sb und Sc auch Scheibengalaxien genannt. mit Balkenspirale (Balkenspiralgalaxien) haben vom Zentrum ausgehend einen langen Balken, an den sich dann die Spiralarme anschließen (Beispiel: M109). Ebenso wie die Spiralgalaxien werden sie mit zunehmender Ausprägung des Kerns und Öffnung ihrer Spiralarme in die Klassen SBa, SBb und SBc unterteilt. Die Milchstraße ist eine solche Balkenspirale. Irreguläre (unregelmäßige) Galaxien haben weder Spiralarme noch elliptische Form. Sie sind im Mittel leuchtschwächer als elliptische und spiralförmige Galaxien. Zu dieser Gruppe gehören meistens Zwerggalaxien. Neben der Klassifikation nach Hubble gibt es auch weitere Einteilungen, beispielsweise nach Gérard-Henri de Vaucouleurs oder die Yerkes-Klassifikation, die jedoch seltener gebraucht werden. Die groben Klassifikationen werden der Vielzahl der gefundenen Galaxientypen oft nicht gerecht, weshalb man viele weitere Charakteristika zur Beschreibung von Galaxien heranzieht. Weitere Galaxientypen Es gibt weitere Formen von Galaxien, die sich nicht in obiges Schema einordnen lassen oder dieses ergänzen. Unter anderem sind dies: Zwerggalaxien sind Galaxien geringerer Helligkeit, sie sind viel zahlreicher als Riesengalaxien. Anders als bei diesen gibt es vor allem elliptische (dE), spheroidale (dSph) und irreguläre (dIrr) Zwerggalaxien. Die elliptischen Zwerggalaxien kann man noch einmal unterteilen in kompakte (cE) und diffuse Galaxien. Die nächste kompakte elliptische Zwerggalaxie, die auch die einzige in der Lokalen Gruppe ist, ist M32. Kompakte elliptische Zwerggalaxien ähneln in ihrer Morphologie eher den großen elliptischen Galaxien. Sie besitzen eine stärker ausgeprägte Zentralregion als die diffusen, was auf eine unterschiedliche Entstehungsgeschichte hinweist. Wechselwirkende Galaxien sind Begegnungen zweier oder mehrerer Galaxien. Da man je nach Stadium der Wechselwirkung unterschiedliche Kerne und auch Gezeitenarme beobachten kann, können auch diese Systeme nicht in das Klassifikationsschema von Hubble eingeteilt werden. Gezeitenarm-Galaxien (tidal dwarf galaxies, TDG) sind Galaxien, die bei der Wechselwirkung zweier gasreicher Galaxien in langen Gezeitenarmen aus Gas und Staub entstehen. Polarring-Galaxien beschreiben recht seltene Ergebnisse der Verschmelzung zweier Galaxien. Durch gravitative Wechselwirkung kamen sich hierbei zwei Galaxien so nahe, dass oftmals der masseärmere Wechselwirkungspartner zerrissen wurde und dessen Sterne, Gas und Staub im Schwerefeld der anderen Galaxie eingefangen werden. Dabei ergibt sich, abhängig von der Orientierung des Zusammenstoßes, mitunter auch ein Ring aus Sternen, der wie ein zusätzlicher Spiralarm eine Galaxie umgibt. Da dieser Ring meistens senkrecht zur Galaxienhauptebene ausgerichtet ist, spricht man von Polarring-Galaxien (Beispiel: Wagenradgalaxie). Es gibt Anzeichen dafür, dass die Milchstraße ebenfalls einen solchen Polarring besitzt. Als aktive Galaxien bezeichnet man im Allgemeinen eine Untergruppe von Galaxien mit einem besonders hellen Kern (engl. auch AGN, Active Galactic Nucleus genannt). Diese hohe Leuchtkraft deutet sehr wahrscheinlich auf ein aktives massereiches Schwarzes Loch im Zentrum der Galaxie hin. Zu dieser Gruppe zählen: Radiogalaxien strahlen sehr viel Synchrotronstrahlung im Bereich der Radiowellen ab und werden daher auch mit Hilfe der Radioastronomie untersucht. Oft beobachtet man bei den Radiogalaxien bis zu zwei Materieströme, so genannte Jets. Beispiele für starke Radiogalaxien sind: Centaurus A, Perseus A, Cygnus A und M87 im Sternbild Jungfrau. Seyfertgalaxien haben einen sehr hellen, punktförmigen Kern und zeigen im Bereich des visuellen Spektrums prominente Emissionslinien. Etwa ein Prozent der Hauptgalaxien gehören zu dieser Kategorie. BL Lacertae-Objekte sind aktive Galaxien, deren Spektrum keine Absorptions- und Emissionslinien aufweist. Obwohl sie teilweise sehr hell sind, kann ihre Rotverschiebung daher schlecht bestimmt werden. Ihre Helligkeit ist stark variabel. BL-Lac-Objekte gehören neben den Quasaren zu den leuchtstärksten bekannten Objekten. Quasare sind die Objekte mit der größten absoluten Helligkeit, die beobachtet werden. Aufgrund der großen Entfernung dieser Objekte konnte man ursprünglich nur deren kompakten, punktförmigen Kern beobachten, daher der Name Quasar (= quasi stellar object). Starburstgalaxien sind Galaxien mit einer sehr hohen Sternentstehungsrate und der daraus folgenden intensiven Strahlung. Eine gut erforschte Starburstgalaxie ist M82. Ultradiffuse Galaxien sind Galaxien von geringer Leuchtkraft. Zu diesem weit gefassten Typ zählen massereiche Galaxien wie Dragonfly 44 im Coma-Galaxienhaufen, die einen extrem hohen Anteil an Dunkler Materie aufweist. Ihre Masse liegt nahe an derjenigen der Milchstraße, ihre Lichtemission ist aber um den Faktor 100 niedriger. Daneben gibt es ultradiffuse Galaxien, denen es an Dunkler Materie fast völlig zu mangeln scheint. Ein Beispiel hierfür ist die fast durchsichtige Galaxie NGC1052-DF2. Deren Ausdehnung ist mit der der Milchstraße vergleichbar, sie besitzt aber rund 200 Mal weniger Sterne als diese. Entstehung und Entwicklung Der Mikrowellenhintergrund gibt die Materieverteilung des Universums 380.000 Jahre nach dem Urknall wieder. Damals war das Universum noch sehr homogen: Die Dichtefluktuationen lagen in der Größenordnung von 1 zu 105. Im Rahmen der Kosmologie kann das Anwachsen der Dichtefluktuation durch den Gravitationskollaps beschrieben werden. Dabei spielt vor allem die Dunkle Materie eine große Rolle, da sie gravitativ über die baryonische Materie dominiert. Unter dem Einfluss der Dunklen Materie wuchsen die Dichtefluktuationen, bis sie zu dunklen Halos kollabierten. Da bei diesem Prozess nur die Gravitation eine Rolle spielt, kann er heute mit großer Genauigkeit berechnet werden (z. B. Millennium-Simulation). Das Gas folgte der Verteilung der dunklen Materie, fiel in diese Halos, verdichtete sich und es kam zur Bildung der Sterne. Die Galaxien begannen sich zu bilden. Die eigentliche Galaxienbildung ist aber unverstanden, denn die gerade erzeugten Sterne beeinflussten das einfallende Gas (das sogenannte Feedback), was eine genauere Simulation schwierig macht. Nach ihrer Entstehung haben sich die Galaxien weiterentwickelt: einige Autoren sprechen auch von galaktischer Evolution. Nach dem hierarchischen Modell der Galaxienentstehung wachsen Galaxien vor allem durch Verschmelzen mit anderen Galaxien an. Danach bildeten sich im frühen Kosmos unter dem Einfluss der Schwerkraft die ersten noch recht massearmen Proto-Galaxien. Nach und nach, so die Vorstellung, fügten sich diese Galaxienvorläufer durch Kollisionen zu ausgewachsenen Exemplaren wie der Milchstraße und noch größeren Galaxien zusammen. Die Relikte solcher Kollisionen zeigen sich in der Milchstraße noch heute als sogenannte Sternenströme. Das sind Gruppen von Sternen, deren gemeinsames Bewegungsmuster auf einen Ursprung außerhalb der Milchstraße weist. Sie werden kleineren Galaxien zugerechnet, die von der Milchstraße durch Gezeitenkräfte zerrissen und verschluckt wurden. Ein Modell der Galaxienentstehung geht davon aus, dass sich die ersten Gaswolken durch Rotation zu Spiralgalaxien entwickelt haben. Elliptische Galaxien entstanden nach diesem Modell erst in einem zweiten Stadium durch die Kollision von Spiralgalaxien. Spiralgalaxien wiederum können nach dieser Vorstellung dadurch anwachsen, dass nahe (Zwerg-)Galaxien in ihre Scheibe stürzen und sich dort auflösen (Akkretion). Die Beobachtung von hochrotverschobenen Galaxien ermöglicht es, diese Entwicklung nachzuvollziehen. Große Erfolge hatten dabei insbesondere tiefe Durchmusterungen wie das Hubble Deep Field. Insgesamt ist die Entstehung und Entwicklung von Galaxien als aktueller Forschungsgegenstand noch nicht abgeschlossen und somit noch nicht ausreichend sicher erklärbar. Studien gehen davon aus, dass sich im Zentrum jeder Galaxie ein supermassereiches Schwarzes Loch befindet, das signifikant an der Entstehung der Galaxie beteiligt war. So entstanden Galaxien aus riesigen Gaswolken (Wasserstoff), deren Zentren zu supermassereichen Schwarzen Löchern kollabieren. Diese wiederum heizten das umliegende Gas so weit auf, dass sich durch Verdichtung Sterne und letztendlich Planeten bildeten. Die Größe der Galaxien und deren Zentren (supermassereiche Schwarze Löcher) stehen in direktem Zusammenhang: je größer eine Galaxie, desto größer das Zentrum. Entstehung der Spiralarme Auch wenn es bei Spiralgalaxien so aussieht, als würde die Galaxie nur innerhalb der Spiralarme existieren, so befinden sich auch in weniger leuchtstarken Teilen der Galaxien-Scheibe verhältnismäßig viele Sterne. Eine Galaxie rotiert nicht starr wie ein Rad; vielmehr laufen die einzelnen Sterne aus den Spiralarmen heraus und hinein. Die Spiralarme sind sichtbarer Ausdruck stehender Dichtewellen (etwa wie Schallwellen in Luft), die in der galaktischen Scheibe umherlaufen. Diese Theorie wurde zuerst von Chia-Chiao Lin und Frank Shu in den 1960er Jahren aufgestellt. Danach ist in den Spiralarmen und im zentralen Balken die Materiedichte erhöht, so dass dort verhältnismäßig viele helle, blaue, also kurzlebige Sterne aus dem interstellaren Medium neu entstehen. Dadurch erscheinen diese Bereiche heller als ihre Umgebung. Diese Dichtewellen entstehen durch das Zusammenspiel aller Sternumlaufbahnen, denn die Sterne bewegen sich nicht wie etwa die Planeten im Sonnensystem gleichmäßig um ein festes Zentrum (ein Schwarzes Loch im Galaxienzentrum), weil dafür die Gesamtmasse der Galaxie nicht konzentriert genug ist. Daher kehrt ein Stern nach einer Umrundung des Galaxienzentrums nicht wieder an seinen Ausgangspunkt zurück, die Bahnen sind also keine Ellipsen, sondern besitzen die Form von Rosetten. Dichtewellen entstehen, wenn sich viele Sterne gleich schnell bewegen. So sind in einer Balkenspiralgalaxie alle Bahnen gleich gegeneinander ausgerichtet, in einer reinen Spiralgalaxie dagegen noch gegeneinander verschoben. Die Synchronisierung der Bahnen erfolgt durch gravitative Rückkopplung. Mittels Computersimulationen, die auch interstellares Gas berücksichtigen, kann sogar die Ausbildung von Spiralarmen modelliert werden. Dabei zeigt sich, dass diese keineswegs statisch sind, sondern entstehen und vergehen. Danach durchläuft jede Galaxie einen Kreislauf (Dauer ca. zehn Milliarden Jahre) der ständigen Umwandlung von der Balken- in die Spiralform und zurück. Ferner stören die Spiralarme die Bahnkurven der Sterne, was zu den sogenannten Lindblad-Resonanzen führt. Wechselwirkende Galaxien Wenn Galaxien aufeinandertreffen, können Gaswolken innerhalb der Galaxie instabil werden und kollabieren. Dabei entstehen neue Sterne. Die Sterne der wechselwirkenden Galaxien selbst verschmelzen bei diesem Prozess sehr selten miteinander. Die verschmolzenen Galaxien strahlen im blauen Licht der neu entstandenen Sterne. Eine solche Wechselwirkung kann hunderte von Millionen Jahren dauern. Dabei können sich die Formen der Galaxien stark verändern. Wechselwirkungen zwischen zwei Galaxien sind ziemlich häufig. Die Sterne können durch die Schwerkraftwirkung der Galaxien stark abgelenkt werden. Beispiele für solche kollidierenden Galaxien, die schon z. T. verschmolzen sind, sind die Systeme M51 – NGC 5195 und die „Antennen“-Galaxien NGC 4038 – NGC 4039 (siehe Abbildung) im Sternbild Adler. Siehe auch Liste der hellsten Galaxien Literatur Timothy Ferris: Galaxien. Birkhäuser Verlag, Basel 1987, ISBN 3-7643-1867-8. Johannes V. Feitzinger: Galaxien und Kosmologie. Franckh-Kosmos Verlag, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-440-10490-3. Françoise Combes: Galaktische Wellen. In: Spektrum der Wissenschaft. 01/2006. Peter Schneider: Einführung in die Extragalaktische Astronomie und Kosmologie. Springer Verlag, Heidelberg 2005, ISBN 3-540-25832-9. Helmut Hetznecker: Kosmologische Strukturbildung – von der Quantenfluktuation zur Galaxie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2009, ISBN 978-3-8274-1935-4. Michael Feiler, Philip Noack: Deep sky – Reiseatlas; Sternhaufen, Nebel und Galaxien schnell und sicher finden. Oculum-Verlag, Erlangen 2005, ISBN 3-938469-05-6. Malcolm S. Longair: Galaxy Formation. Springer, Berlin 2008, ISBN 978-3-540-73477-2. Glen Mackie: The Multiwavelength Atlas of Galaxies. Cambridge University Press, Cambridge 2011, ISBN 978-0-521-62062-8. Weblinks Volker Springel: In: Physik Journal. 2, Nr. 6, 2003, S. 31–37. (PDF; 1,4 MiB) Bilder verschiedener Galaxien bei Hubblesite.org Weitere Bilder verschiedener Galaxien bei Spacetelescope.org www.atlasoftheuniverse.com – 3D-Karten des Weltalls in verschiedenen Maßstäben www.galaxyzoo.org – Communityprojekt zur Kategorisierung von Galaxien (englisch) astronews.com: Das Geheimnis der kosmischen Spindeln 12. Oktober 2017 FAZ: Galaxien in Hülle und Fülle abgerufen am 3. Januar 2020 arXiv.org: The Evolution of Galaxy Number Density at z < 8 and its Implications abgerufen am 7. Januar 2020 Videos: Einzelnachweise
1927
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte%20der%20Ma%C3%9Fe%20und%20Gewichte
Geschichte der Maße und Gewichte
Die Geschichte der Maße und Gewichte gehört zum Aufgabengebiet der Wissenschaftsgeschichte. Sie beginnt bei den frühesten Gewichtsstücken und bei Maßeinheiten, die von menschlichen Körperteilen und der natürlichen Umgebung abgeleitet wurden. Überblick Den frühesten Gewichten und Maßeinheiten lagen die Maße von Körperteilen und der natürlichen Umgebung zugrunde. Frühe babylonische und ägyptische Aufzeichnungen sowie Schriften aus der Bibel zeigen, dass die Länge zuerst anhand der Maße von Arm, Hand oder Finger gemessen wurde. Die Zeit wurde nach den Umlaufzeiten oder Rotationsperioden von Sonne, Mond und anderen Himmelskörpern eingeteilt. Wenn man das Volumen von Behältern wie Flaschen oder Tonkrügen vergleichen wollte, wurden sie mit Pflanzensamen gefüllt, die anschließend ausgezählt wurden. Beim Wiegen maß man das Gewicht mit Steinen oder Samen. Die Gewichtseinheit Karat, die bis heute für Schmucksteine verwendet wird, wurde vom Samen des Johannisbrotbaums abgeleitet. Unsere heutigen Kenntnisse über die frühen Maße und Gewichte stammen aus vielerlei Quellen. Archäologen haben einige frühe Standards geborgen, die heute in Museen aufbewahrt werden. Der Vergleich zwischen den Abmessungen eines Gebäudes und Beschreibungen zeitgenössischer Autoren liefert weitere Informationen. Ein interessantes Beispiel dafür ist der Vergleich der Abmessungen des griechischen Parthenon mit den Beschreibungen von Plutarch, aus dem man ziemlich genau die Länge des attischen Fußes erhält. In manchen Fällen existieren allerdings nur plausible Theorien und Interpretationen. Längeneinheiten Die menschliche Elle – in der Regel die eines ausgewachsenen Mannes – ist das erste Längenmaß, von dem berichtet wird. Das älteste bekannte Beispiel ist die sogenannte Nippur-Elle aus Mesopotamien; ob aus ihr ein gemeinsames Urmaß abgeleitet werden kann, ist in der Fachwelt umstritten. Die gewöhnliche Elle wurde als die Länge des Armes vom Ellbogen bis zur Spitze des Mittelfingers angesehen. Sie wurde unterteilt in die Spanne (Spannweite der Hand, eine halbe Ellenlänge), die Handbreite (eine sechstel Elle) und den Finger (Fingerbreite, eine vierundzwanzigstel Elle). Die königliche oder heilige Elle war sieben Handbreit oder 28 Finger lang und wurde beim Bau von Gebäuden und Monumenten sowie zur Landvermessung verwendet. Griechen und Römer erbten den Fuß von den Ägyptern. Der römische Fuß wurde sowohl in zwölf unciae (Zoll) als auch in sechzehn Finger unterteilt. Die Römer führten auch die Meile zu je tausend Doppelschritten ein, wobei jeder Doppelschritt fünf römischen Fuß entsprach. Später wurden diese Maßeinheiten unter anderem im angloamerikanischen Maßsystem standardisiert. Der Steinwurf oder Hammerwurf oder auch der Pfeilschuss sind weitere Beispiele für Längenmaße mit historischer Bedeutung. Bayerische Fischer und Müller von (Fluss-)Mühlen „erwarfen“ sich so ihr temporäres Fang- oder Arbeitsgebiet; eine bestimmte Jagdordnung erlaubte einem Jäger ein verletztes Tier einen Beilwurf weit zu verfolgen. Gewichtseinheiten Ursprünglich wurden Handelsgüter nach Stück oder Volumen bemessen. Als das Wiegen von Gütern begann, basierten die Gewichtseinheiten auf Volumina von Getreidekörnern oder Wasser. Zum Beispiel war das Talent in manchen Gegenden ungefähr so schwer wie ein Kubikfuß Wasser, der etwa einem Volumen von 27 Litern entspricht. Das grain (von lateinisch granum für „Korn“) war die früheste und kleinste Gewichtseinheit und ursprünglich ein Weizen- oder Gerstenkorn, um die Edelmetalle Gold und Silber abzuwiegen. Größere Einheiten wurden entwickelt, die sowohl als Gewichtsmaß wie auch als Währungseinheit dienten, etwa das Pfund, der Schekel, die Mark und das Talent. Das Gewicht variierte von Ort zu Ort. Bei den Babyloniern und Sumerern waren sechzig Schekel ein Mina, und sechzig Mina ergaben ein Talent. Ein Mina wog etwa 500 Gramm. Das römische Talent bestand aus hundert Pfund, die leichter waren als das Mina. Wie das englische Troy Pound (bei Edelmetallen gebräuchlich) war auch das römische Pfund in zwölf – allerdings leichtere – Unzen eingeteilt. Das metrische Karat, das ursprünglich vom getrockneten Samen des Johannisbrotbaums abgeleitet war, wurde später auf 1/144 Unze und dann auf 0,2 Gramm festgelegt. Beispiel der Vielfalt Beispiele für die Vielfalt an Maßen in zwei ehemaligen Großherzogtümern vor der landesweiten Maßvereinheitlichung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Großherzogtum Baden 112 Ellenmaße 92 Flächen oder Feldmaße 65 Holzmaße 163 Fruchtmaße (Volumenmaße) 123 Ohm- oder Eimermaße (Flüssigkeitsmaße) 63 Wirts- oder Schankmaße 80 Pfundgewichte Großherzogtum Hessen 40 Ellenmaße 129 Fruchtmaße 77 Ohmmaße Erste Vereinheitlichungen fanden in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz noch landesweit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt. Innerhalb des Zollvereins wurden später die Gewichte in ganz Deutschland teilharmonisiert und mit der Schaffung des Norddeutschen Bundes beziehungsweise des Deutschen Reiches das metrische System für alle Maß- und Gewichtseinheiten bundes- respektive reichsweit eingeführt. Einheiten für Zeit und Winkel Die Einteilung des Kreises in 360 Grad (Symbol: °) und die Einteilung des Tages in Stunden zu je sechzig Minuten mit je sechzig Sekunden lässt sich auf die Babylonier zurückführen, die das Sexagesimalsystem, d. h. ein Zahlensystem mit der Basis 60, verwendeten. Der Vorteil dabei ist, dass die Zahl 360 durch sehr viele Zahlen ohne Rest teilbar ist (siehe auch Division mit Rest) und man somit oftmals aufwendige Bruchrechnungen vermeiden kann. Die 360 Grad könnten auch damit zusammenhängen, dass ein Jahr etwa 360 Tage besitzt. Die Einheit Gon (früher: Neugrad, Symbol: g), die den rechten Winkel in hundert Teile einteilt, ist im Alltag völlig ungebräuchlich, wird aber im Vermessungswesen benutzt. Ein nautischer Strich ist der 32. Teil des Vollkreises, entsprechend 11,25 Grad. Der 200. Teil eines nautischen Strichs heißt artilleristischer Strich (auch: mil) und teilt den Vollkreis in 6400 Teile. Ein artilleristischer Strich entspricht ungefähr einem Meter in einem Kilometer Entfernung (oder einem Millimeter in einem Meter Entfernung). Auch heute noch wird diese Winkelmessung im militärischen Bereich verwendet. Die Einheit Radiant (Symbol: rad) wird wie folgt definiert: Ein Kreissektor mit einer Bogenlänge, die gleich der Länge des Radius ist, hat das Winkelmaß 1. Die Maßeinheit, die für die Länge von Radius und Bogenlänge benutzt wird, ist beliebig – solange es dieselbe ist. Durch diese Definition ergibt sich, dass ein Vollwinkel 2 · π rad entspricht (ca. 6,2832). Angelsächsische Maßeinheiten Mit der Besetzung Englands durch die Römer gelangte die römische Meile auf die Britischen Inseln. Unter Königin Elisabeth I. wurde die Statute Mile mit 5280 Fuß oder acht Furlongs definiert, wobei ein Furlong aus vierzig Rods zu je 5,5 Yards bestand. Das heute gültige Yard wurde unter Eduard III. gesetzlich definiert; zuvor war es beträchtlich länger. Das metrische System Das erste wohldefinierte metrische System wurde in Frankreich eingeführt. 1791 wurde gesetzlich die Absicht zur Schaffung eines solchen Systems festgelegt; seine Einführung erfolgte 1793 zur Zeit der Terrorherrschaft der Jakobiner. Erstmals in der Geschichte wurde ein künstlich entwickeltes Maßsystem eingeführt. Die Einführung des dezimalmetrischen Systems erfolgte mit dem Anspruch, ein Maßsystem „Für alle Zeit, für alle Völker“ zu schaffen. In Paris wurde das Urmeter aufbewahrt, das als Referenzgröße geschaffen wurde. Das erste metrische System war auf Zentimeter, Gramm und Sekunde aufgebaut (cgs-System, c für Centimeter) und diese Einheiten waren sehr praktisch in Wissenschaft und Technik. Spätere metrische Systeme basierten auf Meter, Kilogramm und Sekunde (mks-System), um leichter handhabbar für praktische Anwendungen zu sein und in der Technik und Industrie entstand das Technische Maßsystem, das als Basiseinheiten Meter, Kilopond (früher: Kraftkilogramm), Sekunde und Grad hatte. Metrische Einheiten haben sich über die ganze Welt verbreitet, zunächst in den nicht englischsprachigen Ländern, aber in letzter Zeit auch dort. Das metrische System wurde in Frankreich nur langsam angenommen, aber Wissenschaftler und Techniker hielten seine Einführung als internationales System für wünschenswert. Am 20. Mai 1875 wurde ein internationaler Vertrag, die Meterkonvention, von siebzehn Staaten unterzeichnet. Verschiedene Organisationen und Laboratorien wurden gegründet, um ein einheitliches System zu schaffen und zu bewahren. Das metrische System ist einfacher als die alten Maßeinheiten, weil verschieden große Einheiten immer glatte Zehnerpotenzen von anderen Einheiten sind. Diese Beziehung zwischen den Einheiten führt im Dezimalsystem zu leichten Umrechnungen von einer Einheit zur anderen. Die gegenwärtig vorherrschende Ausprägung eines metrischen Systems ist das Internationale Einheitensystem (SI). Es wurde im Jahr 1954 – noch nicht unter seinem heutigen Namen und mit zunächst sechs, dann sieben Basiseinheiten – begründet und basierte ebenfalls auf Meter, Kilogramm und Sekunde, erweitert um die Basiseinheiten Kelvin (Temperatur), Ampere (elektrische Stromstärke), Mol (Stoffmenge) und Candela (Lichtstärke). Mit der Reform von 2019 erfolgte eine Abkehr vom Prinzip der Basiseinheiten; alle SI-Einheiten sind nun darüber definiert, dass Naturkonstanten feste Zahlenwerte zugewiesen wurden. Typografische Maßeinheiten Der typografische Punkt als Einheit der Schriftgröße wurde von Pierre Simon Fournier im Jahr 1737 eingeführt und 1755 von den Brüdern François Ambroise Didot und Pierre-François Didot weiterentwickelt. Der Didot-Punkt (dd) betrug 0,376065 Millimeter (das Grundmaß war auch hier: ein französischer Fuß, Pied de roi), bis er 1973 zur einfacheren Handhabung im metrischen System auf 0,375 Millimeter abgerundet wurde. Zur Unterscheidung wird die neue Einheit häufig auch typographischer Punkt genannt. In diesem System (Schriftsatz) gibt es auch die Einheit Cicero, ein Cicero entspricht zwölf Punkt. Vier Cicero werden zu einer Konkordanz zusammengefasst. Eine ausführliche Darstellung/Gegenüberstellung gibt es unter Schriftsatzmaße. 1886 kam aus den USA (Fa. Marder, Luse & Co. Chicago) mit der Erfindung der Linotype-Zeilengussmaschine ein alternatives Punktmaß auch nach Europa: der Pica-Punkt (pp) hat die exakte Größe von 0,3514598 Millimetern, das entspricht ungefähr 1/72 Zoll. Analog zum Cicero bildet hier ein Pica das nächsthöhere Schriftmaß von zwölf Pica-Punkt. Heute werden im IT-Bereich „geglättete“ Maße verwendet. Ein Zoll hatte genau 72,27 (Pica-)Punkt, heute hat ein Zoll genau 72 DTP-Punkt (gelegentlich auch PostScript-Punkt). Der DTP-Punkt (pt) ist die einzig verlässliche Größe (zurzeit) als Maßangabe auf dem Computer. Die Punktgrößen weichen zwischen PC-Systemen (auch Linux) und Apple Mac-Systemen etwas voneinander ab. Historisch bedingt wird mit den oben genannten Maßeinheiten nicht die tatsächliche Buchstabengröße (Versalhöhe) gemessen, sondern die so genannte Kegelhöhe. Der Kegel ist im Bleisatz der Körper, der den (meist kleineren) Buchstaben trägt. Die DIN 16507-2 verwendet metrische Maße, die Schriftgrößenabstufung ist 0,25 mm, bei Bedarf 0,05 mm. 1 p Didot = 0,376 mm. Der Kegel kennzeichnet die Schriftgröße. Listen historischer Maße und Gewichte die Anfänge des Messens in der Frühzeit des Menschen wird in der Kognitiven Archäologie beschrieben Antike: historische Maße und Gewichte der Antike, siehe Alte Maße und Gewichte (Antike) historische Maße und Gewichte der Römischen Antike, siehe Alte Maße und Gewichte (Römische Antike) Maße und Gewichte der Bibel, siehe Maße und Gewichte in der Bibel Mittelalter und Frühere Neuzeit: Vormetrische Längenmaße historische Maße und Gewichte des deutschsprachigen Raumes, siehe Alte Maße und Gewichte (deutschsprachiger Raum) Europa: Deutschland: Baden, Bayern, Braunschweig, Hannover, Hessen, Mecklenburg, Nürnberg, Preußen, Sachsen, Württemberg Alte Maße und Gewichte (Dänemark) Alte Maße und Gewichte (England) Alte Maße und Gewichte (Finnland) Alte Maße und Gewichte (Frankreich) Alte Maße und Gewichte (Griechenland) Alte Maße und Gewichte (Italien) Alte Maße und Gewichte (Toskana) Alte Maße und Gewichte (Niederlande) Alte Maße und Gewichte (Norwegen) Alte Maße und Gewichte (Österreich) Alte Maße und Gewichte (Polen) Alte Maße und Gewichte (Russland) Alte Maße und Gewichte (Schottland) Alte Masse und Gewichte (Schweiz) Alte Maße und Gewichte (Skandinavien) Alte Maße und Gewichte (Spanien) Alte Maße und Gewichte (Türkei) Andere Weltgegenden: Alte Maße und Gewichte (Arabien) Alte Maße und Gewichte (China) Alte Maße und Gewichte (Guatemala) Indische Maße und Gewichte Shakkanhō (Japan) Mexikanische Maße und Gewichte Nepalesische Hohlmaße Alte Maße und Gewichte (Persien) Alte Maße und Gewichte (Thailand) Tibetische Maßeinheiten Tigday (Philippinen) Sukel (Molukken) Museum Das Musée des Arts et Métiers in Paris, untergebracht in einem alten Kloster (60 rue Réaumur), zeigt zahlreiche historische Exponate zu Maßen und Gewichten. Siehe auch Heute noch gebräuchliche Spezialsysteme: Astronomische Maßeinheiten Elektromagnetische Maßeinheiten Literatur Hans-Joachim von Alberti: Maß und Gewicht. Geschichtliche und tabellarische Darstellungen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 1957. Heinz-Dieter Haustein: Universalgeschichte des Messens, Digitale Bibliothek Band 164, CD-ROM, Directmedia Publishing, Berlin 2007, ISBN 978-3-89853-564-9 Heinz-Dieter Haustein: Weltchronik des Messens – Universalgeschichte von Maß und Zahl, Geld und Gewicht, de Gruyter, Berlin 2001, ISBN 3-11-017173-2. Heinz-Dieter Haustein: Quellen der Meßkunst – Zu Maß und Zahl, Geld und Gewicht, de Gruyter, Berlin 2004, ISBN 3-11-017833-8. Gerhardt Hellwig: Lexikon der Maße und Gewichte. Gütersloh 1983. Helmut Kahnt, Bernd Knorr: Alte Maße, Münzen und Gewichte: ein Lexikon. Bibliographisches Institut, Mannheim 1986, ISBN 978-3-411-02148-2. Henry E. Sigerist: Maße und Gewichte in den medizinischen Texten des frühen Mittelalters. In: Kyklos 3, 1930, S. 439–444. Wolfgang Trapp, Heinz Wallerus: Handbuch der Maße, Zahlen, Gewichte und der Zeitrechnung: mit 100 Tabellen, 6., durchges. und erweiterte Aufl., Reclam, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-15-019023-4. Fritz Verdenhalven: Alte Maße, Münzen und Gewichte aus dem deutschen Sprachgebiet. Neustadt a. d. Aisch 1968. Weblinks Einzelnachweise Metrologie Historische Hilfswissenschaften
1928
https://de.wikipedia.org/wiki/Gustave%20Eiffel
Gustave Eiffel
Alexandre Gustave Eiffel [] (* 15. Dezember 1832 als Alexandre Gustave Bonickhausen genannt Eiffel in Dijon; † 27. Dezember 1923 in Paris) war ein französischer Ingenieur und Konstrukteur von Bauwerken aus Stahl, darunter der Eiffelturm in Paris. Leben Gustave Eiffel wurde 1832 in Dijon geboren und wuchs dort auch auf. Seine Mutter, Catherine Mélanie Moneuse, war eine erfolgreiche Geschäftsfrau und durch ihren Kohlenhandel wohlhabend geworden. Ab 1850 besuchte er das Collège Sainte-Barbe in Paris, um sich auf die Aufnahmeprüfung zur École polytechnique vorzubereiten. Nachdem er an der mündlichen Prüfung gescheitert war, entschied er sich für ein Chemiestudium an der École Centrale des Arts et Manufactures, das er 1855 mit einem Diplom abschloss. Nachdem sich der angestrebte Eintritt in die Fabriken seines Onkels nicht verwirklicht hatte, war er für einige Monate in einer Sprengstoff-Fabrik in Châtillon-sur-Seine beschäftigt. Danach arbeitete er in verschiedenen Konstruktionsbüros, bis er 1856 eine Anstellung als Brückenbauingenieur bei der westfranzösischen Compagnie des chemins de fer de l’Ouest fand, bei der er sich erstmals mit der Konstruktion von Eisenbahnbrücken befasste. Dort machte er im selben Jahr die Bekanntschaft mit dem Stahlbau-Unternehmer Charles Nepveu. Dieser erkannte sein Talent und machte ihn zum Projektmanager im Eisenbahnbrückenbau. In dieser Sparte bestand damals eine große Nachfrage nach Ingenieuren und zugleich eine hohe Personalfluktuation. Eiffel zeigte Durchhaltevermögen, Diplomatie und Menschenkenntnis, und er bewies großes Organisationstalent, immer die geeignetsten Fachleute für seine Projekte zu gewinnen und zusammenzuführen, darunter den Ingenieur Théophile Seyrig. 1858 ernannte man ihn zum leitenden Ingenieur beim Bau einer 500 Meter langen Eisenbahnbrücke über die Garonne in Bordeaux (später Passerelle Eiffel genannt), die im Juli 1860 eröffnet wurde. Sie gilt als sein erstes Bauwerk. Statt die Brücke wie üblich als Vollwandträger auszuführen, konstruierte Eiffel den Überbau als leichte Fachwerkkonstruktion, die er auch künftig bevorzugte. Dieser erfolgreich vollendete anspruchsvolle Auftrag begründete seinen guten Ruf in der Branche. Seine Mutter beauftragte er, für ihn eine Frau zu suchen, „die über ein mittelmäßiges Vermögen verfügt, eine passable Figur hat, ausgeglichen ist und eine gewisse Schlichtheit des Geschmacks besitzt“. So heiratete er 1862 Marie Gaudelet (* 1845), mit der er drei Mädchen und zwei Jungen bekam. Sie starb bereits 1877. Er heiratete danach seine Cousine Chantall Letou. 1866 machte er sich mit einem eigenen Betrieb, der Société de constructions de Levallois-Perret in Levallois-Perret bei Paris selbständig. 1867 erhielt er den Auftrag für den Bau der Viadukte von Rouzat-sur-la-Sioule und Neuvial auf der Eisenbahnlinie Commentry-Gannat in der Auvergne. Es folgten erste Arbeiten für die Weltausstellung im selben Jahr. Von 1872 bis 1874 war Eiffel in Südamerika tätig. Hier war er unter anderem an der Planung der Hauptbahnhöfe von Santiago de Chile sowie La Paz in Bolivien beteiligt und erbaute mehrere Kathedralen in Tacna, Arica und Chiclayo in Peru. 1875 oblag ihm der Bau des 1877 fertiggestellten Westbahnhofs in Budapest, und er erhielt den Auftrag zum Bau des Ponte Maria Pia in Porto, die Théophile Seyrig entwarf und die am 4. November 1877 eröffnet wurde. 1880 erhielt er den Zuschlag für den Bau des Viadukts von Garabit, das wegen seiner Höhe (122 Meter) und seiner gebogenen Form Aufsehen erregte und erst im Juli 1888 eröffnet werden konnte. 1879 begann er mit der Entwicklung eines ausgeklügelten Trägersystems für die Tragwerke des inneren Stützgerüsts der von dem Franzosen Frédéric-Auguste Bartholdi entworfenen Freiheitsstatue in New York City, deren Einweihung am 28. Oktober 1886 stattfand. Zwischen 1881 und 1882 baute Eiffel die Belvárosi-Brücke von Szeged in Ungarn. Das Dictionnaire des Francs-Maçons Européens nennt Eiffel als Mitglied einer Loge des Grand Orient de France, ohne jedoch die Loge konkret zu benennen. Zwar scheint insbesondere die maßgebliche gestalterische und finanzielle Beteiligung der Freimaurer an der Freiheitsstatue die Mitgliedschaft zu bestätigen, da jedoch weder Aufnahmedatum noch der konkrete Name der Loge allgemein bekannt sind, gilt die Mitgliedschaft als umstritten. Seinem wichtigsten Projekt ging eine Patentanmeldung vom 18. September 1884 voraus „für ein neues Verfahren, das es erlaubt, Metallpfeiler und -pylonen von einer Höhe zu bauen, die dreihundert Meter übersteigen kann“. Es handelte sich um den nach ihm benannten Pariser Eiffelturm, der seit Baubeginn am 26. Januar 1887 in nur 26 Monaten Bauzeit am 31. März 1889 fertiggestellt werden konnte und am 15. Mai 1889 Eröffnung feierte. Der Entwurf stammte vom Architekten Charles Léon Stephen Sauvestre nach einer Konstruktionsidee von Maurice Koechlin. Er war für die Pariser Weltausstellung 1889 vorgesehen und wurde unter Eiffels Leitung erbaut. Der zunächst von der Pariser Bevölkerung nicht akzeptierte Turm avancierte rasch zum international anerkannten Symbol von Paris und Frankreich. Ende 1887 unterschrieb er den folgenschwersten Vertrag seiner Laufbahn, nach dem er für den von Ferdinand de Lesseps geplanten Panama-Kanal 30 Schleusen liefern sollte, die ab 1. Januar 1888 zu montieren waren. Nachdem die Panamagesellschaft im Februar 1889 Konkurs anmelden musste, wurde Eiffel 1893 der Nichterfüllung schuldig gesprochen (Panamaskandal), später aber rehabilitiert. Daraufhin übergab er seine Gesellschaft Eiffel & Cie. an seinen Mitarbeiter Maurice Koechlin und zog sich aus dem Geschäft zurück. 1891 hatte Eiffel einen weiteren Rückschlag zu verkraften. Die von ihm konstruierte Eisenbahnbrücke bei Münchenstein stürzte am 14. Juni unter der Last eines voll besetzten Personenzuges in sich zusammen und führte zum bis heute schwersten Eisenbahnunglück der Schweiz mit 73 Todesopfern und 171 Verletzten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts leistete Eiffel Pionierarbeit auf dem Gebiet der Windkanäle mit Experimenten zur Untersuchung des Luftwiderstandes von verschiedenen geometrischen Formen und legte damit einen Grundstein für den modernen Flugzeugbau. Gustave Eiffel starb 1923 im Alter von 91 Jahren und wurde auf dem Friedhof von Levallois-Perret nordwestlich von Paris beigesetzt. Der Name „Eiffel“ Die väterlichen Vorfahren des Eiffelturm-Erbauers trugen den Namen „Bonickhausen-Eiffel“ bzw. „Bonickhausen dit Eiffel“ („genannt Eiffel“). Die deutsche Schreibung des Namens Bonickhausen ist „Bönickhausen“ mit Umlautzeichen. Der älteste nachweisbare Vorfahre der Familie Bönickhausen in Frankreich ist Jean René Bönickhausen, der am 30. April 1711 im Haus des Herzogs von Gramont in der rue Neuve Saint-Augustin in der Pfarrei St-Roch in Paris, Marie Lideriz heiratete und als Angestellter der Ferme générale am 7. Januar 1734 im Alter von 75 Jahren in Saint-Valery-sur-Somme in der Picardie verstarb. In dessen Sterbeeintrag findet sich der Namenszusatz „dit Eiffel“ (genannt Eiffel). Die Stammfolge führt über Jean Pierre Henry Bonickhausen dit Eiffel (1715–1765) und dessen einzigen Sohn Alexandre Bonickhausen dit Eiffel (1757–1806) auf François Alexandre Bonickhausen dit Eiffel (* 29. Januar 1795 in Paris, † 15. September 1879 Paris), den Vater von Alexandre Gustave Eiffel. Auch in der Geburtsurkunde von Alexandre Gustave Eiffel ist „Bonickhausen dit Eiffel“ eingetragen. Am Rande der Urkunde befindet sich aber der Vermerk, dass per Richterspruch des erstinstanzlichen Gerichts von Dijon vom 15. Dezember 1880 verfügt wurde, den Namen „Eiffel“ an die Stelle von „Bonickhausen dit Eiffel“ zu setzen. Die Namensverkürzung hatte er am 30. Oktober 1878 beim Justizministerium beantragt und ausführlich damit begründet, dass ihm der deutsch klingende Name geschäftliche Nachteile bringe. Der Schriftsteller und Eiffel-Biograph François Poncetton und der ehemalige Generaldirektor der französischen Archive, Charles Braibant vertraten die Annahme, dass der älteste Vorfahre in der französischen Linie, Jean René Bönickhausen, der Familie des Eifeler Schulmeisters Leo Heinrich Bönickhausen entstammt. Dieser lebte zu Ende des 17. Jahrhunderts in Aremberg, Kreis Ahrweiler, und in Marmagen, Kreis Euskirchen, und stand dort als Ludimagister (Schulmeister) und Sakristan in Kirchendiensten. Auf Braibant zurückgehend hat sich die Erklärung verbreitet, dass dessen 1680 in Marmagen getaufter Sohn Wilhelm Heinrich um 1710 nach Frankreich ausgewandert sei und sich dort Jean René Bönickhausen mit dem Zusatz Eiffel genannt habe. Diese in vorliegenden Eiffel-Biographien häufig zu findende Behauptung ist aber unbewiesen. Weitere wichtige Bauwerke Galerie des Machines, Pariser Weltausstellung 1867, abgerissen 1909 (andere Quelle: 1910) Leuchtturm Ruhnu tuletorn auf der estnischen Insel Ruhnu, erbaut 1875 Ponte Eiffel in Viana do Castelo in Portugal (1878), Fachwerkbrücke über den Rio Lima Hauptkuppel des Observatoire de Nice, erbaut 1879 Palácio de Ferro (Eisenpalast), in Frankreich gebaut und nach Luanda gebracht Palacio de Hierro de Orizaba, Bestandteile aus Belgien nach Mexiko verschifft Casa de Ferro in Maputo Souleuvre-Viadukt, Normandie, erbaut 1887 Eisenbahnbrücke in Münchenstein bei Basel, ist 1891 auf Grund eines Konstruktionsfehlers eingestürzt, siehe auch Jurabahn Vecchio-Viadukt der Eisenbahn auf Korsika Im neugotischen Stil wurde die Basílica de San Sebastián in Manila erbaut. Sie wurde komplett aus Stahl nach Vorlagen des Gustave Eiffel konstruiert. Real Bodega de la Concha (Lagerhalle für Sherry in Spanien, 1869) 1892 beteiligte er sich am Wettbewerb um den Bau der Dreifaltigkeitsbrücke in Sankt Petersburg. Obwohl eine andere französische Firma den Bau ausführte, orientierte sie sich an Eiffels Projekt. Hotel Traian in Iași (Rumänien) Eisenbahnbrücke über den Pruth bei Ungheni (Moldau) Bahnhofsdach von Santiago de Chile La Casa de Hierro, das Eisenhaus, in Iquitos, Amazonien/Peru Kirche von Santa Barbara, Santa Rosalía, Mexiko Hängebrücke bei Ste-Anne, Réunion Viadukt bei Buis-les-Baronnies auf der Schmalspurbahn Orange–Buis-les-Baronnies, nach Stilllegung 1953 abgerissen Westbahnhof in Budapest, 1874–1877 Sonstiges 2021 erschien das Filmdrama Eiffel in Love, das eine fiktive Liebesgeschichte zwischen Eiffel und einer verheirateten Frau erzählt. Gustave Eiffel wird dabei von Romain Duris verkörpert. Schriften La résistance de l’air et l’aviation. H. Dunod et E. Pinat, Paris 1910. Les nouvelles Recherches expérimentales sur la résistance de l’air et l’aviation. In: Société des ingénieurs civils de France (Hrsg.): Mémoires de la Société, Heft Juli 1912; als Sonderdruck 1913. Literatur in der Reihenfolge des Erscheinens François Poncetton: Eiffel: Magicien du fer. Éditions de la Tournelle, Paris 1939 Theo Zollna: Eiffel – Zum 35. Todestag des großen Bauingenieurs. In: Deutsche Architektur, Jg. 8 (1959), Heft 1, S. 43f. Charles Braibant: Histoire de la Tour Eiffel. Plon, Paris 1964. Bertrand Lemoine: Gustave Eiffel. Hazan, Paris 1984, ISBN 2-85025-067-8. Daniel Bermond: Gustave Eiffel. Perrin, Paris 2002, ISBN 2-262-01515-5. Uwe Schultz: Gustave Eiffel. Der Mann, der Paris veränderte. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2004, ISBN 3-434-50560-1. David I. Harvie: Eiffel: The Genius Who Reinvented Himself. Sutton, Stroud 2004, ISBN 0-7509-3308-9. Louis Devance: Gustave Eiffel. La construction d’une carrière d’ingénieur. Éditions Universitaires de Dijon, Dijon 2016, ISBN 978-2-36441-163-0. Michel Carmona: Gustave Eiffel. Le maître du fer. Pluriel, Paris 2022, ISBN 978-2-8185-0680-6. Dokumentarfilm zdf.de: Eiffels Superbauten – Giganten aus Stahl und Eisen (2021, 43 Min.) Weblinks Biographie Association Gustave Eiffel (französisch) Association Monneuse et Moneuse (deutsch) Einzelnachweise Ingenieur, Erfinder, Konstrukteur Bauingenieur Brückenbau-Ingenieur Eiffelturm Franzose Geboren 1832 Gestorben 1923 Mann
1929
https://de.wikipedia.org/wiki/Kanton%20Graub%C3%BCnden
Kanton Graubünden
Graubünden (Kürzel GR; , , , ) ist ein Kanton der Schweiz und liegt vollständig im Gebiet der Alpen. Das Graubünden ist der einzige Kanton mit drei Amtssprachen: Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch. Er ist zudem der einzige mit Rätoromanisch und neben dem Tessin einer von zwei Kantonen mit Italienisch als offizieller Sprache. Der Kanton zählt zur Region Südostschweiz und zur Grossregion Ostschweiz. Der Hauptort und grösste Ort ist Chur. Das Graubünden ging 1803 aus dem 1471 gebildeten Freistaat der Drei Bünde, einem zugewandten Ort der Alten Eidgenossenschaft, hervor. Der bedeutendste der Drei Bünde war der 1424 gegründete Obere oder Graue Bund, nach dem der heutige Kanton benannt wurde. Name und Wappen Der Kanton Graubünden trägt den Namen des ehemals politisch gewichtigsten der Drei Bünde, aus denen er entstanden ist. Der 1367 gegründete Graue Bund (gespaltener Schild, schwarz und silber) wurde 1442 erstmals genannt, vermutlich ein Spottname der Zürcher und Österreicher, der von den Bundsleuten vor 1486 übernommen wurde. Im 15. Jahrhundert erscheint der Name für die sonst Drei Bünde genannte Gesamtheit der Bünde. Im 16. Jahrhundert wurde von Humanisten der Name der römischen Provinz Raetia als Rätien auf das Gebiet der Drei Bünde übertragen. 1799 wurden die Bünde von Napoleon Bonaparte als Kanton Rätien der damaligen Helvetischen Republik eingegliedert. Die Bezeichnung ist heute noch für Institutionen wie die Rhätische Bahn oder das Rätische Museum in Chur üblich, und auch die Bezeichnung rätoromanisch für die bündnerromanische Sprache stammt daher. Mit der 1803 von Napoleon Bonaparte erlassenen Mediationsakte und der damit verbundenen Konstituierung der modernen Schweizerischen Eidgenossenschaft wurde der Name Graubünden offiziell. Das Kantonswappen setzt sich entsprechend aus den Wappen der Drei Bünde zusammen; siehe auch Fahne und Wappen des Kantons Graubünden. Geographie Übersicht Höchste Erhebung: Piz Bernina () Tiefster Punkt: die Moësa an der Grenze zum Kanton Tessin () Der Kanton bildet als flächengrösster Kanton der Schweiz deren südöstlichen Teil und ist vor allem durch Berglandschaften geprägt. Aufgrund der geographischen Bedingungen ist er der am dünnsten besiedelte Kanton der Schweiz und belegt trotz seiner Grösse von der Einwohnerzahl her den 14. Rang. Nachbargebiete Gemeinsame Kantonsgrenzen hat das Graubünden im Südwesten mit dem Kanton Tessin, im Westen mit Uri, im Norden mit Glarus und St. Gallen. Das Graubünden bildet die Landesgrenze der Schweiz mit Liechtenstein sowie mit Österreich (Bundesländer Vorarlberg und Tirol) im Norden, dem italienischen Südtirol im Osten und der Lombardei im Süden. Ausser Graubünden grenzt nur noch St. Gallen an drei verschiedene Nachbarstaaten. Wassergeographie Entwässert wird das Graubünden zum grössten Teil vom Rhein mit seinen im Graubünden entspringenden Quellflüssen Vorderrhein und Hinterrhein. Den Osten des Landes, das Engadin, entwässert der Inn, der ebenfalls im Graubünden entspringt. Jenseits des Alpenhauptkamms liegen die zum Po entwässernden und italienischsprachigen Bündner Südtäler: das Misox mit dem Calancatal, das Bergell und das Puschlav. Der östlichste Teil des Landes, das Münstertal, entwässert zur Etsch. Die drei Einzugsgebiete der Nordsee, des Mittelmeers und des Schwarzen Meers treffen sich unweit der Inn-Quelle nahe dem Pass Lunghin oberhalb von Maloja, dem wichtigsten Wasserscheidepunkt Europas. Von dort fliesst in Richtung Norden die Julia, die via Rhein zur Nordsee führt, nach Süden die Maira, deren Wasser über den Po ins Mittelmeer kommt, und nach Osten der Inn, der in die Donau mündet und damit ins Schwarze Meer fliesst. Landschaften Im Kanton Graubünden gibt es ca. 150 Täler, 615 (von gut 1'500 Schweizer) Seen sowie 937 Berggipfel bis hinauf zum Piz Bernina auf . Graubünden besitzt auch den grössten prähistorischen Bergsturz der Welt, der bei Flims immer noch sichtbar ist. Den Gesamtkomplex der Berggruppen um Rhein- und Innquellgebiet nennt man Bündner Alpen. Fauna und Flora Der Kanton Graubünden ist bekannt für seinen Wildreichtum, vor allem Hirsche, Gämsen und Steinböcke. Im Averstal gibt es so viele Murmeltiere, dass ein Murmeltier-Lehrpfad angelegt wurde. Die Einwanderung von einst ausgerotteten Säugetierarten wie Bär, Wolf, Luchs, Biber usw. wertet in der Neuzeit die Bündner Fauna auf, erzeugt jedoch oft Nutzungs- und Interessenkonflikte mit den besiedelten Talschaften und den stark genutzten Alpgebieten. Im Graubünden sind rund 300 Vogelarten bekannt, dokumentiert sind sie im Nachschlagewerk «Die Vögel Graubündens». Bevölkerung Übersicht Die Einwohner werden als Bündner bezeichnet. Per betrug die Einwohnerzahl des Kantons Graubünden . Die Bevölkerungsdichte liegt mit  Einwohnern pro Quadratkilometer deutlich unter dem Schweizer Durchschnitt ( Einwohner pro Quadratkilometer). Der Ausländeranteil (gemeldete Einwohner ohne Schweizer Bürgerrecht) bezifferte sich am auf  Prozent, während landesweit  Prozent Ausländer registriert waren. Per betrug die Arbeitslosenquote  Prozent gegenüber  Prozent auf eidgenössischer Ebene. Sprachen Als einziger Kanton der Schweiz hat das Graubünden drei Amtssprachen: Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch. Gleichzeitig ist er der einzige Kanton, in dem Rätoromanisch Amtssprache ist. Aufgrund dieser sprachlich-kulturellen Vielfalt und auch wegen seiner Form und Beschaffenheit wird der Kanton als kleine Schweiz innerhalb der Schweiz bezeichnet. Die Gemeinden und Kreise sind autonom, ihre eigenen Amts- und Schulsprachen festzulegen, der Kanton setzt jedoch Richtlinien, insbesondere zur Unterstützung der Minderheitensprachen Rätoromanisch und Italienisch. Gemäss Artikel 16 des Bündner Sprachengesetzes von 2006 gelten Gemeinden, in denen mindestens 40 Prozent der Einwohner das angestammte Idiom sprechen, als amtlich einsprachig, und Gemeinden, in denen wenigstens 20 Prozent das angestammte Idiom sprechen, als amtlich zweisprachig. Die meisten deutschen Mundarten Graubündens gehören zu zwei Gruppen des Schweizerdeutschen: Dem hochalemannischen Bündnerdeutsch, das in der Region Chur, in der Bündner Herrschaft, den Fünf Dörfern und seit dem 19. und 20. Jahrhundert auch im Domleschg gesprochen wird; diese Dialekte verbreiteten sich im Hochmittelalter und der Neuzeit von Norden (Bodensee und Rheintal) bzw. von Nordwesten (Walensee-Seeztal) her und überlagerten ursprünglich rätoromanisches Siedlungsgebiet. Dem höchstalemannischen Walserdeutsch, das in den im Hochmittelalter vom Wallis her besiedelten Walserdörfern gesprochen wird, nämlich im Prättigau, der Landschaft Davos und dem Schanfigg sowie in den ursprünglichen Sprachinseln Avers, Mutten, Rheinwald, Safiental, Vals, Tschappina und Obersaxen, die infolge des Rückzugs der rätoromanischen Sprache heute allerdings teilweise räumlichen Anschluss an das Hochalemannische gefunden haben. Die Mundart von Samnaun gehört hingegen, als einziger Dialekt in der Schweiz, zum Bairischen, speziell zum Tirolerischen. Im Bündnerromanischen, das in verschiedenen Gegenden des Kantons – Surselva, in Teilen Mittelbündens, im Engadin und im Münstertal – gesprochen wird, existieren sowohl fünf regionale Schriftdialekte (sogenannte Idiome), nämlich Surselvisch (Sursilvan), Sutselvisch (Sutsilvan), Surmeirisch (Surmiran), Oberengadinisch (Puter) und Unterengadinisch (Vallader) als auch die überregionale Schriftsprache Rumantsch Grischun, die erst in den 1980er Jahren auf der Basis der verschiedenen Idiome als Ausgleichssprache geschaffen worden ist. Münstertalisch (Jauer) hat keine schriftsprachliche Tradition. In den Münstertaler Schulen wurde bis zur Einführung von Rumantsch Grischun in Unterengadinisch unterrichtet. Die italienischen Mundarten im Misox und Calancatal, Bergell, in Bivio und dem Puschlav gehören dem Alpinlombardischen an. Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts, als der Bund im Zug der Umsetzung des Gesetzes betreffend die Heimatlosigkeit dem Kanton Graubünden eine grosse Zahl Jenischer zwangsweise zuwies, hat das Graubünden auch eine statistisch nicht erfasste (gesamtschweizerisch auf 35'000 Personen geschätzte) Population jenischer Muttersprache. Das Jenische ist anerkannte Minderheitensprache in der Schweiz und somit auch im Graubünden, besitzt aber keinen Amtssprachenstatus. Wohnbevölkerung nach Sprachen (Volkszählung 2020): Deutsch: 149'471 (74,7 %) Rätoromanisch: 27'813 (13,9 %) Italienisch: 27'813 (13,9 %) Andere: 15'607 (7,8 %) Bis 2003 hatte der Kanton Graubünden seine Schulbücher in sieben Sprachen herausgegeben, neben Deutsch und Italienisch auch in allen fünf rätoromanischen Schriftdialekten. 2003 entschied das Bündner Parlament, die romanischen Lehrmittel nur noch in Rumantsch Grischun herauszugeben. Dieser Entscheid wurde jedoch bereits 2013 im Grundsatz wieder rückgängig gemacht. Der dialektale und historische Wortschatz sowie die Volkskultur des Graubündens werden für das Deutsche vom Schweizerischen Idiotikon, für das Bündnerromanischen vom Dicziunari Rumantsch Grischun und für das Italienische vom Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana dokumentiert. Das Walserdeutsche Idiom wird durch Interessenvertreter der Walservereinigung Graubünden gestützt. Konfessionen Infolge der Souveränität der einzelnen Gemeinden konnte im 16. Jahrhundert jede Gemeinde ihre Konfession autonom bestimmen. Fläsch war die erste reformierte Gemeinde im Kanton, danach folgte St. Antönien, später andere. Das Graubünden gehört somit zu den traditionell paritätischen Kantonen. Überwiegend katholisch sind das Vorderrheintal mit dem Lugnez (ohne Teile der Gruob sowie Waltensburg), das Oberhalbstein (ohne Bivio) und das mittlere Landwassertal (ohne Bergün), das Misox, das Calancatal und das Puschlav. Überwiegend reformiert sind das Prättigau, das Schanfigg und die Landschaft Davos, im Hinterrheintal das Schams, das Rheinwald und das Avers, im Vorderrheintal das Safiental, Teile der Gruob und die Ortschaft Waltensburg sowie in Südbünden das Engadin (ohne Tarasp und Samnaun), das Bergell und das Münstertal (ohne Müstair). Konfessionell traditionell gemischt sind die Regionen Fünf Dörfer und Imboden sowie das Domleschg und das Churwaldnertal. Die beiden Reformationsstädte Chur und Ilanz haben heute infolge der Migration eine katholische Bevölkerungsmehrheit. Klöster gibt es in Müstair, Disentis, Cazis und Ilanz. Von der gesamten Wohnbevölkerung des Kantons Graubünden waren im Jahr 2017 rund 80 Prozent Mitglied einer Landeskirche: 91'051 Personen (46,0 Prozent) waren Mitglied der römisch-katholischen Kirche und 66'533 Personen (33,6 Prozent) waren Mitglied der evangelisch-reformierten Kirche (100 Prozent: 197'888 Personen). Mit 81,8 Prozent bekennt sich heute (2015) laut einer Umfrage des Bundesamtes für Statistik (BFS) die Mehrheit der Kantonsbevölkerung ab 15 Jahren zum Christentum: 45,1 Prozent sind Angehörige der römisch-katholischen Landeskirche, 32,7 Prozent der evangelisch-reformierten Landeskirche und 4,0 Prozent gehören anderen christlichen Kirchen an. Knapp 3 Prozent gehören anderen Religionen an: 1,8 Prozent bekennen sich zum Islam und weitere 0,8 Prozent zu anderen Religionsgemeinschaften. 14,5 Prozent sind konfessionslos. Verfassung und Verwaltung Bisher kennt das Graubünden drei kantonale Verfassungen. Die früher gültigen wurden in den Jahren 1854 und 1892 erlassen, die heutige datiert von 2003. Für die Bundesversammlung entsendet das Graubünden wie jeder Vollkanton zwei Vertreter in den Ständerat und gemäss seinem Anteil an der Bevölkerung fünf Abgeordnete in den Nationalrat. Legislative Gesetzgebende Behörde ist der Grosse Rat, der 120 Mitglieder zählt und vom Volk seit 2022 gemäss Proporzwahlverfahren fest für vier Jahre gewählt wird. Das Volk ist direkt an der Gesetzgebung beteiligt: 4000 Stimmberechtigte oder ein Siebtel der Gemeinden können eine Änderung der Verfassung verlangen, 3000 Stimmberechtigte oder ein Achtel der Gemeinden ein Gesetz oder eine Gesetzesänderung vorschlagen (Volksinitiative) und 1500 Stimmberechtigte oder ein Zehntel der Gemeinden können verlangen, dass ein vom Grossen Rat erlassenes Gesetz oder eine solche Gesetzesänderung der Volksabstimmung zu unterwerfen sei (Referendum). Änderungen der Verfassung unterliegen obligatorisch der Volksabstimmung. Exekutive Die Regierung (früher: Kleiner Rat) zählt fünf Mitglieder und wird vom Volk im Majorzverfahren auf ebenfalls vier Jahre gewählt. Das Präsidium wechselt jährlich im Turnus. Leiter der Standeskanzlei ist seit 1. Juli 2017 Daniel Spadin. Judikative Die obersten Gerichte des Kantons sind das Kantonsgericht und das Verwaltungsgericht. Das Kantonsgericht ist mit der Rechtsprechung auf den Gebieten des Zivil-, Straf-, Schuldbetreibungs- und Konkursrechts sowie teilweise des Verwaltungs- und Verwaltungsstrafrechts betraut. Das Verwaltungsgericht ist zugleich Verfassungs- und Versicherungsgericht und ist mit der Rechtsprechung auf dem Gebiet des öffentlichen Rechtes betraut. Untere Instanz sind die elf Regionalgerichte (vor 2017 Bezirksgerichte genannt). Bevor eine Klage bei einem Bezirksgericht eingereicht werden kann, ist in der Regel ein Schlichtungsverfahren durchzuführen. Dafür zuständig sind die Schlichtungsbehörden, deren Vorsitzende im allgemeinen Sprachgebrauch oft Friedensrichter oder Vermittler genannt werden. Im Kanton Graubünden gibt es drei Arten von Schlichtungsbehörden (Artikel 3 Einführungsgesetz zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, kurz EGzZPO): Vermittlerämter (ein pro Bezirk), Schlichtungsbehörden für Mietsachen (eine pro Bezirk) und die kantonale Schlichtungsbehörde für Gleichstellungssachen (eine im Kanton). Verwaltungseinheiten Das Graubünden ist der Kanton, in dem die über hundert politischen Gemeinden – im Jahr 2001 waren es noch 212 – historisch bedingt die wohl ausgeprägteste Gemeindeautonomie der Schweiz haben. Die Kreise, die aus einer kleinen Zahl Gemeinden oder ausnahmsweise aus einer einzigen Gemeinde bestehen, fungieren heute nur noch als Wahlkreise für den Grossen Rat. Bis Ende 2015 (im Oberengadin noch bis Ende 2017) waren sie jedoch autonome Körperschaften, und die Grossräte wurden bis 2014 teilweise noch an den traditionellen Landsgemeinden gewählt. Die elf Regionen sind reine Verwaltungsorgane des Kantons und damit ohne innere Autonomie. Sie haben 2016 die bisherigen Bezirke ersetzt. Diese dreifache Verwaltungsgliederung ist vor dem geschichtlichen Hintergrund zu sehen, dass die politischen Gemeinden in ihrer Mehrheit die Nachbarschaften und die Kreise die Gerichtsgemeinden des früheren Freistaats der Drei Bünde fortsetzen, die Bezirke hingegen eine erst im 19. Jahrhundert vom modernen Kanton Graubünden errichtete Institution sind. Wirtschaft und Tourismus Die für die dauerhafte Besiedlung mancher Talschaften unabdingbare Berglandwirtschaft überlebt dank Nischenproduktion, etwa aus dem Anbau von Nutzhanf, sowie Subventionen. Acht Prozent der Bevölkerung arbeiten in der Land- und Forstwirtschaft, wobei 50 Prozent der Betriebe biologisch geführt werden. Im Jahr 2020 wurde 66,2 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Kantons durch 1305 Betriebe biologisch bewirtschaftet. Das grösste Wachstum nach der Jahrtausendwende erreicht die Exportindustrie, 24 Prozent der Bevölkerung arbeiten in Industrie und Gewerbe. Wichtigster Wirtschaftszweig ist der Dienstleistungssektor und insbesondere der Tourismus mit einem sehr hohen Anteil am Bündner Bruttoinlandsprodukt von rund 14 Prozent. Im Februar 2020 wurde Tschiertschen von Graubünden Tourismus als das schönste Bergdorf des Kantons ausgezeichnet. Der Fremdenverkehr, ursprünglich eine Sommeraktivität, wurde schon 1865 durch die Bündner Erfindung des Wintertourismus ergänzt, die Brennpunkte sind die Regionen Oberengadin, Davos/Klosters, Arosa, Lenzerheide, Tschiertschen und Flims. Hervorzuheben ist auch der Bädertourismus in Vals, Scuol und Andeer sowie Alvaneu. Das Graubünden ist der Kanton mit der grössten Dichte an Burgen und weist mit dem Benediktinerinnenkloster St. Johann in Müstair, dem Dorf Soglio und der Kirche von Zillis Kulturgüter von Weltrang auf. Neu dazugestossen ist die Anlage der Rhätischen Bahn im Albulatal. Auch die Bahnstrecke über den Berninapass ist von grosser architektonischer Bedeutung, während die TektonikArena Sardona als Weltnaturerbe gelistet wird. Seit 1991 ist die Salginatobelbrücke der Verbindungsstrasse von Schiers nach Schuders das bislang einzige Weltmonument der Schweiz. Diese Auszeichnung wurde von der ASCE vergeben. Verkehr Strassenverkehr Der Verkehr bestimmte seit dem Altertum die Besiedelung des Kantons. Der Handelsverkehr war ein wichtiger Wirtschaftsfaktor; schon während der Römerzeit querten Karren den Julierpass. 1387 beauftragte der Bischof von Chur den Bergeller Adligen Jakob von Castelmur, den Septimerpass zu einer befahrbaren Strasse auszubauen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es im Kanton Graubünden Strassen in der Länge von 1000 Kilometern, doch der motorisierte Individualverkehr wurde vehement bekämpft. 1903 erteilte der Kleine Rat (Regierungsrat) nur Autos von Ärzten und Sanitätsfahrzeugen eine Fahrbewilligung auf Bündner Strassen. Am 13. Oktober 1907 stimmten 9110 Stimmbürger gegen die Zulassung von Autos, 2074 waren dafür. Trotzdem setzte der Rat seine frühere Bewilligungspraxis fort und beschloss am 14. Mai 1910, die Strasse von der Tardisbrücke bei Landquart bis Chur ganz dem Verkehr zu öffnen. Eine weitere Volksabstimmung machte diese Bewilligung rückgängig, später wurde ein absolutes Verbot durchgesetzt. 1919 wurden auch Postautokurse auf Bündner Strassen abgelehnt. Erst am 21. Juni 1925 stimmte der Bündner Souverän knapp einer Vorlage zu, die das Befahren der Strassen mit Autos bis acht Plätzen erlaubte. Die Zulassung von Autos verlangte den Ausbau des Strassennetzes, wofür dem Kanton jedoch die finanziellen Mittel fehlten. Erst 1935 kam die Eidgenossenschaft den Alpenkantonen zu Hilfe und stellte 126 Millionen Franken zur Verfügung, 35 erhielt das Graubünden. Damit wurden die vier wichtigsten Alpenstrassen ausgebaut; darunter die «Obere Strasse» über den Julierpass. Das kantonale Strassennetz umfasst heute 597 Kilometer Hauptstrassen und 826 Kilometer Verbindungsstrassen. Die 166 Kilometer Nationalstrassen, bestehend aus A13 und A28 (Prättigauerstrasse), sind am 1. Januar 2008 in die alleinige Verantwortung des Bundes übergegangen. Die Autobahn A13 durchquert den Kanton in Nord-Süd-Richtung. Wichtigste Pässe zwischen Nord und Süd sind heute der San Bernardino zwischen dem Rheinwald und dem Misox und der Julierpass ins Engadin. 2022 lag der Motorisierungsgrad (Personenkraftwagen pro 1000 Einwohner) bei 580. Eisenbahn Die Schweizerischen Bundesbahnen fahren auf Normalspur über Sargans–Landquart bis Chur. Die wichtigsten Talschaften und Tourismusorte Graubündens werden von der Rhätischen Bahn auf Meterspur bedient. Die Rhätische Bahn betreibt auch den Bernina-Express und zusammen mit der Matterhorn Gotthard Bahn den Glacier Express. Geschichte Während der Eisenzeit bestanden auf dem Gebiet des heutigen Graubündens vor allem keltische, rätische und lepontische Kulturen. Abgesehen von den italischen Südtälern gehörte das Gebiet von etwa 15 v. Chr. bis zum 5. Jahrhundert zum Römischen Reich (Provinz Raetia, später Provinz Raetia I). Um 536/537 fiel Rätien (das Gebiet der ehemaligen Provinz Raetia I) an das Fränkische Reich. Um 806/807 wurde das Bistum Chur vom Erzbistum Mailand zum Erzbistum Mainz umgegliedert. Im 10. und 11. Jahrhundert war Rätien Teil des Herzogtums Schwaben. Im Laufe des Hochmittelalters kam es zur Territorialbildung. Zu den bedeutendsten Territorialherren erwuchsen der Bischof von Chur und das Kloster Disentis. Kleinere Territorien wurden von verschiedenen Grafen und Herren ausgebildet oder erworben. Im Süden erreichte die Familie Visconti eine starke Stellung (später Herzogtum Mailand). Das Spätmittelalter ist gekennzeichnet durch politische Verselbständigung vieler (Gerichts-)Gemeinden, die viele Souveränitätsrechte an sich binden konnten. Sie vereinigten sich in mehreren Bünden (Gotteshausbund 1367, Oberer oder Grauer Bund 1395, Zehngerichtebund 1436). Diese Bünde fanden sich ab 1450 zu einem eigenständigen staatlichen Gebilde zusammen (Freistaat der Drei Bünde). Die Bünde wurden durch verschiedene Verträge (seit 1497) gleichberechtigter Partner der schweizerischen Eidgenossenschaft (formell als Zugewandter Ort). Seit 1512 verfügten die Bünde über die südlich anschliessenden Untertanengebiete Chiavenna, Veltlin und Bormio. Die bündnerischen Untertanengebiete fielen 1797 an die Cisalpinische Republik. 1799/1800 kam das verbliebene Gebiet als Kanton Rätien zur Helvetischen Republik, 1803 als Kanton Graubünden zur Schweiz. Am 5. März 1972 wurde das Frauenstimm- und -wahlrecht eingeführt. Verwaltungsgliederung Politische Gemeinden Nach Angabe des Amtes für Gemeinden des Kantons Graubünden existieren derzeit 101 politische Gemeinden (Stand 1. Januar 2023). Folgende Gemeinden des Kantons zählten im Jahr 2019 mehr als 4'000 Einwohner per : Regionen Der Kanton Graubünden ist seit 1. Januar 2016 in 11 Regionen gegliedert. Frühere Einteilung – Bezirke und Kreise Der Kanton Graubünden war zum 31. Dezember 2015 in 11 Bezirke und diese wiederum in 39 Kreise eingeteilt. Kultur Bündner Küche Der Kanton Graubünden hat eine eigenständige, regional differenzierte Küche entwickelt, welche sich von anderen Schweizer Regionalküchen unterscheidet. Typische regionale Produkte sind das luftgetrocknete Bündnerfleisch und andere Trockenfleischspezialitäten wie Salsiz oder Andutgel. Typische Gerichte sind Capuns, Plain in Pigna, Pizokel, Maluns, die Bündner Nusstorte sowie die Bündner Gerstensuppe. Als typisches Bündner Getränk gilt der Röteli. Bekannt sind die Weine aus der Bündner Herrschaft, dem grössten Weinbaugebiet des Kantons. Zwischen 1559 und ca. 1610 entstand in Chur am Bischöflichen Schloss das Kochbuch Ein schön Kochbuch 1559, das als das älteste Kochbuch der Schweiz gilt. Literatur Es gibt eine in verschiedenen Idiomen geschriebene rätoromanische Literatur; bekannte Vertreter der Rätoromanen waren und sind Clo Duri Bezzola, Cla Biert, Arno Camenisch, Göri Klainguti, Leo Tuor, Tresa Rüthers-Seeli. Die deutschsprachigen Schriftsteller entstammen vorwiegend den deutschsprachigen Talschaften und wurde geprägt in einem multikulturellen Umfeld. Die italienischsprachigen Autoren und Autorinnen entspringen hauptsächlich der italienischen Kultur mit Bezug zu ihren Talschaften im Puschlav, Bergell oder Misox. Siehe auch Dialen, eine Gruppe von Graubündner Dämoninnen Literatur Georges Capol: Graubünden. Kulturhistorische Streifzüge. 2. Auflage. Realpoint-Eigenverlag Uzwil/Vattiz 2020, ISBN 978-3-9525222-0-2 (1. Auflage 1994). Myriam Engler: Graubünden erleben und lieben. Terra Grischuna, Chur 2013, ISBN 978-3-7298-1183-6. Niklaus Flüeler u. a.: Die Schweiz vom Bau der Alpen bis zur Frage nach der Zukunft. Ex-Libris, Zürich 1975. Edwin Graber: Schweizer Kantone: Graubünden. Avanti Verlag, Neuenburg 1985. Handbuch der Bündner Geschichte. Hrsg. vom Verein für Bündner Kulturforschung im Auftrag der Regierung des Kantons Graubünden. Bündner Monatsblatt, Chur 2000, ISBN 3-905342-00-6. Peter Metz: Geschichte des Kantons Graubünden. 3 Bde. Calven, Chur 1989, 1991, 1993. Achim Walder: Graubünden entdecken, mit Rhätischer Bahn und PostAuto. Walder, Kreuztal 2005, ISBN 3-936575-26-6. Weblinks Statistik Kanton Graubünden Website des Kantons Graubünden Offizielle Statistik Tourismus-Website – Graubünden Ferien Portal zu Graubünden Fotodatenbank zu Graubünden (Public Domain CC0) Anmerkungen Einzelnachweise Graubunden Verwaltungseinheit als Namensgeber für einen Asteroiden
1930
https://de.wikipedia.org/wiki/Glycerin
Glycerin
Glycerin (von griech. glykerós „süß“, auch Glycerol oder Glyzerin) ist der Trivialname und die gebräuchliche Bezeichnung von Propan-1,2,3-triol. Glycerin ist ein Zuckeralkohol und der einfachste dreiwertige Alkohol, ein Triol. Der Name Glycerol wurde eingeführt, da er die korrekte Endung -ol für einen Alkohol besitzt (die Endung -in steht für Alkine oder Amine). Glycerin ist in allen natürlichen Fetten und fetten Ölen – z. B. Pflanzenölen – chemisch gebunden als Fettsäureester (Triglyceride) vorhanden und spielt eine zentrale Rolle als Zwischenprodukt in verschiedenen Stoffwechselprozessen. Als Lebensmittelzusatzstoff trägt es das Kürzel E 422. Geschichte 1779 erhielt Carl Wilhelm Scheele bei der Verseifung von Olivenöl erstmals Glycerin. Michel-Eugène Chevreul konnte im Jahr 1813 nachweisen, dass Fette Ester von Fettsäuren und Glycerin sind und gab dem Alkohol 1823 seinen Namen, abgeleitet von ‚süß‘. 1836 wurde der strukturelle Aufbau von Théophile-Jules Pelouze aufgeklärt. Der Engländer George Fergusson Wilson entwickelte 1854 ein Verfahren, um reines Glycerin in industriellem Maßstab zu synthetisieren. In der Folgezeit stieg das Interesse an Glycerin als Vorläufer für das damals neu entdeckte Nitroglycerin. Damals wurde Glycerin größtenteils aus Ölen und Fetten gewonnen, allerdings reichte die Produktionsmenge in Kriegszeiten nicht aus, sodass erstmals auch Anlagen gebaut wurden, in denen Glycerin aus Zucker fermentativ hergestellt wurde. 1943 wurde in Deutschland eine neue, erdölbasierte Herstellungsmethode für Glycerin gefunden, die in der Folgezeit die fermentative Herstellung ablöste. Um die Jahrtausendwende wurden ca. 25 % des Glycerins erdölbasiert hergestellt. Da durch politische Maßnahmen seit Anfang der 2000er Jahre die Produktion von Biodiesel mehr und mehr gefördert wurde, stieg auch die Menge des Kuppelprodukts Glycerin aus natürlichen Quellen stark an. Mittlerweile wird Glycerin nahezu ausschließlich aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt. Durch die gestiegene Produktionsmenge ist der Glycerinpreis stark gefallen. Damit wird Glycerin auch für neue Anwendungen interessant, für die es früher zu teuer war. 2015 lag die weltweite Jahresproduktion an Glycerin bei ca. 4 Millionen Tonnen. Gewinnung und Darstellung Die Herstellung kann petrochemisch aus Propen mit den Zwischenprodukten Allylchlorid und Epichlorhydrin oder chemisch als Kuppelprodukt bei der Verseifung von natürlichen Fetten und Ölen zur Gewinnung von Seifen (= Alkalisalze der Fettsäuren) geschehen. Früher wurden dazu vor allem tierische Fette eingesetzt. Inzwischen werden große Mengen Glycerin als Nebenprodukt der Biodieselherstellung erzeugt. Dies geschieht durch eine Umesterung von meist pflanzlichen Ölen mit Methanol. Ein Fettmolekül (Triacylglycerid) wird mit drei Methanolmolekülen zu Glycerin und drei Fettsäuremethylestern (FAME) umgesetzt. Auch eine biotechnologische Herstellung durch Fermentation ist möglich. Hefen können durch Sulfitzusatz die Gärung von Ethanolbildung auf Glycerinbildung umstellen. Als Substrat wurde oftmals Melasse verwendet, da diese neben einem hohen Anteil an Zucker auch viel Sulfit enthält. Diese Form der Gärung wurde 1918 von Neuberg als 2. Neuberg’sche Gärungsform bezeichnet. Das Verfahren geht auf Carl Neuberg zurück, wurde von Karl Lüdecke und Wilhelm Connstein von den Vereinigten Chemischen Werken in Berlin-Charlottenburg entwickelt und war im Ersten Weltkrieg in Deutschland von großer Bedeutung für die Sprengstoffproduktion. Glycerin ist in unterschiedlichen Reinheiten im Handel erhältlich. Für industrielle Zwecke wird es als Rohglycerin und für pharmazeutische Zwecke (Pharmaglycerin) in den Qualitäten 99,8-, 99,5- und etwa 86-prozentig angeboten. 86-prozentig (mit 14 % Wasser) ist es wegen des stark erniedrigten Schmelzpunkts (−10 °C) und der niedrigeren Viskosität (ca. 100 mPa·s) technisch einfacher zu handhaben. Die Aufbereitung erfolgt durch mehrstufige Destillation, Desodorierung und Filtration. Hochreines, synthetisches Glycerin stammt nicht aus tierischen oder pflanzlichen Vorprodukten und wird besonders in qualitätssensiblen Bereichen der Pharmaindustrie sowie der Kosmetik- und Lebensmittelindustrie eingesetzt. Mit den heutigen Herstellungsmethoden zählt Glycerin als vegan/vegetarisch. Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Glycerin ist bei Raumtemperatur eine farb- und geruchlose, leicht viskose und hygroskopische Flüssigkeit, die süßlich schmeckt. Glycerin hat eine Viskosität von 1480 mPa·s (20 °C). In der Physik ist Glycerin vor allem für seine geringe Kristallisationstendenz bekannt. Das heißt, beim Abkühlen kristallisiert es in der Regel nicht, sondern bildet eine sogenannte „unterkühlte Flüssigkeit“. Deren Viskosität steigt mit abnehmender Temperatur kontinuierlich an, bis Glycerin unterhalb einer Glasübergangstemperatur von etwa 185 K (−88 °C) in einer nicht-kristallinen amorphen Struktur erstarrt. Vom physikalischen Standpunkt ist Glycerin unterhalb 185 K somit ein Glas. Temperaturabhängige physikalische Messungen an Glycerin und anderen unterkühlten Flüssigkeiten werden daher oft zur Untersuchung des theoretisch bislang nur unvollständig verstandenen Glasübergangs genutzt. Dies erfordert bei Glycerin Messungen von Raumtemperatur bis etwa 185 K. Dies ist technisch deutlich einfacher zu bewerkstelligen als Messungen bei etlichen hundert Grad Celsius, die bei Untersuchungen von konventionellen Kalk-Natron-Gläsern (mit Glasübergangstemperaturen von etwa 500–800 °C) nötig wären. Chemische Eigenschaften Glycerin bildet unter Hitzeeinwirkung weißen Dampf. Beim Erhitzen unter Sauerstoffmangel zersetzt es sich zu dem in Wasser gut (267 g/l) löslichen sowie giftigen ungesättigten Aldehyd Propenal, das auch Acrylaldehyd oder Acrolein genannt wird. Mit festem Kaliumpermanganat reagiert es unter Selbstentzündung vollständig zu Kohlenstoffdioxid und Wasser. Als Nebenprodukte entstehen bei dieser Reaktion auch Braunstein und Kaliumcarbonat. Von wässrigem Kaliumpermanganat wird es nur bis zur Mesoxalsäure oxidiert. (CSB-Titration durch Manganometrie). Sicherheitstechnische Kenngrößen Glycerin bildet bei höherer Temperatur entzündliche Dampf-Luft-Gemische. Die Verbindung hat einen Flammpunkt bei 191 °C. Der Explosionsbereich liegt zwischen 2,6 Vol.‑% (99 g/m3) als untere Explosionsgrenze (UEG) und 11,3 Vol.‑% (435 g/m3) als obere Explosionsgrenze (OEG). Die Zündtemperatur beträgt 400 °C. Der Stoff fällt somit in die Temperaturklasse T2. Verwendung Lebensmittel und Kosmetik Wegen seiner wasserbindenden Eigenschaften ist Glycerin in Kosmetikartikeln als Feuchtigkeitsspender enthalten. Als Lebensmittelzusatzstoff findet Glycerin unter der Nummer E 422 Anwendung zur Feuchthaltung, etwa für Datteln oder Kaugummi, aber auch als Süßungsmittel. Auch in verschiedenen Zahnpasten ist Glycerin enthalten. Haushalt Häufig wird Glycerin in das Wasser von Weihnachtsbaumständern gegeben, um den Baum länger frisch zu halten. Das Glycerin sorgt für Frostschutz und führt dazu, dass die Nadeln länger halten. Glycerin findet aufgrund seiner feuchtigkeitsspendenden Wirkung Verwendung in Lederpflegemitteln und Schuhcremes, um Leder glatt und geschmeidig zu halten. Auch bei der Herstellung von Flüssigkeit für Seifenblasen wird in der Regel etwas Glycerin hinzugegeben. Malerei Glycerin dient als Feuchthaltemittel in Aquarellfarben, entweder allein oder zusammen mit Honig. Tabak, Zigaretten und Verdampfer Glycerin (E 422) wird zusammen mit 1,2-Propandiol als Feuchthaltemittel für Tabakwaren verwendet, nicht zu verwechseln mit der Glycerin-Phosphorsäure und deren Natrium-, Kalium- und Magnesiumverbindungen, deren Reinheitsanforderungen beispielsweise in Deutschland in deren Tabakverordnung klar definiert sind. Im Zigaretten- und Pfeifentabak sollen die Feuchthaltemittel vor allem die Lagerungszeiten der Produkte verlängern und die Austrocknung verhindern. Shisha-Tabak werden von den Herstellern deutlich höhere Mengen an Feuchthaltemitteln zugemischt, um einerseits die Verbrennung des Tabaks zu verhindern und andererseits einen dichteren Dampf zu erzeugen. Weiterhin findet Glycerin ebenso wie 1,2-Propandiol Verwendung als Liquid in elektrischen Zigaretten, in diesem Kontext wird es auch als „VG“ bezeichnet. Industrie und Technik Glycerin wird als Frostschutzmittel (in Mischung mit Wasser als Wärmeträger), Schmierstoff und Weichmacher verwendet. In Nebelfluiden wird es zur Erhöhung der Standzeit des Nebels beigesetzt. Bei der Herstellung von Kunststoffen, Microchips, Farbstoffen sowie Zahnpasta wird die Substanz als Reaktant benötigt. Bei der Reaktion von Glycerin mit einem Gemisch konzentrierter Salpetersäure und konzentrierter Schwefelsäure entsteht „Glyceroltrinitrat“. Diese Verbindung ist der als „Nitroglycerin“ bekannte Explosivstoff, der zusammen mit Kieselgur den Sprengstoff Dynamit bildet. Aufgrund der zeitweise deutlich gesunkenen Preise werden neue Anwendungsgebiete für Glycerin gesucht. Neben der Verbrennung sind dabei insbesondere die Nutzung als zusätzliches Nährmedium (Cosubstrat) in Biogasanlagen zur Erzeugung von Biogas sowie die Nutzung als Fermentationssubstrat in der Industriellen Biotechnologie Alternativen. Weiterhin wird geforscht, Glycerin mit Isobuten zu Glycerin-tert-butylether (GTBE; analog zu MTBE und ETBE) umzusetzen für den Einsatz als Kraftstoffzusatz. Seit 2009 setzt die Volkswagen AG aus alten Frittierfetten gewonnenes Glycerin anstelle von aus Erdöl gewonnenem Ethylenglycol als Kühlmittelzusatz (G13) in ihren Fahrzeugmodellen ein. Glycerin lässt sich in einem neuen Verfahren unter Einwirkung von Ameisensäure zu einem chemischen Grundbaustein – dem Allylalkohol – umsetzen. Landwirtschaft Bei steigenden Futtermittelpreisen findet Glycerin als Futtermittel für Wiederkäuer, Schweine und Hühner Interesse. Medizin Glycerin wird in der Medizin als Arzneistoff zur Behandlung des Hirnödems eingesetzt. Dazu wird es als 10%ige Lösung infundiert. In Form glycerinhaltiger Zäpfchen kommt es als Abführmittel (Laxans) zur Anwendung. Die Wirkung entsteht zum einen durch einen reflektorischen Effekt: Durch den Kontakt des Glycerins mit der Rektalschleimhaut wird der Defäkations­reiz gesteigert (siehe auch: Defäkationsreflex). Zum anderen wirkt ein osmotischer Effekt: Durch den Wassereinstrom in das Darmlumen wird der Stuhl weicher und gleitfähiger. Gegenstand medizinischer Forschung ist die Verwendung von Glycerin zur Aufrechterhaltung der menschlichen Hirn- und Organfunktionen während einer künstlichen Absenkung der Körpertemperatur. Dies könnte für langwierige, schwierige medizinische Operationen von Bedeutung sein. Biologisches Vorbild ist der kanadische graue Laubfrosch Hyla versicolor, dessen Körperzellen sich zur Überwinterung mit Glycerin anreichern. Glycerin wird auch im Rahmen des Klockhoff-Testes (Glycerol-Belastungstest) zur Diagnose eines Morbus Menière verwendet. Plattformchemikalie in der Chemieindustrie Glycerin ist eine Plattformchemikalie, da es in großem Umfang biobasiert gewonnen wird, und sich chemisch als Synthesebaustein für zahlreiche verschiedene Endprodukte eignet. Biologische Bedeutung Die meisten tierischen und pflanzlichen Fette und Öle sind Triacylglyceride (Triglyceride). Sie bestehen aus dem dreiwertigen Alkohol Glycerin, der über die Hydroxygruppen (–OH) dreifach mit Fettsäuren verestert ist. Sie sind Energiespeicher im Fettgewebe oder in Samen von Ölpflanzen, wie Raps, Soja, Sonnenblume, Kokospalmen oder Ölpalmen. Ähnlich aufgebaut sind Phosphoglyceride. Statt der dritten Fettsäure ist eine Phosphatgruppe verestert und an diese ein Rest gekoppelt, wie Cholin im Lecithin. Somit erhält das Molekül einen polaren und einen apolaren Bereich, was die Bildung einer Membran (Zellmembran) ermöglicht. Nahezu alle natürlich vorkommenden Glycerinderivate weisen die sn-Konfiguration auf, welche die räumliche Anordnung der Substituenten am mittleren Kohlenstoffatom des Glycerins festlegt. Einige Insekten enthalten Glycerin als natürliches Gefrierschutzmittel im Blut, um tiefe Temperaturen überleben zu können. Hornissen überleben so bis zu −17 °C und arktische Laufkäfer bis zu −85 °C. Gesundheitsrisiken In Lebensmitteln Als Zusatzstoff in Lebensmitteln gilt Glycerin als unbedenklich. Er wird von der Food and Drug Administration (Lebensmittelüberwachungsbehörde der USA) ohne Höchstmengenbeschränkung (Erlaubte Tagesdosis) als unbedenklich eingestuft. In der EU ist es als Zusatzstoff E422 ebenfalls ohne Höchstmengenbeschränkung zugelassen, 2017 wurde dies in einer Studie nochmals bestätigt. Der physiologische Brennwert von Glycerin liegt bei 17 kJ/g bzw. 4 kcal/g. In Wasserpfeifentabak Glycerin wird neben anderen Feuchthaltemitteln Wasserpfeifentabaken in erheblichen Mengen zugesetzt. Eine Untersuchung des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) quantifizierte den Feuchthaltemittelgehalt im Wasserpfeifenrauch und konnte erhebliche Mengen der Feuchthaltemittel Glycerin und Propandiol (Propylenglycol) nachweisen. In der Bewertung der Ergebnisse wurde auf mögliche Gesundheitsgefahren hingewiesen, bei denen sich das BfR auf Studien im Zusammenhang mit der Toxikologie von sogenannten TSNAs und PAHs bezieht, welche ebenso bei der Benutzung von Wasserpfeifen entstehen und Teils sowohl im Blut als auch im Urin von Rauchern von Wasserpfeifen nachgewiesen wurden. Weblinks Einzelnachweise Polyol Laxans Lebensmittelzusatzstoff (EU) Arzneistoff Pharmazeutischer Hilfsstoff Biomonomer Kosmetischer Inhaltsstoff Gefrierschutzmittel
1931
https://de.wikipedia.org/wiki/Galileische%20Monde
Galileische Monde
Die Galileischen Monde (auch Galileische Satelliten oder Galileische Trabanten) sind die vier größten Monde des Planeten Jupiter: Io Europa Ganymed Kallisto Durch die Bezeichnung als Galileische Monde wird der italienische Astronom und Naturforscher Galileo Galilei geehrt, der sie 1610 als Erster beschrieb. Eigenschaften Die Fotomontage, aus einzelnen Aufnahmen der Raumsonde Galileo zusammengesetzt, zeigt die Galileischen Monde im richtigen Größenverhältnis zueinander und zum Jupiter. Ihre Distanzen vom Riesenplaneten sind jedoch viel größer, sie liegen zwischen dem drei- und dem dreizehnfachen Jupiterdurchmesser. Die Reihenfolge ihrer Entfernungen vom Jupiter ist: Io, Europa, Ganymed, Kallisto, wobei Io dem Planeten am nächsten und Kallisto am fernsten ist. Die Galileischen Monde gehören zu den größten im Sonnensystem. Mit einem Durchmesser von 5262 km ist Ganymed sogar größer (wenn auch masseärmer) als der Planet Merkur. Die Oberflächen der Monde sind höchst unterschiedlich. Aufsehen erregte der Mond Io, als man beim Vorbeiflug der Sonde Voyager 1 aktive Vulkane auf ihm entdeckte (siehe Vulkanismus auf dem Jupitermond Io). Europa hat eine zerfurchte Oberfläche, unter der vielleicht ein Ozean liegt (siehe extraterrestrischer Ozean). Auf Ganymed gibt es deutliche Spuren von Tektonik, und Kallisto hat die zweithöchste Kraterdichte im bekannten Sonnensystem. Die mittlere Dichte der Monde nimmt mit zunehmendem Abstand zum Jupiter ab (von 3,5 bis 1,9 g/cm³), das Material von Kallisto enthält aber schon mehr Eis als Gestein. Alle anderen Jupitermonde – als fünfter wurde erst 1892 Amalthea mit etwa 150 km Durchmesser entdeckt – haben nicht annähernd die Größe der Galileischen Monde. Ihre gesamte Masse beträgt trotz 91 gezählter weiterer Satelliten kaum ein Promille der Masse von Europa, des kleinsten Galileischen Mondes. Erscheinungsbild Die Beobachtung der Galileischen Monde ist bei Amateurastronomen sehr beliebt. Sie sind bereits in einem guten Nachtfernglas, z. B. 7 × 50 mm, zu sehen, es empfiehlt sich aber, das Fernglas zum Beispiel mit einem Stativ zu stabilisieren. Sie sind dann als kleine Lichtpunkte neben Jupiter zu sehen und können mit Sternen verwechselt werden. Da die Monde innerhalb von Stunden ihre Position verändern, ist es möglich, sie regelmäßig zu beobachten und Bedeckungen durch Jupiter oder Durchgänge vor der Planetenscheibe zu betrachten. Durch ein gutes Teleskop mit einer Öffnung ab 20 cm sind die Monde als Scheibchen zu sehen, die sich alle in Farbe und Größe unterscheiden. Bei hoher Vergrößerung und gutem Seeing ist es möglich, grobe Strukturen zu erkennen. Da die Monde Schatten werfen, kommt es regelmäßig vor, dass sie eine Sonnenfinsternis auf Jupiter verursachen. In einem Teleskop kann man dann einen kleinen schwarzen Schatten auf Jupiter erkennen, der langsam über die Planetenscheibe wandert. Die Galileischen Monde können sich auch gegenseitig bedecken oder verfinstern. Auch die Beobachtung solcher Phänomene ist mit einem guten Teleskop möglich. Wissenschaftsgeschichte Galilei berichtete 1610 in seinem Sidereus Nuncius, er habe die vier Monde am 7. Januar desselben Jahres entdeckt, mit Hilfe eines von ihm selbst gefertigten Fernrohrs. Er nannte sie Sidera Medicea – die „Mediceischen Gestirne“. Ihre Namen im Einzelnen wurden von Simon Marius, einem Astronomen aus Gunzenhausen, (auf Anregung von Johannes Kepler) propagiert. Zusammen bezeichnete Marius sie seinen Markgrafen zu Ehren als Sidera Brandeburgica, als er in einer 1614 erschienenen Schrift behauptete, sie bereits seit 1609 beobachtet zu haben (Die Welt des Jupiter, 1609 mit dem flämischen Teleskop entdeckt – Einzelheiten und wissenschaftshistorische Diskussionen zum entstandenen Prioritätsstreit entnimmt man dem Artikel über Marius). Mit der Entdeckung dieser Satelliten konnte zum ersten Mal beobachtet werden, dass es Himmelskörper gibt, die sich nicht unmittelbar um die Erde drehen. Da dies ein Widerspruch zum offiziellen geozentrischen Weltbild von Kirche und Gesellschaft war, nach dem alle Himmelskörper um die Erde kreisten, wurden Galileis Forschungen von einflussreichen Kreisen bekämpft oder nicht anerkannt. Professoren in Florenz weigerten sich sogar, durch sein Teleskop zu sehen. Galilei hatte als Erster vorgeschlagen, den Umlauf der vier Monde als weltweit beobachtbare Uhr zu verwenden. Mit Tabellen und Beobachtungen der Verfinsterungen der Monde sei es möglich, die Ortszeit und damit den Längengrad zu bestimmen. Doch 1676 wies Ole Rømer durch Vergleich von Tabelle und Beobachtung in Paris erstmals nach, dass die Lichtgeschwindigkeit endlich ist. Danach mussten die Tabellen um die Lichtlaufzeit korrigiert werden. Ein weiteres Problem wies Pehr Wilhelm Wargentin um 1740 an der Sternwarte Uppsala nach. Die Monde laufen nicht wie eine Uhr mit konstanter Geschwindigkeit um. Er vermutete, dass die gegenseitige Anziehung der Monde die Ursache dafür sei. Dies wurde 1766 von Lagrange und 1788 von Laplace durch Störungsrechnung bestätigt. Laplace wies außerdem nach, dass die drei Monde Io, Europa und Ganymed in einem stabilen Zeitverhältnis 1:2:4, der sogenannten Laplace- oder Bahnresonanz umlaufen. Er konnte damit auch erstmals die Massen der Monde berechnen. Heute wird die seltene gegenseitige Verfinsterung der Monde genau beobachtet, um damit die Bahnen von Erkundungssonden wie Galileo genauer berechnen zu können. Der chinesische Astronom Gan De zeichnete 365 v. Chr. einen Begleiter des Jupiter auf, bei dem es sich um Ganymed gehandelt haben könnte, weil dieser Mond mit 4,6 mag so hell ist, dass er bei idealen Bedingungen wie z. B. Verdeckung des Jupiters durch den Horizont sichtbar sein kann. Deonyme Der Asteroid (697) Galilea wurde um den 300-jährigen Jahrestag der Entdeckung der Monde entdeckt und benannt. Siehe auch Jovilabium Liste der Jupitermonde Literatur S. Debarbat, C. Wilson: The Galilean Satellites of Jupiter from Galileo to Cassini, Roemer and Bradley. In: R. Taton, C. Wilson (Hrsg.): Planetary Astronomy from the Renaissance to the Rise of Astrophysics, Part A: Tycho Brahe to Newton. In: M. Hoskin (Hrsg.): The General History of Astronomy. Band 2A. Cambridge University Press, New York 1989, S. 144–158. D. Morrison (Hrsg.): Satellites of Jupiter. University of Arizona Press, 1982. Weblinks astronomie.info – Schattenspiele der Jupitermonde, einschließlich der Zeiten Dominic Ford: The Moons of Jupiter – mit einer Karte der aktuellen Position der Monde. Christian Pinter: . Galileos Mondquartett. In: WienerZeitung.at. 6. August 2010. . Einzelnachweise Galileische Monde Galileo Galilei als Namensgeber Astronomisches Thema als Namensgeber für einen Asteroiden Mondgruppe
1932
https://de.wikipedia.org/wiki/Gasplanet
Gasplanet
Ein Gasplanet oder Gasriese („planetarer Gasriese“) ist in der Astronomie ein Riesenplanet, der überwiegend aus leichten Gasen wie Wasserstoff und Helium besteht. Früher galten vier Planeten des Sonnensystems als Gasriesen: Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun. Seit den 1990er Jahren wenden Astronomen zunehmend den Begriff Gasriese nur noch auf Jupiter und Saturn an und klassifizieren Uranus und Neptun, die eine andere Zusammensetzung haben, als Eisriesen. Häufig werden Gasplaneten auch als jupiterähnliche oder – aus dem Lateinischen – als jovianische Planeten bezeichnet. Allgemeines Gasplaneten haben keine feste Oberfläche. Der Großteil ihrer Masse besteht aus Mischungen leichter Gase, deren Dichte zum Inneren hin immer weiter ansteigt und die im Innern je nach Druck- und Temperaturverhältnissen auch in flüssigem oder festem Aggregatzustand vorliegen können, was jedoch nicht als „Oberfläche“ betrachtet wird. Andererseits können Gasplaneten einen festen Kern aus schweren Elementen haben; nach der Kern-Aggregations-Hypothese ist ein solcher für ihre Entstehung sogar notwendig. Im Sonnensystem gibt es vier Riesenplaneten, als Gasriesen im engeren Sinne gelten dabei Jupiter und Saturn. Alle Riesenplaneten des Sonnensystems haben – im Unterschied zu den kleineren, terrestrischen Planeten aus Gestein und Metallen – ein mehr oder weniger ausgeprägtes Ringsystem und zahlreiche Satelliten. Mangels einer festen Oberfläche wird als Bezugsfläche für die Größe eines Gasplaneten die Fläche herangezogen, in der der Gasdruck rechnerisch dem Luftdruck auf dem Meeresniveau der Erde entspricht, also 1 atm oder 1013 mbar. Die außerhalb dieser Bezugsfläche liegenden Gasmassen geringeren Drucks bilden dann definitionsgemäß die Atmosphäre des Gasriesen, ohne dass es eine erkennbare Grenzschicht zwischen Planetenkörper und Atmosphäre gäbe. Optisch zeigen sich bei einem Blick auf Jupiter oder Saturn ausnahmslos die obersten Wolkenstrukturen ihrer Atmosphären. Gürtel und Zonen Alle vier Riesenplaneten unseres Sonnensystems rotieren relativ schnell. Dies verursacht Windstrukturen, die in Ost-West-Bänder oder -streifen aufbrechen. Diese Bänder sind bei Jupiter sehr auffällig, dezenter bei Neptun und Saturn, auf Uranus hingegen kaum nachweisbar. Bei den in der jovianischen Atmosphäre sichtbaren Bändern handelt es sich um im Uhrzeigersinn drehende Ströme von Materie. Sie werden in Zonen und Gürtel aufgeteilt, die den Planeten parallel zum Äquator umkreisen: Die Zonen sind die helleren Bänder und befinden sich in der höheren Atmosphäre. Sie bilden Hochdruckgebiete mit inneren Aufwinden. Die Gürtel sind die dunkleren Bänder. Diese stellen Tiefdruckgebiete dar und befinden sich in der unteren Atmosphäre; in ihrem Inneren herrschen Abwinde. Diese Strukturen sind grob mit Hoch- und Tiefdruckzellen in der irdischen Atmosphäre vergleichbar, wobei sie sich doch erheblich von diesen unterscheiden. Im Gegensatz zu kleinen lokalen Zellen von Druckgebieten umspannen die Bänder entlang der Breitengrade (latitudinal) den ganzen Planeten. Dies scheint an der schnellen Rotation, die wesentlich höher als die der Erde ist, und der darunterliegenden Symmetrie des Planeten zu liegen: Es gibt schließlich keine Landmassen oder Gebirge, welche die schnellen Winde bremsen könnten. Es gibt aber auch kleinere, lokale Strukturen, etwa Flecken von unterschiedlicher Größe und Färbung. Das auffälligste Merkmal Jupiters ist der Große Rote Fleck, der seit mindestens 300 Jahren existiert. Diese Strukturen stellen gewaltige Stürme dar. Bei einigen dieser Flecken treten Gewitter auf: Astronomen haben bei etlichen dieser „Spots“ Blitze beobachtet. Aufbau Im Sonnensystem haben die planetaren Gasriesen Jupiter und Saturn eine dicke Atmosphäre, die hauptsächlich aus Wasserstoff und Helium besteht, aber auch Spuren anderer Stoffe wie Ammoniak enthält. Der Großteil des Wasserstoffes ist jedoch in flüssiger Form vorhanden, der auch die Hauptmasse dieser Planeten ausmacht. Die tieferen Schichten des flüssigen Wasserstoffes stehen oft unter so starkem Druck, dass dieser metallische Eigenschaften bekommt. Metallischer Wasserstoff ist nur unter solch extremem Druck stabil. Berechnungen legen nahe, dass felsiges Material vom Kern im metallischen Wasserstoff gelöst ist und daher bei größeren Gasplaneten auch der Kern keine feste Oberfläche besitzt. Die Eisriesen im Sonnensystem, Uranus und Neptun, bestehen nur zu einem vergleichsweise kleinen Anteil aus Wasserstoff und Helium, nämlich zum Großteil aus Wasser (Eis), Ammoniak und Methan. Entstehungsmodelle Als Erklärung der Entstehung von Gasplaneten konkurrieren zwei Modelle mit unterschiedlichem Ansatz. Nach dem Modell der Kern-Aggregations-Hypothese bilden sich in der um den jungen Zentralstern rotierenden protoplanetaren Scheibe aus Gas und Staub durch Kollisionen von Planetesimalen zuerst Verdichtungen aus den festen, also felsigen und metallischen Bestandteilen, aus denen dann die Kerne der Riesenplaneten entstehen. Diese ziehen erst ab ihrer Herausbildung das umgebende Gas an. Nach dem anderen Modell, der Scheiben-Instabilitäts-Hypothese, bilden sich in der Akkretionsscheibe lokale Instabilitäten, deren Gas und Staub von einer bestimmten Massekonzentration an unter der eigenen Anziehungskraft kollabieren. In diesem Prozess sinken die festen und somit schwereren Bestandteile der sich weiter verdichtenden Wolkenstruktur in deren Zentrum und bilden den Kern des entstehenden Gasplaneten. Im Modell der Scheibeninstabilität entstehen verhältnismäßig kleinere Planetenkerne als im Fall der Kernaggregation, die bei den Beispielen von Jupiter und Saturn deutlich weniger als zehn Erdmassen aufweisen. Exoplaneten und Zwergsterne Auch viele der Exoplaneten, die in den letzten Jahren bei anderen Sternen entdeckt wurden, scheinen Gasriesen zu sein. Allerdings unterscheiden sich diese Exoplaneten häufig von den Gasriesen in unserem Sonnensystem. Oberhalb von etwa der 13-fachen Masse des Jupiters, was 1,2 % der Sonnenmasse entspricht, setzen wegen der großen Hitze und des enormen Drucks im Inneren bereits erste Kernfusionsprozesse ein. Dies sind im Wesentlichen die Deuteriumfusion, bei der ab 13 Jupitermassen ein Deuteriumkern und ein Proton zu Helium-3 verschmelzen, sowie die Lithiumfusion, bei der ab etwa 65 Jupitermassen bzw. Kerntemperaturen über zwei Millionen Kelvin ein Lithium-7 mit einem Proton reagiert. Himmelskörper über 13 Jupitermassen (MJ) sind jedoch noch keine Sterne, sondern so genannte Braune Zwerge. In ihnen findet noch keine Wasserstoff-Helium-Fusion statt, die erst ab etwa 75 Jupitermassen einsetzt und die Hauptenergiequelle eines normalen Sterns ist. Nach der neueren Definition für Braune Zwerge durch Fusionsprozesse beträgt die Obergrenze für einen Planeten also 13 Jupitermassen. Hat ein Gasriese eine Masse über 13 MJ, beginnt die Gaskugel – im Gegensatz zu einem Planeten – Fusionsenergie freizusetzen und wird bis etwa 70 MJ (7 % der Sonnenmasse) als Brauner Zwerg bezeichnet, kann den Kontraktionsprozess aber, anders als ein Stern, durch diese Energie noch nicht stabilisieren. Erst noch massereichere Himmelskörper sind tatsächlich Sterne. Es gibt auch „vagabundierende Planeten“ bzw. Objekte planetarer Masse, die keinem Sternensystem angehören, unter der Masse von Braunen Zwergen liegen und damit Gasplaneten ähneln. Ein ähnliches Phänomen sind die Sub-Brown Dwarfs, wobei der Unterschied vor allem in der Temperatur und möglicherweise der Entstehungsgeschichte begründet werden könnte. Siehe auch Gaszwerg – Gegenbegriff zum Gasriesen Jupiter analog Hot Jupiter Klassifizierung der Planeten Super-Jupiter Super-Puff Weblinks Einzelnachweise Planetenklasse
1933
https://de.wikipedia.org/wiki/Geist
Geist
Geist (, und auch , , mens, bzw. , hebräisch ruach und arabisch rūh, , ) ist ein uneinheitlich verwendeter Begriff der Philosophie, Theologie, Psychologie und Alltagssprache. Im Zusammenhang mit Bewusstsein kann man grob zwischen zwei Bedeutungskomponenten des Begriffs „Geist“ unterscheiden: Bezogen auf die allgemeinsprachlich „geistig“ genannten kognitiven Fähigkeiten des Menschen bezeichnet „Geist“ im Sinne von „Psyche“ das Wahrnehmen und Lernen ebenso wie das Erinnern und Vorstellen sowie Phantasieren und sämtliche Formen des Denkens (des „Verstands“ oder der „Vernunft“) wie Überlegen, Auswählen, Entscheiden, Beabsichtigen und Planen, Strategien verfolgen, Vorher- oder Voraussehen, Einschätzen, Gewichten, Bewerten, Kontrollieren, Beobachten und Überwachen, die dabei nötige Wachsamkeit und Achtsamkeit sowie Konzentration aller Grade bis hin zu hypnotischen und sonstigen tranceartigen Zuständen auf der einen und solchen von Überwachheit und höchster Geistesgegenwärtigkeit auf der anderen Seite. Mit religiösen Vorstellungen von einer Seele bis hin zu Jenseitserwartungen verknüpft, umfasst „Geist“ die oft als spirituell bezeichneten Annahmen einer nicht an den leiblichen Körper gebundenen, nur auf ihn einwirkenden reinen oder absoluten, transpersonalen oder gar transzendenten Geistigkeit, die als von Gott geschaffen oder ihm gleich oder wesensgleich, wenn nicht sogar mit ihm identisch gedacht wird. Heiliger Geist wird in der christlichen Vorstellungswelt dagegen der „Geist Gottes“ genannt, der als Person der göttlichen Dreieinigkeit verstanden wird. Die Frage nach der „Natur“ des Geistes ist somit ein zentrales Thema der Metaphysik. In der Tradition des deutschen Idealismus bezieht sich der Begriff hingegen auf überindividuelle Strukturen. In diesem Sinne ist etwa die hegelsche Philosophie zu verstehen, aber auch Wilhelm Diltheys Konzeption der Geisteswissenschaften. Der Begriff des Geistes Die modernen heterogenen Konzeptionen des Geistes haben ihren Ursprung zum einen in der antiken Philosophie und zum anderen in der Bibel. Während sich in den meisten romanischen Sprachen ein entsprechender Begriff aus dem lateinischen spiritus entwickelte, leitet sich der Begriff des Geistes aus der indogermanischen Wurzel *gheis- für erschaudern, ergriffen und aufgeregt sein ab. Das westgermanische Wort *ghoizdo-z bedeutete wohl „übernatürliches Wesen“ und wurde mit der Christianisierung der Germanen christlich umgedeutet, so dass der Begriff in althochdeutschen (geist) und altenglischen (gást) Schriften als Übersetzung für den biblischen Spiritus Sanctus diente. Dieser Sinngehalt des Wortes hielt sich bis in die Gegenwart, so dass „Geist“ auch als Synonym für „Gespenst“ verwendet wird. Eine weitere Bedeutungsebene, die heute jedoch nicht mehr offensichtlich ist, stellt „Geist“ in einen Zusammenhang mit „Atem, Windeshauch“ als Ausdruck der Belebtheit. So findet sich noch in Luthers Übersetzung der Bibel die Formulierung „der himmel ist durchs wort des herrn gemacht und all sein heer durch den geist seines munds“. Auch das lateinische spiritus weist diese Bedeutung auf; es ist mit spirare „atmen“ verwandt. Zudem wird der Begriff des Geistes verwendet, um sich auf die kognitive und emotionale Existenz eines Lebewesens zu beziehen. Umstritten ist in der Theorie das Verhältnis von Geist und Gehirn: Während die Theologie und die Philosophie in der Tradition René Descartes’ davon ausgehen, dass sich der Begriff „Geist“ auf ein immaterielles Ding bezieht, postulieren viele Naturwissenschaftler und Philosophen, der Geist sei nichts anderes als neuronale Aktivität. In diesem Fall beziehe sich der Terminus letztlich auf das Gehirn. Andere Philosophen behaupten wiederum, der Geist sei keine immaterielle Substanz, könne aber dennoch nicht auf das Gehirn reduziert werden. Die Natur des Geistes ist das Hauptthema der Philosophie des Geistes. In verschiedenen Theorien, gelegentlich auch im Alltag, wird der Ausdruck zur Charakterisierung überindividueller Phänomene, Objekte, Eigenschaften oder Prozesse eingesetzt. Johann Gottfried Herders Werk Vom Geist des Christentums prägte diese Begriffsverwendung entscheidend mit. Ein zentrales Konzept der deutschsprachigen Kultur wurde „Geist“ spätestens mit dem Werk Georg Wilhelm Friedrich Hegels. Nach Hegel manifestiert sich in Gemeinschaften ein objektiver Geist, während der absolute Geist Kunst, Philosophie und Religion auszeichnet. Auch die Sozialwissenschaften benutzen den Begriff des Geistes, um auf Merkmale von Gemeinschaften hinzuweisen. In dem Sinne ist etwa Max Webers Rede vom „Geist“ des Kapitalismus zu verstehen. Dieser „Geist“ ergibt sich durch die Normen und Werte kapitalistischer Gemeinschaften. Im allgemeinen Sprachgebrauch findet sich beispielsweise die Formulierung: „Hier herrscht ein Geist der Eintracht“. Geist in der Philosophie Antike Die Antwort auf die Frage, was der deutsche Begriff „Geist“ in der Antike umfasste, ist bei einem so vielschichtigen Wort problematisch. Die durch „Geist“ ausgedrückten Aspekte werden in der griechischen Antike vor allem durch pneuma (Geist, Hauch) und nous (Vernunft, Geist) umfasst. Hinzu kommen die Ausdrücke psychê (Seele), thymos (Leben(skraft), Zorn/Mut) und logos (Rede, Vernunft). Pneuma wie auch nous bezeichnen jeweils teilweise ein menschliches Vermögen, aber auch ein kosmologisches Prinzip. Pneuma ist dabei der Wortbedeutung nach ein materiell gedachter Körper bewegter Luft. Nous hingegen wird mitunter auch immateriell gedacht. Zumeist wird er bei menschlichen Angelegenheiten aufnehmend gedacht, bei kosmischen anstoßend. Der menschliche und der kosmologische Bereich (d. h. die Frage nach der Weltordnung) werden zumeist getrennt voneinander behandelt, wobei es jedoch Überschneidungen gibt. Bei diesen Übertragungen spielen u. a. zwei Aspekte eine Rolle: Bezüglich pneuma der Gedanke, dass bewegte Luft, Atem ein (notwendiger) Bestandteil von Leben ist. Bezüglich pneuma und nous die Übertragung von Eigenschaften eines Lebewesens auf den Kosmos: (a) bei pneuma insbesondere insofern es belebt ist, (b) bei nous insbesondere insofern es vernunftbegabt ist. Pneuma Pneuma ist zuerst im 6. Jh. v. Chr. bei Anaximenes belegt. Hier findet sich eine Analogie, die pneuma als Lebensprinzip ausweist und auch den Kosmos selbst als belebt vorstellt: Bedeutsam ist der pneuma-Begriff auch in der medizinischen Sprache, in die er durch Diogenes von Apollonia im 5. Jh. v. Chr. gelangt und durch Erasistratos und bis zu Galenos im 2. Jh. n. Chr. weitere Ausprägungen erfährt. Von ihm stammt eine – auch in der späteren lateinischen Tradition – bedeutende Unterscheidung dreier pneumatischer Prinzipien, die aus dem Zusammenwirken von eingeatmeter Luft und der im Herzen hervorgebrachten Lebenswärme entstehen: ein physisches pneuma (spiritus naturalis), das die vegetativen Funktionen erhält; ein lebendiges pneuma (spiritus vitalis), ein Lebens- und Bewegungsprinzip; ein psychisches pneuma (spiritus animalis), die Seele. Seit dem Hellenismus und insbesondere in der römischen Stoa vermischen sich die beiden Aspekte menschliches Vermögen und kosmologisches Prinzip im Begriff des pneuma. Pneuma bezeichnet hier die materielle Substanz – die Stoiker waren Materialisten – sowohl der Einzelseele als auch der Weltseele. Pneuma ist somit ein stoffliches und zugleich geistiges Prinzip, das den gesamten – als Lebewesen vorgestellten – Kosmos durchdringt und dessen Organisation bewirkt. Das Pneuma im Menschen ist zum Lebensanfang wie ein unbeschriebenes Blatt, das mit sinnlichen Eindrücken und Vorstellungen gefüllt wird. Es ist zudem der lenkende Seelenteil, der die für Stoiker zentrale Forderung „in Übereinstimmung (mit der – als vernünftig gedachten – Natur) leben“ zu erfüllen ermöglicht. Nous Bei Homer und später bei den meisten Vorsokratikern scheint nous ein Vermögen zu sein, das sich sowohl auf sinnliche wie auch mit dem Verstand erfassbare (intelligible) Gegenstände richtet. Xenophanes und auch noch Empedokles setzen Denken und Wahrnehmen in eins. Für Parmenides hingegen hat der nous nur notwendig existierende und daher nur intelligible Gegenstände. Hinsichtlich der Funktionsweise ist von Vorsokratikern wie Empedokles, Anaxagoras und Demokrit belegt, dass sie den Geist, das Denken als einen körperlichen Vorgang ansehen. Empedokles, der das Prinzip Gleiches wird nur von Gleichem erkannt vertrat, behauptet, das Blut sei der Sitz der Erkenntnis, weil es der am besten durchmischte Stoff sei. Platon und Aristoteles fassen – im Gegensatz zu vielen Vorsokratikern – die Tätigkeit des nous, das Denken, als einen nicht-körperlichen Vorgang auf. Dieser komme nur dem Menschen zu. Zudem unterscheidet Platon explizit auch sinnlich Wahrnehmbares von Intelligiblem und vertritt – in der Tradition von Parmenides – sehr deutlich die These, dass Wissen nur gegen die sinnliche Wahrnehmung und den Körper möglich sei. Aristoteles definiert in seiner Schrift De anima nous als „das, womit die Seele denkt und Annahmen macht.“ Er vergleicht den nous – analog wie bei der Wahrnehmung – mit einer leeren Schreibtafel aus Wachs. Nous ist unaffiziert (d. h. unangeregt), unbestimmt, ein passives Vermögen, dessen Natur darin besteht, im Aufnehmen der Formen das aktual werden zu können, was er denkt. Er ist auch nicht einem bestimmten Organ zugeordnet, sondern körperlos. Im Hellenismus wird das kognitive Vermögen nous sowohl von der Stoa als auch von Epikur materialistisch aufgefasst. Beide Schulen führen Erkenntnis vollständig auf materiell gedachte Wahrnehmung zurück. Kosmologisches Prinzip Nachdem einige frühere Denker einem kosmologischen Prinzip entsprechende Eigenschaften zugeschrieben haben, bekommt der nous bei dem griechischen Mathematiker und Naturphilosophen Anaxagoras eine tragende Rolle in der Welterklärung. Der nous ist für ihn ein Bewegungsprinzip, das er der Materie gegenüberstellt, obgleich er es nicht ausdrücklich als nicht-materiell beschreibt. Eine ähnliche Funktion weist der von Heraklit angenommene alles verwaltende logos auf, den er als vernünftig beschreibt. Für Platon weist die Welt Eigenschaften eines beseelten und mit Vernunft ausgestatteten Lebewesens auf, und er erklärt ihre Beschaffenheit mit Rückgriff auf eine göttliche Vernunft. Aristoteles nimmt einen „unbewegten Beweger“ an, der die von ihm abhängige Welt und den Himmel als eine Finalursache, d. h. wie ein Geliebtes oder Erstrebtes bewegt. Dessen ununterbrochene Tätigkeit bestehe darin, den besten Gegenstand, sich selbst, zu denken (noêsis noêseôs). Diesen Gott fasst Aristoteles – im Gegensatz zu dem oben thematisierten menschlichen Vermögen – als rein aktual auf. Plotin weist dem nous die kosmologische Rolle zu, als Demiurg die sichtbare Welt nach Vorlage der Ideenwelt zu formen. Augustinus Der Philosoph und christliche Kirchenlehrer Augustinus unterscheidet in der Spätantike zwischen Geist (mens, animus) und Seele (anima). Er fasst den Geist als eine an der Vernunft teilhabende Substanz auf, die zur Leitung des Leibes bestimmt ist („substantia quaedam rationis particeps regendo corpori accomodata“). Dem Geist kommen wesensmäßig Vernunft (ratio) und Einsicht (intelligentia) zu. Er wird durch die Laster (vitium) geschwächt und muss, um seiner Leitungsaufgabe gerecht werden zu können, durch den Glauben (fides) gereinigt werden. Er beschreibt den menschlichen Geist als „Auge der Seele“ (oculus animae). Diesem ist die Erkenntnis ewiger Wahrheiten durch das unveränderliche Licht (lumen incommutabilis) des göttlichen Geistes möglich, das den menschlichen Geist und das ihm begegnende Seiende erleuchtet. Dieses Licht stellt das Innerste des Menschen selbst dar. Die Wendung (conversio) des Menschen zu diesem Innersten hin ist für Augustinus Selbstvollzug des Geistes und bedeutet die Rückkehr zu seinem eigentlichen Ursprung. Mittelalter Thomas von Aquin, einer der Hauptvertreter der Scholastik, fasst die menschliche Seele als eine geistige Substanz (substantia spiritualis) auf. Im Unterschied zur Tierseele hat sie einen rein geistigen Charakter und ist daher unsterblich. Thomas vertritt eine strikte Leib-Seele-Einheit des Menschen. Die Seele ist Form des Leibes (forma corporis) und teilt ihm ihr Sein mit. Umgekehrt ist aber auch der Geist zur Erkenntnis auf den Leib und seine sinnliche Vermittlung angewiesen. Alle geistigen Erkenntnisse werden mittels des „tätigen Intellekts (intellectus agens)“ von den Sinneswahrnehmungen abstrahiert. Der Mensch als schwächster Strahl der Geistigkeit vermag das rein Geistige nicht zu schauen. Die Erkenntnis vermag nur so weit zu reichen wie der geistige Gehalt des Sinnenfälligen, von dem sie ausgeht, es ihr gestattet. Eine unmittelbare Erkenntnis Gottes ist daher für Thomas ausgeschlossen. Die menschliche Seele ist bei Thomas die niederste der geistigen Formen. Sie ist ein Vernunftprinzip, das notwendig eines Körpers bedarf, um tätig werden zu können. Sie stellt daher gegenüber der Seele der Engel, die in keinerlei Verbindung mit dem Materiellen steht, eine tiefere Stufe der Geistigkeit dar. Die Seele hängt zwar in ihrer Existenz nicht von der Materie ab, ragt aber doch tief in das Körperliche hinein, da sie ohne den Körper etwas Unfertiges ist. Sie wird bei Thomas zum äußersten und abgeschwächtesten Strahl des Verstandeslichtes, das in Gott aufleuchtet und im Menschen seine unterste Grenze erreicht wie das Sein bei der Materie. Sie steht daher auf der Grenze der geistigen und körperlichen Geschöpfe (in confinio spiritualium et corporalium creaturarum). Descartes Bei dem Philosophen, Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes, Begründer des Rationalismus, ist der Geist ontologisch von der Materie getrennt, die Wirklichkeit gliedert sich in eine materielle und eine nichtmaterielle Sphäre. Menschen sind im Wesentlichen durch ihren immateriellen Geist ausgezeichnet und unterscheiden sich dadurch von Tieren, die Descartes als Automaten begreift. Zur Stützung seines Leib-Seele-Dualismus entwickelte Descartes Argumente, die bis heute in der Philosophie des Geistes diskutiert werden. So erklärte er, dass man sich klar und deutlich vorstellen könne, dass Geist ohne Materie existiere. Was man sich klar und deutlich vorstellen kann, ist aber zumindest prinzipiell auch möglich. Und wenn es prinzipiell möglich ist, dass Geist ohne Materie existiert, können Geist und Materie nicht identisch sein. Varianten dieses Argumentes findet man in der heutigen Debatte bei Saul Kripke und David Chalmers. Ein anderes Argument Descartes' bezieht sich auf die menschliche Sprachfähigkeit: Es sei unvorstellbar, dass ein Automat das komplexe System einer natürlichen Sprache beherrsche. Diese Argumentation wird heute von den meisten Philosophen und Wissenschaftlern unter Verweis auf die Erkenntnisse der Computer-, Psycho- und Neurolinguistik abgelehnt. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die menschliche Sprachfähigkeit keineswegs umfassend erforscht ist und dass die Computerlinguistik weit davon entfernt ist, die Komplexität natürlicher Sprachen zu erfassen. Descartes' Bild vom Menschen ist also wesentlich zweigeteilt: Der Mensch besteht aus einem materiellen Körper und einem immateriellen Geist. Körper und Geist interagieren an einer Stelle im Gehirn (der Zirbeldrüse) miteinander. Verbrennt sich eine Person etwa am Fuß, so wird der Reiz durch den Körper zum Gehirn und von dort zum Geist geleitet (siehe Abbildung). Im Geist verspürt die Person Schmerzen, was wiederum eine körperliche Reaktion verursacht. Vertreter eines solchen Dualismus haben unter anderem zu erklären, wie diese Interaktion von Geist und Körper genau vorzustellen ist. In der Gegenwartsphilosophie wird dieses Problem unter dem Begriff Mentale Verursachung diskutiert. 18. und 19. Jahrhundert David Hume, der im angelsächsischen Raum häufig als bedeutendster Philosoph der Aufklärung betrachtet wird, vertrat die idealistisch empiristische Auffassung, der Geist beruhe allein auf Formen unmittelbarer Wahrnehmung. Inetwa in diesem Sinne definierte Johann Wolfgang von Goethe Geist in West-östlicher Divan: Immanuel Kant knüpfte sowohl an Hume wie auch an Gottfried Wilhelm Leibniz an. Im Rahmen des transzendentalen Idealismus ist der menschliche Geist selbst an der Bildung der Realität beteiligt. Eine vom Geist und seiner Subjektivität freie Realität lässt sich nur als Ding an sich vorstellen. Doch auch mit Bezug auf das Ding an sich sind keine konkreten Aussagen über eine vom Geist unabhängige Realität möglich, da das Ding an sich nicht durch die menschlichen Kategorien zu fassen ist. Mit der idealistischen Wende findet eine Aufwertung des Geistes statt, der zu einem konstitutiven Element der Realität wird. In der Philosophie des 19. Jahrhunderts, besonders im Deutschen Idealismus, setzte sich diese Tendenz fort. Hegel entwickelte einen absoluten Idealismus, der die subjektive Zurücknahme des Erkenntnisanspruches auf objektive Wahrheit überwinden wollte. Darin fasste er die Denkgeschichte dialektisch als einen geschichtlichen Prozess der Entwicklung des Weltgeistes auf. Dieser wird als die Rückwendung des Absoluten aus seinem Anderssein, der Natur, zu sich selbst gedacht. Sie konkretisiert sich in den drei Erscheinungsformen des Geistes: im subjektiven Geist des einzelnen Menschen, im objektiven Geist der menschlichen Gemeinschaftsformen von Recht, Gesellschaft und Staat und dem absoluten Geist, Kunst Religion und Philosophie. In der Philosophie vollendet sich die Rückkehr des Geistes zu sich selbst in Gestalt des absoluten Wissens. Der absolute Geist ist so der Inbegriff für die Wirklichkeit und den Grund allen Seins. Im deutschen Idealismus wurde das kantsche Programm ohne dessen Idee des Dings an sich fortgeführt. Dies rückte den Geist noch weiter in den Fokus der philosophischen Aufmerksamkeit, da nun eine vom Geist unabhängige Wirklichkeit nicht einmal als Grenzbegriff angenommen wurde. Das Leib-Seele-Problem fand im Rahmen derartiger Konzeptionen folgende Lösung: Wenn der Geist immer schon konstitutiv für die wissenschaftlich untersuchte Natur ist, so ergibt es keinen Sinn, zu fragen, ob und wo der Geist in dieser Natur zu lokalisieren sei. In der gegenwärtigen Philosophie des Geistes werden nur noch selten konsequent idealistische Theorien vertreten. Dagegen formulierte Karl Marx, sich auf Hegel beziehend, seine materialistische Auffassung des Geistes. Demnach bedingt die „Produktionsweise des materiellen Lebens“ bzw. die darin verankerte Arbeit den „sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß“. Insbesondere durch Charles Darwins Entwicklung der Evolutionstheorie wurde der Mensch zunehmend auch als ein biologisches System betrachtet. Dies führte dazu, dass nunmehr viele Naturwissenschaftler den Geist als ein Produkt rein biologischer Prozesse betrachteten. In Deutschland erregten insbesondere die so genannten Vulgärmaterialisten um Ludwig Büchner und Carl Vogt mit derartigen Behauptungen Aufsehen und lösten so den Materialismusstreit aus. Auch der Evolutionsbiologe Ernst Haeckel postulierte, der Geist sei ein wissenschaftlich erfassbares Phänomen. Der Haeckelsche Monismus ist jedoch nicht als Materialismus zu begreifen, da Haeckel in der Tradition Baruch Spinozas von einer neutralen Substanz mit geistigen und materiellen Aspekten ausging. Allerdings gab es auch unter den Naturwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts ungleich skeptischere Stimmen. Der Elektrophysiologe Emil Heinrich du Bois-Reymond erklärte etwa 1872 in einem einflussreichen Vortrag: Eine weitere Bedeutungskomponente erhielt der Begriff des Geistes im 19. Jahrhundert durch den Philosophen, Psychologen und Pädagogen Wilhelm Dilthey, Mitbegründer der Lebensphilosophie, der die Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften gegenüberstellte. Nach seiner Auffassung sind die Geisteswissenschaften durch eine besondere Methode, die Hermeneutik, ausgezeichnet. Während sich die Naturwissenschaften mit Kausalzusammenhängen beschäftigen, sollen die Geisteswissenschaften zu einem tieferen Verstehen der Phänomene beitragen. Der Neukantianer Wilhelm Windelband versuchte diese Unterscheidung zu präzisieren, indem er betonte, dass die Geisteswissenschaften besondere und einmalige Ereignisse erforschen, während die Naturwissenschaften nach allgemeinen Naturgesetzen suchen. 20. Jahrhundert Im frühen 20. Jahrhundert war das philosophische Nachdenken über den Geist maßgeblich durch den Wiener Kreis geprägt. Die Mitglieder des Wiener Kreises versuchten, philosophische Konsequenzen aus der Methodologie des psychologischen (methodologischen) Behaviorismus zu ziehen. Die klassischen Behavioristen hatten erklärt, dass sich introspektive Angaben über den Geist nicht überprüfen lassen und daher nicht Teil einer Wissenschaft sein können. Die Psychologie müsse sich daher auf Verhaltensbeschreibungen beschränken. Im Wiener Kreis wurden diese Annahmen mit dem Verifikationismus kombiniert, also der These, dass nur überprüfbare Aussagen eine Bedeutung haben. Als Konsequenz erscheinen Aussagen über den Geist als sinnlos, sofern sie nicht von Verhalten handeln. Die behavioristische Tradition fand ihre Fortführung in Gilbert Ryles 1949 veröffentlichtem Werk The Concept of Mind (Der Begriff des Geistes), das für mehr als ein Jahrzehnt zur orthodoxen Interpretation des Themas „Geist“ in der angelsächsischen Philosophie wurde. Ryle erklärte, es sei ein Kategorienfehler, davon auszugehen, dass der Geist etwas Inneres ist. In einer gewissen Spannung zum Behaviorismus stand hingegen das Werk Ludwig Wittgensteins. Zwar bestreitet auch Wittgenstein, dass der Geist als ein innerer Zustand zu verstehen sei, grenzt sich jedoch zugleich vom Behaviorismus ab. In eine entgegengesetzte Richtung führte die von Edmund Husserl begründete Phänomenologie, die explizit die Untersuchung subjektiver, geistiger Phänomene zum Ziel hatte. Im Verfahren der epoché sollen alle Annahmen über die Außenwelt „eingeklammert“ und so eine Erforschung der puren Subjektivität möglich gemacht werden. Unter Bezugnahme auf Franz Brentano nahm Husserl an, dass geistige Zustände im Wesentlichen durch Intentionalität gekennzeichnet seien. Damit ist gemeint, dass sich mentale Zustände auf etwas beziehen, so bezieht sich etwa die Sehnsucht nach einer Person auf eine Person. Die Husserlsche Phänomenologie übte einen enormen Einfluss auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts aus, unter anderen auf Husserls Schüler Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre, der nach Freiburg kam, um bei Husserl zu studieren. In der französischen Philosophie knüpfte insbesondere Maurice Merleau-Ponty an Husserls Intentionalitätsbegriff an. Dabei wollte Merleau-Ponty mit dem Begriff des Leibes die Entgegensetzung von Körper und Geist aufheben. Der Leib ist ein lebender und aktiv wahrnehmender Körper und lässt sich somit nicht durch eine Entgegensetzung von Geistigem und Nicht-Geistigem fassen. In den frühen 1960er Jahren gab es auch in der angelsächsischen Philosophie eine radikale Abkehr von den behavioristischen Theorien. Durch die Erfolge der neurowissenschaftlichen Forschung inspiriert, versuchten Identitätstheoretiker den Geist auf das Gehirn zu reduzieren. Ein analoges Programm wurde von Funktionalisten vertreten, die sich jedoch auf Künstliche Intelligenz und Kognitionswissenschaft stützen. Diese reduktiven Bemühungen blieben allerdings nicht unwidersprochen, es wurde auf unüberwindbar erscheinende Probleme des Reduktionismus hingewiesen. Mit den so genannten Qualia (Bewusstsein der Phänomene) und der Intentionalität hat der Geist nach Meinung vieler Philosophen Eigenschaften, die sich nicht durch Naturwissenschaften erklären lassen. Durch die Spannung zwischen den Erfolgen der empirischen Forschung und den Problemen des Reduktionismus ist in der Philosophie eine sehr differenzierte Debatte um die Natur des Geistes entstanden. Heute werden verschiedene Formen des Physikalismus, Dualismus und Pluralismus vertreten. Die Eliminativen Materialisten verzichten gänzlich auf die Annahme der Existenz eines Geistes. Geist in den Wissenschaften Auch bei dem Blick auf die wissenschaftliche Erforschung des Geistes ergibt sich kein einheitliches Bild. Die Wissenschaften, die sich mit dem Phänomen des Geistes beschäftigen, verfolgen verschiedene Ziele und verwenden zum Teil sehr unterschiedliche Modelle und Methoden. Die relevanten Wissenschaften reichen von der Psychiatrie, den Sozialwissenschaften, der Sozialpsychologie und der Psychologie bis hin zur Hirnforschung. Psychiatrie Die Psychiatrie hat sich in ihrer geschichtlichen Entwicklung in Deutschland vor allem in der Zeit der Aufklärung mit dem Geist als auslösende Voraussetzung der Geisteskrankheiten befasst. Hier wurden geisteswissenschaftliche Bedingungen dieser Erkrankungen untersucht, so wie es die Psychiker bis etwa 1845 taten. Da der Geist anderen Gesetzen unterliegt als die Materie, erfolgten ideologische Auseinandersetzungen mit dem naturwissenschaftlichen Standpunkt der Somatiker. Erst recht wurden diese geisteswissenschaftlichen psychiatrischen Ergebnisse durch die neuere Hirnforschung in Frage gestellt. Sozialwissenschaft und Sozialpsychologie In den Sozialwissenschaften kommt gelegentlich eine überindividuelle Verwendung des Begriffs „Geist“ hinzu. So nannte der Soziologe Max Weber eines seiner einflussreichsten Werke 1904 Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus und noch 1935 Ferdinand Tönnies sein Alterswerk Geist der Neuzeit. In diesem Zusammenhang bezieht sich der Ausdruck „Geist“ auf grundlegende Normen, Überzeugungen und Weltanschauungen, die für eine Gemeinschaft konstitutiv sind. Allerdings ist auch diese Bedeutung nicht unabhängig vom Geist der Individuen, da die Normen und kollektiven Anschauungen für die einzelnen Mitglieder eines Kollektivs sehr bedeutsam sind. Der Geist im sozialwissenschaftlichen Sinne ist nur denkbar, wenn es Entsprechungen im Geist einer Vielzahl von Individuen gibt. Pierre Bourdieu entwickelte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine komplexe so genannte „Theorie der Praxis“ mit eigenen Begrifflichkeiten. Er unternahm den Versuch, Geist und Materie wie auch Subjektivismus und Objektivismus auf der Basis empirischer Erforschungen des Alltagslebens und vergleichender Kulturforschung miteinander zu verknüpfen. Der Mensch „inkorporiert“ demnach seine soziale Umwelt durch geistige Lernakte, die sich auch körperlich ausdrücken. Zu diesem Habitus gehören unter anderem die Denk- und Sichtweisen der Wahrnehmungen, die das Urteilen und Bewerten beeinflussen und den Handlungsspielraum begrenzen. In der Sozialpsychologie wird der Einfluss sozialer Interaktion auf geistige Prozesse wie Gedanken oder Gefühle untersucht. Dabei kann der Fokus auf einen weiten sozialen Kontext oder auf zwischenmenschliche Prozesse gerichtet sein. Ergänzt werden sozialpsychologische Ansätze durch kulturvergleichende oder kulturhistorische Untersuchungen, in denen etwa dargestellt wird, wie Gefühle (z. B. Liebe oder Eifersucht) sich in verschiedenen Kulturen unterscheiden und entwickelt haben. Die Sozialpsychologie berührt hier auch die klassische anthropologische Frage nach der Universalität von bestimmten geistigen Prozessen. Von der Kognitionspsychologie zur Psychoanalyse Die klassische Wissenschaft des Geistes ist die Psychologie, wobei man innerhalb der Psychologie wiederum zwischen verschiedenen Ansätzen unterscheiden muss. So untersucht etwa die Kognitionspsychologie geistige Prozesse mit möglichst präzisen experimentellen Methoden, um so kognitive Phänomene wie Gedächtnis, Wahrnehmung oder Denken besser zu verstehen. Ein Beispiel hierfür ist die Forschung zum Priming, bei dem mittels Darbietung eines Reizes (Prime) die Verarbeitungszeit eines Zielreizes (Target oder Probe) beeinflusst wird. Bei Primingexperimenten wird der Versuchsperson eine Aufgabe gestellt, so muss sie etwa präsentierte Bilder benennen (Beispiel: Bild von einem Brot → Reaktion „Brot“). Präsentiert man der Person kurz vor der Aufgabe einen verwandten ähnlichen Reiz bzw. Prime (etwa das Wort „Käse“), so wird die Versuchsperson die Benennungsaufgabe schneller lösen. Kognitionspsychologen schließen aus diesen Befunden, dass die Begriffe im Geist in einer netzwerkartigen Struktur organisiert sind und die Präsentation des Primes eine Voraktivierung an der richtigen Stelle des Netzwerks auslöst. In den letzten Jahrzehnten haben die Kognitionspsychologen sehr viele Daten über geistige Prozesse gesammelt, und sie gehen zunehmend dazu über, diese Daten in komplexen Modellen zusammenzufassen. In Form von kognitiven Architekturen werden solche Modelle als Computerprogramme realisiert und sollen die Prognose von geistigen Prozessen möglich machen. Derartige kognitionspsychologische Modelle sind jedoch auf grundlegende geistige Prozesse beschränkt, also etwa auf die Wahrnehmung von Bewegungen und Formen oder auf das Kurzzeitgedächtnis. Will man mit Hilfe von psychologischen Untersuchungen komplexe geistige Phänomene, wie etwa Charaktermerkmale oder psychische Erkrankungen verstehen, so muss man auf andere Teildisziplinen (wie etwa die Persönlichkeitspsychologie) zurückgreifen. Einflussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Psychoanalyse in der Tradition von Sigmund Freud. Freud machte zu Beginn des vorigen Jahrhunderts darauf aufmerksam, dass geistige Prozesse zu weiten Teilen unbewusst ablaufen. So muss sich eine Person etwa keinesfalls im Klaren über ihre Angst oder Wut sein. Gleichzeitig betonte Freud, dass die Struktur des Geistes maßgeblich durch die sozialen Normen und Werte einer Gemeinschaft geprägt sind. Freud beschrieb die Bildung des Ichs (Wahrnehmen, Denken und Gedächtnis) im Strukturmodell der Psyche als einen Prozess im Spannungsfeld zwischen dem Unterbewussten (Es) und den verinnerlichten Normen und Werten (Über-Ich). Auch wenn die psychoanalytischen Methoden und auch die psychoanalytische Therapie weiterhin umstritten sind, wird in der Psychologie doch allgemein anerkannt, dass zum umfassenden Verständnis geistiger Strukturen eine Analyse unbewusster und sozialer Prozesse notwendig ist. Es wird zudem akzeptiert, dass eine solche Analyse nicht allein mit kognitions- oder biopsychologischen Ansätzen durchgeführt werden kann. Will man etwa psychische Erkrankungen wie Phobien oder Depressionen umfassend verstehen, so muss man den weiten lebensgeschichtlichen und sozialen Kontext einer Person betrachten. Geist und Gehirn Während die Psychologie am Verhalten indirekt geistige Aktivitäten untersucht, ist das Thema der Neurowissenschaften zunächst das Gehirn und nicht der Geist. Zugleich macht die neurowissenschaftliche Forschung jedoch deutlich, dass geistige Aktivitäten nicht unabhängig vom neuronalen Geschehen sind. So beschreibt etwa die Neurologie den Zusammenhang zwischen Läsionen (Schädigungen) des Gehirns und kognitiven Beeinträchtigungen. Ein Beispiel hierfür sind Aphasien (erworbene Sprachstörungen), bei denen spezifische Beeinträchtigungen oft mit Schäden in spezifischen Gehirnregionen verbunden sind. Große Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahren zudem die Suche nach neuronalen Korrelaten des Bewusstseins erfahren. Mit der Hilfe von bildgebenden Verfahren ist es möglich, die neuronalen Aktivitäten im Gehirn zu messen und zu visualisieren: Derartige Methoden erlauben es zumindest in Ansätzen zu untersuchen, welche Aktivitäten im Gehirn ablaufen, wenn eine Person sagt oder auf andere Weise signalisiert, dass sie etwas wahrnimmt, fühlt oder denkt. Dabei kann man feststellen, dass während der von Versuchspersonen bezeichneten geistigen Aktivitäten nicht alle Bereiche des Gehirns gleichmäßig aktiv sind. Vielmehr scheinen mit spezifischen geistigen Aktivitäten oft auch spezifische neuronale Aktivitäten verbunden zu sein. Die Erforschung derartiger Verbindungen steckt jedoch noch in der Anfangsphase und es war bisher nicht möglich, von einer bestimmten neuronalen Aktivität auf eine bestimmte geistige Aktivität zu schließen. Es wird zudem oft bezweifelt, dass dies bei komplexen Gedanken oder Gefühlen jemals möglich sein wird. Wie ist nun diese Verbindung zwischen geistigen und neuronalen Aktivitäten zu verstehen? Warum sind etwa Veränderungen des Geistes mit Veränderungen des Gehirns verknüpft? Eine mögliche Antwort lautet, dass die geistigen Aktivitäten mit den Aktivitäten im Gehirn identisch sind. Nach einer solchen Theorie wären etwa Kopfschmerzen nichts anderes, als eine bestimmte Aktivität im Gehirn. Auch wenn eine solche Identitätstheorie die systematischen Verbindungen zwischen Geist und Gehirn leicht erklären kann, hat sie doch mit Problemen zu kämpfen. Zweifel an der Gleichsetzung von geistigen Aktivitäten mit Gehirnvorgängen werden oft mit Hilfe des Qualiaproblems artikuliert. Mentale Zustände wie Kopfschmerzen sind durch Erleben ausgezeichnet, es fühlt sich auf eine bestimmte Weise an, etwas zu erleben. Wenn nun mentale Aktivitäten mit Gehirnaktivitäten identisch sind, so müssen auch die Gehirnaktivitäten durch diese Qualia ausgezeichnet und durch die Neurowissenschaften erklärbar sein. Die Frage, warum eine bestimmte Gehirnaktivität mit einem Erlebnis verknüpft ist, können Neurowissenschaftler derzeit nicht beantworten. Bedeutet dies, dass solche neuronalen Aktivitäten mit Bewusstseinserfahrungen nicht identisch sind? Diese These ist – wie die gesamte philosophische Interpretation der Neurowissenschaften – weiterhin umstritten. Geist in den Religionen Judentum Im Tanach entspricht am ehesten das hebräische Wort „rûah“ dem, was im Deutschen unter „Geist“ verstanden wird. Es bedeutet, wie das griechische „pneuma“ und das lateinische „spiritus“, zunächst „bewegte Luft“, „Wind“. Bei Mensch und Tier bezeichnet die rûah weiterhin den Atem, der den Geschöpfen Leben einhaucht. Als Lebensprinzip ist die rûah Gottes Eigentum; die Geschöpfe leben von ihr und sterben, wenn Gott sie entzieht. Im Menschen übt sie die verschiedensten Lebensfunktionen geistiger, willensmäßiger, sittlicher und religiöser Art aus und ist hier mit dem Begriff „Nefesch“ („Seele“) fast synonym. Gott als die Quelle der rûah ist selbst Geistwesen. So schwebte am ersten Tag der Schöpfung der Geist Gottes über den Wassern und im Buch der Weisheit heißt es „Der Geist des Herrn erfüllt den Erdkreis“ . Gott teilt sich auserwählten Menschen mit, indem er den Geist über sie kommen lässt. Sie werden charismatisch begabt zu (kriegerischen) Heldentaten, prophetisch-ekstatischen Fähigkeiten und mit dem „Geist der Weisheit“ erfüllt. Der Tanach kennt auch den bösen Geist, der von Jahwe als dem einzigen Gott ausgehen kann. Dies geschieht dann, wenn die Empfänger Unheil verdienen: „Als Abimelech drei Jahre lang über Israel geherrscht hatte, sandte Gott einen bösen Geist zwischen Abimelech und die Bürger von Sichem, so dass die Bürger von Sichem von Abimelech abfielen“ . Diese böse Geistesmacht, die Gott unterstellt ist, wird später in der christlichen Theologie die Gestalt des Satans als eine selbständige Funktion, in sich böse Figur und sogar mit eigener Personifikation als Gegenpart zu Gott bekommen. Christentum Neues Testament Im Neuen Testament wird „Geist“ mit dem griechischen Wort „pneuma“ bezeichnet. Gemeint ist meist der Geist Gottes, der als „Heiliger Geist“ scharf vom Geist des Menschen unterschieden wird. Dieser Geist Gottes wird noch nicht so deutlich wie später in der Trinitätslehre als personal angesehen, sondern als Medium des göttlichen Handelns. Für die personale Auslegung sprechen jedoch Stellen wie die in der Apostelgeschichte , in der Hananias und Saphira bestraft werden, weil sie den Heiligen Geist belügen. Pneuma und Jesus Der Begriff des Pneuma spielt eine zentrale Rolle in der Geschichte Jesu. Bereits seine Empfängnis geschieht unter Einwirkung des Heiligen Geistes . Vom Pneuma wird er in die Wüste getrieben, um dort den Versuchungen zu widerstehen . Als Geistträger übernimmt er sein öffentliches Amt ; auf ihm ruht nun das Pneuma des Herrn . Mit seiner Hilfe ist Jesus in der Lage, die Herrschaft des Satans zu brechen . Dies bedeutet allerdings nicht, dass Jesus dämonische Kräfte unterstellt werden dürften . Die Auferstehung Jesu von den Toten bedeutet einen Übergang in die Seinsweise des Pneuma , womit Jesus als Herr (Kyrios) identifiziert wird . Das Pneuma in der christlichen Gemeinde bei Paulus Für Paulus ist fast jede Lebensäußerung der Kirche Wirkung des Pneuma. Schon bei der Konstituierung der christlichen Gemeinde ist das Pneuma am Werk . Das Pneuma ist eine Gnadengabe (Charisma), die bei den Gläubigen unterschiedlich verteilt ist . Paulus stellt eine Rangfolge der Charismen auf und verlangt ihre Indienstnahme in den Aufbau der Gemeinde . Paulus unterscheidet auch ein falsches Pneuma, das die Gemeinde „aus der Fassung bringen und in Schrecken jagen“ kann . Es ist daher „die Fähigkeit, die Geister zu unterscheiden“ . All das geistige Sein der Gläubigen vollzieht sich im Pneuma. Es wird im Glauben als eschatologische Segensgabe empfangen und mit ihr das „Leben“. Das Pneuma heiligt die Glaubenden; selbst ihr Leib ist ein „Tempel“ des Pneuma. Es bedeutet Freiheit von der Herrschaft der Sünde, des Todes und des Gesetzes . Der Gläubige darf aber diese im Pneuma gewährte Freiheit nicht zum „Anlass für das Fleisch“ nehmen, sondern soll sich in seiner sittlichen Existenz von Pneuma leiten lassen . Das Pneuma wird zwar als Fundament des Heils bezeichnet, aber nicht als dessen Erfüllung. Paulus bezeichnet es als „Erstlingsgabe“ oder „Angeld“ des Gesamtheils. Die Gläubigen erwarten kraft des Pneumas „die erhoffte Gerechtigkeit“ und v. a. die Auferweckung des Leibes . Die Unterscheidung zwischen dem Reich des Geistes (und der Liebe) und dem Reich des Fleisches (und der Sünde) war für Paulus zentral. Diese Theologie hat nach Einschätzung von Kritikern dualistische Vorstellungen begünstigt. Das paulinische Gedankengut wurde später durch Thomas von Aquin in der Summa Theologica weitergeführt, und bis heute wird der Begriff anima forma corporis verwendet. Islam Im Bereich des Islam bildet der arabische Begriff rūh () in etwa das Gegenstück zum deutschen Begriff des Geistes. Rūh ist etymologisch mit dem Wort rīh verwandt, das die Grundbedeutung von "Wind" hat. Im Koran heißt es, dass Gott Adam von seinem Geist einblies und ihn auf diese Weise lebendig machte (Sure 15:29; Sure 32:9; Sure 38:72). Durch Einblasen seines Geistes kommt es auch dazu, dass Maria Jesus empfängt ( Sure 21:91; Sure 66:12). Der Geist Gottes zeigt sich dabei Maria in einer menschlichen Gestalt (, Sure 19:17). Durch den Geist der Heiligkeit erfährt Jesus später besondere Stärkung (Sure 2:87, 253; 5:110). Auch Jesus selbst wird als ein Geist von Gott bezeichnet (, Sure 4:171). Der Geist erscheint darüber hinaus als Vermittler der Offenbarung. In Sure 40:15 heißt es, dass Gott den Geist mit dem von ihm gegebenen Befehl zu dem Menschen schickt, von dem er das will, damit er die Menschen vor dem Tag der Begegnung warne. Der Geist der Heiligkeit ist es, der den Koran herabsendet, um damit die Gläubigen zu stärken (Sure 16:102). Der „treue Geist“ überbringt Mohammed den Koran (26:193-194). Theologische Reflexionen über den Geist setzten im Islam Ende des 8. Jahrhunderts ein. Der basrische Asket Bakr, auf den die Lehrrichtung der Bakrīya zurückgeführt wird, behauptete, dass der Mensch und ebenso alle übrigen Lebewesen identisch mit dem Geist seien. Der Bagdader Muʿtazilit Bischr ibn al-Muʿtamir (st. 825) sah hingegen in dem Menschen eine Verbindung aus Leib (badan) und Geist (rūḥ). Tragende Bedeutung erhielt der Geist in dem Lehrsystem des basrischen Muʿtaziliten an-Nazzām (st. 835-845). Er stellte sich den Geist in Anknüpfung an das platonische Pneuma-Konzept als einen feinstofflichen Körper vor, der sich wie ein Gas mit dem Leib vermischt und ihn bis in die Fingerspitzen durchdringt, sich beim Tode aber wieder aus dieser Verbindung löst und selbständig weiterexistiert. Buddhismus Mit dem Begriff des Geistes (citta) wird im Buddhismus etwas bezeichnet, was zur Körperlichkeit hinzutritt. Der Ausdruck wird in der buddhistischen Anthropologie synonym gebraucht zu Begriffen wie Denken (manas) und Bewusstsein (vijñana). „Geist“ wird unter zweierlei Aspekten betrachtet. Zum einen ist er eine Erscheinungsweise der menschlichen Existenz (samsara) und bedarf als solcher der Erlösung (nirvana); andererseits bezeichnet er genau das Instrument mittels dessen die Erlösung erst möglich wird. Der Geist geht nach buddhistischer Lehre allem Reden und Handeln voraus. Oberste Aufgabe ist es daher, ihn durch die Übung der „Achtsamkeit“ (sati) – dem siebten Glied des achtfachen Pfades – unter Kontrolle zu bringen. Weiterhin ist die Ausrichtung des Geistes, seine Konzentration auf einen Punkt (samādhi) von Bedeutung. In der mahayanischen Tradition – vor allem der Yogachara-Schule – des Buddhismus bildet sich ein radikaler Idealismus heraus, der das Wesen der Welt nur als Geist interpretiert, wohingegen die Vielheit der Erscheinungen als Trug und Illusion (māyā) angesehen wird. Der Begriff des Geistes rückt hier in die Nähe des nirwana, das als Absolutes, nicht genau zu beschreibendes Prinzip alles Seienden hinter dem Schleier der individualisierenden māyā liegt. Mystik In religiösen mystischen Schriften und einigen philosophischen Traditionen wird der Begriff Geist meist in zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Zum einen als der „menschliche Geist“, was in etwa der heutigen Verwendung von „Bewusstsein“ oder „Verstand“ entspricht und zusätzlich noch „Seele“ umfasst. Zum anderen als „göttlicher Geist“ oder „absoluter Geist“, der je nach Tradition auch personalisiert als Gott oder Gottheit angeredet wird. Die praktische Überwindung dieser Trennung ist für viele Mystiker dabei die wesentliche Aufgabe. Die Frage nach der Beziehung zwischen Geist und Körper tritt demgegenüber bei Mystikern häufig in den Hintergrund. Die in den mittelalterlichen Klöstern praktizierten „geistlichen Übungen“ werden in oratio (liturgisches Gebet), lectio (Lesung aus den Schriften), meditatio (gegenständliche Betrachtung, Meditation) und contemplatio (gegenstandfreie Anschauung, Kontemplation) unterteilt. Der Verstand und das Denken sollen so zur Ruhe kommen, um den „einen Urgrund“, also den göttlichen Geist, freizulegen. In diesem Sinn besteht für den Mystiker kein Unterschied zwischen menschlichem und göttlichem Geist. Auch der Körper des Menschen ist in diesem Verständnis ein Ausdruck des Göttlichen und diesem nicht entgegengesetzt. In der Mystik der frühen Neuzeit wird der eigene Körper des Mystikers oft in besonderer, teils extremer Weise thematisiert. Siehe auch Atemseele Kognitionswissenschaft – Stand der naturwissenschaftlichen Forschung Geistesadel – ein Adel, der nicht angeboren oder verliehen, sondern durch die Leistung eigener Bildung erworben ist Rigpa – ein Begriff in der Tradition des tibetischen Buddhismus Literatur Philosophie Ansgar Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes., De Gruyter, Berlin u. a., 2001, ISBN 3-11-017065-5. Ausführlichste deutschsprachige Einführung in die Philosophie des Geistes Wolfgang Fritz Haug: Geist, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Bd. 5, Argument-Verlag, Hamburg 2001, Sp. 53–91. Rudolf Hildebrand: Geist. Niemeyer, Halle, 1926 Klassische und ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begriff des Geistes Uwe Meixner (Hrsg.): Zur Geschichte der Philosophie des Geistes, De Gruyter, Berlin, ISBN 3-11-017405-7 . Sammelband mit Beiträgen zur Geschichte von der Antike bis ins 20. Jahrhundert John Searle: Geist. Eine Einführung, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2006, ISBN 3-518-58472-3. Kurze Einführung in das Thema von einem bekannten Gegenwartsphilosophen Politik Werner Treß: "Wider den undeutschen Geist!" Bücherverbrennung 1933. Parthas, Berlin 2003, ISBN 3-932529-55-3 Wissenschaft Eric Kandel: Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2006, ISBN 3-518-58451-0 Populärwissenschaftliches Buch des Nobelpreisträgers zu neurowissenschaftlichen und psychoanalytischen Themen Hartmann Hinterhuber: Die Seele. Natur- und Kulturgeschichte von Psyche, Geist und Bewusstsein, Springer, Wien, 2001, ISBN 3-211-83667-5 Historischer Blick auf verschiedene Wissenschaftsdisziplinen Jean Émile Charon: Der Geist der Materie, Ullstein Sachbuch, 1982, ISBN 3-548-34074-1 Charon ist theoretischer Physiker Freerk Huisken: Zur Kritik der Bremer „Hirnforschung“. Hirn determiniert Geist. Fehler, Funktionen, Folgen. AStA Universität Bremen, ISBN 3-938699-00-0 Gerhard Klier: Die drei Geister des Menschen. Die sogenannte Spirituslehre in der Physiologie der Frühen Neuzeit. Steiner, Stuttgart 2002 (= Sudhoffs Archiv, Beiheft 50), ISBN 3-515-08196-8. Marielene Putscher: Pneuma, Spiritus, Geist. Vorstellungen vom Lebensantrieb in ihren geschichtlichen Wandlungen. Wiesbaden 1974. Religion Artikel Geist und Pneuma. in: Lexikon für Theologie und Kirche. Artikel Geist. in: Religion in Geschichte und Gegenwart. D.B. Macdonald: "The Development of the Idea of Spirit in Islam" in The Muslim World 22/2 (1932) 153–168. Thomas O'Shaughnessy: The development of the meaning of spirit in the Koran. Rom : Pont. Inst. Orientalium Studiorum, 1953. Weblinks Artikelliste zur Philosophie des Geistes aus der Stanford Encyclopedia of Philosophy Portal zur gegenwärtigen Forschung zu Geist und Gehirn von sciencedaily Mindpapers Bibliographie von David Chalmers zu Themen der Philosophie des Geistes, der Kognitionswissenschaften und der Bewusstseinstheorie mit mehr als 18.000 Titeln Belege Ontologie Philosophische Anthropologie Philosophie des Geistes
1934
https://de.wikipedia.org/wiki/Gregor%20XIII.
Gregor XIII.
Gregor XIII., lateinisch Gregorius XIII, mit bürgerlichem Namen Ugo Boncompagni, (* 7. Januar 1502 in Bologna; † 10. April 1585 in Rom) war römisch-katholischer Papst von 1572 bis 1585. Gregor XIII. trat 1539 in den Dienst der Kirche. 1558 wurde er Bischof von Vieste und 1565 Kardinal. Am 13. Mai 1572 wurde er im Konklave innerhalb von weniger als 24 Stunden zum Papst gewählt. Den Papstnamen, der schon 150 Jahre außer Gebrauch war, wählte er, da er am Festtag des Hl. Gregor I. zum Kardinal erhoben worden war. Gregor XIII. förderte Wissenschaft und Bildung, reformierte den Kalender, bemühte sich um die Wiedergewinnung verlorener Gebiete des Kirchenstaats und war eine der zentralen Figuren der Gegenreformation. Ausbildung Ugo Boncompagni studierte Jura in Bologna und wurde dann zunächst Jurist im Kirchenstaat (zu dem Bologna damals gehörte), später auch Rechtsprofessor an der dortigen Universität. So lernte er andere Rechtsgelehrte mit reicher Erfahrung in kurialer Verwaltung und Diplomatie kennen, darunter Karl Borromäus (Carlo Borromeo) (1538–1584), Sekretär Papst Pius IV. der später auch sein Berater wurde. Sein Interesse an der Wissenschaft beschränkte sich aber nicht auf die Jurisprudenz, sie prägte sein ganzes Pontifikat. Wissenschaft und Kirchenkampf Gregor XIII. wurde – gefördert von dem spanischen König Philipp II – mit 70 Jahren Papst und blieb es bis zum 83. Lebensjahr. Bis zuletzt bestieg er sein Pferd ohne Hilfe eines Steigbügelhalters und war von „robuster Konstitution“. Er war ein Förderer der Wissenschaften, wie vor allem die Einführung des mit seinem Namen verbundenen Gregorianischen Kalenders zeigt, und ein unnachsichtiger Kämpfer gegen die Reformation, vor allem gegen die französischen Hugenotten. In sein Pontifikat fällt die Bartholomäusnacht in Frankreich, die er ausdrücklich begrüßte und „zum glücklichsten Augenblick seines Pontifikats“ erklärte. Das beruhte in erster Linie auf politischen Überlegungen, nicht auf seiner persönlichen Frömmigkeit: Rosenkranzfesttag Zum ersten Jahrestag der osmanischen Niederlage am 7. Oktober 1571 in der Seeschlacht von Lepanto begründete er 1572 das Rosenkranzfest. Vatikanische Sternwarte Um seinen wissenschaftlichen Beraterstab für eine Kalenderreform in die Lage zu versetzen, die Reform vorzubereiten und zu überprüfen, ließ er 1578 einen Turm für astronomische Beobachtungen bauen (Turm der Winde) und gründete damit die bis heute bestehende Vatikanische Sternwarte. Kalenderreform Bekannt ist er heute vor allem wegen der auf ihn zurückgehenden Kalenderreform, die er nach heutiger Datierung am 24. Februar 1582 mit seiner Bulle Inter gravissimas erließ und die noch heute als Gregorianischer Kalender gültig ist. Hierbei ging es im Wesentlichen darum, dafür zu sorgen, dass das gemessene Jahr dem astronomischen wirklich entsprach. Die Frühlings-Tag-Nacht-Gleiche (Primar-Äquinoktium) sollte wieder auf den 21. März fallen, wie es durch das Konzil von Nicäa im Jahre 325 festgelegt worden war. Bis 1582 galt der (nach Julius Caesar benannte) „Julianische Kalender“, der gegenüber der wirklichen Dauer des Jahres um elf Minuten und vierzehn Sekunden zu lang war. Alle 128 Jahre summierten sich diese ständigen kleinen Fehler zu einem vollen Tag. Gregor verfügte nun, die Vier-Jahres-Periodik der Schaltjahre zu modifizieren: Unter den Jahren, mit denen jeweils ein Jahrhundert zu Ende ging (Jahre wie 1300, 1400 oder 1500), sollten nur noch diejenigen Schaltjahre sein, die sich durch 400 teilen ließen (Jahre wie 1600, 2000, 2400 und so weiter). Damit sind 400 Jahre im Gregorianischen Kalender drei Tage kürzer als im Julianischen. Die überzähligen zehn Tage, die seit dem Konzil von Nicäa bereits aufgelaufen waren, ließ Gregor aus dem Kalender entfernen, so dass auf Donnerstag, den 4. Oktober 1582 sogleich Freitag, der 15. Oktober folgte (). Päpstliche Universität Gregoriana 1551 richtete Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, die erste Schule der Jesuiten ein, die Collegio Romano genannt wurde. Dieses Kolleg erfreute sich großen Zuspruchs und wurde 1584 von Papst Gregor XIII. an anderer Stelle in der Stadt neu eröffnet und besonders gefördert. Ihm zu Ehren wurde dem Collegio Romano 1873 von Papst Pius IX. der Titel Pontificia Universitas Gregoriana (Päpstliche Universität Gregoriana) verliehen. Nachkommen Während seiner Jahre an der Universität Bologna – als er 42 Jahre alt war – gebar ihm seine Mätresse Maddalena Fulchini 1548 einen illegitimen Sohn: Giacomo Boncompagni, der am 26. August 1572 legitimiert wurde (Siehe Boncompagni-Ludovisi). Ihm ermöglichte er eine große Karriere. Ein Neffe Gregors ist Ulisse Aldrovandi (1522–1605). Sonstiges Bei der Eröffnungsfeier des Heiligen Jahres 1575 im Petersdom zu Weihnachten 1574 gehörte der Erbprinz der Vereinigten Herzogtümer, Karl Friedrich von Jülich-Kleve-Berg, zu den Ehrengästen Papst Gregors XIII. Diesem war sehr an seinem Gast gelegen, denn er hoffte, dass der junge Erbprinz später im Sinne der vom Heiligen Stuhl angestrebten Gegenreformation auf seine in der Glaubensfrage gespaltenen Länder sowie auf die benachbarten protestantischen Gebiete einwirken würde. Daher verlieh er ihm eine Woche später das geweihte Schwert und den Hut, eine Ehrung als Fidei defensor, die sonst nur Königen galt. Als Karl Friedrich nur fünf Wochen später starb, zahlte Gregor XIII. die fürstliche Bestattung und den enormen Trauerzug aus eigener Kasse und ließ ihn in der römischen Kirche der deutschen Nation, Santa Maria dell’Anima, gegenüber von Papst Hadrian VI. begraben. Er erhielt ein prachtvolles Ehrengrab nach dem Entwurf seines Erziehers Pighius, ausgeführt von den Bildhauern Nicolas Mostaert und Gillis van den Vliete, das unter anderem eine Auferstehungsszene zeigt, die auf eine intensive Auseinandersetzung mit der 1506 gefundenen Laokoon-Gruppe verweist. Der zweite Teil des Grabmals, ein Relief mit der Szene der Verleihung des geweihten Schwertes durch Gregor XIII., hängt heute im Vorraum der Kirche. Im Februar 2023 wurde mit (560794) Ugoboncompagni ein 2012 entdeckter Asteroid nach Gregor XIII. benannt. Literatur Weblinks Einzelnachweise Papst Namensgeber für eine Universität Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person der Gegenreformation Person (Bologna) Historische Person (Italien) Geboren 1502 Gestorben 1585 Mann
1935
https://de.wikipedia.org/wiki/Geowissenschaften
Geowissenschaften
Zu den Geowissenschaften (von zu ; Erdwissenschaften) zählt eine Gruppe verschiedener Wissenschaften, die sich mit der Erde im Gesamten oder kleineren Teilräumen der Erde befassen. Nach Hartmut Leser kann zwischen den Geowissenschaften im engeren Sinne (z. B. Geologie, Geomorphologie, Bodenkunde) und den Geowissenschaften im weiteren Sinne (z. B. Hydrologie, Glaziologie, Meteorologie), den sogenannten Erdraumwissenschaften, unterschieden werden. Neben Wissenschaften, die sich mit dem Aufbau, der Entstehung und Entwicklung des Erdkörpers beschäftigen, werden den Geowissenschaften auch jene Disziplinen zugeordnet, die sich mit anthropogenen Einflüssen auf das Erdsystem befassen (z. B. Humangeographie, Raumplanung, Raumordnung). Zusätzlich erforschen sie auch Techniken zur Erkundung und Nutzbarmachung der Natur für den Menschen, wobei es zu Überschneidungen mit Aufgaben der Ingenieurwissenschaften kommt. Den Geowissenschaften werden vor allem folgende Hauptfächer zugeordnet: Geodäsie, Kartografie und Geoinformatik Geographie (Geografie) Meteorologie Geophysik Geologie und Paläontologie (letztere mit starken Überschneidungen zur Biologie) Mineralogie und Petrologie Hydrologie, Ozeanografie und Glaziologie. Überwiegend werden den Geowissenschaften zugeordnet: Bodenkunde (Pedologie), Fernerkundung und Photogrammetrie (oft als Teil der Geodäsie betrachtet), Geotechnik und Bodenmechanik (siehe auch Bauwesen), Limnologie (mit starken Überschneidungen zur Biologie) Kristallografie (mit starken Überschneidungen zur Festkörperphysik). Die Geowissenschaften verwenden die Kenntnisse und Methoden der Basiswissenschaften Physik, Mathematik, Chemie und Biologie. Interdisziplinär, umweltrelevant und wirtschaftsbezogen Da die Geowissenschaften interdisziplinär und fächerübergreifend arbeiten, gibt es viele spezielle Disziplinen, die eine hohe Umweltrelevanz besitzen, wie die Angewandte Geologie im weiteren Sinne, die Ingenieurgeologie, Hydrogeologie und Hydrologie, Geochemie, Geobiologie, Geomikrobiologie, Geoökologie und Geostatistik, sowie Geothermie, Meteorologie und Klimatologie. Die Geowissenschaften haben eine tragende Rolle für die Rohstoff- und Energieversorgung unserer Welt. Die Suche (Exploration) nach Ressourcen wie Trinkwasser, fossilen Brennstoffen (Erdöl, Erdgas, Kohle), mineralischen Bodenschätzen (Erzen und sonstigen Anreicherungen hochwertiger Minerale sowie Steinen und Erden), aber auch nach Kernenergierohstoffen (Uran) und Erdwärme werden durch Geowissenschaftler projektiert und realisiert. Die Gewinnung dieser Rohstoffe fällt jedoch eher in den Bereich der Ingenieurwissenschaften, besonders des Bergbaus. Die angewandten Geowissenschaften wiederum sind bei vielen Bauvorhaben wichtig (Gründung von Bauwerken, Erdbau, Grundbau, Fels- und Tunnelbau). Auch die Raumplanung und der Umweltschutz bis hin zur Abfallwirtschaft (Deponien) benötigen geowissenschaftliche Kenntnisse, die in Geoinformationssystemen gesammelt und verarbeitet werden. Mit Methoden der Geotechnik werden Befestigungs- und Überwachungsaufgaben durchgeführt und mit Geotextilien Böschungen oder Deponien stabilisiert. Die Abgrenzung bzw. die Definition des Begriffs „Geowissenschaften“ ist unscharf, wofür das Fach Geographie ein Beispiel ist. Die oben angeführten „harten“ Themen sind auch Bestandteil der „Physiogeographie“. Andererseits gibt es die Untergruppe der „Humangeographie“ mit zahlreichen Bezügen zu zwar raumbezogenen, nicht aber per se „erd“-bezogenen Themen, wie bei der Wirtschafts- und der Sozialgeographie. Doch auch dieser vermeintliche Widerspruch verliert mit zunehmenden Eingriffen des Menschen in das System der Erdsphären an Bedeutung. Die einzelnen Wissens- und Forschungszweige Astrogeodäsie Die Astrogeodäsie ist ein Fachgebiet zwischen Astrometrie und Geodäsie, das Kenntnisse, Mittel und Methoden der Astronomie für Vermessungsaufgaben einsetzt. Bodenkunde Die Bodenkunde (Pedologie) ist jene Wissenschaft, die sich mit der Entstehung, der Entwicklung, den Bestandteilen und einer Klassifizierung von Böden befasst. Böden entstehen durch physikalische und chemische Verwitterung aus festem Gestein. Fernerkundung Die Fernerkundung ist ein interdisziplinäres Instrument zur Datenbeschaffung durch Luftbildaufnahmen und Fernerkundungssatelliten für fast alle der hier aufgeführten Bereiche. Photogrammetrie Photogrammetrie bedeutet die Rekonstruktion der dreidimensionalen Form von Gegenständen (hier insbesondere die Erd- oder Geländeoberfläche) aus Abbildungen (z. B. der perspektivischen Abbildung einer Fotografie). Geochemie Die Geochemie befasst sich mit dem stofflichen Aufbau und der Verteilung von Elementen und Isotopen in der Erde, auf anderen Planeten und im Weltraum (Kosmochemie). Außerdem erforscht sie die Gesetzmäßigkeiten von Stofftransport und Materiekreisläufen in Mineralen und Gesteinen und im gesamten System Erde. Geodäsie Die Geodäsie oder Vermessungskunde befasst sich mit der Bestimmung der Gestalt und des Schwerefeldes der Erde, ihrer Abbildung in Karten und Plänen sowie der Vermessung und Beschreibung des Geländes und der Gegenstände bzw. Sachverhalte an der Erdoberfläche. Teilbereiche der Geodäsie sind die Erdmessung, die Landesvermessung, die Kartografie, die Photogrammetrie, die Grundstücks- und Katastervermessung sowie die Bau- und Ingenieurvermessung. Geographie Die Geographie erfasst, beschreibt und erklärt die Landschaftssphäre in integrativer Form, sowie deren Wechselwirkung mit dem Menschen. Sie erforscht die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt im Erdraum. Die beiden großen Teilgebiete der Geographie sind die Physiogeographie und die Humangeographie. Geoinformatik Die Geoinformatik setzt sich mit dem Wesen und der Funktion der Geoinformation, mit ihrer Bereitstellung in Form von Geodaten und mit den darauf aufbauenden Anwendungen auseinander. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse münden in die Technologie der Geoinformationssysteme (GIS). Allen Anwendungen der Geoinformatik gemeinsam ist der Raumbezug. Geologie Die Geologie untersucht den Aufbau des Planeten Erde, vor allem die Gesteine in der Erdkruste. Das wichtigste Prinzip der Geologie ist der Aktualismus. Anfang der 1960er erlebte die Wissenschaft einen sprunghaften Fortschritt durch die allgemeine Akzeptanz der Theorie der Plattentektonik. Schwesterwissenschaften der Geologie sind die Paläontologie und die historische Geologie. Siehe auch: Geschichte der Geologie Geophysik Die Geophysik ist ein Zweig sowohl der Geowissenschaften als auch der Physik und verwendet physikalische Prinzipien zur Erforschung der Erde. Teilgebiete der Geophysik sind Seismik, Seismologie, Gravimetrie, Geoelektrik, Geothermik, Isotopengeophysik, Geomagnetik und Bohrlochgeophysik. Die Geophysik untersucht auch die Eigenschaften des erdnahen Raums und den Konnex mit der Meteorologie. Meist werden Hydrologie und Ozeanografie zu ihr gezählt; gemeinsam mit ihnen und der Geodäsie bildet sie die internat.Union der IUGG. Geomorphologie Die Geomorphologie oder Landformenkunde ist ein Teilgebiet der Physischen Geographie. Sie untersucht die heute auf der Erdoberfläche vorkommenden Landschaftsformen. Das schließt deren Klassifikation, Beschreibung, Eigenheiten, Ursprünge, Entwicklung und den Zusammenhang zu den unterlagernden geologischen Strukturen und ihrer Erosion ein. Geotechnik Die Geotechnik ist ein Oberbegriff für die Disziplinen im Bauingenieurwesen, welche sich mit der Gründung von Bauwerken im Untergrund befassen. Geothermie Die Geothermie versucht die innere Wärme des Erdkörpers für die Energiegewinnung nutzbar zu machen. Hydrologie Die Hydrologie ist die Wissenschaft vom Wasser, von seinen Eigenschaften und seinen Erscheinungsformen auf und unter der Landoberfläche. Ingenieurgeologie Die Ingenieurgeologie oder Baugeologie ist der angewandte Zweig der Geologie, der den Untergrund im Sinne des Bauingenieurwesens untersucht. Sie befasst sich z. B. mit der Standfestigkeit der Gründung von Bauwerken, auch mit der Erdbebensicherheit. Bei der Beseitigung und Vermeidung von Umweltschäden (Mülldeponien, Endlager) spielt sie ebenfalls eine Rolle. Kartografie Die Kartografie ist die Wissenschaft, Kunst und Technik der Erstellung von Karten zur Darstellung der Erdoberfläche mit all ihren Aspekten der Topografie, Tektonik, Bio- und Geologie, der Territorial- und Infrastruktur, der Siedlungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeografie, der Politik und Geschichte. Sie stützt sich auf Primärdaten insbesondere der Geodäsie und Fernerkundung. Kristallografie Die Kristallografie ist eine Materialwissenschaft und beschäftigt sich mit den physikalischen Eigenschaften von Kristallen. Limnologie Die Limnologie ist die Wissenschaft von den Binnengewässern als Ökosystemen, deren Struktur, Stoff- und Energiehaushalt sie erforscht. Meteorologie Die Meteorologie (Wetterkunde) ist die Wissenschaft von den atmosphärischen Erscheinungen. Mineralogie Die Mineralogie beschäftigt sich mit der Zusammensetzung und Klassifikation der Minerale, ihrem Vorkommen und ihrer technischen und wirtschaftlichen Verwendung. Ozeanografie Die Ozeanographie untersucht Stoff- und Energiekreisläufe in den Weltmeeren. In der Planktologie findet sich ein Bindeglied zu den Biowissenschaften. Paläoklimatologie Die Paläoklimatologie versucht anhand verschiedener Daten aus Klimaarchiven die unterschiedlichen klimatischen Verhältnisse in der Vergangenheit zu klären und daraus wiederum Rückschlüsse auf die klimatische Zukunft der Erde zu ziehen. Paläontologie Die Paläontologie ist die Wissenschaft des vergangenen Lebens, die sich mit den fossilen Zeugnissen vorzeitlicher Pflanzen (Paläobotanik) und Tiere (Paläozoologie) beschäftigt. Neben überlieferten Körperfossilien wie etwa Schalen, Zähne oder Knochen zählen Spurenfossilien wie Fraß- und Weidespuren, Grabgänge sowie einzelne Teile von Lebewesen (meist sind bei Pflanzen nur Blätter, Stämme oder Wurzeln überliefert), versteinerter Kot (Koprolithen) und chemisch veränderte Überreste zu den Fossilien. Petrologie und Petrografie Zwei Disziplinen, die feste Gesteine zum Untersuchungsgegenstand haben. Die Petrografie nimmt dabei eine mehr beschreibende Rolle ein. Die Petrologie wird aufgrund der Unterschiede bei der Entstehung von Gesteinen in drei Untergebiete eingeteilt: Petrologie magmatischer, metamorpher und sedimentärer Gesteine. Petrophysik Die Petrophysik befasst sich mit der Bestimmung von physikalischen Eigenschaften von Gesteinsproben. Sie hat besondere Bedeutung erlangt bei der Bewertung von Speichergesteinen für Erdöl und Erdgas. Sedimentologie Die Sedimentologie ist eine Subdisziplin der Sedimentpetrologie, die sich mit der Rekonstruktion und der Erforschung der Umweltbedingungen beschäftigt, die im Ablagerungszeitraum eines Sedimentkörpers heute herrschen oder in der geologischen Vergangenheit herrschten. Die entsprechenden Informationen werden aus dem Sedimentkörper selbst gewonnen, in mikroskopischem bis regionalem Maßstab. Stratigraphie Die Stratigraphie ist ein Zweig der Geologie und versucht unter anderem, Gesteine hinsichtlich ihres Entstehungsalters chronologisch in der geologischen Zeitskala einzuordnen. Je nachdem, auf welche Merkmale eines Gesteins sich die Stratigraphie stützt, unterscheidet man: Fossil- oder Biostratigraphie, Lithostratigraphie, Magnetostratigraphie und Sequenzstratigraphie. Tektonik Die Tektonik ist einerseits die Lehre vom gegenwärtigen Bau der Erdkruste z. B. „die Tektonik der Alpen“, andererseits von den Bewegungen und Kräften, die für den gegenwärtigen Zustand verantwortlich sind (siehe Erdkrustenbewegung und Plattentektonik). Umweltbeobachtung Die Umweltbeobachtung ist ein interdisziplinäres, oft praxisorientiertes Forschungsfeld, dessen Gegenstand Bestandsaufnahmen oder Langzeitbeobachtungen der belebten und unbelebten Umwelt in lokalem bis globalem Maßstab sind. Im Zuge der Erforschung der globalen Erwärmung und ihrer Auswirkungen hat sich ein eigenes untergeordnetes Forschungsfeld gebildet, der Global Change research. Vulkanologie Der Gegenstand der Vulkanologie sind die vulkanischen Phänomene der Erde. Wirtschaftsgeologie Die Wirtschaftsgeologie oder Lagerstättengeologie benutzt bei der Suche nach ökonomisch wertvollen Rohstoffen (Exploration) neben klassischen geologischen Techniken, wie Kartierung und Probennahme im Gelände, auch Methoden der Geochemie, Geophysik und Fernerkundung. Zur Klärung der Genese von Lagerstätten sind besonders die Vorstellungen über den Fluss von unterirdischen, mineralisierenden Lösungen (Fluide) wichtig. Die Lagerstättenlehre nutzt bei der Aufsuchung und Ausbeutung von Erzlagerstätten v. a. Erkenntnisse der Tektonik und Strukturgeologie. Bei der Suche nach fossilen Brennstoffen, sowie nach nichtmetallischen Rohstoffen, benötigt man auch Kenntnisse der Paläontologie (besonders Mikrofossilien) und Sedimentologie. Siehe auch Liste geowissenschaftlicher Themen Studiengänge Deutschland In den letzten Jahren sind an vielen deutschen Universitäten die Studiengänge Geologie, Geophysik und Mineralogie zum Studiengang „Geowissenschaften“ fusioniert. Die Studiengänge Meteorologie, Geographie, Hydrologie, Geoökologie, Geotechnik, Geodäsie, Kartografie und Geoinformatik konnten hingegen meist ihre Eigenständigkeit erhalten. Geowissenschaftliche Studiengänge können in Deutschland an nahezu allen Universitäten studiert werden, unterscheiden sich aber in ihren Inhalten bzw. Vorlesungen. Die meisten Universitäten legen im Studiengang „Geowissenschaften“ gezielt Schwerpunkte und ermöglichen eine spezielle Ausrichtung des Studiums, wobei diese Möglichkeit von Hochschule zu Hochschule sehr unterschiedlich an den Teilbereichen Geologie, Geophysik und Mineralogie ausgerichtet sein kann. Österreich In Österreich können Geowissenschaften an folgenden Universitäten studiert werden: Universität Salzburg Geologie Geographie Geoinformatik Universität Innsbruck Atmosphärenwissenschaften (Bachelor) Erdwissenschaften (Bachelor) Geographie (Bachelor) Atmosphärenwissenschaften (Master) Erdwissenschaften (Master) Geographie (Master) Geographie und Wirtschaftskunde (Lehramt) TU Graz & Karl-Franzens-Universität Graz im Rahmen von NAWI Graz Erdwissenschaften Geographie (nur an der KFU Graz) Geomatics Engineering (Bachelor) / Geomatics Science (Master) (nur an der TU Graz) Geo-Spatial Technologies (Master) Montanuniversität Leoben Angewandte Geowissenschaften Natural Ressources Universität Wien Erdwissenschaften Geographie Geographie und Wirtschaftskunde Kartographie und Geoinformation (Master) Meteorologie Paläobiologie (Master) Raumforschung und Raumordnung (Master) Technische Universität Wien Geodäsie und Geoinformatik Geodäsie und Geophysik (Master) Geoinformation und Kartographie (Master) Raumplanung und Raumordnung Vermessung und Katasterwesen (Master) Universität für Bodenkultur Wien Landschaftsplanung und Landschaftsarchitektur Umwelt- und Bioressourcenmanagement (Master) Wasserwirtschaft und Umwelt (Master) Mountain Risk Engineering (Master) Natural Resources Management and Ecological Engineering (Master) Schweiz In der Schweiz können Geowissenschaften an folgenden Universitäten studiert werden: Universität Freiburg Erdwissenschaften Universität Zürich Erdwissenschaften ETH Zürich Erdwissenschaften mit Vertiefungsrichtung Geologie Erdwissenschaften mit Vertiefungsrichtung Geophysik Erdwissenschaften mit Vertiefungsrichtung Ingenieurgeologie Erdwissenschaften mit Vertiefungsrichtung Mineralogie und Geochemie Umweltnaturwissenschaften mit Vertiefungsrichtung Biogeochemie und Schadstoffdynamik Universität Basel Geowissenschaften Universität Bern Erdwissenschaften Haute école d'Ingénierie et de Gestion du Canton de Vaud Ingénierie de territoire Hochschule für Technik und Architektur Freiburg Geomatik, Bau- und Raumentwicklung Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik, Muttenz BL Msc in Engineering mit Vertiefungsrichtung Geoinformationstechnologie Bekannte Geowissenschaftler Georgius Agricola Walter Christaller Stephen Jay Gould Arthur Holmes Carl Friedrich Gauß Alexander von Humboldt James Hutton Charles Lyell Georg von Neumayer William Smith Nicolaus Steno alias Nils Stensen Alfred Wegener Abraham Gottlob Werner Carl Troll Eduard Suess Siehe auch Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (Deutschland) Geologische Bundesanstalt (Österreich) GeoUnion Alfred-Wegener-Stiftung (Dachverband der geowissenschaftlichen Vereinigungen und Forschungseinrichtungen in Deutschland) Literatur Carsten Drebenstedt (Hg.): Living on Planet Earth, TU Bergakademie Freiberg 2016, ISBN 978-3-86012-518-2 Carsten Drebenstedt (Hg.): Auf der Erde leben, TU Bergakademie Freiberg 2015, ISBN 978-3-86012-518-2 Hans Murawski, Wilhelm Meyer: Geologisches Wörterbuch. Spektrum, Heidelberg 2004, ISBN 978-3-8274-1445-8. Adolf Watznauer: Wörterbuch Geowissenschaften (englisch–deutsch). Verlag Harri Deutsch, Thun / Frankfurt am Main 1978, ISBN 3-87144-139-2. Weblinks Virtuelle Fachbibliothek Geowissenschaften, Geographie, Bergbau, Thematische Karten, Geo-Leo Berufsverband Deutscher Geowissenschaftler e. V. Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR Hannover) Forum rund um die Geowissenschaften Planet Erde ein Portal des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zum Thema Geowissenschaften GeoUnion Alfred-Wegener-Stiftung Einzelnachweise Wissenschaftliches Fachgebiet Studienfach
1936
https://de.wikipedia.org/wiki/Glagolitische%20Schrift
Glagolitische Schrift
Die glagolitische Schrift oder auch Glagoliza (in slawistischer Schreibweise auch Glagolica; bulgarisch/​mazedonisch глаголица, serbokroatisch glagoljica) ist die älteste slawische Schrift. Die Glagoliza (von altkirchenslawisch glagol „Sprache“) ist eine Buchstabenschrift und wurde von Kyrill von Saloniki (826–869) erdacht. Geschichte Entwicklung der glagolitischen Schrift Das glagolitische Alphabet wurde um 863 von dem byzantinischen Mönch Konstantin von Saloniki (Kyrill) für die Mission in Pannonien und Mähren weiterentwickelt. Da das griechische Alphabet für die slawischen Sprachen nur eingeschränkt geeignet war und Konstantin die kulturelle Eigenständigkeit der Slawen betonen wollte, konzipierte er die glagolitische Schrift als „Abstandschrift“; d. h., er legte ihr zwar das griechische System (Buchstaben mit Laut- und numerischer Funktion) zugrunde, schuf jedoch ein formal unabhängiges, neues Alphabet. Als Quellen dienten ihm neben den griechischen Minuskeln auch kaukasische (insbesondere das armenische oder georgische) und semitische Schriftsysteme. Aus der konstruktiven Urform der Glagoliza entwickelte sich zunächst eine runde, dann auch eine eckige Variante: die runde Glagoliza dominierte im bulgarisch-mazedonisch-serbischen Raum, die jüngere eckige vor allem in Kroatien (Dalmatien, Istrien). Die kyrillische Schrift, die im späten 9. Jahrhundert neu entstanden war, übernahm einige Zeichen der glagolitischen Schrift (ohne Zahlwert), und zwar für Laute, die im Slawischen vorhanden waren, im Griechischen dagegen fehlten. Geschichte des Schriftgebrauchs Kyrill hatte die Schrift für die slawischen Sprachen entwickelt. Die liturgischen und theologischen Texte für den Aufbau einer Kirche in Mähren und Pannonien wurden ausschließlich in Glagoliza geschrieben, oft als Übersetzungen griechischer Texte. Nach dem Tod Methods im Jahre 885 verließen seine Schüler Mähren und gingen ins Bulgarische Reich. Dort entstanden besonders in der Schule von Ohrid weitere Abschriften und Texte in glagolitischer Schrift. Seit dem 9. Jahrhundert entwickelte sich im Bulgarischen Reich auch die kyrillische Schrift. Diese verdrängte die Glagoliza bis ins 12. Jahrhundert dort vollständig. In Dalmatien blieb sie für die katholische Liturgie gebräuchlich, die sie nutzenden Kleriker wurden Glagoljaši genannt. 1248 erlaubte Papst Innozenz IV., die Messe dort in kirchenslawischer Sprache zu halten, die liturgischen Texte wurden in glagolitischer Schrift geschrieben. In Serbien konnte sich die Glagoliza bis ins 13. Jahrhundert halten. Das erste mit glagolitischen Lettern gedruckte Buch erschien 1483 in Venedig (Missale Romanum Glagolitice). Besonders auf der Insel Krk und in der nordwestkroatischen Region Istrien hielt sich die Glagoliza. Für die im 19. Jahrhundert entstehende Nationalbewegung der Kroaten wurde sie ein Zeichen der Abgrenzung gegen den lateinischen Westen und den orthodoxen Osten. Auch in der kroatischen katholischen Kirche blieb sie in Gebrauch. Noch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erschien ein katholisches kirchenslawisches Messbuch in glagolitischer Schrift. Die Glagoliza gilt noch heute in Kroatien als nationales Symbol. So zeigen die nationalen Seiten der seit Januar 2023 gültigen kroatischen Euromünzen zu 1 Cent, 2 Cent und 5 Cent eine Ligatur der Buchstaben Ⱈ (H) und Ⱃ (R) gemäß dem internationalen Länderkürzel HR für Kroatien laut ISO-3166-1. Auch wird sie häufig als Verzierung verwendet (z. B. als Schmuck, bei Logos oder als Tätowierung). Alphabet Die Buchstaben des glagolitischen Alphabets: Handschriften 10. bis 13. Jahrhundert 14. bis 15. Jahrhundert Drucke (15. bis 17. Jahrhundert) Inschriften Denkmäler Ein weiteres Denkmal mit der Aufschrift „Sunčanik“ befindet sich in Senj, exakt am 45. Breitengrad. Siehe auch Tafel von Baška Glagolitische Zahlen Glagolitischer Ritus Literatur Heinz Miklas: Die slavischen Schriften: Glagolica und Kyrillica. In: Wilfried Seipel (Hrsg.): Der Turmbau zu Babel. Ursprung und Vielfalt von Sprache und Schrift. Band 3: Schrift. Teilband: A. Kunsthistorisches Museum u. a., Wien u. a. 2003, ISBN 3-85497-055-2, S. 243–249 (Ausstellungskatalog). Heinz Miklas (Hrsg.): Glagolitica. Zum Ursprung der slavischen Schriftkultur. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2000, ISBN 3-7001-2895-9 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Philologische Abteilung. Schriften der Balkan-Kommission. 41) Helmut Jachnow: Eine neue Hypothese zur Provenienz der glagolitischen Schrift – Überlegungen zum 1100. Todesjahr des Methodios von Saloniki. In: Renate Rathmayr (Hrsg.): Slavistische Linguistik 1985. Referate des XI. Konstanzer Slavistischen Arbeitstreffens, Innsbruck, 10.–12. September 1985. Sagner, München 1986, ISBN 3-87690-345-9, S. 9–93 (Slavistische Beiträge 200). Sharon Golke Fullerton: Paleographic Methods used in Dating Cyrillic and Glagolitic Slavic Manuscripts. Department of Slavic Languages & Literatures – Ohio State University, Columbus OH 1975 (Ohio State University Slavic Papers. 1). Valentin Kiparsky: Tschernochvostoffs Theorie über den Ursprung des glagolitischen Alphabets. In: Manfred Hellmann u. a. (Hrsg.): Cyrillo-Methodiana. Zur Frühgeschichte des Christentums bei den Slaven. 863–1963. Böhlau, Köln u. a. 1964, S. 393–400 (Slavistische Forschungen 6, ). František Přikryl: Denkmale der heiligen Konstantin (Cyrill) und Method in Europa. H. Kirsch, Wien 1920, S. 92ff. Vatroslav Jagić: Glagolitica. Würdigung neuentdeckter Fragmente. Tempsky, Wien 1890 (Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Bd. 38, Abh. 2, ). Dobrowsky’s Glagolitica. Ueber die glagolitische Literatur, das Alter der Bukwitza, ihr Muster nach welchem sie gebildet worden, der Ursprung der römisch-slavischen Liturgie, der Beschaffenheit der Dalmatinischen Uebersetzung, die man dem Hieronymus zuschrieb. 2. verbesserte und viel vermehrte Ausgabe. Mayregg, Prag 1832. Weblinks Croatian Glagolitic Script sehr informativ (englisch) Croatian Glagolitic Manuscripts held outside of Croatia Glagolitische Handschriften und Drucke außerhalb Kroatiens (englisch) Uni-Hausarbeit über die geschichtliche Entwicklung von Glagolica und Kyrillica (deutsch) Glagolitische Schriften (kroatisch) Weiterführende Informationen (kroatisch) Bilder verschiedener slawischer Schriften. Uni Bamberg Einzelnachweise Slawische Sprachen Slawische Geschichte Kultur (Bulgarien) Kultur (Kroatien) Kultur (Serbien) Nationales Symbol (Kroatien) Kyrill und Method
1937
https://de.wikipedia.org/wiki/Gr%C3%B6nland
Grönland
Grönland (, ) ist ein politisch selbstverwalteter Bestandteil des Königreichs Dänemark. Der überwiegende Teil der Landesfläche besteht aus der größten Insel der Erde, gelegen im Nordatlantik bzw. Arktischen Ozean. Das Gebiet, das geografisch zu Nordamerika und geologisch zu dessen arktischer Teilregion gezählt wird, verfügt über die nördlichste Landfläche der Erde und ist nur spärlich besiedelt. Die gesamte Bevölkerung lebt an der Küste, vor allem im Westen des Landes. Grönland war in vorkolonialer Zeit von Inuit bewohnt, bevor es ab 1721 von Dänemark-Norwegen kolonisiert wurde und 1814 an Dänemark fiel. Es wird heute hauptsächlich von den Kalaallit, die gemischter inuitisch-skandinavischer Abstammung sind, bewohnt. Nachdem das Land über zwei Jahrhunderte lang eine abgeschottete Kolonie war, die hauptsächlich dazu diente, Europa mit tierischen Ölen zu versorgen, wuchs der Nationalismus ab Ende des 19. Jahrhunderts und ließ ab dem Zweiten Weltkrieg den Wunsch nach Selbstbestimmung wachsen. Daraufhin wurde Grönland 1953 dekolonisiert und in das Königreich Dänemark eingegliedert, woraufhin umfangreiche Modernisierungsmaßnahmen ergriffen wurden, die zu einer Umwälzung der bis dahin traditionell lebenden Gesellschaft führte. Daraus resultierten soziale Probleme, die bis heute den grönländischen Diskurs prägen und unter anderem den Wunsch nach mehr Autonomie wachsen ließen. Daraufhin erhielt Grönland 1979 Autonomie, die 2009 ausgeweitet wurde. Seither herrscht in der Öffentlichkeit und Politik eine Debatte über die vollständige Unabhängigkeit vor. Als autonomer Bestandteil des Königreichs Dänemark hat Grönland bereits jetzt eine eigene Regierung und ein eigenes Parlament und ist in den meisten Bereichen politisch von Dänemark unabhängig. Die vollständige Unabhängigkeit wird jedoch derzeit mehrheitlich als unrealistisch aufgefasst, da Grönland wirtschaftlich nahezu vollständig von der Fischerei lebt und mit seiner geringen, aber stark verteilten Bevölkerung und dem daraus resultierenden Defizit zwischen staatlichen Einnahmen und Ausgaben finanziell von dänischen Subventionen abhängig ist. Name Der Name Grönland ist die deutsche Schreibung des dänischen Grønland, das wörtlich übersetzt „Grünland“ bedeutet. Dieser Name geht auf altwestnordisch Grœnland zurück. Erik der Rote hatte das Land bei seiner Ankunft in Südgrönland im späten 10. Jahrhundert so genannt, nach der Íslendingabók von Ari Þorgilsson deswegen, weil es „die Leute ermutigen würde, dorthin zu gehen, da das Land einen guten Namen hatte“. Die Geschichte von Ari wurde mit dem Aufblühen der isländischen Literaturtradition im 13. Jahrhundert wieder aufgegriffen und taucht u. a. in der Landnámabók und in der Eiríks saga rauða auf. Für Adam von Bremen dagegen, der ferne Länder oft fabelhaft beschrieb, hatte das Land seine Bezeichnung von seinen Bewohnern erhalten, die durch das Meerwasser, an dem sie wohnten, eine grünliche Färbung annahmen. Die grönländischsprachige Eigenbezeichnung ist Kalaallit Nunaat, was übersetzt „Land der Kalaallit“ bedeutet und damit eine Ableitung von der Volksbezeichnung der Kalaallit (Sg. Kalaaleq) darstellt. Es ist weitgehend akzeptiert, dass es sich hierbei um eine Entlehnung aus dem altnordischen skrælingr handelt, das an die grönländische Phonotaktik angepasst wurde. Der Begriff wurde in der Wikingerzeit genutzt, um die in Grönland und Kanada lebenden Inuit zu bezeichnen. Im Labrador-Dialekt des Inuktitut findet sich gleichermaßen der bereits im 18. Jahrhundert belegte Begriff karaaliq zur Bezeichnung eines Grönländers. Auch im Grönländischen war im 18. Jahrhundert noch die Form mit r belegt, das aber in Lehnwörtern üblicherweise zu l wurde. Auf Grönländisch ist es üblich, Grönland nicht beim offiziellen Namen, sondern als Nunarput („Unser Land“) zu bezeichnen, was sich flektiert in zahlreichen Namen für Institutionen wie Nunatta Katersugaasivia Allagaateqarfialu („Das Museum und Archiv unseres Landes“), Nunatta Atuagaateqarfia („Die Bibliothek unseres Landes“) oder Nunatta Isiginnaartitsisarfia („Das Theater unseres Landes“) wiederfindet. Diese Bezeichnung ist bereits bei Otto Fabricius in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts belegt, der aber auch Kalaallit Nunaat als Alternativbezeichnung nennt. Geografie Einteilung nach Himmelsrichtungen Begriffe wie „Nordgrönland“, „Südgrönland“ etc. sind nicht eindeutig definiert und werden je nach geografischem und historischem Kontext sehr unterschiedlich gebraucht. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestand das kolonisierte Grönland nur aus der Westküste. Sie war ab 1782 in die zwei Inspektorate Nordgrönland und Südgrönland unterteilt, wobei die Grenze zwischen Attu im Norden und Sisimiut im Süden verlief. Mit der Kolonisierung der außerhalb Westgrönlands liegenden Gebiete und offiziell seit 1950 wurden die bisherigen Landesteile Nord- und Südgrönland zu Westgrönland (Kitaa) zusammengefasst und um Ostgrönland (Tunu) und Nordgrönland (Avanersuaq) ergänzt. Diese verloren später mit der rechtlichen Gleichstellung aller Landesteile wieder an Bedeutung. Das unbewohnte Gebiet nördlich des bewohnten Ostgrönlands mit dem Nordost-Grönland-Nationalpark ist als „Nordostgrönland“ bekannt. Die Bezeichnungen „Nordgrönland“ und „Südgrönland“ werden heute im allgemeinen Sprachgebrauch nicht genau definiert benutzt. Mit „Südgrönland“ wird meist das Gebiet der Kommune Kujalleq bezeichnet. „Nordgrönland“ kann hingegen je nach Herkunft des Sprechers das Gebiet des alten Inspektorats oder nur das Gebiet nördlich der Halbinsel Nuussuaq bezeichnen. Letzteres wird auch als „Nordwestgrönland“ bezeichnet, wobei dieser Begriff auch nur auf den Landesteil Nordgrönland (Avanersuaq) bezogen sein kann. Landschaftsform Allgemeines Grönland reicht von 59° 46′ nördlicher Breite am Kap Farvel (nur etwa 50 km nördlicher als die Südspitze Norwegens) bis 83° 40′ nördlicher Breite an der Kaffeklubben Ø beim Kap Morris Jesup und ist 2670km lang. Die Breite beträgt maximal 1050km vom Kap Alexander im Westen bis Nordostrundingen im Osten. Grönlands Nordküste ist mit 740 km Abstand die dem Nordpol am nächsten gelegene größere zusammenhängende Landmasse. Seit dem Jahr 2022 besitzt Grönland auf der Hans-Insel eine Landgrenze zu Kanada. Das gesamte grönländische Inland ist von einem Eisschild bedeckt, der auf einem teils unter dem Meeresspiegel liegenden Becken ruht. Er macht vier Fünftel der Landesfläche aus. Die eisfreien Küstenbereiche machen rund 410.000 km² aus und sind in der Fläche damit etwas größer als Deutschland. Angaben zur Gesamtfläche Grönlands variieren zwischen 2.166.086 km² und 2.486.000 km². Im Norden der Insel liegt der vereiste Arktische Ozean mit seinen Randmeeren Lincolnsee und Wandelsee. Im Osten grenzt sie an die Grönlandsee, Dänemarkstraße und Irmingersee, im Westen an die Baffin Bay, Davisstraße und Labradorsee, alles Randmeere des Atlantiks. Im Nordwesten geht Grönland in die sehr zerklüftete und weitläufige Inselwelt der Königin-Elisabeth-Inseln über. Dort ist Grönland durch die Naresstraße, die die Baffin Bay mit der Lincolnsee verbindet und bereits zum Arktischen Ozean gehört, von Ellesmere Island (Teil der Königin-Elisabeth-Inseln) getrennt. Auf Weltkarten wird Grönland oft stark verzerrt dargestellt. Da es nicht möglich ist, die Oberfläche der kugelförmigen Erde ohne Verzerrungen auf eine flache Karte abzubilden, kann eine Weltkarte nicht zugleich längentreu, flächentreu und winkeltreu sein. In der winkeltreuen klassischen Mercator-Projektion erscheint die Insel Grönland mit ihren rund 2,2 Mio.km² infolge hoher geografischer Breite überaus groß dargestellt, verglichen etwa mit Kontinenten wie Afrika (30 Mio.km²) oder Australien (8,6 Mio.km²). Andererseits erscheint Grönland dafür beispielsweise in der flächentreuen Peters-Projektion vertikal zusammengedrückt. Küstengeografie Der eisfreie Küstenstreifen ist unterschiedlich breit, teilweise reicht das Inlandseis auch bis direkt an die Küste heran. Vor allem im Westen und Osten ist die Küste von mehreren tausend Fjorden, Buchten und Meerengen zerschnitten, durch die der Hauptinsel ebenso viele Inseln und Schären vorgelagert sind. Dadurch beträgt die grönländische Küstenlänge etwa 44.000km (Maßstab 1:250.000, siehe Küstenlänge #Messung von Küstenlängen). Der Norden und Nordwesten Grönlands um den Distrikt Qaanaaq ist geprägt von bis zu 100km breiten Gletschern wie dem Humboldt Gletsjer und massiven eisfreien Küstenbereichen, denen nur wenige Inseln vorgelagert sind. Südlicher liegt die Melville-Bucht und südlich davon der Distrikt Upernavik, wo das gesamte Festland vom Inlandeis bedeckt ist. Ihm vorgelagert liegen hunderte meist kleine Inseln. Südlich davon finden sich im Distrikt Uummannaq und in der Diskobucht nur wenige größere Inseln vor der Küste, wobei der eisfreie Küstenstreifen hier durchschnittlich etwa 20km breit ist. Im zentralen Westgrönland ist dieser bis zu knapp 200km breit und von ebenso langen Fjorden und hunderten kleinen vorgelagerten Inseln geprägt. Nach Süden hin verringert sich die Breite auf etwa 50km. Südgrönland ist noch etwas stärker von Fjorden zerfurcht. Hier ist das Land etwa 70 bis 120km landeinwärts eisfrei. Die grönländische Ostküste hat kaum eisfreie Bereiche und nur wenige, kleinere Inseln. Im Nordosten erreicht der Küstenstreifen wieder Breiten von bis zu 200km und ist von langen Fjorden und großen Inseln gezeichnet. Die grönländischen Fjorde gehören zu den größten und tiefsten der Welt. Rund 150 Fjorde münden direkt ins Meer und die meisten haben zahlreiche Nebenfjorde, die sie speisen. Der Kangertittivaq in Ostgrönland ist mit einer Länge von 300km, einer Breite von 40km, einer Fläche von rund 10.000 km² und einer Tiefe von bis zu 1450m bzw. bis zu 1000 m in seinen elf Nebenfjorden der größte der Welt. Die Fjorde frieren im Winter zu, ebenso wie die meisten umliegenden Meere mit Ausnahme Südwestgrönlands und einigen Polynjas, wobei sich das winterliche Meereis in den letzten Jahrzehnten stark zurückgezogen hat. Am Ende der Fjorde befinden sich häufig vom Inlandeis kommende Gletscher, die wie der Jakobshavn Isbræ gewaltige Mengen Eis ins Meer kalben lassen. Das schmelzende Eis lässt auch unzählige Bäche, Flüsse und Seen entstehen, die kleine Ökosysteme bilden. Die größte Nebeninsel Grönlands ist die 8578 km² große Diskoinsel in der Diskobucht in Westgrönland. Die Inselküsten sind größtenteils massive relativ steile Felsküsten, aber vor allem auf dem Festland, wo Schmelzwasser und Wellen Sedimente transportieren können, gibt es Flussdeltas und Sandstrände. Bis auf einige kleinflächige Regionen an der Westküste (etwa an der südlichen Disko-Bucht) ist das Hinterland aller Küsten Grönlands von Gebirgen geprägt, die vielfach Hochgebirgscharakter haben. Richtung Inland ragen oft nur noch die steilsten Gipfelbereiche als Nunatat aus dem Eis. Der höchste Berg ist der Gunnbjørn Fjeld in Ostgrönland mit 3694 m Höhe. Inlandsgeografie Das grönländische Inland ist vollständig von einem bis zu 3200 m mächtigen, durchschnittlich 1800 m starken Eisschild bedeckt. Er ist der zweitgrößte Eisschild des Planeten, nur übertroffen vom stellenweise mehr als 4800 m dicken antarktischen Eisschild. Mit einem Volumen von rund 3 Mio. km³ könnte er ganz Deutschland unter einer über acht Kilometer dicken Eisschicht begraben. Jährlich fällt Schnee in den zentralen Bereichen, der mit der Zeit zu Eis verdichtet wird und sich dann langsam bergab in Küstrichtung bewegt, wo er in den wärmeren Bereichen abschmilzt oder als Eisberge ins Meer kalbt. Dieser Prozess dauert üblicherweise rund 10.000 Jahre. Durch Untersuchungen lässt sich das Alter des Eises wie bei Jahresringen von Bäumen bestimmen, allerdings ist das Eis in den tieferen Bereichen bereits so verdichtet, dass das älteste so bestimmbare Eis nur 130.000 Jahre alt ist. Die Vereisung setzte vor etwa 2,7 Millionen Jahren ein. Damals setzte durch die Schließung der Landenge von Panama eine neue Phase des känozoischen Eiszeitalters ein, die Gebirge im Osten der Insel waren hoch genug gehoben worden und die Insel in ausreichende Polnähe geraten, um die bis heute anhaltende Vergletscherung auszulösen. Das Festland unter dem Inlandeis liegt bedingt durch die Last des Eisschilds teilweise bis zu 200 Meter unter dem Meeresspiegel. Das Makrorelief unter dem Eis konnte durch moderne Radartechnik mit der Auswertung der Ergebnisse der Operation IceBridge der NASA von 2009 bis 2019 kartografiert werden. Darin befindet sich auch der 2013 entdeckte Grand Canyon von Grönland, der mit mindestens 750km Länge, 10km Breite und 800m Tiefe größer als der Grand Canyon im Westen der USA ist. Durch die globale Erwärmung ist das grönländische Inlandeis einem kontinuierlichen Abschmelzprozess ausgesetzt. Zwischen 2011 und 2014 verlor der Eisschild auf Grönland im Schnitt etwa 269 Mrd. Tonnen (ca. 293 km³) Eis pro Jahr. Der Massenverlust hat sich seit den 1980er Jahren versechsfacht. Würde das gesamte Inlandeis Grönlands (2,85 Mio. km³) schmelzen, würde der Meeresspiegel weltweit um 7,4 Meter steigen. Von der Eislast befreit würde die Insel in ihren Zentralbereichen, die bisher teilweise unter den Meeresspiegel gedrückt sind, durch postglaziale Landhebung um rund 800 Meter aufsteigen. Geologie Der Grönländische Schild begann sich vor etwa 3,9 bis 2,6 Milliarden Jahren im Archaikum zu bilden, während die jüngeren Teile des Schilds etwa 1,8 Milliarden Jahre alt sind und somit aus dem Paläoproterozoikum stammen. Der archaische Schild macht heute noch den südwestlichen und südöstlichen Teil der Insel aus. Die ältesten Teile lassen sich in der Region Isua nordöstlich von Nuuk finden, wo in einem Grünsteingürtel im Isua-Gneis in bis zu 3,7 Mrd. Jahre alten Gesteinen Hinweise auf Leben gefunden wurden, was der älteste bekannte Nachweis für Leben überhaupt wäre. Die paläoproterozoischen Teile des Schilds befinden sich im restlichen Teil der Westküste sowie im zentralen Ostgrönland. Der Schild konsolidierte sich vor etwa 1700 bis 1900 Millionen Jahren durch einen Zusammenstoß einer Kontinentalplatte von Süden, die in einer Gebirgsbildung die nördlicheren Gesteine zusammendrückte und somit verband. Dieser Zusammenstoß lässt sich noch heute darin erkennen, dass die meisten Fjorde landeinwärts in nördliche Richtung verlaufen (siehe auch Streichrichtung). Die archaischen und paläoproterozoischen Gesteine in Südwest- und Südgrönland enthalten Goldvorkommen (siehe auch Goldbergwerk Nalunaq). Dazu kommen mehrere Bändereisenerzvorkommen in ganz Westgrönland, während Nickel-, Titan-, Chrom-, Molybdän- und Vanadium-Vererzungen in den alten Gesteinen in West- und Ostgrönland vorkommen. In den paläoproterozoischen Bereichen des Schilds in Westgrönland lassen sich weiters wirtschaftlich relevante Vorkommen von Edelsteinen wie Diamanten, Rubinen und Saphiren finden. Grönland war nun Bestandteil des präkambrischen Kontinents Laurentia, der vor etwa 1100 Millionen Jahren ein Teil von Rodinia wurde. In der Zeitspanne von 1600 bis 400 Millionen Jahren vor heute bildeten sich vor allem in den Küstenbereichen heute noch bis zu fünf Kilometer mächtige Schichten (Tafelland) aus Sedimenten und vulkanischen Gesteinen, vor allem Sandstein, Kalkstein und Basalte. Diese umfassen zunächst mesoproterozoische Sandstein- und Basaltschichten in Nordgrönland, marine Sedimente in Ostgrönland und ebenso alte Sandstein- und Basaltschichten und Intrusionen (z. B. Granit) in Südgrönland, die Kryolith und Seltene Erden führen. Es folgen neoproterozoische Sandstein-, Ton- und Kalksteinschichten in Nord- und Ostgrönland, die die mesoproterozoischen Schichten teils überdecken. Zuletzt wurden altpaläozoische marine Kalksteinschichten in Nord- und Ostgrönland abgelagert, nachdem Rodinia vor rund 800 Millionen Jahren zu zerfallen begonnen hatte und sich der Iapetus-Ozean zwischen Laurentia und Baltica bildete. Vor über 400 Millionen Jahren (Silur) schloss sich der Iapetus-Ozean wieder, sodass aus Laurentia und Baltica der Kontinent Laurussia entstand, aus dem später Pangaea hervorging. Die Kollision von Laurentia und Baltica sorgte für die Kaledonische Gebirgsbildung. Bei dieser Gebirgsbildung entstanden aus den Sedimenten und Vulkaniten unterschiedliche Metamorphite. Zwischen dem folgenden Devon und dem Paläogen entstanden in Ost- und Nordostgrönland weitere sechs bis acht Kilometer mächtige terrestrische Sandsteinschichten und später durch eine Überflutung marine Sandstein- und Tonschichten, die reich an marinen Fossilien sind. Auch in der Diskobucht im Westen bildete sich eine solche Sedimentschicht mit organischem Material, woraus die heutigen Braunkohlevorkommen stammen. Die Sedimentgesteine in Nordwest- und Nordostgrönland enthalten Vorkommen von Zink, Kupfer und Blei. Als Pangaea sich im Mesozoikum aufzulösen begann und sich der Atlantische Ozean öffnete, entstand die Labradorsee westlich von Grönland, während Grönland im Osten noch am heutigen Europa hing. Diese Verbindung zerbrach jedoch vor rund 55 Millionen Jahren (Paläogen) ebenfalls, und das bereits von Nordamerika getrennte Grönland begann mit diesem nach Westen zu driften, wodurch Grönland zur Insel wurde. Dies geschah in Verbindung mit starkem Vulkanismus, was sich sowohl im Westen in der Diskobucht als auch im Osten in der Gegend um Ittoqqortoormiit (Watkins-Gebirge) durch fünf bis zehn Kilometer mächtige vulkanische Flutbasaltschichten bemerkbar macht. Die Gesteinsschichten der Kaledonischen Gebirgsbildung wurden bei dieser Auftrennung in mehrere Teile zerrissen und verteilen sich somit heute auf Ostgrönland, Norwegen, die Nordsee, Schottland und Irland. In Ostgrönland wurden sie wieder angehoben und liegen nun von jüngeren Sedimenten unverdeckt an der Erdoberfläche vor. Durch den Beginn des Känozoischen Eiszeitalters wurde Grönland vor rund zwei Millionen Jahren von einem Eisschild überdeckt, der beinahe über die gesamte Landfläche reichte und die überdeckten Gesteine glazial formte. Vor etwa 14.000 bis 10.000 Jahren zog sich der Eisschild an seine heutige Position zurück und hinterließ so die glazial geprägten Küstenstreifen. Klima Heutiges Klima Die Klimaverhältnisse unterscheiden sich innerhalb Grönlands stark. In den Küstenbereichen herrscht ein subpolares Klima, im Norden und im Inland hingegen polares Klima. Das Klima ist stark von den Jahreszeiten abhängig. Entlang der Küste unterscheiden sich die Temperaturverhältnisse im Sommer im Norden Grönlands nur wenig von denen im Süden, was durch die konstante Sonneneinstrahlung der Mitternachtssonne begründet ist. Im Winter sinkt die Temperatur aufgrund der fehlenden Sonne hingegen umso stärker im Norden. Neben der Sonneneinstrahlung hat auch die von den Eisverhältnissen abhängige Wassertemperatur einen großen Einfluss auf die Temperatur der Luft. An der Westküste wird das Klima durch den Grönlandstrom gemildert, den hier der Nordatlantische Strom und der Golfstrom mit relativ warmem Wasser versorgen. Rund 100 km landeinwärts ist das Klima deutlich kontinental geprägt, ähnlich dem Klima Sibiriens oder Mittelalaskas. Die geringe Temperatur des Inlandeises lässt sich mit der starken Reflexion des Sonnenlichts durch das Eis erklären. Auf dem Inlandseis wurden bis zu rund −70 °C gemessen, während in Maniitsoq im Juli 2013 +25,9 °C erreicht wurden. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt in Grönland üblicherweise unter dem Gefrierpunkt, nur in Südgrönland leicht darüber, wobei sie im Inlandeis größtenteils bei unter −20 °C liegt und auch im Sommer nur an den an die Küste grenzenden Bereichen über den Gefrierpunkt kommt. In den Küstenbereichen entspricht die Niederschlagsmenge etwa der Oslos. In den kontinentalen Inlandsbereichen und in Nordgrönland fällt hingegen deutlich weniger Niederschlag, sodass diese Gebiete als Kältewüsten klassifiziert werden können. Auch in Kangerlussuaq, das als einziger Ort Grönlands mehr als 100km vom Ozean entfernt liegt, fällt nur ein Fünftel der Niederschlagsmenge der Küstenstädte. Wegen der Temperaturen fällt der Niederschlag häufig als Schnee, im Sommer jedoch als Regen. Schnee im Sommer ist möglich, Regen im Winter jedoch selten. Die klimatischen Verhältnisse in Grönland sind stark von der Geografie geprägt, da das hohe Inlandeis Luftmassen aufstauen lässt. Die Windverhältnisse sind deutlich variabler als in Europa. An der grönländischen Küste ist es häufig windstill, aber Föhnwinde und katabatische Winde strömen häufig plötzlich von den Gebirgen hinab und sorgen so für starke Stürme. Der bekannteste von ihnen ist der Piteraq, der in Ostgrönland auftritt und dort in bewohnten Bereichen für starke Zerstörungen sorgen kann. Meist gibt es leichte Winde, die tageszeitenabhängig fjordauf- oder -abwärts wehen. Quartäre Klimaänderungen Der grönländische Eisschild stellt ein Klimaarchiv dar, das in seinen ältesten Schichten Aufschluss über klimatische Verhältnisse vor bis etwa 130.000 Jahren, dem Beginn des letzten Interglazials (Eem-Warmzeit), geben kann. Bei Dye 3 im südlichen Grönland wurde unter dem mehr als 2000 Meter dicken Eis Material mit DNA-Spuren von Kiefern, Eiben und Erlen sowie von Schmetterlingen und anderen Insekten gefunden, die wahrscheinlich ein Alter zwischen 450.000 und 800.000 Jahren aufweisen. Die Forscher vermuten daher, dass das südliche Grönland vor der Vergletscherung während der Riß-Kaltzeit ein bewaldetes Land mit deutlich wärmerem Klima als heute war. Die Besiedelung Grönlands im Mittelalter durch die Grænlendingar und die Thule-Kultur geht zeitlich mit der Mittelalterlichen Warmzeit einher. Während der Kleinen Eiszeit in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends sank die Temperatur hingegen wieder. Um 1890 begann die Temperatur wieder zu steigen und erreichte einen Höhepunkt in den 1930er und 1940er Jahren. Das Klima wurde dabei allgemein deutlich maritimer, also mit geringeren Temperaturschwankungen im Laufe des Jahres. Anschließend blieb die Temperatur gleich und sank leicht, ab den 1950er Jahren wieder stärker. Diese Klimaänderung hatte großen Einfluss auf die grönländischen Eisverhältnisse und damit auch auf die wirtschaftliche Grundlage, weg vom Robbenfang hin zur Fischerei. Durch die größtenteils menschlich verursachte globale Erwärmung steht das Ökosystem Grönlands vor schweren Veränderungen. 2015 zeigte die Arktis erste Zeichen von irreversiblen Veränderungen; unter anderem könnte ein Temperaturanstieg zwischen 1 °C und 4 °C das fast vollständige Abschmelzen des grönländischen Eises auslösen. Das Risiko, das sich durch die Aktivierung weiterer Kippelemente ergibt, ist dabei von der Höhe des Temperaturanstieges abhängig und ist bei einer stärkeren Erwärmung umso größer. Seit 1990 hat sich bis Ende der 2010er Jahre die Durchschnittstemperatur im Sommer um 1,8 °C und im Winter um 3 °C erhöht. Durch vermehrte Regenereignisse wird das Abschmelzen der grönländischen Gletscher weiter beschleunigt, und die Bewölkung verhindert, dass viel Wärme entweichen kann. Flora und Vegetation Grönland wird von einem vegetationslosen Eisschild dominiert, und pflanzliches Leben konzentriert sich auf die eisfreien Küstenregionen. Diese Küstengebiete lassen sich aufgrund der klimatischen Verhältnisse in drei verschiedene Biome aufteilen, die jedoch allesamt durch das Fehlen von geschlossenen Wäldern charakterisiert sind. Die hocharktische Vegetationszone erstreckt sich vom 71. Breitengrad, also von einer nördlich von Uummannaq bis Ittoqqortoormiit verlaufenden Linie, nach Norden. Die flachen Gebiete sind als klassische Tundra von Bewuchs von Arktischer Weide, Vierkantiger Schuppenheide und anderen Zwergsträuchern sowie Moosen geprägt. Die Berggebiete sind hingegen Kältewüsten. Die niederarktische Vegetationszone erstreckt sich südlich des 71. Breitengrades, im niederschlagsarmen Inland noch weiter nördlich. Dort finden sich vor allem Weidengewächse, die eine Höhe von 0,5 bis 3 Metern erreichen können. Die subarktische Vegetationszone befindet sich in Südgrönland, umfasst aber auch die kontinentalen Gebiete weiter nördlich, vor allem um Kangerlussuaq und Kapisillit. Sie umfasst das einzige Waldtundragebiet Grönlands, im Qinngoq Avannarleq (Qinnguadalen), einem Talgebiet nordöstlich von Tasiusaq. Dort treten flache Moor-Birken und Mehlbeerbäume auf. Bei Kapisillit gibt es strauchartige Grün-Erlen und Weiden. Im niederschlagsarmen Kangerlussuaq gibt es dennoch weniger Vegetation, sodass auch hier eher von Tundra zu sprechen ist. Auf Grönland wachsen rund 1600 Arten von Pilzen, 1000 Arten von Flechten und 600 Arten von Moosen. Dazu kommen etwa 520 Arten höherer Pflanzen, von denen rund 30 endemisch sind. Zu den höheren Pflanzen gehören Farne, Bärlapppflanzen, Wacholder und zahlreiche Bedecktsamer wie Hahnenfußgewächse, Rosengewächse, Steinbrechgewächse, Kreuzblütler, Nelkengewächse, Heidekrautgewächse, Nachtschattengewächse, Korbblütler, Binsengewächse, Sauergrasgewächse und Süßgräser. Vor allem aufgrund der klimatischen Verhältnisse gibt es nur wenige Wasserpflanzen in Grönland, wobei Algen dennoch einen wichtigen Teil der Nahrungskette in den Süßwässern darstellen. Zu den wichtigsten Wasserpflanzen gehören Laichkräuter, Gewöhnlicher Tannenwedel, Wassersterne und Igelkolben. Fossilien weisen darauf hin, dass vor 55 Millionen Jahren Wälder überwiegend aus Mammutbäumen und Laubbäumen existierten. Vor 900.000 bis 450.000 Jahren war Grönlands eisfreier Küstenstreifen bewaldet, unter anderem mit Erlen, Fichten, Kiefern und Eiben. Der Klimawandel führt derzeit dazu, dass die Pflanzen eher blühen können. Er führt aber auch zu starken Veränderungen in der grönländischen Biodiversität, was eine erhöhte politische Aufmerksamkeit für den Naturschutz mit sich führt. Mehr als 40 % der grönländischen Landfläche stehen unter Naturschutz, wovon der Nordost-Grönland-Nationalpark den größten Teil ausmacht. Fauna Grönlands Fauna ist gut erforscht. Archäologische Untersuchungen ermöglichen Erkenntnisse zu früher in Grönland lebenden Tieren. Dazu kommen Beschreibungen der Tierwelt aus schriftlichen Quellen, begonnen bei altnordischer Literatur in Form des Konungs skuggsjá (um 1230) und später wissenschaftlichen Beschreibungen von Hans Egede, seinen Söhnen Poul und Niels Egede sowie Otto Fabricius. Später wurden zahlreiche Expeditionen zur Erforschung der grönländischen Fauna durchgeführt. Auf dem grönländischen Land und im Meer leben zahlreiche Säugetiere, Vögel, Fische und Insekten, während Reptilien und Amphibien nicht vorkommen. Die grönländische Landfauna ist in zwei geografische Zonen geteilt, die durch die Melville-Bucht und den Kangertittivaq getrennt werden. Nord- und Nordostgrönland wurden durch die Nares-Straße von Kanada aus besiedelt, allerdings vermochten es die meisten Tiere nicht, die vom Inlandeis geprägten Küstengebiete nach Süden hin zu überwinden. (Südost- und) Westgrönland wurden entweder über ebendiese Küstengebiete besiedelt oder mittels Treibeis von Baffin Island aus. Landsäugetiere In Grönland gibt es nur wenige Arten von Landsäugetieren. In der südlichen Zone kommen Rentiere, Schneehasen und Polarfüchse vor. Wilde Rentiere leben vor allem im zentralen Westgrönland um Sisimiut und Maniitsoq. Schneehasen und Polarfüchse leben auch in der nördlichen Zone. Ausschließlich in der nördlichen Zone leben Moschusochsen und Hermeline sowie der Nördliche Halsbandlemming, dessen Bestand die Vorkommen seiner Fressfeinde stark beeinflussen kann. Durch die Ankunft von Polarwölfen in Nordostgrönland starben um 1900 die Rentiere dort aus. Später verschwand auch der Polarwolf wieder. Im 20. Jahrhundert wurden europäische Rentiere sowie Moschusochsen zur Fleischproduktion in Westgrönland angesiedelt. Der Eisbär lebt ebenfalls hauptsächlich in der nördlichen Zone, bewegt sich auf Treibeis aber regelmäßig in die bewohnten Gebiete West- und Ostgrönlands, wo er eine Gefahr für Menschen, aber auch eine Nahrungsquelle darstellt. Er wird von der Bevölkerung nicht als Landsäugetier, sondern als Meeressäugetier klassifiziert. Meeressäugetiere In den Gewässern vor Grönlands Küste leben zahlreiche Walarten: Grönlandwale, Zwergwale, Buckelwale, Grindwale, Schweinswale, Schwertwale, Blauwale, Finnwale, Narwale und Weißwale. Neben den Walen gibt es sechs Robbenarten, von denen die Ringelrobbe die verbreitetste ist. Daneben gibt es Bartrobben, Walrösser, Sattelrobben, Klappmützen und wenige Seehunde. Vögel Die grönländische Vogelwelt lässt sich ebenfalls in Land- und Seevögel unterteilen. Unter den an Land lebenden Vögeln sind in der südlichen Zone folgende von größerer Bedeutung: Alpenschneehühner, Kolkraben, Schneeammern, Spornammern, Steinschmätzer, Birkenzeisige und Polar-Birkenzeisige leben in ganz Westgrönland. Dazu kommen mehrere Vogelarten, die nur regional vorkommen: Wacholderdrosseln in Südwestgrönland, Strandpieper in Nordwestgrönland und Wiesenpieper nur im Südosten. Des Weiteren gibt es mehrere Raubvögel: Im Westen und Südwesten leben Seeadler, dazu kommen Wanderfalken und Gerfalken. Zu den Küsten- und Ufervögeln gehören Meerstrandläufer, Odinshühnchen, Thorshühnchen, Mittelsäger, Eistaucher, Sterntaucher, Eisenten, Stockenten, Kragenenten und Blässgänse. In der nördlichen Zone leben Schneeeulen, Gerfalken, Falkenraubmöwen, Schneehühner, Schneegänse, Ringelgänse, Weißwangengänse, Kurzschnabelgänse, Regenpfeifer, Steinwälzer, Knuttstrandläufer, Alpenstrandläufer und Sanderlinge. Seevögel leben häufig an den grönländischen Vogelfelsen. Zu ihnen gehören Eiderenten, Prachteiderenten, Trottellummen und Krabbentaucher, die eine große Rolle spielen. Dazu kommen kleinere Kolonien von Papageitauchern, Tordalken, Kormoranen und Gryllteisten. In Grönland gibt es zudem zahlreiche Möwenarten, wie die Dreizehenmöwe, Eismöwe, Polarmöwe, Mantelmöwe, Schmarotzerraubmöwe, Falkenraubmöwe, Küstenseeschwalbe sowie die selteneren Schwalbenmöwe, Elfenbeinmöwe und Rosenmöwe. Weitere vor der Küste lebende Vögel sind der Eissturmvogel und der Große Sturmtaucher. Insgesamt gibt es rund 235 Vogelarten in Grönland, von denen rund 60 in Grönland brüten und die meisten Zugvögel sind. Durch die Klimaänderungen haben sich in den letzten Jahrzehnten neue Vogelarten in Grönland angesiedelt, wie die Heringsmöwe und die Kanadagans. Aufgrund der evolutionsmäßig betrachtet geringen Zeitspanne seit der letzten Eiszeit haben sich keine endemischen Vogelarten in Grönland entwickeln können, dafür aber haben Blässgans, Stockente, Alpenstrandläufer und Alpenschneehuhn grönländische Unterarten entwickelt. Fische und Weichtiere Die Gewässer in und um Grönland werden von zahlreichen Fischarten bevölkert, darunter rund 250 Arten im Meer. In den Flüssen und Seen leben Seesaiblinge, Dreistachlige Stichlinge und Lachse. Die Fischerei stellt wegen der zahlreichen Speisefische einen wichtigen Wirtschaftszweig dar. Im Meer leben Rotbarsche, Gestreifter Seewolf, Schwarzer Heilbutt, Heilbutt, Lachse, Lodden, Grönlandhaie, Seehasen, Atlantischer Hering, Doggerscharben, Vahls Wolfsfisch, Polardorsch, Groppen, Rochen, Uuaq, Lumbe, Rundnasen-Grenadier, Blaulenge, Schellfische, Köhler, Makrelen, Blauer Wittling und Westatlantischer Sandaal. Unter den Garnelen spielt die Eismeergarnele die größte Rolle. Daneben kommen Krabben, Tintenfische und Mies- und Kammmuscheln vor. Gliederfüßer Auf Grönland leben etwa 1200 Insektenarten und Spinnentiere. Zu ihnen gehören vor allem Stech- und Kriebelmücken, Gnitten, Schmeißfliegen, Schmetterlinge (Spanner, Wickler und Eulenfalter), Marienkäfer, Wolfspinnen und Kreuzspinnen. Dazu kommen Schnecken und Regenwürmer. Siedlungsgeografie Verwaltungsgliederung Grönland ist in fünf (bis 2018 vier) Kommunen aufgeteilt, die im Zuge einer Kommunalreform im Jahr 2009 gebildet wurden. Die Qaasuitsup Kommunia wurde 2018 in die Avannaata Kommunia und die Kommune Qeqertalik aufgespalten. Neben den fünf Kommunen gibt es mit dem unbewohnten Nordost-Grönland-Nationalpark und der Thule Air Base (Pituffik) zwei gemeindefreie Gebiete. Die fünf Kommunen sind folgende (Einwohnerzahlen vom 1. Januar 2021): Historisch war Westgrönland bis 1950 in eine im Laufe der Zeit variierende Zahl an Koloniedistrikten aufgeteilt, zuletzt elf. Diese verteilten sich auf die zwei Inspektorate Nordgrönland und Südgrönland. Die Koloniedistrikte waren seit 1911 in gut 60 Gemeinden unterteilt. 1950 wurde festgelegt, dass Grönland aus drei Landesteilen besteht: Westgrönland (Kitaa), das aus den beiden bisherigen Inspektoraten bestand, und die beiden administrativ eingegliederten Landesteile Ostgrönland (Tunu) und Nordgrönland (Avanersuaq). Von da an bestand Grönland aus 19 und später 18 Gemeinden, die größtenteils deckungsgleich mit den vorherigen Koloniedistrikten waren. Die 18 Gemeinden wurden 2009 zu den vier Kommunen zusammengelegt. Die bisherigen Gemeinden bestehen darunter als Distrikte weiter, dienen aber eher statistischen und kulturellen als administrativen Abgrenzungszwecken. Ortschaften Die Inuit lebten früher halbnomadisch, lebten also immer an dem Ort, wo man Nahrung finden konnte, und zogen dann zum nächsten Wohnplatz weiter. Durch die Kolonialisierung wurden an manchen Orten Handels- und Missionsstationen mit Infrastruktur errichtet. Zuerst entstanden Kolonien, die für ein bestimmtes Gebiet (die Koloniedistrikte) zuständig waren, ab etwa 1800 wurden auch Udsteder gegründet, die einer Kolonie untergeordnet waren und als lokales Zentrum innerhalb des Distrikts dienten. Zahlreiche Wohnplätze erhielten nie eine Infrastruktur und wurden regelmäßig besiedelt und verlassen. Anfang des 20. Jahrhunderts nahm die Mobilität ab und die Wohnplätze wurden dauerhafter besiedelt. In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden fast alle Wohnplätze aufgegeben und die Bevölkerung zog in die ehemaligen Udsteder und Kolonien, die zu Dörfern und Städten wurden. Nur eine Handvoll Wohnplätze überlebten diese Phase und wurden dann ebenfalls als Dörfer klassifiziert. Heute gibt es in Grönland 17 Städte, 55 Dörfer, rund 30 südgrönländische Schäfersiedlungen und einige bewohnte Stationen verschiedener Art. Die Städte dienen als Lokalzentrum für die umliegenden Dörfer. Die meisten Orte liegen an der Westküste der Insel. Dazu kommen sieben Orte an der Ostküste. Die 17 grönländischen Städte sind auf der obigen Karte verzeichnet. Mittlerweile lebt ein Drittel der grönländischen Bevölkerung in der Hauptstadt Nuuk (rund 19.600 Einwohner). Die nächstgrößere Stadt ist Sisimiut mit etwa 5.400 Einwohnern. Sechs Städte haben mindestens 2.000 Einwohner, weitere sieben zwischen 1.000 und 2.000 Einwohner. Vier Städte haben unter 1.000 Einwohner. Die kleinste Stadt ist Ittoqqortoormiit mit etwa 350 Einwohnern. Mit jeweils rund 450 bis 500 Einwohnern sind die beiden Dörfer Kangerlussuaq und Kullorsuaq größer als Ittoqqortoormiit. Die übrigen Dörfer haben maximal 300 Einwohner, die kleinsten unter 20 Einwohner. Bevölkerung Zusammensetzung Grönland hat etwa 56.000 Einwohner. Von diesen sind etwa 89 % in Grönland geboren und 11 % außerhalb. Etwa 96,5 % der Bevölkerung haben die dänische Staatsbürgerschaft. Die Einwohnerzahl ist seit den 1990er Jahren stabil, nachdem sie sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts etwa verfünffacht hatte. Da weder in Grönland noch in Dänemark der ethnische Hintergrund untersucht wird, können nur Umfragen und Schätzungen zur ethnischen Bevölkerungsstruktur abgegeben werden. Üblicherweise ist das Grönländischsein eine Frage der Selbstidentifikation. Eine Studie von 2019 hat ergeben, dass etwa 92 % der grönländischen Bevölkerung sich als Grönländer identifizieren, was gut 51.300 Personen entspricht. Die übrige Bevölkerung von rund 5.000 Personen besteht aus dänischen Staatsbürgern nichtgrönländischer Identität und Ausländern. Letztere machen knapp 2.000 Personen aus. Von diesen sind rund 37 % Philippiner, 16 % Thailänder und 6 % Isländer. Weitere signifikante Minderheiten (mindestens 50 Personen) sind Polen, Sri Lankaer, Schweden, Chinesen, Norweger und Deutsche. Ethnien Als Grönländer werden im rechtlichen Sinne alle dänischen Staatsbürger mit Wohnsitz in Grönland bezeichnet, ungeachtet ihrer Ethnizität. Im ethnischen Sinn gilt als Kalaallit (Singular Kalaaleq) hingegen nur der Teil der Bevölkerung, der Inuit-Vorfahren hat und in der Regel Grönländisch (Kalaallisut) spricht. Ein Teil dieser Gruppe unterhält seinen Wohnsitz in Dänemark. Ethnologisch lassen sich die Kalaallit in drei Gruppen unterteilen, die sich in Herkunft, Geschichte und Sprache unterscheiden. Auch hier wird keine Statistik geführt, sodass Zahlen nur geschätzt werden können: Die Kitaamiut (Westgrönländer) bewohnen den traditionellen Landesteil Kitaa, der von der Melville-Bucht bis zum Kap Farvel reicht. Sie machen mit rund 47.000 Menschen den größten Teil der Bevölkerung aus und sind der, der 1721 kolonialisiert wurde. Die Tunumiit (Ostgrönländer) leben heute in der Gegend um Tasiilaq sowie in Ittoqqortoormiit im Landesteil Tunu. Sie wurden Ende des 19. Jahrhunderts kolonialisiert. Sie machen rund 3.500 Personen aus. Die Inughuit (Nordgrönländer) leben in und um Qaanaaq im Landesteil Avanersuaq. Sie wurden Anfang des 20. Jahrhunderts kolonialisiert. Sie sind mit rund 800 Mitgliedern die kleinste Gruppe. Die Kujataamiut in Südgrönland gehören zu den Kitaamiut, haben sich aber im 19. Jahrhundert durch Zuwanderung mit den Tunumiit vermischt. Wegen der unterschiedlichen Geschichte bezeichnen sich beispielsweise manche Inughuit nicht als Kalaallit, um ihre eigene Ethnizität hervorzuheben. Der größte Teil der grönländischen Bevölkerung, vor allem die Kitaamiut, ist gemischt-ethnisch und stammt teils von den Inuit der Thule-Kultur, die nach dem Jahr 1000 von Norden kommend die grönländische Küste besiedelten, teils von den dänischen, in selteneren Fällen norwegischen, isländischen und schwedischen Kolonialangestellten ab, die vom 18. bis zum 20. Jahrhundert in Grönland dienten. 80 % der Grönländer haben heutzutage auch europäische Vorfahren, wobei der europäische Anteil der Gene durchschnittlich 31 % der DNA ausmacht. Lediglich die Tunumiit und Inughuit haben wesentlich weniger europäische Genanteile, weil ihre Gebiete erst um 1900 kolonialisiert wurden. Die Nachnamen der grönländischen Bevölkerung sind teils während der Missionierung neu gebildete Patronyme zu dänischen (bspw. Petersen, Olsen, Jensen, Nielsen, Hansen) oder biblischen Namen (bspw. Jeremiassen, Petrussen, Filemonsen, Isaksen, Tobiassen), teils die Nachnamen der europäischen Stammväter. Wie in Dänemark, so sind auch in Grönland viele Nachnamen deutschen Ursprungs (bspw. Heilmann, Kleist, Kreutzmann, Fleischer, Chemnitz). Die Grönländer sind nicht zu verwechseln mit Grænlendingar, den skandinavischen Siedlern, die vom 10. bis zum 15. Jahrhundert in Westgrönland lebten. Sprachen Einzige offizielle Amtssprache in Grönland ist die grönländische Sprache (Kalaallisut). Daneben ist Dänisch Verkehrssprache, das in der Schule erste Fremdsprache ist. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war Grönländisch nahezu die einzige in Grönland genutzte Sprache, auch unter den im Land tätigen Dänen. Anschließend wurde großer Fokus auf den Dänischunterricht gelegt und durch den starken Zuzug dänischer Arbeitskräfte erhielt Dänisch eine sehr präsente Stellung im Alltag, was für viele Grönländer dieser Generation in schlechteren Grönländischkenntnissen resultierte. Ab den 1970er Jahren wurde wieder mehr Wert auf die Grönländische Sprache gelegt. Es gibt keine offiziellen und aktuellen Untersuchungen zur Sprachsituation in Grönland. 2003 sprachen rund 25 % nur schlecht Dänisch, knapp 40 % sprachen gut Dänisch, bevorzugten aber Grönländisch, gut 20 % waren vollständig zweisprachig, knapp 10 % waren dänischsprachig mit schlechten Grönländischkenntnissen und nur knapp 5 % dänischsprachig mit guten Grönländischkenntnissen. Der Anteil an Grönländern mit schlechten Dänischkenntnissen war zu diesem Zeitpunkt seit den 1980er Jahren stark rückläufig, der Anteil an guten Dänischsprechern und Zweisprachigen stark zunehmend. Dänisch ist in den Städten – vor allem in Nuuk – weiter verbreitet als in den Dörfern. Gymnasial- und Universitätsbildung findet auf Dänisch statt, womit Sprachkenntnisse eine Voraussetzung für eine weiterführende Ausbildung sind. Auch am Arbeitsplatz und in der Verwaltung überwiegt die dänische Sprache. Unter der nicht-grönländischen Bevölkerung in Grönland ist die Kenntnis der grönländischen Sprache kaum existent. Die grönländische Sprache ist in sich dialektal stark zersplittert. Teilweise kann man Personen anhand ihres Dialekts nach ihrem Herkunftsort zuordnen. Generell wird die grönländische Sprache gemäß der ethnischen Gruppen in Kitaamiusut (Westgrönländisch), Tunumiisut (Ostgrönländisch) und Inuktun (Nordgrönländisch) unterteilt. Kitaamiusut lässt sich weiter unterteilen, wobei die nördlichen und südlichen Dialekte starke ostgrönländische Sprachkontakteinflüsse aufweisen. Religion Die traditionelle Religion der Inuit wurde im Zuge der Missionierung ab dem 18. Jahrhundert vom Christentum abgelöst. Ursprünglich gab es zwei parallele Missionierungsprozesse in Grönland, bei denen ein Teil der westgrönländischen Bevölkerung von der Dänischen Mission geprägt wurde, ein anderer von der Herrnhuter Brüdergemeine. Eine besondere Rolle bei der Missionierung spielten die grönländischen Katecheten, die an Grønlands Seminarium ausgebildet wurden. 1900 wurden die Mitglieder der Herrnhuter Brüdergemeine in die dänische Mission überführt. In Westgrönland wurden um 1810, in Ostgrönland 1921 und in Nordgrönland 1934 die letzten „Heiden“ missioniert. Heute gehören 95 % der grönländischen Volkskirche an, die seit 1905 existiert und ein Teil der dänischen Volkskirche ist und deren Vorsitzende die Bischöfin von Grönland ist. Andere Religionen spielen kaum eine Rolle. Seit 1958 gibt es eine katholische Gemeinde mit rund 300 Mitgliedern in Nuuk, der hauptsächlich philippinische Einwanderer angehören. Daneben gibt es rund 500 Angehörige der Pfingstbewegung, rund 150 Zeugen Jehovas, rund 100 Angehörige der Brüderbewegung, einige Baptisten, Angehörige der Heilsarmee und der Neuapostolischen Kirche. In den letzten Jahrzehnten gab es auch einige Adventisten und Mormonen. Die rund 150 Bahai gehören der einzigen aktiven nichtchristlichen Glaubensgemeinschaft in Grönland an. Insgesamt geben 98,5 % der Bevölkerung an, Christen zu sein. Auch wenn Grönländer keiner schamanistischen Religion mehr angehören, sind die Inuit-Mythen kulturell aber noch bewusst. Knapp die Hälfte der Bevölkerung glaubt an Geister. Geschichte Ur- und Frühgeschichte und Mittelalter (bis 15. Jahrhundert) Grönland wurde um etwa 2500 v. Chr. erstmals von Alaska aus über Kanada besiedelt und bildete in Nordostgrönland die Independence-I-Kultur, die Moschusochsen jagte, aber bereits um 1800 v. Chr. wieder verschwand, sowie in West-, Ost- und Nordwestgrönland die Saqqaq-Kultur, deren Angehörige von der Robben- und Rentierjagd lebten und um 2400 v. Chr. nach Grönland kam und 700 v. Chr. wieder verschwand. Beide Kulturen waren vermutlich dasselbe Volk, das mit kurzem Abstand nach Grönland kam, sich aber in unterschiedliche Richtungen ausbreitete und deswegen vermutlich keinen Kontakt hatte. In der folgenden Zeit war Grönland vermutlich wieder unbewohnt. Um 600 v. Chr. kam eine neue Besiedelungswelle aus Kanada, die in Nordgrönland die Independence-II-Kultur und in West-, Nordwest- und Ostgrönland die Dorset-Kultur bildete. Die Independence-II-Kultur lässt sich letztmals 450 v. Chr. nachweisen, während die Dorsetkultur bis etwa Christi Geburt nachweisbar ist. In neuerer Forschung wird die Independence-II-Kultur als Teil der Dorset-Kultur betrachtet. Übrige Angehörige der Dorset-Kultur in Kanada kamen um 700 n. Chr. erneut von dort nach Grönland und besiedelten das mittlerweile unbewohnte Land wieder, allerdings nur im Nordwesten. Vermutlich im späten 9. oder frühen 10. Jahrhundert entdeckten erstmals Europäer Grönland. 982 musste Erik der Rote aus Island fliehen und landete im Südwesten Grönlands. Er gab der Insel ihren Namen Grænland (altnordisch für „Grünland“). 986 begann durch isländische Siedler in Südgrönland eine Landnahme im Gebiet um Brattahlíð. Die skandinavischen Siedler in Grönland wurden Grænlendingar genannt. In den folgenden Jahren zogen einige von ihnen weiter nach Norden, wo sie sich im Fjordkomplex des Nuup Kangerlua bei Nuuk niederließen. Die südliche Besiedelung wurde Eystribyggð (Ostsiedlung) genannt, die nördliche Vestribyggð (Westsiedlung). Ab dem Jahr 1000 wurden die Grænlendingar durch Eriks Sohn Leif Eriksson christianisiert und in Garðar wurde ein Bischof eingesetzt. Zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert bestand auch ein Handelsverkehr mit Vinland in Nordamerika. Vermutlich um 1150 kam eine neue eskimoische Besiedelungswelle aus Alaska nach Grönland, die sich erneut sowohl im Westen als auch im Osten niederließ. Diese Siedler gehörten der Thule-Kultur an bzw. in Westgrönland der weiterentwickelten Inussuk-Kultur. Es wird davon ausgegangen, dass sie in Grönland Kontakt mit der Dorset-Kultur hatten, deren Angehörige in Sagen als Torngit/Tornit bekannt sind, und diese letztendlich verdrängten. Ebenso ist der Kulturkontakt zwischen Inuit und Grænlendingar bewiesen. Während in den ersten Jahrhunderten noch Handelsverkehr zwischen Grönland und Norwegen stattfand, zu dem sich die Grænlendingar 1261 zugehörig erklärt hatten, hörte dieser im 14. Jahrhundert auf. Um 1400 verschwand die Vestribyggð und um 1450 auch die Eystribyggð, womit die Grænlendingar nach knapp 500 Jahren aus bisher nicht abschließend geklärten Gründen verschwunden waren. Walfängerzeit und erste Jahre nach der Kolonisierung (16. Jahrhundert bis 1782) Im späten 16. Jahrhundert und frühen 17. Jahrhundert wurde Grönland von mehreren Expeditionsseefahrern besucht und in der Folge von holländischen, hamburgischen und englischen Walfängern für den Walfang genutzt, was zu verstärkten Kontakten zwischen Inuit und Europäern führte. Obwohl Dänemark Grönland für sich proklamierte, konnten sie selbst durch den Dreißigjährigen Krieg wirtschaftlich geschwächt keinen erfolgreichen Walfang aufbauen. Der europäische Walfang in Grönland intensivierte sich mit dem abnehmenden Walfang vor Spitzbergen ab etwa 1700 und setzte sich bis weit in die Kolonialzeit bis etwa 1800 fort. 1721 erhielt der norwegische Pastor Hans Egede vom dänischen König Friedrich IV. die Erlaubnis in Grönland eine Missionsstation zu errichten, um die Grænlendingar, von denen er annahm, dass sie vom Glauben abgefallen oder noch katholisch waren, evangelisch zu missionieren. Hans Egede gründete mit seiner Familie die Kolonie Haabets Ø in der Nähe von Kangeq und begann gemeinsam mit seinen Söhnen Poul und Niels mit der Mission der dortigen Inuit, nachdem er festgestellt hatte, dass die Grænlendingar verschwunden waren. Ein zweiter Stützpunkt in Nipisat wurde 1724 begründet, aber im Folgejahr von holländischen Walfängern zerstört. Die wirtschaftliche Lage des Projekts war anfangs katastrophal und führte 1727 zum Bankrott von Det Bergen Grønlandske Compagnie, der zuständigen Handelskompanie. 1728 wurde Haabets Ø nach Nuuk versetzt und in Godthaab umbenannt. Nipisat wurde wieder aufgebaut und Claus Paarss mit der militärischen Verwaltung beauftragt, aber der dänische Walfang in Grönland war völlig erfolglos und die Anwesenheit von Soldaten ohne Effekt, sodass Nipisat 1730 aufgegeben und 1731 erneut zerstört wurde. Nach dem Tod von König Friedrich IV. im selben Jahr beschloss sein Nachfolger Christian VI. die vollständige Abwicklung des Kolonieprojekts, ließ es den Kolonisten jedoch frei, in Grönland zu bleiben. Hans Egede und seine Familie sowie eine Handvoll Walfänger machten von dem Recht Gebrauch. 1733 begann auch die Herrnhuter Brüdergemeine in Grönland tätig zu werden und in direkter Nachbarschaft zu Hans Egede zu missionieren. Im selben Jahr fiel ein Großteil der in der Gegend lebenden Inuit einer aus Europa eingeschleppten Pockenepidemie zum Opfer. Christian VI. ließ sich derweil von der Sinnhaftigkeit der Kolonisierung Grönlands überzeugen und genehmigte dem Kaufmann Jacob Severin 1734 die Übernahme des Handels. Dieser gründete im selben Jahr die Kolonie Christianshaab in Qasigiannguit. Sie lag in der Diskobucht, in der die Holländer äußerst erfolgreich Walfang betrieben. Die Konkurrenz entwickelte sich rasch zu einem Konflikt, bei dem Dänemark den Niederlanden verbieten wollte, weiter mit der Bevölkerung Tauschhandel zu betreiben. Zur Ausweitung der Aktitiväten wurden 1741 die Kolonie Jakobshavn in Ilulissat und die Loge Claushavn in Ilimanaq gegründet sowie in Südgrönland im Jahr darauf die Kolonie Frederikshaab in Paamiut. 1750 wurde Jacob Severins Handelsmonopol an Det Almindelige Handelskompagni übergeben, die fortan mit dem Handel in Grönland beauftragt wurde. Die Kompanie setzte auf eine weitere Ausweitung der Handelsaktivitäten in Grönland, um die Erträge effektivieren zu können und somit mit den wirtschaftlich überlegenen holländischen Walfängern konkurrieren zu können. Innerhalb weniger Jahre wurden zwischen 1754 und 1774 weitere Kolonien und andere Handelsstützpunkte errichtet. Die wirtschaftliche Lage blieb aufgrund des den erfahrenen Holländern gegenüber erfolglosen Walfangs problematisch, wodurch die Handelskompanie begann, sich mehr darauf zu konzentrieren, die Grönländer Robben fangen zu lassen und dann mit ihnen zu handeln. 1774 wurde Den Kongelige Grønlandske Handel (KGH) gegründet, der fortan alleinig mit dem Kolonialhandel in Grönland beauftragt wurde, während die zuvorige Kompanie für alle dänischen Kolonien zuständig gewesen war. Entwicklung kolonialer Strukturen und Umbruchsphase (1782 bis 1905) Der KGH organisierte die Kolonien 1782 neu. Das Land wurde in zwei Inspektorate eingeteilt: Nordgrönland und Südgrönland, auf die die an der grönländischen Westküste liegenden Kolonien aufgeteilt wurden. Beide Inspektorate wurden einem Inspektor unterstellt, der den Kolonialverwaltern der jeweiligen Kolonien übergestellt war. Zeitgleich nahm die holländische und englische Präsenz in Grönland ab, wovon der dänische Walfang jedoch nicht profitieren konnte. Es gelang ihnen trotz zahlreicher Versuche nie, einen florierenden Walfang in Grönland aufzubauen, und Anfang des 19. Jahrhunderts konzentrierte sich der KGH gänzlich auf den Robbenfang. Ab Ende des 18. Jahrhunderts wurden Udsteder gegründet, die als Handelsplatz für die umliegenden Wohnplätze dienten, um die Wege in die weit entfernten Kolonieorte zu verringern. Dadurch wuchsen die Handelsstrukturen stark an, was zu einer noch größeren Organisation und Effektivierung des Kolonialhandels führte, der dem KGH wirtschaftliche Überschüsse verschaffte und das Kolonieprojekt so endlich rentabel machte. 1807 brach der Kanonenbootkrieg zwischen England und Dänemark aus, der ein Teil der Napoleonischen Kriege war. Dadurch brach die Versorgung Grönlands ab und zudem hatte England verboten, Waren aus Grönland nach Dänemark zu bringen. Der größte Teil der Handels- und Missionsangestellten kehrte nach Europa zurück und brachte das Kolonialunternehmen in eine große Versorgungskrise, die durch schlechte Jagderträge und Epidemien verschlimmert wurde. In der Folge musste die Kolonie Upernavik ebenso wie zahlreiche Udsteder sogar zeitweise aufgegeben werden. Die Situation entspannte sich nach acht Krisenjahren erst im Jahr 1814 mit dem Kieler Frieden, bei dem Dänemark-Norwegen aufgelöst wurde, wobei Grönland an Dänemark fiel. Nach dem Krieg wurden zahlreiche neue Udsteder gegründet. Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts waren zudem nahezu alle Westgrönländer getauft und gehörten entweder der dänischen Mission oder der Herrnhuter Brüdergemeine an. Die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde zu einem Wendepunkt in der grönländischen Geschichte, als die Debatte aufkam, dass die bisher relativ unbeeinflusst und traditionell lebenden Grönländer kulturell weiterentwickelt werden sollten. 1845 wurden in Nuuk und Ilulissat zwei Seminare eröffnet (siehe Grønlands Seminarium), an denen Grönländer zu Katecheten ausgebildet werden sollen, ebenso wurden einige Jungen und Mädchen zur Ausbildung nach Dänemark geschickt. Das Seminarium in Ilulissat schloss 1875 wieder, während das in Nuuk zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten der grönländischen Geschichte hervorbringen sollte. Durch die zunehmende Europäisierung der grönländischen Bevölkerung begannen sich die traditionellen Sozialstrukturen aufzulösen, was zu wirtschaftlichen Problemen in vielen Familien führte, die sich nicht mehr richtig mit der Jagd versorgen konnten und abhängig von den europäischen Handelswaren geworden waren, was auch zu finanziellen Problemen beim KGH führte. In den späten 1850er Jahren wurden somit die ersten Forstanderskaber eingeführt, Räte in jedem der Koloniedistrikte, die erstmals ein Mitbestimmungsrecht für die Grönländer boten und unter anderem für die Rechtsprechung und für die Sozialversorgung der Bevölkerung zuständig war. 1861 schuf Inspektor Hinrich Johannes Rink, der schon für die Einführung der Forstanderskaber verantwortlich war, die Zeitung Atuagagdliutit. Durch Zeitungsdebatten, die wachsende Aufgeklärtheit und das Recht auf Mitbestimmung in der Forstanderskabern entstand ab dem späten 19. Jahrhundert erstmals ein Nationalgefühl bei den Grönländern, die bisher kaum ein Verständnis für Ereignisse außerhalb der eigenen lokalen Gemeinschaft hatten. Neuordnung und Zweiter Weltkrieg (1905 bis 1953) Die Herrnhuter hatten Grönland im Jahr 1900 verlassen und ihre Gemeindeangehörigen der dänischen Mission übertragen, da alle Grönländer getauft waren und sie ihre Aufgabe somit als erfüllt ansahen. 1905 wurde durch das Kirchen- und Schulgesetz auch von dänischer Seite das Missionsgebiet offiziell in die dänische Volkskirche eingegliedert und die Missionsdistrikte in Kirchengemeinden umgewandelt. Zugleich war jedoch 1894 die Missionierung der Tunumiit in Ostgrönland begonnen worden und 1909 die Missionierung der Inughuit in Nordwestgrönland. Aufgrund des sinkenden Marktinteresses für Robbentran durch die zunehmende Nutzung mineralischer Brennstoffe begann der KGH Ende des 19. Jahrhunderts wieder Handelsdefizite zu machen, was zu einer administrativen Neuordnung führte. 1911 wurden die Kolonialdistrikte in Gemeinden unterteilt, deren Hauptorte die Udsteder waren, und in jeder Gemeinde ein Gemeinderat eingeführt. Zugleich wurden die Forstanderskaber durch Grønlands Landsråd abgelöst, ein beratendes Parlament mit eingeschränkter Entscheidungsgewalt, das zweigeteilt für Nord- und Südgrönland zuständig war. Handel und Verwaltung wurden getrennt, fortan war Grønlands Styrelse für die Administration zuständig. 1925 wurde bei einer weiteren Reform das Amt des Inspektors in Nord- und Südgrönland durch den Landsfoged abgelöst. Zudem wurde in den Kolonialdistrikten ein Sysselrat als Zwischenstufe zwischen Gemeinderat und Landesrat eingeführt, der somit dieselben Gebiete abdeckte wie die alten Forstanderskaber. Im Zuge der zunehmenden wirtschaftlichen Probleme begann sich die Wirtschaftsstruktur zu wandeln und der Fokus wandelte sich ab dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts vom Robbenfang zur Fischerei. Daneben entstand in Südgrönland in dieser Zeit die Landwirtschaft als weiterer Wirtschaftszweig und der Bergbau intensivierte sich. Die neuen Wirtschaftsstrukturen führten zum Beginn einer Zentralisierung und Urbanisierung. Obwohl Dänemark Anspruch erhob, dass die gesamte Insel Grönlands eine dänische Kolonie sei, gab es immer wieder Streit mit Norwegen um die Ostküste Grönlands. Der Konflikt eskalierte 1931, als norwegische Fischer mit dem Wohlwollen ihrer Regierung das unbewohnte Eirik Raudes Land in Nordostgrönland und kurz darauf Fridtjof Nansens Land in Südostgrönland okkupierten. Der Ständige Internationale Gerichtshof in Den Haag entschied 1933, dass ganz Grönland zu Dänemark gehörte, womit die Territorialansprüche geklärt waren. Im Zweiten Weltkrieg wurde Dänemark am 9. April 1940 im Rahmen der Operation Weserübung von der Wehrmacht besetzt und blieb bis zum Kriegsende unter deutscher Besatzung. Damit war Grönland von Dänemark abgeschnitten. Die Landsfogeder übernahmen die Staatsgewalt und gemeinsam mit den beiden Landesräten stimmten sie einer Versorgung durch die Vereinigten Staaten zu. Diese gingen am 9. April 1941 mit dem dänischen Botschafter Henrik Kauffmann einen Vertrag ein, der die Errichtung von US-amerikanischen Basen in Grönland genehmigte, woraufhin Grönland erstmals eine militärstrategische Rolle einging. Nach dem Krieg entstand in Grönland eine Aufbruchstimmung und es wurde eine Dekolonisierung angestrebt. In der Folge wurden 1950 beide Landesteile vereinigt, die Kolonialdistrikte abgeschafft und durch neue Gemeinden ersetzt, womit es fortan nur noch einen Landesrat und 16 Gemeinderäte gab. Der Landsfoged wurde durch einen Landshøvding ersetzt. Zudem verlor der KGH das Handelsmonopol über Grönland und das Land wurde für den Freihandel geöffnet. Am 5. Juni 1953 wurde Grönland schließlich offiziell dekolonisiert und ein gleichwertiger Teil Dänemarks, der zudem zwei Sitze im Folketing erhielt. Postkolonialzeit (1953 bis 1979) Nach Kriegsende blieben die USA in Grönland präsent und bauten Anfang der 1950er Jahre einige ihrer Militärstationen zu größeren Luftstützpunkten aus, vor allem die Thule Air Base in Nordwestgrönland. Grönland spielte im Kalten Krieg eine zentrale Rolle, da das Land auf halber Strecke über den Nordpol zwischen den USA und der Sowjetunion lag. Nordgrönland und Ostgrönland wurden erst 1961 in die übrige Kommunalstruktur eingegliedert. Nach der Dekolonisierung setzte Dänemark alles daran, Grönland zu einem Landesteil auszubauen, der über denselben Lebensstandard wie der Rest des Landes verfügte. Die Infrastruktur wurde stark ausgebaut und das Gesundheitssystem verbessert, wodurch die bisher von Tuberkulose geprägte Sterberate stark zurückging und die Einwohnerzahl sich zwischen 1950 und 1970 auf rund 46.000 Menschen verdoppelte. Zugleich verzehnfachte sich die Zahl an in Grönland arbeitenden Dänen. Viele grönländische Kinder wurden für ein Jahr nach Dänemark in Internate und Pflegefamilien geschickt, um die dänische Sprache und Kultur zu erlernen. Mit der Zeit wurde Grönland stark danifiziert. Die als G50- bzw. G60-Politik bekannte Politik dieser zwei Jahrzehnte führte zu einer raschen Urbanisierung und der Aufgabe Dutzender Wohnplätze, während in den Städten Wohnblocks errichtet wurden. Die explosionsartige Modernisierung Grönlands begann in den 1960er Jahren deutliche Nebenwirkungen zu zeigen. Soziale Probleme, Alkoholabhängigkeit, Kriminalität und Selbstmorde verbreiteten sich, was mit der plötzlichen Kulturentfremdung der traditionellen fischerei- und jagdbasierten Dorfgemeinschaften hin zu einer industrialisierten Stadtbevölkerung in großen Teilen Grönlands begründet wird. Im Nachhinein wird die postkoloniale Periode in Grönland als eigentliche Einführung des Kolonialismus in Grönland gesehen, da durch die erzwungene Modernisierung die traditionelle grönländische Kultur in vielen Bereichen verschwand. Es entwickelte sich eine nationalistische Opposition, die die grönländische Mitbestimmung und eine Förderung der grönländischen Kultur forderte. 1973 trat Dänemark und damit auch Grönland der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei, was wegen der Fischereipolitik zu großem Widerstand in Grönland führte. Dies beförderte den Wunsch nach Autonomie noch mehr. Nach rund fünf Jahren Arbeit wurde in Grönland am 1. Mai 1979 die Hjemmestyre eingeführt und Grönland wurde autonom. Autonomie (seit 1979) Grönland erhielt 1979 ein Parlament und eine Regierung. Nach einem Referendum 1982 trat es 1985 aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aus. 1986 wurde der KGH, der bis 1950 das Handelsmonopol innegehabt hatte, aufgelöst und in eine Reihe Staatsunternehmen umgewandelt. Im Jahr darauf wurde auch die GTO, die für die Infrastruktur zuständig war, verstaatlicht und in Nuna-Tek umbenannt (heute Nukissiorfiit). In der Folge wurde 1987 das dänische Grönlandministerium aufgelöst. Grönland war wirtschaftlich stark von Dänemark abhängig und musste sich nach dem Ende des Fischereibooms auf die Garnelenfischerei konzentrieren. Ab den 1990er Jahren verstärkte sich die Urbanisierung noch mehr, zudem emigrierten immer mehr Grönländer nach Dänemark, während die sozialen Probleme in der Bevölkerung sich verstärkten. Nachdem um 2000 der Wunsch nach noch mehr Autonomie aufgekommen war, wurde am 21. Juni 2009 die Selvstyre („Selbstverwaltung“) eingeführt und Grönland erhielt unter anderem das Recht an den eigenen Rohstoffen. Grönland verfügt über große Rohstoffvorkommen, unter anderem Seltene Erden, deren Abbau jedoch umstritten ist und deswegen bisher nicht realisiert wurde. Zudem begann Grönlands militärstrategische und geopolitische Rolle wieder zuzunehmen, weswegen US-Präsident Donald Trump im Jahr 2019 der dänischen Regierung ein Kaufangebot für Grönland vorlegte, was international für Entrüstung und Spott sorgte. Politik Allgemeines Grönland ist ebenso wie das Kernland Dänemark und die Färöer ein autonomer Bestandteil des Königreichs Dänemark und bildet zusammen mit den anderen beiden Ländern die Rigsfællesskab („Reichsgemeinschaft“). Die drei Länder haben eine enge Zusammenarbeit, die in den vergangenen Jahren intensiviert wurde, aber aufgrund politischer Spannungen auch mehr und mehr herausgefordert wird. Im Außenverhältnis dieser Reichsgemeinschaft ist Grönland Teil internationaler Verträge und Abkommen mit Dänemark, beispielsweise ist es Mitglied der NATO. Die grönländische Verfassung ist das 1953 beschlossene dänische Grundgesetz (Danmarks Riges Grundlov), was in dessen § 1 festgeschrieben ist. Grönland ist laut § 1 des Selvstyregesetzes (Gesetz Nr. 473) eine Demokratie mit einer dreigeteilten Staatsgewalt. Die seit 2009 gültige Regierungsform heißt Selvstyre („Selbstverwaltung“) und ersetzte die ab 1979 gültige Hjemmestyre („Heimverwaltung“). Beide Autonomiestufen haben die Möglichkeit geschaffen, dass Grönland den Großteil der Regierungsaufgaben vom dänischen Staat übernehmen kann (vgl. § 2 des Selvstyregesetzes). Ausgeschlossen sind davon die Verteidigungspolitik und die Außenpolitik. Laut § 8 obliegt die Entscheidung über die grönländische Unabhängigkeit einzig der grönländischen Bevölkerung im Rahmen einer Volksabstimmung. Da das Königreich Dänemark eine konstitutionelle Monarchie ist, ist Grönlands Staatsoberhaupt ebenso die dänische Königin Margrethe II., wobei die Königsfamilie in Grönland große Popularität genießt. Die Königin wird seit 2022 von Reichsombudsfrau Julie Præst Wilche vertreten. Das Amt des Reichsombudsmanns entstand 1979 aus dem des Landshøvdings, dessen Vorgänger für die Verwaltung des kolonialen Grönlands zuständig waren. Der Reichsombudsmann dient als Bindeglied zwischen der grönländischen Autonomieregierung und dem dänischen Staat und nimmt vor allem organisatorische und koordinatorische Aufgaben wahr. Regierung Die grönländische Exekutive ist das Naalakkersuisut, die Regierung. Sie besteht aus meist etwa sieben bis zehn Ministern, die offiziell den Titel Naalakkersuisoq („Der schafft, was Folge zu leisten ist“) tragen. Der Name Naalakkersuisut ist das entsprechende Pluralwort. Unter ihnen ist der Regierungschef, der den offiziellen Titel Naalakkersuisut Siulittaasuat („Vorsitzender des Naalakkersuisut“) trägt. Aktueller Regierungschef seit dem 23. April 2021 ist Múte B. Egede, der derzeit das Kabinett Egede II anführt. Der gesetzliche Rahmen für das Naalakkersuisut wird in Kapitel 3 des Gesetzes über Inatsisartut und Naalakkersuisut (Gesetz Nr. 26/2010) geregelt. Die Regierung wird vom Parlament gewählt und kontrolliert. Die Minister sind häufig, aber nicht zwangsläufig Mitglieder des Parlaments. Es ist üblich, dass diese mit Ausnahme des Regierungschefs während der Tätigkeit als Minister von den Parlamentsaufgaben beurlaubt sind. Die Regierung wird üblicherweise mit Koalitionen gebildet, die die Parlamentsmehrheit ausmachen. Lediglich von 1988 bis 1991 und von 2018 bis 2020 waren Minderheitsregierungen an der Macht. Die Koalitionsregierungen decken häufig ein breites politisches Spektrum ab, sind aber auch meist instabil, sodass es regelmäßig zu Koalitionswechseln und Neuwahlen kommt. Parlament Die grönländische Legislative ist das Inatsisartut („Die Befehlenden“), das Parlament. Es besteht aus 31 Abgeordneten (Inatsisartunut Ilaasortat „Mitglieder des Inatsisartut“), die maximal alle vier Jahre neu gewählt werden. Dem Parlament steht ein Parlamentspräsidium aus dem Parlamentspräsidenten und vier Parlamentsvizepräsidenten vor. Aktueller Parlamentspräsident ist seit 2022 Kim Kielsen, der dem 14. Inatsisartut vorsteht. Der gesetzliche Rahmen für das Inatsisartut wird in Kapitel 2 des Gesetzes über Inatsisartut und Naalakkersuisut (Gesetz Nr. 26/2010) geregelt. Das Parlament ist für die Gesetzgebung zuständig, genehmigt den jährlichen Haushaltsplan und ist für die Kontrolle der Regierung zuständig. Das Inatsisartut wählt einen Ombudsmann (derzeit Gedion Jeremiassen), der für die Kontrolle der Verwaltungsaufgaben von Regierung und Kommunen zuständig ist. Neben dem eigenen Parlament entsendet Grönland wie die Färöer gemäß § 28 des dänischen Grundgesetzes auch zwei Abgeordnete ins Folketing, die die grönländischen Interessen in dänischen Parlamentsangelegenheiten wahrnehmen sollen. Im grönländischen Parlament sind üblicherweise rund fünf Parteien vertreten, seit 1979 waren es minimal zwei und maximal sieben. Die bedeutendsten Parteien sind heutzutage die Siumut und die Inuit Ataqatigiit. Die Atassut war ursprünglich eine der beiden Volksparteien, hat ihre Wählerschaft seit 2002 vor allem an die Demokraatit verloren. Die Naleraq konnte seit ihrer Gründung 2014 ebenfalls dauerhaft Wähler an sich binden. Daneben gab es häufig kleinere Parteien, die meist nur eine bis zwei Legislaturperioden überlebten. Die Einordnung im politischen Spektrum ist kompliziert und kann nur durch ein zweidimensionales Modell dargestellt werden, da neben Liberalität die Einstellung zur Unabhängigkeitsfrage als zweiter Faktor hinzukommt. Die Inuit Ataqatigiit ist tendenziell sozialistisch ausgerichtet, während Demokraatit und Atassut liberale Politik vertreten. Die Siumut ist sozialdemokratisch, deckt aber ein breites Meinungsspektrum ab. Auf der Unabhängigkeitsachse stehen sich die Naleraq als separatistisch und die Atassut als unionistisch gegenüber, während die übrigen drei Parteien pragmatische Haltungen vertreten, die eine Unabhängigkeit in ferner Zukunft anstreben. Polizei- und Rechtswesen Obwohl es einen grönländischen Justizminister gibt, ist die grönländische Judikative aus verfassungsmäßigen Gründen ein Teil des dänischen Rechtssystems. Grundpfeiler bilden die vier Kreisgerichte und das Retten i Grønland („Gericht in Grönland“). Die Kreisgerichte dienen als Strafgerichte, Familiengerichte, Nachlassgerichte und Vollstreckungsgerichte und sind mit einem Kreisrichter ohne juristische Ausbildung und zwei Schöffen besetzt. Das Retten i Grønland fungiert als Zivilgericht und Insolvenzgericht und ist mit ausgebildeten Juristen besetzt. Höchste grönländische Instanz ist Grønlands Landsret („Grönlands Landesgericht“), das mit einem Landesrichter und zwei Schöffen besetzt ist und nur als Berufungsgericht fungiert. Dem Landsret ist das Højesteret als oberste Instanz übergeordnet, das in besonderen Fällen angerufen werden kann. Die grönländischen Gerichte entscheiden auf Basis der gültigen Gesetzgebung, die teils aus dänischen und teils aus grönländischen Gesetzen besteht. Im Rahmen des Selvstyrelovens kann Grönland eigene Gesetze anstelle der dänischen einführen. Das Polizeiwesen in Grönland ist als exekutiver Teil des grönländischen Rechtswesens ebenfalls dem dänischen Polizeiweisen unterstellt und bildet einen Polizeikreis, dem ein Polizeimeister vorsteht. Die grönländische Polizei fungiert als Staatsanwaltschaft und nimmt daneben die Sicherstellung der öffentlichen Sicherheit wahr sowie behördliche Aufgaben wie die Ausstellung von Ausweisen, Führerscheinen und anderen Genehmigungen. Hierfür gibt es 18 Polizeistationen in den Städten. In den Dörfern wird die Polizei durch Gemeindevögte – Ansässige ohne polizeiliche Ausbildung – vertreten, die dort für Ordnung sorgen und gewisse Polizeiaufgaben übernehmen. Die Strafvollzugsbehörde (Kriminalforsorgen, wörtlich „Kriminalfürsorge“) ist für die Durchsetzung von vor Gericht beschlossenen Strafen zuständig. Sie ist unabhängig von der gleichnamigen dänischen Institution. Historisch verzichtete man in Grönland auf Gefängnisse und nutzte stattdessen Anstalten für offenen Vollzug, die die Resozialisierung erleichtern sollten. Obwohl 2019 in Nuuk eine geschlossene Anstalt eröffnet wurde, um bisher in Dänemark untergebrachte Schwerverbrecher in Grönland inhaftieren zu können, und die meisten übrigen Anstalten ebenfalls nur selten Freigang erlauben, ist das dänische Wort fængsel („Gefängnis“) in Grönland ungebräuchlich. Die Anzahl an Personen im Strafvollzug in Grönland proportional zur Bevölkerung übersteigt das skandinavische Niveau deutlich. Außen- und Verteidigungspolitik Die Außen- und Verteidigungspolitik Grönlands obliegt dem dänischen Staat. Dennoch verfügt Grönland über einen Außenminister und ein Mitspracherecht in allen Angelegenheiten, die Grönland selbst betreffen. Dieses Mitspracherecht wächst seit der Jahrtausendwende stetig. Grönland verfügt als Teil der Rigsfællesskab über keine Botschaften in anderen Ländern. Allerdings hat das Land einen diplomatischen Vertreter in Dänemark, in Island, in den Vereinigten Staaten, in China und bei der Europäischen Union. In Grönland gibt es ein isländisches und ein US-amerikanisches Konsulat sowie mehrere Honorarkonsulate. Grönland ist weder Teil der Europäischen Union noch des Schengen-Raums. Die grönländische Mitgliedschaft in der Europäischen Union wurde 1982 durch ein Referendum beendet. Grönland arbeitet mit Island und den Färöern im Westnordischen Rat zusammen (seit 1985/1997). Weiterhin ist es als Teil der dänischen Delegation seit 1983 Mitglied im Nordischen Rat. Am 5. September 2007 wurde das Ålandsdokument beschlossen, das den Autonomiegebieten Åland, den Färöern und Grönland die gleichwertige Mitgliedschaft im Nordischen Rat ermöglicht. Die Landesverteidigung obliegt dem dänischen Militär und wird von dessen Arktisk Kommando (zuvor von der Vorgängerorganisation Grønlands Kommando) übernommen. De facto übernehmen die Vereinigten Staaten jedoch ebenfalls Verteidigungsaufgaben in Grönland über ihre Präsenz auf der Pituffik Space Base. Wirtschaft Allgemeines Das grönländische Bruttoinlandsprodukt betrug 2015 etwa 2,5 Mrd. US-Dollar, was pro Kopf etwa 41.800 US-Dollar entspricht. Nach letzterem Wert befindet sich Grönland etwa auf einer Stufe mit Italien oder Japan und 28 % hinter dem Mutterland Dänemark. Grönlands Handelsdefizit erreichte 2011 2,71 Mrd. Dänische Kronen (507 Mio. US-Dollar), lag 2022 aber nur noch bei 448 Mio. Dänischen Kronen (62,8 Mio. US-Dollar). Die grönländische Wirtschaft ist stark vom jährlichen inflationsregulierten Bloktilskud („Blockzuschuss“) abhängig, durch den Grönland 2020 3911,3 Mio. Dänische Kronen (599 Mio. US-Dollar) vom dänischen Staat erhielt. Ein Großteil des Außenhandels läuft über Dänemark. 2003 wurden 95 % der Produkte nach Dänemark exportiert und 60 % aus Dänemark importiert. Grönlands Arbeitslosenquote erreichte 2014 den Höchststand von 10,3 %, sank bis 2021 aber auf 3,7 %. Allerdings waren 2019 25,7 % der Personen im arbeitsfähigen Alter kein Teil des Arbeitsmarkts. Zwei Drittel waren in Frührente, wegen Behinderung arbeitsunfähig oder in Mutterschaftsurlaub, während ein Drittel vor allem junge sozial schwache Personen waren, die sich nicht als arbeitslos registriert haben. Die grönländische Wirtschaft ist wenig diversifiziert. Nach Wirtschaftssektoren machte der Primäre Sektor 2015 12 % in Städten und 32 % in Dörfern aus. Der Sekundäre Sektor machte 9 % in Städten und 2 % in Dörfern aus. Der Tertiäre Sektor lässt sich in Dienstleistungen (37 % in Städten, 34 % in Dörfern) und Öffentliche Verwaltung aufteilen (40 % in Städten, 32 % in Dörfern). 2019 gab es knapp 27000 Arbeitnehmer und 4000 Unternehmen in Grönland, von denen etwa die Hälfte selbstständige Fischer und Jäger in Einzelunternehmen waren. 2020 waren 42,2 % in der Öffentlichen Verwaltung angestellt, 18,7 % im Jagd- und Fischereisektor, 10,9 % im Handel, 8,0 % im Dienstleistungssektor, 7,3 % im Bausektor, 7,2 % im Logistiksektor, 1,6 % in der Energie- und Wasserversorgung, 0,3 % in der Landwirtschaft und 3,8 % in sonstigen Bereichen. Durch die großen Abstände und die geringe Bevölkerung des Landes ist in vielen Bereichen eine freie Marktwirtschaft mit Problemen verbunden, da hohe Kosten und geringe Nachfrage zu hohen Preisen führen würden. Die geringe Einwohnerzahl verhindert zudem wirtschaftliche Konkurrenz, sodass für viele Produkte nur ein monopolistischer Anbieter existiert. Zahlreiche gesellschaftlich wichtige Wirtschaftsaufgaben (Versorgung, Transport etc.) werden staatlich subventioniert oder direkt von den 14 Staatsunternehmen (Stand 2023) übernommen, von denen die fünf größten 2021 einen Umsatz von rund 11,2 Mrd. Dänischen Kronen erwirtschafteten. In Europa werden die meisten dieser wirtschaftlichen Zweige von Privatunternehmen dominiert. Jagd, Fischerei und Landwirtschaft Jagd Die Jagd war früher die einzige Möglichkeit für das Überleben der Inuit. Zu den traditionellen Beutetieren gehören Robben, Wale, Eisbären, Rentiere, Füchse, Hasen und Vögel. Die Jagd ist weiterhin ein bedeutender Teil der grönländischen Kultur und dient vor allem in den Dörfern sowie besonders in Nord- und Ostgrönland als wichtiger Teil der Versorgung. Etwa 1900 Personen sind Berufsjäger, weitere 5000 Freizeitjäger. Die Jagd ist auf Grundlage biologischer Expertise durch Jagdquoten gesetzlich reguliert, um eine nachhaltige Ressourcennutzung zu gewährleisten. Dies führt häufig zu Konflikten, da Berufsjäger ein geringes Einkommen haben und somit oft nicht noch zusätzlich finanziell durch Regulierungen eingeschränkt werden können. Fischerei Die Fischerei wurde von den Inuit traditionell weniger getätigt. Während die Kolonialwirtschaft die ersten knapp 200 Jahre auf Basis der Jagd fungiert hatte, fasste die Fischereiwirtschaft erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts Fuß in Grönland. Besonders die Dorschfischerei war bedeutend und konnte ab den 1930er Jahren die rückläufigen Robbenbestände wirtschaftlich aufwiegen. Der Dorschfang führte in Grönland zu Wohlstand, brach aber um 1970 zusammen. Damit begann die Phase der Krabbenfischerei, die bis heute andauert und die Hauptgrundlage für den grönländischen Export bildet. Daneben macht die Heilbuttfischerei einen bedeutenden Teil der Fischereiwirtschaft aus. Der Sektor wird vom Staatsunternehmen Royal Greenland und dem konkurrierenden Privatunternehmen Polar Seafood dominiert. Etwa 4400 Personen waren 2019 im Fischereisektor beschäftigt. Die Fischerei macht heute 95 % der Exporte Grönlands aus, was die wirtschaftliche Lage extrem abhängig von Beständen und Preisen macht. Landwirtschaft In Südgrönland wird wie schon im Mittelalter einmal Landwirtschaft betrieben. Im 18. Jahrhundert begann Anders Olsen mit der Rinderhaltung in Igaliku, aber sie endete nach einigen Generationen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts leitete Jens Chemnitz in Narsarmijit mit der Schafhaltung die moderne grönländischen Tierhaltung ein. In den folgenden Jahrzehnten breitete sich die Schafzucht mit Unterstützung von Grønlands Styrelse über ganz Südgrönland aus. 1927 gab es 5.000 Mutterschafe, aber die Anzahl erreichte 1966 mit 48.000 Tieren einen Höchststand, bevor ein besonders harter Winter die Bestände mehr als halbierte. Die Tiere werden in den Schäfersiedlungen, einzeln stehenden Bauernhöfen vor allem im Distrikt Narsaq gehalten. Seit 1980 gibt es konstant etwa 20.000 Mutterschafe in Grönland sowie insgesamt 50.000 lebende Schafe im Sommer. Etwa 20.000 Lämmer werden pro Jahr geschlachtet, welche 2019 39 Schafzüchtern gehörten. Daneben gibt es in Grönland heute 300 Rinder, die vier Bauern gehören. Zwei Rentierzüchter halten etwa 1600 Rentiere. 242.000 Hektar dienen als Weideflächen. 2014 gab es etwa 1000 Hektar landwirtschaftlich genutztes Land, von denen 99 % für den Anbau von Futtergras genutzt wurden. Seit etwa 2000 werden in Grönland in kleinem Rahmen Kartoffeln und anderes Gemüse auf den restlichen 1 % angebaut. Durchschnittlich kommen pro Jahr etwa 100 Tonnen Kartoffeln in den Handel, die von rund fünf bis sechs Bauern angebaut werden. Zu den übrigen Anbauprodukten gehören Mairüben, Rhabarber, Kohl, Radieschen und Salat. Eine entscheidende Rolle in der grönländischen Agrarwirtschaft spielt die Versuchsstation in Upernaviarsuk. Zum aktuellen Zeitpunkt ist die Landwirtschaft in Grönland jedoch ein Verlustgeschäft. Problematisch sind die geringe Bodenqualität, die Einfluss auf den Inhalt von Nährstoffen und die Fähigkeit zur Wasserspeicherung hat, weswegen in hohem Maße Kunstdünger und künstliche Bewässerung angewendet werden müssen. Bergbau Grönland ist reich an Rohstoffen. An der Küste befinden sich größere Vorkommen von Gold, Platin, Kupfer, Zink, Nickel, Molybdän und Eisen. Daneben gibt es auch Rubine und Diamanten. Dennoch waren 2019 unter 100 Personen im Bergbau beschäftigt, da der Weltmarkt, fehlende Infrastruktur und die damit verbundenen hohen Abbaukosten sowie inner- und geopolitische Konflikte den Ausbau des Bergbausektors in Grönland erschweren. Mit dem Abbau von Kohle in der Diskobucht (Ritenbenk Kulbrud) wurde im kolonialen Grönland 1782 erstmals Bergbau betrieben. Die Vorkommen dienten aber eher zur lokalen Versorgung. Mitte des 19. Jahrhunderts begann der industrielle Bergbau in Grönland mit Grafitabbau in Nordgrönland und Kupferbergbau in Südgrönland. Fast zeitgleich eröffnete die Kryolithmine in Ivittuut, die 130 Jahre aktiv war. Der Kohlebergbau wurde ab etwa 1900 industrialisiert, zuerst in Qaarsuarsuk, dann in Qullissat. Qullissat wurde im 20. Jahrhundert zu einer der bedeutendsten Städte des Landes, bis sie in den 1970er Jahren, als die Vorkommen aufgebraucht waren, gegen den Willen der Bevölkerung aufgegeben wurde. In den 1970er und 1980er Jahren war die Blei- und Zinkmine in Maamorilik von Bedeutung, wo zuvor bereits Marmor abgebaut worden war. Seit der Jahrtausendwende gibt es mehrere Versuche in Nalunaq Gold abzubauen. Seit 1969 wurde vor der grönländischen Küste Erdöl gesucht. Die entdeckten Vorkommen wurden aber bisher jedes Mal als unrentabel eingestuft. 2021 wurde beschlossen, die Suche nach Erdölvorkommen aus Umweltschutzgründen einzustellen, weswegen das staatliche Unternehmen Nunaoil in NunaGreen umgewandelt wurde. Bei Narsaq befinden sich am Berg Kuannersuit bedeutende Vorkommen von Uran und Seltenen Erden. Diese haben vor allem seit 2010 mehrfach zu politischen Debatten geführt. Die Vorkommen sind so groß, dass erwartet wird, dass sie die Dominanz Chinas auf dem Weltmarkt brechen und die wirtschaftliche und finanzielle Situation Grönlands verbessern könnten. Der potentielle Abbau war während der Regierungszeit von Kuupik Kleist (Inuit Ataqatigiit) interessant geworden, wurde aber durch die Nulltoleranzpolitik verhindert, nach der in Grönland keine radioaktiven Stoffe wie Uran abgebaut werden dürfen. 2013 übernahm die Siumut wieder die Macht und schaffte das Abbauverbot mit knapper Mehrheit ab. Daraufhin formierte sich in der Bevölkerung Widerstand, da man die Zerstörung der Umwelt befürchtet. Vor allem erwartet man durch die Minenaktivität eine radioaktive Verseuchung von Gewässern in Grönlands einzigem landwirtschaftlich nutzbaren Gebiet. 2021 verlor die Siumut erneut die Macht an die Inuit Ataqatigiit, die versprochen hatte, das Kuannersuit-Projekt zu stoppen. Tourismus Der Tourismus spielt eine bedeutende Rolle in der grönländischen Wirtschaft. Das staatliche Tourismusunternehmen Visit Greenland wirbt mit der arktischen Natur, beispielsweise mit Eisbergen, Polarlichtern und der Tierwelt. Es werden Wander- und Skitouren, Bergbesteigungen sowie Kajak- und Hundeschlittentouren angeboten. Daneben präsentiert man die grönländische Kultur, die in den Städten und traditionelleren Dörfern erlebt werden kann. 2019 gab es rund 87.000 Flugpassagiere die aus dem Ausland einreisten, wobei die Anzahl tendenziell ansteigt. Von diesen sind etwa die Hälfte Arbeitnehmer, die andere Hälfte Touristen. Von den Reisenden wohnt knapp die Hälfte in Dänemark, bedeutende Herkunftsländer von Touristen sind daneben vor allem Deutschland, die USA und Kanada. Etwa 260.000 Übernachtungen in grönländischen Hotels gab es 2019, die sich etwa zu gleichen Teilen auf Grönländer und Ausländer verteilten. Hochsaison für den Tourismus sind die Sommermonate Juli und August. Der bedeutendste Tourismuszweig in Grönland ist die Kreuzfahrtschifffahrt, die sich durch die Senkung der Kreuzfahrtgebühren 2016 bis 2019 nahezu verdoppelt hat. Von den knapp 50.000 Kreuzfahrttouristen stammen knapp die Hälfte aus Deutschland und den Vereinigten Staaten. Bedeutendste Anlaufhäfen sind Qaqortoq, Nuuk, Ilulissat, Nanortalik und Sisimiut. Probleme für den Tourismus bieten in Grönland die hohen Flugpreise und mangelnde Übernachtungsmöglichkeiten. Etwa 800 Personen sind im Hotel- und Restaurantbereich angestellt. Mit dem Ilulissat-Eisfjord (seit 2004), der südgrönländischen Kulturlandschaft Kujataa (seit 2017) und der Kulturlandschaft Aasivissuit – Nipisat (seit 2018) hat Grönland drei UNESCO-Welterbestätten. In Grönland befinden sich rund 20 Museen. Infrastruktur Verkehr Das grönländische Verkehrswesen ist aufgrund der geografischen Verhältnisse mit einigen Schwierigkeiten versehen. Wegen der häufig bis zu hundert Kilometer großen Entfernungen zwischen den Siedlungen und der von Inseln, Fjorden und Gebirgen geprägten Landschaft ist in Grönland kein Straßennetz möglich. Derzeit gibt es quasi keine bewohnten Orte, die durch eine Straße miteinander verbunden sind, lediglich einige Schäfersiedlungen in Südgrönland sind mit Schotterwegen verbunden. Innerhalb der Städte gibt es Straßen, während in Dörfern meist maximal Wege vorhanden sind. Von größerer Bedeutung sind Hundeschlitten und Schneemobile. Eine große Rolle spielt der Schiffsverkehr. Alle Orte in Grönland liegen am Wasser und nahezu alle verfügen über eine Hafenanlage. Der Gütertransport für die Lebensmittelversorgung läuft hauptsächlich über den Seeweg ab. Diese Lebensmittel werden hauptsächlich vom dänischen Aarhus aus an verschiedene Städte in Grönland verschifft, von wo aus sie an kleinere Häfen und Dörfer verteilt werden. Zudem werden Schiffe und Boote für den Personentransport benutzt. Die Eisverhältnisse erschweren oder verhindern zu bestimmten Jahreszeiten in verschiedenen Landesteilen den Schiffsverkehr. Der Gütertransport wird von der Royal Arctic Line durchgeführt, während die Arctic Umiaq Line und die Disko Line für den Personenverkehr zuständig sind. Die größte Rolle für den Personentransport spielt aber der Luftverkehr. In Grönland gibt es 14 aktive Flughäfen sowie knapp 50 Hubschrauberlandeplätze. Ursprünglich wurden die Flughäfen in Kangerlussuaq, Narsarsuaq, Kulusuk und Pituffik für militärische Zwecke gebaut, weswegen sie außerhalb der Städte liegen. Um 1980 wurden in Nuuk und Ilulissat die ersten Stadtflughäfen errichtet. Um die Jahrtausendwende wurden sechs weitere Flughäfen in Qaanaaq, Upernavik, Qaarsut (für Uummannaq), Aasiaat, Sisimiut, Maniitsoq und etwas später auch in Paamiut eröffnet. Dazu kommt der im Niemandsland liegende ursprünglich private Flughafen Nerlerit Inaat (für Ittoqqortoormiit). Die Flughäfen werden von Mittarfeqarfiit betrieben, während Pilersuisoq für den Betrieb der Hubschrauberlandeplätze zuständig ist. Air Greenland und regional Disko Line sind für den Transport zuständig. Grönland verfügt international über eine Flugverbindung zwischen Kopenhagen und Kangerlussuaq sowie von geringerer Bedeutung Flugverbindungen zwischen einigen grönländischen und isländischen Flughäfen, die von isländischen Fluggesellschaften durchgeführt werden. Von Kangerlussuaq aus werden zahlreiche Städte angeflogen, teilweise nur mit Zwischenlandung. Helikopterverbindungen führen von den Städten zu den einzelnen Dörfern. In den 2020er Jahren soll der internationale Flughafen in Kangerlussuaq durch Flughäfen in Nuuk und Ilulissat ersetzt werden. Der öffentliche Flug- und Schiffsverkehr ist wirtschaftlich nicht rentabel und kann nur durch Staatssubventionen aufrechterhalten werden. Versorgung Die Stromversorgung, Wärmeversorgung und Wasserversorgung wird durch Nukissiorfiit gewährleistet. 2018 wurden 67 % des grönländischen Stromverbrauchs durch Wasserkraft aus fünf Wasserkraftwerken gedeckt. Das Wasserkraftwerk Bukse Fjord, das Nuuk versorgt, verfügt über die längste freihängende Hochspannungsleitung der Welt. Die übrigen Städte, die nicht an Wasserkraftwerke angebunden sind, sowie alle Dörfer werden durch lokale Dieselgeneratoren mit Strom versorgt. Die Wärmeversorgung erfolgt in den meisten Städten durch Restwärme von der Stromerzeugung, während in den Dörfern Ölheizungen vorherrschen. Die Wasserversorgung erfolgt dank der aus dem Inlandseis stammenden nahezu unendlichen Trinkwasserressourcen aus lokalen Gewässern, die anschließend in lokalen Wasserwerken aufbereitet werden. In den Städten gibt es größtenteils Wasserrohre, die zu den einzelnen Haushalten führen, während in den Dörfern üblicherweise das Wasser aus zentralen Wassertanks abgezapft wird. Da viele Wasserquellen im Winter vor allem in Nordgrönland zufrieren, erfolgt die Wasserversorgung alternativ durch Meerwasserentsalzung oder dem Abschmelzen von Eisschollen. Die geringe Verfügbarkeit von Trinkwasser kann zu Hygieneproblemen führen und macht zudem häufig eine lokale Fischverarbeitung unmöglich. Die meisten Städte sind zumindest teilweise an eine Kanalisation angeschlossen. Der Rest wird hat entweder Abwassertanks oder Trockentoiletten. Es gibt keine Klärwerke in Grönland, sodass Abwasser üblicherweise direkt ins Meer geleitet wird oder versickert an Land, was teilweise zu Verunreinigungen in lokalen Gewässern führt. Die Müllentsorgung, die ebenso wie die Abwasserentsorgung eine kommunale Aufgabe ist, erfolgt durch Deponierung auf lokalen Müllhalden, die mehr oder weniger regelmäßig abgebrannt werden, teilweise wird der Müll aber auch durch Wetter und Tiere verteilt oder entzündet sich von selbst und löst so umweltmäßige und gesundheitliche Probleme aus. Tusass ist für die Versorgung der Bevölkerung mit Mobilfunk und Internet zuständig. Hierfür existieren Seekabel nach Kanada und Island. In Grönland existiert zudem ein Radionetzwerk, das ganz Westgrönland abdeckt. Lediglich Nord- und Ostgrönland werden mit Satelliten versorgt. Gesellschaft Bildung Das grönländische Bildungssystem ist vom dänischen Bildungssystem geprägt. Es besteht eine zehnjährige Schulpflicht, die in der Folkeskole absolviert wird. Jedes Dorf hat eine Schule, Städte häufig mehrere, insgesamt gibt es 23 Stadtschulen und 52 Dorfschulen. Durch die geringen Einwohnerzahlen werden an vielen Dorfschulen nur eine einstellige Zahl an Schülern aus allen Jahrgängen gemeinsam unterrichtet. Alle bis auf drei Dorfschulen unterrichten allerdings nur bis zur sechsten bis achten Klasse, woraufhin die Schulkinder in die nächstgelegene Stadt ziehen müssen. Es herrscht generell Lehrermangel und zahlreiche Lehrer haben keine Lehrerausbildung. Nach dem Abschluss der Folkeskole kann eine von 67 Berufsausbildungen oder eine Gymnasialausbildung an einem von vier Gymnasien wahrgenommen werden. Letztere berechtigt zum Besuch der Universität von Grönland (Ilisimatusarfik) oder einer ausländischen Universität. Bis in die 1970er Jahre war die in den 1840er Jahren gegründete Lehrerausbildung am Ilinniarfissuaq (Grønlands Seminarium) die höchste durchführbare Ausbildung in Grönland. Durch die dänische Missionstätigkeit wurden im kolonialen Grönland ab dem 18. Jahrhundert quasi alle grönländischen Kinder unter anderem im Lesen und Schreiben unterrichtet. Der Schulunterricht war und ist typischerweise grönländischsprachig. In der postkolonialen Phase von den 1950er bis zu den 1970er Jahren wurde jedoch verstärkt auf Dänischsprachigkeit gesetzt und viele grönländische Kinder zeitweise zum Schulbesuch nach Dänemark geschickt. Das Bildungsniveau in Grönland ist generell recht niedrig und etwa 60 % der Bevölkerung haben lediglich einen Folkeskoleabschluss ohne Berufsausbildung, was an der großen Bedeutung von Jagd und Fischerei liegt, die keiner Ausbildung bedürfen. Über die Hälfte der Gymnasialschüler brechen ihre Gymnasialausbildung ab. Aufgeteilt nach Geschlecht hatten 2021 von den 25- bis 64-Jährigen 55 % (Männer) bzw. 45 % (Frauen) einen Folkeskoleabschluss, 7 % bzw. 11 % einen Gymnasialabschluss oder sonstige Hochschulreife, 26 % bzw. 22 % eine Berufsausbildung und 12 % bzw. 22 % eine Hochschulausbildung. Medien Medien sind als Informations- und Kommunikationsquellen für Grönland wegen der großen physischen Abstände zwischen der Bevölkerung von großer Bedeutung. Bereits 1861 bekam Grönland mit der Atuagagdliutit seine erste Zeitung. Sie war in Landessprache verfasst und diente anfangs nicht als Nachrichtenwerk. Vielmehr handelte es sich um eine Fortsetzungsgeschichtensammlung und später um ein Debattenforum. Die Atuagagdliutit gilt als eine Keimzelle eines gesamtgrönländischen Identitätsgefühls. Ab 1952 erschien die Atuagagdliutit als Atuagagdliutit/Grønlandsposten (AG) zweisprachig. Heute wird das Zeitungswesen vom Medienverlag Sermitsiaq.AG dominiert, der neben der Atuagagdliutit auch die landesweite Zeitung Sermitsiaq herausgibt. Historisch waren in Grönland Lokalzeitungen von großer Bedeutung. 1980 gab es noch 21 Lokalzeitungen, 2018 waren es nur noch vier, die größtenteils privat verfasst werden und hauptsächlich aus Werbeanzeigen bestehen. Daneben gibt es einige Magazine und Zeitschriften in Grönland. Ab den 1920er Jahren gab es in Grönland vereinzelt Radiosendungen. 1958 wurde die landesweite Rundfunkanstalt Kalaallit Nunaata Radioa (KNR) gegründet, die seit 1982 auch ein Fernsehprogramm anbietet. Während die Zeitungen und Onlinenachrichten überwiegend zweisprachig sind, ist das Fernseh- und Radioprogramm fast vollständig grönländischsprachig. Neben KNR gibt es einige lokale und private Rundfunk- und Fernsehsender. Dänische Fernsehsender können aber auch in Grönland empfangen werden. Die grönländische Medienlandschaft wird von Sermitsiaq.AG und KNR dominiert. Die übrigen Anbieter spielen kaum eine Rolle. Die grönländische Medienlandschaft wird häufig für ihre schlechte Qualität kritisiert, die daraus resultiert, dass es im ganzen Land nur rund 35 bis 40 Journalisten gibt, von denen rund die Hälfte kein Grönländisch spricht, was die Produktion grönländischer Nachrichtensendungen oder ausführlicher Zeitungsartikel auf Basis von hochwertigem aus ausgewogenen Journalismus stark erschwert. Das Internet spielt ebenfalls eine große Rolle in Grönland. 2017 benutzten etwa 50 % der Bevölkerung täglich das Internet. Der Preis pro Megabyte ist zwischen 2007 und 2015 um 95 % gesunken, was zu einer größeren Verbreitung geführt hat. Der Internetverbrauch hat sich zwischen 2007 und 2017 auf das 145fache gesteigert, der Mobildatenverbrauch zwischen 2009 und 2018 sogar auf das 600fache. Grönland gehört zu den Ländern mit der höchsten Verbreitung von Facebook. Rund zwei Drittel der Bewohner nutzen Facebook täglich und eine Untersuchung von Juli 2018 hat ergeben, dass Grönland die weltweite Rangliste der meisten Facebook-Kommentare pro Monat pro Kopf anführt. Soziales und Gesundheit Im kolonialen Grönland wurde das traditionelle Sozial- und Gesellschaftssystem der Inuit von einem kolonial gesteuerten Sozialsystem abgelöst, vor allem mit Einführung der Forstanderskaber (Treuhänder) ab etwa 1860. Die postkoloniale Entwicklungspolitik der 1950er und 1960er Jahre wird üblicherweise als Ursache für soziale Probleme in der grönländischen Gesellschaft gesehen, bei der innerhalb von zwei Jahrzehnten die kolonialisierte von Jagd und Fischerei geprägte Gesellschaft in einen industrialisierten Staat umgekrempelt wurde, der dänischen Ansprüchen genügen sollte und von Urbanisierung und einem daraus resultierenden Kulturverlust geprägt war. Grönland hat deswegen mit einem komplexen Konstrukt sozialer Probleme zu kämpfen. Alkoholmissbrauch ist weitverbreitet und führt häufig zu häuslicher Gewalt und anderen Straftaten sowie Vernachlässigung von Kindern. Diese führt häufig zu weiteren psychischen Problemen, die unter der jungen Bevölkerung regelmäßig in Suizid enden. Grönland hat mit rund 100 Selbstmorden pro 100.000 Einwohner die mit Abstand höchste Suizidrate der Welt (vgl. Suizid in Grönland). Bei einer Untersuchung zwischen 2005 und 2010 gaben rund 35 % an, in ihrem Leben bereits grobe Gewalt erfahren zu haben, 6 % innerhalb des letzten Jahres. Rund 10 % der Frauen, die nach der Dekolonisierung geboren wurden, gaben an, als Erwachsene Opfer von sexuellem Missbrauch geworden zu sein. Daneben hat die Untersuchung ergeben, dass von den ab 1970 Geborenen rund 35 % der Frauen und 15 % der Männer als Kind sexuell missbraucht worden sind sowie 20 % der Frauen und 4 % der Männer als Jugendliche. Die Generation der in den 1970er und 1980er Jahren Geborenen ist zu rund 70 % in Familien mit Alkoholmissbrauch aufgewachsen, in der Generation ab 1995 hat sich dieser Wert halbiert. Etwa 4,5 % aller Kinder dürfen wegen behördlichem Beschluss nicht bei ihren Eltern aufwachsen, wobei die Hälfte in Pflegefamilien, die andere Hälfte in Kinderheimen lebt. Die Kriminalität in Grönland übersteigt die in Skandinavien um ein Vielfaches, wobei die Zahlen für insbesondere Sexualverbrechen in den letzten Jahren vermutlich aufgrund von Informationskampagnen stark angestiegen sind. Insgesamt gab es 2020 89,6 Strafanzeigen pro 1000 Einwohner, davon 13,1 für Sexualverbrechen. Die Zahlen für Einbrüche und Diebstähle sind hingegen rückläufig. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt betrug 2021 73,7 Jahre – 76,6 Jahre bei Frauen und 71,0 Jahre bei Männern. Damit belegte Grönland in der Rangliste aller Staaten und Territorien der Welt lediglich den 145. Platz (von 227). In Dänemark und auf den Färöern liegt die Lebenserwartung jeweils bei über 81 Jahren. The World Factbook weist Grönland als das Land mit der höchsten Kapazität an Krankenhausbetten pro Kopf aus (14 Betten pro 1000 Einwohner). Mit 1,87 Ärzten pro 1000 Einwohnern befindet sich Grönland hingegen deutlich unter europäischem Niveau. Es gibt fünf Regionskrankenhäuser in den fünf größten Städten, wobei das Dronning Ingrids Hospital in Nuuk zugleich als Landeskrankenhaus fungiert. In den übrigen Städten gibt es kleinere Krankenhäuser und in den Dörfern Krankenstationen, die aber höchstens mit einer Krankenschwester bemannt sind. Telemedizin spielt eine große Rolle. Grönland hat einen starken Ärztemangel, da es trotz der geringen Bevölkerung überproportional viele Gesundheitseinrichtungen gibt. Bei 120 Arztstellen und rund 300 Krankenschwesterstellen wurden 2019 trotz 1400 im Gesundheitswesen Beschäftigten ebenso viele neu angestellt. Je nach Definition litten einer Untersuchung von 2007 zufolge 9 % bzw. 18 % der grönländischen Kinder unter Kinderarmut. Über die Hälfte der Bevölkerung raucht. Während früher Infektionskrankheiten die häufigste Todesursache waren, sind es heute Zivilisationskrankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Suizid, wobei erstere meist aus einem ungesunden Lebensstil resultieren. 77 % der über 55-Jährigen galten 2018 als chronisch krank. Postkolonialismus und Ethnonationalismus In der grönländischen Gesellschaft spielen Postkolonialismus und Ethnonationalismus eine große Rolle. Die Frage nach einer Grönlandisierung der Gesellschaft und stetig wachsender Autonomie bis hin zur Unabhängigkeit ist spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts politisch zentral. Dabei stehen jedoch gesellschaftliches Interesse und politisches Interesse häufig in Kontrast. Bis 1953 war Grönland dänische Kolonie und bis 1979 Teil Dänemarks, seit 1979 autonom mit Hjemmestyre und seit 2009 mit Selvstyre. Seither herrscht die Überzeugung, dass der nächste und einzige übrigbleibende Schritt die staatliche Unabhängigkeit ist, was die politische und gesellschaftliche Debatte im 21. Jahrhundert verschärft hat. Diese wachsende Debatte muss zudem im globalen Kontext politischer Bewegungen für mehr Rechte für indigene Völker und (mentaler) Dekolonisierung gesehen werden. Grundsätzlich ist in Grönland die Meinung verbreitet, dass die Unabhängigkeit das Ziel ist, auf das hingearbeitet werden sollte. Es herrscht jedoch Uneinigkeit darüber, wann dies geschehen sollte: Einer Studie von 2018 zufolge würde je ein Drittel der sofortigen Unabhängigkeit zustimmen, sie ablehnen oder sich nicht sicher sein. Der häufigste Kritikpunkt ist, dass die Unabhängigkeit zu großen wirtschaftlichen Problemen führen würde, da Dänemark derzeit einen großen Teil der grönländischen Ausgaben durch direkte Zahlungen (Bloktilskud) oder Übernahme von Aufgaben abfedert. Dies zeigt sich auch darin, dass Grönland seit 2009 kaum Aufgaben im Zuge der Selvstyre von Dänemark übernommen hat, da dies zu höheren Kosten führen würde. Im Falle der Unabhängigkeit wird zudem von vielen eine neue und noch größere wirtschaftlichere Abhängigkeit von den USA oder China befürchtet. Deswegen zeigte eine andere Studie, dass nur 11 % eine sofortige Unabhängigkeit im Falle wirtschaftlicher Nachteile unterstützen würden, 12 % nur bei leichten Nachteilen, 44 % jedoch gar nicht. Dennoch herrschen ambivalente Haltungen zum Verhältnis zu Dänemark in der Gesellschaft: In Kunst und Kultur zeigt sich häufig starke ethnisch basierte Abgrenzung. In der Politik werden häufig Schuldvorwürfe gegenüber Dänemark laut, die die politische Zusammenarbeit auf die Probe stellen. Besonders für die junge Generation spielt der Aufstand und Aktivismus gegen die immer noch bestehenden postkolonialen Machtkonstrukte zwischen Grönländern und Dänen bzw. Grönland und Dänemark in der Gesellschaft eine große Rolle. Kultur Kunst Die Inuit kannten keine Kunst im westlichen Sinne. Präkoloniale Werke wie Schnitzereien und Tätowierungen dienten einem höheren Zweck oder der Dekoration. Ein eigentlicher Kunstbegriff entstand erst durch europäische Einflüsse. Mathias Ferslew Dalager, Sohn eines Kolonialverwalters, war Ende des 18. Jahrhunderts der erste Grönländer mit einer Kunstausbildung. Eine eigene grönländische Kunst entwickelte sich jedoch erst Mitte des 19. Jahrhunderts, geprägt von Personen wie Aron von Kangeq und Jens Kreutzmann, die aufgefordert von Hinrich Johannes Rink als Illustratoren tätig waren, die mit naivem Stil grönländische Alltagssituationen und Sagen und Mythen wiedergaben. Ende des 19. Jahrhunderts entstand das grönländische Kunsthandwerk, anfangs vor allem geprägt von Johannes Kreutzmann. Neben der Weiterentwicklung des Kunsthandwerks entstand Anfang des 20. Jahrhunderts die Landschaftsmalerei, deren bekannteste Vertreter Lars und Stephen Møller sowie Otto und Peter Rosing waren. Der nächsten Generation gehörten Hans Lynge, Jens Rosing, Kâle Rosing und später Thue Christiansen und Kristian Olsen an, die vor allem die Grafik revolutionierten. Ab den 1960er Jahren entstand eine neue Kunstrichtung, die vom Postkolonialismus geprägt das traditionelle Grönländische in der Kunst darzustellen versucht und sich auf künstlerische Weise politisch und gesellschaftskritisch mit der Vergangenheit und Gegenwart auseinandersetzen will. In dieser Zeit begannen Frauen zu den Hauptrepräsentantinnen der grönländischen Kunst zu werden. Die wohl bekannteste zeitgenössische grönländische Künstlerin ist Aka Høegh. Sie wurde wie viele andere ihrer Generation von der Dänin Bodil Kaalund geprägt, die die Kunstszene in Grönland entscheidend gefördert hat. Insgesamt sind heutzutage rund 25 Grönländer hauptberuflich als Künstler aktiv. Der Tupilak ist ein typisch grönländisches Kunstwerk. Es handelt sich um eine aus Knochen, Elfenbein, Stein oder Holz geschnitzte groteske Figur, die ursprünglich eine Rolle innerhalb des inuitischen Schamanismus innehatte, ab 1905 jedoch von Ostgrönland ausgehend zum reinen Kunstobjekt und heutigen Souvenir geworden ist. Neben grönländischen Künstlern war Grönland ein wichtiges Motiv für zahlreiche vor allem dänische Künstler, die sich während der Kolonialzeit in Grönland aufhielten. Zu diesen Grönlandsmalern () gehörten beispielsweise Aage Gitz-Johansen, Jens Erik Carl Rasmussen und Emanuel A. Petersen. In Nuuk gibt es eine Kunstschule, die bedeutend für die grönländische Kunst ist. Daneben gibt es mit dem Nuuk-Kunstmuseum und dem Ilulissat-Kunstmuseum zwei Kunstmuseen im Land. Daneben sind auch Werke im Kulturhaus Katuaq in Nuuk ausgestellt. Grönländische Kunst wird zudem regelmäßig in Dänemark, bspw. in De Grønlandske Huse präsentiert. Musik Die grönländische Musik hat ihre Ursprünge im traditionellen Trommeltanz (Inngerutit) der Inuit. Dazu wurde eine runde Trommel (Qilaat) in Form eines mit Robben- oder Hundehaut bezogenen Rahmens aus Treibholz oder Walrossrippen benutzt. Getrommelt wurde nicht auf die Membran, sondern mit einem Stock von unten auf den Rahmen. Dazu wurden einfache Melodien gesungen. Der Trommeltanz erfüllte früher drei soziale Funktionen: Sie war einerseits das Rechtsinstrument der Inuit. Streitigkeiten wurden bei einem Gesangsduell ausgetragen und beigelegt. Dabei versuchte man, den Anderen so lächerlich wie möglich zu machen. Die Zuschauer drückten durch ihr Lachen aus, wer der Gewinner und wer somit der Schuldige ist. Die Trommel konnte auch von Schamanen für rituelle Geisterbeschwörungen eingesetzt werden. Daneben hatte der Trommeltanz auch eine reine Unterhaltungsfunktion. Nach der Ankunft der Missionare im 18. Jahrhundert wurde der Trommeltanz als heidnisch-schamanistisch verboten und durch mehrstimmigen Gesang von Kirchenliedern (Tussiutit) verdrängt. Einen besonders starken Einfluss hatte dabei die Herrnhuter Brüdergemeine. Niederländische, deutsche und schottische Walfänger brachten ab dem 17. Jahrhundert die Fidel, das Akkordeon und die Polka (Kalattuut) nach Grönland, wo sie heute zu komplizierten Tanzschritten gespielt werden. Die grönländische Musik ist bis heute stark von religiöser Musik und Chorgesang geprägt, zu deren berühmtesten Vertretern seit dem 19. Jahrhundert Rasmus Berthelsen, Josva Kleist, Jakob II Egede und Johan Kleist gehören. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich in Grönland mit der Vaigat-Musik mit Zentrum in Qullissat eine westliche Musikkultur zu entwickeln, die anfangs vor allem von US-amerikanischer Countrymusik geprägt war und vor allem Gitarre und Akkordeon als Instrumente nutzte. In den 1960er Jahren war Rock ’n’ Roll populär. In den 1970er Jahren wurde von Per Berthelsen und Malik Høegh die Rockband Sumé gebildet, die die erste grönländische LP herausbrachten und großen politischen Einfluss auf die Autonomiebewegung hatten. Seither wird die grönländische Musikszene vor allem von Rockmusik und Hip-Hop geprägt, in geringerem Grad auch Volksmusik, Popmusik, Metal und Techno. Zu den bedeutendsten Musikern und Bands der jüngeren grönländischen Musikgeschichte gehören Rasmus Lyberth, Juaaka Lyberth, Ulf Fleischer, Ole Kristiansen, Nuuk Posse, Nanook und Josef Tarrak-Petrussen. Daneben versuchen sich Musiker wie Angu Motzfeldt, Julie Berthelsen, ̄Nive Nielsen und Small Time Giants durch englischsprachige Musik auch im Ausland zu vermarkten. Theater und Film Schauspiel spielte in der grönländischen Kultur eine wichtige Rolle, vor allem in Form von Maskentanz. Bereits im 19. Jahrhundert wurden in Grönland europäische Theaterstücke als Amateurtheater aufgeführt. Ab den 1930er Jahren entstanden die ersten grönländischen Theaterstücke, die von Hans Lynge und Pavia Petersen verfasst wurden. 1975 wurde in Dänemark das Tuukkaq Teatret gegründet und 1984 in Grönland von dessen Mitgliedern die Theatergruppe Silamiut, aus der 2011 das Grönländische Nationaltheater hervorging. Daneben gibt es in Grönland verschiedene Amateurtheatergruppen. Die grönländische Theaterszene ist stark von der traditionellen Kultur und ihren Ausdrucksweisen geprägt. Die bedeutendste Theaterschauspielerin Grönlands ist Makka Kleist. Im 20. Jahrhundert war Grönland wie in der Malerei auch ein beliebtes Motiv für Filmschaffende, wobei üblicherweise die Exotik der grönländischen Natur und Kultur im Zentrum stand. Bedeutende Filme aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind Das Eskimobaby (deutsch, 1918), Eskimo (dänisch-norwegisch, 1930) und Palos Brautfahrt (dänisch, 1934). Ersterer wurde nicht in Grönland gedreht und nutzte verkleidete europäische Darsteller, zweiterer wurde in Grönland gedreht, nutzte aber grönländische Darsteller nur für Komparsenrollen, während letzterer ausschließlich auf grönländische Laiendarsteller zurückgriff. Vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden zahlreiche dänische Dokumentarfilme über Grönland gedreht, wobei der bedeutendste Regisseur hierbei Jørgen Roos war. Ab den 1980er Jahren wurden Grönländer mehr und mehr in die Filmproduktion in Grönland miteinbezogen, wodurch Filme wie Tukuma (1983) und Lysets hjerte (1998) entstanden. Nach einigen grönländischen Kurzfilmen entstanden erst 2009 mit Hinnarik Sinnattunilu und Nuummioq die beiden ersten rein grönländischen Spielfilme von Bedeutung. Seither erscheint in Grönland etwa ein Spielfilm pro Jahr, wobei vermehrt auf nationalkulturellen Fokus verzichtet wird. Es wird versucht, die grönländische Filmindustrie zu professionalisieren. Literatur Mangels Schriftsprache hatten die Inuit keine eigentliche Literatur, allerdings wurden unzählige Sagen und Mythen mündlich tradiert. Die wurden im 19. Jahrhundert vor allem von Hinrich Johannes Rink in Westgrönland und im frühen 20. Jahrhundert von Knud Rasmussen in Nordgrönland gesammelt und konserviert. Ebenso wie die Musik war auch die grönländische Literatur im 19. Jahrhundert stark von der christlichen Kirchenlieddichtung beeinflusst. Von großer Bedeutung waren hierbei Rasmus Berthelsen, Henrik Lund und Jonathan Petersen. 1914 erschien mit Singnagtugaĸ („Ein Traum“) von Mathias Storch der erste grönländische Roman, der ebenso wie Augo Lynges Ukiut 300-nngornerat („300 Jahre später“) von 1931 ein utopisches freies Grönland in ferner Zukunft (2105 bei Mathias Storch, 2021 bei Augo Lynge) präsentiert. Beide waren auch politisch aktiv. Die Mitte des 20. Jahrhunderts war von Frederik Nielsen, Pavia Petersen und Hans Lynge dominiert, deren Romane sich ebenfalls mit Kolonisationsproblematiken sowie mit traditioneller Kultur beschäftigten. Etwas mehr Fokus auf letzterer haben die Werke der nächsten Generation aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu deren Hauptvertretern Otto Rosing, Villads Villadsen, Otto Sandgreen und Ole Brandt gehören. Ab den 1970er Jahren bildete sich in der postkolonialen Phase eine stark politisierte Literaturrichtung, von deren Hauptvertretern viele wie Moses Olsen und Aqqaluk Lynge auch zu den bedeutendsten Politikern des Landes gehörten. Andere Vertreter waren Kristian Olsen und Hans Anthon Lynge. In Romanen und Dichten wird deutlich die Danifizierung des postkolonialen Grönlands kritisiert und mehr Autonomie gefordert. Gemeinsam mit Ole Korneliussen prägte Hans Anthon Lynge das späte 20. Jahrhundert in der grönländischen Literatur. Im späten 20. Jahrhundert begannen auch grönländische Frauen zu schreiben. 1981 veröffentlichte Maaliaaraq Vebæk den ersten von einer Grönländerin geschriebenen Roman und 1988 gab Mariane Petersen die erste Gedichtsammlung einer Grönländerin heraus. Während die Literatur in jüngerer Zeit gegenüber anderen Ausdrucksformen an Bedeutung verloren hat, entsteht seit den 2010er Jahren eine neue Generation, die sich mit grönländischen Identitäts- und Gesellschaftsproblemen beschäftigt. Als bedeutendste Schriftstellerin dieser Generation gilt derzeit Niviaq Korneliussen. Küche Bei den Inuit war Fleisch nahezu die einzige verfügbare Nahrungsquelle, was sich noch heute in der grönländischen Küche widerspiegelt. Die meisten in Grönland lebenden Tiere fungieren auch heute noch als Nahrungsmittel. Zu den bedeutendsten Fleischlieferanten gehören Robbenfleisch, Rentier, Moschusochse, Lammfleisch, Walfleisch, Vogelfleisch und aus dem Meer Garnelen und zahlreiche Speisefische wie Forelle, Lachs, Rotbarsch und Heilbutt. Sowohl Fleisch als auch Fisch werden häufig zu Trockenfleisch und Trockenfisch getrocknet. Typisch grönländisch ist Mattak, meist roh gegessene Walhaut mit Speckschicht. In Grönland wachsen einige essbare Pflanzen. Vor allem Schwarze Krähenbeeren und Rauschbeeren sowie Arznei-Engelwurz. Daneben werden Rhabarber, Kartoffeln und verschiedene Rüben in Grönland angebaut und gegessen. Als Grönländisches Nationalgericht gilt Suaasat, eine Suppe auf Graupen- oder Reisbasis mit beliebigem Fleisch, meist Robbe, Rentier oder Lamm, und Zwiebeln. Grönländisches Essen wird als Kalaalimerngit/Kalaalimernit bezeichnet und meist selbst gejagt oder von Jägern auf lokalen Märkten (auf Dänisch Brættet „Brett“, auf Grönländisch Kalaalimineerniarfik „Wo Kalaalimerngit verkauft werden“) verkauft. Im Handel sind europäische Lebensmittel wie Gemüse oder Rind- und Schweinefleisch verfügbar, die aber aufgrund von Importkosten und Zöllen deutlich teurer sind. Das Preisniveau für Lebensmittel liegt durchschnittlich etwa 50 % über dem dänischen. Es ist üblich Kaffemiks zu veranstalten, wo jeder anlässlich eines Familienereignisses zum Essen vorbeikommen kann. Hierbei werden meist Kaffee und grönländischer Kuchen, aber auch Hauptgerichte serviert. Architektur Die grönländische Architektur hat sich in den letzten Jahrhunderten mehrfach radikal verändert. Verschiedene archäologisch überlieferte steinzeitliche Haustypen waren in Grönland zu Beginn der Kolonialzeit im 18. Jahrhundert überliefert. Es handelte sich um Torfmauerhäuser, flache kleine Steingebäude für eine oder mehrere Familien, deren Wände mit Torf versiegelt waren und deren Dach meist aus Treibholz und Robbenfell bestand, das dann ebenfalls mit Steinen und Torf abgedeckt wurde. Die Europäer errichteten in den Kolonien Holzhäuser nach norwegischem Vorbild, die anfangs als Stockwerkhaus, ab dem 19. Jahrhundert als Fachwerkhaus errichtet wurden. Sie dienten als Wohnhäuser für die Angestellten und beispielsweise als Kirchengebäude. Die europäische Baukultur hatte auch starken Einfluss auf die grönländischen Torfmauerhäuser, sodass sich ein Mischtyp bildete, bei dem das Innere der Gebäude sowie das Dach mit Holz verkleidet wurden und lediglich die Außenwände weiterhin aus Torfmauern bestanden. Eine weitere Weiterentwicklung war der Gebrauch nur von Stein, der in großen Steinhäusern resultierte, die für Handelszwecke, vor allem als Lager benutzt wurden. Bis ins 20. Jahrhundert lebte die grönländische Bevölkerung zu großen Teilen in Torfmauerhäusern, bevor diese im Zuge der Modernisierung außer Gebrauch gerieten. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich zwei Architekturrichtungen: Die Selbstbauerhäuser sind Holzhäuser, die mit geringem architektonischem Geschick als Einzelstücke von den Bewohnern selbst errichtet wurden. Auf der anderen Seite stand das Architekturbüro von Grønlands Tekniske Organisation für die Massenproduktion von Typhäusern, wodurch in vielen Städten ganze Straßenzüge aus gleichartigen Häusern entstanden. Ab den 1960er Jahren entstanden in vielen Städten Reihenhäuser und Wohnblöcke wie Blok P, um den rasant wachsenden Wohnungsbedarf der mehr und mehr urbanisierten Bevölkerung zu decken. Im 21. Jahrhundert werden in Nuuk primär Hochhäuser errichtet, um den explodierenden Wohnungsbedarf der Hauptstadt zu decken. Viele Stadtwohnungen sind in kommunalem Besitz, da die Mobilität groß ist und die Bevölkerung somit meist nur wenige Jahre an einem Ort wohnen bleibt, jährlich ziehen 40 % um. Ein großer Teil der älteren Einfamilienhäuser und Wohnblocks, vor allem der kommunalen, ist stark renovierungsbedürftig. Sport Ab 1933 entwickelte sich das grönländische Sportwesen mit der Gründung von ersten Sportvereinen. 1953 wurde mit Grønlands Idrætsforbund (GIF) der grönländische Sportverband gegründet, der heutzutage über 9000 aktive Mitglieder hat, die in rund 130 Vereinen in neun Unterverbänden organisiert sind. Grönland hat sich zum Ziel gesetzt, 2030 das sportlich aktivste Land der Welt zu sein. Zu den beliebtesten Sportarten in Grönland gehören Fußball, Handball, Badminton, Tischtennis, Skisport und Kampfsport. Dazu kommen als typisch arktische Sportarten Hundeschlittensport, Kajaksport und traditionelle Inuitwettkämpfe, die häufig auf Stärke und Geschicklichkeit basieren. In Grönland gibt es mehrere Marathons und Extremsportwettbewerbe. Der bekannteste in Grönland ausgetragene Wettbewerb ist das Arctic Circle Race. Grönland nimmt regelmäßig an den Island Games und den Arctic Winter Games teil. Dazu konnten sich grönländische Handballnationalmannschaften mehrfach für Weltmeisterschaften qualifizieren. In vielen Sportarten wie Fußball oder Badminton ist Grönland kein unabhängiger Verband, sondern als Teil Dänemarks in internationalen Wettbewerben nicht teilnahmeberechtigt. Mehrere grönländische Sportler haben für Dänemark an den Olympischen Spielen (vor allem den Winterspielen) teilgenommen. Siehe auch Literatur Historische Landesbeschreibungen Moderne Übersichtswerke Rasmus Ole Rasmussen: Grønland. Den Store Danske. Weblinks Literatur über Grönland im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Grönland in The World Factbook Offizielle Website der grönländischen Regierung Offizielle Website von Visit Greenland Offizielle Website von Grønlands Statistik Offizielle Karte über Grönland von Asiaq Einzelnachweise Land (Königreich Dänemark) Insel (Nordamerika) Insel (Grönland) Insel (Arktischer Ozean) Insel (Atlantischer Ozean) Geographischer Rekord Sonderwirtschaftszone Autonome Verwaltungseinheit Dänische Kolonialgeschichte Norwegische Geschichte Protektorat Ehemaliges Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung Wikipedia:Artikel mit Video