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https://de.wikipedia.org/wiki/Hamburg
Hamburg
Hamburg (; regiolektal auch , dialektal []), amtlich Freie und Hansestadt Hamburg (, Ländercode HH), ist als Stadtstaat ein Land der Bundesrepublik Deutschland. Der amtliche Name verweist auf die Geschichte Hamburgs als Freie Reichsstadt und als führendes Mitglied des Handelsbundes der Hanse. Hamburg ist mit rund 1,89 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Deutschlands und die drittgrößte im deutschen Sprachraum. Mit rund  Quadratkilometern ist Hamburg die zweitgrößte Gemeinde Deutschlands. Das Stadtgebiet ist in sieben Bezirke und 104 Stadtteile gegliedert, darunter mit dem Stadtteil Neuwerk eine in der Nordsee gelegene Inselgruppe. Der Hamburger Hafen zählt zu den größten Umschlaghäfen weltweit und macht Hamburg zusammen mit dem internationalen Flughafen zu einem bedeutenden Logistikstandort. Wirtschaftlich und wissenschaftlich ist die Metropole vor allem im Bereich der Luft- und Raumfahrttechnik, der Biowissenschaften und der Informationstechnik sowie für die Konsumgüterbranche und als Medienstandort bedeutend. Seit 1996 ist Hamburg zudem Sitz des Internationalen Seegerichtshofs (ISGH). Hamburg verzeichnet ein starkes Wachstum im Bereich des internationalen Stadttourismus. Im jährlichen Ranking der Städte mit der höchsten Lebensqualität in der Welt des Beratungsunternehmens EIU fiel Hamburg im Jahr 2021 von Platz 13 auf Platz 47. Die Speicherstadt und das benachbarte Kontorhausviertel sind seit 2015 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Weitere bekannte Kulturdenkmäler und Wahrzeichen sind das Hamburger Rathaus und die fünf Hauptkirchen. Typisch für das Stadtbild sind weiterhin viele Klinkerfassaden sowie die Wassernähe mit zahlreichen Flüssen, Fleeten und Kanälen. International bekannt sind auch das Vergnügungsviertel St. Pauli mit der Reeperbahn sowie das 2017 eröffnete Konzerthaus Elbphilharmonie. Geographie Lage Hamburg liegt in Norddeutschland an den Mündungen der Bille und der Alster in die Unterelbe, die etwa 100 Kilometer weiter nordwestlich in die Nordsee mündet. Nahe dieser Mündung befindet sich der aus drei Inseln bestehende Stadtteil Neuwerk. An der Elbe erstreckt sich der Tidehafen etwa von der Veddel bis Finkenwerder, hauptsächlich auf dem Südufer der Norderelbe, gegenüber den Stadtteilen St. Pauli und Altona. Die beiden Ufer sind durch die Elbbrücken im Osten sowie durch den Alten und Neuen Elbtunnel verbunden. Das Land südlich und nördlich des Flusses ist Geest, höher gelegene Flächen, die durch die Sand- und Geröllablagerungen der Gletscher während der Eiszeiten entstanden sind. Die nördlichsten Bereiche der Stadt gehören zum fruchtbaren Jungmoränenland. Die unmittelbar am Fluss liegenden Marschen wurden auf beiden Seiten der Elbe über Jahrhunderte von Nebenarmen der Elbe durchzogen und vom Flutwasser der Nordsee überschwemmt, wobei sich Sand und Schlick abgelagert haben. Inzwischen ist die Elbe beidseitig eingedeicht, Nebenarme wurden trockengelegt, umgeleitet, kanalisiert oder abgedeicht. Alte Deichanlagen erinnern in den Außenorten noch an die Zeit, als bei Hochwasser ganze Viertel überflutet waren. Höchste Erhebung ist mit der Hasselbrack in einem Nordausläufer der Harburger Berge. Die Alster in der Innenstadt wurde schon seit dem Mittelalter zu einem See aufgestaut. Dieser teilt sich in die größere Außenalster und die kleinere, vom historischen Kern der Stadt umschlossene Binnenalster. Die Zuflüsse der Alster – wie die Alster selbst – sind im Stadtgebiet zum Teil kanalisiert. Sie sind zumeist von ausgedehnten öffentlichen Parkanlagen gesäumt. Die zahlreichen Fleete, Flüsschen und Kanäle der Stadt werden von fast 2500 Brücken überspannt. Weithin unbekannt ist, dass sich auf der größten Flussinsel der Elbe, in Wilhelmsburg, einer der letzten Tideauenwälder Europas befindet. Hamburg grenzt im Norden an Schleswig-Holstein und im Süden an Niedersachsen. Bis auf einige kleinere „Gebietsbereinigungen“, wie den Erwerb der Insel Neuwerk und von Flurstücken beim Stauwerk Geesthacht, bestehen die heutigen Grenzen der Stadt Hamburg seit dem Groß-Hamburg-Gesetz, das am 1. April 1937 in Kraft trat. Die Stadt ist nach Berlin sowohl hinsichtlich ihrer Einwohnerzahl als auch ihrer Fläche die zweitgrößte Stadt Deutschlands. Südlich der Binnenalster liegt das historische Zentrum der Stadt. Der geografische Mittelpunkt von Hamburg in seinen gegenwärtigen politischen Grenzen soll ein Punkt am Kuhmühlenteich im Stadtteil Uhlenhorst sein. Der nördlichste Punkt Hamburgs ist die Insel Scharhörn, der östlichste Altengamme, der südlichste der Krauel und der westlichste die Insel Nigehörn. Die größte Ausdehnung von der Stadt in Ost-West-Richtung beträgt 39,88 km und in Nord-Süd-Richtung 42,31 km. Die Stadt Hamburg besteht zu 92 Prozent aus Land- und zu acht Prozent aus Wasserfläche. Fließgewässer Elbe (Unterelbe) mit Norderelbe, Süderelbe, Köhlbrand, Reiherstieg, Rethe, Dove Elbe und Gose Elbe Nebenflüsse der Elbe: Seevekanal, Bille, Alster, Flottbek und Este Nebenflüsse der Alster: Eilbek (Wandse), Osterbek, Goldbek, Isebek, Tarpenbek, Saselbek, Rodenbek, Bredenbek, Ammersbek Schutzgebiete Geologie Verwaltungsgliederung Bezirke Hamburgs Landesverfassung bestimmt, dass Bezirke zu bilden sind, in denen Bezirksämtern die selbständige Erledigung übertragener Aufgaben obliegt. Die sieben Bezirke sind in insgesamt 104 Stadtteile unterteilt. Die meisten Stadtteile sind weiter in mehrere Ortsteile gegliedert, seit dem 1. Januar 2011 insgesamt 181. Einige Stadtteile im Kernbereich der Bezirke wurden bis 2008 direkt vom betreffenden Bezirksamt verwaltet, für die anderen Stadtteile der Bezirke gab es jeweils ein eigenes Ortsamt; insgesamt waren 13 Ortsämter eingerichtet. Anfang 2008 wurden durch eine Gebietsreform die Grenzen einzelner Stadtteile und Bezirke neu gezogen. So fiel der Stadtteil Wilhelmsburg vom Bezirk Harburg an Mitte, und die Stadtteile Sternschanze im Bezirk Altona und HafenCity im Bezirk Hamburg-Mitte wurden neu geschaffen. Anmerkung: Die Einwohnerzahlen in dieser Tabelle basieren auf der Auszählung aus dem Melderegister und weichen daher ab von der Einwohnerzahl in der Infobox am Anfang des Artikels, die eine Fortschreibung der Zahlen auf Basis des Zensus 2011 ist. Exklaven Hamburg verfügt über mehrere Exklaven. Zu Hamburg gehören die Nordseeinseln Neuwerk, Scharhörn und Nigehörn sowie der Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer, der 2011 zum Gebiet des Weltnaturerbes des Wattenmeeres der Nordsee hinzukam. Als Stadtteil Hamburg-Neuwerk gehören sie zum Bezirk Hamburg-Mitte, der deshalb nördlichster und westlichster Bezirk Hamburgs ist. Die Volksdorfer Buschwiese ist eine Hamburger Exklave, mit einer Fläche von 0,8 ha, die vollständig vom Gebiet der Gemeinde Ammersbek in Schleswig-Holstein umschlossen ist und zum Bezirk Wandsbek gehört. Nachbarstädte und Gemeinden Folgende Städte und Gemeinden grenzen an die Stadt Hamburg; sie werden im Uhrzeigersinn beginnend im Nordwesten genannt: in Schleswig-Holstein: im Kreis Pinneberg (PI): Wedel, Appen, Pinneberg, Schenefeld, Halstenbek, Rellingen, Ellerbek (Amt Pinnau) und Bönningstedt im Kreis Segeberg (SE): Norderstedt im Kreis Stormarn (OD): Tangstedt (Stormarn), Jersbek (Amt Bargteheide-Land), Ammersbek, Ahrensburg, Stapelfeld (Amt Siek), Barsbüttel, Oststeinbek, Glinde und Reinbek im Kreis Herzogtum Lauenburg (RZ): Wentorf bei Hamburg, Börnsen und Escheburg (beide Amt Hohe Elbgeest) und Geesthacht in Niedersachsen: im Landkreis Harburg (WL): Drage (Samtgemeinde Elbmarsch), Winsen (Luhe), Stelle, Seevetal, Rosengarten und Neu Wulmstorf im Landkreis Stade (STD): Jork im Landkreis Cuxhaven (CUX): Cuxhaven (Festland bei Neuwerk) Klima Hamburg liegt in der kühlgemäßigten Klimazone und ist durch ein Seeklima geprägt. Aufgrund der durch vorherrschende Westwinde maritimen Einflüsse ist das Klima im Winter milder, im Sommer kühler als im östlichen Hinterland. Die Jahresdurchschnittstemperatur beträgt 9,4 °C. Der wärmste Monat ist der Juli mit durchschnittlich 18,1 °C, der kälteste der Januar mit 1,6 °C. Temperaturen um die 28 °C sind im Hochsommer keine Seltenheit. An der Wetterstation Neuwiedenthal wurde ein Maximalwert von 40,1 °C (20. Juli 2022) gemessen. Das absolute Temperaturminimum liegt bei −29,1 °C (13. Februar 1940). Das Klima ist ganzjährig feucht. Im Laufe eines Jahres fallen durchschnittlich 773 mm Niederschlag, an durchschnittlich 52 Tagen im Jahr herrscht Nebel. Der meiste Regen fällt in den 31 Tagen, die um den 29. Juni liegen; der wenigste fällt um den 16. April herum. Im Winterhalbjahr kann es sehr stürmisch werden. Sprichwörtlich ist das Hamburger Schmuddelwetter (regional Schietwedder genannt). Umwelt Die Umweltsituation ist und war in Hamburg häufig Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Regelmäßig ist die für zahlreiche Einwohner gesundheitsgefährdende Belastung durch Lärm aufgrund des Straßen-, Bahn- und Luftverkehrs ein Thema. Hamburg hat trotz hohem Kraftfahrzeuganteil an den Wegen der Einwohner und einem hohen Pendleraufkommen, das ebenfalls zu einem erheblichen Anteil mit Kraftfahrzeugen erfolgt, keine Umweltzone, anders als die meisten anderen deutschen Ballungsgebiete. Bei der Luftverschmutzung kommen zu den für Großstädte typischen Belastungen aus Heizungen, Stromerzeugung, drei Müllverbrennungsanlagen und Autoverkehr weitere Belastungen durch hafenbezogenen Schiffsverkehr und Industrie, hier auch mit Geruchsbelästigungen, hinzu. Hamburg hat seit 1978 eine Behörde, die das Wort „Umwelt“ in ihrem Namen trägt. Sie bewarb sich für die Stadt erfolgreich um den Titel Umwelthauptstadt Europas, den Hamburg 2011 führen durfte, was bei Umweltverbänden kritisch bewertet wurde. Naturschutz Debatten gab es Anfang der 2000er-Jahre um die Erweiterung bei Airbus und im Zusammenhang damit das teilweise Verfüllen des Mühlenberger Lochs und bis 2008 um den Neubau des Kohlekraftwerks Moorburg. Bundesweit bekannt geworden sind Umweltskandale wie die Dioxin-Verseuchung des Boehringer-Geländes in Billbrook und der Giftberg mit Dioxin und Parathion in Georgswerder Anfang der 1980er-Jahre sowie die Probleme mit belastetem oder giftigem Elbschlick, unter anderem in Altenwerder. Zudem ist die Elbvertiefung ein Streitpunkt in der Hamburger Politik. Luft Bis zum Jahr 2000 ging die Luftverschmutzung mit Stickstoffdioxid (NO2) stetig zurück. Dies wurde auf die verbindliche Einführung des Katalysators und die Erneuerung der Kraftfahrzeugflotte zurückgeführt. Seitdem blieb die Belastung auf dem erreichten Niveau oder stieg an einigen Stationen wieder an. Wegen der Überschreitung der NO2-Grenzwerte wurde 2004 erstmals ein Luftreinhalteplan angeordnet, der Maßnahmen beinhaltete, die eine Einhaltung der NO2-Grenzwerte auf Dauer sicherstellen sollten. Die weiterhin anhaltenden NO2-Grenzwertüberschreitungen führten im Jahr 2012 zu einer Fortschreibung des Hamburger Luftreinhalteplans. Außerdem konnte die Zahl der pro Kalenderjahr erlaubten 35 Überschreitungen des Tagesmittelgrenzwertes für Feinstaub (PM10) in den Jahren 2005 und 2006 erstmals nicht eingehalten werden. Die erste Fortschreibung des Hamburger Luftreinhalteplans enthält deshalb verschiedene Maßnahmen zur Reduktion der Schadstoffe Stickstoffdioxid und Feinstaub. Aufgrund von weiterhin anhaltenden Grenzwertüberschreitungen bei Stickstoffdioxid wurde die Stadt durch ein Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 5. November 2014 (Aktenzeichen 9 K 1280/13) verpflichtet, „den derzeit gültigen Luftreinhalteplan so zu ändern, dass dieser die erforderlichen Maßnahmen zur schnellstmöglichen Einhaltung des über ein Kalenderjahr gemittelten Immissionswertes für NO2 von 40 μg/m³ enthält.“ Die zweite Fortschreibung des Luftreinhalteplans, in Kraft getreten am 30. Juni 2017, dient insbesondere der Umsetzung dieses Urteils. Klimawandel In Hamburg führt die globale Erwärmung zu einer größeren Zahl von Sommertagen, heißen Tagen und tropischen Nächten, was Auswirkungen auf Arbeitsproduktivität, Konzentrationsfähigkeit und die Gesundheit der Stadtbevölkerung hat. Der noch größere Rückgang an für die Landwirtschaft bedeutenden Frost- und Eistagen hat für Hamburg als Stadt weniger große Relevanz. Bezüglich der Entwicklung der Niederschlagsmengen liegen bislang keine ausreichenden Daten vor. Der Anstieg des Meeresspiegels wird zu einem erhöhten Sturmflutrisiko und mehr Sedimenten und einer Verschiebung der Brackwasserzone in der Elbe führen. Die Stadtverwaltung beobachtet diese Folgen des Klimawandels auf der Grundlage eines „Klimaplans“, um sie zu bewerten und Anpassungsmaßnahmen zu treffen. Geschichte Die ältesten festen Behausungen datieren auf das 4. Jahrhundert v. Chr. für die Ortschaft, die von dem antiken Wissenschaftler Claudius Ptolemäus noch als Treva bezeichnet wurde. Vom 4. bis ins 6. Jahrhundert siedelten sich Sachsen im nordelbischen Raum an. Im 8. Jahrhundert entstand die Hammaburg, in der Karl der Große im Jahr 810 eine Taufkirche errichten ließ, um den heidnischen Norden zu missionieren. 831 begründete Ludwig der Fromme hier ein Bistum, das kurze Zeit später zum Erzbistum wurde. Doch schon kurz nach der Reichsteilung von Verdun 843 überfielen Wikinger die Region, später die slawischen Abodriten, der Erzbischof verlegte seinen Amtssitz nach Bremen. Graf Adolf III. von Schauenburg und Holstein war im 12. Jahrhundert der Gründer einer Handels- und Marktsiedlung am westlichen Alsterufer. Durch das angeblich von Kaiser Friedrich I. Barbarossa 1189 verliehene Hafenrecht an diese Siedlung und die Handelsprivilegien für die ganze Unterelbe entwickelte sich die Stadt im Mittelalter zu einem florierenden Handelszentrum und galt mit ihren zeitweilig 600 Brauereien als „Brauhaus der Hanse“. Im 14. Jahrhundert entwickelte sich Hamburg als eines der ersten Mitglieder des Kaufmannsbundes Hanse zum wichtigsten deutschen Umschlag- und Stapelplatz zwischen Nord- und Ostsee. Ab 1510 galt Hamburg endgültig als Reichsstadt. 1558 wurde die Hamburger Börse als eine der ersten Deutschlands eröffnet, im Jahre 1678 unter dem Namen Opern-Theatrum die erste deutsche Oper am Gänsemarkt. Zur Reformationszeit wurde der Stadtstaat ohne Blutvergießen evangelisch. Die Stadt Hamburg erlebte ihre kulturelle Blüte vor allem im 17. und 18. Jahrhundert unter anderem mit der Gründung des Hamburgischen Nationaltheaters (1767). Auch nach dem Niedergang der Hanse und während der Aufklärung und der Industrialisierung blieb die Stadt neben Berlin das bedeutendste Wirtschaftszentrum Norddeutschlands. Hamburg blieb von den Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges verschont und konnte ihn zum Vorteil nutzen, um seine Vormachtstellung im Handel auszubauen. In ihrer wechselvollen Geschichte unterstand die Stadt der dänischen Königskrone (aber nie von Hamburg formal anerkannt), war Teil des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und Hauptstadt des Départements Elbmündung (Département des Bouches de l’Elbe) im französischen Kaiserreich (Hamburger Franzosenzeit). 1813–1814 wurde Hamburg vom russischen General Bennigsen belagert. Als Freie Stadt trat es 1815 nach dem Wiener Kongress dem Deutschen Bund bei. 1867 wurde es Mitglied des von Otto von Bismarck initiierten Norddeutschen Bundes und blieb 1871 Gliedstaat des nun in Deutsches Reich umbenannten Bundesstaates. Besondere Ereignisse der Neuzeit waren der große Hamburger Brand 1842, die Choleraepidemie 1892, der erhebliche Flächen- und Bevölkerungszuwachs 1937/38 durch das Groß-Hamburg-Gesetz, die Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg 1943, die Zerstörung der jüdischen Gemeinde (→ Geschichte der Juden in Hamburg), die Errichtung des Konzentrationslagers Neuengamme und seiner zahlreichen Nebenlager im Stadtgebiet, die kampflose Übergabe an die englischen Truppen am 3. Mai 1945, die Sturmflut 1962, die Anbindung an das internationale Straßennetz und den Flugverkehr (Finkenwerder und Fuhlsbüttel), die Veränderung im Hafen und die Auseinandersetzungen um die Hafenstraße in den 1980er-Jahren. Bevölkerung Bevölkerungsentwicklung Den bislang höchsten Einwohnerstand mit (gemäß Melderegister) 1,899 Millionen erreichte Hamburg im Jahre 2019, zuvor war der Höchststand mit 1,86 Millionen im Jahre 1964. Allerdings liegt seit dem Zensus 2011 die amtlich fortgeschriebene Bevölkerungszahl um ca. 50.000 niedriger (Stand 31. Dezember 2019). In den folgenden Jahren war die amtlich fortgeschriebene Bevölkerungszahl des Statistischen Amts für Hamburg und Schleswig-Holstein auf 1.892.122 zum 31. Dezember 2022 gestiegen. Nach 1964 führte Stadtflucht (Suburbanisierung) zu einem Bevölkerungsrückgang bis 1986 auf rund 1,6 Millionen Einwohner. Seitdem ist die Bevölkerungszahl auf 1,81 Millionen (Dezember 2016) angestiegen. Für die kommenden Jahre (bis 2030) wird für Hamburg ein weiterer Bevölkerungsanstieg vorausgesagt, in der mittleren Projektion auf etwa 1,9 Millionen Einwohner. Neuerdings (2013) wird auch ein Wachstum auf über zwei Millionen Einwohner diskutiert. 2010 und 2011 wurden in Hamburg erstmals seit Jahrzehnten wieder Geburtenüberschüsse verzeichnet. 2010 brachten Frauen in Hamburg 17.377 Kinder zur Welt, 2011 waren es 17.125. Dem standen 2010 17.060 und 2011 ebenfalls 17.060 Sterbefälle gegenüber. Daraus ergab sich 2011 ein positiver Saldo von 65 Einwohnern. Außerdem sorgten 93.466 Zuzüge bei nur 81.231 Fortzügen zu einer Bevölkerungszunahme von 12.235 Einwohnern gegenüber 2010. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag im Zeitraum 2015/17 bei 78,5 Jahren für Männer und bei 83,2 Jahren für Frauen. Die Männer und Frauen belegen damit unter den deutschen Bundesländern jeweils Rang 5. Bevölkerungsgruppen Herkunft Ende 2013 hatten 550.000 Einwohner einen Migrationshintergrund (melderechtlich registrierte Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit und zugleich ausländischer Herkunft), dies sind etwa 31 Prozent aller Einwohner Hamburgs. Die Zahl an Ausländern (melderechtlich registrierte Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit) bezifferte sich Ende 2012 auf 238.000 Einwohner. Ende 2012 wurden 197.000 Personen eingebürgert und 78.000 waren Aussiedler. Der Ausländeranteil betrug Ende 2013 13,2 Prozent. Vertreten waren 183 Staatsangehörigkeiten. Von den Einwohnern ohne deutsche Staatsangehörigkeit kamen Ende 2012 51.799 Personen aus der Türkei, 20.635 aus Polen, 11.732 aus Afghanistan und 11.081 aus dem ehemaligen Serbien und Montenegro. Aus Mitgliedsländern der Europäischen Union kamen mehr als ein Viertel aller in Hamburg gemeldeten Ausländer. Beschäftigung 2014 waren in Hamburg insgesamt 1.193.400 Menschen erwerbstätig. 339.600 davon waren bei öffentlichen und privaten Dienstleistern, 393.100 im Handel, Verkehr, Gastgewerbe, sowie im Informations- und Kommunikationsbereich, 304.300 im Unternehmensdienstleistungsbereich (Finanzwesen, Unternehmensdienstleistungen, Grundstücks- und Wohnungswesen), 115.900 im produzierenden Gewerbe, 38.200 im Baugewerbe sowie 2.400 in der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft beschäftigt. Einkommen 2006 betrug das durchschnittliche steuerpflichtige Einkommen 35.887 Euro brutto jährlich. Weibliche Arbeitnehmer verdienten in Hamburg 2010 durchschnittlich rund 20 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. An den Flüssen und an der waldreichen Peripherie des Nordostens haben sich drei größere Gebiete etabliert, in denen die Einwohner durchschnittlich über ein besonders hohes Einkommen verfügen: in den Elbvororten im Westen, in den im Nordosten gelegenen Stadtteilen samt den Walddörfern und rund um die Außenalster bzw. nördlich von ihr im Bereich der nördlichen Stadtmitte. Hinzu kommt der im Osten liegende Stadtteil Marienthal. Die höchsten durchschnittlichen Einkünfte haben die Einwohner der Elbvororte. Nienstedten liegt mit durchschnittlich 170.408 Euro (2007) weit vorn, gefolgt von Blankenese mit 110.108 Euro. In den Walddörfern erreichen die Einwohner in Wohldorf-Ohlstedt mit durchschnittlich 105.305 Euro (2007) die höchsten Einkommen. In den Stadtteilen rund um die Außenalster verfügen die Harvestehuder über 88.746 Euro (2007). Hamburg ist die Stadt mit den meisten (Vermögens-)Millionären Deutschlands. Hamburg hatte 2019 außerdem mit 10,9 % die höchste Reichtumsquote im Vergleich der Bundesländer und den höchsten Anteil an Einkommensmillionären. Der Gürtel der einkommensschwachen Gegenden zieht sich von Billstedt im Osten bis an die östliche Innenstadt; die Elbinsel Wilhelmsburg mit der Veddel und das südlich der Elbe gelegene Harburg; die westlichen Stadtteile Altona-Altstadt, Altona-Nord und St. Pauli. Darüber hinaus sind die östlichen Stadtteile Dulsberg, Barmbek-Nord und Steilshoop und der westliche Stadtteil Lurup betroffen. Das geringste durchschnittliche Einkommen haben die Einwohner der auf der Elbinsel gelegenen Stadtteile Veddel, Kleiner Grasbrook und Steinwerder mit 11.756 bis 15.491 Euro (2007). Danach folgt der Stadtteil Rothenburgsort mit 18.850 Euro. All diesen Stadtteilen ist die Nähe zum Hamburger Hafen und zu den Industrie- und Gewerbegebieten gemein. Der einkommensschwächste Stadtteil im zentralen Stadtgebiet ist Dulsberg mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 18.927 Euro. Der Stadtteil weist eine ältere, sehr dichte Bebauung auf. Leistungsempfänger Die Quote der Leistungsempfänger nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (kurz SGB II), die Arbeitslosengeld II beziehen, lag hamburgweit im März 2013 bei durchschnittlich 10,3 Prozent und damit unter dem Durchschnitt des Stadtstaates Berlin und des Landes Bremen von 14,5 Prozent. In den einkommensstarken Gebieten, in den nördlichen Stadtteilen, südlichen Randgebieten und im größten Teil des Bezirks Bergedorf sind vergleichsweise wenige Leistungsempfänger registriert. Die Quote liegt dabei teilweise bei unter einem Prozent. In den einkommensschwachen dichtbesiedelten Altbau-Stadtteilen Altona und St. Pauli sowie in Stadtteilen mit Hochhaussiedlungen wie Steilshoop, Lurup und Hausbruch liegt der Anteil der Hilfeempfänger höher. Bei über 22 Prozent Hilfeempfänger liegen die Stadtteile, die sich im Osten von Jenfeld bis in den Süden nach Wilhelmsburg ziehen und durch Industrie und/oder Hochhaussiedlungen wie Mümmelmannsberg oder Kirchdorf-Süd geprägt sind. Religionen und Weltanschauungen Konfessionsstatistik Gemäß dem Zensus 2011 waren 29,8 % der Einwohner evangelisch, 9,8 % römisch-katholisch und 60,4 % waren konfessionslos oder gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an. Die Zahl der Katholiken und vor allem die der Protestanten ist seitdem gesunken. Ende 2021 hatte Hamburg 1.853.935 Einwohnern davon 22,8 % Protestanten, 9,2 % Katholiken und 68,0 % hatten entweder eine andere oder keine Religionszugehörigkeit. Religionsgeschichte Hamburg war seit der Reformation eine evangelisch-lutherisch geprägte Stadt. Der Rat der Stadt Hamburg unterzeichnete die lutherische Konkordienformel von 1577. Durch seine Stellung als wichtige Hafenstadt war es aber schon lange offen für andere Konfessionen. So entstand hier zum Beispiel 1834 die erste deutsche Baptistengemeinde. In Altona wurde bereits 1601 die heute noch bestehende Hamburger Mennonitengemeinde gegründet. Auch für die Apostolischen Gemeinschaften ist die Hansestadt ein wichtiger Ort. Von hier aus erfolgte die Trennung der Allgemeinen Christlichen Apostolischen Mission von den katholisch-apostolischen Gemeinden und die Entwicklung zur Neuapostolischen Kirche. Heute gibt es 16 neuapostolische Kirchen in Hamburg, ebenso ist in Hamburg der Sitz der Neuapostolischen Kirche Norddeutschland. Hamburg ist außerdem seit 1995 Sitz des römisch-katholischen Erzbistums Hamburg mit seinem Zentrum im Neuen Mariendom. Hamburg ist auch der Geburtsort der Jesus Freaks und der Flussschifferkirche, einem Kirchenschiff im Binnenhafen. Seit 1910 gibt es auch in Hamburg Jehovas Zeugen. Die jüdische Religionsgemeinschaft hat in Hamburg eine lange Tradition, die Ende des 16. Jahrhunderts mit der Ansiedelung europäischer Juden begann und über die Jahrhunderte verschiedene Synagogen im Hamburger Raum entstehen ließ. Während der Novemberpogrome 1938 wurden die meisten Synagogen zerstört. Der 1611 gegründete jüdische Friedhof in Altona, auf dem sowohl von der Iberischen Halbinsel eingewanderte Juden (Sepharden) als auch mittel- und osteuropäischen Juden (Aschkenasim) bestattet wurden, ist heute noch Zeugnis dieser über Jahrhunderte währenden Geschichte. Auf Grund seines Alters und der Anzahl an wertvollen Grabsteinen zählt der Friedhof zu den bedeutendsten jüdischen Gräberfeldern der Welt. Die Jüdische Gemeinde Hamburg ist heute mit 2.289 Mitgliedern (Stand 2021) eine der größten jüdischen Gemeinden Deutschlands. Neben der Jüdischen Gemeinde Hamburg gibt es noch den 1817 gegründeten (1938 illegal entzogener Status) und nach der NS-Zeit seit dem Jahr 2004 wieder wirksamen „Israelitischen Tempelverband / Liberale Jüdische Gemeinde Hamburg“ mit über 300 Mitgliedern und seit 2003 das „Jüdische Bildungszentrum Chabad Lubawitsch Hamburg e. V.“. Das Zentrum jüdischen Lebens in der Stadt befand sich rund um die frühere Talmud-Tora-Schule am Grindel, im Bezirk Eimsbüttel. Seit den 1960er-Jahren gibt es einen bedeutenden Anteil muslimischer Bevölkerung. Am 22. Juni 1957 wurde in Stellingen mit der Fazle-Omar-Moschee die erste Moschee, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland entstanden ist, von der Ahmadiyya Muslim Jamaat eröffnet. Auch andere Religionen sind in Hamburg in zunehmendem Maße vertreten. Die Anhängerschaft des Buddhismus besteht sowohl aus asiatischen Einwanderern als auch aus deutschstämmigen Konvertiten. Insbesondere die buddhistischen Richtungen Zen und tibetischer Buddhismus genießen eine gewisse Popularität. Sprache und Mundarten Bis weit ins 19. Jahrhundert war Niederdeutsch (Plattdeutsch) die allgemeine Umgangssprache in der Stadt. Dann wurde es vom Hochdeutschen, das schon seit dem 16. Jahrhundert zunehmend als Schriftsprache Verwendung fand, allmählich verdrängt und verschwand um die Mitte des 20. Jahrhunderts weitgehend aus dem öffentlichen Gebrauch. Entgegen diesem Trend veröffentlichte die Pressestelle der Bürgerschaft 1980 eine plattdeutsche Fassung der hamburgischen Verfassung. Der niederdeutsche Einfluss bleibt jedoch auch im Hochdeutschen der Hamburger allgegenwärtig und manifestiert sich besonders im „Missingsch“. Etwa sechs Prozent der Einwohner Hamburgs sprechen heute noch Niederdeutsch (Hamburger Platt). Darüber hinaus wird Platt von vielen Hamburgern verstanden und in Literatur, Zeitungskolumnen usw. gepflegt. Dokumentiert wird es im Hamburgischen Wörterbuch und in mehreren dialektologischen Dissertationen wissenschaftlich untersucht. Der bekannteste Ort der Mundartpflege in Hamburg ist das Ohnsorg-Theater, das Aufführungen in niederdeutscher Sprache anbietet. Infolge der starken Einwanderung aus dem Ausland sind seit den 1960er Jahren in einigen Stadtteilen neben der deutschen und der niederdeutschen Sprache auch andere Sprachen im öffentlichen Raum gegenwärtig: Türkisch, Persisch, Paschto, Kurdisch und Albanisch in Altona, St. Georg, Harburg, Veddel und Wilhelmsburg, Portugiesisch im Hafenviertel („Portugiesenviertel“) und Russisch und Polnisch vor allem durch Teile der deutschstämmigen Aussiedler bzw. Spätaussiedler. Nach einer Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2015 gehören rund 25.000 Hamburger, also 1,4 Prozent, der deutsch-dänischen Minderheit an. Rechtlichen Status gemäß der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen besitzen in Hamburg Niederdeutsch als Regionalsprache gemäß Teil III der Charta und Romanes als Minderheitensprache gemäß Teil II der Charta. Persönlichkeiten Die lange Geschichte Hamburgs weist eine große Anzahl von wichtigen Personen aus allen Bereichen auf. Die Liste von Persönlichkeiten der Stadt Hamburg kann daher nur eine Auswahl ohne Bewertung bieten und steht stellvertretend für die zahllosen ungenannten Menschen, die die Stadt prägten und von ihr geprägt wurden. 86 % der nach Personen benannten Straßen sind in Hamburg nach Männern und 14 % nach Frauen benannt. Haustiere Hunde 2022 waren im Hamburger Hunderegister 84.742 Tiere eingetragen. Seit 2007 besteht in Hamburg für Hunde außerhalb von Privatgrundstücken und den ungefähr 122 Hundeauslaufzonen eine generelle Leinenpflicht. Sogenannte gefährliche Hunde sind auch innerhalb der Hundeauslaufzonen anzuleinen. Vom Leinenzwang im Stadtgebiet ausgenommen sind Hunde, die erfolgreich eine Gehorsamsprüfung abgelegt haben. Eingezäunte und nicht eingezäunte Auslaufzonen für Hunde finden sich beispielsweise im Alstervorland und Höltigbaum, am Kupferteich, auf der Horner Rennbahn sowie im Öjendorfer Park. Die Gesamtfläche der unterschiedlich großen Hundeauslaufzonen beträgt mehr als 239 Hektar. Außerhalb von Hundeauslaufzonen gilt in öffentlichen Grün- und Erholungsanlagen stets Leinenzwang; ausgenommen sind freigegebene Wege, Pfade und Rasenflächen für gehorsamsgeprüfte Hunde. In einige Hamburger Parkanlagen dürfen Hunde – ausgenommen Führhunde – grundsätzlich nicht mitgenommen werden. Auch ist die Mitnahme von Hunden auf Hamburger Wochenmärkte und Volksfeste (z. B. den DOM) sowie zum Hafengeburtstag nicht gestattet. Nach dem Hamburger Hundegesetz gilt in der Hansestadt eine Chip-, Registrier- und Versicherungspflicht. Erstmals 1954 war Hamburg Austragungsort für das Deutsche Windhund-Derby. Das Rennen findet seit 2001 auf der Hunderennbahn am Höltigbaum statt. Veranstalter ist der Norddeutsche Windhund-Rennverein. Pferde Mindestens 3800 Pferde wurden im Jahr 2013 in Hamburg gehalten. Politik und Staat Staatsrecht Die Freie und Hansestadt Hamburg ist als Stadtstaat ein Land (Gliedstaat) der Bundesrepublik Deutschland und zugleich als Stadt eine Einheitsgemeinde. Hamburg verfügt über eine lange Tradition als bürgerliche Stadtrepublik und ist heute gemäß der Landesverfassung ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Eine Trennung von gemeindlichen und staatlichen Aufgaben erfolgt nicht. Die Staatsgewalt geht vom Volk aus, das das Landesparlament, die Hamburgische Bürgerschaft, wählt, eigene Entscheidungen durch Volksgesetzgebung einbringt und in der Verwaltung, wie in den Deputationen, mitwirkt. Die Regierung des Landes ist der Senat, dessen Präsident der Erste Bürgermeister ist. Der Erste Bürgermeister wird seit Änderung der Verfassung 1996 direkt durch die Bürgerschaft gewählt, hat seitdem die Richtlinienkompetenz in der Politik und beruft seinen Stellvertreter (Zweiter Bürgermeister) und die übrigen Senatoren, die von der Bürgerschaft bestätigt werden müssen. Jeder Senator leitet als Präses eine der Senatsbehörden, vergleichbar einem von einem Minister geleiteten Ministerium in anderen Ländern. Zu Hamburgs Verfassungsorganen zählt neben Bürgerschaft und Senat zudem noch das Hamburgische Verfassungsgericht als Landesverfassungsgericht. Auf der Ebene der jeweiligen Bezirke in Hamburg wird mit den Bezirksversammlungen jeweils eine eigene Volksvertretung gewählt. Diese haben rechtlich allerdings die Stellung von Verwaltungsausschüssen, mit eingeschränkten Kompetenzen. Auf überregionaler Ebene hat Hamburg einen Sitz (drei Stimmen) im Bundesrat und ist mit sechs Direktmandaten der Wahlkreise Mitte, Altona, Eimsbüttel, Nord, Wandsbek und Bergedorf-Harburg sowie weiteren Abgeordneten über die Landesliste im Bundestag vertreten. Hamburg ist Mitglied im Deutschen Städtetag und entsendet einen Vertreter in den Ausschuss der Regionen. Eine Länderfusion – also ein Zusammenschluss Hamburgs mit anderen norddeutschen Ländern – wird seit Jahrzehnten unter dem Begriff Nordstaat gelegentlich ins Gespräch gebracht. Aus dieser Diskussion ist eine stärkere länderübergreifende Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen, wie in der Metropolregion Hamburg oder gemeinsamen Einrichtungen, wie dem Statistikamt Nord, hervorgegangen. Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft 2020 Die Wahl zur 22. Hamburgischen Bürgerschaft fand am 23. Februar 2020 statt. Die amtierende rot-grüne Regierungskoalition gewann im vorläufigen Ergebnis der Landesliste insgesamt an Zustimmung und hat erstmals eine Zweidrittelmehrheit. Die SPD blieb dabei stärkste Kraft, verlor jedoch vier Sitze, während der bisherige Regierungspartner Grüne seine Mandate von 15 auf 33 erhöhte. Die CDU verlor rund ein Drittel ihres Stimmenanteils und hat mit 11,2 Prozent ihr zweitniedrigstes Ergebnis bei der Wahl eines Landesparlaments seit Parteigründung verzeichnet. Die Linke gewann marginal hinzu. Die AfD verlor erstmals seit ihrer Gründung 2013 im Vergleich zu einer vorangegangenen überregionalen Wahl, erreichte aber mit 5,3 Prozent erneut die Bürgerschaft. Auch die FDP verlor ein gutes Drittel ihres Stimmenanteils und scheiterte nach dem vorläufigen Resultat mit 4,961 Prozent an der Fünfprozenthürde. Die FDP-Spitzenkandidatin Anna-Elisabeth von Treuenfels-Frowein hat ein Direktmandat im Wahlkreis Blankenese gewonnen und wird somit in der Bürgerschaft vertreten sein. Weitere Wahlen In der folgenden Tabelle sind die Ergebnisse von Bundestags- und Europawahlen in Hamburg dargestellt. 1 bis 2007: PDS Vertretungen und Konsulate Die wirtschaftliche Bedeutung Hamburgs für den Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland („Hamburg, das Tor zur Welt“) sowie die Bedeutung als wichtiges Zentrum von Industrie, Handel und Logistik, als Sitz von ausländischen Unternehmen und mit einer Bevölkerung, in der mehr als 180 verschiedene Staatsangehörigkeiten vertreten sind, hat dazu geführt, dass Hamburg mit 100 Konsulaten (April 2010) nach New York, Frankfurt am Main und Hongkong der viertgrößte Konsularstandort weltweit ist. Über den Hafen bestanden bereits seit der Hansezeit Handelsbeziehungen zu anderen Städten und Ländern. Die ersten Vertretungen wurden von europäischen Staaten eröffnet, bevor im 18. und 19. Jahrhundert auch Staaten aus Nord- und Südamerika hinzukamen. Österreich (seit 1570) und Frankreich (1579) betreiben derzeit die am längsten ansässigen Konsulate. Besonders bekannt ist das Amerikanische Generalkonsulat am Alsterufer 27/28, das ursprünglich von Martin Haller als Doppelvilla erbaut wurde. Es wird oft als das „Weiße Haus an der Alster“ bezeichnet. Im Juli 2022 zog es nach mehr als 70 Jahren um in die Hafencity, Kehrwieder 8. Auswärtige Vertretungen Hamburgs Hamburg seinerseits hatte ebenfalls bereits früh auswärtige Vertretungen. Dies reichte von den gemeinschaftlichen Handelskontoren der Kaufleute der Hansezeit über gemeinsame konsularische Vertretungen mit den verbliebenen Hansestädten Lübeck und Bremen. Heute besteht die Vertretung der Freien und Hansestadt Hamburg beim Bund als Landesvertretung in Berlin. Als gemeinsame Vertretung von Hamburg und Schleswig-Holstein besteht das Hanse-Office bei der Europäischen Union in Brüssel und in St. Petersburg. Gemeinsam mit der Handelskammer Hamburg und anderen Partnern unterhält der Senat zudem die Hamburg-Vertretungen Hamburg Liaison Office in Shanghai und Hamburg Representative Office in Dubai. Zudem besteht im Ausland ein Netzwerk von ehrenamtlichen Botschaftern, den Hamburg Ambassadors, die vom Ersten Bürgermeister ernannt werden und für die Stadt werben sollen. Städtepartnerschaften Die Freie und Hansestadt Hamburg unterhält Partnerschaften mit neun Städten, vor allem mit anderen Hafenstädten: Der erste – mündliche – Partnerschaftsvertrag wurde 1957 mit Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, Russland, geschlossen. Der Hamburger Senat war gegen den Willen des Auswärtigen Amtes einer Einladung in die Sowjetunion gefolgt. Die Partnerschaft ist die älteste zwischen einer deutschen und einer damals sowjetischen Stadt. Seit 1981 gibt es „Hamburg-Tage“ in Leningrad. Die Partnerschaft umfasst seit 1990 auch finanzielle Unterstützung in sozialen Angelegenheiten. Im Krisenwinter von 1990/1991 halfen Hamburger Bürger mit 400.000 Hilfspaketen gegen den Hunger in Sankt Petersburg. Es gibt einen Austausch von Schülern, Sportlern, Wissenschaftlern und Künstlern. Im Rahmen der Deutsch-französischen Freundschaft wurde 1958 die Partnerschaft mit Marseille besiegelt. Sie ist geprägt durch den Austausch auf wirtschaftlicher Ebene, Schüler- und Jugendaustausch. Hamburg hat ähnliche Problemstellungen wie die Partnerstadt Marseille. Dies betrifft den Hafen, Hafenausbau, die Entwicklung von alten Hafenflächen, die Architekturen der HafenCity in Hamburg und der Euroméditerranée in Marseille sowie die Integration von Zuwanderern. Zwischen der Schulbehörde Hamburg und der Académie d’Aix-Marseille besteht eine institutionelle Partnerschaft über die Zusammenarbeit beim Schüleraustausch und bei der Lehrerbildung. Die Zusammenarbeit wird um das Projekt der Digitalisierung und der Verringerung von Emissionen erweitert. Es gibt eine Kooperationsvereinbarung zwischen HafenCity GmbH und Euroméditerrannée. Die 1986 begonnene Partnerschaft mit Shanghai, Volksrepublik China, wurde 1989 nach den Massaker auf dem Platz am Tor des Himmlischen Friedens eingefroren. Der Austausch in kulturellen und wirtschaftlichen Bereichen bestand jedoch weiter. Hamburg und China haben seit Jahrhunderten gute Handelsbeziehungen. Alle zwei Jahre im Herbst findet in Hamburg die dreiwöchige Veranstaltungsreihe „China Time“ mit Vorträgen, Konzerten und Ausstellungen statt. Themen sind Kunst, Kultur, Bildung, Wirtschaft, Recht, Politik, Gesundheit, Bewegungskunst und Heilwissen. Die Städtepartnerschaft beinhaltet insbesondere auch die Partnerschaft zu Shanghais seit 2003 im Bau befindlichen Hafenstadt Lingang New City. Am 14. Dezember 1987 wurde die Partnerschaft mit der Elbstadt Dresden, damals Deutsche Demokratische Republik, in Dresden und am 16. Dezember 1987 in Hamburg unterzeichnet. Sie war durch Gespräche zwischen Dohnanyi und Erich Honecker bei der 750-Jahr-Feier in Ost-Berlin vereinbart worden. Nach der Wiedervereinigung wurde 1990 ein „Beauftragter der Freien und Hansestadt Hamburg in Dresden und Sachsen“ ernannt. Ab 1991 half Hamburg bei der Strukturierung der Dresdener Verwaltung. Im Jahr 2002 half Hamburg der Stadt Dresden bei der Bewältigung der Folgen der Elbflut. Schwerpunkt ist der regelmäßige Austausch in der Kunstszene und die Reinhaltung der Elbe. Hamburg und Dresden führen beide seit den frühen Nachkriegsjahren eine Partnerschaft mit Sankt Petersburg. Die Partnerschaft mit Osaka, Japan, wurde 1989 geschlossen, nachdem der Senat seine bisherige außenpolitische Haltung aufgegeben und eine Orientierung in sogenannten Schwerpunktregionen beschlossen hatte. Höhepunkt der Partnerschaft war die Eröffnung des japanischen Gartens in Planten un Blomen. Zu León in Nicaragua besteht seit 1990 eine Partnerschaft, die hauptsächlich von Hamburger Entwicklungshilfe geprägt ist. Am 19. April 1990 wurde in Hamburg im Rahmen der Ost-West-Annäherung eine Partnerschaft mit der damaligen tschechoslowakischen, heute tschechischen Hauptstadt Prag zwischen dem Ersten Bürgermeister von Hamburg Henning Voscherau und Prags Primátor Jaroslav Korán geschlossen. Moldau und Elbe verbinden Prag und Hamburg. Im Dezember 2012 half Hamburg bei der Bewältigung der Folgen des Moldau-Hochwassers. Die Städtepartnerschaft konzentriert sich auf Verwaltung, Infrastruktur, kulturellen Austausch, Schüleraustausch und Wirtschaftsforen. Auf Initiative Chicagos besteht seit 1994 eine weitere Städtepartnerschaft. Gründe waren die große Zahl von in Chicago lebenden Nachfahren deutscher Auswanderer des neunzehnten Jahrhunderts und ein großes Interesse Hamburger Schulen an einer deutsch-amerikanischen Partnerschaft. Im Juni 2010 wurde die Städtepartnerschaft mit Daressalam in Tansania durch die Hamburger Bürgerschaft bestätigt und am 1. Juli durch den Hamburger Bürgermeister und den Bürgermeister Daressalams besiegelt. Weitere Verträge oder Partnerschaften Der Hamburger Hafen nimmt in Bezug auf Partnerschaften eine Sonderstellung ein. Mit einigen der Häfen zu denen Hamburgs Hafen in Verbindung steht, wurden Hafenpartnerschaften zum regelmäßigen fachlichen Wissensaustausch begründet. Seit 1992 besteht die erste Partnerschaft mit dem Hafen von Yokohama (Japan). Es folgten Hafenpartnerschaften mit Kaohsiung (auf Taiwan), dem Hafen von Shanghai (China; 2004), Montevideo (Uruguay), Dar es Salaam (Tansania; 2010), Shenzhen (China), Busan (Südkorea; 2010), Halifax (Kanada, 2014) und als jüngste Hafenpartnerschaften 2015 die Häfen von Göteborg (Schweden) und Bronka/Sankt Petersburg (Russland). Die Partnerschaft mit Daressalam umfasst Klimaschutzprojekte, Zusammenarbeit von Kliniken, Schulen sowie bei Berufsbildung und Kunst. Zudem existieren unabhängige Bezirkspatenschaften. So unterhält der Bezirk Hamburg-Mitte offizielle Beziehungen zu Shanghais innerem Stadtbezirk Hongkou (seit 2007), der Bezirk Eimsbüttel zur Stadt Warna (Bulgarien; seit 2003) sowie der Bezirk Wandsbek mit Londons Bezirk Waltham Forest (früher Leyton; seit 1949). Bereits aus dem Jahr 1281 stammt ein Beistands- und Partnerschaftsabkommen mit Wöhrden im heutigen Kreis Dithmarschen in Schleswig-Holstein. Dieses wurde vom Hamburger Senat im Juli 2007 offiziell erneuert, zählt jedoch nicht zu den Städtepartnerschaften im modernen Sinne. Hamburg ist seit Juni 2019 Teil des Fab-City-Netzwerks, deren Mitglieder bis 2054 alle Konsumgüter selbst herstellen wollen. Damit soll das urbane Wirkungsprinzip des „Product-In, Trash-Out“ durch offene Dokumentation und lokale Produktion ersetzt werden. Hoheitszeichen Hamburg hat drei Wappen, drei Flaggen, ein Wappenzeichen, ein Logo und einen Stander. Die Landesflagge und das Wappenzeichen dürfen von den Bürgern frei verwendet werden, die Verwendung der weiteren Hoheitszeichen ist dem Staat vorbehalten. In der Landesverfassung sind die Gestalt von Wappen und Flagge sowie die Landesfarben weiß-rot geregelt. Letztere entsprechen den traditionellen Farben der Hanse. Wappen, Logo, Wappenzeichen Das kleine Staatswappen zeigt eine weiße (bzw. silberne) Burg in rotem Schild und geht auf die Stadtsiegel des 12. und 13. Jahrhunderts zurück. Der mittlere Turm, auf dem ein Kreuz steht, wird als Hinweis auf den Sitz eines Bischofs und als Darstellung des mittelalterlichen Mariendoms gedeutet, welcher der Schutzpatronin der Stadt geweiht war und von der auch die „Mariensterne“ über den Seitentürmen ihren Namen haben sollen. Die Gestaltung der Burg variierte im Laufe der Zeit erheblich. Das Tor war mal geöffnet, mit Fallgitter versehen oder als Ausdruck einer wehrhaften Stadt und der Unabhängigkeit gegenüber anderen Landesherren geschlossen. Seit 1835 besteht das Wappen mit geringen Änderungen in seiner heutigen Form. Das von Senat und Bürgerschaft verwendete große Staatswappen mit Helm, Helmzier und Löwen als Schildhalter entstand im 16. Jahrhundert. Ursprünglich wurde die Burg, entsprechend der Backstein-Bauweise in Hamburg, rot und der Fond weiß dargestellt. Dies wurde beim 1998 vom Designer Peter Schmidt entworfenen Hamburg-Logo wieder aufgenommen. Die Welle symbolisiert darin die Dynamik und Bedeutsamkeit des Hafens, während das offene Tor der roten Burg auf Hamburgs Weltoffenheit hindeutet. Mit dem eigens entwickelten Hamburg-Symbol erfüllte der Senat den Wunsch der Bürger nach einem von jedem verwendbaren Wappenzeichen, als Ausdruck der Zugehörigkeit oder Verbundenheit zu Hamburg. Flaggen und Admiralität Die Landesflagge zeigt die Wappen-Burg auf rotem Grund. Mit dem ältesten derartigen Gesetz regelte Hamburg die Flaggenführung auf Schiffen seit 1270. Zunächst ist es eine rote Flagge auf die später das Wappen gesetzt wird. Aufgrund zunehmender Uneinheitlichkeit von Farben und Burg wird die genaue Gestaltung vom Senat 1751 und nochmals 1834 mit durchgreifenderem Erfolg festgelegt. Die Gestaltung der Burg folgt seit 1860 der Wappen-Darstellung. Die Staatsflagge ist dem Senat vorbehalten. Sie zeigt das große Wappen mit weißer Umrahmung auf rotem Grund und wurde 1897 geschaffen. Eine schwarz-rot-golden unterlegte Staatsflagge bildet den Stander, der vom Ersten Bürgermeister und dem Bürgerschaftspräsidenten bei Staatsbesuchen am Fahrzeug geführt wird. Ein Wappen der Admiralität, die Wappen-Burg mit darunter gelegtem Anker, besteht seit 1642 und wird von staatlichen Wasserfahrzeugen geführt. Ebenso tragen diese die Admiralitätsflagge, die das Wappen auf rotem Grund zeigt, als Bugflagge (Gösch). Sie wird sonst ausschließlich von Behörden verwendet, die der Seeschifffahrt dienen. Hymne, Stadtname, Stadtpatrone, Wahlsprüche Die bei offiziellen Anlässen verwendete, aber nicht rechtlich festgeschriebene Landeshymne Hamburgs ist Stadt Hamburg an der Elbe Auen. Das 1828 entstandene Lied wird auch Hammonia genannt, eine neulateinische Form des Stadtnamens (eigentlich Hamburgum). 1370 wird in einem Schreiben der Stadtname erstmals fälschlich als Burg bzw. Stadt des Hammon (= römischer Gott Jupiter) bezeichnet. Tatsächlich leitet sich der Name Hamburg – ausgehend von der Hammaburg im 9. Jahrhundert – vom altsächsischen Wort hamme/ham, für ein in die Marsch vorspringendes erhöhtes (auch bewaldetes) Gelände am Ufer von Fluss oder Sumpf ab. Die Bezeichnung Hammonia, als Name der Schutzgöttin der Stadt, geht auf eine 1710 geschaffene Kantate von Barthold Heinrich Brockes zurück und wird nachfolgend auch häufig als bildliche Allegorie, in Form einer Frauengestalt dargestellt, die die Stadt repräsentiert. Stadtpatronin der Zeit vor der Reformation ist hingegen Maria, der auch der ehemalige Hamburger Mariendom geweiht war. Der lateinische Inschrift über dem Portal des Rathauses: „Libertatem quam peperere maiores digne studeat servare posteritas“ (sinngemäß: „Die Freiheit, die die Alten erwarben, möge die Nachwelt würdig zu erhalten sich bemühen“) wird auch als Wahlspruch der Stadt angesehen, ist als solcher jedoch nicht verankert. Er war bereits an zwei früheren Stadttoren und im mittelalterlichen alten Rathaus zu lesen und weist auf das Selbstbewusstsein eines Stadtstaates hin, der als reichsunmittelbare Freie Reichsstadt jedwede Fürstenherrschaft abgestreift hat. Am Sitz von Parlament und Landesregierung wird er heute auch im Hinblick auf die errungene freiheitlich Demokratie und die republikanische Tradition der Stadt gedeutet. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts trägt die Stadt auch offiziell den Beinamen Freie Stadt, als ehemals völlig souveräner Staat und heutiges Bundesland. In gleicher Zeit wurde der bereits zuvor verwendete Zusatz Hansestadt, wie auch in den beiden anderen gemeinsamen Erben der Hanse, der Schwesterstädte Bremen und Lübeck, Teil des Staatstitels. Der Ausspruch „Hamburg – Das Tor zur Welt“ oder „Deutschlands Tor zur Welt“ besitzt seit langem eine hohe Bekanntheit, im Gegensatz zu anderen kurzfristigen Beinamen oder Sprüchen der Stadtwerbung. Er tauchte erstmals nach dem Beitritt Hamburgs zum deutschen Zollgebiet (1888) auf, einer Zeit, in der sich Hamburg zu einem der führenden Welthäfen entwickelte. In der Präambel der 1952 verabschiedeten Landesverfassung bezeichnet Hamburg sich selbst als „Welthafenstadt“, die „eine ihr durch Geschichte und Lage zugewiesene, besondere Aufgabe gegenüber dem deutschen Volke zu erfüllen [hat]. Sie will im Geiste des Friedens eine Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern der Welt sein.“ Auszeichnungen Zurückgehend auf das Hamburger Stadtrecht des 13. Jahrhunderts dürfen Hanseaten keine Auszeichnungen „fremder Herren“ annehmen. An diese Tradition hält man sich in der Regel bis heute und sie ist insbesondere bei Bediensteten des Staates vorgeschrieben. So lehnte der Hamburger Senator und Bundeskanzler Helmut Schmidt mehrfach die Annahme des Bundesverdienstordens ab. Da Hamburg auch selbst keine Orden vergibt, ehrt der Senat seit 1813 Persönlichkeiten mit der Ehrenbürgerwürde als wichtigster Auszeichnung (siehe: Liste Hamburger Ehrenbürger). Daneben bestehen eine Reihe weiterer Auszeichnungen, Medaillen, Ehrentitel und Kulturpreise der Stadt und die Vergabe der traditionellen Portugaleser-Münzen (weitere Preise: Bürgermeister-Stolten-Medaille, Biermann-Ratjen-Medaille, Lessing-Preis, Bach-Preis, Lichtwark-Preis, Fritz-Schumacher-Preis, Hubert-Fichte-Preis, Edwin-Scharff-Preis, Aby-M.-Warburg-Preis, Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes). Darüber hinaus werden von anderen Hamburger Institutionen oder Stiftungen weitere Auszeichnungen und Preise vergeben. Webauftritt Der Webauftritt der Stadt Hamburg (hamburg.de) bietet mit Hotelangeboten, Veranstaltungsankündigungen, Jobinformationen und weiteren Informationen ein breites Angebot. Die Stadt Hamburg ist mit 87 Prozent an dem Portal beteiligt, die Hamburger Sparkasse mit 10,5 Prozent und die Sparkasse Harburg-Buxtehude mit 2,5 Prozent. Der Webauftritt hatte im Mai 2015 knapp 5,2 Millionen Besucher. Hamburg Welcome Center Das Hamburg Welcome Center (HWC) in der Süderstraße 32b ist eine zentrale Anlaufstelle rund um die berufliche Integration von Menschen, die nach Hamburg zuwandern und zugewandert sind. Unter einem Dach arbeiten dort Sozialbehörde, Behörde für Inneres und Sport, Agentur für Arbeit, team.arbeit.hamburg und weitere Organisationen zusammen. Kultur Hamburg hat über 60 Theater, über 100 Musikclubs, etwa 60 Museen, rund 280 Musikverlage und 200 Tonträger-Unternehmen. Laut der Clubstudie 2021 der Initiative Musik hat Hamburg nach München und vor Köln und Berlin die zweithöchste Musikspielstätten-Dichte der größten Städte Deutschlands. Außerdem leben und arbeiten in Hamburg mehr als 10.000 selbstständige Künstler. Es gibt fast 30 Kinos und Programmkinos. Über 10,3 Millionen Besucher zählte 2006 die Hamburger Kulturbehörde alleine für Veranstaltungen, die öffentlich gefördert wurden. 4,2 Millionen Besucher zählten die Theaterbühnen der Stadt in der Saison 2005/2006. Hamburg ist mit 2383 Theaterbesuchern je 1000 Einwohner führend in Deutschland und liegt selbst nach Abzug der Musicalbesucher vor den nachfolgenden Ländern Bremen (921) und Berlin (907). Zudem sind in Hamburg einige Sehenswürdigkeiten von überregionaler Bedeutung beheimatet. In einer weltweiten Umfrage der Deutschen Zentrale für Tourismus wurden 2017 erneut zahlreiche Hamburg Sehenswürdigkeiten unter die Top 100 in Deutschland gewählt, darunter das Miniatur Wunderland auf Platz 1. Kulinarische Spezialitäten Zu den bekannten Hamburger Gerichten gehören unter anderem Birnen, Bohnen und Speck, Scholle Finkenwerder Art, Stint, Grünkohl, Hamburger Aalsuppe, Labskaus, Snuten un Poten, Rundstück warm, Rote Grütze, Schwarzsauer und Franzbrötchen. Hamburgensien Hamburger Liedgut Neben der rechtlich inoffiziellen Hymne des Landes („Stadt Hamburg an der Elbe Auen“) gibt es viele Lieder mit Bezug zu Hamburg, wie zum Beispiel „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ (unter anderem gesungen von Hans Albers) oder „In Hamburg sagt man tschüß“ (unter anderem gesungen von Heidi Kabel) sowie dem Shanty „Ick heff ’mol een Hamborger Veermaster seh’n“. Bis in die 1950er-Jahre wurden Musikstücke mit lokalem Anklang auch gerne von Pankokenkapellen auf der Straße gespielt. Vor dem Zweiten Weltkrieg war „An de Eck steiht’n Jung mit’n Tüdelband“ der Gebrüder Wolf sehr beliebt, neuer ist „Hamburg, meine Perle“ von Lotto King Karl. Mit den Bands Blumfeld, Die Sterne und Tocotronic ging ab etwa 1990 der Begriff der Hamburger Schule als eigenständiges Genre deutschsprachiger Musik in die Popkultur ein. Erweitert wird die mit Hamburg verbundene alternative Musik mittlerweile von Kettcar und Tomte. Auch die deutschsprachige Hip-Hop-Band Absolute Beginner beschreibt in „City Blues“ ihr Lebensgefühl zu ihrer Heimatstadt; Samy Deluxe in „Hamburg Anthem“. Als Urgesteine gelten mittlerweile die Hip-Hopper von Fettes Brot, die ursprünglich aus dem Kreis Pinneberg stammen und sich selbst als „Hamburgs Hip-Hop-Dinosaurier“ bezeichnen. 1995 schrieben sie mit „Nordisch by Nature“ ein Loblied über den Norden Deutschlands im Allgemeinen und die Hansestadt im Speziellen. Bekannt ist außerdem Udo Lindenberg, dessen Wurzeln in der Hamburger Szene sind. „Hamburger Gruß“ Der Hamburger Gruß „Hummel, Hummel“, beantwortet mit „Mors, Mors“, stammt einer Legende zufolge vom Wasserträger Johann Wilhelm Bentz, der den Spitznamen „Hummel“ trug und bis zu seinem Tod 1854 in Hamburg lebte. Wenn er vorbeikam, riefen ihn die Kinder spöttisch „Hummel, Hummel“. Er antwortete darauf wütend mit „Mors, Mors“ (verkürzend für „Klei mi an’n Mors“, das plattdeutsche Pendant des Götz-Zitates). Thematisiert wird dies am Hummel-Brunnen in der Neustadt (Rademachergang/Breiter Gang), der den Wasserträger darstellt. An den gegenüberliegenden Hausfassaden finden sich Kinderskulpturen, die ihm ihr entblößtes Hinterteil präsentieren. Der Hamburger Gruß wird allerdings eher außerhalb Hamburgs als Erkennungszeichen oder wie beim Fußball als Schlachtruf verwendet. Zur Begrüßung allgemein üblicher ist zum Beispiel das in Teilen Norddeutschlands verbreitete „Moin“, beziehungsweise „Tschüs“ zur Verabschiedung. Hamburger Witze Es gibt eine Reihe traditioneller Figuren, die in Hamburger Witzen vorkommen, insbesondere die Hafenarbeiter Hein und Fiete sowie die Göre Klein Erna mit ihren Verwandten und der Nachbarschaft (gesammelt von Vera Möller). Die Witze um diese Gestalten besitzen tendenziell ziemlich lakonische und häufig auch recht anzügliche Pointen. Ebenso hat sich die Spielart des He lücht in Bezug auf die Hafenrundfahrt herausgebildet. Hamburger Aalsuppe Überregional bekannt ist die besonders reichhaltige Hamburger Aalsuppe, die Backobst enthält und dadurch eine süßsäuerliche Note erhält. Sie wird als Hauptgericht serviert. Fliegender Hamburger Der Verbrennungstriebwagen 877 (später DB-Baureihe VT 04.0) war der erste Dieselschnelltriebwagen der Deutschen Reichsbahn und zugleich der erste Stromlinienzug in planmäßigem Einsatz. Mit ihm wurde ab 1933 zwischen Berlin und Hamburg die damals weltweit schnellste Zugverbindung hergestellt. Er war als „Fliegender Hamburger“ bekannt. Briefmarken Bis 1868 waren die Stadt Hamburg und die zeitweise vom Land Hamburg regierte Stadt Bergedorf berechtigt, eigene Postwertzeichen herauszugeben. Außerdem gibt es einige Beispiele von Hamburger Motiven auf Briefmarken. Regelmäßige Veranstaltungen Hamburg bietet zu jeder Jahreszeit Veranstaltungen, wie den allsonntäglichen Hamburger Fischmarkt und den dreimal im Jahr stattfindenden „Hamburger Dom“, einen großen Jahrmarkt. Der Hafengeburtstag, der im Mai gefeiert wird, ist neben dem Alstervergnügen, das im August rund um die Binnenalster stattfindet, mit mehr als einer Million Besuchern die größte Veranstaltung. Das Alstervergnügen wurde 2018 letztmals durchgeführt. Nur bei entsprechender Witterung gibt es auf der Außenalster im Winter das Alstereisvergnügen. Die Cruise Days finden alle zwei Jahre im August/September mit 200.000 Zuschauern statt mit der Auslaufparade mehrerer Kreuzfahrtschiffe im besonders beleuchteten Hafen. Einige Filmfestivals (Filmfest Hamburg, cinefest – Internationales Festival des deutschen Film-Erbes, Lesbisch Schwule Filmtage Hamburg, Fantasy Filmfest); der Christopher Street Day (CSD) sowie die Hamburg Harley-Days, eines der größten deutschen Motorradtreffen finden hier alljährlich statt. Jedes Jahr im Sommer wird der europaweit größte Motorradgottesdienst mit bis zu 40.000 Teilnehmern abgehalten. Im August findet auf dem Gelände der Theaterfabrik Kampnagel das Internationale Sommerfestival statt, das größte Festival für zeitgenössischen Tanz, Performances, Konzerte und Theater in der Hansestadt. Im Bezirk Altona findet seit 1999 im Juni die altonale statt, ein zweiwöchiges Kultur- und Straßenfest. Im September findet jährlich das Internationale Straßenkunstfestival STAMP und im Winter der Hamburger Weihnachtsmarkt statt. Musik Musicals Hamburg ist – mit einigem Abstand – der weltweit drittgrößte Musicalstandort nach New York und London und zählte im Jahr 2007 zwei Millionen Musicalbesucher. Die Stage Entertainment unterhält mit dem Operettenhaus, der „Neuen Flora“, dem Theater im Hafen und dem Theater an der Elbe vier größere Musicaltheater mit einer Besucherkapazität zwischen 1400 (Operettenhaus) und 2030 (Theater im Hafen) Plätzen sowie in der Speicherstadt das „Theater Kehrwieder“ (bis 320 Plätze) in dem zeitweise unter anderem Musicals, Varieté oder Kabarett dargeboten werden. In dem alten Speicher sind ebenfalls die Stage Entertainment Studios und die Joop van den Ende Academy eingerichtet, die auf die Musicalausbildung spezialisiert ist. Auch die seit 1985 bestehende Stage School bildet Darsteller für diesen Bereich aus. Hinzu kommen zahlreiche kleinere Bühnen, wie beispielsweise das St. Pauli Theater, der Delphi Showpalast oder Schmidts Tivoli und Schmidt Theater, auf denen vornehmlich eigenproduzierte Musicals und Gastaufführungen gespielt werden. Gastspiele sind zudem häufig in zahlreichen anderen Häusern, wie auch den großen Staatstheatern während der sommerlichen Spielzeitpausen, oder in temporären Spielstätten zu sehen. So kehrte Ende 2010 Cats vorübergehend nach Hamburg zurück: Zum Auftakt einer Europa-Tournee gastierte das Musical für zwei Monate in einem eigens angefertigten Musical-Zelt auf dem Heiligengeistfeld. Am 13. März 2013 feierte das vierte große Musicaltheater – nach dem Operettenhaus, Neuer Flora und Theater im Hafen – in der Hansestadt Richtfest. Das Stage Theater an der Elbe wurde im Frühjahr 2014 fertiggestellt und bietet 1.850 Sitzplätze. Im Stadtteil Hamburg-Hammerbrook, integriert in die bestehende Hamburger Großmarkthalle, eröffnete im März 2015 ein weiteres Musical-Theater, das Mehr! Theater, betrieben von Mehr! Entertainment. Das Theater zeichnet sich durch eine besonders wandlungsfähige Bühne aus, die neben Musicals für viele unterschiedliche Veranstaltungen genutzt werden soll und bis zu 3.500 Zuschauern Platz bietet. Ein Meilenstein bei der Entwicklung zur Musicalstadt war die Deutschlandpremiere von Andrew Lloyd Webbers Cats 1986 im umgebauten Operettenhaus, das durchgehend fünfzehn Jahre (bis 2001) gespielt wurde. Der Mann, der mit seiner „Stella-Theater-Produktion GmbH“ in der Hansestadt Hamburg den deutschen Musicalboom entfachte, hieß Friedrich Kurz. Weit mehr als 50 Millionen Zuschauer haben hier seit der Premiere von Cats im April 1986 bis heute ein Musical besucht. Mit dem Startenor Peter Hoffmann in der Hauptrolle produzierte Friedrich Kurz 1990 das Musical Das Phantom der Oper. In eigens neu erbauten Theatern folgten die Produktionen von Das Phantom der Oper, das in der Neuen Flora ab 1990 für elf Jahre gespielt wurde und Buddy, das ab 1994 über sechs Jahre im Theater im Hafen lief. Weitere mehrjährig gespielte Musicals in den gleichen Spielstätten waren Tanz der Vampire (Dezember 2003 bis Januar 2006), Dirty Dancing (März 2006 bis Juni 2008), Mamma Mia! (November 2002 bis September 2007), Ich war noch niemals in New York (Dezember 2007 bis September 2010), Sister Act, Dezember 2010 bis August 2012 im Operettenhaus, und Tarzan (Oktober 2008 bis September 2013). Zu den aktuellen Produktionen der Großtheater gehören Der König der Löwen – seit 2001 im Theater im Hafen, Paramour – seit 2019 in der Neuen Flora, Tina – Das Tina Turner Musical – seit 2019 im Operettenhaus, und seit September 2019 Pretty Woman im Theater an der Elbe. Oper und Ballett Die staatseigene Hamburgische Staatsoper wurde am 2. Januar 1678 als erstes öffentliches Opernhaus Deutschlands in Hamburg gegründet. Kunstsinnige Hamburger Bürger setzten sich seinerzeit für eine „Oper für Jedermann“ in Hamburg ein. Ratsherr Gerhard Schott, Jurist Peter Lütjens und Organist Johann Adam Reincken setzen nicht nur die Gründung eines öffentlichen Opernhauses im Senat durch, sondern bildeten auch das erste Direktorium dieser auf privatwirtschaftlicher Basis geführten Oper am Gänsemarkt. Hier kam es zur Blüte der Barockoper, innerhalb welcher Georg Friedrich Händel und Georg Philipp Telemann zahlreich Opern für Hamburg schrieben. Zunächst als schlichter Holzbau des italienischen Architekten Sartorio erbaut, wurde dieses Haus Mitte des 18. Jahrhunderts abgerissen und an seinem heutigen Standort an der Dammtorstraße von dem Architekten Carl L. Wimmel neu erbaut; später dann – wiederum von Martin Haller – prunkvoller umgestaltet. Dieser Bau wurde durch die Luftangriffe des Zweiten Weltkrieges erheblich beschädigt. Heute steht an dieser Stelle ein Fünfziger-Jahre-Kubusbau, dessen Architektur nicht unumstritten ist. Die Hamburgische Staatsoper ist eine Oper von Weltruf: Montserrat Caballé begann hier ihre Weltkarriere, Plácido Domingo startete von hier aus seine Karriere in Europa, ferner traten unter anderem Opernstars wie Enrico Caruso, Luciano Pavarotti, Mirella Freni, Birgit Nilsson und Maria Callas hier auf. Seit 2015 ist Kent Nagano Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper und des 1828 gegründeten Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. Opern- und Orchesterintendant ist der Schweizer Georges Delnon. In der Dekade von 2005 bis 2015 war die australische Dirigentin Simone Young Intendantin sowie Generalmusikdirektorin des Hauses. Eines der weltbesten Ballett-Ensembles, das Hamburg Ballett unter der Leitung von John Neumeier (seit 1973) hat an der Staatsoper seine Heimat. Unter Neumeier entstand auch ein Ballettzentrum mit seiner Ballettschule im Stadtteil Hamm. Konzerthäuser Bis 2017 stand den Hamburgern und Besuchern nur ein Konzerthaus für klassische Musik zur Verfügung: die Laeiszhalle, benannt nach dem Reeder Carl Laeisz und dessen Frau Sophie Christine, die testamentarisch mit einer großzügigen Summe den Bau eines Konzerthauses ermöglichten. Nach den Plänen von Martin Haller und Emil Meerwein wurde das neobarocke Konzerthaus zwischen 1904 und 1908 am heutigen Johannes-Brahms-Platz errichtet. Inzwischen finden dort nicht nur klassische Konzerte statt, sondern auch Konzerte moderner Musikrichtungen, wie beispielsweise Jazz. Neben der Laeiszhalle wurde am 11. Januar 2017 ein zweites Konzerthaus mit einem Festakt eröffnet: die Elbphilharmonie in der HafenCity. Nahezu zehn Jahre waren von der Idee über die Planung bis zur Fertigstellung vergangen. Dieser repräsentative Bau hat eine Fassade aus Glas, ähnelnd einem Eisberg bzw. einer Meereswoge; sie wurde auf dem ehemaligen Kaispeicher A (Baujahr 1963) am Zipfel des Dalmannkais errichtet. 2150 Sitzplätze bietet der große, weitere 550 der kleine Saal. Ebenso beherbergt das Konzerthaus ein 5-Sterne-Hotel mit Hafenblick sowie 45 Wohnungen. Der Bau stammt von dem Basler Architektenbüro Herzog & de Meuron. Theater Hamburg verfügt über zwei staatseigene Sprechtheater, das Deutsche Schauspielhaus und das Thalia Theater sowie eine große Zahl privat geführter Theater. Zu einem der ältesten und durch die zahlreichen TV-Sendungen bekanntesten Theater in Hamburg zählt das Ohnsorg-Theater, in dem Stücke in plattdeutscher Sprache aufgeführt werden. Die größten Bühnen für internationalen zeitgenössischen Tanz und Theater bietet die internationale Kulturfabrik Kampnagel in Winterhude. (Weitere Theater) Besucherorganisationen Hamburgs größte Besucherorganisation ist die Hamburger Volksbühne e. V. Sie wurde am 4. Januar 1919 als Verein gegründet und hat über 22.000 Mitglieder. Die TheaterGemeinde Hamburg e. V. wurde 1984 gegründet und hat 14.000 Mitglieder. Öffentliche Bücherhallen 2015 existierten in Hamburg 36 Bücherhallen, die sich über das gesamte Stadtgebiet verteilen. 1.780.906 Medien (Bücher, Blu-rays, DVDs, Zeitschriften etc.) befanden sich im Medienbestand und wurden von 4.735.154 Besuchern 13.730.455 mal ausgeliehen. Museen und Ausstellungen In Hamburg sind etwa 60 Museen beheimatet. Darunter sind sieben staatliche Museen mit weiteren Außenstellen sowie zahlreiche private Museen und Sammlungen. Die Kunsthalle und das Museum für Kunst und Gewerbe zählen zu den wichtigen Kunstmuseen und die Deichtorhallen und das Bucerius Kunst Forum präsentieren bedeutende Ausstellungen. Daneben gibt es Museen zur Regionalgeschichte, wie das Museum für Hamburgische Geschichte, zu den Themen Technik und Arbeit, wie das Museum der Arbeit sowie eine Reihe von Sammlungen aus verschiedenen Bereichen der Wissenschaft vom Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt bis zum modernen Planetarium. Einige Ausstellungen haben eher unterhaltenden Charakter, wie das Miniatur Wunderland mit der größten Modelleisenbahn der Welt oder Deutschlands ältestes Wachsfigurenkabinett, das Panoptikum. Das Internationale Maritime Museum ist eines von mehreren Museen, die auf die Themen Schifffahrt, Hafen und dort umgeschlagene Waren ausgerichtet sind. Darunter sind auch verschiedene, teils noch betriebsfähige Museumsschiffe im Hafen oder die BallinStadt, die über die früher von dort aufgebrochenen Auswanderer informiert. Einige Gedenkorte, wie die KZ-Gedenkstätte Neuengamme, erinnern zudem an die Verfolgungen während der Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg. Bauwerke und Stadtentwicklung Das älteste Gebäude Hamburgs steht auf Hamburgs Exklave, der Insel Neuwerk in der Elbmündung. Der dortige Leuchtturm Neuwerk wurde 1310 errichtet. Das Gebäude mit einer noch älteren Geschichte auf dem Boden Hamburgs ist die Kirche Sinstorf im Stadtteil Sinstorf mit knapp 1000 Jahren, sie ist jedoch nicht originär von Hamburg erbaut worden. Die Stadtansicht wird geprägt durch die Türme der fünf Hauptkirchen St. Petri, St. Jacobi, St. Katharinen und St. Michaelis („Michel“, 1648–1673), dem Wahrzeichen der Stadt, sowie die als Mahnmal für den Zweiten Weltkrieg erhalten gebliebene Turmruine von St. Nikolai. Wenig bekannt ist, dass der Turm das höchste konventionelle Gebäude der Stadt ist und von 1874 bis 1876 das höchste weltweit war. Sechster Turm ist das 1897 fertiggestellte Rathaus mit seinen 647 teils prunkvoll ausgestalteten Sälen und Zimmern. Auf seiner Rückseite steht die Handelskammer Hamburg mit der Hamburger Börse. Diese architektonische Silhouette soll gewahrt werden, weshalb sich nur wenige andere hohe Gebäude in der weiteren Innenstadt befinden. Die Hamburger Wallanlagen wurden von 1616 bis 1625 um Hamburg herum zum Schutz vor dem Königreich Dänemark errichtet. Mit dem Wall wurde die Alster fortan in Außen- und Binnenalster getrennt, wo sich heute die Lombardsbrücke und Kennedybrücke befinden. Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Wallanlagen abgetragen und in Grünanlagen entlang des Holstenwalls umgewandelt, in die Parkanlagen Planten un Blomen mit Teilen des Alten Botanischen Gartens und dem Wallringpark, mit den Kleinen und Großen Wallanlagen, sowie dem Alten Elbpark, nahe den St. Pauli-Landungsbrücken an der Elbe. Die Grenze zwischen Altstadt und Neustadt und die südliche Altstadt wird von Fleeten und Kanälen durchzogen, die über die Binnenalster das Zentrum mit dem Hafen verbinden und früher als Transportwege elementarer Bestandteil der Hamburger Wirtschaft waren. Relikte des „alten Hamburg“ sind in der Innenstadt in der Deichstraße und dem auf dem anderen Ufer des Nikolaifleets im Cremon zu sehen. Auch das Gängeviertel sowie die Krameramtswohnungen von 1676 bieten einen Einblick in typische Hamburger Bebauung vor der großflächigen Umgestaltung der City im 19. und 20. Jahrhundert. Das Altonaer Rathaus am Platz der Republik in Hamburg-Altona-Altstadt ist seit 1898 das (zeitlich dritte) Rathaus der bis 1938 selbständigen Stadt Altona. Die Hamburger Sternwarte (1909) im Stadtteil Bergedorf, die als Forschungssternwarte der Universität Hamburg betrieben wird, wurde 2008 mit ihren zahlreichen historischen Gebäuden und Instrumenten zum Kulturdenkmal von nationalem Rang ernannt. Der Bereich um die Binnenalster mit dem Jungfernstieg, dem Ballindamm, den Alsterarkaden (1843–1846) und den Colonnaden gilt als Hamburgs Flaniermeile. Am Hafen und entlang der Elbe gibt es zahlreiche Sehenswürdigkeiten wie die Speicherstadt, die Landungsbrücken (1839), der 1911 für den Fußgängerverkehr und Fahrzeuge freigegebene Alte Elbtunnel, der Altonaer Fischmarkt mit der Fischauktionshalle (1896) und das Blankeneser Treppenviertel. Die Speicherstadt als größtes zusammenhängendes Lagerhaus-Ensemble mit ihren Brücken, Wasserwegen und Straßen wurde zwischen 1885 und 1927 in drei Bauabschnitten auf einer Inselgruppe in der Elbe errichtet. Mit dem benachbarten Kontorhausviertel wurde es 2015 zum UNESCO-Welterbe ernannt. Hamburg war damit das letzte deutsche Bundesland, das eine eigene Kulturerbe-Stätte bekam. Beide Viertel stehen für die Entwicklung Hamburgs zu einer weltweiten Handelsmetropole, in der im Gegensatz zum vormaligen alt-hamburgischen Bürgerhaus, eine Trennung von Warenlagerung, Büro- und Wohnnutzung notwendig wurde. Wie im ganzen norddeutschen Raum ist auch in Hamburg die traditionelle Grundbausubstanz aus Backstein bzw. Klinker. Die zwischen 1920 und 1940 überwiegend mit regionaltypischen Klinkerfassaden errichteten Häuser des Kontorhausviertels bildeten das erste eigene Bürostadtviertel auf dem europäischen Kontinent. Der Bautypus des Kontorhauses, dessen deutsches Zentrum und Ausgangsort in Hamburg lag, erreichte hier den Höhepunkt seiner Entwicklung. So ist die Gestaltung des 1924 erbauten Chilehauses, mit seiner an einen Schiffsbug erinnernden Spitze, ein herausragendes Beispiel der Architektur der Moderne und Paradebeispiel des Backsteinexpressionismus. Weitere architektonische Besonderheiten in der Hamburger Innenstadt sind der Hauptbahnhof, der Bahnhof Hamburg Dammtor und das Curiohaus (1908–1911). Am Sievekingplatz befindet sich das Justizforum, das aus dem Hanseatische Oberlandesgericht (1912) im Zentrum, dem Strafjustizgebäude und dem Ziviljustizgebäude besteht. Zusammen mit den Grünflächen rundherum und der benachbarten Laeiszhalle (1908) stellt das Justizforum ein Ensemble historischer Architektur dar, das unter Denkmalschutz steht. Durch schwere Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg wurden ganze Stadtteile vollständig zerstört, und städtebauliche Maßnahmen der nachfolgenden Jahrzehnte taten ihr Übriges, so dass heute verhältnismäßig wenig zusammenhängende Quartiere aus alten Gebäuden in Hamburg zu finden sind. So sind beispielsweise in Eimsbüttel, im Grindelviertel oder in Eppendorf noch zusammenhängende Viertel aus gründerzeitlichen Etagenhäusern zu finden, in Harvestehude und entlang des Elbufers viele ältere Villen aus den letzten zwei Jahrhunderten. Zu den herausstechenden Nachkriegsbauten Hamburgs zählen das dreiflügelige Emporio-Hochhaus (vormals Unilever-Haus) von 1964, das Hotel am Kongresszentrum von 1973, der Baukomplex am Berliner Tor von 1962 bzw. 2004 und die drei Mundsburg-Türme. Die höchsten Bauwerke sind der 279,8 Meter hohe Fernsehsender Heinrich-Hertz-Turm („Tele-Michel“) und ein Sendemast des Rundfunksenders Billwerder-Moorfleet mit 304 m. Markantestes Bauwerk im Hafen ist die 1974 erbaute Köhlbrandbrücke. Aufgrund der wachsenden Nachfrage nach Büroflächen in Hamburg in den 1960er Jahren, insbesondere für die Hauptverwaltungen von Großkonzernen, wurde zur Entlastung des innerstädtischen Ballungsraums nördlich des Hamburger Stadtparks die Bürostadt City Nord errichtet. Auf einem 117 Hektar großen Gelände haben sich rund 300 Unternehmen mit etwa 29.000 Beschäftigten angesiedelt. Zwar wurden 2018 in Hamburg 10.674 neue Wohnungen fertiggestellt, so viele wie zuletzt im Jahr 1977. Dennoch ist auf dem Hamburger Wohnungsmarkt die Nachfrage höher als das Angebot. Daher kündigte Finanzsenator Dressel 2019 an, ab 2025 Bauland-Eigentümer mit einem Steuerzuschlag für unbebaute Grundstücke zu belasten. Die größten städtebaulichen Veränderungen in der Innenstadt nach der Jahrtausendwende sind der Bau der HafenCity mit der 2017 eingeweihten Elbphilharmonie, der U-Bahn-Linie U4 und des Kreuzfahrtterminals. Brücken Mit etwa 2500 Brücken gilt die Stadt als eine der brückenreichsten in Europa. Bedingt ist diese hohe Zahl durch die Lage der Stadt im Binnendelta der Elbe sowie den Niederungen von Alster und Bille nebst zahlreichen Nebenflüssen, Fleeten und Kanälen. Hinzu kommen der Ausbau des Hafens und dessen Anschluss an ein dichtes Straßen- und Eisenbahnnetz, das die vielen Wasserläufe überbrückt. Eine weitere Besonderheit ist die als Hochbahn ausgebaute U-Bahn, die zu großen Teilen oberirdisch und damit über zahlreiche Brücken durch die Stadt verläuft. Die tatsächliche Zahl der Brücken ist nicht bekannt. Die Zählung von Brücken gilt als schwierig, weil unterschiedliche Definitionen einer Brücke bestehen. Nach dem Hamburger Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG) gilt als Fahrzeugbrücke, was mindestens eine lichte Weite von zwei Metern, und als Fußgängerbrücke, was eine Stützweite von mindestens fünf Metern hat. Wenn eine Überführung allerdings mehr als 80 Meter Breite hat, so ist sie ein Tunnel. Die Deutsche Bahn hingegen definiert alles, was mehr als zwei Meter Spannweite hat, als Brücke, so dass auch größere Signalausleger über Gleisen dazu gehören. Nach einer offiziellen Statistik hatte die Stadt Hamburg im Jahr 2004 einen Bestand von 2496 Brücken, davon wurden 1256 von dem Landesbetrieb (LSBG) betreut, 354 standen als Hafenbrücken unter der Verwaltung der Hamburg Port Authority (HPA) einschließlich der Brücken der Hafenbahn, 477 Brücken gehören zur Deutschen Bahn, 396 zur Hamburger Hochbahn und 13 zur AKN Eisenbahn. Private Brücken, wie zum Beispiel in Hagenbecks Tierpark oder auf Fabrikgrundstücken wurden nicht einbezogen. Hingegen zählen Rohrbrücken, also die Überbauungen für Fernwärme und Wasserleitungen, oder auch größere Schilderträger über Autobahnen und die Blendschutzbauten über die Flughafenumgehung in Fuhlsbüttel dazu. Stolpersteine In Hamburg wurden seit 2002 durch den Künstler Gunter Demnig und eine lokale Unterstützer-Initiative Stolpersteine verlegt, um an das Schicksal der Menschen zu erinnern, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Eine detaillierte Aufstellung und weiterführende Informationen enthält die Liste der Stolpersteine in Hamburg. Parks und Grünanlagen Über das gesamte Stadtgebiet hinweg sind kleinere Parks und Grünanlagen verteilt, die Hamburg zu einer grünen Stadt machen. Zu den größten Anlagen zählen der Altonaer Volkspark und der Stadtpark. Zu den besonders aufwendig gestalteten Anlagen gehört Planten un Blomen mit der größten japanischen Gartenanlage in Deutschland. Bekannt sind weiterhin der Loki-Schmidt-Garten oder der Jenischpark. Südöstlich befinden sich die weitläufigen Obstanbaugebiete der Vier- und Marschlande. Insgesamt größte Grünanlage ist mit 400 Hektar der Friedhof Ohlsdorf, der größte Parkfriedhof der Welt. Der Alsterpark rund um die Außenalster ist Hamburgs beliebteste Joggingstrecke. Der Tierpark Hagenbeck verfügt ebenfalls über eine Parkanlage, wird jedoch vor allem durch seine 210 Tierarten zur Sehenswürdigkeit. Der von der Familie Carl Hagenbecks geführte Tierpark war bereits zu seiner Eröffnung als weltweit erster „gitterloser Zoo“ wegweisend für die Gestaltung solcher Anlagen und wird neben den historischen Freigehegen beständig erweitert. Als eigenständige Attraktion entstand so auch 2007 das Tropen-Aquarium Hagenbeck. Sport Bedeutende Sportstätten Hamburgs sind das Volksparkstadion, die Barclays Arena, die Alsterschwimmhalle, die Sporthalle Hamburg (auch als „Alsterdorfer Sporthalle“ bekannt), das Millerntor-Stadion und die Jahnkampfbahn im Hamburger Stadtpark. Der älteste deutsche Sportverein kommt mit der Hamburger Turnerschaft von 1816 aus Hamburg. Der 1919 aus einer Fusion örtlicher Sportvereine hervorgegangene Hamburger SV spielte von 1963 bis 2018 ohne Unterbrechung in der Fußball-Bundesliga. Mit dem FC St. Pauli kommt ein weiterer Verein, der schon mehrfach in der ersten Fußball-Bundesliga spielte, aus Hamburg. Im Jubiläumsjahr 2010 feiert der Verein seinen fünften Aufstieg in die erste Liga. Im Hockey gehören Hamburger Vereine wie Der Club an der Alster, der Harvestehuder THC, oder der Uhlenhorster HC sowohl bei den Herren als auch den Damen bundesweit zu den dominierenden Klubs. Im Unihockey ist der ETV Hamburg seit 2003 in der 1. Bundesliga der Herren. Im Basketball sind seit der Saison 2019/20 die Hamburg Towers in der Basketball-Bundesliga aktiv. Sie schafften in der Saison 2018/19 den Aufstieg in die BBL. Der Baseball-Bundesligist Hamburg Stealers war 2000 Deutscher Meister. Im American Football spielen die Hamburg Sea Devils in der European League of Football. Die Hamburg Huskies spielten mehrere Jahre in der höchsten deutschen Spielklasse, der German Football League. In der Box-Bundesliga wird Hamburg durch die Hamburg Giants vertreten. Von 2002 an waren die Handballer des HSV Hamburg (Handball-Bundesliga) sowie das Eishockeyteam der Hamburg Freezers (Deutsche Eishockey Liga, bis 2016) in der Barclays Arena zu Hause. Der VT Aurubis Hamburg, der in der CU-Arena in Hamburg-Neugraben spielte, gehörte bis 2016 zur 1. Volleyball-Bundesliga der Frauen. Zu den großen jährlichen Sportereignissen in Hamburg gehören in der zweiten Aprilhälfte der Hamburg-Marathon sowie im Sommer der ITU World Triathlon Hamburg, der Ironman Hamburg, das Radrennen Vattenfall Cyclassics und der HSH Nordbank Run durch die Hafen-City. Alle Ereignisse ziehen an den Wettkampfstrecken durch die Stadt ein Massenpublikum an. Pferdesport hat in der Hansestadt einen hohen Stellenwert. Ein gesellschaftliches Ereignis sind die Hamburger Derbys im Pferderennen (Juli) sowie im Springreiten (Mai). Ebenso seit 1892 die German Open im Herrentennis. Hamburg gehörte zu den offiziellen Ausrichtungsorten der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 und 2006 sowie der Handball-Weltmeisterschaft der Männer 2007 und war im August 2007 Gastgeber der ITU World Championships 2007 im Triathlon. Am 12. Mai 2010 fand im Volksparkstadion das Finale der Europa League statt. Der Snookerverein SC Hamburg spielt in der 1. Bundesliga Snooker. Der Squashverein Sportwerk Hamburg Walddörfer ist in der 1. Squash-Bundesliga aktiv. Der Billardverein BC Queue Hamburg spielt in der 2. Bundesliga Pool. Der Hamburger SK ist der zweitälteste noch bestehende deutsche Schachverein und spielt in der Schachbundesliga Die 1875 gegründete Sektion Hamburg und Niederelbe des Deutschen Alpenvereins ist mit 22.719 Mitgliedern (Stand: 31. Dezember 2021) die größte Sektion im Norden Deutschlands und die sechtsgrößte Sektion des Deutschen Alpenvereins. Sie betreibt mehrere alpine Hütten und das eigenen Angaben nach größte Kletterzentrum Norddeutschlands. Die Sektion ist DAV-Stützpunkt für Klettern und Bouldern. Hamburg bewarb sich für die Austragung der Olympischen Spiele 2024. Die Stadt zog ihre Bewerbung aber zurück, nachdem sich die Hamburger Bevölkerung in einem Referendum mit 51,6 % gegen die Bewerbung entschieden hatte. Zuvor hatte sich Hamburg bereits um die Olympischen Spiele 2012 beworben, scheiterte jedoch in der nationalen Auswahl an Leipzig. 2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Guadeloupe ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. Nach dem Abstieg des HSVs war Hamburg 2018/19 in keiner der fünf wichtigsten Männer-Teamsportarten mit einer Mannschaft in der ersten Klasse vertreten, dies änderte sich jedoch mit dem Aufstieg der Hamburg Towers in die Basketball-Bundesliga zur Saison 2019/2020 wieder. Wirtschaft und Infrastruktur Hamburg hat als Handels-, Verkehrs- und Dienstleistungszentrum überregionale Bedeutung und zählt zu den wichtigsten Industriestandorten in Deutschland. Der Hafen zählt zu den weltweit führenden Seehäfen. Wichtigste Wirtschaftszweige sind Logistik, Hafen und maritime Wirtschaft, Luftfahrtindustrie (drittgrößter Standort weltweit), Konsumgüterindustrie (vor allem Lebensmittel), Chemie, Elektrotechnik, Maschinen-, Fahrzeug- und Schiffbau, Mineralölwirtschaft, Banken, Medien und Versicherungen. Neben dem Handels- und Dienstleistungssektor spielen zudem die Bereiche Tourismus, Regenerative Energien und Life Sciences (Medizin und Biotechnologie) eine zunehmend wichtige Rolle. Im Zukunftsatlas 2016 belegte die Stadt Hamburg Platz 18 von 402 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „sehr hohen Zukunftschancen“. Über 160.000 Unternehmen sind Mitglied in der Handelskammer Hamburg, die als älteste deutsche Handelskammer (1665) ihren Sitz im Gebäude der Hamburger Börse hat. Die Wirtschaftsleistung im Land Hamburg lag, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), bei 94,4 Milliarden Euro im Jahr 2011 (2010: 92,2 Milliarden Euro) und stieg damit im Vergleich zum Vorjahr preisbereinigt um 1,4 Prozent. Die Bruttowertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe lag (2010) bei 10,0 Milliarden Euro. Im Vergleich von 272 Regionen der Europäischen Union (ausgehend von Zahlen aus 2011) steht Hamburg nach London, Luxemburg und Brüssel in der Liste der Regionen mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt je Einwohner auf dem vierten Platz und hält diesen Platz auch in Bezug auf den Kaufkraftstandard (KKS = 202 im Vergleich zum EU-Durchschnitt: EU-28 = 100). Hamburg verzeichnet unter den Bundesländern den zweithöchsten Kaufkraftindex von 108,3 Prozent im Jahr 2021 (nach Bayern und vor Baden-Württemberg und Hessen). Als Region, im Sinne der NUTS-Systematik (Ebene 3), liegt die Kaufkraft Hamburgs bundesweit gesehen jedoch auf Rang 52, während die nordöstliche Nachbarregion, der Kreis Stormarn in Schleswig-Holstein hingegen, den Rang 12 belegt. Nach dem Regierungswechsel 2001 bemühte sich der Senat, mit dem Leitspruch „Metropole Hamburg – Wachsende Stadt“ den Wirtschaftsstandort auszubauen und ein langfristiges Bevölkerungswachstum zu erreichen. Als Ansatzpunkt verfolgte der Senat eine kombinierte Strategie aus der Aktivierung endogener Potenziale und der Stärkung von Hamburgs internationaler Ausstrahlung. Hierdurch wurde auch die Entwicklung Hamburgs zum bevorzugten Standort chinesischer Unternehmen in Deutschland gefördert, von denen die Stadt 2013 mehr als 500 beheimatete – so viele wie keine andere deutsche Stadt. Das Leitbild wurde unter dem CDU-Grünen-Senat im Jahre 2010 inhaltlich weiterentwickelt in „Wachsen mit Weitsicht“. Seit dem Regierungswechsel 2011 lautet das Leitbild des derzeitigen SPD-Senats „Wir schaffen das moderne Hamburg“. Auch dieses Leitbild entwickelt die Schwerpunkte der Wirtschafts- und Stadtentwicklung in den Bereichen Wirtschaft und Innovation, Hafen und Schifffahrt, Verkehr und Infrastruktur weiter. Nach den Wahlen 2015 wurde daraus der Koalitionsvertrag zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Zusammen schaffen wir das moderne Hamburg“. Staatsverschuldung Der Schuldenstand des Hamburger Haushalts belief sich im Juni 2013 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes auf 24,913 Milliarden Euro. Dabei werden viele Auslagerungen in andere Haushalte (Öffentliche Fonds, Einrichtungen und wirtschaftliche Unternehmen, zum Teil auch gemeinsam mit anderen Ländern) nicht berücksichtigt. Bei Einbeziehung dieser Schattenhaushalte ergab sich 2013 ein Gesamtschuldenstand von 37,40 Milliarden Euro. Ferner ist bei diesen Zahlen zu beachten, dass es Bürgschaften gibt, die ausfallen können. Diese beliefen sich 2013 auf über 20 Milliarden Euro. Belastungen durch die HSH Nordbank waren in den Folgejahren noch nicht abzuschätzen, da Ende 2015 Kredite zur Rettung dieser Bank bewilligt wurden und Erlöse aus dem Verkauf dieser Bank Anfang März 2017 noch ungewiss waren. Am 30. September 2017 war die Pro-Kopf-Verschuldung Hamburgs mit 17.755 Euro die zweithöchste aller deutschen Bundesländer. Den öffentlichen Schulden standen Ende Juli 2012 private Vermögen in Höhe von 218 Milliarden Euro gegenüber. Statistisch verfügte demnach jeder Hamburger über ein Vermögen von über 120.000 Euro. 2019 hat Hamburg mehr Schulden getilgt als je zuvor. Insgesamt wurden 1,1 Milliarden Euro zurückgezahlt. Von dieser Summe entfallen rund 650 Millionen Euro auf den Kernhaushalt sowie 450 Millionen Euro auf eine Zahlung gegenüber dem HSH Finanzfonds, wo Altlasten aus der Zeit der HSH Nordbank liegen. Unternehmen In Hamburg haben mindestens 1 von 40 DAX-, 4 von 50 MDAX- und 6 von 50 SDAX-Unternehmen ihren Hauptsitz (DAX: Beiersdorf AG; MDAX: alstria office REIT-AG, Aurubis AG, Evotec SE und TAG Immobilien AG; SDAX: Deutsche EuroShop AG, Encavis AG, Fielmann AG, Hamburger Hafen und Logistik AG, Jungheinrich AG und New Work SE). Nach Anzahl der Beschäftigten waren im Jahr 2018 die drei größten Arbeitgeber in Hamburg: Airbus (14.700 Mitarbeiter), Asklepios Kliniken Hamburg (14.600 Mitarbeiter) und Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (11.348 Mitarbeiter). Stadteigene Unternehmensbeteiligungen werden größtenteils über die HGV Hamburger Gesellschaft für Vermögens- und Beteiligungsmanagement mbH verwaltet. Hamburg ist auch ein führender Medienstandort, siehe dazu den Artikel Medien in Hamburg. Verkehr Verkehrsmittelverteilung Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) hatte 2008 in Hamburg einen Anteil von 18 Prozent an der Verkehrsmittelwahl. Der motorisierte Individualverkehr hatte einen Anteil von 42 Prozent, der Fußverkehr 28 Prozent und der Radverkehr 12 Prozent. Im Vergleich der fünf größten deutschen Städte hatte Hamburg damit den geringsten Anteil des ÖPNV an der Verkehrsmittelwahl (Berlin 26 Prozent, Frankfurt am Main 24 Prozent, München und Köln jeweils 21 Prozent) und, zusammen mit Köln, den höchsten Anteil am Kraftfahrzeugverkehr. Straßenverkehr Im Jahr 2017 gab es in Hamburg 892.367 Kraftfahrzeuge, davon waren 771.573 Personenkraftwagen. Jährlich werden in Hamburg etwa 150.000 neue Kraftfahrzeuge zugelassen. Hamburg verfügt über günstige Straßenverbindungen im Fernverkehr. Mehrere Bundesautobahnen berühren das Stadtgebiet: die A 1 (im Raum Hamburg zudem als Europastraße E 22), A 7 (im Raum Hamburg zudem als Europastraße E 45), A 23, A 24 (im Raum Hamburg zudem als E 26) und A 25. Ferner existieren südlich der Elbe Autobahnabschnitte mit wenigen Kilometern, die als A 252, A 253 und A 255 bezeichnet sind. Geplant ist eine weiträumige Umfahrung Hamburgs mit der A 20, die von Prenzlau/Rostock kommend derzeit bei Bad Segeberg endet. Sie soll künftig über das nördliche und westliche Umland Hamburgs durch einen neuen, westlich gelegenen Elbtunnel an die A 26 (Hamburg–Stade), von der erst ein Teil gebaut ist, angeschlossen werden. Von dort soll sie durch den Wesertunnel die A 28 und die A 29 anbinden. Diese Planung ist in Schleswig-Holstein umstritten. Auf hamburgischem Gebiet verlaufen die Bundesstraßen B 3, B 4, B 5, B 73, B 75, B 207, B 431, B 432, B 433 und B 447, die größtenteils radial auf den Innenstadtbereich zuführen. Damit wird der Straßenverkehr dort konzentriert, was zu erheblichen Verkehrsproblemen führt. Tangentialverbindungen zur Umleitung des Durchgangsverkehrs und zur großräumigen Erschließung des Stadtgebietes waren in den 1960er-Jahren als Stadtautobahnen geplant. Die Planungen wurden größtenteils, auch durch massive Proteste aus der Bevölkerung insbesondere der betroffenen Stadtteile, aufgegeben. Es bestehen jedoch drei Ringstraßen, die halbkreisförmig um die innere (Ring 1) und äußere Innenstadt (Ring 2) herum und als Viertelkreis durch die nordwestlichen Außenbezirke (Ring 3) verlaufen. Dazu kommen einige weitere vierspurige ausgebaute Hauptstraßen. Das so gebildete „Kernnetz“ ist sehr stark durch den Auto- und Schwerlastverkehr belastet, obwohl es häufig als Stadtstraße direkt durch dichtbesiedelte Quartiere führt. So fuhren 2013 durchschnittlich 54.000 Fahrzeuge pro Werktag über die Fruchtallee im Stadtteil Eimsbüttel, davon waren über 3.000 Fahrzeuge des Schwerverkehrs. Insgesamt hat Hamburg fast 4.000 Kilometer Straßen (August 2006) mit etwa 7.000 Straßennamen. Über die Hälfte dieser Straßen liegt in Tempo-30-Zonen, die 1983 erstmals in Hamburg eingeführt wurden. Hamburg gilt (gemessen daran, wie viel Prozent länger eine Fahrt infolge eines Staus dauert) als staureichste Stadt Deutschlands. Radverkehr Hamburg verfügt über etwa 1700 Kilometer Radwege in überwiegend marodem Zustand, die oft den geltenden Verwaltungsvorschriften in der Bauausführung nicht entsprechen. Beim sogenannten Fahrradklimatest des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs im Jahr 2005, einer Radfahrerbefragung, hat Hamburg als schlechteste aller 28 beteiligten Städte über 200.000 Einwohner abgeschnitten. Obwohl vom Senat 2008 die Umsetzung einer Radverkehrsstrategie beschlossen wurde, konnte auch 2012 nur Platz 34 von 38 beteiligten Städten dieser Größe erreicht werden. Die Umsetzung des Fahrradverleihsystems „StadtRAD“ wurde von den befragten Radfahrern allerdings mit der besten Note aller deutschen Städte gewürdigt. Bei mehreren anderen Themen, so Falschparker auf Radwegen, deren Breite und Oberflächenbeschaffenheit sowie Ampelschaltungen, hat Hamburg hingegen die schlechtesten oder zweitschlechtesten Bewertungen aller 332 beteiligen Städte erhalten. Eine Besonderheit sind die Hamburger Fahrradhäuschen, die seit Anfang der 1990er-Jahre vor allem in den dichtbebauten Wohngebieten der Bezirke Altona, Eimsbüttel und Hamburg-Nord stehen. Darin können Fahrräder abgestellt werden, für die in den gründerzeitlichen Gebäuden und auf den stark genutzten Grundstücken anderweitig kaum diebstahl- und vandalismussichere Abstellplätze bestehen. Auf einigen wenigen bereits ausgebauten Abschnitten von Velorouten sind Straßenabschnitte als Fahrradstraßen ausgewiesen, so etwa entlang des Eilbekkanals und seit 2012 am Falkensteiner Ufer im Verlauf des Elberadwegs. Im Herbst 2014 ließ der Senat am Westufer der Außenalster den Harvestehuder Weg in eine Fahrradstraße umbauen. Dies sorgte zunächst für Diskussionen, weil Parkplätze auf die Fahrbahn verlegt worden waren, um den Kraftverkehr auszubremsen. Nach einem knappen Jahr wurden die Parkmarkierungen abgefräst und das Parken auf dem Seitenstreifen wieder erlaubt. In Hamburg sind etwa 700 von 900 Einbahnstraßenabschnitte innerhalb von Tempo-30-Straßen für Radfahrer entgegen der Fahrtrichtung freigegeben. Seit etwa 2010 werden im Rahmen des Busbeschleunigungprogramms des Senates bei Straßenumbauten häufiger Radfahrstreifen und Schutzstreifen eingesetzt. Die Stadt verfügt über ein Netz an Fahrradrouten. Für Fahrten in die Region oder in andere Länder ist Hamburg an zahlreiche nationale und internationale touristische Fernradwege angeschlossen, u. a. an die „EuroVelo“-Route Nordseeküsten-Radweg, den Elberadweg und den Radfernweg Hamburg–Bremen. Der rot-grüne Senat der 21. Legislaturperiode gab das Ziel aus, Hamburg bis zur Mitte der 2020er-Jahre zu „Fahrradstadt“ zu machen. Hierzu sollen die 14 Fahrradrouten mit einer Gesamtlänge von 280 Kilometern bis 2020 fertig gestellt werden, jährlich 50 Kilometer Radwege saniert oder umgewidmet werden und das „StadtRAD“-Angebot mit der Neuausschreibung 2017 ausgebaut und attraktiver gestaltet werden. Daneben ist die Planung von je einem Radschnellweg pro Bezirk geplant, die bis 2025 umgesetzt werden sollen. Der Loop in den Stadtteilen Wilhelmsburg und Veddel sowie die Konzertkultour Fahrradgarderobe haben 2014 den Deutschen Fahrradpreis, gewonnen, einmal in der Kategorie Alltagsmobilität, einmal in Freizeit und Tourismus. Öffentlicher Personenverkehr Schienenfernverkehr Hamburg ist der größte Eisenbahnknotenpunkt Nordeuropas. Die Hansestadt kann auf eine lange Eisenbahngeschichte, seit der ersten Strecke 1842, zurückblicken. Im Schienenpersonenfernverkehr bestehen verschiedene ICE-Linien und IC-Linien bis in das europäische Ausland, beispielsweise nach Kopenhagen oder Basel, einzelne Züge fahren nach Breslau, Wien oder Prag. Durch Nachtzüge sind unter anderem München, Basel, Zürich und Wien direkt von Hamburg aus erreichbar. Die meisten Fernzüge führen über den Hauptbahnhof und beginnen und enden oft im Bahnhof Hamburg-Altona. Daneben existieren die Fernbahnhöfe Hamburg Dammtor, Hamburg-Harburg und Hamburg-Bergedorf. Vom Hamburger Zentral-Omnibusbahnhof (ZOB) beim Hauptbahnhof bestehen Fernbuslinien in das In- und Ausland, besonders nach Osteuropa (Baltikum, Polen). Mehrmals täglich verkehren Busse in Richtung Berlin. Südlich der Stadtgrenze – im niedersächsischen Maschen – befindet sich der größte Rangierbahnhof Europas (→ Maschen Rangierbahnhof). Er hat Bedeutung für den paneuropäischen Schienengüterverkehr. Hier beginnt oder endet etwa zehn Prozent des deutschen Schienengüterverkehrs. Die Hamburger Hafenbahn besitzt und unterhält das Schienennetz im Hamburger Hafen. Öffentlicher Stadt- und Regionalverkehr Neben zahlreichen Regionalbahn-Linien, die das Hamburger Umland erschließen, bestehen Regional-Express-Verbindungen in Richtung Elmshorn–Neumünster–Kiel bzw. Flensburg–Padborg, Lübeck, Schwerin–Rostock, Elmshorn–Westerland (Sylt), Stade–Cuxhaven, Bremen und Lüneburg–Uelzen(–Hannover). Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) wird u. a. durch ein Schnellbahnnetz bedient, das vorwiegend aus sechs S-Bahn- und vier U-Bahn-Linien besteht. Das Netz erschließt auch einige Vororte außerhalb des Stadtgebietes. Außerdem verkehren Regionalbahnen und Regional-Express-Züge sowie im Norden der Stadt die Schnellbahnzüge der AKN von (Neumünster–)Kaltenkirchen und Henstedt-Ulzburg bis Hamburg-Eidelstedt bzw. Norderstedt Mitte. Zur Erschließung der HafenCity südlich der früher abgetrennten Speicherstadt wurde eine U-Bahn-Strecke vom Bahnhof Jungfernstieg neu gebaut. Die Linie wird als U4 bezeichnet und führt in östlicher Richtung zur Entlastung der U2 weiter bis Billstedt. Sie wurde am 29. November 2012 eröffnet. Daneben besteht ein flächenmäßig gut ausgebautes, jedoch tendenziell deutlich überlastetes Stadtbusnetz (auch Metrobusse, Eilbusse, zuschlagpflichtige Schnellbusse). Der Hafen wird neben Bus- und Bahnanschlüssen auch von Hafenfähren erschlossen. In den Nächten vor Sonnabenden, Sonn- und Feiertagen werden die wichtigsten Buslinien, U- und S-Bahnen durchgehend betrieben (Nachtverkehrsnetz), wobei Randbereiche durch besondere Nachtbuslinien erschlossen werden. Für die übrigen Nächte gibt es ein Nachtbusnetz mit 19 Linien. Die Straßenbahn Hamburg wurde Strecke für Strecke bis 1978 eingestellt. Die Wiedereinführung als Stadtbahn war bereits mehrere Male Ziel einer Hamburger Regierung. 2001 und 2011 waren die Vorbereitungen bis zum Planfeststellungsverfahren vorangeschritten. Beide Male wurden diese umfangreichen Arbeiten unmittelbar nach einem Regierungswechsel vom Senat wieder eingestellt. Alle Verkehrsmittel des Regional- und Nahverkehrs (alle Regionalzüge, auch von privaten Betreibern, S-, U-, A-Bahn sowie Busse und Hafenfähren) können in und um Hamburg mit Fahrkarten des Hamburger Verkehrsverbundes (HVV), der 1965 als erster Verkehrsverbund der Welt gegründet wurde, benutzt werden. Außerdem sind die Ländertickets Schleswig-Holstein-Ticket, Niedersachsen-Ticket und Mecklenburg-Vorpommern-Ticket auch für alle Verkehrsmittel des HVV im „Großbereich Hamburg“ (Schnellbusse mit Zuschlag) gültig. Wasserverkehr Wasserwege Die Niederelbe verbindet Hamburg direkt mit dem offenen Meer, der Nordsee. Seeschiffe können den Hamburger Hafen von dort und von der Ostsee über den elbabwärts gelegenen Nord-Ostsee-Kanal erreichen. Kreuzfahrtschiffe legen an den drei Kreuzfahrtterminals an. Elbaufwärts bestehen weitere Wasserstraßen für die Binnenschifffahrt, die Hamburg über die Elbe (Richtung Magdeburg, Dresden bis Tschechien) und abzweigende Kanäle mit dem weiteren Hinterland und dem Binnenwasserstraßennetz verbinden. So sind über ein kurzes Stück der oberen Unterelbe und der Oberelbe der abzweigende Elbe-Lübeck-Kanal (Verbindung nach Lübeck und zur Ostsee) und der Elbe-Seitenkanal (Verbindung zum Mittellandkanal) zu erreichen. Fährdienste Im Stadtgebiet verkehren auf der Elbe und besonders im Hafengebiet sechs Schiffslinien bzw. Fähren der HADAG zum Verbundtarif des HVV. Die Linien 62 und 64 (Fähre ab Teufelsbrück) dienen zur Anbindung des Stadtteils Finkenwerder. Außerdem gibt es eine Fähre ab Blankenese nach Cranz. Als Touristik- und Ausflugslinie besteht eine Verbindung St. Pauli-Landungsbrücken–Blankenese–Wittenbergen–Schulau–Lühe–Stadersand. Am Jungfernstieg beginnen die Touristik- und Linienverkehre der Alsterschifffahrt. Bis 1984 übernahmen Alsterdampfer als fester Bestandteil des Verkehrsverbundes Aufgaben im ÖPNV. Heute gibt es eine „Kreuzfahrt-Linie“ und Alsterrundfahrten, teilweise kommen Museumsschiffe zum Einsatz. Hafen Der Hamburger Hafen, auch „Deutschlands Tor zur Welt“ genannt, ist der größte Seehafen in Deutschland und der drittgrößte in Europa (nach Rotterdam und Antwerpen, Stand 2016). Weltweit steht der Hamburger Hafen an 15. Stelle. Für einige Spezialgüter, zum Beispiel Teppiche, ist er der größte Umschlaghafen weltweit. Den größten Umsatz macht der Hafen mit dem Containerumschlag. Es befinden sich mit den Firmen Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) und der Bremer Firma Eurogate GmbH & Co. KGaA zwei Hauptcontainer-Terminal-Betreiber in Hamburg. Das Hafengebiet umfasst etwa 7399 Hektar (nutzbar 6480 ha), von denen 4331 Hektar (nutzbar 3412 ha) Landflächen sind. Dazu kommen 919 Hektar, die zum Teil seit Jahrzehnten stadtplanerisch für die Hafenerweiterung vorgesehen sind. Auch für den Hamburg-Tourismus hat der Hafen eine große Bedeutung. Angeboten werden Hafenrundfahrten mit unterschiedlichsten Schiffstypen, angefangen bei einfachen Barkassen bis zu großen Schaufelraddampfern mit Gastronomie. Anziehungskraft haben auch Aussichtspunkte rund um die Elbe (u. a. Altonaer Balkon) oder der Alte Elbtunnel. Angesichts von Konstruktionsüberlegungen für Containerschiffsgrößen mit einem maximalen Tiefgang von mehr als 16 m hat Hamburg eine Anpassung des Fahrwassers der Unterelbe beim Bund beantragt. Die Stadt Hamburg fordert eine Vertiefung der Unterelbe um 1,50 m. Dieses Projekt befindet sich in der Prüfung. Aus der Zusammenarbeit mit Niedersachsen und Bremen zum Bau des neuen Containerhafens JadeWeserPort hat sich die Stadt Hamburg nach dem Regierungswechsel 2001 zurückgezogen, weil die im Hamburger Hafen anstehenden Investitionsvorhaben von vordringlicher Bedeutung sind. In direkter Anbindung an die Speicherstadt und den Innenstadtbereich wird der neue Stadtteil HafenCity bebaut. Das Projekt HafenCity soll auf einer Fläche von 155 Hektar Wohnen, Arbeiten und Unterhaltung ermöglichen. Seit dem ersten März 2008 ist die HafenCity formell ein eigener Stadtteil Hamburgs. Unmittelbar zwischen der historischen Speicherstadt und der Elbe entstehen von Norden nach Süden, von Westen nach Osten 13 Teilquartiere, die die Innenstadt Hamburgs um 40 Prozent vergrößern werden. Luftverkehr Der internationale Flughafen Hamburg (HAM) – eigene Bezeichnung Hamburg Airport (seit 2016 mit dem Beinamen Helmut Schmidt) – ist vom Passagieraufkommen der fünftgrößte und der älteste noch in Betrieb befindliche Flughafen Deutschlands. Er wurde 1911 in Fuhlsbüttel bei Hamburg eröffnet und liegt etwa 11 km nördlich des Stadtzentrums. Etwa 60 Fluggesellschaften bedienen 125 Zielflughäfen, darunter auch die Langstreckenziele Dubai und Teheran. Der Flughafen zählt nach einem bis 2008/2009 geführten, umfassenden Ausbauprogramm zu den modernsten in Europa und ist seitdem mit der S-Bahn-Linie S1 an die Innenstadt angeschlossen. Daneben ist er über einige Buslinien des Hamburger Verkehrsverbundes und Fernbuslinien zu erreichen. Zudem wurde die Zahl der PKW-Parkplätze für Besucher auf 12.000 erhöht und die Gastronomie und Einkaufsmöglichkeiten erweitert. Am Flughafen befindet sich auch die Basis der Lufthansa Technik. Wegen der Lärmbelästigung in den relativ dicht besiedelten Einflugschneisen besteht ein Nachtflugverbot. Als Ersatz für den Flughafen Fuhlsbüttel ist seit den 1960er-Jahren der Bau eines neuen Großflughafens in der Nähe von Kaltenkirchen im Gespräch, der bisher nicht realisiert wurde. Auf dem Gelände der Airbus Operations GmbH (einer Division der Airbus Group, ehemals EADS) – ca. 10 km südwestlich des Hamburger Stadtzentrums – befindet sich der Werksflugplatz Hamburg-Finkenwerder. Dort landen neben den dort endmontierten Maschinen der Airbus-A320-Familie und der zur Lackierung und Innenausrüstung der Kabine aus Toulouse überführten Airbus A380, nur Flugzeuge zur hauseigenen Versorgung, wie der Airbus Beluga sowie Verkehrsflugzeuge, die Werksangehörige von und nach Toulouse bringen. Der Flughafen Lübeck-Blankensee (LBC) ist mit einer Busverbindung von Hamburg aus erreichbar. Obwohl er rund 70 km von Hamburg entfernt liegt, kommen nach Angaben des Flughafens etwa 40 Prozent der Fluggäste aus Hamburg. Von der Billigfluggesellschaft Ryanair, die von 2005 bis 2014 den Flughafen anflog, wurde er als „Hamburg-Lübeck“ bezeichnet. Versorger Wasserversorgung Die Trinkwasserversorgung Hamburgs wird durch die 17 Wasserwerke Baursberg, Bergedorf, Billbrook, Bostelbek, Curslack, Glinde, Großensee, Großhansdorf, Haseldorfer Marsch, Langenhorn, Lohbrügge, Hausbruch, Nordheide, Schnelsen, Stellingen, Süderelbmarsch und Walddörfer sichergestellt, die vom Gleichordnungskonzern Hamburg Wasser betrieben werden. Je nach Jahreszeit werden täglich zwischen 250.000 und 400.000 m³ Trinkwasser bereitgestellt. Energieversorgung In den 1990er-Jahren wurden die Gas-, Strom- und Fernwärmeversorgung der Stadt Hamburg in Gestalt der HeinGas Hamburger Gaswerke GmbH sowie der Hamburgische Electricitäts-Werke AG privatisiert. Von 1974 bis 2001 wurde im Stadtteil Moorburg ein Kraftwerk betrieben, das für die Verbrennung von Gas und Öl ausgelegt war. Dieses Kraftwerk wurde durch das Kohlekraftwerk Moorburg ersetzt, das 2015 in Betrieb genommen und im Juli 2021 stillgelegt wurde. 2022 wurde mit dem Bau einer Fernwärmeleitung zu einem Standort des Kupferproduzenten Aurubis begonnen, mit der Abwärme aus der Kupferproduktion in das Fernwärmenetz eingespeist werden soll. Damit soll ab der Heizperiode 2024/25 der Wärmebedarf von ca. 20.000 Haushalten mit Abwärme gedeckt werden, womit jährlich ca. 100.000 Tonnen des Treibhausgases Kohlenstoffdioxid eingespart werden sollen. Industrie Hamburg ist mit dem Airbus-Werk im Stadtteil Finkenwerder der größte deutsche, zweitgrößte europäische (nach Toulouse) und weltweit drittgrößte (nach Seattle und Toulouse) Flugzeugbau-Standort. Einige Zulieferer wie Diehl Aerosystems sind ebenfalls in Hamburg aktiv. Der Werft-Standort Hamburg umfasst unter anderem die größeren Firmen Blohm & Voss sowie J. J. Sietas mit den Tochterunternehmen Norderwerft und Neuenfelder Maschinenfabrik, einem der weltweit führenden Hersteller von Schiffskränen. Auch Schiffbau-Zulieferer wie Muehlhan sind in der Hansestadt ansässig. Die Beiersdorf AG hat nicht nur ihren Sitz in Hamburg, sondern produziert dort auch Produkte der Marken Nivea und Tesa. Das Mercedes-Benz-Werk Hamburg der Mercedes-Benz Group im Stadtteil Heimfeld fertigt Achsen und Komponenten für PKW. Es ging aus dem 1928 gegründeten Vidal & Sohn Tempo-Werk hervor, das u. a. in den 1960er Jahren den Harburger Transporter produzierte. Die Deutschland-Tochter des niederländischen Philips-Konzern, Philips Deutschland GmbH befindet sich in Hamburg, wo unter anderem auch Medizin-Geräte hergestellt werden. Das aus dem Philips-Konzern ausgegliederte Unternehmen NXP Semiconductors produziert im Stadtteil Hausbruch Halbleiter. Im Bereich der Rohstoffverarbeitung sind die Aurubis AG auf der Peute (Europas größte Kupferhütte), Trimet Aluminium sowie das Stahlwerk von ArcelorMittal zu nennen. Es existieren Erdölraffinerien der Firmen Holborn, H&R Ölwerke Schindler und Nynas. Die Sasol Wax GmbH betreibt im Hamburger Hafen zwei Produktionsstandorte. Das Maschinenbauunternehmen Körber AG hat seinen Sitz in Hamburg. Zu dem Konzern gehört unter anderem Hauni Maschinenbau, Weltmarktführer bei Maschinen und Anlagen für die Tabakindustrie und damit einer von mehreren sogenannten Hidden Champions in der Hansestadt. Zu ihnen gehören auch die Maschinenbauer Harburg-Freudenberger und BW Papersystems Hamburg (als E.C.H. Will in Hamburg gegründet, inzwischen Produktion in Wedel). Die Hamburger Unternehmen Jungheinrich (produziert allerdings im benachbarten Norderstedt und in Lüneburg) und Still stellen (Flur-)Förderfahrzeuge her. Der Klavier- und Flügelhersteller Steinway & Sons fertigt im Stadtteil Bahrenfeld, der Schreibgerätehersteller Montblanc im benachbarten Eidelstedt. Uhren verlassen die Manufaktur des Herstellers Wempe Chronometerwerke. Der Sägen-Hersteller Dolmar produziert in Jenfeld. Der Agrarprodukte-Konzern Archer Daniels Midland besitzt die Ölmühle Hamburg an der Nippoldstraße und die Palmölmühle der früheren Noblee & Thoerl GmbH in Harburg. Nestlé, Cargill und Ingredion betreiben ebenfalls Produktionsstandorte in Hamburg. Die Holsten-Brauerei braut in Hausbruch Biere. Lediglich mit der Verwaltung, nicht aber mit Produktionsstandorten in Hamburg vertreten sind die Nahrungsmittelhersteller Unilever (Deutschland-Zentrale) und Carl Kühne KG sowie die Windenergieanlagen-Hersteller Senvion und Nordex. Dienstleistungen Tourismus Hamburg ist das am schnellsten wachsende Tourismusziel in Europa der vergangenen zehn Jahre (Stand 2017). Zwischen 2008 und 2018 stieg die Zahl der Übernachtungen um 88 %. Im Jahr 2018 verbrachten 7,2 Millionen Gäste 14,5 Millionen Nächte in den 397 gewerblichen Beherbergungsbetrieben Hamburgs. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer betrug zwei Nächte. So waren die meisten der 6,2 Millionen Besucher der Stadt im Jahr 2015 Deutsche, während etwa 1,39 Millionen aus dem Ausland kamen. Entsprechend der steigenden Übernachtungs- und Gästezahlen nahm auch das Angebotsvolumen (Bettenzahl) seit 2008 stetig zu, was wiederum für die Bedeutung Hamburgs als attraktiven Standort für den Tourismus und die entsprechenden Investitionen spricht. Trotz der Vielzahl neuer Betriebe und Betten kann die Bettenauslastung auf einem stabilen Niveau gehalten werden. Für 2018 ergibt sich eine durchschnittliche Bettenauslastung von 58,8 %. Seit 2013 erhebt Hamburg eine Kultur- und Tourismustaxe, die zu 100 Prozent in touristische, kulturelle und sportliche Projekte investiert wird. Hamburg ist die deutsche Stadt mit den meisten 5-Sterne-Hotels (Stand 2017). Medien Unter anderem werden Der Spiegel, Stern und Die Zeit in Hamburg produziert. Zahlreiche Verlage, darunter die Großverlage Gruner + Jahr sowie die Bauer Verlagsgruppe, die Verlagsgruppe Milchstrasse (mittlerweile Teil des Burda-Verlags) und der Jahreszeiten-Verlag, haben hier ihren Sitz. Auch Axel-Springer kommt ursprünglich aus Hamburg, hat aber seit 1966 seinen Hauptsitz in Berlin. Insgesamt wird gut die Hälfte aller überregionalen Presseprodukte Deutschlands in Hamburg produziert. Zwei bedeutende Tiefdruckereien befinden sich im Großraum Hamburg. Dies sind Gruner Druck, Itzehoe, und die Axel Springer Tiefdruckerei, Ahrensburg, die der prinovis angehören. Außerdem hat die Deutsche Presse-Agentur (dpa) ihren Sitz in der Hansestadt. Die ARD-Redaktion für Nachrichten und Zeitgeschehen ARD-aktuell produziert auf dem NDR-Gelände in Lokstedt unter anderem die Tagesschau, die Tagesthemen, das Nachtmagazin und Tagesschau24, das Informationsprogramm innerhalb der Senderfamilie der ARD. Hamburg ist traditionell Sitz zahlreicher Firmen aus der Musikbranche, allen voran der Deutschlandzentrale von Warner Music sowie Edel Music. Trotzdem verlor die Stadt im Sommer 2002 Universal Music und den Deutschen Phonoverband an Berlin. Der ausschlaggebende Grund, die Subventionierung des Umzugs durch Berlin, zog seitens Hamburg Kritik nach sich, da Berlin seinen Haushalt mit Hilfe des Länderfinanzausgleiches stützt, in den unter anderem Hamburg einzahlte – Hamburg hätte damit in gewisser Hinsicht die Abwanderung selbst bezahlt. Allerdings hatte Hamburg einst von der Teilung Berlins und dem teilungsbedingten Zuzug zahlreicher Unternehmen – nicht nur beim Steueraufkommen – erheblich profitiert. Weiterhin ist Hamburg Hauptsitz des Norddeutschen Rundfunks (NDR) und seiner (über die NDR Media GmbH) Enkeltochtergesellschaft Studio Hamburg, die zahlreiche Fernsehsendungen und auch Filme entweder selbst produziert, synchronisiert oder ihre Kapazitäten zur Verfügung stellt. Außerdem ist Hamburg Sitz eines ZDF-, RTL- sowie Sat.1-Landesstudios sowie des regionalen Fernsehsenders Hamburg 1. Um die Belange der örtlichen, nationalen, wie auch internationalen Filmwirtschaft kümmert sich von staatlicher Seite die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein. Die Sitze zahlreicher international renommierter Werbeagenturen wie Scholz & Friends, Jung von Matt, TBWA, Zum goldenen Hirschen, Kolle Rebbe, Grabarz&Partner und Designagenturen, darunter Peter Schmidt Group, Landor Associates und Factor Design, machen Hamburg zu einem überregionalen Standort der Werbe- und Designbranche. Informations- und Telekommunikationssektor Der Informations- und Telekommunikationssektor (IT-Sektor) gehört zu den Branchen, die den Wirtschaftsstandort Hamburg prägen. Die Zahl der Unternehmen hat sich seit 1996 auf fast 8000 mehr als verdoppelt, und die Branche beschäftigt ca. 45.000 Mitarbeiter (Stand 2. Halbjahr 2006). Hamburg ist einer der zentralen IT-Standorte Deutschlands. Die Branchenstruktur der Hamburger IT-Unternehmen gliedert sich in die Sektoren Multimedia, Geräteherstellung, Telekommunikation, Hard- und Softwareberatung und DV-Dienste. Die anteilsmäßig größten Zuwächse der letzten Jahre im IT-Sektor verzeichnet der Multimediawirtschaftszweig. Die Zahl der ihr zugehörigen Unternehmen ist seit dem Jahr 2000 um über 50 Prozent auf 2227 Unternehmen angewachsen (Stand 2. Halbjahr 2006). Zu den bekanntesten Internetdienstleistern der Elbmetropole gehören unter anderem SinnerSchrader, Immonet oder Tipp24. Seit der Jahrtausendwende haben sich in Hamburg vermehrt Social-Media-Unternehmen angesiedelt. Unter anderem haben Xing, ElitePartner und Parship ihren Hauptsitz in Hamburg. Unternehmen wie Google, Facebook, Twitter, Yelp und Dropbox unterhalten Niederlassungen in Hamburg. Mit der Freenet Group hat auch ein großer deutscher Telekommunikationsdienst- und Internetanbieter in Hamburg seinen Standort. Des Weiteren umfasst die Multimedia-Branche Online-Vermarkter wie beispielsweise Bauer Media und Quality Channel sowie international bekannte Suchmaschinen wie Google Germany GmbH und Yahoo Marketplace/Kelkoo Deutschland GmbH. Ein weiterer Bereich der Multimedia-Branche ist die Videospiel-Branche. Zahlreiche Publisher haben sich angesiedelt, (zum Beispiel dtp entertainment, Codemasters, Eidos, Bigpoint, InnoGames, Goodgame Studios). Darüber hinaus haben Anbieter mobiler Entertainment-Inhalte (zum Beispiel Fishlabs Entertainment) ihren Sitz in der Hansestadt. Mit 1.900 Unternehmen sind die Software-Unternehmen am zweitstärksten in der Hamburger IT-Wirtschaft vertreten (Stand 2. Halbjahr 2006). In Hamburg sind einige der größten internationalen und deutschen Software-Unternehmen angesiedelt, darunter unter anderem IBM, Lufthansa Systems, Oracle, Adobe Inc., Logica sowie die SAP. Die Rolle Hamburgs als Medienstadt kommt der IT-Branche entgegen und ermöglicht Synergien mit den verschiedenen Mediengattungen. Hamburger Institutionen wie die Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation, die Hamburgische Gesellschaft für Wirtschaftsförderung mbH und Unternehmen der IT- und Medien-Branche haben sich in der Initiative Hamburg@work zusammengeschlossen, um die Zusammenarbeit der beiden Sektoren zu unterstützen und Neuankömmlingen einen Branchen-Überblick zu geben. Finanzdienstleistungen Banken Hamburg ist der bedeutendste Bankenplatz im norddeutschen Raum. Eine von neun Hauptverwaltungen der Deutschen Bundesbank befindet sich in der Willy-Brandt-Straße (ehemals Ost-West-Straße) in Hamburg. Sie ist für die Länder Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein zuständig. Außerdem ist die älteste deutsche Münzprägeanstalt, die Hamburgische Münze mit dem Münzzeichen „J“, in Hamburg beheimatet. Zum öffentlichen Bankensektor gehört neben der HSH Nordbank AG (ehemals: Hamburgische Landesbank), die einen ihrer zwei Hauptsitze in der Hansestadt hat, mit der Hamburger Sparkasse (HASPA) auch die größte deutsche Sparkasse. Als weiteres, deutlich kleineres Institut hat die Sparkasse Harburg-Buxtehude ihren Sitz in Hamburg. Auch der Dachverband für Hamburg und Bremen, der Hanseatische Sparkassen- und Giroverband, befindet sich in Hamburg. Die genossenschaftliche Bankengruppe ist in Hamburg mit der überregionalen DZ Hyp AG (der früheren DG HYP) sowie den regionalen Instituten Hamburger Volksbank und Sparda-Bank Hamburg vertreten. Weitere Genossenschaftsbanken mit Sitz in Hamburg sind die MKB Mittelstandskreditbank AG, die Edekabank AG und die NetBank AG. Auch Großbanken haben Hamburger Wurzeln, die Deutsche Bank mit der Norddeutschen Bank, die Unicredit Bank/Hypovereinsbank mit der Vereins- und Westbank und die UBS mit dem Bankhaus Schröder, Münchmeyer, Hengst & Co. Die Commerzbank hatte in der Anfangszeit als Commerz- und Disconto-Bank sogar ihren Sitz in Hamburg. Traditionell sind bedeutende Privatbanken in Hamburg beheimatet. Mit der M. M. Warburg Bank hat eine der größten Privatbanken Deutschlands ihren Sitz in Hamburg. Weitere Hamburger Privatbanken sind Joh. Berenberg, Gossler & Co. KG, Bankhaus Wölbern & Co., Donner & Reuschel (zur Signal-Iduna Gruppe), Bankhaus Marcard, Stein & Co, Otto M. Schröder Bank AG, Goyer & Göppel und die Sutor Bank (ehemals Max Heinr. Sutor oHG). Zusätzlich hat die Bank des Otto-Versand, die Hanseatic Bank, ihren Sitz in Hamburg. Aufgrund Hamburgs internationaler Bedeutung als Handelsplatz sind zahlreiche ausländische Banken mit einer Niederlassung in Hamburg vertreten. In einer Rangliste der wichtigsten Finanzzentren weltweit belegte Hamburg im Jahr 2018 den 29. Platz und den zweiten in Deutschland. Versicherungen Hamburg ist mit 21.850 Beschäftigten nach München und Köln drittgrößter Versicherungsstandort in Deutschland. Der Versicherungsplatz ist mit rund 300 Versicherungsgesellschaften insbesondere von mittelständischen Versicherungsgesellschaften, Versicherungsmaklern und -vermittlern geprägt, wie der Signal Iduna Gruppe einschließlich des Deutschen Rings, der HanseMerkur Versicherungsgruppe, der neue leben, der Hamburger Pensionskasse von 1905, des größten deutschen Versicherungsmaklers Aon Jauch & Hübener und des größten deutschen inhabergeführten Versicherungsmaklers Funk Gruppe. Große Versicherungskonzerne sind zwar nicht mit ihrem Konzernsitz, wohl aber mit wichtigen Konzernteilen in Hamburg vertreten. Der Allianz Versicherungskonzern mit dem Kreditversicherer Euler Hermes, die Münchener Rück mit der Ergo Lebensversicherung (ehemals Hamburg-Mannheimer), die Generali-Gruppe mit Volksfürsorge und Advocard Rechtsschutzversicherung, die R+V Versicherung mit Condor und KRAVAG und die Bâloise mit der Deutscher Ring Versicherungsgruppe. Hamburg ist Sitz der Techniker Krankenkasse, der größten Krankenkasse innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung, sowie der DAK-Gesundheit, HEK – Hanseatische Krankenkasse und Continentale Betriebskrankenkasse. Die sehr lange Tradition der Versicherungswirtschaft in Hamburg wird durch das älteste Versicherungsunternehmen der Welt, die 1676 gegründete Hamburger Feuerkasse und eine von nur drei Versicherungsbörsen weltweit, die mit der Vermittlung und dem Abschluss von Versicherungsverträgen seit Gründung der Hamburger Börse 1558 zum Börsengeschäft gehört, unterstrichen. Der Versicherungsstandort Hamburg wird durch den Sitz der GDV Dienstleistungs-GmbH des Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft, dem Verband Deutscher Versicherungsmakler, dem 1982 in Hamburg gegründeten und nun im Umland beheimateten Bund der Versicherten und dem börsenähnlichen Policenhandel (Handel mit bestehenden Lebens- und Rentenversicherungspolicen) der BÖAG Börsen in Hamburg abgerundet. Handel Börse Die Hamburger Börse wurde 1558 als erste Börse in Deutschland und vierte in Europa gegründet. Sie hat heute keine nennenswerte Bedeutung mehr für den Aktienhandel, konnte jedoch als BÖAG ein eigenes Profil entwickeln und spezialisierte sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts auf den Handel mit Fondsanteilen. Messen und Kongresse Hamburg wird zu den führenden Kongressorten weltweit gezählt. Das Congress Center Hamburg (CCH) wurde 1973 als Deutschlands erstes Kongress- und Tagungszentrum zusammen mit einem Hotelturm, Hamburgs höchstem Haus, neben dem Dammtorbahnhof eröffnet. Mit einem 2008 beendeten Ausbau auf 23 Säle mit 12.500 Sitzplätzen und einer multifunktionalen Ausstellungshalle mit 7000 Quadratmetern hofft die Stadt unter die weltweit ersten zehn Kongressorte vorzurücken. Jährlich finden dort etwa 400 Kongresse, Veranstaltungen und Konzerte statt. Nahe dem CCH und über einen überdachten Gang durch den Park Planten un Blomen erreichbar, befindet sich das Hamburger Messegelände. Die Hamburg Messe wurde bis zum Jahr 2008 auf elf Messehallen mit einer Fläche von 87.000 Quadratmetern erweitert. Über eine Million Besucher verzeichnen die etwa 45 Messen und anderen Veranstaltungen pro Jahr. Darunter international bedeutende Fachmessen wie die traditionsreiche Internorga (Hotellerie- und Gastronomie-Fachmesse) oder die Weltleitmesse der Schifffahrtsindustrie SMM (Shipbuilding, Machinery & Marine technology), die publikumsstarke Bootsausstellung hanseboot, die 2009 zum 50. Mal stattfand. Bei der Auslastung der Messeflächen war die Hamburg Messe im Jahr 2008 in Deutschland führend. Einschließlich der Flächen des CCH stehen insgesamt 107.000 Quadratmeter an Ausstellungsflächen zur Verfügung, die von der städtischen Hamburg Messe und Congress GmbH vermarktet werden. Einzelhandel Neben dem Außenhandel mit Ein- und Ausfuhr sowie dem Großhandel ist der Einzelhandel von Bedeutung. Die Geschäfte für den Massenkonsum liegen in der Spitalerstraße und der Mönckebergstraße. Sehr unterschiedliche Geschäfte findet man in der Straße Neuer Wall. Wegen des nassen Wetters in Hamburg wurde ein Netz von Einkaufspassagen aufgebaut. Sie führen von der Shoppingpassage am Mönckebergbrunnen zur Europa Passage, zum Kaufmannshaus, zum Hanseviertel bis zur Gänsemarktpassage und andere wetterfeste Passagen. Institutionen, öffentliche Einrichtungen und Stiftungen Die bedeutendste Einrichtung der Vereinten Nationen in Deutschland, der Internationale Seegerichtshof, residiert in Hamburg. Er wurde 1982 eingerichtet. In ihrem Gebäude an der berühmten Elbchaussee amtieren die UN-Richter seit 1996. Weiterhin ist Hamburg unter anderem Sitz folgender Institutionen: Bundesforschungsanstalt für Fischerei (BFAFi) Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) (vormals: Deutsches Hydrographisches Institut (DHI)) Deutscher Wetterdienst (DWD; Seewetteramt) Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNI) Heinrich-Pette-Institut, Leibniz-Institut für Experimentelle Virologie (HPI) Deutsches Elektronen-Synchrotron (DESY) Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) Greenpeace Deutschland Stiftung Schifffahrtsstandort Deutschland Hamburg ist unter anderem Sitz folgender Gerichte: Hamburgisches Verfassungsgericht Ordentliche Gerichtsbarkeit: Hanseatisches Oberlandesgericht (HansOLG), Landgericht Hamburg Verwaltungsgerichtsbarkeit: Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Verwaltungsgericht Hamburg Finanzgerichtsbarkeit: Finanzgericht Hamburg Arbeitsgerichtsbarkeit: Landesarbeitsgericht Hamburg, Arbeitsgericht Hamburg Sozialgerichtsbarkeit: Landessozialgericht Hamburg, Sozialgericht Hamburg Ferner sind in Hamburg drei Hauptzollämter (Hamburg-Hafen, Hamburg-Jonas und Hamburg-Stadt), zwei Bundespolizeiinspektionen (1. Hamburg mit den Bundespolizeirevieren Hamburg-Hauptbahnhof, Hamburg-Altona und Hamburg-Harburg sowie 2. Flughafen Hamburg), ein Dienstsitz der Generalzolldirektion, ein Prüfungsamt des Bundes, ein Wasser- und Schifffahrtsamt und ein Zollfahndungsamt sowie drei von neun Berufsgenossenschaften angesiedelt. Mit der Führungsakademie und der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg befinden sich zudem zwei bedeutende Dienststellen der Bundeswehr in Hamburg. Aus alter Hamburger Tradition geben einige der reichen Bürger als Mäzen ihrer Stadt etwas von ihrem Reichtum zurück, so dass es in Hamburg mehr als 1400 Stiftungen gibt, die das Leben in allen Lebensbereichen der Stadt unterstützen – auch dies ist ein Rekord in Deutschland. Feuerwehr Hamburg verfügt über eine Berufsfeuerwehr mit 23 Feuerwachen und 34 Rettungswachen sowie 86 Abteilungen der Freiwilligen Feuerwehr. Bildung und Forschung Bildung Hamburg bietet neben seinen allgemein- und berufsbildenden Schulen spezielle Sonderschulen wie zum Beispiel die Sprachheilschulen sowie 19 Hochschulen. 2012 waren in Hamburg 222.700 Schüler an 218 Grund- und 297 weiterführenden Schulen gemeldet, hinzu kamen 19.300 Schüler an 95 privaten Schulen. Die Hoch- und Fachschulen besuchten 75.514 Studenten. 2010 wurden 64.044 Schüler an 178 berufsbildenden Schulen unterrichtet. 2012 beschäftigte die Stadt Hamburg 12.256 Lehrkräfte. Das Durchschnittsalter lag 2011 bei 46,02 und wird aufgrund vieler Neueinstellungen in den nächsten Jahren weiter sinken. Hamburg war damals das einzige deutsche Land mit einem wachsenden Schulsystem. Im restlichen Bundesgebiet sanken die Schülerzahlen und damit der Bedarf an Lehrkräften. Der Senat stellte deshalb von 2013 bis 2019 zusätzliche zwei Milliarden Euro für Sanierungen, Neu- und Umbauten zur Verfügung. 2012 wurden mehr als 10.000 Kinder in über 400 Containern unterrichtet. Forschung An der Grenze zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein ist der europäische Röntgenlaser European XFEL entstanden. Das Forschungszentrum Deutsches Elektronen-Synchrotron (DESY) hat für die internationale Forschungseinrichtung den auf Supraleiter-Technik ausgelegten 1,7 km langen Teilchenbeschleuniger gebaut. Der Freie-Elektronen-Laser für Röntgenlicht (XFEL steht für X-ray free-electron laser) beschleunigt Elektronen auf sehr hohe Energien und regt sie anschließend zur Aussendung von hochintensiven Röntgenlaserblitzen an. Die einzigartigen Röntgenlaserblitze des XFEL eröffnen völlig neue experimentelle Möglichkeiten in der Strukturbiologie, der Chemie, der Physik und der Materialforschung. 2009 wurde mit seinem Bau begonnen, die Inbetriebnahme erfolgte 2016. Rund um die Trabrennbahn Bahrenfeld entsteht bis 2040 die Science City. Gesundheit Ende 2014 waren in Hamburg 12.197 Ärzte, 1.906 Zahnärzte (2013) und 1.445 Apotheker (2013) berufstätig. 2015 standen in 52 (2013) Hamburger Krankenhäusern 12.407 Betten zur Verfügung, es wurden ca. 502.000 Patienten stationär behandelt. Die Bettenauslastung betrug 83,7 % und die durchschnittliche Verweildauer sank von 7,7 Tagen im Jahr 2014 auf 7,5 Tage (2015). Insgesamt waren 2013 28.761 Personen in den Hamburger Kliniken beschäftigt. Im Vergleich der Bundesländer war Hamburg 2017 das Bundesland, das bundesweit unter Frauen die höchste Suizidrate hatte. Siehe auch Literatur Uwe Bahnsen, Kerstin von Stürmer: Die Stadt, die auferstand: Hamburgs Wiederaufbau 1948–1960. Convent, Hamburg 2005, ISBN 3-934613-89-6. Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt, Freie und Hansestadt Hamburg: Hamburg. Architektur der sich wandelnden Stadt – Stadtentwicklung und Denkmalschutz. JOVIS, Berlin 2010, ISBN 978-3-86859-078-4. Jörg Berlin (Hrsg.): Das andere Hamburg. Freiheitliche Bestrebungen in der Hansestadt seit dem Spätmittelalter. Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1981, ISBN 3-7609-0654-0. Matthias Blazek: Die Geschichte des Hamburger Sportvereins von 1887: 125 Jahre im Leben eines der populärsten Fußballvereine. Mit einem besonderen Blick auf die Vorgängervereine, die Frühzeit des Hamburger Ballsports und das Fusionsjahr 1919. Ibidem, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8382-0387-4. Matthias Blazek: Seeräuberei, Mord und Sühne – Eine 700-jährige Geschichte der Todesstrafe in Hamburg 1292–1949. Ibidem, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8382-0457-4. Hans Bunge, Gert Kähler (Hrsg.): Villen und Landhäuser. Bürgerliche Baukultur in den Hamburger Elbvororten von 1900 bis 1935. Dölling und Galitz, München 2012, ISBN 978-3-86218-031-8. Ulrich Alexis Christiansen: Hamburgs dunkle Welten. Der geheimnisvolle Untergrund der Hansestadt. Ch. Links, Berlin 2008, ISBN 978-3-86153-473-0. Jörg Duppler (Hrsg.): Hamburg zur See. Maritime und militärische Beiträge zur Geschichte Hamburgs. Im Auftrag der Führungsakademie der Bundeswehr, Mittler, Herford 1989, ISBN 3-8132-0318-2. Jörn Düwel/Niels Gutschow: „Ein seltsam glücklicher Augenblick“. Zerstörung und Städtebau in Hamburg 1842 und 1943. Berlin 2013, ISBN 978-3-86922-320-9. Richard Evans: Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830–1910. Berlin 1990. Siegfried Gräff: Tod im Luftangriff Ergebnisse pathologisch-anatomischer Untersuchungen anlässlich der Angriffe auf Hamburg in den Jahren 1943–1945, H. H. Nölke Verlag, Hamburg 1948, Katalogeintrag in der Deutschen Nationalbibliothek Volker Hage: Hamburg 1943. Literarische Zeugnisse zum Feuersturm. Fischer, Frankfurt 2003, ISBN 3-596-16036-7. Freie und Hansestadt Hamburg: Mit Hamburg verbunden – Hamburg-Handbuch 2012/2013. Georg Hindrichson: Zur geographischen Lage des älteren Hamburg. Hamburg 1889. Werner Jochmann, Hans-Dieter Loose: Hamburg, Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner. Band 1: Von den Anfängen bis zur Reichsgründung. Hoffmann und Campe, Hamburg 1986, ISBN 3-455-08709-4. Werner Jochmann, Hans-Dieter Loose: Hamburg, Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner. Band 2: Vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Hoffmann und Campe, Hamburg 1986, ISBN 3-455-08255-6. Hella Kemper, Kerstin Schmidtfrerick, Eva-Christiane Wetterer: Hummelbuch, Hamburg Brevier. Murmann, Hamburg 2007, ISBN 978-3-86774-009-8. Ute Kleinelümern, Hanno Ballhausen: Alles über Hamburg. Erstaunliches & Kurioses. Zahlen Daten Fakten. Komet, Köln 2008, ISBN 978-3-89836-784-4. Eckart Kleßmann: Geschichte der Stadt Hamburg. Die Hanse / Groenewold / Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2002, ISBN 3-434-52596-3. Franklin Kopitzsch, Daniel Tilgner (Hrsg.): Hamburg Lexikon. 4., aktualisierte und erweiterte Sonderausgabe. Ellert & Richter, Hamburg 2010, ISBN 978-3-8319-0373-3. 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Weblinks Offizielle Webpräsenz der Freien und Hansestadt Hamburg Hamburg Wissen Digital Hamburg-Bibliographie Einzelnachweise Bundesland (Deutschland) Kreisfreie Stadt in Deutschland Stadt in Deutschland Deutsche Landeshauptstadt Gemeinde in Deutschland Hansestadt Ort mit Seehafen Reichsstadt Millionenstadt Deutsche Universitätsstadt Umwelthauptstadt Europas Ort an der Elbe Ort mit Binnenhafen Bundesstaat (Deutsches Kaiserreich) Land der Weimarer Republik Mitgliedstaat des Deutschen Zollvereins Mitgliedstaat des Deutschen Bundes Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden Ersterwähnung 810
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bezirk%20Hamburg-Nord
Bezirk Hamburg-Nord
Der Bezirk Hamburg-Nord ist einer von sieben Bezirken der Freien und Hansestadt Hamburg. Geographie Überblick Der Bezirk Hamburg-Nord liegt am 10. Grad östlicher Länge zu beiden Seiten der Alster. Er hat eine Ausdehnung von 14 km von Nord nach Süd und gut 8 km von West nach Ost und umfasst den nordöstlichen Teil der Außenalster. Im Norden grenzt der Bezirk an Schleswig-Holstein, im Süden an den Bezirk Hamburg-Mitte, im Westen an den Bezirk Eimsbüttel und im Osten an den Bezirk Wandsbek. Weite Flächen des rund 58 km² großen Bezirks sind nicht bewohnt, sondern dienen der Infrastruktur und der Naherholung. Dazu zählen der Flughafen Hamburg-Fuhlsbüttel (ca. 5 km²), der Friedhof Ohlsdorf (ca. 4 km²), der Hamburger Stadtpark (ca. 2 km²) und das Naturschutzgebiet Eppendorfer Moor sowie viele Kleingärten und die Alster. Verwaltungsgliederung Der Bezirk ist in 13 Stadtteile gegliedert: Eppendorf, Hoheluft-Ost und Winterhude bilden das dicht besiedelte Kerngebiet (Regionalausschuss Eppendorf-Winterhude), Uhlenhorst, Hohenfelde, Barmbek-Nord, Barmbek-Süd und Dulsberg sind die innenstadtnäheren Stadtteile östlich der Alster (Regionalausschuss Barmbek-Uhlenhorst-Hohenfelde-Dulsberg), Groß Borstel, Alsterdorf, Ohlsdorf, Fuhlsbüttel und Langenhorn bilden den dünner besiedelten Norden am Hamburger Stadtrand (Regionalausschuss Langenhorn-Fuhlsbüttel-Ohlsdorf-Alsterdorf-Groß Borstel). Die Stadtteile sind weiter in jeweils einen bis sechs, insgesamt 32 Ortsteile untergliedert. Die früheren Ortsämter Barmbek-Uhlenhorst und Fuhlsbüttel wurden im Zuge der Hamburger Bezirksverwaltungsreform 2006 aufgelöst, und aus den Ortsausschüssen der Bezirksversammlung wurden die drei oben genannten, fünfzehnköpfigen Regionalausschüsse. Im Bezirksamt koordinieren drei Regionalbeauftragte die Verwaltungstätigkeit in den Regionalbereichen. Das Bezirksamt () befindet sich in einem Verwaltungsbau von Paul Seitz im Stadtteil Eppendorf (Kümmellstraße 5). Das Gebäude wurde 1953/1959 errichtet und steht unter Denkmalschutz. Im Februar 2014 wurde das Gelände inklusive Bebauung an das Rendsburger Bauunternehmen Richard Ditting GmbH verkauft. Perspektivisch soll das Bezirksamt in einen Neubau am Wiesendamm in Barmbek-Nord umziehen. Politik Für die Wahl zur Bürgerschaft und der Bezirksversammlung 2011 wurde der Bezirk Hamburg-Nord in die Wahlkreise Eppendorf – Winterhude, Barmbek – Uhlenhorst – Dulsberg und Fuhlsbüttel – Alsterdorf – Langenhorn aufgeteilt. Bezirksamtsleiter 1949–1955: August Obenhaupt (SPD) 1955–1973: Kurt Braasch (DP) 1973–1989: Werner Weidemann (SPD) 1989–1996: Jochen von Maydell (SPD) 1996–2008: Mathias Frommann (SPD) 2009–2012: Wolfgang Kopitzsch (SPD) 2012–2018: Harald Rösler (SPD) seit 2019: Michael Werner-Boelz (Grüne) Nachdem Harald Rösler im Juni 2018 in den Ruhestand gegangen war, sollte Yvonne Nische (SPD) Bezirksamtsleiterin werden, führte dieses Amt ab 1. Juli 2018 kommissarisch, trat jedoch im Januar 2019 wegen der Rolling-Stones-Ticketaffäre das Amt letztendlich nicht an. Kommissarisch übernahm am 21. Januar 2019 Ralf Staack, der vormals stellvertretende Leiter des Bezirksamts Eimsbüttel die Leitung des Bezirksamts Nord. Einwohnerstatistik 1950 galt Hamburg-Nord mit seinen 358.941 Einwohnern als der bevölkerungsreichste Bezirk in Hamburg. 1977 waren 313.909 Einwohner im Bezirk gemeldet. Im Jahre 1990 waren es 282.715 Personen. Die Bevölkerung fiel dann bis 2000 auf 275.802 zurück und erhöhte sich seitdem auf 313.617 gemeldete Einwohner bis Ende 2018. Verkehr Der Flughafen Hamburg liegt fast vollständig im Stadtteil Hamburg-Fuhlsbüttel. Die nördliche Landebahn ragt etwas darüber hinaus in das Land Schleswig-Holstein hinein. Die S-Bahn-Linie 1 erschließt die östliche Seite des Bezirks Nord und bindet seit Ende 2008 auch den Flughafen an das S-Bahn-Netz an. Die U-Bahn-Linie 1 durchquert den Bezirk von Nord nach Süd, die südöstlichen Stadtteile des Bezirks werden von der Linie U3 erschlossen. Eine geplante Linie U5 soll unzureichend erschlossene Gebiete nordöstlich der Alster ab ca. 2030 erreichen. Sehenswürdigkeiten und Kultur Eine bezirksprägende Sehenswürdigkeit stellt die Alster und ihre dazugehörigen Kanäle dar. Insgesamt gibt es in Hamburg-Nord ca. 90 Kilometer Wasserläufe, wovon rund ein Drittel schiffbar sind. Planetarium und Museen Planetarium Hamburg, eines von neun Großplanetarien in Deutschland Museum der Arbeit Polizeimuseum Hamburg Theater Ernst-Deutsch-Theater Komödie Winterhuder Fährhaus Alma Hoppes Lustspielhaus Parks (Auswahl) Friedhof Ohlsdorf Stadtpark in Winterhude Alsterpark (östlicher Teil), Bereich Schwanenwik bis Krugkoppelbrücke Hayns Park City-Nord-Park Naturschutzgebiete Naturschutzgebiet Eppendorfer Moor in Groß Borstel Naturschutzgebiet Raakmoor in Langenhorn, Naturschutzgebiet Rothsteinsmoor () in Langenhorn Persönlichkeiten „Alt-Bundeskanzler“ Helmut Schmidt lebte in Hamburg-Nord, im Stadtteil Hamburg-Langenhorn. Wolfgang Borchert, deutscher Schriftsteller, wurde 1921 in Eppendorf geboren und besuchte die später nach ihm benannte Wolfgang-Borchert-Schule (vorher Erica-Schule). Ernst Thälmann, Politiker, an den heute noch der Ernst-Thälmann-Platz und die DKP-nahe Ernst-Thälmann-Gedenkstätte erinnern. Samy Deluxe, Rapper, besuchte die Gesamtschule Eppendorf. Jan Delay (Jan Eißfeldt), Rapper der Gruppe Beginner, spricht im Track „Lang is her“ zusammen mit Samy Deluxe über seine Jugend in Hamburg-Eppendorf. Fabius, Sänger, Schauspieler und Musicaldarsteller. In Eppendorf aufgewachsen, besuchte die Wolfgang-Borchert-Schule. Heute spielt er in diversen Musicalstücken und im Ohnsorg-Theater Hamburg insbesondere in der Rock-Revue „Wi rockt op Platt“. Dirk Fischer, ehemaliges MdB, Politiker der CDU Marcell Jansen, ehem. Fußball-Nationalspieler und Ex-HSV-Profi, lebt in Hamburg-Nord. Uwe Seeler, Rekordtorschütze des Hamburger SV, ist in Eppendorf aufgewachsen. Siehe auch Liste der Kulturdenkmäler im Hamburger Bezirk Hamburg-Nord Bilder Weblinks Webseite des Bezirksamtes Hamburg-Nord Einzelnachweise HamburgNord
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https://de.wikipedia.org/wiki/Holmium
Holmium
Holmium ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Ho und der Ordnungszahl 67. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Lanthanoide und zählt damit auch zu den Metallen der Seltenen Erden. Geschichte 1878 entdeckten die Schweizer Chemiker Marc Delafontaine und Jacques-Louis Soret das Element spektroskopisch durch seine abweichenden Absorptionslinien. Das neue Element nannten sie ›X‹. 1879 entdeckte der schwedische Chemiker Per Teodor Cleve das neue Element unabhängig von den beiden Schweizern und isolierte es als gelbes Oxid aus unreinem Erbium (Erbiumoxid). Cleve wendete eine von Carl Gustav Mosander entwickelte Methode an; er trennte zunächst alle bekannten Verunreinigungen ab, bevor er versuchte, den Rest zu trennen. Er erhielt einen braunen Rest, den er Holmia nannte, sowie einen grünen Rest, der den Namen Thulia erhielt. Erst 1911 gelang dem schwedischen Chemiker Holmberg die Gewinnung von reinem Holmiumoxid. Ob er die Bezeichnung Holmium, vorgeschlagen von Cleve für die schwedische Landeshauptstadt Stockholm, übernahm oder als Ableitung seines eigenen Namens betrachtete, ist nicht bekannt. Metallisch reines Holmium wurde erstmals 1940 hergestellt. Vorkommen In natürlichen Vorkommen tritt Holmium nur in Verbindungen auf. Bekannte holmiumhaltige Minerale sind: Gadolinit Monazit (Ce,La,Th,Nd,Y)PO4 Gewinnung und Darstellung Nach einer aufwändigen Abtrennung der anderen Holmiumbegleiter wird das Oxid mit Fluorwasserstoff zum Holmiumfluorid umgesetzt. Anschließend wird mit Calcium unter Bildung von Calciumfluorid zum metallischen Holmium reduziert. Die verbleibenden Calciumreste und Verunreinigungen werden in einer zusätzlichen Umschmelzung im Vakuum abgetrennt. Eigenschaften Das silberweiß glänzende Metall der Seltenen Erden ist weich und schmiedbar. Holmium weist besondere magnetische Eigenschaften auf. In seinen ferromagnetischen Eigenschaften ist es dem Eisen weit überlegen. Holmium besitzt zusammen mit Dysprosium das höchste magnetische Moment (10,6 μB) aller natürlich vorkommenden chemischen Elemente. Mit Yttrium bildet es magnetische Verbindungen. In trockener Luft ist Holmium relativ beständig, in feuchter oder warmer Luft läuft es unter Bildung einer gelblichen Oxidschicht schnell an. Bei Temperaturen oberhalb von 150 °C verbrennt es zum Sesquioxid Ho2O3. Mit Wasser reagiert es unter Wasserstoffentwicklung zum Hydroxid. In Mineralsäuren löst es sich unter Bildung von Wasserstoff auf. In seinen Verbindungen liegt es in der Oxidationszahl +3 vor, die Ho3+-Kationen bilden in Wasser gelbe Lösungen. Unter besonderen reduktiven Bedingungen kann bei den Chloriden auch die Oxidationszahl +2 realisiert werden, z. B. im Holmium(II,III)chlorid Ho5Cl11, allerdings existiert das reine Holmium(II)chlorid nicht. Verwendung Wegen seiner hervorragenden magnetischen Eigenschaften verwendet man Polschuhe aus Holmium für Hochleistungsmagnete zur Erzeugung stärkster Magnetfelder. Weitere Anwendungen: Magnetblasenspeicher unter Verwendung von Dünnschichtlegierungen aus Holmium-Eisen, Holmium-Nickel und Holmium-Cobalt. Steuerstäbe in Brutreaktoren. Dotierung von Yttrium-Eisen-Granat (YIG), Yttrium-Aluminium-Granat (YAG) und Yttrium-Lithium-Fluorid (YLF) für Festkörperlaser (Holmium-Laser mit einer Emissionswellenlänge von 2,1 µm) und Mikrowellenbauteile in der Medizintechnik. Holmiumoxid zur Erzeugung von gelbem Glas u. a. wegen seiner scharfen Absorptionsbanden für Kalibrierfunktionen für Photometer. Physiologie Holmium hat keine bekannte biologische Funktion. Sicherheitshinweise Holmium und Holmiumverbindungen sind als wenig toxisch zu betrachten. Metallstäube sind feuer- und explosionsgefährlich. Verbindungen Holmium(III)-oxid Ho2O3 Holmium(III)-fluorid HoF3 Holmium(III)-chlorid HoCl3 Holmium(III)-bromid HoBr3 Holmium(III)-iodid HoI3 Holmium(III)-sulfat Ho2(SO4)3 · 8 H2O: bei Tageslicht gelbe, bei Kunstlicht (Leuchtstofflampe) rosafarbene Kristalle. Holmium(III)-perchlorat Ho(ClO4)3: Als Standard-Lösung zum Kalibrieren vom Spektrometern Weblinks Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hafnium
Hafnium
Hafnium (veraltet: Celtium) ist ein chemisches Element mit dem Symbol Hf und der Ordnungszahl 72. Benannt ist es nach dem lateinischen Namen der Stadt Kopenhagen, Hafnia, in der das Element entdeckt wurde. Es ist ein silbergrau glänzendes, korrosionsbeständiges Übergangsmetall, das im Periodensystem in der 4. Nebengruppe (Titangruppe) steht. Hafnium besitzt sehr ähnliche Eigenschaften wie das im Periodensystem direkt darüber gelegene Zirconium. Biologische Funktionen sind nicht bekannt, es kommt normalerweise nicht im menschlichen Organismus vor und ist nicht toxisch. Geschichte Hafnium war eines der letzten stabilen Elemente des Periodensystems, die entdeckt wurden. Der erste Hinweis auf die Existenz eines weiteren Elements zwischen Lutetium und Tantal ergab sich aus dem 1912 gefundenen Moseleyschen Gesetz. Henry Moseley versuchte 1914 erfolglos, das unbekannte, aber nach diesem Gesetz zu erwartende Element mit der Ordnungszahl 72 in Proben von Mineralen der seltenen Erden (heute Lanthanoiden) zu finden. Niels Bohr sagte in seiner 1922 veröffentlichten Arbeit zur Atomtheorie voraus, dass die Lanthanoiden-Reihe mit Lutetium zu Ende sei und dass damit das Element 72 Ähnlichkeit mit Zirconium haben müsse. Allerdings hatte er darin in Charles Bury, wie er selbst angab, einen Vorläufer, der außerdem, wie Eric Scerri fand, im Gegensatz zu Bohr ausschließlich aus der Atomtheorie argumentierte. Schon ein Jahr später konnte Hafnium nachgewiesen werden: 1923 wurde es in Kopenhagen von Dirk Coster und George de Hevesy durch Röntgenspektroskopie in norwegischem Zirkon entdeckt. Weitere Untersuchungen anderer Mineralien zeigten, dass Hafnium immer in zirconiumhaltigen Mineralien enthalten ist. Die Trennung vom Zirconium gelang Jantzen und Hevesy durch wiederholte Kristallisation der Diammonium- und Dikaliumfluoride der beiden Elemente. Elementares Hafnium konnte danach durch Reduktion mit Natrium gewonnen werden. Vorkommen Hafnium ist mit einem Gehalt von 4,9 ppm an der kontinentalen Erdkruste ein auf der Erde nicht sehr häufiges Element. In der Häufigkeit ist es damit vergleichbar mit den Elementen Brom und Caesium und häufiger als das schon lange bekannte Gold und Quecksilber. Hafnium kommt nicht gediegen vor und bisher ist nur ein Mineral mit dem Hauptbestandteil Hafnium bekannt, das 1974 entdeckt und nach diesem als Hafnon benannt wurde. In Zirconium-Mineralen wie unter anderem Zirkon und Allendeit ist jedoch oft Hafnium als Fremdbeimengung enthalten, wobei die Menge an Hafnium meist 2 % des Zirconiumgehaltes (1–5 Gewichtsprozent Hafnium) beträgt. Eines der wenigen Minerale, die mehr Hafnium als Zirconium enthalten, ist die Zirkon-Varietät Alvit [(Hf,Th,Zr)SiO4]. Analog zu Zirconium sind die wichtigsten Lagerstätten an Hafnium die Zirkon-Lagerstätten in Australien und Südafrika. Die Reserven werden auf 1,1 Millionen Tonnen (gerechnet als Hafniumoxid) geschätzt. Hafnium befindet sich auf der Liste kritischer Rohstoffe der EU, wobei die in der EU verwendeten Hafnium-Mengen zum Großteil (84%) aus dem EU-Staat Frankreich kommen. Gewinnung und Darstellung Um Hafnium zu gewinnen, muss es von Zirconium abgetrennt werden. Das ist nicht während des Herstellungsprozesses möglich, sondern erfolgt in einem getrennten Verfahren. Für die Trennung werden Extraktionsverfahren angewendet. Dabei wird die unterschiedliche Löslichkeit bestimmter Zirconium- und Hafniumsalze in speziellen Lösungsmitteln genutzt. Beispiele hierfür sind die verschiedenen Löslichkeiten der Nitrate in Tri-n-butylphosphat und die der Thiocyanate in Methylisobutylketon. Andere mögliche Trennungsmöglichkeiten sind Ionenaustauscher und die fraktionierte Destillation von geeigneten Verbindungen. Das abgetrennte Hafnium kann anschließend nach dem Kroll-Prozess zunächst in Hafnium(IV)-chlorid überführt werden und anschließend mit Natrium oder Magnesium zu elementarem Hafnium reduziert werden. Wird noch reineres Hafnium benötigt, kann das Van-Arkel-de-Boer-Verfahren angewandt werden. Dabei reagiert während des Erhitzens unter Vakuum zunächst das Hafnium mit Iod zu Hafnium(IV)-iodid. Das wird an einem heißen Draht wieder zu Hafnium und Iod zersetzt. Hafnium wird nur in geringen Mengen in einer Größenordnung von 100 Tonnen produziert. Es wird nicht eigens hergestellt, sondern fällt als Nebenprodukt bei der Gewinnung von Hafnium-freiem Zirconium für die Hüllen von Kernbrennstäben an. Der USGS gibt als US-Importpreise für Hafnium 453 USD je kg im Jahre 2010 und 578 USD je kg für 2013 an. Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Hafnium ist ein silbrig-glänzendes Schwermetall von hoher Dichte (13,31 g/cm3). Es kristallisiert temperaturabhängig in zwei verschiedenen Modifikationen. Bei Normalbedingungen kristallisiert es in einer hexagonal-dichtesten Kugelpackung (α-Hf) und ist damit isotyp zu α-Zr, oberhalb von 1775 °C geht es in eine kubisch-raumzentrierte Struktur über (β-Hf). Liegt Hafnium in einer hohen Reinheit vor, ist es relativ weich und biegsam. Es ist leicht durch Walzen, Schmieden und Hämmern zu bearbeiten. Sind dagegen Spuren von Sauerstoff, Stickstoff oder Kohlenstoff im Material vorhanden, wird es spröde und schwer zu verarbeiten. Der Schmelz- und der Siedepunkt des Hafniums sind mit 2233 °C beziehungsweise 4603 °C die höchsten in der Gruppe (Schmelzpunkt: Titan: 1667 °C, Zirconium: 1857 °C). In fast allen weiteren Eigenschaften ähnelt das Metall seinem leichteren Homologen Zirconium. Dies wird durch die Lanthanoidenkontraktion verursacht, die ähnliche Atom- und Ionenradien bedingt (Atomradien Zr: 159 pm, Hf: 156 pm). Eine Ausnahme ist die Dichte, bei der Zirconium mit 6,5 g/cm3 einen deutlich kleineren Wert besitzt. Ein technisch wichtiger Unterschied besteht darin, dass Hafnium 600-mal besser Neutronen absorbieren kann. Dies ist der Grund dafür, dass für den Einsatz von Zirconium in Kernkraftwerken das Hafnium abgetrennt werden muss. Hafnium ist unterhalb der Sprungtemperatur von 0,08 K supraleitend. Chemische Eigenschaften Hafnium ist ein unedles Metall, das beim Erhitzen mit Sauerstoff zu Hafniumdioxid reagiert. Auch andere Nichtmetalle, wie Stickstoff, Kohlenstoff, Bor und Silicium bilden unter diesen Bedingungen Verbindungen. Bei Raumtemperatur bildet sich schnell eine dichte Oxidschicht, die das Metall passiviert und so vor weiterer Oxidation schützt. In den meisten Säuren ist Hafnium wegen der Passivierung unter Normalbedingungen beständig. In Flusssäure korrodiert es schnell, in heißer konzentrierter Schwefel- und Phosphorsäure tritt merkliche Korrosion ein. Salzsäure-Salpetersäure-Gemischen, hierzu zählt auch Königswasser, sollte Hafnium auch bei Raumtemperatur nur kurzfristig ausgesetzt werden, bei 35 °C muss mit Abtragsraten von mehr als 3 mm/Jahr gerechnet werden. In wässrigen Basen ist es bis zu einer Temperatur von ca. 100 °C beständig, der Materialabtrag beträgt in der Regel weniger als 0,1 mm/Jahr. Isotope Von Hafnium sind insgesamt 35 Isotope und 18 Kernisomere von 153Hf bis 188Hf bekannt. Natürliches Hafnium ist ein Mischelement, das aus insgesamt sechs verschiedenen Isotopen besteht. Das häufigste Isotop ist mit einer Häufigkeit von 35,08 % 180Hf. Es folgen 178Hf mit 27,28 %, 177Hf mit 18,61 %, 179Hf mit 13,62 %, 176Hf mit 5,27 % und 174Hf mit 0,16 %. 174Hf ist schwach radioaktiv, ein Alphastrahler mit einer Halbwertszeit von 2·1015 Jahren. Der Betastrahler 182Hf zerfällt mit einer Halbwertszeit von 9 Mio. Jahren in das stabile Wolfram-Isotop 182W. Diese Erkenntnis wurde genutzt, um die Bildung des Mondes und des Erdkerns auf einen Zeitraum innerhalb der ersten 50 Mio. Jahre einzuschränken. Die Isotope 177Hf und 179Hf können mit Hilfe der NMR-Spektroskopie nachgewiesen werden. Das Kernisomer 178m2Hf ist mit einer Halbwertszeit von 31 Jahren langlebig und sendet zugleich beim Zerfall eine starke Gammastrahlung von 2,45 MeV aus. Dies ist die höchste Energie, die ein über längere Zeit stabiles Isotop aussendet. Eine mögliche Anwendung besteht darin, dieses Kernisomer als Quelle in starken Lasern zu verwenden. 1999 entdeckte Carl Collins, dass das Isomer bei Bestrahlung mit Röntgenstrahlung seine Energie auf einen Schlag abgeben kann. Allerdings sind mögliche Anwendungen, etwa als Sprengstoff, unwahrscheinlich. Verwendung Auf Grund seiner schwierigen Gewinnung wird Hafnium nur in geringen Mengen verwendet. Das Haupteinsatzgebiet ist die Kerntechnik, in der Hafnium als Steuerstab zur Regulierung der Kettenreaktion in Kernreaktoren eingesetzt wird. Die Verwendung von Hafnium hat gegenüber anderen möglichen neutronenabsorbierenden Substanzen einige Vorteile. So ist das Element sehr korrosionsbeständig und bei der Kernreaktion mit den Neutronen entstehen Hafniumisotope, die ebenfalls hohe Absorptionsquerschnitte besitzen. Auf Grund des hohen Preises kommt es häufig nur für militärische Anwendungen in Frage, beispielsweise für Reaktoren in Atom-U-Booten. Es existieren noch einige weitere Verwendungsmöglichkeiten. So reagiert Hafnium schnell mit geringen Mengen Sauerstoff und Stickstoff und kann darum als Gettersubstanz eingesetzt werden, um kleinste Mengen dieser Stoffe aus Ultrahochvakuum-Anlagen zu entfernen. Beim Verbrennen sendet das Metall ein sehr helles Licht aus. Deshalb ist es möglich, Hafnium in Blitzlichtlampen mit einer besonders hohen Lichtausbeute einzusetzen. Darüber hinaus kann es zur Herstellung sehr stabiler und hochschmelzender Verbindungen verwendet werden, insbesondere Hafniumnitrid und Hafniumcarbid. In Legierungen mit Metallen wie Niob, Tantal, Molybdän und Wolfram wirkt ein Zusatz von 2 % Hafnium festigkeitssteigernd. Es entstehen besonders stabile, hochschmelzende und hitzebeständige Werkstoffe. Aus Hafnium wurde eine einzige Gedenkmünze geprägt: 2002 eine 5 Kronen-Münze der Turks- und Caicosinseln. Sicherheitshinweise Wie viele andere Metalle ist Hafnium in feinverteiltem Zustand leichtentzündlich und pyrophor. In kompaktem Zustand ist es dagegen nicht brennbar. Das Metall ist nicht toxisch. Aus diesen Gründen sind für den Umgang mit Hafnium keine besonderen Sicherheitsvorschriften zu beachten. Verbindungen Hafnium bildet eine Reihe von Verbindungen. Diese sind meist Salze oder Mischkristalle und besitzen häufig hohe Schmelzpunkte. Die wichtigste Oxidationsstufe des Hafnium ist +IV, es sind aber auch Verbindungen in geringeren Oxidationsstufen, von 0 bis +III, in Komplexen auch negative Oxidationsstufen bekannt. Hafnium(IV)-oxid Hafnium(IV)-oxid ist ein sehr stabiler und hochschmelzender Feststoff. Es besitzt eine hohe relative Permittivität von 25 (zum Vergleich: Siliciumdioxid: 3,9). Darum ist ein Einsatz als High-k-Dielektrikum als Isolation des Steueranschlusses (Gate) für Feldeffekttransistoren möglich. Durch weitere Verkleinerung der Strukturbreiten in integrierten Schaltkreisen werden die Leckströme zu einem immer größeren Problem, denn die Miniaturisierung der Strukturen erfordert auch dünnere Gate-Isolationen. Unter 2 nm Dicke steigt der unerwünschte Leckstrom durch den Tunneleffekt stark an. Durch den Einsatz eines High-k-Dielektrikums kann zur Leckstromverringerung die Dicke des Dielektrikums wieder vergrößert werden, ohne dass es zu Leistungseinbußen (Verringerung der Schaltgeschwindigkeit) kommt. Dickere Dielektrika ermöglichen also eine weitere Miniaturisierung von vor allem Mikroprozessoren. Weitere Hafniumverbindungen Hafniumcarbid zählt zu den Substanzen mit den höchsten Schmelzpunkten überhaupt. Zusammen mit Hafniumnitrid und Hafniumdiborid (HfB2) gehört es zu den Hartstoffen. Hafniumdiborid wird aufgrund seiner guten Temperaturwechselbeständigkeit oft als Heizwiderstandsmaterial in thermoelektrischen Druckköpfen von Tintendruckern verwendet. Es sind einige Halogenverbindungen des Hafniums bekannt. In der Oxidationsstufe +IV existieren sowohl das Hafnium(IV)-fluorid (HfF4) als auch Hafnium(IV)-chlorid (HfCl4), Hafnium(IV)-bromid (HfBr4) und Hafnium(IV)-iodid (HfI4). Hafnium(IV)-chlorid und Hafnium(IV)-iodid spielen bei der Gewinnung des Hafniums eine Rolle. In den niederen Oxidationsstufen sind nur Chlor- und Bromverbindungen, sowie Hafnium(III)-iodid bekannt. Das Kaliumhexafluoridohafnat(IV) K2[HfF6] wie auch das Ammoniumhexafluoridohafnat(IV) (NH4)2[HfF6] können zur Abtrennung des Hafniums von Zirconium eingesetzt werden, da beide Salze leichter löslicher sind als die entsprechenden Zirconiumkomplexe. Literatur N. N. Greenwood, A. Earnshaw: Chemie der Elemente. 1. Auflage. VCH Verlagsgesellschaft, 1988, ISBN 3-527-26169-9. Harry H. Binder: Lexikon der chemischen Elemente – das Periodensystem in Fakten, Zahlen und Daten. Hirzel, Stuttgart 1999, ISBN 3-7776-0736-3. Eric Scerri: A tale of seven elements, Oxford University Press, Oxford, 2013 Weblinks Abbildung von kristallinem Hafnium nach Van-Arkel-de-Boer-Verfahren sowie elektronenstrahlgeschmolzenes und verarbeitetes in der Elementansammlung von Heinrich Pniok Einzelnachweise Hexagonales Kristallsystem
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https://de.wikipedia.org/wiki/Helium
Helium
Helium (von ) ist ein chemisches Element und hat die Ordnungszahl 2. Sein Elementsymbol ist He. Im Periodensystem steht es in der 18. IUPAC-Gruppe, der früheren VIII. Hauptgruppe, und zählt damit zu den Edelgasen. Es ist ein farbloses, geruchloses, geschmacksneutrales und ungiftiges Gas. Helium bleibt bis zu sehr tiefen Temperaturen gasförmig, erst nahe dem absoluten Nullpunkt wird es flüssig. Es ist die einzige Substanz, die selbst am absoluten Nullpunkt (0 K bzw. −273,15 °C) unter Normaldruck nicht fest wird. Neben Neon ist Helium das einzige Element, für welches selbst unter Extrembedingungen bis jetzt keine Verbindungen nachgewiesen werden konnten, die nicht sofort nach der Bildung zerfallen sind. Helium kommt nur atomar vor. Das häufigste stabile Isotop ist 4He; ein weiteres stabiles Isotop ist das auf der Erde extrem seltene 3He. Das Verhalten der beiden flüssigen Phasen Helium I und Helium II (rsp. Helium-I und Helium-II) (insbesondere das Phänomen der Suprafluidität) von 4He ist Gegenstand aktueller Forschungen auf dem Gebiet der Quantenmechanik. Flüssiges Helium ist ein unverzichtbares Hilfsmittel zur Erzielung tiefster Temperaturen. Diese sind unter anderem zur Kühlung von Infrarotdetektoren von Weltraumteleskopen und zur Untersuchung von Eigenschaften wie der Supraleitung von Materie bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt erforderlich. Helium ist nach Wasserstoff das zweithäufigste Element im Universum und macht etwa ein Viertel der Gesamtmasse der Materie im Universum aus. Nach anerkannter Theorie vereinigten sich rund zehn Sekunden nach dem Urknall Protonen und Neutronen durch Kernfusion zu ersten Atomkernen. Etwa 25 % von deren gesamter Masse sind 4He, 0,001 % Deuterium sowie Spuren von 3He. Somit ist der größte Teil des Heliums schon beim Urknall entstanden. Das später im Inneren von Sternen durch Fusion von Wasserstoff entstandene Helium fusionierte zum größten Teil weiter zu schwereren Elementen. Auf der Erde wird 4He in Form von Alphateilchen bei dem Alphazerfall verschiedener radioaktiver Elemente wie Uran oder Radium gebildet. Helium entsteht daraus, wenn das Alphateilchen anderen Atomen zwei Elektronen entreißt. Der Großteil des auf der Erde vorhandenen Heliums ist daher nichtstellaren Ursprungs. Das so entstandene Helium sammelt sich in natürlichen Erdgasvorkommen in Konzentrationen bis zu 16 Volumenprozent. Daher kann Helium durch fraktionierte Destillation aus Erdgas gewonnen werden. Erste Hinweise auf Helium entdeckte 1868 der französische Astronom Jules Janssen bei Untersuchungen des Lichtspektrums der Chromosphäre der Sonne, wobei er die bis dahin unbekannte gelbe Spektrallinie von Helium fand. Helium findet Anwendungen in der Tieftemperaturtechnik, besonders als Kühlmittel für supraleitende Magneten, in Tiefsee-Atemgeräten, bei der Altersbestimmung von Gesteinen, als Füllgas für Luftballons, als Traggas für Luftschiffe und als Schutzgas für verschiedene industrielle Anwendungen (zum Beispiel beim Metallschutzgasschweißen, als Trägergas bei der Kapillargaschromatographie und bei der Herstellung von Silizium-Wafern). Nach dem Einatmen von Helium verändert sich aufgrund der im Vergleich zu Luft höheren Schallgeschwindigkeit kurzzeitig die Stimme („Micky-Maus-Stimme“). Geschichte Hinweise auf das Element Helium erhielt man zum ersten Mal aufgrund einer hellen gelben Spektrallinie bei einer Wellenlänge von 587,49 Nanometern im Spektrum der Chromosphäre der Sonne. Diese Beobachtung machte der französische Astronom Jules Janssen in Indien während der totalen Sonnenfinsternis vom 18. August 1868. Als er seine Entdeckung bekannt machte, glaubte ihm zunächst niemand, da bislang noch nie ein neues Element im Weltall gefunden worden war, bevor der Nachweis auf der Erde geführt werden konnte. Am 20. Oktober desselben Jahres bestätigte der Engländer Norman Lockyer, dass die gelbe Linie tatsächlich im Sonnenspektrum vorhanden ist, und schloss daraus, dass sie von einem bislang unbekannten Element verursacht wird. Da diese Spektrallinie sehr nahe (1,8 nm von der Mitte) der Fraunhofer-Doppel-D-Linie (D2 = 589,00 nm, D1 = 589,60 nm) des Metalls Natrium lag, nannte er die Linie D3, um sie von diesen Linien D1 und D2 des Natriums zu unterscheiden. Er und sein englischer Kollege Edward Frankland schlugen vor, das neue Element Helium (von griechisch helios, Sonne) zu nennen. 14 Jahre später, im Jahre 1882, gelang es Luigi Palmieri durch die Spektralanalyse von Vesuv-Lava erstmals, das Element Helium auch auf der Erde nachzuweisen. Am 23. März 1895 gewann der britische Chemiker William Ramsay Helium, indem er das Uran-Mineral Cleveit, eine Varietät des Uraninits, mit Mineralsäuren versetzte und das dabei austretende Gas isolierte. Er war auf der Suche nach Argon, konnte jedoch die gelbe D3-Linie beobachten, nachdem er Stickstoff und Sauerstoff von dem isolierten Gas getrennt hatte. Dieselbe Entdeckung machten fast gleichzeitig der britische Physiker William Crookes und die schwedischen Chemiker Per Teodor Cleve und Nicolas Langlet in Uppsala in Schweden. Diese sammelten ausreichende Mengen des Gases, um dessen Atommasse feststellen zu können. Im Jahr 1903 gelang Ramsay erstmals die „Umwandlung“ von Radium in Helium. Während einer Ölbohrung in Dexter in Kansas wurde eine Erdgasquelle gefunden, deren Erdgas 12 Volumenprozent eines unbekannten Gases enthielt. Die amerikanischen Chemiker Hamilton Cady und David McFarland der Universität von Kansas fanden 1905 heraus, dass es sich dabei um Helium handelte. Sie publizierten eine Meldung, dass Helium aus Erdgas gewonnen werden kann. Im selben Jahr stellten Ernest Rutherford und Thomas Royds fest, dass Alphateilchen Heliumkerne sind. Die erste Verflüssigung von Helium wurde 1908 vom niederländischen Physiker Heike Kamerlingh Onnes durchgeführt, indem er das Gas auf eine Temperatur von unter 1 K kühlte. Festes Helium konnte er auch bei weiterem Abkühlen nicht erhalten, dies gelang erst 1926 Willem Hendrik Keesom, einem Schüler Kamerlingh Onnes’, durch Komprimieren des Heliums auf 25 bar bei analoger Temperatur. Kamerlingh Onnes beschrieb zuerst das Phänomen suprafluider Flüssigkeiten, das als Onnes-Effekt bekannt ist. Im frühen 20. Jahrhundert wurden große Mengen Helium in Erdgasfeldern der amerikanischen Great Plains gefunden, und damit wurden die Vereinigten Staaten zum führenden Weltlieferanten für Helium. Nach einem Vorschlag von Sir Richard Threlfall förderte die US-Marine drei kleine experimentelle Heliumproduktionsbetriebe während des Ersten Weltkrieges, um Helium als Füllgas für Sperrballone zu gewinnen. Eine Gesamtmenge von 5.700 Kubikmeter Gas mit einem Heliumanteil von 92 % wurde von diesen Betrieben gewonnen. Dieses Helium wurde 1921 im ersten heliumgefüllten Luftschiff benutzt, dem C-7 der US-Navy. Die Regierung der USA ließ 1925 die National Helium Reserve in Amarillo in Texas errichten, um eine Versorgung von militärischen Luftschiffen in Kriegszeiten und Verkehrsluftschiffen in Friedenszeiten zu sichern. Das Lager befindet sich in einer natürlichen Gesteinsformation 20 km nordwestlich von Amarillo. Obwohl die Nachfrage nach dem Zweiten Weltkrieg sank, wurde die Förderungsanlage in Amarillo erweitert, damit flüssiges Helium als Kühlmittel für Sauerstoff-Wasserstoff-Raketentreibstoff und andere zu kühlende Gegenstände bereitgestellt werden konnte. Der Heliumverbrauch der USA stieg im Jahr 1965 auf das Achtfache des Spitzenverbrauchs in Kriegszeiten. Nachdem in den USA das Helium Acts Amendments of 1960 (Public Law 86-777) beschlossen worden war, wurden weitere fünf private Heliumförderanlagen errichtet. Das US-Minenministerium ließ dafür eine 685 Kilometer lange Pipeline von Bushton in Kansas nach Amarillo in Texas bauen; dieses Lager enthielt 1995 rund eine Milliarde Kubikmeter Helium und 2004 etwa das Zehnfache des Weltjahresbedarfs an Helium. Bis 2015 soll das Lager leer sein und aufgelöst werden (Helium Privatization Act). Die Reinheit des gewonnenen Heliums stieg nach dem Zweiten Weltkrieg rasant an. Wurde 1945 noch eine Mischung von 98 % Helium und 2 % Stickstoff für Luftschiffe benutzt, konnte 1949 bereits Helium mit einer Reinheit von 99,995 % kommerziell vertrieben werden. Um diesen Reinheitsgrad zu erreichen, ist Aktivkohle nötig, um verbliebene Verunreinigungen – meistens bestehend aus Neon – mittels Druckwechsel-Adsorption zu entfernen. Vorkommen Weltall Nach der Urknalltheorie entstand der größte Teil des im Weltraum vorhandenen Heliums in den ersten drei Minuten nach dem Urknall. Helium ist nach Wasserstoff das zweithäufigste Element. 23 % der Masse der gewöhnlichen (baryonischen) Materie bestehen aus Helium, obwohl Wasserstoffatome achtmal so häufig sind. Außerdem wird Helium durch Kernfusion in Sternen produziert. Dieses sogenannte Wasserstoffbrennen liefert die Energie, die die Sterne auf der Hauptreihe, also die Mehrheit aller Sterne, zum Leuchten bringt. Dieser Prozess liefert den Sternen die Energie für den größten Teil ihres Lebens. Wenn der größte Teil des Wasserstoffes am Ende des Lebens eines Sterns im Kern aufgebraucht ist, zieht sich der Kern zusammen und erhöht seine Temperatur. Außer bei Sternen geringer Masse (roten Zwergen) kann dadurch nun Helium zu Kohlenstoff verbrannt werden (Heliumflash, Heliumbrennen). In massereichen Sternen kann Kohlenstoff weiter zu schwereren Elementen verbrannt werden. Dieser Prozess kann sich bis zum Eisen fortgesetzen. Bei einer Supernovaexplosion werden die erzeugten Elemente (einschließlich schwererer Elemente als Eisen, die durch die Explosion entstehen) im Weltraum verteilt. Im Verlauf der Zeit reichert sich die interstellare Materie dadurch mit Helium und schwereren Elementen an, sodass später daraus entstandene Sternpopulationen einen größeren Anteil an Helium und schwereren Elementen haben. Auf Sternoberflächen und in Nebeln kommt Helium vorwiegend neutral („He I“ in der Nomenklatur der Astronomie) oder einfach ionisiert („He II“) vor. Helium ist in Planeten-Atmosphären in unterschiedlichen Anteilen vorhanden. Nachfolgend beispielhaft der bodennahe bzw. bei den Gasplaneten äußere Stoffmengenanteil: Meteoriten, Asteroiden und Mond Helium kann in Meteoriten und oberflächlichem Mondgestein auch durch Wechselwirkung (Spallation) mit Kosmischer Strahlung erzeugt werden. Besonders 3He kann deswegen benutzt werden, um das sogenannte Bestrahlungsalter, welches meist dem Zeitraum vom Losschlagen des Meteoriten vom Mutterkörper bis zu seiner Ankunft auf der Erde entspricht, zu bestimmen. Daneben entsteht 4He in Meteoriten durch Zerfall schwerer radioaktiver Elemente. Es gibt in Meteoriten weitere Heliumanteile, welche aus der Zeit der Entstehung des Sonnensystems stammen. Der Hauptanteil des im Regolith des Mondes gebundenen Heliums stammt aus dem Sonnenwind, wenn er ungehindert durch eine Atmosphäre oder ein Magnetfeld auf die Oberfläche trifft. Etwa 4 % des Sonnenwindes sind Heliumionen, davon etwa 0,48 ‰ Helium-3. Die Heliumionen des Sonnenwindes haben eine Energie von etwa 3 keV, dringen in Feststoffe ein und verbleiben dort (siehe Ionenimplantation). Helium ist wegen der geringen Ionen-Eindringtiefe (Sub-Mikrometerbereich) besonders im Feinanteil des Regolith an der Oberfläche und wegen der Durchmischung bis zu Tiefen von einigen Metern zu finden. Es ist besonders in Titanoxid-reichen, leitfähigen Mineralien (Ilmenit) verblieben. Es kommt hier in Konzentrationen bis zu 70 Masse-ppm vor. Etwa 100 ppm des im Mondgestein gebundenen Heliums ist das Isotop Helium-3, welches auf der Erde äußerst selten ist und dessen Verwendung in Fusionsreaktoren diskutiert wird. Erde 4He entsteht im Erdkörper beim radioaktiven Zerfall (Alphazerfall) schwerer Elemente wie Uran oder Thorium, wobei Helium-Kerne als Alphateilchen ausgesandt werden und anschließend Elektronen einfangen. Es kann in verschiedenen uran- und thoriumhaltigen Mineralen wie der Pechblende gefunden werden. Aus der Entstehungszeit der Erde stammt ein Anteil von 3He im Erdmantel, der weit über dem atmosphärischen Wert liegt, das sogenannte Mantelhelium; das 4He/3He-Verhältnis liegt im oberen Erdmantel, der weitgehend entgast ist und dessen Heliumbestand daher im Wesentlichen durch 4He aus Alpha-Zerfällen wiederaufgefüllt wird, bei etwa 86.000. Wenn das Konvektionssystem des unteren Erdmantels weitgehend von dem des oberen getrennt und der Massenaustausch zwischen beiden entsprechend gering ist, liegt das Verhältnis im unteren, kaum entgasten Mantel zwischen 2500 und 26.000, das heißt, der Anteil von 3He ist höher. Von besonderem geodynamischem Interesse ist dies im Hinblick auf die Ursachen von Hotspot-Vulkanismus: während für Basalte von mittelozeanischen Rücken, die durch Schmelzprozesse von Material des oberen Mantels entstehen, 4He/3He = 86.000 typisch ist, sind Basalte von einigen Hotspots, zum Beispiel ozeanischen Vulkaninseln wie Hawaii und Island, rund drei- bis viermal 3He-reicher. Dies wird gemeinhin damit erklärt, dass dieser Vulkanismus durch Mantelplumes verursacht wird, deren Ursprung an der Kern-Mantel-Grenze liegt und die daher zumindest teilweise aus Material des unteren Erdmantels bestehen. Helium-3 ist das Zerfallsprodukt von Tritium. Wasser in oberflächennahen Gewässern enthält aufgrund von Interaktion mit kosmischer Strahlung eine gewisse Menge Tritium, von welchem wiederum eine gewisse Menge zu Helium-3 zerfällt und ausgast. Der größte Teil dieses Helium-3 geht jedoch letztlich in die Atmosphäre über und verliert sich anschließend im Weltall (siehe unten). Helium kommt – durch den gleichen Mechanismus der Ansammlung – in Erdgas (mit bis zu 16 Volumenprozent Anteil) und in geringen Mengen im Erdöl (0,4 %) vor. Europäische Erdgasvorkommen enthalten dabei lediglich Anteile um 0,12 (Nordsee) bis 0,4 Volumenprozent (Polen), während in sibirischen, nordamerikanischen (Kanada, Texas, Kansas und Oklahoma) und algerischen Erdgasvorkommen bis zu 16 Volumenprozent möglich sind. In unteren Schichten der Erdatmosphäre, besonders der vom Wetter durchmischten Troposphäre beträgt der Heliumgehalt etwa 5,2 ppm. In sehr großer Höhe entmischen sich Gase tendenziell entsprechend ihrer unterschiedlichen Dichte auch entgegen der durchmischenden Wirkung der ungerichteten molekularen Wärmebewegung. Oberhalb 100 km Höhe (Homosphäre) liegt die Atmosphäre zunehmend entmischt vor, Helium wird so in Höhen >400 km, (teilchenanzahlmäßig) das vorherrschende Gas. Dabei entweichen Heliumatome in diesen Höhen in den Weltraum – im stationären Fall so viel, wie aus der Erdoberfläche durch Diffusion, Förderung und Vulkanismus nachgeliefert wird. Menschen greifen in den Heliumhaushalt der Erde insofern ein, dass einerseits Vorkommen, welche ohne menschliches Zutun unterhalb gasdichter Schichten „gefangen“ gewesen wären, menschlicher Nutzung – und dadurch oft früher oder später der Atmosphäre – zugeführt werden, andererseits wird in Kernreaktoren in vielfältiger Weise Helium „produziert“. Zum einen sind alle Actinoide entweder Alphastrahler oder betazerfallen zu Alphastrahlern. Hierbei sind die von Menschen produzierten Nuklide üblicherweise um Größenordnungen kurzlebiger als die primordialen Ausgangsnuklide Uran-235, Uran-238 und Thorium-232. Zum anderen entsteht durch vielfältige Vorgänge in diversen Reaktortypen Tritium, welches zu Helium-3 zerfällt. Obwohl Menschen seit Jahrzehnten Kernfusion in Form von Wasserstoffbomben und dem Fusor betreiben, ist der Effekt dieser menschlichen Aktivitäten auf die Menge irdischen Heliums vernachlässigbar, da hierbei bisher jeweils nur relativ geringe Mengen umgesetzt wurden. Sollte Menschen kontrollierte Kernfusion unter Energiegewinnung gelingen, könnte der Effekt auf Heliumvorkommen unter Umständen relevant sein, insbesondere wenn das besonders seltene Helium-3 als „Brennstoff“ verbraucht würde. Gewinnung Erdgas mit einem Heliumanteil ab 0,2 % ist der größte und wirtschaftlich wichtigste Heliumlieferant. Da Helium eine sehr niedrige Siedetemperatur besitzt, ist es durch Herunterkühlen des Erdgases möglich, das Helium von den anderen im Erdgas enthaltenen Stoffen, wie Kohlenwasserstoffen (vorwiegend Methan) und Stickstoffverbindungen, zu trennen. Bei der Herstellung von LNG zum internationalen Handel per Schiff erfolgt dieser Vorgang zwangsläufig, wodurch sich unter Umständen auch die Nutzung geringerer Helium-Konzentrationen lohnen kann. Viele Jahre lang gewannen die USA über 90 % des kommerziell nutzbaren Heliums der Welt. Noch 1995 wurden in den USA insgesamt eine Milliarde Kubikmeter Helium gefördert. Der restliche Anteil wurde von Förderungsanlagen in Kanada, Polen, Russland (wobei große Mengen in den unzugänglichen Gebieten Sibiriens liegen) und anderen Ländern geliefert. Nach der Jahrtausendwende kamen Algerien und Katar dazu. Algerien konnte sich rasch zum zweitwichtigsten Heliumlieferanten entwickeln. 2002 stellte Algerien 16 % des in der Welt vertriebenen Heliums her. Das Helium wird dort bei der Erdgasverflüssigung gewonnen. Bei Amarillo in Texas lagerte 2004 etwa das Zehnfache des Weltjahresbedarfs an Helium im sogenannten Cliffside Field. Diese ehemals strategische Reserve der US-amerikanischen Regierung muss jedoch aufgrund des Helium Privatization Act der Clinton-Regierung aus dem Jahr 1996 bis 2015 an die Privatwirtschaft verkauft werden. 2021 waren noch 85,7 Mio. m³ im Bundesspeicher vorhanden. Dadurch wurde zunächst eine Heliumschwemme mit sehr niedrigen Preisen verursacht, die für lange Zeit zu verschwenderischem Umgang führte. Weil der Verbrauch jedoch ständig steigt, droht Helium knapp zu werden, und Anlagen zur Wiedergewinnung des Heliums wurden bei Großverbrauchern zunehmend in Betrieb genommen. Experten warnen sogar vor einem Heliummangel, da Helium nur aus einigen Erdgasvorkommen gewonnen werden kann. Im Jahr 2016 wurde jedoch ein gewaltiges Helium-Vorkommen in Tansania entdeckt, so dass die Heliumkrise vorerst als abgewendet gilt. Da ebenfalls die geologischen Bedingungen ermittelt werden konnten, unter denen sich Helium bildet, erhofft man sich weitere Funde in der Zukunft. Im September 2019 wurde wieder auf eine drohende weltweite Heliumkrise hingewiesen. Die US-amerikanische USGS kam bei ihrer im Herbst 2021 veröffentlichten Untersuchung jedoch zum Ergebnis, dass die weltweiten Heliumreserven 39,8 Milliarden m³ betragen, davon 8,5 Milliarden m³ in den USA. Am 9. November 2021 wurde darum Helium in den USA von der Liste kritischer Rohstoffe gestrichen. In Russland befindet sich ein auf 60 Mio. m³ Erzeugungskapazität ausgerichtetes Werk gerade in der Errichtung. Die erste von drei jeweils auf 20 Mio. m³ ausgelegten Produktionslinien ging im Herbst 2021 in Betrieb, die nächste sollte im Februar 2022 folgen. Die europäische Union hat Helium von der Liste der kritischen Rohstoffe gestrichen. Dennoch kommt es immer wieder zu Versorgungsengpässen („Heliumkrise“). Die weltweiten Heliummärkte gelten zudem als ausgesprochen intransparent. Anfang des Jahres 2022 hatte sich der Heliumpreis weltweit verdoppelt, da die Nachfrage das Angebot deutlich überstieg. In mehreren Forschungslaboren mussten wegen Heliummangel Experimente abgebrochen werden. Lieferanten kürzten die Liefermengen um etwa 50 Prozent. Die weltweiten Erzeugermengen verteilen sich wie folgt: Das Isotop 3He ist nur zu etwa 1,4 ppm in natürlichem Helium der Erde enthalten und daher um ein Vielfaches teurer als das natürliche Isotopengemisch. Erzeugung Prinzipiell kann Helium in Kernreaktionen gewonnen werden. Vielfach ist es dabei ein Koppelprodukt oder eigentlich gänzlich unerwünscht. Helium 4He entsteht durch Neutronenbeschuss von Lithium 6Li in einem Kernreaktor; als Nebenprodukt entsteht Tritium 3H (überschwerer Wasserstoff). Tritium ist aufgrund seines deutlich höheren Preises zumeist das Hauptziel dieser Reaktion: Tritium zerfällt zu 3He durch Betazerfall mit einer Halbwertszeit von 12,33 Jahren. Lithium-7, das bei weitem häufigere Lithium-Isotop, kann auf zwei verschiedenen Wegen zu Helium umgesetzt werden, jedoch sind in beiden Fällen die Wirkungsquerschnitte relativ gering. ^7Li + p -> 2 ^4He ^7Li + n -> 2 ^4He + e- Der Beschuss von Lithium-7 mit Protonen wurde noch vor Entdeckung der Kernspaltung in Uran als „smashing the atom“ (in etwa „Atome auseinander hauen“) bekannt. John Cockcroft und Ernest Walton erhielten für dieses Experiment aus dem Jahr 1932 den Physiknobelpreis 1951. Es werden sehr geringe Mengen von Helium 3He in mit Wasser moderierten Reaktoren erbrütet, wenn die im Wasser enthaltenen Wasserstoffatome Neutronen einfangen. Aus dem normalen Wasserstoff bildet sich dadurch Schwerer Wasserstoff (Deuterium) und daraus durch einen weiteren Neutroneneinfang Tritium, das wiederum durch Betazerfall zu Helium 3He wird. Bei normalem Wasserstoff ist die Einfangrate höher als beim darauf folgenden Schritt des Neutroneneinfanges durch schweren Wasserstoff (deshalb können Kernkraftwerke, die Schweres Wasser als Moderator verwenden, auch mit Natururan betrieben werden): Die angegebenen Zeiten sind Halbwertszeiten. In kanadischen CANDU-Reaktoren, bei denen schweres Wasser als Moderator und Primärkühlmittel Verwendung findet, ist die Produktion von Tritium derart bedeutsam, dass die aufwendige und teure Isotopentrennung lohnend ist, um Tritium bzw. dessen Zerfallsprodukt Helium-3 zu verkaufen. Ein gewisser Anteil (etwa 0,2-0,4 % im thermischen Spektrum) der Kernspaltungen sind :en:ternary fission, das heißt, es entstehen drei positiv geladene Spaltprodukte. Hierbei handelt es sich häufig (in über 90 % der Fälle) um Alphateilchen (= Helium-4 Kerne) und immer noch in gut 7 % der Fälle um Tritium. Auch in Druckwasserreaktoren wird eine gewisse Menge Helium durch das Versetzen des Kühlwassers mit Borsäure erzeugt. Die Borsäure dient der Verringerung der Reaktivität durch Neutroneneinfang. Wegen des besseren Wirkungsquerschnittes wird hierbei zumeist 10B angereichert, welches in natürlichen Bor nur gut 20 % ausmacht. Trifft ein schnelles Neutron auf 10B kann es passieren, dass dieses ein Neutron „los schlägt“ und 9B entsteht. Dieses ist höchst instabil und zerfällt unter Abgabe eines Protons zu 8Be, welches im Vergleich zu zwei Alphateilchen energetisch höchst ungünstig ist und daher entsprechend schnell zerfällt. Die Bruttoreaktionsgleichung lautet daher: ^10B + n -> 2 ^4He + p + 2n Fängt 11B ein Neutron ein, erfolgt in 99,6 % der Fälle der Betazerfall zu stabilem 12C in den verbleibenden 0,4 % der Fälle wird nach Abgabe eines Betateilchens analog zu oben über den Zwischenschritt 8Be das Ausgangsmaterial in drei Alphateilchen umgesetzt. ^11B + n -> 3 ^4He + e- Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Helium ist nach Wasserstoff das chemische Element mit der zweitgeringsten Dichte und besitzt die niedrigsten Schmelz- und Siedepunkte aller Elemente. Daher existiert es nur unter sehr tiefen Temperaturen als Flüssigkeit oder Feststoff. Bei Temperaturen unter 2,17 K liegt 4He in einer suprafluiden Phase vor. Bei Normaldruck wird Helium selbst bei einer Temperatur nahe 0 K nicht fest. Erst bei einem Druck oberhalb 2,5 MPa (rund 25-facher Atmosphärendruck) geht Helium bei hinreichend tiefen Temperaturen in eine feste Phase über. Im gasförmigen Zustand Helium ist ein farbloses, geruchloses, geschmacksneutrales und ungiftiges Gas. Unter Standardbedingungen verhält sich Helium nahezu wie ein ideales Gas. Helium ist praktisch unter allen Bedingungen atomar. Ein Kubikmeter Helium hat bei Standardbedingungen eine Masse von 179 g, Luft ist dagegen etwa siebenmal so schwer. Helium weist nach Wasserstoff die größte thermische Leitfähigkeit unter allen Gasen auf und seine spezifische Wärmekapazität ist außergewöhnlich groß. Helium ist ein guter elektrischer Isolator. Die Löslichkeit von Helium in Wasser ist mit 1,5 mg/l (9,3 ml/l) bei 20 °C und 101.325 kPa geringer als bei jedem anderen Gas. Seine Diffusionsrate durch Festkörper beträgt das Dreifache von Luft und ca. 65 Prozent von Wasserstoff. Helium hat bei Standardbedingungen einen negativen Joule-Thomson-Koeffizienten, das heißt, dieses Gas erwärmt sich bei Ausdehnung. Erst unterhalb der Joule-Thomson-Inversionstemperatur (ca. 40 K bei Atmosphärendruck) kühlt es sich bei Expansion ab. Daher muss Helium unter diese Temperatur vorgekühlt werden, ehe es durch Expansionskühlung verflüssigt werden kann. Seine kritischen Daten sind ein Druck von 2,27 bar, eine Temperatur von −267,95 °C (5,2 K) und eine Dichte von 0,0696 g/cm3. Im flüssigen Zustand Helium I Bei Normaldruck bildet Helium zwischen dem Lambdapunkt bei 2,1768 K und dem Siedepunkt bei 4,15 K eine farblose Flüssigkeit. Helium II Flüssiges 4He entwickelt unterhalb seines Lambdapunktes sehr ungewöhnliche Eigenschaften. Helium mit diesen Eigenschaften wird als Helium II bezeichnet. Helium II ist ein suprafluider Stoff. So fließt es etwa durch kleinste Öffnungen in Größenordnungen von 10−7 bis 10−8 m und hat keine messbare Viskosität. Jedoch konnte bei Messungen zwischen zwei sich bewegenden Scheiben eine Viskosität ähnlich der von gasförmigem Helium festgestellt werden. Dieses Phänomen wird mit dem Zwei-Fluid-Modell (rsp. Zwei-Flüssigkeiten-Modell) nach László Tisza erklärt. Laut dieser Theorie ist Helium II wie ein Gemisch aus 4He-Teilchen im normalfluiden sowie im suprafluiden Zustand, demnach verhält sich Helium II so, als gäbe es einen Anteil an Heliumatomen mit und einen ohne messbarer Viskosität. Anhand dieser Theorie können viele Phänomene der Tiefentemperaturphysik wie der „Thermomechanische Effekt“ relativ einfach und klar erklärt werden. Allerdings muss man deutlich darauf hinweisen, dass die zwei Flüssigkeiten weder theoretisch noch praktisch trennbar sind. In Helium II konnten die von Lew Landau postulierten Rotonen als kollektive Anregungen nachgewiesen werden. Helium II zeigt den Onnes-Effekt: Wenn eine Oberfläche aus dem Helium hinausragt, bewegt sich das Helium auf dieser Fläche gegen die Schwerkraft. Helium II entweicht auf diese Weise aus einem Behälter, der nicht versiegelt ist. Wenn es einen wärmeren Bereich erreicht, verdunstet es. Aufgrund dieses Kriechverhaltens und der Fähigkeit des Heliums II, selbst durch kleinste Öffnungen auszulaufen, ist es sehr schwierig, flüssiges Helium in einem begrenzten Raum zu halten. Es ist ein sehr sorgfältig zu konstruierender Behälter nötig, um Helium II aufzubewahren, ohne dass es entweicht oder verdunstet. Die Wärmeleitfähigkeit von Helium II lässt sich nicht mit der klassischen Wärmeleitung vergleichen, sie weist eher Parallelen zum Wärmetransport mittels Konvektion auf. Dadurch ist ein schneller und effektiver Wärmetransport über weite Distanzen möglich, was bei klassischer Wärmeleitung selbst mit sehr guten Wärmeleitern nicht möglich ist. Diese Art der Leitung wird auch als zweiter Schall bezeichnet, da er genauso wie Schall durch eine longitudinale Wellengleichung beschrieben werden kann: Helium II bei 1,8 K leitet Wärme als Impuls mit einer Geschwindigkeit von 20 m/s. 1971 gelang David M. Lee, Douglas D. Osheroff und Robert C. Richardson, das Helium-Isotop 3He ebenfalls in einen suprafluiden Zustand zu versetzen, indem sie das Isotop unter die Temperatur von 2,6 Milli-Kelvin abkühlten. Dabei geht man davon aus, dass zwei Atome 3He ein Paar bilden, ähnlich einem Cooper-Paar. Dieses Paar besitzt ein magnetisches Moment und einen Drehimpuls. Die drei Wissenschaftler erhielten für diese Entdeckung 1996 den Nobelpreis für Physik. In festem Zustand Helium kann als einziger Stoff unter Normaldruck nicht verfestigt werden. Dies gelingt nur unter erhöhtem Druck (etwa 2,5 MPa/0 K bei Helium-4, 2,93 MPa/0,315 K bei Helium-3) und bei sehr niedriger Temperatur (weniger als 1,5 K). Der beim Phasenübergang entstehende, fast vollkommen durchsichtige Feststoff ist sehr stark komprimierbar. Im Labor kann dessen Volumen um bis zu 30 % verringert werden; Helium ist mehr als 50-mal leichter komprimierbar als Wasser. Im festen Zustand bildet es kristalline Strukturen aus. Festes und flüssiges Helium sind optisch kaum voneinander zu unterscheiden, da ihre Brechungsindizes fast gleich sind. In einem anderen Fall kann bei Unterschreiten von etwa 200 mK und gleichzeitigem Zentrifugieren ein Zustand erreicht werden, der suprasolid oder auch suprafest heißt. Hierbei stoppt ein Teil des Feststoffes die eigene Rotation und durchdringt die restlichen Teile der Materie. Zu diesem teilweise umstrittenen Effekt gibt es noch keine bekannten Thesen oder Theorien. Atomare Eigenschaften Die zwei Elektronen des Heliumatoms bilden die abgeschlossene, kugelsymmetrische Elektronenschale des 1s-Atomorbitals. Diese Elektronenkonfiguration ist energetisch äußerst stabil, es gibt kein anderes Element mit einer höheren Ionisierungsenergie und einer geringeren Elektronenaffinität. Helium ist trotz seiner größeren Elektronenzahl kleiner als Wasserstoff und damit das kleinste Atom überhaupt. Abhängig von der Spinorientierung der zwei Elektronen des Heliumatoms spricht man vom Parahelium im Falle von zwei einander entgegengerichteten Spins (S = 0) und von Orthohelium bei zwei parallelen Spins (S = 1). Beim Orthohelium befindet sich eines der Elektronen nicht im 1s-Orbital, da dies das Pauli-Verbot verletzen würde. Die Benennung dieser Zustände geht auf einen früheren Irrtum zurück: Da der elektromagnetische Übergang zwischen dem Grundzustand des Orthoheliums und dem Grundzustand des Paraheliums (also dem Helium-Grundzustand) verboten ist, erscheinen die beiden „Varianten“ des Heliums spektroskopisch wie zwei unterschiedliche Atome. Dies führte dazu, dass Carl Runge und Louis Paschen postulierten, Helium bestehe aus zwei getrennten Gasen, Orthohelium („richtiges Helium“) und Parahelium (für das sie den Namen Asterium vorschlugen). Neben der Elektronenkonfiguration des Orthoheliums können die Elektronen – zum Beispiel durch Beschuss mit Elektronen – weitere angeregte Zustände einnehmen. Diese langlebigen angeregten Zustände werden als metastabile Energieniveaus bezeichnet. Chemische Eigenschaften Helium ist ein Edelgas. Die einzige Elektronenschale ist mit zwei Elektronen voll besetzt. Beide Elektronen sind durch die räumliche Nähe zum Atomkern sehr stark an diesen gebunden. Nicht zuletzt deswegen ist Helium selbst im Vergleich zu anderen Edelgasen ausgesprochen reaktionsträge. Das zeigt sich auch an den hohen Ionisierungsenergien des Heliumatoms. Helium-Dimer Wie anhand des Molekülorbital-Schemas ersichtlich wird, bilden Helium-Atome untereinander keine chemische Bindung. Beim Helium ist das 1s-Orbital mit einem Elektronenpaar besetzt. Bei der Kombination zweier dieser voll besetzten Atomorbitale (a) und (b) ist sowohl das bindende als auch das antibindende Molekülorbital mit je einem Elektronenpaar besetzt. Bei den sich (hypothetisch) ausbildenden Bindungsorbitalen wird der energetisch günstigere, sog. bindende Zustand durch den ebenfalls besetzten, aber energetisch ungünstigeren Antibindenden kompensiert. Das Gesamtsystem liegt energetisch nicht niedriger, und es kommt keine Bindung zustande. Aufgrund der für alle Atome und Moleküle wirksamen Van-der-Waals-Wechselwirkung existiert jedoch bei Helium ein Dimer, allerdings mit einer äußerst kleinen Bindungsenergie von circa 1,1 mK (= 9,5 · 10−26 J) und einem entsprechend großen Bindungsabstand von circa 52 Å. Ionische Bindungen Unter extremen Bedingungen ist es möglich, eine quasichemische Verbindung von Helium mit einem Proton (HeH+) zu erzeugen. Diese Verbindung ist bei Normalbedingungen sehr instabil und kann nicht in Form eines Salzes wie HeH+X− isoliert werden. In einem Gemisch aus Helium und Wasserstoff bildet sich während einer elektrischen Entladung ein Heliumhydrid-Ion Eine entsprechende Reaktion kann zwischen zwei Helium-Atomen ablaufen, wenn die zur Ionisierung notwendige Energie zugeführt wird. Diese Verbindungen können aber nicht als wirkliche chemische Verbindungen bezeichnet werden, sondern eher als ionische Agglomerationen, die unter Ausnahmebedingungen entstehen, nur sehr kurz bestehen und sehr rasch wieder zerfallen. Isotope Von den acht bekannten Isotopen des Heliums (mit jeweils 2 Protonen und 1 bis 8 Neutronen) sind lediglich 3He und 4He stabil. In der Erdatmosphäre existiert pro Million 4He-Atome nur ein 3He-Atom. Jedoch variiert die Proportion der beiden Isotope je nach dem Herkunftsort der untersuchten Heliumprobe. Im interstellaren Medium sind 3He-Atome hundertmal so häufig. In Gesteinen der Erdkruste und des Erdmantels liegt die Proportion ebenfalls weit über dem atmosphärischen Wert und variiert je nach Herkunft um den Faktor 10. Diese Variationen werden in der Geologie benutzt, um die Herkunft des Gesteines zu klären (siehe auch Abschnitt Erde). 3He und 4He weisen aufgrund der unterschiedlichen Symmetrieeigenschaften (3He-Atome sind Fermionen, 4He-Atome sind Bosonen) einige unterschiedliche physikalische Eigenschaften auf, die sich insbesondere bei tiefen Temperaturen zeigen. So trennen sich gleiche Anteile von flüssigem 3He und 4He unter 0,8 Kelvin aufgrund ihrer unterschiedlichen Quanteneigenschaften in zwei unmischbare Flüssigkeiten, ähnlich Öl und Wasser. Dabei schwimmt eine Phase aus reinem 3He auf einer Phase, die hauptsächlich aus 4He besteht. Weiterhin unterscheiden sich die zwei Isotope deutlich in ihren suprafluiden Phasen (siehe Abschnitt Helium II). Kernfusion In Ankündigungen neuer Raumfahrt-Missionen der USA, Russlands und Chinas, weiterhin auch Europas, Indiens und Japans zum Mond wurden mehrfach die dortigen anteilig größeren Vorkommen von 3He als lohnende Quelle genannt, um Kernfusionsreaktoren auf Basis dieses Isotops auf der Erde zu ermöglichen. Im Gegensatz zur Deuterium-Tritium-Fusionsreaktion liefert die Deuterium-3He-Reaktion bei ähnlich großem Energiegewinn keine freien Neutronen, sondern Protonen. Dies würde die Radioaktivitätsprobleme der Fusionsenergiegewinnung dramatisch verringern. Andererseits ist die Herbeiführung dieser Reaktion wegen der nötigen viel höheren Plasmatemperatur eine noch ungelöste technische Herausforderung. Hypothetisches Diproton Ein fiktives Isotop des Heliums ist 2He, dessen Kern, das Diproton, kein Neutron enthielte, sondern lediglich aus zwei Protonen bestünde. Für ein System aus zwei Protonen gibt es jedoch keinen gebundenen Zustand, da sich diese wegen des Pauli-Prinzips – im Gegensatz zum Proton und Neutron beim Deuteron – nur in einem Singulett-Zustand mit antiparallelen Spins befinden dürfen. Auf Grund der starken Spinabhängigkeit der Nukleon-Nukleon-Wechselwirkung ist dieser aber energetisch angehoben und daher nicht gebunden. Verwendung und Handelsformen Das im Großhandel angebotene Helium stammt weltweit aus Großanlagen in fünf Ländern (USA, Russland, Polen, Katar und Algerien), die Gewinnung von Helium erfolgt aus Erdgas. Ausgeliefert im Bereich Technische Gase wird Helium in Form von verdichtetem Gas in Druckflaschen mit 200 bar Druck und Reinheitsgraden von Helium 4.6 (99,996 % Heliumanteil) bis zu hochreinem Helium 7.0 (99,99999 % Heliumgehalt). Stahlflaschen mit typisch 10-50 Liter Volumen enthalten bei 200 bar nur 1,8 bis 9,1 Normkubikmeter Helium, da es sich bei 200 bar schon deutlich nichtideal verhält. Größere Mengen werden in Paletten zu je zwölf Flaschen oder Flaschenbündeln zu ebenfalls je zwölf 50-Liter-Flaschen geliefert. Noch größere Mengen kommen tiefkalt flüssig in Kryo-Sattelaufliegern oder Tube Trailern mit typisch zehn 12 m langen Rohren gefüllt mit etwa 200 bar Helium, in Summe 5000 Normkubikmeter. Helium wird tiefkalt verflüssigt in Kryo-Schiffen transportiert, etwa von einer Produktionsstätte in Afrika zu einem Hafen westlich nahe bei Marseille. Helium für Endverbraucher wird im Handel mit geringer Reinheit von ca. 98 % bis über 99 % primär in Form von Einweggasflaschen als „Ballongas“ angeboten, um damit auf Veranstaltungen und Feiern einfach und gefahrlos kleinere Mengen von Luftballons aufblasen und aufsteigen lassen zu können. Ballongas kann grundsätzlich auch als Traggas für größere Ballone wie Wetterballone eingesetzt werden, ist aber im Vergleich zu Wasserstoff in dieser Anwendung teurer. Helium wird vielseitig verwendet: Helium-Sauerstoff-Gemisch (80:20) dient in der Intensivmedizin als Atemgas. Das Gemisch strömt mit geringerem Widerstand durch Verengungen und lässt sich daher leichter atmen. Beim professionellen Tauchen werden verschiedene Gemische mit Helium wie Trimix (bestehend aus Sauerstoff, Stickstoff und Helium), Hydreliox (Wasserstoff, Helium und Sauerstoff) und Heliox (Helium und Sauerstoff) als Atemgas verwendet. Nachteilig wirkt sich hier die hohe Wärmekapazität des Heliums aus, was (bei kalter Umgebung) zum Auskühlen der Lunge und damit des Tauchers führt. In der Lebensmittelindustrie wird es als Treibgas oder Packgas verwendet und ist als Lebensmittelzusatzstoff E 939 zugelassen. Helium ist ein bevorzugtes Traggas für Ballons und Luftschiffe, denn es hat eine im Vergleich zu Luft sehr geringe Dichte, brennt nicht und kann daher gefahrlos mit Luft vermischt werden. Helium hat deshalb den brennbaren Wasserstoff, der mit Luft explosiv entzündliche Mischungen bildet, weitgehend verdrängt, auch wenn die Dichte von Helium höher und damit seine Tragkraft etwas niedriger als die des Wasserstoffs ist. Allerdings ist aufgrund der hohen Diffusionsrate die Anforderung an die Dichtheit der Hülle höher als bei allen anderen Gasen. In der Schweißtechnik wird Helium in Reinform oder als Zumischung als Inertgas eingesetzt, um die Schweißstelle vor Sauerstoff zu schützen. Zudem lässt sich mit Helium die Einbrenntiefe und die Schweißgeschwindigkeit steigern sowie die Bildung von Spritzern verringern, insbesondere bei Roboterschweißungen und bei der Verarbeitung von Aluminium und rostfreien Stählen. Technisch wird verflüssigtes Helium (die Isotope 4He und 3He) als Kühlmittel zum Erreichen sehr tiefer Temperaturen eingesetzt (siehe dazu: Kryostat). Mit 4He lassen sich durch Verdampfungskühlen Temperaturen bis etwa 1 K erreichen, mit dem Isotop 3He bis etwa 240 mK. Mit dem Verfahren der 3He-4He-Mischungskühlung werden bis etwa 5 mK erreicht, wobei dieses Verfahren deutlich kostengünstiger als eine reine 3He-Kühlung ist. Beim Einsatz von supraleitenden Magneten dient Helium als Kühlmittel, um damit den Supraleiter unter seiner Sprungtemperatur zu halten. Praktische Anwendungen sind hier besonders die Kernspintomographie (MRT) für medizinische Anwendungen sowie die Magnetresonanzspektroskopie (MRS) und der Betrieb von Teilchenbeschleunigern in der Forschung. In der Raumfahrt kühlt flüssiges Helium Infrarotteleskope und die hochempfindlichen Infrarotkameras in Weltraumteleskopen, die nur nahe dem Absoluten Nullpunkt ohne zu stark störende Eigenwärme arbeiten können. Beispiele sind: IRAS, ISO, das Spitzer- und das Herschel-Weltraumteleskop. Ein weiteres Anwendungsgebiet ist die Herstellung von optischen Glasfasern in heliumgekühlten Falltürmen. Komprimiertes Heliumgas kann als Kühlmittel eingesetzt werden, insbesondere dort, wo ein chemisch wie auch kernphysikalisch besonders inertes Kühlmittel benötigt wird. Kernphysikalisch inert ist allerdings nur die Hauptkomponente 4He, während 3He durch thermische Neutronen leicht in radioaktives Tritium überführt wird. Als Beispiel sei der Thorium-Hochtemperaturreaktor (kurz: THTR) genannt, wo das Helium bei sehr hohen Temperaturen verwendet wurde. Zu beachten ist, dass Helium zwar eine hohe spezifische, aber eine niedrige molare Wärmekapazität besitzt. Dies ist insbesondere bei geschlossenen Apparaturen problematisch, da es im Falle eines Temperaturanstiegs (zum Beispiel bei Stromausfall) schnell zu einer massiven Druckerhöhung kommt. Als nachteilig bei der Anwendung als Kühlmittel hat sich die (wie bei allen Gasen) mit steigender Temperatur zunehmende Viskosität von Helium erwiesen, da das die Kühlung heißer Bereiche verschlechtern kann. Die Suche nach Undichtigkeiten in Druckgasarmaturen wird durch eine Befüllung mit Helium erleichtert. Außen an der Druckarmatur wird ein Lecksuchspray aufgebracht. Helium dringt besonders leicht durch Leckstellen und erzeugt deutlichere Schaumblasen als das Betriebsgas. Bei Vakuumanlagen wird Helium als diffusionsfreudigstes Lecksuchgas eingesetzt, indem die Vakuumapparatur mit einer Pumpe evakuiert wird und ein Massenspektrometer hinter die Pumpe gehängt wird. Wird nun die Apparatur – außen, nur lokal um Leckstellen zu finden – mit Helium angeblasen, kann mit Hilfe des Massenspektrometers ein eventueller Heliumeintritt in die Apparatur detektiert und die Leckrate gemessen werden. Diese rasche und empfindliche Lecksuchmethode wird an Chemieanlagen und bei der Fertigung von Wärmetauschern für Klimaanlagen oder Benzintanks für Autos benutzt. Helium wird in Gasform in der Raketentechnik eingesetzt, um bei pumpgeförderten Flüssigtreibstoffraketen den verbrauchten Treibstoff zu ersetzen, damit die dünnwandigen Treibstofftanks der Raketen nicht implodieren, wenn der Treibstoff von den Treibstoffpumpen der Triebwerke aus den Tanks gesaugt wird. Bei druckgasgeförderten Flüssigtreibstoffraketen drückt Helium den Treibstoff in die Triebwerke. Helium wird hier wegen seines niedrigen Gewichtes und seiner niedrigen Siedetemperatur benutzt. Da es als Edelgas nicht mit dem Treibstoff reagieren kann, stellen auch aggressive hypergolische Treibstoffe kein Problem dar. Helium wird als Hilfsgas in verschiedenen Lasertypen eingesetzt, zum Beispiel dem Helium-Neon-Laser, dem Helium-Cadmium-Laser sowie einiger Typen des Kohlendioxidlasers. Es dient als Stoßpartner zur An- oder Abregung der Laserniveaus der eigentlichen aktiven Lasermedien. Reinsthelium dient als Trägergas in der Gaschromatographie (Analytik). In Gasentladungsröhren leuchtet Helium gelblich/weiß. Aufgrund seiner thermodynamischen Eigenschaften ist Helium ein sehr gutes Arbeitsmedium für Stirlingmotoren. Hyperpolarisiertes 3He wird in der Diagnostik versuchsweise als Kontrastmittel für kernspintomografische Aufnahmen der Lunge verwendet. Statt Druckluft zum Antrieb von Schlagschraubern beim Radwechsel im Formel-1-Automobilsport. Damit konnten diese bei einem bestimmten Druck um 30 % schneller betrieben werden. Um Kosten zu vermeiden, ab 2012 per Reglement verboten. Bei Festplattenlaufwerken reduziert die Füllung mit Helium statt Luft Strömungseffekte und Vibrationen im Betrieb und erlaubt so kleinere Abstände der einzelnen Magnetscheiben voneinander. Bei gleicher Baugröße können dadurch mehr Magnetscheiben untergebracht und die Speicherkapazität der Festplatte dadurch erhöht werden. Gefahren Helium zählt zu den Inertgasen und ist ungiftig. Bei der Handhabung von größeren Mengen gasförmigen Heliums müssen dann Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden, wenn aufgrund der Gasmenge und der räumlichen Situation die Gefahr besteht, dass es zu einer Verdrängung von Atemluft kommen kann. Die Unfallzahlen durch Ersticken sind bei Helium im Gegensatz zu anderen häufig als Inertgas eingesetzten Gasen (z. B. Stickstoff) niedriger, da aufgrund der geringen Dichte gasförmiges Helium sofort aufsteigt und es somit auch in schlecht belüfteten Räumen in unteren Bereichen nur in seltenen Fällen zu einer vollständigen Sauerstoffverdrängung der Umgebungsluft und damit zu der Gefahr einer Erstickung kommt. Potentielle Gefahrenbereiche können Ansammlungen von Heliumgas in nach oben dichten baulichen Strukturen sein, beispielsweise Dachstühle, unter denen sich eine „Heliumblase“ bilden kann. Beim Hantieren mit Flüssig-Helium (UN-Nummer UN 1963) – es ist um 73 K kälter als Flüssig-Stickstoff, der ebenfalls als „tiefkalt“ bezeichnet wird – ist die Verwendung von Schutzkleidung notwendig, um Erfrierungen durch Kontakt zu verhindern. Die Gefahr geht im Wesentlichen von tiefgekühlten Behältern, Apparaturen und Armaturen bzw. durch die Vorkühlung durch LN2 aus, da Flüssig-Helium selbst nur eine extrem geringe Kühlleistung (220 ml LHe hat die Kühlleistung von 1 ml LN2) hat. Eine Schutzbrille schützt die Augen oder ein Visier das ganze Gesicht, dichte Handschuhe einer gewissen Dicke und mit Stulpe die Hände. Offene Taschen oder Stiefelschäfte sind Eintrittspforten für Spritzer und daher zu vermeiden. Weitere Gefahren gehen durch Vereisung und damit verbundener Verstopfung und Explodieren von Leitungen und Gefäßen aus. Heliumdruckgasbehälter – meist nahtlose Stahlzylinder für 200 bar Hochdruck oder aber geschweißte (oft: Einweg-)Flaschen – stehen unter hohem Druck. Ihr Erhitzen über den Richtwert von 60 °C oder Kontakt mit Feuer ist strikt zu vermeiden. Denn einerseits steigt der Innendruck mit der Temperatur und andererseits nimmt die Festigkeit der Stahlwandung ab, sodass ein sehr energisches Platzen des Gefäßes droht. Auch das Abreißen des Ventils, etwa wenn eine Flasche ohne Schutzkappe fällt, oder das Brechen einer Berstscheibe löst einen Gasstrahl mit gefährlichen Folgen aus. Sonstiges Nach dem Einatmen von Helium klingt, solange die Atemwege einen relevant hohen Anteil an Helium enthalten, die menschliche Stimme erheblich höher. (Populär wird dieser Effekt „Micky-Maus-Stimme“ genannt, die allerdings durch schnelleres Abspielen von Tonband, also Erhöhung aller Frequenzen (und des Tempos) um einen bestimmten Faktor erzielt wurde.) Die Klangfarbe einer Stimme hängt dagegen von der Lage der Formanten im Mundraum ab, die durch Faktoren wie Zungen- und Lippenstellung beeinflusst werden. (Formanten sind diejenigen Frequenzbereiche, die am stärksten durch Resonanzwirkung verstärkt werden.) Diese Formanten hängen auch von der Schallgeschwindigkeit c im entsprechenden Medium ab (cLuft = 350 m/s, cHelium = 1030 m/s). Beträgt zum Beispiel die Lage der ersten drei Formanten in Luft 220, 2270 und 3270 Hz, so ändert sich dies in (reinem) Helium zu 320, 3900 und 5500 Hz. Dadurch ergibt sich ein anderes Stimmbild und die Stimme erscheint insgesamt höher, selbst wenn die Höhe des Stimmtones durch das Edelgas unverändert bliebe. Einen ähnlichen Effekt gibt es, wenn ein (anfangs nur luftgefülltes) Blasinstrument mit Helium angeblasen wird. Literatur P. Häussinger, R. Glatthaar, W. Rhode, H. Kick, C. Benkmann, J. Weber, H.-J. Wunschel, V. Stenke, E. Leicht, H. Stenger: Noble Gases. In: Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2006 (doi:10.1002/14356007.a17_485). F. A. Cotton, G. Wilkinson, C. A. Murillo, M. Bochmann: Advanced Inorganic Chemistry. Kap. 18. D. Wiley, New York 61999, ISBN 0-471-19957-5, S. 974. Christoph Haberstroh: Flüssigheliumversorgung. TUDpress, Dresden 2010, ISBN 978-3-941298-77-4. C. E. Housecroft, A. G. Sharpe: Inorganic Chemistry. Kapitel 22.8a. Pewson, Prentice Hall 2005, ISBN 0-13-039913-2. S. 666. Ekkehard Fluck, Klaus G. Heumann: Periodensystem der Elemente, Tafel. Wiley-VCH, Weinheim 2002, ISBN 3-527-30716-8. R. B. King (Hrsg.): Encyclopedia of Inorganic Chemistry. Band 8. D. Wiley, New York 1994, ISBN 0-471-93620-0. S. 4094. Weblinks Jahresbericht des Bureau of Land Management (englisch, PDF, 76 KiB) Low Temperature Laboratory Helsinki (englisch) „Unmögliches“ Helium-Mineral im Erdinneren? scinexx.de, 9. Januar 2019 Einzelnachweise Lebensmittelzusatzstoff (EU) Namensgeber für einen Asteroiden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Halogene
Halogene
Die Halogene [] („Salzbildner“, von „Salz“ und „erzeugen“) bilden die 7. Hauptgruppe oder nach neuer Gruppierung des Periodensystems die Gruppe 17 im Periodensystem der Elemente, die aus folgenden sechs Elementen besteht: Fluor, Chlor, Brom, Iod, dem äußerst seltenen radioaktiven Astat und dem 2010 erstmals künstlich erzeugten, sehr instabilen Tenness. Die Gruppe der Halogene steht am rechten Rand des Periodensystems zwischen den Chalkogenen (6. Hauptgruppe) und Edelgasen (8. Hauptgruppe). Die Namensgebung dieser Gruppe geht auf Jöns Jakob Berzelius zurück, der die Bezeichnung corpora halogenia vorschlug. Diese Nichtmetalle sind im elementaren Zustand sehr reaktionsfreudig (Fluor kann unter Feuererscheinung reagieren), farbig und reagieren mit Metallen zu Salzen (Namensherkunft) und mit Wasserstoff unter Normalbedingung zu Halogenwasserstoffen (gasförmige, einprotonige Säuren). Fluor, Chlor, Brom und Iod spielen wichtige Rollen in Chemie, Biologie und Medizin. Astat dient in organischen Verbindungen in der Nuklearmedizin zur Bestrahlung von bösartigen Tumoren. Vorkommen Halogene kommen in der Natur vor allem als einfach negativ geladene Anionen in Salzen vor. Das zugehörige Kation ist meist ein Alkali- oder Erdalkalimetall, insbesondere die Natriumsalze der Halogene sind häufig anzutreffen. Aus diesen können dann die Halogene mittels Elektrolyse gewonnen werden. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Halogenide ist im Meerwasser gelöst. Wichtige Halogenid-Verbindungen: Natriumfluorid, NaF Calciumfluorid, CaF2 (Flussspat) Natriumhexafluoridoaluminat (ein Komplexsalz), Na3[AlF6] (Kryolith) Natriumchlorid, NaCl (Kochsalz) Kaliumchlorid, KCl Natriumbromid, NaBr Kaliumbromid, KBr Natriumiodid, NaI Im Gegensatz zu den anderen Halogenen kommt Iod auch in der Natur als Iodat vor. Astat, das seltenste natürlich vorkommende Element, ist Zwischenprodukt der Uran- und Thoriumzerfallsreihen. Die Gesamtmenge in der Erdkruste beträgt lediglich 25 g. Gewinnung der Reinelemente Fluorgas F2 lässt sich nur durch elektrochemische Vorgänge gewinnen, da es kein Element und keine Verbindung gibt, die ein größeres Redox-Potential als Fluor hat und dieses oxidieren könnte (Oxidation, weil Elektronenabgabe von 2 F− zu F2, andere Halogene analog). Alle anderen Halogene lassen sich neben der elektrochemischen Darstellung (z. B. Chloralkalielektrolyse) auch mit Oxidationsmittel wie MnO2 (Braunstein), KMnO4 (Kaliumpermanganat) herstellen. Eine weitere Möglichkeit zur Gewinnung von Brom oder Iod ist das Einleiten von Chlorgas als Oxidationsmittel in konzentrierte Bromid- bzw. Iodidlösungen: Hier sei zur Gewinnung von Chlor auch das Deacon-Verfahren erwähnt (Redoxreaktion von Salzsäuregas mit Luft als Oxidationsmittel zu Wasser und Chlorgas): Eigenschaften Physikalische Eigenschaften {| class="wikitable float-right" style="text-align:center; font-size:90%;" ! Halogen || Molekül || Struktur || Modell || d(X–X) / pm(Gasphase) || d(X–X) / pm(Feststoff) |- | Fluor || F2 || || || 143 || 149 |- | Chlor || Cl2 || || || 199 || 198 |- | Brom || Br2 || || || 228 || 227 |- | Iod || I2 || || || 266 || 272 |} Elementare Halogene sind farbige, leicht flüchtige bis gasförmige Substanzen, die in Wasser löslich sind (Fluor reagiert). Ihre Farbintensität, Siedepunkte und Dichte nehmen mit der Ordnungszahl zu. Sie liegen in Form von zweiatomigen Molekülen der Form X2 vor (z. B. F2 und Cl2) und sind daher Nichtleiter (Isolatoren). Die Farbintensität im gasförmigen Aggregatzustand steigt mit zunehmender Ordnungszahl. Dichte, Schmelz- und Siedepunkt nehmen aufgrund der Zunahme der Molmasse von oben nach unten zu. Bei Standardbedingungen sind Fluor und Chlor Gase, Brom ist eine Flüssigkeit und Iod fest. Chemische Eigenschaften Halogene sind sehr reaktionsfreudige Nichtmetalle, da ihnen nur noch ein einziges Valenzelektron zur Vollbesetzung der Valenzschale fehlt. Da die Halogen-Halogen-Bindung nicht sehr stabil ist, reagieren auch Halogenmoleküle heftig. Die Reaktivität nimmt, wie die Elektronegativität, von Fluor zu Iod ab. Gleichzeitig steigt die 1. Ionisierungsenergie nach oben hin an. Die Eigenschaften von Astat sind jedoch größtenteils unerforscht, wahrscheinlich ist es aber aus chemischer Sicht dem Iod sehr ähnlich. Halogene reagieren mit Metallen unter Bildung von Salzen, was ihnen ihren Namen einbrachte. Beispiel: Bildung von Kochsalz (NaCl): Halogene reagieren exotherm mit Wasserstoff unter Bildung von Halogenwasserstoffen, die, in Wasser gelöst, mehr oder weniger starke Säuren sind. Die Heftigkeit der Reaktion nimmt von Fluor zu Iod ab. Beispiel: Chlorknallgasreaktion: Die Wasserlöslichkeit der Halogene nimmt von Fluor zu Iod ab, wobei Fluor mit Wasser unter Bildung von Fluorwasserstoff und Sauerstoff reagiert. Chlor reagiert mit Wasser zu Chlorwasserstoff und Hypochloriger Säure. Ebenso reagiert Brom mit Wasser zu Bromwasserstoff und Hypobromiger Säure. Iod ist kaum löslich in Wasser und reagiert nicht. Die Halogene sind von Iod zu Fluor zunehmend giftig. Verwendung In der organischen Chemie werden sie zur Synthese von Halogenverbindungen verwendet. Das Verfahren wird allgemein als Halogenierung bezeichnet. Durch Zugabe von Halogenen in Glühlampen wird durch den Wolfram-Halogen-Kreisprozess deren Lebensdauer und Lichtausbeute erhöht. Man spricht dann auch von Halogenlampen. Verbindungen Halogenide Ionische Halogenverbindungen wie z. B. die Fluoride, Chloride, Bromide und Iodide sind salzartige Stoffe. Dementsprechend haben sie hohe Schmelzpunkte, sind spröde und elektrische Nichtleiter außer in Schmelze und Lösung. Die meisten Halogenide sind wasserlöslich (wie z. B. Kochsalz, Natriumchlorid. Wasserunlöslich sind Blei-, Quecksilber- und Silberhalogenide (siehe Salzsäuregruppe) sowie Kupfer(I)-halogenide. Viele Halogenide kommen in der Natur in Form von Mineralien vor. Halogenwasserstoffe Fluorwasserstoff siedet trotz der geringen Molmasse durch die Bildung von starken Wasserstoffbrückenbindungen erst bei 19,5 °C. Die wässrige Lösung wird Flusssäure genannt. Chlorwasserstoff siedet bei −85 °C. Er löst sich in Wasser und reagiert als sehr starke Säure. Die wässrige Lösung wird Salzsäure genannt. Bromwasserstoff siedet bei −67 °C. Er löst sich in Wasser und reagiert als eine der stärksten Säuren. Die wässrige Lösung wird Bromwasserstoffsäure genannt. Iodwasserstoff siedet bei −35 °C. Er löst sich in Wasser und reagiert als die stärkste bekannte sauerstofffreie Säure. Die wässrige Lösung wird Iodwasserstoffsäure genannt. Halogensauerstoffsäuren Mit Ausnahme von Fluor, dessen einzige Sauerstoffsäure die instabile Hypofluorige Säure ist, bilden die Halogene vier Arten von Sauerstoffsäuren, die wie folgt benannt werden: HXO: Hypohalogenige Säure (Beispiel: Hypochlorige Säure) HXO2: Halogenige Säure (Beispiel: Chlorige Säure) HXO3: Halogensäure (Beispiel: Chlorsäure) HXO4: Perhalogensäure (Beispiel: Perchlorsäure) Die Säurestärke wächst mit steigender Zahl der Sauerstoffatome, ebenso die oxidierende Wirkung. Die meisten Sauerstoffsäuren der Halogene sind sehr instabil und zersetzen sich exotherm. Interhalogenverbindungen Interhalogenverbindungen sind Verbindungen der Halogene untereinander. Es gibt folgende Arten (Y ist das elektronegativere Element): XY: alle möglichen Kombinationen existent XY3: Y ist Fluor, Chlor oder Brom XY5: Y ist immer Fluor XY7: nur IF7 bekannt Interhalogenverbindungen sind bei Standardbedingungen instabil oder äußerst reaktiv. Es existieren auch Interhalogenidionen wie beispielsweise BrF6− und IF6−. Auch Sauerstoffsäurehalogenide wie z. B. Perchlorylfluorid ClO3F oder Iodoxipentafluorid IOF5 sind bekannt. Siehe auch Pseudohalogene Einzelnachweise Literatur M. Binnewies, M. Jäckel, H. Willner: Allgemeine und Anorganische Chemie. Spektrum Akademischer Verlag, 2004, ISBN 3-8274-0208-5. Weblinks Kurzbeschreibung der Halogene Weitere Kurzbeschreibung der Halogene Gruppe des Periodensystems !
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Henry Cavendish
Henry Cavendish (* 10. Oktober 1731 in Nizza; † 24. Februar 1810 in London) war ein britischer Naturwissenschaftler. Seine bekanntesten Leistungen sind die Entdeckung des Elements Wasserstoff und die erste experimentelle Bestimmung der mittleren Dichte der Erde („Wiegen der Erde“), die in weiterer Folge die Bestimmung der Gravitationskonstanten ermöglichte, sowie die Erkenntnis, dass Luft Sauerstoff und Stickstoff in einem konstanten Verhältnis von etwa 1:4 enthält. Leben Henry Cavendish war der Sohn von Lord Charles Cavendish (ein Sohn von William Cavendish, 2. Duke of Devonshire, 1704–1783), und Lady Anne Grey, Tochter von Henry Grey, 1. Duke of Kent. Die Familie Cavendish gehörte zum alteingesessenen Adel und war mit vielen anderen bedeutenden Adelsfamilien in Großbritannien eng verbunden. Henry wurde 1731 in Nizza geboren, wo sich – nach George Cavendish, 1. Earl of Burlington – seine Mutter aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes aufhielt. Seine Mutter starb 1733 nach der Geburt seines Bruders Frederick (1733–1812). Im Alter von elf Jahren war Cavendish ein Schüler der Newcome’s School in Hackney, einer der größten und anerkanntesten Privatschulen des 18. Jahrhunderts. Am 18. Dezember 1749 wurde er Student im Peterhouse College der University of Cambridge, das er am 23. Februar 1753 ohne Abschluss verließ. Seine erste wissenschaftliche Arbeit erschien im Jahre 1766 und trug den Titel Experiments on Factitious Airs („künstliche Luftarten“, d. h. durch chemische Reaktionen dargestellte Gase). Nach einer Reise mit seinem Bruder Frederick durch Europa lebte er zusammen mit seinem Vater bis zu dessen Tod 1783 in Soho (London). Während dieser Zeit führte er seine elektrischen und die meisten chemischen Forschungen durch. Er begann dabei als Assistent seines Vaters, der selbst wissenschaftliche Experimente durchführte. Mit 40 Jahren erbte Henry Cavendish ein großes Vermögen, das es ihm ermöglichte, seine wissenschaftlichen Studien weiterzuführen. Nach dem Tod seines Vaters zog er in eine Villa nach Clapham Common, wo er ein großes Experimentierlabor einrichtete. Er besaß aber auch ein Stadthaus im Londoner Stadtteil Bloomsbury und ein weiteres Haus für seine Bibliothek in der Dean Street, Soho. Er besuchte die Zusammenkünfte der Royal Society, deren Fellow er 1760 wurde und mit deren Mitgliedern er donnerstags dinierte. Ansonsten mied er gesellschaftliche Ereignisse und sogar Lord George Cavendish, den er später zu seinem Haupterben machte, sah er nur einmal jährlich für wenige Minuten. Abgesehen davon änderte sich durch die Erbschaft kaum etwas an seinem bescheidenen Lebensstil. Cavendish legte ein exzentrisches Verhalten an den Tag. Sein Abendessen bestellte er täglich durch eine Notiz, die er auf dem Flurtisch hinterlegte, und seine weiblichen Angestellten waren angewiesen, außer Sichtweite zu bleiben, wenn sie nicht ihre Entlassung riskieren wollten. Frauen und Fremden gegenüber war er äußerst schüchtern und er vermied es, mit ihnen überhaupt zu sprechen. Er war ein großgewachsener Mann mit einer schrillen, dünnen Stimme und trug als Kleidung einen abgetragenen, verblassten, violetten Samtanzug und einen Dreispitz aus dem vorherigen Jahrhundert. Er war ein wortkarger Einzelgänger. Einer seiner wichtigsten Mitarbeiter war Charles Blagden, der an einer Vielzahl seiner Experimente beteiligt war. Auch existiert eine intensive Korrespondenz zwischen den beiden Wissenschaftlern. 1790 lernte Cavendish auch Alexander von Humboldt kennen, der seine chemischen Erkenntnisse bald akzeptierte. 1803 wurde er Mitglied der Académie des sciences in Paris. Cavendish führte unzählige wissenschaftliche Studien und Experimente durch, von denen allerdings die meisten zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht blieben. Während seines ganzen Lebens hat er nur 20 Artikel und kein einziges Buch veröffentlicht. Erst lange nach seinem Tod, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, beschäftigte sich James Clerk Maxwell mit den Forschungen Cavendishs und erkannte, dass viele wissenschaftliche Errungenschaften von ihm bereits vorweggenommen worden waren, so zum Beispiel das ohmsche Gesetz, das Dalton-Gesetz, das Gesetz von Gay-Lussac und die Prinzipien der elektrischen Leitfähigkeit. Er gab 1879 die Experimental Researches von Cavendish heraus. Dabei gab er auch seine Verwunderung darüber kund, dass dieser ein ausführliches Manuskript über seine Forschungen anlegte und aufwändig in seinen Experimenten selbst Spezialfragen nachging, die damals nur er selbst zu würdigen wusste, er aber seine ausgearbeiteten Manuskripte nie veröffentlichte. Cavendish starb am 24. Februar 1810 und wurde in der All Saints Church in Derby begraben (heute Derby Cathedral). Er hinterließ Lord George Cavendish ein bedeutendes Vermögen, dem Urenkel von William Cavendish, 2. Duke of Devonshire. Henry Cavendish war Enkel des Letzteren. Sein nachgelassenes Vermögen betrug £700.000 mit Einkünften aus Liegenschaften von £8000 pro Jahr sowie £50.000 bei seiner Bank. 1871 stiftete William Cavendish, 7. Duke of Devonshire und Prinzipal der University of Cambridge, das Geld zum Aufbau des Cavendish-Laboratorium genannten Physik-Fachbereichs der University of Cambridge. Erster Direktor und erster Cavendish-Professor war James Clerk Maxwell. Der Mondkrater Cavendish und der Asteroid (12727) Cavendish sind nach ihm benannt. Werk Entdeckung des Wasserstoffs und Vertreten der Phlogistontheorie 1766 entdeckte Cavendish ein Gas, das durch Einwirken von Säure auf Metalle entstand, erkannte aber nicht, dass es sich um ein chemisches Element handelt. Er nannte das Gas inflammable air (brennbare Luft) und interpretierte das so, dass die brennbare Luft aus dem Metall entwichen war. Da sie sich in gleicher Weise bei verschiedenen Säuren bildete, identifizierte er sie mit der lang gesuchten hypothetischen Substanz Phlogiston, die beim Brennen aus den Körpern freigesetzt wird. Das testete er dadurch, dass er auch die Kalke, die bei der Verbrennung von Metallen übrigblieben und also kein Phlogiston mehr enthalten sollten, mit Säure behandelte. Dabei bildete sich keine entflammbare Luft. Joseph Priestley stellte außerdem 1782 fest, dass sich Metallkalke durch die brennbare Luft wieder in Metalle zurück verwandelten und die brennbare Luft dabei verschwand. Der nächste Schritt erfolgte, nachdem Cavendish 1781 Priestleys Knallgasversuche wiederholte, bei denen sich ein „Tau“ gebildet hatte. Er fand, dass der „Tau“ reines Wasser war. Somit war Wasser nicht elementar, sondern das langgesuchte zusammengesetzte Oxid der entzündlichen Luft. Es besteht aus der von Cavendish entdeckten brennbaren Luft, die bald Wasserstoff genannt wurde, und dem 1774 von Priestley entdeckten Sauerstoff. Cavendish erkannte zudem die Luft als ein konstantes Gemisch von Sauerstoff und Stickstoff im Verhältnis von etwa 1:4. In der gleichen Zeit untersuchte auch Lavoisier die Verbrennung von Metallen und lehnte dabei die Auffassung von Cavendish ab, dass beim Verbrennen der Metalle ein Stoff entweicht, denn er hielt Metalle für elementar. Um die Entstehung entzündlicher Luft aus Metalllösungen in Säuren erklären zu können, musste er nun annehmen, dass der Wasserstoff aus der Säure stammt. Aber alle seine Versuche, dies experimentell nachzuweisen, schlugen fehl. In dieser Situation wurde Lavoisier 1783 auf Experimentergebnisse von Cavendish aufmerksam, in denen es darum ging, dass bei der Explosion einer Mischung aus entzündlicher Luft und gewöhnlicher Luft ein ‚Tau‘ entsteht, den Cavendish als Wasser identifizierte. Da er aber nicht immer reines Wasser erhielt, sondern gelegentlich auch Salpetersäure, publizierte er seine Ergebnisse erst 1784. Lavoisier erfuhr von diesen Resultaten schon 1783 und interpretierte diese im Rahmen seiner Auffassung, d. h., er fasste Wasser nicht als elementar auf, sondern als eine zusammengesetzte Substanz und Wasser war das langgesuchte Oxid der entzündlichen Luft. Cavendishs Experimente sind also als Synthese des Wassers aus seinen Bestandteilen zu deuten und so wurde für Lavoisier auch die Erklärung von Cavendishs Experiment zur Wasserstofferzeugung aus Metallen erklärlich: Metall wird durch Einwirkung der Säure oxidiert und der hierfür erforderliche Sauerstoff stammt aus der Spaltung des Wassers. Daher entweicht der dabei freigewordene Wasserstoff entsprechend. Einerseits zeigten Cavendishs Versuchsreihen zur Deutung der Synthese des Wassers ebenso wie die Experimente von Lavoisier, welch große Bedeutung quantitative Messungen in der Chemie haben. Andererseits können die divergierenden Erklärungen von Cavendish und Lavoisier als Beispiel für die Duhem-Quine-These der Unterbestimmtheit der Theorie durch die Empirie: Aus einer unterstellten theoretischen Annahme werden Konsequenzen abgeleitet, die empirischen Tests zugänglich sind. Aber die messbaren relevanten Größen sind nicht direkt beobachtbar, d. h., man sieht z. B. nicht unmittelbar, ob die Ursache der Gewichtszunahme der Metallkalke die Verbindung mit Sauerstoff oder die Anlagerung von Wasser ist. Die Verknüpfung zwischen theoretischer Annahme und empirischen Ergebnissen ist also keine strikte und enge. Daher gelten auch die beiden unterschiedlichen theoretischen Erklärungen von Cavendish und Lavoisier als Beispiel dafür, dass eine Theorie zwar zu eindeutigen empirischen Konsequenzen führt, aber die empirische Datenlage lässt umgekehrt nicht einen eindeutigen Schluss auf die zu ihrer Erklärung geeignete theoretische Auffassung zu. Cavendish selbst blieb auch nach seinen Experimenten zur Synthese des Wassers bei der Phlogistonlehre, die er nur neu interpretierte. Nach ihm war das, was Lavoisier für das Element Wasserstoff hielt, an Phlogiston gebundenes Wasser, während er Lavoisiers Sauerstoff für das Wasser hielt, dem Phlogiston entzogen wurde. Bei der Bildung von Wasser aus Wasserstoff und Sauerstoff wäre somit lediglich Phlogiston ausgetauscht worden. Bestimmung der Gravitationskraft und der Masse der Erde Cavendish gelang es 1797 als erstem, in einem Experiment mit zwei Körpern bekannter Masse ihre gegenseitige Anziehung zu beobachten. Dieses Phänomen war ein Jahrhundert zuvor von Isaac Newton in seinem Gravitationsgesetz zur Erklärung der Planetenbewegung und des Gewichts der Körper auf der Erde postuliert worden. Mittels einer empfindlichen Drehwaage konnte Cavendish nach Abschirmung aller bekannten Störeinflüsse die Kraft nachweisen und vermessen, mit der sich der schwerere Probekörper mit der Masse m1 = 158 kg und der leichtere Probekörper mit der Masse m2 = 0,73 kg anziehen. Das Experiment bestimmte unter Annahme der Richtigkeit des von Newton postulierten Gravitationsgesetzes indirekt die Masse MErde der Erde und damit auch ihre mittlere Dichte. Das Experiment wurde daher populär als Wiegen der Erde bezeichnet. Dazu genügt es anzunehmen, dass die Anziehungskraft zweier kugelförmiger Körper proportional zum Produkt ihrer Massen und umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstands ihrer Mittelpunkte ist, so dass das Verhältnis zweier Gravitationskräfte ausschließlich vom Verhältnis der Massen und Abstände abhängt. Im Einzelnen gilt für das Verhältnis der Kraft FProbe, mit der der leichte Probekörper vom schweren angezogen wird, und der Kraft FErde, mit der der leichte Probekörper von der Erde angezogen wird (also seinem Gewicht): R12, RErde sind die jeweiligen Abstände. Die Masse m2 des leichten Probekörpers muss dazu gar nicht bekannt sein, denn sie hebt sich heraus. Nach der Messung von FProbe ist MErde die letzte verbleibende Unbekannte und kann einfach bestimmt werden. Der Messapparat – eine Torsionswaage – stammte ursprünglich von dem Geologen John Michell, der ihn kurz vor seinem Tod 1793 fertigstellte, selbst aber keine Messungen mehr durchführte. Cavendish betonte, dass Michell die Idee schon vor Coulomb hatte, der 1785 auf die gleiche Weise die elektrostatische Anziehung und Abstoßung untersucht hatte. Für den Nachweis der viel schwächeren Gravitation musste Cavendish die Waage teilweise umbauen, um Störfaktoren auszuschalten, insbesondere den Einfluss geringster Temperaturschwankungen. Er bediente deshalb sein Experiment aus einem anderen Raum und las die Messwerte mit einem Fernrohr ab. Gemessen wurde die Winkel-Auslenkung einer an einem Torsionsfaden aufgehängten Hantel mit zwei Bleikugeln, wenn sie von zwei in unmittelbare Nähe gebrachten größeren Bleikugeln angezogen wurden. Die Rückstellkraft wurde nach dem hookeschen Gesetz proportional zum Auslenkungswinkel angenommen. Cavendish führte während eines ganzen Jahres sein Experiment 17 mal mit 29 Messungen durch und berücksichtigte auch kleinste denkbare Störungen. Seine Endergebnisse für G weichen um 1,2 Prozent und für die Dichte der Erde um 0,6 Prozent vom heutigen Wert ab. Mit Kenntnis der absoluten Erdmasse konnten aus dem Gravitationsgesetz nun auch die Massen anderer Körper des Sonnensystems bestimmt werden, die wie die Erde von beobachtbaren Begleitern umrundet werden. Das Experiment von Cavendish gilt heute als Klassiker in der Geschichte der Physik. Es wird als erste Bestimmung der Gravitationskonstante G gewertet, die eine der drei fundamentalen Naturkonstanten ist. Cavendish selbst lag diese Betrachtungsweise noch fern, selbst der Begriff „Gravitationskonstante“ konnte erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftauchen, nachdem 1873 mit der ersten allgemeinen Definition einer Krafteinheit (Dyn) die begriffliche Voraussetzung dafür geschaffen worden war. Werke (Auswahl) Henry Cavendish: An Attempt to Explain Some of the Principal Phaenomena of Electricity, by means of an Elastic Fluid: By the Honourable Henry Cavendish, F. R. S. Phil. Trans. January 1, 1771 61:584–677; doi:10.1098/rstl.1771.0056 (Volltext) Henry Cavendish: Experiments to determine the Density of the Earth. Philosophical Transactions of the Royal Society of London, Vol. 88 (1798), 469–526 (Volltext) Henry Cavendish in: Philosophical Transactions of the Royal Society of London (1776–1886). Internet-Archive online James Clerk Maxwell (Hrsg.): The Electrical Researches of the Honourable Henry Cavendish; edited by J. Clerk Maxwell. Written between 1771 and 1781. Edited from the original Manuscripts in the Possession of the Duke of Devonshire. Cambridge University, Press 1879, Literatur Russell McCormmach, Christa Jungnickel: Cavendish: The experimental life. Bucknell, Cranbury N.J. 1999, ISBN 0-8387-5445-7. Edition Open Access Russell McCormmach: Speculative truth: Henry Cavendish, Natural philosophy and the rise of modern theoretical science. Oxford University Press, Oxford 2004, ISBN 0-19-516004-5. George Wilson: The Life of the Hon. Henry Cavendish: Including Abstracts of His More Important Scientific Papers. Printed for the Cavendish Society, London 1851, Weblinks Henry Cavendish. Famous Chemists Anmerkungen Einzelnachweise Chemiker (18. Jahrhundert) Physiker (18. Jahrhundert) Träger der Copley-Medaille Entdecker eines chemischen Elements Mitglied der Royal Society Mitglied der Académie des sciences Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Henry Brite Geboren 1731 Gestorben 1810 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hektar
Hektar
Das oder der Hektar, schweizerisch die Hektare (Einzahl), ist eine Maßeinheit der Fläche mit dem Einheitenzeichen ha. Sie ist vor allem in der Land- und Forstwirtschaft verbreitet und entspricht einer Fläche von 10.000 m², also beispielsweise einem quadratischen Feld mit der Seitenlänge 100 Meter. Der Hektar bzw. die Hektare ist in Deutschland, Österreich und der Schweiz eine gesetzliche Einheit. Wortherkunft Das Wort Hektar ist dem Französischen entlehnt und beruht auf griechisch hekatón ‚hundert‘ (in der dem Französischen angepassten Kompositionsform hecto-) und französisch are (aus lateinisch ārea ‚Fläche‘). Es bedeutet also Hekto-Ar = 100 Ar. Geschichte 1879 wurde der Hektar vom CIPM (Comité International des Poids et Mesures) in seine Empfehlungen aufgenommen. Bereits davor war das Hektar Bestandteil der Maß- und Gewichtsordnung des Norddeutschen Bundes von 1868. Am 1. Januar 1872 trat sie in ganz Deutschland in Kraft. Seit dem späten 19. Jahrhundert entsprachen im Deutschen Reich einem Hektar exakt vier Morgen, dieser wurde deswegen zur Abgrenzung von traditionellen Maßen auch Viertelhektar (vha) genannt. Umrechnungen     1 Hektar = 100 Ar = 10.000 Quadratmeter = 0,01 Quadratkilometer 100 Hektar = 1 Quadratkilometer Für angloamerikanische Maße gibt es Näherungen:     1 Quadratmeile = 259 Hektar (bis auf ca. 12 m² genau)     1 Hektar = 2,47 Acre (17 Hektar = 42 Acre) Verwendung Gesetzliche Einheit Zwar gehört das Flächenmaß Hektar nicht zum Internationalen Einheitensystem (SI), es ist jedoch zur Benutzung mit diesem zugelassen. Der Hektar ist in Deutschland und Österreich sowie als Hektare (Singular), Hektaren (Plural) in der Schweiz eine gesetzliche Einheit, jedoch eingeschränkt auf die Angabe der Fläche von Grundstücken und Flurstücken. Nach der Richtlinie 80/181/EWG (Einheitenrichtlinie) ist „Hektar“ lediglich ein besonderer Name für das Hundertfache des Ar, gebildet aus dem Vorsatz Hekto für 100 und dem Einheitennamen Ar. Verwendung mit SI-Vorsätzen Das deutsche Einheiten- und Zeitgesetz sieht Ar (Einheitenzeichen: a) und Hektar (Einheitenzeichen: ha) als eigenständige Einheiten und lässt für beide die Verwendung von SI-Vorsätzen zu. Somit sind in Deutschland auch Bildungen wie Hektoar (ha) und z. B. Zentihektar (cha) legal, aber unüblich. Dem Einheitenzeichen ha ist nicht anzusehen, ob damit Hektar oder Hektoar gemeint ist, was jedoch keinen Unterschied macht, da in beiden Fällen 10.000 m² beschrieben werden. Hektarertrag In der Landwirtschaft wird häufig mit dem Begriff Hektarertrag gearbeitet, gemeint ist damit die von der Fläche eines Hektars geerntete Menge des Erntegutes (beispielsweise Getreide oder Wein). Weitere (Nicht-SI-)Flächeneinheiten im gleichen Größenbereich Ar: 1 a = 0,01 ha Acre: 1 Acre = 0,40468564224 ha Joch: zwischen 33 und 58 Ar; 3300 bis 5800 m² Morgen: zwischen 0,1906 und 1,178 ha, meist zwischen 0,3 und 0,4 ha, später zu 0,25 ha bayerisches Tagewerk (3407,27 m²): 1 Hektar = ungefähr 3 Tagewerk Beliebter Vergleichsmaßstab für den Hektar ist ein Fußballfeld, das meist allerdings kleiner ausfällt: häufigstes Maß für Fußballfelder: 68 Meter mal 105 Meter = 0,714 ha, Minimum laut Regelwerk: 45 Meter mal 90 Meter = 0,405 ha, Maximum laut Regelwerk: 90 Meter mal 120 Meter = 1,080 ha. Siehe auch Größenordnung (Fläche) Weblinks Einzelnachweise Flächeneinheit
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https://de.wikipedia.org/wiki/Henry%20%28Einheit%29
Henry (Einheit)
Henry ist im SI-Einheitensystem die Einheit der Induktivität sowie des magnetischen Leitwertes und ist nach dem amerikanischen Physiker Joseph Henry benannt. Sie ist für jede Leiterspule spezifisch und wird meistens auf ihr angegeben. Definition Eine Spule hat eine Induktivität von 1 Henry, wenn bei gleichförmiger Stromänderung von 1 Ampere in 1 Sekunde eine Selbstinduktionsspannung von 1 Volt entsteht. . Bezug zu CGS-Einheiten Im CGS-Einheitensystem gibt es je nach Variante unterschiedliche Maßeinheiten für Induktivität: Im elektromagnetischen CGS-Einheitensystem ist die Einheit der Centimeter (cm), der hier Abhenry (abH) genannt wird. Es gilt: 1 abH ≙ 10−9 H = 1 nH (Nanohenry) In einer Induktivität von 1 abH erzeugt ein um 1 Abampere pro Sekunde ansteigender Strom eine Spannung von 1 Abvolt. Im elektrostatischen CGS-Einheitensystem gilt für das Stathenry (statH): 1 statH ≙ {c}2 · 10−9 H ≈ 8,99 · 1011 H = 899 GH (Gigahenry), wobei {c} ≈  der Zahlenwert der Lichtgeschwindigkeit in der Einheit cm/s ist. In einer Induktivität von 1 statH erzeugt ein um 1 Statampere pro Sekunde ansteigender Strom eine Spannung von 1 Statvolt. Das Gauß’sche Einheitensystem, das das mit Abstand wichtigste CGS-System ist, übernimmt die Definition aus dem elektrostatischen CGS-Einheitensystem. Allerdings merkt John David Jackson in seinem Standardwerk Classical Electrodynamics an, dass hier keine Einheitlichkeit herrscht. Geschichte Vor der Einführung des SI wurde das heutige SI-Henry als absolutes Henry bezeichnet, das von der damaligen Definition des (internationalen) Ohm abgeleitete Henry dagegen als internationales Henry (siehe: Ohm#Geschichte). Da die nationalen Standardbehörden aufgrund der Messvorschriften der Definitionen unterschiedliche Umrechnungsfaktoren ermittelt hatten, gab es national unterschiedliche Zahlenwerte für das internationale Henry. Das Internationale Komitee für Maß und Gewicht legte 1946 das mittlere internationale Ohm mit 1,00049 Ω fest, womit auch gilt: 1 mittleres internationales Henry = 1 Hint = 1,000 49 H Bedeutend war auch das US-amerikanische internationale Henry: 1 US-amerikanisches internationales Henry = 1,000 495 H Das Henry wurde früher auch als Quadrant bezeichnet, da 1 Henry im elektromagnetischen CGS-Einheitensystem in Dimension und Länge einem Erdquadranten von 109 cm entspricht. Siehe auch Permeabilität Literatur Einzelnachweise Elektromagnetische Einheit
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hertz%20%28Einheit%29
Hertz (Einheit)
Das Hertz (Einheitenzeichen: Hz) ist die SI-Einheit der Frequenz. Sie gibt die Anzahl sich wiederholender Vorgänge pro Sekunde in einem periodischen Signal an. Die Einheit wurde 1930 nach dem deutschen Physiker Heinrich Hertz benannt. Geschichte Die Einheit, benannt nach Heinrich Hertz, wurde 1930 vom „technischen Komitee für elektrische und magnetische Größen und Einheiten“ der International Electrotechnical Commission (IEC) vorgeschlagen und 1935 im Rahmen des „Giorgi-Einheitensystems“ bzw. MKS-Einheitensystems eingeführt. Auf der 9. Generalkonferenz für Maß und Gewicht (CGPM) von 1948 wurde das Hertz in der Liste der Einheiten aufgeführt ist seit der Schaffung des Internationales Einheitensystems (SI) im Jahr 1960 Teil dieses Systems. Verwendung Trotz der Definition ist die Verwendung der Einheit nicht auf periodische Schwingungen beschränkt. Auch sich regelmäßig wiederholende Ereignisse, wie die Häufigkeit, mit der ein Computer Sicherungskopien von Dateien anlegt oder Steuerungsbefehle erteilt, lässt sich in der Einheit Hertz angeben (Taktfrequenz). Weiterhin wird sie für die Skalierung einer Koordinatenachse im Frequenzraum verwendet, beispielsweise bei einem Absorptionsspektrum oder einem Wellenpaket in der Quantenmechanik. Die Einheit Hertz soll dagegen nicht für die Angabe von statistisch gemittelten Häufigkeiten zufälliger Prozesse oder für die Angabe einer Winkelgeschwindigkeit oder Kreisfrequenz verwendet werden. Auch wenn diese Größen die gleiche Dimension besitzen und sie daher alle in der Einheit 1/s angegeben werden können, dient der Gebrauch unterschiedlicher Einheiten dazu, die Unterschiede der Größen zu betonen. Für radioaktiven Zerfall (Aktivität) wird die Einheit Becquerel verwendet, die ebenfalls als 1/s definiert ist, für Winkelgeschwindigkeit die Einheit rad/s. Gebräuchliche dezimale Vielfache Die Einheit Hz wird häufig mit folgenden Präfixen verwendet: Beispiele Eine Auswahl verschiedener Phänomene unterschiedlicher Frequenzen befindet sich in der Liste von Größenordnungen der Frequenz. Drehzahl In der Schwingungsmesstechnik wird die Drehzahl einer Maschine in Hertz angegeben, man spricht dann von Drehfrequenz. Davon abgesehen soll die Einheit Hertz nach DIN 1301 nicht für die Drehzahl verwendet werden. Stattdessen wird hier oft die Zahl der Umdrehungen pro Minute angegeben: 1 Hz = 60/min Elektromagnetische Welle Elektromagnetische Wellen breiten sich im freien Raum mit Lichtgeschwindigkeit aus. Eine Welle mit einer Frequenz von einem Megahertz (Radiowelle) hat zum Beispiel etwa die Wellenlänge von 300 Metern. Bei elektromagnetischen Wellen mit Frequenzen im Gigahertz-Bereich ist die Wellenlänge kleiner, zum Beispiel: Wellenlänge im Mikrowellenherd etwa 12 cm, Wellenlänge beim heimischen Satellitenfernsehempfang etwa 2,5 cm. Grünes Licht mit einer Wellenlänge von 555 nm hat eine Frequenz von 540 THz, was wiederum einer Energie von 2,2 eV (Elektronvolt) entspricht. Schallwelle Bei einer Flöte oder Pfeife schwingt Luft periodisch. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Schallwelle liegt etwa bei 343 Metern pro Sekunde (Schallgeschwindigkeit bei 20 °C Lufttemperatur). Die hörbaren Tonfrequenzen liegen im Bereich von etwa 16 Hz bis 20 kHz und entsprechen Wellenlängen von einigen Metern bis zu wenigen Zentimetern. Der standardmäßige Kammerton a1 ist auf 440 Hz festgelegt. Es gibt aber zahlreiche davon abweichende Gepflogenheiten, was als Kammerton verwendet wird. Stehende Welle Gegeben sei ein Seil, das an einem Ende befestigt und am anderen auf- und abwärts bewegt wird. Dieses Seil schwingt – mit etwas Geschick – als stehende Welle. Die Länge dieser Welle hängt von zwei Faktoren ab, der Geschwindigkeit der Wellenausbreitung auf dem Seil sowie der Frequenz, mit der das Seil am nicht befestigten Ende bewegt wird. Frequenzspektrum Eine Welle oder Schwingung beliebiger Form lässt sich als Überlagerung von Sinusfunktionen unterschiedlicher Frequenzen in einem Frequenzspektrum darstellen, bei der die Amplitude in Abhängigkeit von der Frequenz aufgetragen wird. Die Skalierung der Frequenzachse erfolgt dabei meist in Hertz. Weblinks Einzelnachweise Frequenzeinheit Heinrich Hertz als Namensgeber
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https://de.wikipedia.org/wiki/Horsepower
Horsepower
Horsepower ist eine Maßeinheit aus dem angloamerikanischen Maßsystem für die Größe Leistung mit dem Einheitenzeichen hp. Sie ist ursprünglich definiert über eine Masse von 33.000 angloamerikanischen Pfund, die um eine Höhe von einem Fuß in einem Zeitraum von einer Minute angehoben wird. Dies entspricht einer Leistung von fast exakt 745,7 Watt. Der Begriff Horsepower lässt sich zwar mit Pferdestärke übersetzen, der angloamerikanische Begriff Horsepower (genauer auch Mechanical Horsepower oder Imperial Horsepower) und der deutsche Begriff Pferdestärke (im Englischen genauer Metric Horsepower) sind aber leicht unterschiedliche Maßeinheiten: die Pferdestärke entspricht knapp 735,5 Watt. Definition Ein Horsepower ist definiert als: , wobei g die Erdbeschleunigung (Verhältnis Gewicht:Masse) ist. Verwendet man die seit 1901 international gültige Normfallbeschleunigung g0, so ergibt sich mit der seit 1959 gültigen Umrechnung der Einheiten Fuß in Meter und Pfund in Kilogramm: Umrechnung in andere Maßeinheiten Geschichte Thomas Savery, der Anfang des 18. Jahrhunderts eine frühe Form der Dampfmaschine erfunden hatte, soll als erster den Begriff Horsepower verwendet haben. Als Definition gab er an, dass eine Dampfmaschine, die in einem bestimmten Zeitraum die Arbeit von zwei Arbeitspferden verrichten kann, eine Leistung von 10 Horsepower habe, da die Dampfmaschine, anders als Arbeitspferde, dauerhaft arbeiten könne; um dauerhaft die Leistung von zwei Arbeitspferden zu erbringen, müsse man, so Savery, mindestens zehn Arbeitspferde vorhalten. James Watt, der die moderne Dampfmaschine erfunden hat, hat anscheinend den Begriff Horsepower von Savery übernommen. Watt legte zur Definition des Horsepowers die Maßeinheit Fußpfund pro Minute zugrunde. Es gibt unterschiedliche Darstellungen, wie Watt bestimmte, welche Leistung ein Pferd erbringen kann. Eine Darstellung besagt, dass Watt Arbeitspferde der Brauerei Barclay & Perkins mit einem über eine Umlenkrolle gespannten Seil ein Gewicht aus einem Loch anheben ließ. Watt stellte fest, dass ein Gewicht mit einer Masse von 100 angloamerikanischen Pfund angehoben werden konnte, während ein Pferd mit einer Geschwindigkeit von 2,5 Meilen pro Stunde lief. Dies entspricht 22.000 Fußpfund pro Minute. Watt erhöhte diesen Wert um 50 % auf 33.000 Fußpfund pro Minute, um mögliche Reibungsverluste zu kompensieren und die Leistungswerte seiner Dampfmaschinen zu schönigen. Eine andere Darstellung besagt, dass Watt maß, wie oft ein Arbeitspferd, das eine Zugkraft von 180 angloamerikanischen Pfund aufbringen konnte, einen Göpel mit einem Durchmesser von 24 Fuß in der Stunde drehen konnte. Watt stellte fest, dass ein Arbeitspferd den Göpel 144-mal in der Stunde drehen konnte. Dies entspricht 32.572 Fußpfund pro Minute, was Watt auf 33.000 Fußpfund pro Minute aufrundete. Beim internationalen Elektrikerkongress 1889 in Paris wurde erstmals die Empfehlung ausgesprochen, auf breiter Basis Horsepower durch besser geeignete Maßeinheiten der Leistung wie Watt und Kilowatt zu ersetzen. Die internationale elektrotechnische Kommission in Turin und die Standardisierungskommission des amerikanischen Instituts der Elektrotechnikingenieure empfahlen jeweils 1911, Horsepower endgültig durch Kilowatt zu ersetzen. In der Elektrotechnik wird daher seit dem frühen 20. Jahrhundert Watt bzw. Kilowatt als Maßeinheit der Leistung verwendet. Bei Maschinen, die mechanische Arbeit verrichten, insbesondere Verbrennungskraftmaschinen, wird hingegen noch heute im englischsprachigen Sprachraum Horsepower verwendet. Unterschied zur Pferdestärke 33.000 Fußpfund pro Minute entspricht 550 Fußpfund pro Sekunde. Der Name Horsepower wurde in verschiedene Sprachen übertragen, wobei in den jeweiligen Definitionen nicht immer 550 Fußpfund pro Sekunde herangezogen wurde. Die Werte schwankten auch wegen der nicht einheitlichen Definitionen der Einheiten Fuß und Pfund zwischen etwa 430 und 600 Fußpfund pro Sekunde. Mit der Einführung des metrischen Systems wurde eine Pferdestärke in vielen Staaten mit dem Heben von 75 Kilogramm um 1 Meter in 1 Sekunde festgelegt, während sich im angloamerikanischen Sprachraum weiterhin die Definition von 550 Fußpfund pro Sekunde hielt. Deshalb ist ein Horsepower rund 10 Watt größer als eine Pferdestärke. Zur Unterscheidung wird im Englischen auch von imperial horsepower oder mechanical horsepower, für Pferdestärke jedoch von metric horsepower gesprochen. Die Einheitenzeichen im englischsprachigen und deutschsprachigen Raum sind hp für Horsepower und PS für Pferdestärke. Definitionsschwäche Ein Schwachpunkt der historischen Definition der Einheit Horsepower ist die unklare Definition der Fallbeschleunigung bzw. Gravitation. Ein Fußpfund ist nur über die Erdgravitation mit der Arbeit verknüpft. Die Gravitation ist jedoch von mehreren Faktoren wie Breitengrad und Höhe abhängig. Dieses Problem bestand für James Watt zunächst nicht, da er annehmen konnte, dass die Gravitation auf der Erde ungefähr überall gleich groß ist und da er ohnehin keine solche Präzision benötigte. Da ein Horsepower ungefähr 746 Watt entspricht, wurde häufig der 50. Breitengrad auf Meeresspiegelniveau als Bezugspunkt herangezogen, weil sich dort mit 550 lb fast exakt 746 W/hp ergeben (Abweichung ca. 10−5). Mit der etwas geringeren Normfallbeschleunigung muss die Masse 550,22 angloamerikanische Pfund betragen, damit sich die gleiche Leistung ergibt. Geht man davon aus, dass die Gravitation des 50. Breitengrades auf Meeresspiegelhöhe als Bezugspunkt gewählt wird, so müsste die gehobene Masse beim Horsepower wie folgt an den Ort angepasst werden: Um dieses Definitionsproblem zu umgehen, wurde bereits auf dem Internationalen Elektrikerkongress in Paris 1889 und wiederholt 1911 vorgeschlagen, Watt bzw. Kilowatt zu verwenden, da es in der Definition des Watts keine Ortsabhängigkeit gibt. Man hatte 1901 auf der Generalkonferenz für Maß und Gewicht die bereits weit verbreiterte Normfallbeschleunigung von 9,80665 Meter pro Quadratsekunde festgelegt. Unter Beibehaltung der Masse von 550 angloamerikanischen Pfund wurde zwar von der ursprünglichen Definition abgewichen, aber eine Vergleichbarkeit erzielt. Varianten nach Zweck Je nach Einsatzzweck gibt es verschiedene Angabemöglichkeiten der Horsepower. Sie unterscheiden sich nicht in der Definition der Maßeinheit Horsepower, sondern darin, an welcher Stelle einer Maschine die Leistung gemessen beziehungsweise wie sie errechnet wird. Am gebräuchlichsten sind: Nominal Horsepower (nominelle Leistung); (nhp): Ungefähre Leistung einer Dampfmaschine, wird anhand der Zylindergröße und der Kolbengeschwindigkeit errechnet. Bei einem Dampfdruck von 7 lbf·in−2 (48 kPa) entspricht dies etwa der effektiven Leistung. Indicated Horsepower (indizierte Leistung) (hpi): ähnlich wie vor anhand verschiedener Kenngrößen errechnete theoretische Leistung von Kolbenmaschinen und Pumpen ohne Berücksichtigung der Verluste und Nebenaggregate. Brake Horsepower (bhp, hp): Auf Deutsch: Bremsleistung, ist die mit einem Bremsenprüfstand an einer bestimmten Stelle eines Motors oder an einer Maschine, z. B. an der Kurbelwelle, der Abtriebswelle des Getriebes, der Antriebsachse oder den Antriebsrädern eines Fahrzeuges mittels Bremse (Bremsmoment) und Drehzahlmesser gemessene Leistung. Sie wird oft als die an der Kurbelwelle gemessene Leistung bei Kraftfahrzeugmotoren angegeben und wurde vor allem in den USA vor 1972 verwendet. Shaft Horsepower (Wellenleistung bzw. effektive Leistung) (shp, hpe, eshp): An der Getriebeausgangswelle eines an die Maschine angeflanschten Getriebes gemessene Leistung. Andere Maßeinheiten mit ähnlichen Namen Es gibt weitere Maßeinheiten, in deren Namen der Begriff „Horsepower“ vorkommt, die aber anders als Horsepower definiert sind: Pferdestärke (PS): Maßeinheit der Leistung. Basiert ebenfalls auf Masse, Länge und Zeit. Anstelle von 550 angloamerikanischen Pfund und einem Fuß werden 75 Kilogramm und ein Meter zugrunde gelegt. Electric Motor Horsepower: Maßeinheit der Leistung; entspricht je nach Definition Horsepower oder Pferdestärke Drawbar Horsepower: Maßeinheit der Leistung; entspricht 375 mit Normalfallbeschleunigung beschleunigten angloamerikanischen Pfund über eine Länge von einer Landmeile innerhalb eines Zeitraumes von einer Stunde (375 lbf·mi·h−1) und ist somit einem Horsepower gleich. RAC Horsepower: Ein Maß für die Besteuerung von Kraftfahrzeugen. RAC Horsepower wurde anhand der Zylinderbohrung und Zylinderanzahl bestimmt und hat daher keinen Bezug zur physikalischen Leistung. Hydraulic Horsepower: Maßeinheit der Leistung; ein Maß für die auf eine Flüssigkeit übertragene kinetische Energie pro Zeitspanne bei 100 % Pumpenwirkungsgrad. Definiert als Masse von einem angloamerikanischen Pfund pro Quadratzoll multipliziert mit der Normalfallbeschleunigung und der Flussrate von einer US-amerikanischen Flüssiggallone pro Minute geteilt durch 1714 (1 lbf·in−2·US gal·1714−1). Entspricht ungefähr einem Horsepower. Air Horsepower: Maßeinheit der Leistung; wie Hydraulic Horsepower, aber mit Luft anstelle einer Flüssigkeit Boiler Horsepower: Maßeinheit für thermische Leistung; entspricht der Leistung, die notwendig ist, um bei einer Temperatur von 212 °F Wasser mit einer Masse von 34,5 angloamerikanischen Pfund innerhalb einer Stunde vollständig zu verdampfen. Gleicht 9,3 British thermal units pro Sekunde oder 13,16 Horsepower. Anmerkungen Einzelnachweise Leistungseinheit Angloamerikanische Einheit James Watt Technische Maßeinheit Veraltete Einheit (Physik) Kraftfahrzeugtechnik Pferd als Zugtier
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https://de.wikipedia.org/wiki/Horsepower-hour
Horsepower-hour
Horsepower-hour (Einheitenzeichen: hph) ist eine im SI nicht zulässige Maßeinheit der Energie. Sie bezeichnet bildhaft gesprochen die Arbeit, die ein Pferd in einer Stunde zu vollbringen fähig ist (die Leistung eines Pferdes über die Zeitdauer von einer Stunde integriert). Aufgrund gewisser Abweichungen in der Definition einer Pferdestärke stimmt die horsepower-hour nicht ganz genau mit der früher auch im deutschen Sprachraum verwendeten Pferdestärkenstunde (abgekürzt PSh) überein. 1 hph = 1,014 PSh = 0,7457 kWh Energieeinheit
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hannover%20%28Begriffskl%C3%A4rung%29
Hannover (Begriffsklärung)
Hannover steht für: Hannover, die Landeshauptstadt von Niedersachsen Stadtverwaltung Hannover, kommunale Selbstverwaltung der Landeshauptstadt Hannover den statistischen Bezirk Hannover Hannover (Suriname), Stadt im Distrikt Para in Suriname Hannover, North Dakota Territorien: Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg (1692–1803/14), auch Kurhannover oder Hannover genannt Königreich Hannover (1814–1866) Provinz Hannover (1866–1946) im Königreich Preußen und später im Freistaat Preußen Land Hannover (23. August bis 31. Oktober 1946) innerhalb der Britischen Besatzungszone Hannover-Savanne, eine Steppenregion in Suriname, südlich der Hauptstadt Paramaribo Gemeindeverbände: Landkreis Hannover (1885–2001) Region Hannover (seit 2001) Personen: Haus Hannover, eine welfische Dynastie Adolph Hannover (1814–1894), dänischer Arzt, Anatom und Pathologe Alexandra Prinzessin von Hannover (1937–2015), deutsche Politikerin (CDU) und Philanthropin Bettina Hannover (* 1959), deutsche Psychologin und Erziehungswissenschaftlerin Caroline von Hannover (* 1957), monegassische Prinzessin Elisabeth Hannover-Drück (1928–2009), deutsche Frauenrechtlerin und Historikerin Ernst August von Hannover (1954) (* 1954), deutscher Adliger, Oberhaupt des Hauses der Welfen Ernst August von Hannover (1983) (* 1983), deutscher Adelsnachkomme, Erbprinz des Hauses der Welfen, Landwirt und Investmentbanker Friedrich Ludwig von Hannover (1707–1751), Prinz von Wales Georg Wilhelm von Hannover (1915–2006), deutscher Adliger, Leiter der Schule Schloss Salem Heinrich Hannover (1925–2023), deutscher Jurist und Autor Heinrich Prinz von Hannover (* 1961), deutscher Historiker und Verleger Irmela Hannover (* 1954), deutsche Juristin, Autorin und Fernsehmoderatorin Maria-Luise von Hannover-Cumberland (1879–1948), Prinzessin von Großbritannien und Irland, Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg Nathan Hannover (* um 1610; † 1683), jüdischer Talmud-Gelehrter und Chronist Otto Schmidt-Hannover (1888–1971), deutscher (preußischer) Offizier; deutscher Politiker (DNVP), MdR Rafael Levi Hannover (1685–1779), deutscher Mathematiker und Astronom, siehe Rafael Levi Sophie Charlotte von Hannover (1668–1705), preußische Königin Schiffe: Hannover (Schiff, 1899), ein Frachtschiff des Norddeutschen Lloyds Hannover (Schiff, 1939), Frachtschiff des Norddeutschen Lloyds, 1941 umgebaut zum ersten Geleitflugzeugträger HMS Audacity (D10) SMS Hannover, Linienschiff der Kaiserlichen Marine Hannover, ehemaliger Name des Fährschiffes Spiekeroog II Sonstiges: (295565) Hannover, ein Hauptgürtelasteroid Hannover 96, der Hannoversche Sportverein (HSV) von 1896 e. V Hannover Harmonists, 1988 gegründetes Vokalensemble aus 5 A-cappella-Sängern Hannoverpaß, Pass in der Antarktis Zeche Hannover, Bergwerk in Bochum Siehe auch: Hannöver Hannoveraner Hanover Hannoversches Amtshaus Neuhannover, früherer Name der Insel Lavongai
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hypertext
Hypertext
Ein (IPA: , ; Wortbildung aus und ) ist ein Text mit einer netzförmigen, dynamischen Struktur, in der die gewohnte Ordnung (lineare Sequenzialität) statischer gedruckter Publikationen technisch aufgebrochen wird. Vom typischen Buch unterscheidet er sich dadurch, dass er nicht dafür geschrieben ist, von Anfang bis Ende in der veröffentlichten Reihenfolge gelesen zu werden. Er wird in Auszeichnungssprachen geschrieben, die neben für den Leser nicht sichtbaren Gestaltungsanweisungen auch Hyperlinks enthalten, also Querverweise zu entfernten Textpassagen oder anderen Dokumenten im Netzwerk. Die gebräuchlichste Auszeichnungssprache für Internetdokumente ist die (HTML), die in der Gegenwart allgegenwärtig ist. Ein Hypertext kann informatisch als Netzwerk aus Hypertext-Knoten beschrieben werden, die durch Hyperlink-Kanten verbunden sind. Das Konzept geht auf Vannevar Bushs Memex aus dem Jahr 1945 zurück. Der Begriff wurde 1965 von Ted Nelson geprägt. Die Erfindung des Hypertextes ist kulturhistorisch eng mit dem enzyklopädischen Gedanken und der Idee der Universalbibliothek verbunden und sollte praktisch zur Auffindbarkeit von publizierten Forschungsergebnissen und zur Entwicklung besserer Schreibmaschinen beitragen. Die maßgebliche Definition liefert das World Wide Web Consortium (W3C). Definition Als maßgeblich kann der Definitionsversuch des World Wide Web Consortium (W3C) angenommen werden: Hypertext ist ein Text, der nicht linear (non-linear) sein muss (not constrained to be linear). Hypertext ist ein Text, der Links zu anderen Texten enthält. HyperMedia ist ein Hypertext, der auch Grafiken, Videos oder Klänge enthalten kann (not constrained to be text). Hypertext und HyperMedia sind Konzepte, keine Produkte. Typen von Hypertext-Systemen Jeffrey Conklin untersuchte 1987 systematisch die Eigenschaften von 18 Hypertext-Systemen und bildete aufgrund typischer Anwendungsfälle vier Systemklassen: makro-literarische Systeme, die maschinenunterstützt den Umgang mit großen Online-Bibliotheken erleichtern und als Plattform für alle relevanten Arbeitsschritte wie veröffentlichen, lesen, zusammenarbeiten und kritisieren dienen sollen. Heuristische Werkzeuge (problem exploration), mit deren Hilfe die erste unstrukturierte Ideenfindungsphase eines Arbeitsprozesses überführt werden kann in Entwurfserstellung, Problemlösen, Programmierung oder Design. Lese-Systeme (browsing systems), die vor allem niedrigschwellig nutzbar sein sollen, um in der Lehre, zum Nachschlagen oder an öffentlichen Orten eingesetzt zu werden. Generelle Hypertext-Technologie, die vor allem experimentellen Zwecken dienen soll. Geschichte und Entwicklung Vorläufer und historische Konzepte Nicht jede Eigenschaft des Hypertextes ist eine Innovation des 20. Jahrhunderts. Bereits einige im Aufschreibesystem der Neuzeit eingeführten und verwendeten Erschließungshilfen für traditionelle lineare Texte wie Inhaltsverzeichnisse, Indizes, Querverweise und Fußnoten und andere Verweissysteme lassen sich funktional bestimmten Schreib- und Editionstechniken des Hypertextes zuordnen. Im Unterschied zu digitalen Hypertext-Systemen müssen bei materiellen Texten jedoch die Verweisziele vor Ort präsent sein, damit der Leser dem Verweis folgen kann, und das Verfolgen der Verweise kann nicht mechanisiert vorgenommen werden. Als mechanische Vorläufer digitaler Hypertextsysteme gelten Agostino Ramellis Bücherrad aus dem 16. Jahrhundert und Raymond Roussels Lesemaschine, eine Art Wechselrad für Notizzettel. Paul Otlet, 1895 Mitgründer des Office International de Bibliographie in Brüssel, Herausgeber der Universalklassifikation und ein Vordenker des Völkerbunds, gilt aufgrund seiner systematischen Bemühungen um eine Universalbibliothek mit einer Universalbibliographie (dem Mundaneum) als früher Pionier des Hypertextes. As We May Think (1945) Das moderne Hypertext-Konzept wurde 1945 vom US-amerikanischen Wissenschaftsorganisator und Politikberater Vannevar Bush in dem Aufsatz As We May Think vorgestellt, der in der Zeitschrift The Atlantic Monthly erschien. Ausgehend von der forschungspolitischen Forderung, im Dienste der globalen und friedlichen Verbesserung der Lebenszustände der Menschheit die wissenschaftliche Zusammenarbeit zu verbessern und geschickter zu koordinieren, stellt Bush das Konzept für den MEMEX (Memory Extender) vor, eine vernetzte Schreib-/Lesemaschine, die niemals tatsächlich konstruiert wurde. Im MEMEX kann die gesammelte Literatur eines bestimmten Gebietes elektronisch aufbereitet leicht zugänglich dargestellt, zitiert und annotiert werden. Zitationen und Annotationen können hierbei zwischen einzelnen Geräten und Nutzern ausgetauscht werden. Eine zentrale Funktion ist der Wechsel zwischen Texten, um zum Beispiel Fußnoten und Verweisen zu folgen, wobei die „Lesespur“ des MEMEX-Nutzers elektronisch festgehalten und jederzeit nachverfolgt werden kann. Eine der Prognosen Bushs ist, dass auf diesem Weg auch „Enzyklopädien ganz neuen Typs“ entstehen würden. Eine Dateistruktur für das Komplexe, das Veränderliche und das Unbestimmte Der Philosoph und Informatiker Ted Nelson (Projekt Xanadu) prägte den Begriff Hypertext im Jahr 1965 in einem veröffentlichten Vortrag vor der Amerikanischen Association for Computing Machinery (ACM) mit dem Titel A File Structure for the Complex, the Changing and the Indeterminate (deutsch Eine Dateistruktur für das Komplexe, das Veränderliche und das Unbestimmte). Ausgehend von den Verrichtungen, Verfahren und Werkzeugen, die in der bekannten analogen Textproduktion eingesetzt werden, beschreibt er eine computerbasierte Schreibmaschine, die alle bisher bekannten und genutzten Techniken als Universalwerkzeug vereint und sinnvoll erweitert. Als Erweiterungen schlägt er ein Versionierungssystem, technische Unterstützung kollaborativer Textproduktion, Zitationsobjekte und ein System der bedarfsabhängigen Textmontage vor. Seine technologischen Vorschläge fußen hierbei auf der philosophischen Überzeugung, dass sich selbst kognitive Kategorien dynamisch verändern, und deshalb ein Schreibsystem dynamisch angepasst werden können sollte. Man kann zu Recht Nelsons Entwurf mit der realisierten Wikipedia (oder der MediaWiki-Software) vergleichen. Nelson selbst nennt sein ideales kollaboratives dynamisches System den Dream File, dessen technische Seite ein Evolutionary List File (ELF) auf Grundlage von sehr einfach strukturierten „gezipperten“ Listen sei. Information Management: a Proposal (1989) Das erste Hypertextsystem, das aufgrund seiner Praxistauglichkeit handhabbar war, wurde 1989 vom britischen Physiker und Informatiker Sir Tim Berners-Lee an der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) in Genf entwickelt. Berners-Lee schlug der Leitung des CERN erfolgreich vor, durch ein verbessertes Informationsmanagement rund um die durchgeführten Experimente Datenverlust und Mehrfacharbeit zu verringern. Technisch sollte dieses neue Informationsmanagement mit Hilfe von einer netzwerkförmigen Datenstruktur mit einem Client-Server-Modell umgesetzt werden, deren Sprache Hypertext sein sollte. Berners-Lee hoffte, auf diese Weise die Beschränkungen und Probleme von hierarchischen „Baum-Systemen“ und „Schlagwortkatalogen“ (keywords) zu umgehen. Aus diesem historischen Vorschlag entwickelte sich das World Wide Web (WWW), dessen Struktur und dessen Beschreibungssprachen bis heute vom World Wide Web Consortium unter der Leitung von Berners-Lee gepflegt und weiterentwickelt werden. Eigenschaften Hypertext codiert im Vergleich zu linearen Informationsdarstellungen komplexe Informationen vergleichsweise redundanzarm. Redundanzfreiheit spart Speicher und Übertragungsbandbreite und vereinfacht die Wartung und Aktualisierung von Inhalten, weil ein zentral hinterlegter Wert nur einmal geändert werden muss, um an allen Stellen angezeigt zu werden, die mit dem Wert verknüpft sind. Die assoziative Struktur eines Hypertextes scheint mehr der Funktionsweise des menschlichen Denkens zu ähneln als rein lineare Texte. Der Pädagoge Rolf Schulmeister verweist in diesem Zusammenhang auf die „kognitive Plausibilitätshypothese“. Konkrete Hypertextsysteme und technische Vorläufer Das in der Gegenwart am weitesten verbreitete Hypertext-System ist der Internetdienst World Wide Web (WWW), der 1989 von Sir Tim Berners-Lee am CERN vorgeschlagen wurde. Die Auszeichnungssprache, die standardisiert verwendet wird, ist die Hypertext Markup Language (HTML). Die technischen Spezifikationen und versionierten Weiterentwicklungen werden vom international anerkannten World Wide Web Consortium (W3C, unter Vorsitz von Sir Tim Berners-Lee) vorgeschlagen und typischerweise in internationale und nationale Normgebungsverfahren übernommen. Das WWW erlaubt auch das Einbinden von nichtsprachlichen Datentypen wie Bildern, ist also streng genommen ein Hypermedia-System. Emanuel Goldberg patentierte 1931 in den USA die „Statistische Maschine“, die mit Hilfe von Lichtstrahlen und photoelektrischen Röhren addieren, sortieren und andere „statistische Operationen“ ausführen sollte. Diese Erfindung kann mit der Entwicklung des MEMEX in Verbindung gebracht werden. Roberto Busa gilt als einer der Pioniere der wissenschaftlichen Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften (Digital Humanities) und war ab 1946 Herausgeber des Index Thomisticus, einer 56-bändigen Erschließungshilfe für die Werke Thomas von Aquins mit 70.000 Seiten. Busa konnte durch den Einsatz von IBM-Technik die Dauer der Edition von vermuteten vierzig auf sieben Jahre reduzieren. Sein System kann als hypertextförmig beschrieben werden. HyperCard von Apple wurde als Teil der Softwareausstattung des Macintosh ausgeliefert und war damit früh einer größeren Nutzergruppe zugänglich. Hypertext und Literatur Als literarischer Vorreiter des Hypertextes gilt der österreichische Schriftsteller Andreas Okopenko, der mit seinem Lexikon-Roman den ersten literarischen Hypertext in Buchform bereits 1970 vorlegte. Der Lexikon-Roman wurde 1998 in Zusammenarbeit zwischen dem Autor, dem Kollektiv Libraries of the Mind und dem Komponisten Karlheinz Essl junior als ELEX – Elektronischer Lexikon-Roman auf CD-ROM veröffentlicht. Eine fiktionale Erzählung, welche mit und für die Hypertextstruktur geschrieben wird, bezeichnet man als Hyperfiction. Diese kann wie Afternoon – A story (1987) von Michael Joyce auch in Printform als Offline-Hyperfiction veröffentlicht werden. Als Vorläufer der Hyperfiction können komplexe Klassiker der modernen Literatur gesehen werden, wie James Joyce’ Finnegans Wake (1939), das als „netzwerkförmig“ gelesen werden kann, oder Zettels Traum (1970) von Arno Schmidt. Ein Beispiel für ein Hypertext-artiges Gedicht sind die Hunderttausend Milliarden Gedichte von Raymond Queneau (1961). Forschungsfragen Ein Problem beim Arbeiten mit Hypertext ist das gezielte Auffinden von Informationen. Während literate Menschen über Jahrhunderte in der Rezeption von linearen Texten geschult worden sind, begann man erst mit der zunehmenden Verbreitung des World Wide Web seit Mitte der 1990er Jahre den Umgang mit komplexen Hypertexten zu erlernen. Hilfsmittel wie Suchmaschinen und Suchfunktionen auf den Webseiten unterstützen den Nutzer. Technisch fehlen dem WWW wichtige Funktionen früherer Hypertextsysteme. So ist zum Beispiel das Problem der so genannten toten Links im WWW ungelöst, die nicht oder nicht mehr zum gewünschten Ziel führen. Auch die Einführung der Uniform Resource Identifiers (URIs) ist über die im Web gebräuchlichen URLs nur unvollständig erfüllt. Ein weiteres Problem ist das Navigieren in Hypertexten, da vor allem in den Anfangsjahren häufig eine vom Autor vorgegebene Lesestruktur (zum Beispiel eine Guided Tour) fehlte. Heute verfügen Hypertexte in der Regel über eine ausgefeilte Navigation. Als Folge eines Übermaßes an Querverweisen kann ein sogenannter Information Overload, die Überflutung mit ungeordneten Informationen und eine Desorientiertheit im weit verzweigten Netz von Texten (Lost in Hyperspace) entstehen. Die Lesegewohnheiten spielen hierbei eine wichtige Rolle. So haben online-affine Nutzer weniger Schwierigkeiten damit, das Lesen eines Textes zu unterbrechen, um einem Querverweis zu folgen. Problemlösungsansätze bieten virtuelle Mindmaps und Web-Ontologien. Erst in Ansätzen gelöst ist das Problem der Visualisierung von Hypertexten, also die grafisch aufbereitete Darstellung der typischerweise netzwerkförmigen und daher nicht hierarchisch präsentierbaren Struktur eines Hypertextes (siehe auch Hyperbolic Tree). In Hypertext ist die Reihenfolge variabel, in der Wortschaftbestandteile (lexia) präsentiert werden. Marie-Laure Ryan vertritt die Ansicht, dass die Beschreibung von Hypertext als nicht-linear nicht ganz zutreffend sei, denn was im Leseprozess ausgewählt wird, behalte dennoch eine lineare Ordnung (sequential order). Stattdessen schlägt Ryan für diese Eigenart der Hypertexte den Begriff multilinear vor. Siehe auch Chronologie der Hypertext-Technologien E-Text Hypertextualität Hypertextorganisation Literatur Primärtexte Sir Tim Berners-Lee: Information Management: a Proposal. CERN 1989, (w3.org). Vannevar Bush: As We May Think. In: Atlantic Monthly, 176, S. 101–108 (theatlantic.com). Paul Otlet: Traité de documentation. Brüssel 1934. Nachdruck: Centre de lecture publique de la Communauté française de Belgique 1989, ISBN 2-87130-015-1 (). Textsammlungen Tilman Baumgärtel (Hg.): Texte zur Theorie des Internets. (=Reclams Universal-Bibliothek 19476). 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Index und Bibliographie) Thomas Dreher (2011f.) in IASonline zur Geschichte des Hypertext (mit guten Abbildungen und mit Schwerpunkt Hypertextliteratur) Bee-Hive the Hypertext/Hypermedia Literary Journal Cyberfiction – Schweizer Magazin, das sich mit Hypertext/-fictions beschäftigt Hypertext und Sprachwissenschaft – Dissertation von Oliver Huber 'Der Looppool' – Ein Hypertext Beispiel zum Hören, Lesen und Selbersteuern, Bas Böttcher Das SelfHTML – Wiki (Guter Einstieg zum lernen der gängigsten Beschreibungssprache HTML) Einzelnachweise Digitale Medien Dokumentation Medienwissenschaft Geschichte der Schrift
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heiliger%20Krieg
Heiliger Krieg
Als Heiligen Krieg bezeichnet man eine kollektive organisierte Gewaltanwendung (Krieg), die aus einer Religion heraus begründet wird, etwa mit Vorstellungen vom Auftrag eines Gottes und seines Eingreifens in das Kriegsgeschehen. Solche Gründe werden oft in Gesellschaftsordnungen angegeben, in denen politische und religiöse Machthaber identisch oder eng verbunden sind. Sie rechtfertigen dann deren Ordnung, ihre Verteidigung, Stärkung und/oder Expansion als gottgewollt. Der Begriff entstand im Hellenismus und wurde im Christentum seit dem Hochmittelalter für die Kreuzzüge üblich. In der Neuzeit legitimierte er auch von Nationalismus motivierte Kriege, im deutschen Sprachraum besonders die antinapoleonischen Befreiungskriege, und überhöhte sie zu einem Weltanschauungskampf. Ähnliche Konzepte anderer Religionen, etwa der Dschihad im Islam, werden oft mit dem im christianisierten Europa entstandenen Begriff verglichen, aber in der Forschung nicht gleichgesetzt. Auch der an rationale ethische Kriterien gebundene Gerechte Krieg wird vom Heiligen Krieg unterschieden. Alter Orient Im Alten Orient lassen sich politisch und religiös bedingte oder begründete Kriege kaum voneinander trennen. Die Großreiche Babylonien, Assyrien, Ägypten führten ihre Eroberungsfeldzüge oft unter religiösen Vorzeichen, etwa indem sie ihre Götter im Orakel befragten oder auf göttliche Aufträge an den Herrscher verwiesen. In Urartu wurde in Inschriften durchgehend beschrieben, dass der Gott Ḫaldi dem Heer mit seinem šuri voranging. Der König führt den Krieg auf Befehl des Gottes. Ansonsten hatten diese Kriege meist rein politische und ökonomische, keine religiösen Ziele. Auch in der Kriegführung spielten religiöse Elemente keine bestimmende Rolle. Daher redet die Geschichtswissenschaft hier nur eingeschränkt von Heiligen Kriegen. Antikes Griechenland Im antiken Griechenland wurden Kriege zum Schutz des Apollonheiligtums in Delphi und seiner Besitzungen gegen räuberische Nachbarn als Heilige Kriege nach Amphiktyonenrecht geführt: Den Ersten Heiligen Krieg führten Athen und der Tyrann Kleisthenes von Sikyon 600–590 v. Chr. gegen Krissa. Den Zweiten führten die Spartaner 448 gegen Phokis, den Dritten (355–346 v. Chr.) veranlassten die Lokrer, unterstützt von den Thebanern. Den Vierten Heiligen Krieg (339–338) führte König Philipp im Auftrag der Amphiktyonen gegen das der Verletzung von Tempelgebiet angeklagte Amphissa, das 338 zerstört wurde. In der Spätantike nahm der Perserkrieg des Herakleios Formen eines Heiligen Krieges an. Da das Römische Reich seine Eroberungsfeldzüge regulär mit religiösen Riten legitimierte und vorbereitete, wird eine Unterteilung in heilige oder säkulare Kriege hier als anachronistisch beurteilt. Hebräische Bibel Der Begriff „Heiliger Krieg“ erscheint sinngemäß im Tanach nur einmal . Der Ausdruck „Krieg JHWHs“ ist jedoch im 4. Buch Mose, im Buch der Richter, im ersten und zweiten Samuelbuch oft anzutreffen. Gerhard von Rad führte die dort geschilderten Einzelschlachten aus der Frühzeit der Israeliten in einem Aufsatz von 1947 auf eine charismatisch gelenkte Kriegführung eines Zwölfstämmebundes zurück und löste damit eine bis heute anhaltende Forschungsdebatte aus. Seine Grundthese einer besonderen vorstaatlichen, von einer israelitischen Amphiktyonie gebildeten sakralen Institution wurde seit 1972 durch Nachweise genauer altorientalischer Parallelen widerlegt. Die literarische Tradition einer von JHWH gelenkten Kriegführung hat sich gleichwohl in der Bibel von frühen Anfängen der Toraverschriftung bis zur späten jüdischen Apokalyptik durchgehalten und zu großen prophetischen Friedensvisionen fortentwickelt. Vorstaatliche Zeit Im Mirjamlied, das als Keimzelle der Erzählung vom Auszug aus Ägypten gilt, heißt es (): Singt dem Herrn ein Lied, denn er ist hoch und erhaben! Rosse und Wagen warf er ins Meer. Die Israeliten sahen ihre Rettung vor dem übermächtigen Heer des Pharao, das ohne ihr Zutun im Schilfmeer versank, als Wundertat ihres Gottes (): JHWH kämpft für euch, ihr aber werdet ruhig sein. Gott blieb für sie fortan der eigentlich Kämpfende in sonst auswegloser Lage (v. 3ff): Der Herr ist ein Krieger, Jahwe ist sein Name. […] Deine Rechte, Herr, ist herrlich an Stärke; deine Rechte, Herr, zerschmettert den Feind. Im 4. Buch Mose („Buch der Kriege JHWHs“, ) und im Buch Josua werden die Wüstenzeit und Landnahme (etwa 1200–1000 v. Chr.) als überwiegend kriegerische Eroberung, Vertreibung und teilweise Ausrottung der Bewohner Kanaans dargestellt. Das Buch Richter schildert die JHWH-Kriege als spontane Verteidigungsfeldzüge einiger der Zwölf Stämme Israels. Sie stellten nur dann ein gemeinsames Heer auf, wenn feindliche Angriffe, meist Raubzüge, die Existenz einzelner Stämme bedrohten. Diese Abwehrschlachten wurden später dem ganzen schon sesshaft gewordenen und im Glauben an JHWH geeinten Stämmebund zugeschrieben. Dieser hatte keine festen Anführer und keine politische und kultische Zentralmacht. Einzelne fühlten sich von Fall zu Fall vom Heiligen Geist ergriffen und legitimiert, einen Krieg JHWHs auszurufen und die wehrfähigen und kampfbereiten Israeliten zu sammeln. Diese charismatischen Heerführer nannten sich „Richter“ im Sinne von „Retter“, da ein JHWH-Krieg Israels Lebensrecht schützen sollte (; ). Verstreute Notizen zeigen nach Gerhard von Rad dessen Grundmotive: Der vom Geist Gottes ergriffene Anführer bläst die Posaune und sendet Boten zu den am meisten gefährdeten Stämmen, um ein Heer aufzustellen (Ri 6,34ff). Als Zeichen der Dringlichkeit führen die Boten blutige Stücke eines zerteilten Opfertieres (1Sam 11,7) oder einer von den Angreifern ermordeten Frau mit (Ri 19,29). Die „Mannschaft JHWHs“ – nur Landbauern als Fußvolk ohne Pferde und Streitwagen – sammelt sich in einem Lager (Ri 5,11.13; 20,2). Die wehrfähigen, nach Stämmegruppen eingeteilten Männer werden sakral geweiht (Dtn 23,9ff; Jos 3,5; 1Sam 21,5f). Alle, die ein neues Haus gebaut haben, einer Ernte entgegensehen, frisch vermählt oder furchtsam sind, werden entlassen (Dtn 20,5–8; Ri 6,3). Opfer werden dargebracht (1Sam 7,9; 13,9f). Ein „Seher“ befragt Gott (Ri 20,23.27; 1Sam 7,9). Erhält er die Zusage JHWH hat die Feinde in deine Hand gegeben (Jos 2,24; 6,2; Ri 3,27f; 4,7.14; 7,9.15 u. a.), ruft der Heerführer die Krieger zu Furchtlosigkeit auf, da Gott ihnen „voranziehe“ (Dtn 20,4; Ri 4,14). Posaunenblasen und lautes Geschrei eröffnen den Kampf (Jos 6,5; Ri 7,20), in den JHWH mit Naturmächten wie Wind, Hagel, Wasserfluten eingreift. Die Feinde zittern und verzagen (Ex 15,14ff; Dtn 2,25; Jos 5,1; 1Sam 4,7f). Der „Gottesschrecken“ überfällt sie und versetzt sie in panische Angst, schlägt sie in die Flucht oder stürzt sie in tödliche Verwirrung (Ex 23,27; Dtn 7,20.23; Jos 10,10; 24,12; Ri 4,15; 7,21f). Nach dem Sieg wird der „Bann“ vollstreckt: nach Jos 6,18f und 1Sam 15 an allen überlebenden Feinden, nach Dtn 20,16f nur an männlichen Kämpfern, die ein Kapitulationsangebot zuvor ausschlugen. Die Beute der Besiegten wird JHWH geweiht und teils verbrannt, teils verteilt. Das Heer wird mit dem Ruf Zu deinen Zelten, Israel! entlassen. Besonders in den Kämpfen mit den Philistern wurde die Bundeslade, eine Art mobiler Gottesthron, mitgeführt, um Siegesgewissheit und Kampfbereitschaft zu erhöhen. Die Eroberung kanaanäischer Städte wie Jericho wurde rückblickend als Ausrottung der Besiegten auf Befehl Gottes dargestellt (z. B. Jos 6,21; Dtn 25,17ff). Israels erster König Saul wurde nach 1Sam 15,2f.9f verworfen, weil er das Banngebot gegenüber den Amalekitern nicht vollständig erfüllt habe. Auf der Mescha-Stele dokumentiert der Moabiter-König Mescha, wie er auf Befehl seines Gottes eine israelitische Stadt einnahm, deren Einwohner und Vieh allesamt tötete und die Beute seinem Gott weihte. Der „Bannfluch“ war also keine Besonderheit Israels (Ri 11,24). Dessen Nachbarvölker wurden nach der deuteronomistischen Redaktion (nach 586) gerade nicht vernichtet, damit spätere Generationen Israels das Kriegführen nicht verlernten (Ri 3,1–3). Im Anschluss an Ex 14,14 reduziert das Richterbuch die menschliche Mitwirkung an Gottes Krieg und betont immer stärker seine alleinige Rettungstat. Nach dem ersten überlieferten Krieg JHWHs lobt die Prophetin Debora noch die Beteiligten, die „JHWH zu Hilfe eilten“, und tadelt die Nichtbeteiligten (Ri 5,23). In einer Gottesrede vor den Stämmevertretern in Sichem heißt es dagegen (Jos 24,12): Und ich sandte Angst und Schrecken vor euch her, die trieben sie vor euch weg, die beiden Könige der Amoriter, und nicht dein Schwert oder dein Bogen. Auch Ri 6 stellt Gottes Kriegführung gegen menschliche Militärmacht: Gideon muss von 32.000 Mann alle bis auf 300 entlassen. Die hoffnungslos unterlegene Minderheit besiegt die haushoch überlegenen Midianiter nur durch nächtliche Umstellung ihres Lagers, Posaunenlärm und die so erzeugte Furcht. Diesen Akzent setzt auch die Erzählung vom jungen Hirten David, der den schwerbewaffneten Philister Goliat nur mit einer Steinschleuder besiegt (1Sam 17,45ff): Du kommst zu mir mit Schwert, Speer und Sichelschwert, ich aber komme zu dir im Namen des Herrn der Heere, des Gottes der Schlachtreihen Israels, den du verhöhnt hast. […] Alle Welt soll erkennen, dass Israel einen Gott hat. Auch alle, die hier versammelt sind, sollen erkennen, dass der Herr nicht durch Schwert und Speer Rettung verschafft; denn es ist ein Krieg des Herrn und er wird euch in unsere Gewalt geben. Königszeit Saul, der erste König Israels, war vom Propheten Samuel designiert (1Sam 10,1) und nach erfolgreicher Schlacht vom Volk gewählt worden (1Sam 11,15). Er bot letztmals das alte „Volksheer“ auf (1Sam 11,6f), unterstellte es rituellen Geboten (1Sam 14,24) und erkannte JHWH nach erfolgloser Befragung als den wahren „Retter Israels“ an (1Sam 14,39). Die folgenden Herrscher Israels behielten das Orakel bei, sahen sich aber selbst als die Kriegführenden und Siegreichen (2Sam 8,6.14): JHWH half David in allem, was er tat. Damit war Gott zum Helfer des Königs geworden, während die Richter Helfer Gottes gewesen waren. Indem David die Bundeslade nach Jerusalem überführte, band er den JHWH-Glauben an einen festen Kultort (2Sam 6). Daraufhin gab ihm ein Hofprophet die Zusage ewigen Bestandes seiner Dynastie (2Sam 7,16). Gott wirkte nun durch den bei der Inthronisation gesalbten König, der als Heerführer die charismatischen Retter ersetzte (2Sam 8,14) und ein stehendes Heer unter am Hof angestellten Militäroffizieren einrichtete (2Sam 8,16). Das Militär wurde mit Musterungen und Volkszählungen (2Sam 24), Garnisonen, Streitwagenkontingenten (1Kön 10,26) und Festungsbau (2Chr 11,5ff; 26,9ff) zur festen Institution. Die Kriege der Königszeit in Israel und Juda wurden daher nicht mehr als JHWH-Kriege dargestellt. Vielmehr traten den Königen und Heerführern nun Propheten als kritische Verkünder des Willens Gottes gegenüber, um königliches Unrecht im Krieg wie im Frieden scharf zu verurteilen: etwa Davids Mord an seinem Offizier Urija (2Sam 11); Ahabs Raub von Naboths Weinberg (1Kön 21,16–26); die Machtkämpfe zwischen Jerobeam und Rehabeam, die einen Prophetenbefehl zum Waffenstillstand missachteten und so den Zerfall des Großreichs Davids bewirkten (1Kön 11–12). Besonders Elija trat den Königen seiner Zeit als der eigentliche, nur mit Gottes unverfügbarem Geist bewaffnete „Wagen Israels und seiner Gespanne“ gegenüber (2Kön 2,12), ohne dessen Segen der König seine Schlachten verlor. Ps 33,16ff erklärte den theologischen Grund dafür: Der ihre Herzen gebildet hat, er achtet auf all ihre Taten. Dem König hilft nicht sein starkes Heer, der Held rettet sich nicht durch große Stärke. Nichts nützen die Rosse zum Sieg, mit all ihrer Kraft können sie niemand retten. Doch das Auge des Herrn ruht auf allen, die ihn fürchten und ehren, die nach seiner Güte ausschaun; denn er will sie dem Tod entreißen und in der Hungersnot ihr Leben erhalten. Unsre Seele hofft auf den Herrn; er ist für uns Schild und Hilfe. Daher wurden die Anführer siegreicher Schlachten in der Bibel anders als in der orientalischen Umwelt nicht zu Kriegshelden überhöht. Die Heroen der Vorzeit galten vielmehr als Mitverursacher der Gewaltausbreitung, auf die die große Sintflut folgt (Gen 6,1–4). Die staatliche Rüstung wird im Königsgesetz als „Rückkehr nach Ägypten“, also gegen Gottes Willen gerichtete erneute Versklavung der Israeliten kritisiert und begrenzt. Der König soll stets eine Kopie der Tora bei sich haben und darin lesen, um Gottes Recht zu bewahren (Dtn 17,16ff; vgl. 1Sam 8,10–18). Schriftprophetie Die seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. auftretenden Einzelpropheten, deren Botschaften aufgezeichnet wurden, konfrontierten Israel im Rückgriff auf vorstaatliche Tradition erneut mit dem Rechtswillen JHWHs. Besonders Jesaja bot dem König Ahas angesichts akuter Bedrohung durch den Aramäerkönig Rezin die archaische Schutzmacht des JHWH-Krieges an: Er solle furchtlos sein und nur Gott vertrauen, nicht seinem Militär (Jes 7,1–9; 30,15). Wechselnde Bündnisse mit den bedrohlichen Großmächten, diplomatische Ränkespiele dagegen würden den Untergang seines Königtums umso sicherer herbeiführen (Jes 18,1ff; 30,1ff; 31,1f). Gott allein werde handeln (31,4) und allem stolzen Hochmut der Tyrannen ein Ende setzen (Jes 13). Bei Amos führt JHWH erstmals Krieg gegen Israel (Am 2,13–16), wobei er sich späteren Propheten zufolge fremder Herrscher bedient (Jes 28,21; 29;1ff; Jer 21,4ff u. a.). Amos kündigte auch einen Tag JHWHs als unentrinnbare Abrechnung mit seinem abtrünnigen Volk an (Am 5,18ff) und begründete damit den Glauben an ein Endgericht. Nach dem Untergang des Königtums, als Israel keine Kriege im Namen Gottes mehr führen konnte, bezog die exilische und nachexilische Prophetie auch Fremdvölker ein und malte Gottes Gericht mit den Bildern einer endzeitlichen Schlacht gegen alle menschliche Überheblichkeit und Militärmacht aus (Jes 34; Ez 30; Zeph 1,7ff). In Joel 4,9 wird Gottes Endschlacht gegen die hochgerüsteten Völker das einzige Mal im Tanach „heiliger Krieg“ genannt. Aus dem Motiv des JHWH-Kriegs, in dem Gott selbst die Feinde entwaffnet, folgerte die Heilsprophetie Visionen einer universalen Abrüstung und des dauerhaften Völkerfriedens als endgültiges Gebot JHWHs (Mi 4,1–5; Jes 2,2–4; Sach 4,6; siehe Schwerter zu Pflugscharen). nennt exemplarisch dessen Ziel: Er setzt den Kriegen ein Ende bis an die Grenzen der Erde; er zerbricht die Bogen, zerschlägt die Lanzen, im Feuer verbrennt er die Schilde. „Lasst ab und erkennt, dass ich Gott bin, erhaben über die Völker, erhaben auf Erden.“ Diese Vision des Schaloms verknüpfte sich mit der Messias-Verheißung (Jes 7,14f; 9,1–6; 11,1–9; Sach 9,9) und der Menschensohn-Erwartung (Dan 7,13ff). Neues Testament Jesus von Nazaret teilte nach die Erwartungen der Apokalyptik Daniels vom Kommen des Menschensohns zur Ablösung aller irdischen Gewaltherrschaft. Sein symbolischer Eselsritt bekräftigte die Abrüstungsverheißungen der hebräischen Bibel (; vgl. ), denen sein eigener Gewaltverzicht entsprach (). Er beschrieb Krieg als Ausdruck der alten, verdorbenen, unveränderlichen Weltordnung, der das nahende Reich Gottes ein Ende setzen werde (). Er nahm dieses Reich in seinen Heilungen und Armenspeisungen vorweg () und warnte seine Nachfolger, dass ebensolches Handeln sie in schwerste Konflikte mit den alten Strukturen bringen werde (): Meint ihr, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen? Nein, sage ich euch, nicht Frieden, sondern Spaltung. Denn von nun an wird es so sein: Wenn fünf Menschen im gleichen Haus leben, wird Zwietracht herrschen … Angesichts seiner Selbsthingabe () deuteten die Urchristen seine Kreuzigung durch römische Soldaten als Übernahme des Endgerichts Gottes an allen Völkern (). Indem Gott ihn als Ersten von den Toten auferweckt habe, habe er ihn zum Herrn aller irdischen und himmlischen Mächte eingesetzt und diese zu entmachten begonnen (). Sie konnten in der Nachfolge Jesu darum nur noch gegen Feindschaft, Bosheit und Gewalt überhaupt (), nicht mehr gegen Fremdgläubige, Fremdvölker und einzelne Gewaltherrscher kämpfen. Daraufhin deutete der von Römern inhaftierte Paulus von Tarsus die Tradition vom JHWH-Krieg zum radikal gewaltlosen Glaubenskampf um (): Werdet stark durch die Kraft und Macht des Herrn! Zieht die Rüstung Gottes an, damit ihr den listigen Anschlägen des Teufels widerstehen könnt. Denn wir haben nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen die Fürsten und Gewalten, gegen die Beherrscher dieser finsteren Welt, gegen die bösen Geister des himmlischen Bereichs. Darum legt die Rüstung Gottes an, damit ihr am Tag des Unheils standhalten, alles vollbringen und den Kampf bestehen könnt. Seid also standhaft: Gürtet euch mit Wahrheit, zieht als Panzer die Gerechtigkeit an und als Schuhe die Bereitschaft, für das Evangelium vom Frieden zu kämpfen. Vor allem greift zum Schild des Glaubens! Mit ihm könnt ihr alle feurigen Geschosse des Bösen auslöschen. Nehmt den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, das ist das Wort Gottes. Hört nicht auf, zu beten und zu flehen! Betet jederzeit im Geist; seid wachsam, harrt aus und bittet für alle Heiligen, auch für mich … Demgemäß lehnten christliche Theologen den Kriegsdienst bis ins 4. Jahrhundert als unvereinbar mit dem Christsein ab. Christliche Antike Das Christentum der ersten zwei Jahrhunderte verwarf den Kriegsdienst generell. Bis zum Jahr 175 gab es nachweislich keine Christen im römischen Heer. Origenes und Tertullian verwarfen trotz der staatsbejahenden Haltung der Christen den Kriegsdienst. Für Origines stellte der Krieg dabei vorwiegend einen geistigen Kampf dar. Er verbot Christen den Waffengebrauch und erwartete die Abschaffung aller Kriege durch Ausbreitung des christlichen Glaubens (Contra Celsum 8,69f.). Tertullian (De corona militis, um 210) lehrte, Christus habe den Christen verboten, ein Schwert zu tragen, und lehnte somit den Soldatendienst für Christen auch wegen des damit verbundenen Kaiserkults als Götzendienst strikt ab. Seit der Konstantinischen Wende von 313 wurden Kriege zur Ausdehnung des Christentums schließlich theologisch legitimiert und praktiziert. Eusebius von Caesarea schrieb dann in einem Loblied auf Kaiser Konstantin, das dieser einen „Krieg unter dem Kreuz führe, welcher damit heilig sei“. Nachdem Ambrosius von Mailand Christen den Soldatendienst kritiklos erlaubte und auch Militärgewalt gegen Nichtchristen bejahte, normierte Augustin von Hippo Kriegsgründe und Kriegführung einer christlichen Autorität mit seiner Theorie vom Gerechten Krieg (420). Dabei griff er nicht auf das Neue Testament, sondern auf die alttestamentliche Idee des JHWH-Krieges zurück. Für Augustinus ist der Gedanke des schon irdischen Friedens von zentraler Bedeutung: Das Gut des Friedens ist derart groß, daß auch im Bereich der irdischen und vergänglichen Dinge nichts lieber gehört, nichts sehnlicher begehrt und letztlich nichts Besseres gefunden werden kann. (De Civitate Dei 19,11) Er tolerierte Gewalt und Krieg als letzte Möglichkeit zur Wiedergewinnung von Frieden, Gerechtigkeit und allgemeinem Wohl. Diese müssen dabei von der Motivation her von Liebe zum Feind getragen sein und dürfen nicht Versklavung, Gefangenschaft oder die Verurteilung des Feindes zum Ziel haben. Dabei bezeichnete Augustinus Gewalt und Krieg niemals direkt als „heilig“. Er anerkannte auch den Krieg als Bestrafungsmittel für schuldhafte Verbrechen. Die Anwendung von Gewalt zur Überzeugung von Häretikern wie Donatisten oder Manichäern rechtfertigte er mit einem Hinweis auf die Geschichte vom Gastmahl , bei welchem die Gäste zu ihrem eigenen Wohl gedrängt werden. Mittelalter Die Vorstellung, dass kriegerische Betätigung einen himmlischen Lohnes würdigen Verdienst im Sinne der Religion darstelle, zeigt sich schon vor den Kreuzzügen in drei Punkten zum Kriegermartyrium: Der Krieger nimmt an einem religiös legitimierten Feldzug teil. Dies schlägt sich auch im besonderen Status der Kreuzfahrer nieder. Allerdings ist der Erwerb himmlischen Lohnes an das Vorliegen reiner, christlicher Motive gebunden. So beschränkt Papst Urban II. im Konzilsbeschluss von Clermont den Erlass der Bußstrafen auf Personen, welche „aus reiner Demut und nicht um Ansehen oder Besitz zu erwerben, und nicht um weltlichen Vorteils willen, sondern zum Heil der Seele und um die Kirche zu befreien“ an den Kreuzzügen teilnehmen. Der Krieger findet den Tod im Kampf. Als erste Zeugnisse dieser Auffassung gelten zwei Schreiben der Päpste Leo IV. und Johann VIII. aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts, in denen im Kampf gefallenen Kriegern himmlischer Lohn in Aussicht gestellt wurde. Doch gibt es Indizien dafür, dass diese Auffassung älteren Ursprungs ist. Als Beispiel wird hier die Vorstellung von König Oswald aus dem 7. Jahrhundert genannt, welcher durch den Tod im Kampf zur Christianisierung der Northumbrier „Heiligmäßigkeit“ erlangt habe. Dieser Gedanke wird dann im Kreuzzugsaufruf Urban II. von 1095 unmissverständlich formuliert: Wenn diejenigen, die dort hinunterziehen, ihr Leben verlieren auf der Fahrt, zu Lande oder zu Wasser, oder in der Schlacht gegen die Heiden, so werden ihnen in jener Stunde ihre Sünden vergeben werden, das gewähre ich nach der Macht Gottes, die mir verliehen wurde […] Als Wegbereiter der Kreuzzugsidee gelten Kirchenvertreter des 9. Jahrhunderts wie Bischof Agobard. Dieser sah die Aufgabe der christlichen Kaiser darin, die Barbaren (d. h. Nichtchristen) zu unterwerfen, „auf dass sie den Glauben annehmen und die Grenzen des Königreichs der Gläubigen erweitern.“ Das Kaiserreich wurde damit als Außenbezirk des Kirchenbereichs aufgefasst, der Kaiser als verlängerter Arm kirchlicher Welteroberung und Machtentfaltung. Theologen wie Petrus Damiani und Manegold von Lautenbach forderten von allen christlichen Soldaten die gnadenlose Bekämpfung der Ketzer und Heiden. Später forderte vor allem Bernhard von Clairvaux eine umfassende Kirchenreform, wonach die zentral gelenkte Kirche sowohl geistliche wie weltliche Macht besitzen müsse. Diese Zwei-Schwerter-Lehre wurde 1302 von Papst Bonifaz VIII. übernommen und dogmatisch festgelegt. Die Kreuzzüge des Hochmittelalters hatten verschiedene Ursachen, Anlässe, Ziele und Verläufe. Besonders der erste Kreuzzug gilt als klassisches Modell eines Heiligen Krieges in der Kirchengeschichte, weil er von der damals höchsten christlichen Autorität, Papst Urban II. ausgerufen wurde (1095), mit der Formel „Gott will es!“ (Deus lo vult) massenwirksam gerechtfertigt und propagiert wurde die Rückeroberung von Gebieten mit christlichen Minderheiten und zentralen Kultstätten anstrebte, die seit 637 unter der Herrschaft des Islam standen, auf gewaltsame Einnahme Jerusalems gerichtet war und damit von vornherein Vernichtung Fremdgläubiger einkalkulierte im Verlauf weitere religiöse Minderheiten, vor allem Judengemeinden, vernichtete eine Einigung der gespaltenen Christenheit durch Angriffskrieg gegen Andersgläubige herbeiführen sollte den Beteiligten die Entlastung von Sünden versprach. Im Hochmittelalter kam es im Zusammenhang mit den Kreuzzügen sogar kurzzeitig zur Verwendung des Begriffes bellum sacrum als Synonym für „heiligen Krieg“ bzw. „heiligenden Krieg“, welcher allerdings eventuell eher die Kriegsteilnehmer als den Krieg selber heiligen sollte. Obwohl es zwischen christlichem und muslimischem heiligen Kampf durchaus Parallelen gibt, ist die Frage, ob muslimische Vorstellungen Vorbildfunktion bei der Bildung des entsprechenden christlichen Begriffs hatten, nicht geklärt. So war die Inaussichtstellung religiösen Lohns für die Sicherung christlicher Vorposten, wie sie z. B. Papst Urban II. für die Sicherung Tarragonas gegen die Sarazenen 1098 in Form eines einer Pilgerfahrt entsprechenden Ablasses zusicherte, der muslimischen Welt in der Form der Ribat bereits seit dem 7. Jahrhundert bekannt. Ein direkter Einfluss der Ribat auf ähnliche christliche Vorstellungen wird von der Forschung allerdings eher bestritten. Die Deutung der Reconquista, der christlichen Rückeroberung der Iberischen Halbinsel nach der muslimischen Invasion von 711, als Heiliger Krieg ist in den mittelalterlichen Quellen meist nur angedeutet oder vorausgesetzt; nur gelegentlich wird sie ausdrücklich in direkten Worten formuliert. Schon zur Zeit des 711 von den Muslimen vernichteten Westgotenreichs war die Vorstellung verbreitet, dass Gott der eigentliche Kriegsherr sei. So deutete im späten 7. Jahrhundert der Metropolit Julian von Toledo den Kampf des Westgotenkönigs Wamba gegen Aufständische in diesem Sinne. Für ihn war der Sieg des Königs über diese Rebellen, obwohl sie ebenfalls katholische Christen waren, ein „Urteil Gottes“; die Schlacht fasste er als Prüfung (examen) auf, die Gott seinen Dienern auferlegte, und die einzelnen Phasen der Erstürmung einer belagerten Stadt wurden „durch Gott“ (per Deum) vollzogen. Im Königreich Asturien verwendete im späten 9. Jahrhundert der Verfasser der Crónica Albeldense die Bezeichnung „heiliger Sieg“ (sacra victoria) für die militärischen Erfolge König Alfons III. gegen die Muslime; damit wurde erstmals der Begriff „heilig“ unmittelbar für Kampfhandlungen im Rahmen der Reconquista verwendet. Im 11. Jahrhundert herrschte, wie die Chronik des Bischofs Sampiro von Astorga zeigt, nicht nur die Überzeugung, dass Siege Geschenke Gottes seien, sondern es wurde sogar festgestellt, dass Gott als „himmlischer König“ selbst militärisch gegen seine Feinde (die Muslime) vorgehe und sich an ihnen räche, indem er den Christen den Sieg über sie schenke. Frühe Neuzeit Im Spätmittelalter und im 16. und 17. Jahrhundert wurden die religiös-kirchlichen Strukturen und ihre Verflechtungen mit politischen und gesellschaftlichen Prozessen wieder enger. Der Dualismus des Mittelalters zwischen Staat und Kirche trat in den Hintergrund. Dies führte in Form der zunehmend bürokratisierten Konfessionskirchen und frühmodernen Staaten zur Herausbildung großer universalistischer Gemeinschaften, die mit Ausschließlichkeitscharakter in Totalkonfrontation zueinander als auch zu überkommenen Ordnungsvorstellungen standen. Interessen des Staates, der Kirchen, und sozialer Gruppen instrumentalisierten einander, und führten in Glaubenskriegen zur Aufhebung bisher üblicher Grenzen der Gewaltbereitschaft und Brutalität. Beispiele hierfür sind die Kämpfe zwischen Hugenotten und der katholischen, französischen Krone in den Hugenottenkriegen, zwischen niederländischen Calvinisten und dem katholischen, spanischen Landesherrn im Achtzigjährigen Krieg, als auch innerkonfessionelle Kämpfe zwischen Puritanern und dem anglikanischen König im Englischen Bürgerkrieg. Religiös-politische Gegensätze wurden dabei in Propagandaschriften, Traktaten oder Kirchenliedern teilweise eschatologisch als Kampf zwischen Antichrist und den Vertreten des „wahren Christenvolkes dargestellt“. Einen Höhepunkt erreichte dies im Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648, der unter anderem auch ein Religionskrieg zwischen der Katholischen Liga und der Protestantischen Union und den ihnen angeschlossenen Häusern und Staaten Europas war. Beginnend mit dem Westfälischen Frieden wurde das Konzept des gerechten oder gar heiligen Krieges zunehmend verdrängt, und bei innereuropäischen Konflikten durch rational legitimierte und begrenzt geführte, normsymmetrische Kabinettskriege und das Völkerrecht ersetzt. In imperialen und kolonialen Kriegen europäischer Mächte außerhalb des Kontinents lebte die Ideen des aus moralischen Gründen geführten Krieges allerdings weiter fort. 19. Jahrhundert Der Krieg befand sich im 18. und frühen 19. Jahrhundert noch unter Kontrolle der rational definierten Staaten und war gegen Instrumentalisierungsversuche von anderer Seite relativ immun. So konnte Hegel ihn in Grundlinien der Philosophie des Rechts 1820 noch als letztmöglichen Modus der Entscheidung im Streit der Staaten begreifen („Der Streit der Staaten kann deswegen, insofern die besonderen Willen keine Übereinkunft finden, nur durch Krieg entschieden werden.“) Weitere Belege für eine rein rationale Kriegsauffassung sind die Überlegungen von Militärs wie Carl von Clausewitz in Vom Kriege, in denen er das Primat der Staatspolitik vor persönlichen und religiösen Interessen betont. Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln Mit der Aufklärung und der Säkularisation infolge der Französischen Revolution wurden primär religiös motivierte Kriege innerhalb Europas zunehmend undenkbar. Aber schon mit den napoleonischen Kriegen, den Befreiungskriegen, und dem Irrationalismus der Romantik wurden vorgeblich hochstehende Ziele und Begriffe wie Nation, Volk, Vaterland, Freiheit, Revolution, oder „Erziehung zur Tugend durch Kriegsdienst“ nun zunehmend quasi-religiös überhöht, und gingen auch teilweise Verbindungen mit der Religion und den Kirchen ein. Ein weiterer Unterschied zu den Kabinettskriegen war, dass die Generäle der Revolutionsarmeen zunehmend Elemente des Volkskriegs anwandten. So konnte das Konzept des heiligen, wegen eines absoluten Wertes geführten Krieges – mit anderen Inhalten gefüllt – sich regenerieren und weiterexistieren, und das durch die Säkularisation entstandenen Vakuum ausfüllen. Friedrich Ludwig Jahns Worte aus dem Jahr 1813 bringen dies in Bezug auf den Wert „Volk“ auf den Punkt: Die künftige Zeit wird Kriege um Völkerscheiden erleben, aber es werden heilige Kriege sein. In den Befreiungskriegen gegen die napoleonische Besetzung wurde von russischer Seite wegen der Bedrohung der orthodoxen Religion und von deutscher Seite der Begriff Heiliger Krieg verwendet. In den deutschen Ländern bedeutete dieser Krieg zum Teil ein Erlösungs- und Einigungswerk, das Ernst Moritz Arndt z. B. so darstellte: Der Krieg … für das Vaterland und für die Freiheit ist ein heiliger Krieg, und die Menschen müssen also ihre Herzen und Gedanken zu Gott und zum Himmel erheben… Sowie die junge Mannschaft… versammelt ist, wird feierlich Gottesdienst gehalten … es wird ihnen eingeschärft, dass der Tod fürs Vaterland im Himmel und auf Erden ein großes Lob ist; es wird durch Recht und Predigten und durch geistliche und kriegerische Lieder ihr Gemüt zu Treue, Ruhm und Tugend entzündet. Heinrich von Kleist und Johann Gottlieb Fichte verherrlichten den „Krieg an sich“ als Katalysator der Nationsbildung. So wendet sich Fichte in System der Sittenlehre 1798 einerseits noch gegen die Vorstellung des Krieges als Mittel zur Erreichung begrenzter Herrscherziele; begrüßte andererseits aber im Sinne der Romantik bereits das Risiko der eigenen Existenz für abstrakte Ideale wie die Freiheit. Da ist ein eigentlicher Krieg, nicht der Herrscherfamilien, sondern des Volkes: die allgemeine Freiheit, und eines Jeden besondere ist bedroht; […] denn jeder soll es selber für sich thun, – aufgegeben der Kampf auf Leben und Tod. Die Revolutionsjahre 1848/49 trieben diese Gedanken dann europaweit zu größerer Akzeptanz. Die Linie der „Heiligsprechung“ und Intensivierung des Krieges bzw. Terrors zur Erreichung sozialer oder politischer Utopien mittels Revolution reicht trotz aller historischen Unterschiede vereinfachend von Danton und Robespierre, über die 1848er Revolutionen, Lenin, Mao Zedong und Che Guevara bis weit in das 20. Jahrhundert. 20. Jahrhundert Erster Weltkrieg Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs blieb das nationalistisch geprägte Bild des „Heiligen Krieges“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts bestimmend. Dieser Krieg wurde von Militärpredigern teilweise enthusiastisch als „heiliger deutscher Krieg“ gefeiert, die Zeit des Krieges sei eine „heilige Zeit“, während der von deutschen Soldaten „heiligstes Blut“ vergossen werde. Dieser „große, heilige Krieg“ solle dem Guten zum Sieg gegen das Böse verhelfen. Er wurde darüber hinaus auch von nichtkirchlicher Seite als kreativer, ethisch positiv wirkender, über-utilitaristischer Faktor auf den Menschen, das Volk und die Geschichte hervorgehoben. So verstand z. B. Max Scheler den Ersten Weltkrieg in Der Genius des Krieges von 1915 als „Aufruf zur geistigen Wiedergeburt des Menschen“ und „die Kulturschöpfung die eminent positive Bedeutung, auf daß er die vorhandenen Begabungen tief zurücktauchen läßt in die schöpferischen Quellen des nationalen und persönlichen Geistes.“ Ebenso sahen die französischen Theologen und Intellektuellen im Krieg gegen Deutschland einen „Kreuzzug für das Reich Gottes, für christliche Glaubensreinheit und Sittlichkeit“. Obendrein sah das katholische Frankreich sich herausgefordert zum Kampf gegen das sich protestantisch gebende Deutschland. „Die französischen Soldaten fühlen mehr oder weniger ausdrücklich, aber bestimmt, dass sie Soldaten Christi und Mariä sind, Verteidiger des Glaubens, und dass französisch sterben soviel heißt als christlich sterben“. In Analogie zu deutschen Kriegsprediger, welche die „Auserwähltheit des deutschen Volkes“ hervorhoben, erklärten französische Militärgeistliche Frankreich zum „auserwählten Volk Gottes, der ältesten Tochter und reuen Dienerin der heiligen Kirche“. In England diente das Bild eines rächenden, geschichtsmächtigen Gottes zum Anwalt englischer Interessen. Auch hier feierte man in Predigten, Presse und Literatur den Krieg mit Deutschland als „heiligen Krieg“. Ein weiteres Anzeichen für die Tendenz zur partiellen „Heiligsprechung“ des Krieges in Verbindung von Kirche und Nationalismus war die auch später noch umstrittene Praxis der Segnung von Waffen. Zweiter Weltkrieg Im Zweiten Weltkrieg propagierten führende Nationalsozialisten, Wehrmachtsführung und -soldaten sowie Teile der Bevölkerung besonders den als Vernichtungskrieg geplanten Angriff auf Russland als „weltanschaulichen Kampf“ (Halder) und „Kreuzzug gegen den barbarischen Stalinismus und den jüdischen Bolschewismus“. Im Kaiserreich Japan wurde der Heilige Krieg als Synonym für den Zweiten Weltkrieg verwendet. Die selbsternannte göttliche „Yamato“-Rasse sah sich in diesem erwählt, mindere asiatische Völker von den weißen Kolonialisten zu befreien. Auch die Alliierten benutzten das Motiv des Heiligen Krieges. Der britische Außenminister Lord Halifax erkannte im Dritten Reich eine Gefahr für das Christentum und propagierte den Heiligen Krieg („Holy War“) gegen Deutschland. Lord Davidson von den Konservativen erklärte Großbritanniens Kriegseintritt 1939 als „Holy War between the forces of right and the forces of wrong“. In der Sowjetunion dichtete 1941 Alexander W. Alexandrow nach dem Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges das Lied der Roten Armee Swjaschtschennaja Woina („Der heilige Krieg“). Nach 1945 Die Bürgerkriege im Libanon und Nordirland, oder im ehemaligen Jugoslawien sind nicht direkt als „Heilige Kriege“ zu bezeichnen, sondern stellen Konflikte dar, in denen andere Gründe erst später eine religiöse Dimension erhalten haben, welche durch die religiösen Überzeugungen der Beteiligten eine gewaltfreie Konfliktlösung zusätzlich erschwert bzw. unmöglich macht. Siehe auch Blumenkrieg Gewalt in der Bibel Schwerter zu Pflugscharen Schwertvers Religionskrieg Gerechter Krieg Literatur allgemein Klaus Schreiner (Hrsg.): Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung: Judentum, Christentum und Islam im Vergleich (= Schriften des Historischen Kollegs. Bd. 78). München 2008, ISBN 978-3-486-58848-4.(Volltext als PDF) Egon Flaig: Heiliger Krieg. Auf der Suche nach einer Typologie. In: Historische Zeitschrift 285/2, 2007, S. 265–302. Volkhard Krech: Opfer und Heiliger Krieg: Gewalt aus religionswissenschaftlicher Sicht. In: Handbuch der Gewaltforschung. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut%20Kohl
Helmut Kohl
Helmut Josef Michael Kohl (* 3. April 1930 in Ludwigshafen am Rhein; † 16. Juni 2017 ebenda) war ein deutscher Politiker der CDU. Er führte von 1982 bis 1998 als sechster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland eine CDU/CSU/FDP-Koalition. Seine Amtszeit ist mit 5870 Tagen die bislang längste, er war damit allerdings nur zehn Tage länger Kanzler als Angela Merkel. Er war von 1969 bis 1976 dritter Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz und von 1973 bis 1998 Bundesvorsitzender, danach bis 2000 Ehrenvorsitzender seiner Partei. Unter seinem Vorsitz entwickelte sich die CDU zu einer Mitgliederpartei. 1976 erzielte die CDU/CSU mit Kohl als Spitzenkandidat das bis dahin zweitbeste Ergebnis bei Bundestagswahlen, konnte aber die sozialliberale Regierung Schmidt nicht ablösen. Kohl gab sein Amt als Ministerpräsident auf und übernahm als Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion die Rolle des Oppositionsführers im Deutschen Bundestag. Nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition wurde er am 1. Oktober 1982 durch ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt von CDU/CSU und FDP zum Bundeskanzler gewählt. Kohl trieb den Prozess der deutschen Wiedervereinigung 1989/1990 entscheidend voran und gilt außerdem als Wegbereiter der europäischen Integration, die in den 1990er Jahren zur Bildung der Europäischen Union sowie zur Einführung des Euro führte. Umstritten blieb er wegen seiner Rolle in der CDU-Spendenaffäre sowie seiner Tätigkeit als Unternehmensberater nach dem Ende seiner politischen Karriere. Leben Herkunft, Studium und Beruf Helmut Kohl wurde 1930 als drittes Kind des Finanzbeamten Hans Kohl (1887–1975) und seiner Frau Cäcilie, geb. Schnur (1891–1979), im Ludwigshafener Stadtteil Friesenheim geboren. Hier wuchs er zusammen mit seiner Schwester Hildegard (1922–2003) und seinem Bruder Walter (1926–1944) in einer konservativ-katholisch geprägten Familie auf. Sein Geburtshaus steht in der Hohenzollernstraße; auf dem Friesenheimer Friedhof befindet sich das Familiengrab, in dem neben Kohls Eltern im Jahr 2001 auch seine erste Ehefrau Hannelore Kohl beigesetzt wurde. Eines der einschneidendsten Ereignisse in der Jugend Kohls war der frühe Tod seines Bruders Walter im Zweiten Weltkrieg. Er fiel Ende November 1944 als Soldat bei einem Tieffliegerangriff in Haltern (Kreis Recklinghausen). Kohl besuchte ab dem 1. April 1936 in Friesenheim die Rupprechtschule in der Nietzschestraße und ab 1940 die Oberrealschule. Mit der Kinderlandverschickung gelangte er nach Erbach im Odenwald und später nach Berchtesgaden. Dort erhielt er als Mitglied der Hitlerjugend eine vormilitärische Ausbildung, zum Einsatz als Flakhelfer kam es nicht mehr. Von Berchtesgaden ging er ab Ende April 1945 mit drei Schulkameraden zu Fuß nach Ludwigshafen, wo er im Juni ankam. Da die Oberrealschule zunächst geschlossen war, begann Kohl im August 1945 eine landwirtschaftliche Lehre. Im November 1945 kehrte er an die Oberrealschule an der Leuschnerstraße in Ludwigshafen (das heutige Max-Planck-Gymnasium) zurück und legte dort im Juni 1950 das Abitur ab. Zum Wintersemester 1950/51 begann er, an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Rechtswissenschaft und Geschichte zu studieren. Zum Wintersemester 1951/52 wechselte er an die Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, an der er Geschichte und Staatswissenschaften studierte. Während seines Studiums war er Mitglied der Studentenorganisation AIESEC. Von 1956 bis 1958 war Kohl Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dolf Sternberger am Alfred-Weber-Institut der Universität. 1958 wurde er mit einer Dissertation zum Thema Die politische Entwicklung in der Pfalz und das Wiedererstehen der Parteien nach 1945 bei Walther Peter Fuchs zum Dr. phil. promoviert. 1958 wurde er in seiner Heimatstadt Direktionsassistent in der Eisengießerei Pfalzgußwerk Walter Mock und war von 1959 bis 1969 Referent beim Verband der Chemischen Industrie. Politische Karriere Funktionen in der Partei Schon als Schüler trat Kohl 1946 der CDU bei; 1947 war er Mitbegründer der Jungen Union in Ludwigshafen. Seine politischen Aktivitäten verfolgte er neben seinem Studium. 1959 wurde er Vorsitzender des CDU-Kreisverbandes Ludwigshafen. Auf Landesebene wurde er 1953 Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes der CDU in der Pfalz, 1954 stellvertretender Landesvorsitzender der Jungen Union Rheinland-Pfalz, 1955 Mitglied des Landesvorstandes der CDU Rheinland-Pfalz und von März 1966 bis September 1974 deren Landesvorsitzender. In dieser Funktion war er zugleich Mitglied des Bundesvorstandes der CDU, in dem er im November 1966 als Einziger gegen den Beschluss zur Großen Koalition und zur geplanten Einführung des gegen die FDP gerichteten Mehrheitswahlrechts auf Bundesebene stimmte. Kohl wurde 1969 stellvertretender Bundesvorsitzender und war von 1973 bis 1998 der bislang am längsten amtierende Parteivorsitzende der CDU. In dieser Zeit entwickelte sich die Volkspartei CDU von einer „Wählerpartei“ zu einer „Mitgliederpartei“ mit einem Maximum der Mitgliederzahl kurz nach der „Wende 1982“ sowie einem noch höheren Maximum nach der Vereinigung mit der Ost-CDU 1990; danach gingen die Zahlen jeweils wieder zurück. Von 1998 bis 2000 war er Ehrenvorsitzender der CDU; von diesem Amt trat er wegen der Parteispendenaffäre zurück, jedoch kam es 2002 zu einer Wiederannäherung mit der Partei. Landtagsabgeordneter und Ministerpräsident Kohl wurde 1959 erstmals als – damals jüngster – Abgeordneter in den Landtag von Rheinland-Pfalz gewählt, in dem er ab 1963 CDU-Fraktionsvorsitzender war. Neben seinem Landtagsmandat war er überdies von 1960 bis 1970 Mitglied des Rates der Stadt Ludwigshafen, davon 1960 bis 1969 als Vorsitzender der in Opposition stehenden CDU-Fraktion. Mit seiner Wahl zum Landesvorsitzenden der CDU Rheinland-Pfalz 1966 galt Kohl als designierter Nachfolger Peter Altmeiers im Amt des Ministerpräsidenten, den er zur Mitte der Legislaturperiode am 19. Mai 1969 ablöste. Bei den Landtagswahlen 1971 und 1975 erzielte er zweimal die absolute Mehrheit, sein Gegenkandidat war beide Male Wilhelm Dröscher (SPD). In seiner Amtszeit stellte er die Weichen für die Modernisierung des in der Bundesrepublik als rückständig wahrgenommenen Bundeslandes; wichtige Entscheidungen waren die Gebietsreform und die Gründung der Universität Trier-Kaiserslautern (heute: Universität Trier, Technische Universität Kaiserslautern). Gleichzeitig beschleunigte sich der Strukturwandel im weitgehend noch sehr ländlich geprägten Bundesland. Im Bereich des Schulwesens wurden auf der Ebene der Grundschulen die Konfessionsschulen, an denen die CDU auf Betreiben der katholischen Kirche jahrelang festgehalten hatte, durch konfessionsübergreifende Gemeinschaftsschulen ersetzt. Im Oktober 1971 kandidierte Kohl für die Nachfolge Kurt Georg Kiesingers als CDU-Bundesvorsitzender. Bei dieser Wahl unterlag er Rainer Barzel, dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Oppositionsführer im Deutschen Bundestag, mit 174 zu 344 Stimmen. Nachdem Barzel 1972 zweimal mit dem Versuch gescheitert war, Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) abzulösen (im April im Rahmen eines Misstrauensvotums sowie als Kanzlerkandidat im November), trat er 1973 als CDU-Vorsitzender zurück. Kohl kandidierte 1973 erneut und wurde, diesmal ohne Gegenkandidat, gewählt. 1976 brachte die Bundesregierung die sogenannten „Polenverträge“ in die Gesetzgebung ein. Vereinbart war eine Globalentschädigung für in Polen lebende ehemalige KZ-Häftlinge sowie Kreditzusagen an Polen; im Gegenzug gab es polnische Zusagen über Ausreisegenehmigungen für deutschstämmige Bürger. Die CDU/CSU lehnte die entsprechenden Gesetze im Bundestag ab. Da sie auch die Zustimmung des damals unionsdominierten Bundesrates benötigten, organisierte Kohl im März 1976 gegen erhebliche Widerstände die Zustimmung aller unionsgeführten Bundesländer, so dass die Gesetze in Kraft treten konnten. Oppositionsführer im Deutschen Bundestag Kohl war von 1976 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages. Er kandidierte im Bundestagswahlkreis Ludwigshafen/Frankenthal, den er 1990 und 1994 als Direktkandidat gewann; bei den übrigen Wahlen zog er über die CDU-Landesliste Rheinland-Pfalz in den Bundestag ein. Bei der Bundestagswahl 1976 am 3. Oktober trat Kohl erstmals als Kanzlerkandidat der CDU/CSU an und erzielte mit 48,6 Prozent der Stimmen das bis dahin zweitbeste Wahlergebnis, verfehlte jedoch knapp die absolute Mehrheit. Kohl trat als Ministerpräsident zurück und wurde am 13. Dezember als Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag Oppositionsführer. Sein Nachfolger als Ministerpräsident wurde am 2. Dezember 1976 Bernhard Vogel. Einige Wochen nach der Wahl versuchte die CSU am 19. November auf Betreiben ihres Vorsitzenden Franz Josef Strauß mit den Beschlüssen von Wildbad Kreuth, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU im Bundestag aufzukündigen, jedoch konnte Kohl mit der Gegendrohung, die CDU auf Bayern auszudehnen, die Fortführung durchsetzen. In den folgenden Jahren kam es zwischen Kohl und Strauß, der 1978 den Bundestag verließ und bayerischer Ministerpräsident wurde, zu heftigen Auseinandersetzungen um die Führungsrolle in der Union. Strauß sprach Kohl des Öfteren öffentlich Führungsqualitäten und die Befähigung für das Amt des Bundeskanzlers ab (Wienerwald-Rede). Für die Bundestagswahl 1980 verzichtete Kohl auf eine erneute Kandidatur als Bundeskanzler. Der von ihm favorisierte niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht unterlag bei der Wahl des Kanzlerkandidaten in der CDU/CSU-Fraktion gegen Strauß, den Kohl daraufhin loyal unterstützte. Der Verzicht auf eine eigene Kandidatur erwies sich im Nachhinein als kluger Schachzug Kohls, da er überzeugt war, dass Strauß als Bundeskanzler für die Mehrheit der Deutschen nicht wählbar war. Kohls Kalkül ging auf: Strauß erzielte 1980 das bis dahin schlechteste Wahlergebnis der Union bei einer Bundestagswahl nach 1949. Im Weiteren hielt er sich mit Kritik an Kohl zurück, der in Bonn Oppositionsführer blieb. Strauß profilierte sich weiterhin auf dem rechten Flügel der Union; Kohl dagegen versuchte durch einen gemäßigten Kurs die Mitte anzusprechen und die FDP aus der Koalition mit der SPD zu lösen. Die „geistig-moralische Wende“ war ein zu jener Zeit von Kohl in den politischen Diskurs eingeführtes Schlagwort zur Motivation eines Politikwechsels. Für politische Beobachter erwies es sich als schwierig, eine Verknüpfung dieses unscharfen Begriffs zu konkreten Entscheidungen seiner späteren Regierungszeit herzustellen. Im Zusammenhang mit den späteren Affären wurde er von Gegnern Kohls als Kampfbegriff gegen ihn gerichtet. Bundeskanzler Am 17. September 1982 zerbrach die von Bundeskanzler Helmut Schmidt geführte sozialliberale Koalition am Streit über die künftige Wirtschafts- und Sozialpolitik. Anlass für den Bruch war u. a. ein Konzeptpapier der FDP zur Überwindung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, das von Otto Graf Lambsdorff ausgearbeitet worden war und neoliberale Positionen zur Reform des Arbeitsmarkts enthielt. Die ersten Jahre der Kanzlerschaft 1982 bis 1989 Nach zehntägigen Koalitionsgesprächen wurde Kohl am 1. Oktober 1982 durch das bis heute einzige erfolgreiche konstruktive Misstrauensvotum in der Geschichte des Bundestages mit den Stimmen seiner eigenen Fraktion und der FDP gegen den Amtsinhaber zum sechsten Bundeskanzler gewählt (Kabinett Kohl I). Bundesaußenminister und Vizekanzler wurde, wie bereits in der sozialliberalen Koalition, Hans-Dietrich Genscher. Der Koalitionswechsel war innerhalb der FDP sehr umstritten. Da bei der Bundestagswahl 1980 die FDP mit einer Koalitionsaussage zugunsten der SPD in den Wahlkampf gegangen und Kohl selbst nicht Kanzlerkandidat gewesen war, gab es Zweifel an der demokratischen Grundlage des Machtwechsels, obwohl ein derartiger Wechsel dem Grundgesetz nicht widerspricht. Darum stellte Kohl im Bundestag die Vertrauensfrage, über die am 17. Dezember 1982 entschieden wurde. Die Mehrzahl der Abgeordneten der Regierungskoalition enthielt sich vereinbarungsgemäß der Stimme, wodurch – wie gewünscht – der Bundeskanzler keine Mehrheit erhielt und damit dem Bundespräsidenten nach des Grundgesetzes die Auflösung des Parlamentes vorgeschlagen werden konnte. Nach längerem Zögern entschied sich Bundespräsident Karl Carstens im Januar 1983 für die Auflösung des Bundestags und die Ausschreibung von vorgezogenen Neuwahlen für den 6. März 1983. Gegen diese Vorgehensweise klagten einige Abgeordnete erfolglos vor dem Bundesverfassungsgericht. Bei der Bundestagswahl 1983 am 6. März gewann die Regierungskoalition mit Gewinnen für die CDU/CSU (48,8 %, +4,3 Prozentpunkte) und deutlichen Verlusten für die FDP (7,0 %, −3,6 Prozentpunkte) die Mehrheit der Sitze im Bundestag. Kohl, der zwischen 1976 und 1998 sechsmal als Kanzlerkandidat antrat, erzielte sein bestes Wahlergebnis und außerdem das zweitbeste der Unionsparteien in der Geschichte der Bundesrepublik gegen den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Hans-Jochen Vogel. Bei der Bundestagswahl 1987 am 25. Januar verlor die CDU/CSU Stimmanteile (−4,5 %); dennoch behielt die Regierungskoalition die Mehrheit und Kohl wurde im Amt bestätigt (Kabinett Kohl III). Gegenkandidat der SPD war der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Johannes Rau. Innen- und Deutschlandpolitik Trotz des jahrelangen christdemokratischen Widerstands gegen die Ostpolitik der sozialliberalen Regierung setzte die Regierung Kohl die Außen- und Deutschlandpolitik der vorangegangenen Regierung Schmidt in den wesentlichen Zügen fort. Zur Verhinderung einer Zahlungsunfähigkeit erhielt die DDR durch Vermittlung des CSU-Vorsitzenden Strauß einen Milliardenkredit. Als Gegenleistung beseitigte die DDR-Regierung ab 1984 nach und nach die Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze und erteilte in großzügigerer Weise Ausreisegenehmigungen für Übersiedler aus der DDR in die Bundesrepublik. Im Gegensatz zu seinen späteren Gegenkandidaten Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder sah Kohl während der gesamten Zeit vor 1989 eine mögliche Deutsche Wiedervereinigung als wichtiges politisches Ziel an; dementsprechend lehnte er, anders als Lafontaine, die Anerkennung einer eigenständigen Staatsbürgerschaft der DDR neben der Deutschen Staatsangehörigkeit konsequent ab. Eine weitere große Zuwanderungsgruppe stellten die deutschstämmigen Aussiedler aus Osteuropa und der Sowjetunion dar, für deren Ausreisegenehmigung sich Kohl einsetzte, ihre Zahl stieg auf über 370.000 im Jahr 1989. Ab Mitte der 1980er Jahre stiegen die Zahlen der Asylbewerber auf über 100.000 jährlich an, „Asylmissbrauch“ wurde zum wichtigen Thema der politischen Diskussion. Problemfördernd erwies sich die westdeutsche Auffassung des besonderen rechtlichen Charakters der innerdeutschen Beziehungen, als Mitte der 1980er Jahre in stark zunehmendem Maße Asylsuchende aus Afrika und Südasien über Ost-Berlin unkontrolliert nach West-Berlin einreisten; erst nach zahlreichen Initiativen sowohl der Regierung als auch der SPD-Opposition leistete die DDR einen Beitrag zur Eindämmung des Zustroms. Nach jahrelangen Verhandlungen konnte 1987 Erich Honecker, Staatsratsvorsitzender und Generalsekretär des ZK der SED, als erstes DDR-Staatsoberhaupt vom 7. bis 11. September 1987 offiziell die Bundesrepublik besuchen. In Bonn sprach er eine Einladung zu einem offiziellen Besuch der DDR an Kohl aus. Da der Kanzler aus statusrechtlichen Gründen Ost-Berlin, das nach westdeutscher Auffassung nicht Teil der DDR war, nicht offiziell besuchen konnte, unternahm Kohl eine Privatreise in die DDR mit seiner Frau und dem Sohn Peter vom 27. bis 29. Mai 1988 – vereinbarungsgemäß ohne Ankündigung und Journalistenbegleitung, dafür war er frei in der Auswahl der Reiseroute. Später bezeichnete er diese Reise als eine der bewegendsten seines Lebens. Die Zahl ausländischer Bürger stieg besonders durch den Familiennachzug an. Die Regierung versuchte dem durch die Umsetzung von Maßnahmen zur Rückkehrförderung entgegenzuwirken, die schon von der sozialliberalen Vorgängerregierung beschlossen worden waren. Die stetige Zuwanderung führte zu einer Umkehr des demographischen Trends: die seit den 1970er Jahren stagnierende und später rückläufige Bevölkerungszahl Westdeutschlands stieg ab 1985 wieder deutlich an. In der kontroversen Diskussion über die Zuwanderung und Ausländerpolitik vertrat Kohl den Standpunkt, Deutschland sei kein Einwanderungsland. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik fand eine Wende in der Art, wie sie die FDP in ihrem Konzeptpapier 1982 gefordert hatte, nicht statt. Neben kleineren Einschnitten in der Sozialpolitik wurden durch Kohls langjährigen Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm erstmals Kindererziehungszeiten bei der Berechnung des gesetzlichen Rentenanspruchs angerechnet sowie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Möglichkeiten des Vorruhestands eingeführt, um der hohen Arbeitslosigkeit zu begegnen. Bis 1989 konnten die Staatsquote und die Inflationsrate dauerhaft gesenkt werden. Ein wichtiges innenpolitisches Thema des dritten Kabinetts Kohl wurde die Reform des Einkommensteuerrechts unter Federführung der Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg und Theo Waigel. In einer mehrstufigen Steuerreform wurden die unter der Regierung Schmidt auf einen historischen Höchststand gekletterten Einkommensteuersätze gesenkt und 1990 ein linear-progressiver Tarif eingeführt, der den sogenannten „Mittelstandsbauch“ im Steuerrecht beseitigte. Die Steuersenkung und die Kosten der sozialpolitischen Maßnahmen führten zu einem Anstieg der Staatsverschuldung, die nach zwischenzeitlichem Rückgang 1989 wieder den Stand zur Zeit der Regierung Schmidt erreichte. In der Medienpolitik forcierte die Bundesregierung die Breitbandverkabelung. 1984 startete in Kohls Heimatstadt Ludwigshafen das erste deutsche Kabelfernsehen, in der Folgezeit kamen zahlreiche Privatsender auf den Markt. Wichtige umweltpolitische Entscheidungen waren die Einführung des obligatorischen Fahrzeugkatalysators für Pkw und der Rauchgasentschwefelung für alle Kohlekraftwerke. Wenige Wochen nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl berief Kohl im Juni 1986 erstmals einen Bundesumweltminister in sein Kabinett. In der Amtszeit Kohls wurden erstmals keine neuen Kernkraftwerke in Deutschland geplant, in Planung befindliche jedoch fertiggestellt und in Betrieb genommen. Im Zuge der Flick-Affäre um verdeckte Parteispenden des Flick-Konzerns wurde bekannt, dass Kohl zwischen 1974 und 1980 für die CDU 565.000 DM erhalten hatte. Im Untersuchungsausschuss des Bundestags und des Mainzer Landtags sagte er die Unwahrheit in Bezug auf seine Kenntnis des Zwecks einer Staatsbürgerlichen Vereinigung als Spendenbeschaffungsanlage und entging nach einer Anzeige von Otto Schily nur knapp einem Strafverfahren wegen uneidlicher Falschaussage. CDU-Generalsekretär Heiner Geißler verteidigte ihn in einer Fernsehsendung mit dem berühmt gewordenen Kommentar, Kohl habe wohl einen „Blackout“ gehabt; seit dieser Zeit galt das Verhältnis beider Politiker zueinander als getrübt. Nachdem sich im Herbst 1988 die Auseinandersetzungen mit Heiner Geißler über den künftigen Kurs der Partei zugespitzt hatten, warnte Kohl seinen langjährigen Generalsekretär schriftlich, er werde ihn nicht wieder für dieses Amt vorschlagen, falls sich ihre Beziehungen in den nächsten Monaten „nicht von Grund auf“ veränderten. Nach starken Stimmenverlusten für die Christdemokraten bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin und bei den Kommunalwahlen in Hessen im ersten Quartal 1989 verabredeten Heiner Geißler, Lothar Späth und Rita Süssmuth die Ablösung Kohls auf dem CDU-Parteitag in Bremen im September, weil dieser die Bundestagswahl 1990 nicht gewinnen könne. Der „Putsch“ des Jahres 1989 sei die gefährlichste Phase der Kohlschen Kanzlerzeit gewesen, urteilten Klaus Dreher und andere zeitgenössische Journalisten. Die Eigenwilligkeit des Generalsekretärs und eine zunehmende Missstimmung im Präsidium veranlassten Kohl im April, sein Kabinett umzubilden. Er ernannte Theo Waigel zum Finanzminister und sicherte sich so den Rückhalt der CSU. Gerhard Stoltenberg, der dieses Ressort bislang besetzt hatte, wechselte ins Verteidigungsministerium. Das Angebot Kohls, Geißler als Bundesminister des Innern ins Kabinett zu holen, wurde von diesem zurückgewiesen. Stattdessen übernahm Schäuble dieses Amt, der damit einer der wichtigsten Kohl-Vertrauten aus Baden-Württemberg wurde. Der Konflikt mit Geißler und Späth war durch die Kabinettsumbildung aber noch nicht gelöst, sondern nur bis zur Europa-Wahl vertagt. Kohl war sich dieser Gefahr durchaus bewusst, als er später einräumte, sein Sturz wäre unausweichlich gewesen, wenn die CDU bei der Europawahl im Juni 1989 ihre Position als stärkste Kraft verloren hätte. Tatsächlich waren die Verluste bei der Wahl im Juni für die CDU geringer als erwartet, und sie landete noch knapp vor der SPD. Nach der Rückkehr aus dem Sommerurlaub teilte Kohl am 22. August Geißler mit, dass er dem Parteitag statt ihm Volker Rühe als Generalsekretär vorschlagen werde. Eine Woche später kamen Späth, Geißler, Blüm und Albrecht überein, auf eine Gegenkandidatur auf dem Parteitag zu verzichten. Kohl und Genscher hatten zudem noch am 25. August bei einem Geheimtreffen mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh und dessen Außenminister Gyula Horn verabredet, die Grenzbefestigungen zu Österreich abzubauen, um dadurch den zum Sommerurlaub in Ungarn befindlichen DDR-Bürgern die Ausreise in den Westen zu ermöglichen. Als Gegenleistung gewährte die Bundesregierung Ungarn einen Kredit über eine Milliarde DM. Kohl konnte Németh zur Vorverlegung der Grenzöffnung bewegen, wodurch er dem Parteitag diese Nachricht als seinen Erfolg präsentieren konnte. Ohne Gegenkandidaten wurde Kohl, wenn auch mit dem schlechtesten Wahlergebnis aller bisherigen Parteitage, zum Bundesvorsitzenden wiedergewählt. Außen- und Verteidigungspolitik Der noch unter der Regierung Schmidt gefasste NATO-Doppelbeschluss, der die Aufstellung neuer Atomwaffen in Westeuropa als Druckmittel vorsah, um die Sowjetunion zu Verhandlungen zur Begrenzung der atomaren Rüstung zu bewegen, stieß auf scharfen Widerstand in der Bevölkerung, insbesondere der Friedensbewegung. Obwohl verfassungsrechtlich nicht notwendig, erwirkte Kohl dazu eine Bundestagsentscheidung, mit der der Beschluss am 22. November 1983 gegen den größten Teil der Opposition aus SPD und Grünen durchgesetzt wurde. In der Kießling-Affäre 1983, in der Ermittlungspannen und strukturelle Probleme des Militärischen Abschirmdiensts der Bundeswehr deutlich wurden, stützte Kohl den in die Kritik geratenen Bundesverteidigungsminister Manfred Wörner. Eine Reise nach Israel im Jahre 1984 fand wegen deutscher Waffenexporte nach Saudi-Arabien in einer belasteten Atmosphäre statt. Bei seiner Rede vor der Knesset, dem Parlament, benutzte Kohl das umstrittene Schlagwort von der „Gnade der späten Geburt“. Am 22. September 1984 trafen sich Kohl und der französische Staatspräsident François Mitterrand am Ort der Schlacht um Verdun von 1916, um gemeinsam der Toten der beiden Weltkriege zu gedenken. Der minutenlange Händedruck beider Politiker wurde ein Symbol der deutsch-französischen Aussöhnung. Am 5. Mai 1985 legte Kohl gemeinsam mit US-Präsident Ronald Reagan in Bitburg einen Kranz auf dem dortigen Soldatenfriedhof nieder. Dies wurde in Teilen der deutschen und amerikanischen Öffentlichkeit heftig diskutiert, weil dort auch Angehörige der Waffen-SS beerdigt sind. Günter Grass beispielsweise warf Kohl „Geschichtsklitterung“ vor. Gleichzeitig gab es in Bevölkerung und Medien auch Zustimmung zum Besuch. Die FAZ sah in ihrem Leitartikel vom 2. Mai 1985 einen Zusammenhang zwischen der Wiederwahl Reagans, die die Kritiker des Besuchs abgelehnt hatten, und den negativen Stimmen zur Kranzniederlegung. Kanzler der Einheit Als sich der Zusammenbruch der DDR abzeichnete und die Berliner Mauer am 9. November 1989 gefallen war, legte Kohl ohne vorherige Absprache mit dem Koalitionspartner dem Kabinett und den westlichen Bündnispartnern am 28. November 1989 im Bundestag das überraschende Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas vor. Er lehnte das Zwei-Staaten-Konzept von Lafontaine ab, nach dem die Bundesrepublik Beiträge zur Stabilisierung der DDR-Wirtschaft erbringen sollte. Auf dem EG-Gipfel am 9. Dezember 1989 in Straßburg stand Kohl noch starken Vorbehalten gegen die sich anbahnende Wiedervereinigung gegenüber. Diese Vorbehalte konnte er abbauen, indem er mit dem französischen Staatspräsident François Mitterrand verabredete, die Europäische Gemeinschaft zu einer politischen Union auszubauen, wie sie zwei Jahre nach der Wiedervereinigung mit dem Vertrag von Maastricht Wirklichkeit wurde. Am 18. Mai 1990 wurde der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der DDR unterzeichnet, der am 1. Juli in Kraft trat. In der Frage des Umtauschkurses der wegfallenden Mark der DDR in die Deutsche Mark setzte Kohl aus politischen Erwägungen den – finanzwirtschaftlich unrealistischen – Kurs von 1:1 bei Löhnen, Gehältern, Mieten und Renten durch. Dies erwies sich später als starke Belastung für die Betriebe der neuen Bundesländer. In diesem Zusammenhang prägte Kohl die Metapher der „blühenden Landschaften“ für den erwarteten wirtschaftlichen Aufschwung Ostdeutschlands. Niemand werde „wegen der Wiedervereinigung auf etwas verzichten müssen“. Diese Prognose erwies sich laut dem Historiker Manfred Görtemaker mit dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft nach der Wiedervereinigung und der daraus resultierenden Massenarbeitslosigkeit in den neuen Ländern als „Illusion“. In den 1990er Jahren wurde Kohl für diese Äußerung oft verspottet, oder es wurde ihm unterstellt, er habe die Ostdeutschen absichtlich getäuscht. Mehr als zwanzig Jahre später wird Kohl von Thomas Straubhaar hingegen bescheinigt, dass „er mit seiner optimistischen Prognose gar nicht so weit danebenlag.“ Mit Außenminister Genscher und DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière erreichte Kohl in den sogenannten Zwei-plus-Vier-Gesprächen die Zustimmung der Vier Mächte zur Wiedervereinigung Deutschlands und die Einbindung des wiedervereinigten Deutschlands in die NATO. Letzteres war für die sowjetische Seite schwierig. Hier half Kohl, indem er zwei Milliardenkredite für die Sowjetunion organisierte. Am 12. September 1990 wurde in Moskau der Zwei-plus-Vier-Vertrag unterzeichnet. Die Historikerin Kristina Spohr bezeichnete Kohl als den Hauptarchitekten der sowjetisch-deutschen Entspannung und gleichzeitig als deren Hauptnutznießer. Obwohl klar war, dass mit der Wiedervereinigung auch die Frage der deutschen Ost-Grenze abschließend geregelt werden musste, weigerte sich Kohl mit Rücksicht auf die Vertriebenen, die mehrheitlich die Unionsparteien wählten, lange, völkerrechtlich verbindlich auf die Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie zu verzichten. Erst im November 1990 schloss Kohl für das vereinigte Deutschland mit Polen den Deutsch-polnischen Grenzvertrag ab, der die Gültigkeit der gemeinsamen Grenze bilateral festschrieb. 1991 folgte der Deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag. Bei der Entscheidung über den sogenannten Hauptstadtbeschluss am 20. Juni 1991 stimmte Kohl für den Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin. Er veranlasste den Bau des neuen Bundeskanzleramts, den erst sein Nachfolger Gerhard Schröder beziehen konnte. Kohl regte den Ausbau der Berliner U-Bahn-Linie 5 vom Alexanderplatz im ehemaligen Ostberlin bis zum Bundeskanzleramt im West-Berliner Bezirk Tiergarten an. Der erste Spatenstich fand 1995 statt. Der Abschnitt der Linie, der von 2009 bis Ende 2020 als U55 im Inselbetrieb verkehrte, trug den Beinamen „Kanzler-U-Bahn“. Bereits in seiner ersten Regierungserklärung regte Kohl 1982 den Aufbau einer Sammlung zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn an. Im Jahre 1990 wurde zu diesem Zweck die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gegründet, die 1994 das Haus der Geschichte in Bonn eröffnete und Träger weiterer Gedenkstätten ist. Kanzler des wiedervereinigten Deutschlands 1990 bis 1998 Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 am 2. Dezember erzielte die Regierungskoalition eine klare Mehrheit, wobei die CDU/CSU in Westdeutschland das gleiche Ergebnis wie 1987 erreichte. Spitzenkandidat der SPD war der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine. Am 17. Januar 1991 wählte der Deutsche Bundestag Kohl zum vierten Mal zum Bundeskanzler (Kabinett Kohl IV). Bei der am 16. Oktober knapp gewonnenen Bundestagswahl 1994, die für die CDU/CSU Verluste brachte (−2,4 %), setzte Kohl sich gegen den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten und SPD-Parteivorsitzenden Rudolf Scharping durch und konnte danach sein fünftes Bundeskabinett bilden. Bei der Bundestagswahl 1998 am 27. September trat die SPD mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder als Kanzlerkandidat an. Die CDU/CSU verlor die Wahl mit dem schlechtesten Ergebnis nach 1949 (−6,3 %). Nach der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestages am 26. Oktober 1998, mit der Kohls Amt nach Absatz 2 des Grundgesetzes endete, wurde am folgenden Tag Gerhard Schröder zum Bundeskanzler einer rot-grünen Koalition gewählt. Am 17. Oktober 1998 wurde Kohl als erster deutscher Regierungschef anlässlich seines Dienstendes mit einem Großen Zapfenstreich vor dem Speyerer Dom geehrt. Bei der Bundestagswahl 2002 bewarb sich Kohl nicht mehr um ein Bundestagsmandat. Innenpolitik Innerparteilich wurde die Position Helmut Kohls durch die Wiedervereinigung gestärkt, obwohl sich die Integration der ehemaligen Ost-CDU anfangs als schwierig erwies. Nachdem auf dem Vereinigungsparteitag Anfang Oktober 1990 der bisherige Vorsitzende der CDU der DDR, Lothar de Maizière, zu Kohls alleinigem Stellvertreter gewählt worden war, trat er bereits im Folgejahr nach Vorwürfen über eine angebliche Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst der DDR zurück; auf dem Parteitag in Dresden 1991 wurde die politisch unbelastete Angela Merkel als seine Nachfolgerin gewählt. Als Folge der Transformation der ostdeutschen Planwirtschaft in die Marktwirtschaft, die mit der Schließung einer großen Zahl von nicht sanierungsfähigen Betrieben verbunden war, stieg die Arbeitslosigkeit im Beitrittsgebiet stark an von 1,0 Millionen (Arbeitslosenquote 10,2 %) im Jahr 1991 auf 1,5 Millionen (19,2 %) im Jahr 1998. Von Teilen der öffentlichen Meinung wurde Kohl direkt für den wirtschaftlichen Niedergang verantwortlich gemacht (Eierwurf von Halle). Obwohl Kohl im Jahr 1990 die Auffassung vertrat, zur Finanzierung der deutschen Einheit werde keine Steuererhöhung nötig, wurde 1991 eine als Solidaritätszuschlag bezeichnete Ergänzungsabgabe auf die Einkommen-, Kapitalertrag- und Körperschaftssteuer eingeführt, die vorwiegend der Infrastrukturentwicklung in den neuen Bundesländern („Aufbau Ost“) dient. 1992 beschloss der Bundestag gegen den Willen Kohls eine Fristenregelung für den Schwangerschaftsabbruch; infolge einer von Kohl unterstützten Klage stufte das Bundesverfassungsgericht den Schwangerschaftsabbruch als Unrecht ein, ließ aber dessen Straffreiheit zu. 1995 wurde die gesetzliche Pflegeversicherung in Deutschland eingeführt. Mit der Kopplung der Rentenentwicklung an die Netto- statt wie vorher an die Bruttolohnentwicklung begann die finanzielle Konsolidierung der gesetzlichen Rentenversicherung. Um die Kostenprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung zu bewältigen, setzte die Regierung Kohl 1993 unter Federführung des Bundesgesundheitsministers Horst Seehofer das Gesundheitsstrukturgesetz durch mit erheblichen Einschnitten im Leistungsspektrum. Nach einem folgenreichen Skandal über den Einsatz HIV-verseuchter Blutpräparate löste die Regierung 1994 das damalige Bundesgesundheitsamt auf. Langjährige Manipulationen in der Arbeitsvermittlung und schwere Strukturmängel bei der damaligen Bundesanstalt für Arbeit, die erst 2002 vom Bundesrechnungshof aufgedeckt wurden, führten zur Auflösung und Umgestaltung der Behörde und gaben den Anstoß zum späteren Hartz-Konzept. Marksteine der Infrastrukturpolitik betrafen die bis dahin behördenähnlich geführten Staatsunternehmen Post und Bahn. Die Deutsche Bahn wurde 1993 unternehmensrechtlich privatisiert und durch die Postreform 1994 wurden die drei bis dahin zusammengehörenden Bereiche als Deutsche Post AG, Deutsche Telekom AG und Deutsche Postbank AG verselbständigt. Innenpolitisch wurden die letzten Jahre der Regierung Kohl vielfach als Periode der Stagnation angesehen, die nicht nur eine Folge des SPD-dominierten Bundesrats und der damit eingeschränkten Handlungsfähigkeit der Bundesregierung war. Das Schlagwort „Reformstau“ (Wort des Jahres 1997) und die sogenannte „Ruck-Rede“ von Bundespräsident Roman Herzog aus dem gleichen Jahre kennzeichneten die Situation, in der der bisherigen Regierung nicht mehr der Willen und die Fähigkeit zu notwendigen Reformen zugetraut wurde. Außenpolitik Die Bundesrepublik Deutschland vereinbarte als eines der fünf ersten Staaten das Schengener Übereinkommen von 1985 über den Abbau der Grenzkontrollen in der EU, in vollem Umfang trat das Schengener Abkommen am 26. März 1995 in Kraft. Die Regierung Kohl erkannte als erster Staat der Europäischen Gemeinschaft im Dezember 1991 die staatliche Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens an. Helmut Kohl war 1995 einer der Mitunterzeichner des Abkommens von Dayton, das den Bosnienkrieg der jugoslawischen Nachfolgestaaten Kroatien, Bosnien und Herzegowina und Serbien beendete. Im Sinne Kohls verläuft die erste Phase der NATO-Osterweiterung mit Beitrittsverhandlungen für Polen, Tschechien und Ungarn ab Dezember 1997. Andererseits gelingt es Kohl im gleichen Jahre, Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union vorerst zu verhindern. Europapolitiker Vom Beginn seiner Kanzlerschaft an verfolgte Kohl das Ziel der weiteren europäischen Integration, zum Beispiel durch Stärkung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments. Die unterschiedliche Interessenlage der EG-Länder in Bezug auf die europäische Einigung zeigte sich darin, dass Kohl vorrangig die europäischen Institutionen, insbesondere das Europäische Parlament, stärken wollte, während Mitterrand auf eine Währungsunion hinarbeitete; Thatcher hingegen stand beiden Projekten ablehnend gegenüber. Ab 1988 näherte sich Kohl allmählich Mitterrands Position an; im Gegenzug zu seinem Einverständnis zur Wirtschafts- und Währungsunion erlangte Kohl 1990 von Mitterrand die Zustimmung zur weiteren politischen Integration Europas. Einen oft behaupteten Deal beider Politiker zwischen der Währungsunion und der Herstellung der deutschen Einheit bezeichnet Schwarz als „Mythos“. Wie im Delors-Bericht vom April 1989 vorgeschlagen, erfolgte die Einführung Europäische Wirtschafts- und Währungsunion in drei Schritten: Am 1. Juli 1990 wurde die Herstellung des freien Kapitalverkehrs zwischen den EG-Staaten eingeleitet. Nachdem im Vertrag von Maastricht 1992 die rechtlichen Grundlagen gelegt worden waren, begann am 1. Januar 1994 die zweite Stufe mit der Gründung des Europäischen Währungsinstituts (EWI, die Vorgängerinstitution der EZB) und der Überprüfung der Haushaltslage der Mitgliedstaaten. Die letzte Stufe wurde am 1. Januar 1999 mit der Gründung der Europäischen Zentralbank (EZB), die ihren Sitz in Frankfurt am Main erhielt, und der endgültigen Festlegung der Euro-Wechselkurse der nationalen Währungen erreicht. Seitdem waren die Währungsparitäten der teilnehmenden Länder unverrückbar festgelegt. Obwohl von Finanzminister Waigel dringend gefordert, gelingt es Kohl auf dem EU-Gipfel von Dublin im Dezember 1996 nicht, gegenüber Chirac einen Stabilitätspakt für den Euro durchzusetzen, der bei Verstößen einzelner Staaten gegen die Haushaltsdisziplin automatische Sanktionen ermöglicht; die Konferenz der Finanzminister sollte jedoch in solchen Fällen mit Mehrheitsbeschluss Sanktionen verhängen können. Kohl bestand auf der termingerechten Einführung des Euro um jeden Preis. Am 2. Mai 1998 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel die Einführung des Euro für zunächst elf Staaten, obwohl ein Gutachten der Bundesbank belegt hatte, dass mindestens drei Staaten die festgelegten Kriterien verfehlten. Obgleich weder in der Koalition noch in der Opposition Einigkeit darüber bestand, dass die Bedingungen für Einführung des Euro zum 1. Januar 1999 erfüllt waren, stimmte der Deutsche Bundestag am 2. April 1998 mit 575 zu 35 Stimmen der Einführung zu; im Bundesrat verweigerte nur das Bundesland Sachsen seine Zustimmung. Kohl war sich bewusst, dass er gegen den Willen einer breiten Bevölkerungsmehrheit handelte. In einem Interview vom März 2002, das erst 2013 bekannt wurde, sagte Kohl: „In einem Fall war ich wie ein Diktator, siehe Euro.“ Ihm sei klar gewesen, dass das Durchsetzen des Euro Wählerstimmen kosten werde. Außenpolitische Kontakte Schon als Oppositionspolitiker besuchte Kohl führende Politiker vieler europäischer und außereuropäischer Länder. Seine Beziehungen zu ausländischen Politikern entwickelten sich dabei unabhängig von deren politischen Lagern. Zu den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, George H. W. Bush und Bill Clinton konnte Kohl ein durchgehend vertrauensvolles Verhältnis herstellen. Bushs konstruktive Unterstützung war eine entscheidende Hilfe bei der Herstellung der deutschen Einheit. Während seiner gesamten Kanzlerschaft pflegte Kohl ein besonders enges Vertrauensverhältnis mit François Mitterrand, der Ausbau der europäischen Integration war für beide ein zentrales Thema ihrer Politik. Sie brachten gemeinsame Projekte wie die Deutsch-Französische Brigade, das Eurokorps und den Fernsehsender Arte auf den Weg. Fortschritte der europäischen Einigung wie der Vertrag von Maastricht (1992) und die Einführung des Euro (1999) waren wesentliche Ergebnisse der engen deutsch-französischen Zusammenarbeit. Nach der konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Sozialisten Mitterrand gestaltete sich das Verhältnis zu seinem konservativen Nachfolger Jacques Chirac problematischer. Während Kohl 1985 den Sozialisten Jacques Delors, von Mitterrand vorgeschlagen, als Kandidat für das Amt des Präsidenten der EG-Kommission akzeptierte, und dafür sogar auf die eigentlich fällige Besetzung durch einen deutschen Kandidaten verzichtete, verhinderte er mit seinem Veto 1995 die EU-Präsidentschaft des Christdemokraten Ruud Lubbers, der 1990 die Herstellung der deutschen Einheit verzögern wollte. Die nationalstaatlich denkende Konservative Margaret Thatcher wehrte sich massiv gegen Kohls Bestrebungen zur wirtschaftlichen und politischen Einigung Europas sowie gegen die deutsche Einheit. Erst unter ihrem Labour-Nachfolger Tony Blair verbesserte sich das Verhältnis zu Kohl, der in ihm schon seinen „natürlichen Nachfolger in der Führung Europas“ vermutete. Ein enges Verhältnis hatte Kohl auch zu dem spanischen Sozialisten Felipe González, dem er 1986 den Weg in die EG ebnete, während González Kohls Kurs in der Wiedervereinigung unterstützte. Zu den Parlamentswahlen in Italien 2006 unterstützte Kohl seinen Freund, den ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi, als Führer des Mitte-Links-Bündnisses L’Unione gegen die Forza Italia des Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, die in der Europäischen Volkspartei Partner der CDU ist. Gorbatschow und Kohl begegneten sich zunächst mit großer Skepsis. Kohls Vergleich Gorbatschows mit Goebbels führte zu diplomatischer Verstimmung. Erst Kohls Entschuldigung ermöglichten eine Verbesserung ihres Verhältnisses und im Oktober 1988 besuchte er Moskau. Im Laufe der Verhandlungen zur Wiederherstellung der deutschen Einheit entwickelte sich jedoch ein Vertrauensverhältnis, das erst die Ergebnisse des Zwei-plus-Vier-Vertrages ermöglichte. Begleitet von äußerst großzügigen finanziellen Zusagen erklärte sich Gorbatschow mit einem wiedervereinigten Deutschland als NATO-Mitglied einverstanden. Das gute Verhältnis setzte Kohl mit dem russischen Präsidenten Boris Jelzin fort, der ebenfalls weitgehende wirtschaftliche Unterstützung von Deutschland erhielt. Jelzin akzeptierte die NATO-Beitrittsverhandlungen von Polen, Ungarn und Tschechien. Die Zeit nach der Kanzlerschaft Als Altbundeskanzler hatte Kohl ein Büro im Bundestagsgebäude Unter den Linden 71. Parteispendenaffäre Ende November 1999 teilte Kohl mit, dass er jahrelang Spenden an die CDU in Gesamthöhe von 2,1 Millionen DM nicht im Rechenschaftsbericht angegeben hatte, wie es im Parteiengesetz vorgeschrieben ist. Er lehnte es öffentlich ab, die Namen der Spender zu nennen, da er ihnen mit seinem Ehrenwort Anonymität zugesichert hätte. Diese Argumentationslinie, die bindenden Bestimmungen eines gültigen Gesetzes, das er persönlich unterschrieben hatte, für seine Person zu ignorieren, stieß auf heftige öffentliche Kritik, auch innerhalb der CDU. Da für einen solchen Fall das Gesetz der Partei eine Strafzahlung in dreifacher Höhe des strittigen Betrags an den Bundestag auferlegt, stellte er aus Eigenmitteln 700.000 DM zur Verfügung und organisierte eine Spendensammelaktion, deren Ergebnis sich auf 6 Millionen DM summierte; die größten Spender waren Leo Kirch mit einer Million DM und Erich Schumann mit 800.000 DM. Ein vom Bundestag eingesetzter Untersuchungsausschuss befasste sich von Dezember 1999 bis Juni 2002 mit der Spendenaffäre, begleitet von heftigen parteipolitischen Auseinandersetzungen. Am 18. Januar 2000 wurde Kohl vom CDU-Parteivorstand gebeten, wegen seiner Rolle in der Finanzaffäre den Ehrenvorsitz der CDU ruhen zu lassen, woraufhin er auf diesen verzichtete. Ein Ermittlungsverfahren gegen Kohl wurde im Februar 2001 gegen Zahlung einer Geldauflage in Höhe von 300.000 DM wegen geringer Schuld eingestellt. Beraterverträge Im Jahr 1999 gründete Kohl in Ludwigshafen die Politik- und Strategieberatung P&S, deren größter Kunde der Medienkonzern seines Freundes Leo Kirch wurde. Nach dessen Insolvenz im Jahr 2003 wurden Einzelheiten des Beratervertrags bekannt. Kohl hatte als Gegenleistung für eine „Beratung zu aktuellen sowie strategischen politischen Entwicklungen in Deutschland und Europa“ nach seiner Kanzlerschaft drei Jahre lang jeweils 600.000 DM erhalten; eine Mindestleistung war laut Medienberichten nicht festgeschrieben. Kritiker wie Hans Herbert von Arnim wiesen darauf hin, Kirchs Medien- und Fernsehimperium habe während der Kanzlerschaft Kohls von einer besonders Kirch-freundlichen Medienpolitik profitiert. Da sich Kohl während seiner Amtszeit mehrmals für Kirchs Aktivitäten im Bereich des Privatfernsehens eingesetzt hatte, führte das Bekanntwerden dieser Vorgänge parteiübergreifend zu erheblichen Irritationen und Verdachtsäußerungen. Kohl sowie den ebenfalls beschuldigten ehemaligen Post- und Fernmeldeministern Christian Schwarz-Schilling und Wolfgang Bötsch konnten aber keine Rechtsverstöße nachgewiesen werden. Kohl saß von 1999 bis 2000 im internationalen Beirat der Credit Suisse, die ebenfalls in Geschäftsbeziehung zur Kirch-Gruppe stand. Angebliche Daten- und Aktenbeseitigung Das angebliche Verschwinden von Akten und Computerdateien aus dem Bundeskanzleramt zu politisch sensiblen Themen am Ende der letzten Amtszeit Kohls wurde zum Gegenstand eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses unter Burkhard Hirsch (FDP) und von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, die der Chef des Kanzleramts Frank-Walter Steinmeier mit einer Strafanzeige gegen führende Mitarbeiter des Kanzleramts aus der Ära Kohl ausgelöst hatte, die jedoch keinen hinreichenden Tatverdacht ergaben. Für diese behaupteten Vorgänge prägten Kritiker Kohls die ironische Bezeichnung „Bundeslöschtage“. Später stellte sich heraus, dass die Akten als Kopien in mehreren Ministerien vorhanden waren. Ein Gutachten der Fraunhofer-Gesellschaft aus dem Jahr 2002 kam zu dem Ergebnis, dass sich eine systematische Löschung von Daten im Zusammenhang mit dem Regierungswechsel 1998 nicht belegen lasse. Öffentliches Engagement 1996 gehörte er neben Bärbel Bohley, Jürgen Fuchs und Ignatz Bubis zu den Gründungsmitgliedern und Förderern des Bürgerbüros Berlin, eines Vereins zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur. Seit 2003 war er zudem Gründungsmitglied des Fördervereins der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Er war Mitglied der Atlantik-Brücke. Anlässlich der Feiern zum 20. Jahrestag des Mauerfalls traf sich Kohl am 31. Oktober 2009 im Berliner Friedrichstadt-Palast noch einmal mit seinen damaligen Verhandlungspartnern Michail Gorbatschow und George H. W. Bush. Die drei Staatsmänner erinnerten an die dramatischen Tage von damals. Am 25. März 2011 warnte Kohl in einem Gastbeitrag der Bildzeitung vor einem zu schnellen Atomausstieg nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima. 2014 veröffentlichte er den Essay Aus Sorge um Europa, in dem er die Europapolitik der ihm nachfolgenden Bundesregierungen kritisierte. Privatleben Familie 1960 heiratete Kohl die Fremdsprachensekretärin Hannelore Renner (1933–2001), Tochter von Wilhelm Renner, die er seit 1948 kannte. Aus der Ehe gingen die Söhne Walter (* 1963) und Peter (* 1965) hervor. In den folgenden Jahrzehnten war Kohl darauf bedacht, ein heiles Familienleben zu inszenieren. Seit Beginn der 1970er Jahre verbrachte die Familie Kohl ihren vierwöchigen Sommerurlaub stets in demselben Haus in Sankt Gilgen am Wolfgangsee, Österreich; Sommerinterviews aus den Ferien und gestellte Pressebilder einer anscheinend intakten Familie gehörten zum Programm. Kohls Sohn Walter korrigierte in einem Buch später dieses Bild. 2016 trat eine Frau an die Öffentlichkeit mit der Aussage, sie habe in den 1990er Jahren eine Affäre mit Helmut Kohl gehabt, die seinerzeit geheim blieb. Hannelore Kohl nahm sich am 5. Juli 2001 im Alter von 68 Jahren das Leben, nachdem sie zuvor jahrelang zurückgezogen gelebt hatte; sie soll unter einer sogenannten Lichtallergie gelitten haben. Am 8. Mai 2008 heirateten Helmut Kohl und Maike Richter (* 1964) in der Kapelle einer Reha-Klinik in Heidelberg im engsten Freundeskreis, drei Monate nach Kohls schwerem Sturz. Trauzeugen waren Leo Kirch und der Bild-Chefredakteur Kai Diekmann. Die Familien beider Seiten waren nicht eingeladen. Maike Richter hatte Kohl im Kanzleramt kennengelernt, wo die promovierte Volkswirtin von 1994 bis 1998 als Beamtin in der Wirtschaftsabteilung arbeitete. Memoiren und Bücher Im Jahre 2000 veröffentlichte Kohl seine Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1998 bis 2000. Danach arbeitete er an seinen Erinnerungen, von denen drei Bände erschienen; ein abschließender vierter Band war geplant. Laut Dieter Lenzen hat Kohl mit 27 Büchern die meisten Politikerbücher in der deutschen Politik veröffentlicht. Klagen Um die beabsichtigte Veröffentlichung der Kohl betreffenden Stasi-Unterlagen kam es in den Jahren 2000 bis 2004 zu einer umfangreichen verwaltungsgerichtlichen Auseinandersetzung (Fall Kohl). Im Ergebnis musste er die Veröffentlichung sensibler Informationen nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts nicht dulden. Dieser Rechtsstreit war Anlass für eine Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Helmut Kohl führte einen Rechtsstreit mit dem Auftragsschreiber an seinen Memoiren, Heribert Schwan. Bei diesem Streit ging es um die Rechte an den Tonbändern, auf denen Arbeitsgespräche aus dem Jahr 2001 festgehalten sind. Im Ergebnis einer Prozessserie gab der Bundesgerichtshof der Klage Kohls auf Herausgabe der Tonbänder statt. Nachdem Schwan die Protokolle zur Grundlage eines eigenen, unautorisierten Buches gemacht hatte, verklagte Kohl Schwan, dessen Mitautor Tilman Jens und den Verlag auf Unterlassung und Schadenersatz. Er machte geltend, die Veröffentlichung der Zitate habe seinem politischen Lebenswerk sowie seiner Freundschaft zu langjährigen Weggefährten geschadet. Das Buch enthielt Aussagen aus den Arbeitsgesprächen Kohls mit Schwan mit abwertenden Bemerkungen über bekannte Persönlichkeiten, unter anderem Angela Merkel, Christian Wulff und Richard von Weizsäcker. Das Landgericht Köln sprach Kohl für die Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte eine Entschädigung von 1 Million Euro zu, die höchste Summe für eine Persönlichkeitsrechtsverletzung in der deutschen Rechtsgeschichte. Im Berufungsverfahren hatte dies keinen Bestand. Das Oberlandesgericht wies die Klage insgesamt mit der Begründung ab, mit dem Tod des Erblassers nach Erlass des nicht rechtskräftig gewordenen erstinstanzlichen Urteils sei ein zu Lebzeiten entstandener Anspruch des Erblassers auf Geldentschädigung aus Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. § 823 Abs. 1 BGB erloschen, da er jedenfalls grundsätzlich nicht vererblich sei. Die zugelassene Revision wurde durch Urteile des Bundesgerichtshofs vom 29. November 2021 zurückgewiesen. Letzte Jahre Kohl musste sich ab 2007 mehreren Operationen unterziehen. Nach einem Schädel-Hirn-Trauma infolge eines Sturzes im Februar 2008 konnte er kaum noch sprechen. Bei öffentlichen Auftritten benutzte er einen Rollstuhl. In dieser Zeit verlor Kohl den Kontakt zu seinen Söhnen sowie zu Personen, die sein Leben teilweise über Jahrzehnte begleitet und darin eine zentrale Rolle gespielt hatten. Erwähnenswert sind hier insbesondere Juliane Weber, Konrad R. Müller und Eckhard Seeber. Maike Kohl-Richter soll jede Kontaktaufnahme verboten bzw. verhindert haben. Im Juli 2009 legte Kohl seine Ämter in der von seiner verstorbenen Frau gegründeten Hannelore-Kohl-Stiftung nieder; er begründete dies mit einer Übernahme der Stiftung durch Personen, „die in keiner Beziehung zu seiner verstorbenen Frau standen“. Im Juli 2013 waren Helmut Kohl und Guido Westerwelle Zeugen der Verpartnerung von Kohls Anwalt Stephan Holthoff-Pförtner mit einem Rechtsanwaltskollegen. Tod und Begräbnis Kohl bewohnte seit 1971 ein Haus im Ludwigshafener Stadtteil Oggersheim und seit 1999 eine Wohnung in Berlin-Schmargendorf. Er starb am 16. Juni 2017 im Alter von 87 Jahren in seinem Oggersheimer Haus. Am 1. Juli 2017 wurde Kohl als erste Persönlichkeit in der Geschichte der EU mit einem Trauerakt der EU geehrt, den EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker als „Staatsakt“ bezeichnete. Neben Juncker sprachen bei der Zeremonie im Europäischen Parlament in Straßburg dessen Präsident Antonio Tajani, der EU-Ratspräsident Donald Tusk, Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französische Präsident Emmanuel Macron, der frühere US-Präsident Bill Clinton sowie der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew. Über seine Heimatstadt Ludwigshafen gelangte Kohls Sarg zur Totenmesse in den Speyerer Dom. Nach einem großen militärischen Ehrengeleit vor der Kathedrale wurde Kohl auf dem Friedhof des Domkapitels im engsten Familien- und Freundeskreis beigesetzt. Eine Ehrung Kohls durch einen Staatsakt in Deutschland, wie ihn alle seine verstorbenen Amtsvorgänger erhielten, lehnte seine Witwe ab. Stattdessen fand am 22. Juni eine Würdigung durch den Deutschen Bundestag statt, bei der Bundestagspräsident Norbert Lammert sprach. Das familiäre Zerwürfnis fand unmittelbar nach Kohls Tod in den Medien starke Beachtung. Am Tag der Trauerfeier waren die beiden Söhne Kohls weder in Straßburg noch im Dom zu Speyer zugegen. Nachlass Der Verbleib des politischen Nachlasses, insbesondere von Dokumenten und Unterlagen aus den öffentlichen Amtszeiten, ist noch nicht geklärt. Sowohl das Bundesarchiv als auch die Konrad-Adenauer-Stiftung haben Ansprüche auf entsprechende Dokumente angemeldet, die im Besitz der Alleinerbin Maike Kohl-Richter sind. Rezeption Mediale Darstellung Der junge Ministerpräsident Kohl war von der bundesdeutschen Presse noch wohlwollend-neugierig aufgenommen worden. Er reformierte das als rückständig geltende Rheinland-Pfalz und griff die Parteioberen an. Als er jedoch selbst auf die Bundesebene strebte, wurde er mit anderen Maßstäben gemessen. Man fragte sich, ob er einen großen Industriestaat wie die Bundesrepublik führen könne. Kohl fehlte es nicht nur an handfesten Kenntnissen in der Außen- und Wirtschaftspolitik, sondern auch an Charisma. Außerdem wurde er in Norddeutschland kulturell nicht akzeptiert. Die mediale Darstellung Kohls wirkte oft stark polarisierend; Nebensächlichkeiten wurde eine erhebliche politische Bedeutung zugemessen. Beispielhaft dafür war die Panne des NDR am Silvestertag 1986, als statt der Neujahrsansprache des Bundeskanzlers für das Jahr 1987 diejenige des Vorjahres gesendet wurde. Weniger die Ursache der Panne als vielmehr die große Ähnlichkeit beider Texte wurde in der Öffentlichkeit zuweilen in einer Weise thematisiert, die Kohl verletzen konnte. Der NDR wies die (unbewiesene) Vermutung zurück, die Panne könne ein „absichtliches Versehen“ gewesen sein. Einige der von Kohl in seinen Reden verwendeten Begriffe und bildhaften Vergleiche wie „Geistig-moralische Wende“, der „Mantel der Geschichte“ oder die „blühenden Landschaften“ wurden oft zitiert und teilweise in der öffentlichen Diskussion gegen ihn verwendet. Nachdem er in einer Rede vor dem israelischen Parlament seinen persönlichen Hintergrund mit der „Gnade der späten Geburt“ umschrieben hatte, wurden ihm im Nachhinein in den Medien geschichtsverharmlosende Absichten unterstellt; endgültig stellte er seine Redeabsicht erst 1990 klar. Satirische Rezeption Helmut Kohl war häufig Gegenstand von Satire und Karikatur. Wichtige Themen der Parodie waren seine Volkstümlichkeit, seine regionale Herkunft, die Pfälzer Sprachfärbung, die der Parodist Stephan Wald imitierte, seine kulinarischen Vorlieben wie z. B. der Pfälzer Saumagen, die fehlenden Fremdsprachenkenntnisse sowie seine zunehmende Leibesfülle. Auch Kohls Körpergröße von über 1,90 Metern wird häufig erwähnt und kommentiert. Der Berliner Reichstag, gegen dessen Verhüllung durch das Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude im Jahr 1994 sich Kohl eingesetzt hatte, erhielt im Berliner Volksmund unter anderem den Namen „Kohlroulade“. Kohl als „Birne“ Eine der nachhaltigsten satirischen Darstellungen von Kohl als Birne geht auf ein Titelbild des Spiegel im Jahr 1976 zurück. Der französische Illustrator Jean Mulatier zeichnete vor dem Bundestagswahlkampf 1976 vier Titelbild-Karikaturen von Kohl, Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher und Franz Josef Strauß. Der damalige Bundeskanzler Schmidt bemerkte bei einem Besuch in der Spiegel-Redaktion in einem Gespräch mit Verleger Rudolf Augstein, Kohl sehe auf dem Bild aus wie eine Bergamotte-Birne. Herbert Kremp, Chefredakteur der Welt, kritisierte die Karikaturen als „Faschisierung des deutschen Politiker-Gesichts“ und ließ die Bilder abdrucken, die auch als Poster erhältlich waren. Ab 1980 verwendete Bernd Eilert die Bezeichnung „birnenförmig“ für Kohl im Satiremagazin Titanic. 1982 erschien ein Titelbild mit der Überschrift „Birne muß Kanzler bleiben“. 1983 veröffentlichten die Titanic-Mitbegründer, der Karikaturist Hans Traxler und der Satiriker Pit Knorr, das Buch Birne – Das Buch zum Kanzler. Die Darstellung spielte auf Karikaturen des französischen Königs Louis-Philippe I. an. „Birne“ wurde Schmähwort und karikaturistisches Symbol für Helmut Kohl. „Ich war in Hölderlin gut“ In einem Zeitmagazin-Interview 1976 mit dem Schriftsteller Walter Kempowski zu seiner literarischen Schulbildung sagte Kohl den Satz „Ich war in Hölderlin gut“. Der Satz wurde zum geflügelten Wort und war Teil zahlreicher satirischer Beiträge. Gemälde-Parodien von Wolfgang Herrndorf Ein Gemälde des Illustrators und Schriftstellers Wolfgang Herrndorf, das Kohl in der Titanic im Stil von Vermeer porträtierte, erlangte 1996 Bekanntheit und wurde als Plakat verkauft. 1997 veröffentlichte der Haffmans Verlag den Wandkalender Klassiker Kohl 1998 mit zwölf satirischen Porträts von Kohl im Stil berühmter Maler, darunter Cranach, Magritte und Baselitz. Dem damaligen Bundeskanzler wurde der Kalender auf der Frankfurter Buchmesse gezeigt. „Bimbes“ Während der CDU-Spendenaffäre wurde das aus dem Rotwelschen stammende Wort „Bimbes“ populär, das Kohl als umgangssprachlichen Ausdruck für „Geld“ verwendet hatte. Kohl wurde später mit einer Aussage zitiert, mit der er Michail Gorbatschows Position gegenüber der DDR vor der Wiedervereinigung sinngemäß wiedergab: „Von uns gibt es kein Bimbes mehr. Macht was ihr wollt!“. Im Jahr 2000 wurde das Wort „Bimbes“ in den Duden aufgenommen. Kohl erhielt 2003 den Negativpreis „Preis der beleidigten Zuschauer“ für eine sarkastische Äußerung zur Spendenaffäre in einem ARD-Interview. Skulptur Der Ehrenwortbube von Peter Lenk Der Künstler Peter Lenk schuf die satirische Skulptur Der Ehrenwortbube über die Spendenaffäre, die 2001 auf einem Apothekendach in Stockach bei Konstanz aufgestellt wurde. Darauf wird Kohl von der allegorischen Justitia der Hintern versohlt. Fiktionale Darstellungen Der 1990 erschienene Schlüsselroman Parteifreunde von Wulf Schönbohm behandelt den Streit zwischen Kohl und Heiner Geißler. In der satirischen Puppenserie Hurra Deutschland (1989–1991) wurde Kohl als Puppe dargestellt, unter dem Namen Kohl and the Gang (Anspielung auf die Gruppe Kool & the Gang) wurden verschiedene Tonträger veröffentlicht. Der Mann aus der Pfalz (Fernseh-Spielfilm Deutschland 2009), biografisch-dokumentarische Interpretation zum Leben und der Entwicklung Kohls zwischen der unmittelbaren Nachkriegszeit nach 1945 und der deutschen Wiedervereinigung 1989/90. Kohl als Bundeskanzler wurde von Thomas Thieme dargestellt. Der Eierwurf von Halle (Sondersendung am 5. November 2021 als Musical im ZDF Magazin Royale von Jan Böhmermann). Kohl wurde von Prinzen-Sänger Sebastian Krumbiegel dargestellt. Ehrungen Orden und Auszeichnungen 1970: Großes Verdienstkreuz (1970) mit Stern (1973) und Schulterband (1975) des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland 1973: Großes Silbernes Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich 1977: Großkreuz des Verdienstordens der Italienischen Republik 1979: Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland 1984: Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen 1988: Internationaler Karlspreis zu Aachen, für seine Verdienste um die französisch-deutsche Freundschaft und für die Zukunft Europas, gemeinsam mit François Mitterrand 1989: Großes Goldenes Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich. 1992: Europäischer Handwerkspreis 1993: Deutscher Medienpreis in Baden-Baden. 1996: Orden für humanitäre Verdienste von der weltgrößten jüdischen Organisation B’nai B’rith 1997: Vision for Europe Award der Edmond Israel Foundation 1998: Großkreuz des Ordens des Infanten Dom Henrique 26. Oktober 1998: Großkreuz in besonderer Ausführung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, nach Konrad Adenauer der zweite Träger 1998: Ehrenbürger Europas, ernannt vom Europäischen Rat, ein Titel, der zuvor nur Jean Monnet verliehen worden war. 1999: Presidential Medal of Freedom 1999: St.-Liborius-Medaille für Einheit und Frieden des Erzbistums Paderborn 1999: Orden des Weißen Löwen 1. Klasse der Tschechischen Republik. 1999: Alter Freund des chinesischen Volkes 2000: Internationaler Preis des Westfälischen Friedens, für seine Verdienste um die deutsche Einheit und den damit verbundenen Beitrag für die Überwindung der Spaltung Europas 2004: Internationaler Adalbert-Preis, in Warschau vom polnischen Staatspräsidenten überreicht 2005: Point-Alpha-Preis für Verdienste um die Einheit Deutschlands und Europas in Frieden und Freiheit, gemeinsam mit George H. W. Bush und Michail Gorbatschow 2005: Franz Josef Strauß-Preis der Hanns-Seidel-Stiftung. Die Laudatio hielt der frühere CSU-Vorsitzende Theo Waigel. 2005: Quadriga, des Vereins Werkstatt Deutschland, für seine Verdienste um die Einheit Deutschlands und sein Bemühen um die europäische Einheit. Die Laudatio hielt Michail Gorbatschow. 2006: Sonderpreis des Konrad-Adenauer-Preises für Kommunalpolitik der Kommunalpolitischen Vereinigung der CDU und CSU in Deutschland (KPV) 2006: Europapreis Karl V. der Europäischen Akademie von Yuste, überreicht im spanischen Kloster San Jerónimo de Yuste bei Cáceres. In der Laudatio wurde Kohl von Felipe González als „großer Architekt“ für ein geeinigtes Europa bezeichnet. 2007: Goldene Medaille der Jean-Monnet-Stiftung, überreicht durch die Schweizer Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey in Lausanne. 2007: Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museums Berlin 2009: Hanns Martin Schleyer-Preis in Stuttgart 2009: Millenniums-Bambi, überreicht von seinem Laudator Theo Waigel. 2010: Roland Berger Preis für Menschenwürde. Laudator war Władysław Bartoszewski, ehemaliger Außenminister Polens. Von dem mit einer Million Euro dotierten Preis spendete Kohl im Juni 2010 700.000 Euro der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und die verbliebenen 300.000 Euro für den Bau eines Krankenhauses in Sri Lanka. 2011: Henry-Kissinger-Preis, überreicht vom ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton. Seit 1990 wurde Kohl jedes Jahr für den Friedensnobelpreis nominiert, so 2007 von Michail Gorbatschow. Im gleichen Jahr schlug ihn EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso für die Auszeichnung vor. Ehrenbürger und Ehrendoktorate Helmut Kohl war Ehrenbürger der Städte Danzig, Deidesheim, Frankfurt am Main, Berlin, Ludwigshafen am Rhein und seines österreichischen Urlaubsortes Sankt Gilgen. Kohl war Ehrendoktor verschiedener Universitäten des In- und Auslands. Briefmarken 2012: Sonderbriefmarke (Ausgabetag 11. Oktober 2012) Das Sonderpostwertzeichen mit dem Nominalwert von 55 Cent zeigt ein Porträt des Alt-Bundeskanzlers mit dem Schriftzug „Helmut Kohl – Kanzler der Einheit – Ehrenbürger Europas“. Er gehörte damit zu den wenigen Personen, die in der Bundesrepublik Deutschland bereits zu Lebzeiten mit einer Sonderbriefmarke geehrt wurden. Üblich ist diese Ehrung meist erst post mortem, im Gedenken um eine verdiente Persönlichkeit. Gedenken Denkmäler und Gedenkort Seit 2010 befindet sich vor dem Berliner Axel-Springer-Hochhaus das vom Künstler Serge Mangin gestaltete Ensemble Väter der Einheit mit Büsten von Kohl, George Bush und Michail Gorbatschow. Seit 2018 erinnert eine von der Bildhauerin Christine Dewerny gestaltete Büste Kohls auf der Straße der Erinnerung am Berliner Spreebogen. Die Europäische Stiftung Kaiserdom zu Speyer ehrte Kohl am 3. April 2022, seinem Geburtstag, durch die Aufstellung einer Bronzebüste auf einem Sockel aus rotem Sandstein im Domgarten. Geschaffen wurde sie vom Bildhauer Wolf Spitzer. Kohls Witwe Maike Kohl-Richter scheiterte im Juni 2020 mit dem Vorhaben, das Wohnhaus in Oggersheim unter Denkmalschutz stellen zu lassen. Grund für den Antrag war der damals geplante Abbruch der 1984, zwei Jahre nach der Kanzlerwahl, auf dem Nachbargrundstück errichteten Sonderwache der Polizei. Die Denkmalfachbehörde lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die Architektur der beiden Gebäude (Wohnhaus und Polizeiwache) sei sehr schlicht und durch mehrere Umbauten bereits stark verändert. Die Abrissarbeiten an der Sonderwache wurden gleichwohl inzwischen eingestellt, da das Grundstück vor dem Verkauf steht und der neue Eigentümer das Gebäude erhalten möchte (Stand: Dezember 2020). Zwischenzeitlich wurde das Grundstück mit der Polizei-Sonderwache von Maike Kohl-Richter erworben, damit die Sonderwache erhalten bleibt. Straßennamen Nach Kohl sind verschiedene Straßen und Plätze in Deutschland benannt: Helmut-Kohl-Allee in Bonn Helmut-Kohl-Platz in Burg Helmut-Kohl-Straße in Dessau-Roßlau Dr.-Helmut-Kohl-Platz in Greußenheim Helmut-Kohl-Europaplatz in Idar-Oberstein Dr.-Helmut-Kohl-Straße in Loddin Helmut-Kohl-Platz in Mainz Helmut-Kohl-Straße in Mannheim Helmut-Kohl-Platz in Nürnberg Helmut-Kohl-Platz in Osnabrück Helmut-Kohl-Straße in Schleusingen Helmut-Kohl-Ufer in Speyer Helmut-Kohl-Straße in Erfurt In verschiedenen Städten wurde die Benennung von Plätzen und Straßen nach Kohl abgelehnt. In Leuna scheiterte eine Umbenennung 2017. In Osnabrück wurde eine Umbenennung 2018 abgelehnt. In Leipzig wurde 2019 die Umbenennung des Eingangsbereichs der Neuen Messe abgelehnt. In Berlin schlug Burkhard Dregger 2018 den Großen Stern vor, die Idee stieß wegen der Nichteinhaltung einer Fünf-Jahres-Frist auf Ablehnung. Die Junge Union schlug 2020 vor, den Frankfurter Flughafen oder einen Platz vor der Europäischen Zentralbank nach Kohl zu benennen. In Kaarst wurde 2020 der Name Helmut-Kohl-Ring für eine Straße in einem neuen Gewerbegebiet beschlossen. In Hanau wird eine Umbenennung in einem neuen Gewerbegebiet diskutiert. In München und Ludwigshafen wurde 2021 eine Helmut-Kohl-Allee beschlossen. Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung Mit Wirkung zum 9. Juni 2021 wurde unter dem Namen „Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung“ in Berlin eine rechtsfähige Stiftung des öffentlichen Rechts errichtet, die an Leben und Wirken von Helmut Kohl erinnern soll. Stiftungszweck ist es, „das Andenken an das politische Wirken Dr. Helmut Kohls für Freiheit und Einheit des deutschen Volkes, für den Frieden in der Welt, für die Versöhnung mit den europäischen Nachbarstaaten und die europäische Integration zu wahren“ ( Abs. 1 HKohlStG). Dazu soll unter anderem ein Helmut-Kohl-Zentrum als öffentlich zugängliche Erinnerungsstätte in Berlin errichtet werden ( Abs. 2 Nr. 1 HKohlStG). Sonstiges Seit 2002 gibt es einen Helmut-Kohl-Wanderweg in Eppenbrunn. Er führt ins französische Roppeviller. Jeweils ein Wanderschuh Kohls und eine Schuhleiste von Charles de Gaulle sind nebeneinander im Deutschen Schuhmuseum Hauenstein sowie im Museum von Saint-André-Treize-Voies im französischen Département Vendée ausgestellt. Die Strickjacke, die Kohl 1990 beim sogenannten „Strickjackentreffen“ mit Michail Gorbatschow im Kaukasus trug, befindet sich in der Sammlung des Hauses der Geschichte in Bonn. 2013 änderte eine Bar namens „Helmut Kohl“ in Berlin-Neukölln ihren Namen in „Schloss Neuschweinsteiger“, nachdem Anwälte Kohls darum gebeten hatten. Die 16-jährige Kanzlerschaft von Helmut Kohl war mit 5870 Tagen neun Tage länger als die Kanzlerschaft von Angela Merkel. Schriften Die politische Entwicklung in der Pfalz und das Wiedererstehen der Parteien nach 1945. Dissertation, Universität Heidelberg 1958. Hausputz hinter den Fassaden. Praktikable Reformen in Deutschland. Fromm, Osnabrück 1971, ISBN 3-7729-5015-9. Zwischen Ideologie und Pragmatismus. Aspekte und Ansichten zu Grundfragen der Politik. Verlag Bonn Aktuell, Stuttgart 1973, ISBN 3-87959-014-1. (Hrsg.): Konrad Adenauer 1876/1976. Belser, Stuttgart 1976, ISBN 3-7630-1163-3. (Hrsg.): Der neue Realismus. Außenpolitik nach Iran und Afghanistan. Erb, Düsseldorf 1980, ISBN 3-88458-017-5. (Hrsg.): Die CDU. Porträt einer Volkspartei. Rüber, Schwieberdingen 1981, ISBN 3-922622-02-X. Der Weg zur Wende. Von der Wohlfahrtsgesellschaft zur Leistungsgemeinschaft. Herausgegeben von Dietrich Heissler. Husum-Druck- und Verlags-Gesellschaft, Husum 1983, ISBN 3-88042-190-0. Reden und Berichte der Bundesregierung. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn (zahlreiche Einzelveröffentlichungen). Deutschlands Zukunft in Europa. Reden und Beiträge des Bundeskanzlers. Herausgegeben von Heinrich Seewald. Busse Seewald, Herford 1990, ISBN 3-512-00979-4. Die deutsche Einheit. Reden und Gespräche. Mit einem Vorwort von Michail Gorbatschow. Lübbe, Bergisch Gladbach 1992, ISBN 3-7857-0665-0. Der Kurs der CDU. Reden und Beiträge des Bundesvorsitzenden 1973–1993. Hrsg. von Peter Hintze und Gerd Langguth. DVA, Stuttgart 1993, ISBN 3-421-06659-0. „Ich wollte Deutschlands Einheit.“ Dargestellt von Kai Diekmann und Ralf Georg Reuth. Propyläen, Berlin 1996, ISBN 3-549-05597-8; Ullstein, Berlin 2010, ISBN 978-3-548-37349-2. Mein Tagebuch 1998–2000. Droemer Knaur, München 2000, ISBN 3-426-27241-5. Erinnerungen. 1930–1982. Droemer Knaur, München 2004, ISBN 3-426-27218-0. Erinnerungen. 1982–1990. Droemer Knaur, München 2005, ISBN 3-426-27320-9. Erinnerungen. 1990–1994. Droemer Knaur, München 2007, ISBN 978-3-426-27408-8. Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung. Meine Erinnerungen. Knaur-Taschenbuch-Verlag, München 2009, ISBN 978-3-426-78336-8. Droemer Knaur, München 2014, ISBN 978-3-426-27655-6. (Gekürzte und überarbeitete Fassung). Berichte zur Lage 1989–1998. Der Kanzler und Parteivorsitzende im Bundesvorstand der CDU Deutschlands. Bearbeitet von Günter Buchstab und Hans-Otto Kleinmann, Droste Verlag, Düsseldorf 2012, ISBN 978-3-7700-1915-1. Aus Sorge um Europa: Ein Appell. Droemer Knaur, München 2014, ISBN 978-3-426-27663-1. Quellen Günter Buchstab (Bearb.): Kohl: „Wir haben alle Chancen“. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1973–1976 (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte. Bd. 67). 2 Bde., Droste, Düsseldorf 2015, ISBN 978-3-7700-1920-5. Literatur Biographien Patrick Bahners: Helmut Kohl. Der Charakter der Macht. Beck, München 2017, ISBN 978-3-406-70886-2. Wolfram Bickerich, Hans-Joachim Noack: Helmut Kohl. Die Biografie. Rowohlt Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-87134-657-6. Jürgen Busche: Helmut Kohl. Anatomie eines Erfolgs. 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Einzelnachweise Bundeskanzler (Deutschland) Ministerpräsident (Rheinland-Pfalz) Fraktionsvorsitzender (CDU Rheinland-Pfalz) Bundestagsabgeordneter (Rheinland-Pfalz) Bundesparteivorsitzender der CDU Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Vorsitzender der CDU Rheinland-Pfalz Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats für Deutschland Politiker (Ludwigshafen am Rhein) Mitglied der Jungen Union Person (deutsche Wiedervereinigung) Person (deutsch-französische Beziehungen) Sachbuchautor Literatur (Deutsch) Politische Literatur Autobiografie Träger des Bundesverdienstkreuzes (Großkreuz in besonderer Ausführung) Träger des Großen Goldenen Ehrenzeichens am Bande für Verdienste um die Republik Österreich Träger der Presidential Medal of Freedom Träger des Verdienstordens der Italienischen Republik (Großkreuz) Träger des Verdienstordens des Landes Baden-Württemberg Träger des Olympischen Ordens Träger des Weißen Adlerordens Träger des Ordens des Marienland-Kreuzes (I. Klasse) Träger des Ordens des Infanten Dom Henrique (Großkreuz) Träger des portugiesischen Christusordens (Großkreuz) Träger des Verdienstordens der Republik Ungarn (Großkreuz) Träger des Verdienstordens des Landes Rheinland-Pfalz Träger des Falkenordens (Großkreuz) Träger des Ordens vom Niederländischen Löwen (Großkreuz) Träger des Ordens des Weißen Löwen Honorary Knight Grand Cross des Order of St. Michael and St. George Träger von Orden und Ehrenzeichen (Slowenien) Karlspreisträger Preisträger der Hermann Ehlers Stiftung Ehrenbürger Europas Ehrenbürger von Berlin Ehrenbürger von Frankfurt am Main Ehrenbürger von Ludwigshafen am Rhein Ehrenbürger von Danzig Ehrenbürger im Landkreis Bad Dürkheim Ehrenbürger von London Ehrenbürger von Sankt Gilgen Ehrendoktor der University of Cambridge Ehrendoktor der Katholieke Universiteit Leuven (KUL) Ehrendoktor der Keiō-Universität Ehrensenator der Technischen Universität Kaiserslautern Träger des Karl-Valentin-Ordens Person (Deidesheim) Deutscher Geboren 1930 Gestorben 2017 Mann Bestsellerautor (Deutschland)
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Heinrich Himmler
Heinrich Luitpold Himmler (* 7. Oktober 1900 in München; † 23. Mai 1945 in Lüneburg) war ein deutscher Politiker der NSDAP und einer der Hauptverantwortlichen des Holocaust. Himmler machte in den 1920er-Jahren als Reichsredner und Parteifunktionär Karriere und wurde 1929 von Adolf Hitler an die Spitze der damals noch der Sturmabteilung (SA) unterstellten Schutzstaffel (SS) berufen. Himmler gelang es in der Zeit des Nationalsozialismus, vor allem in den Jahren 1934–1936, insbesondere durch den sogenannten Röhm-Putsch, der von ihm geleiteten Organisation und damit auch sich selbst immer mehr Befugnisse innerhalb des NS-Regimes zu verschaffen. Dazu gehörte insbesondere das Erlangen der vollständigen Kontrolle über die Polizei, die Konzentrationslager und den Inlandsgeheimdienst, sowie der Aufbau militärischer, nicht direkt der Wehrmacht unterstehender Verbände (Waffen-SS). Als Reichsführer SS, Chef der deutschen Polizei sowie Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (ab 1939), später auch Reichsinnenminister (ab 1943) und Befehlshaber des Ersatzheeres (ab 1944) hatte Himmler vor allem während des Zweiten Weltkriegs eine Machtposition, die nur von der Hitlers übertroffen wurde. Mit Hilfe der SS, des Sicherheitsdienstes, der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und anderer von ihm direkt oder indirekt kontrollierter Organe hatte Himmler ein System der Überwachung, der Willkür und des Terrors etabliert, mit dem die Menschen im Einflussbereich des NS-Regimes eingeschüchtert und kontrolliert, vermeintliche oder tatsächliche politische Gegner verfolgt, inhaftiert, entrechtet und ermordet wurden. Er ist einer der Hauptverantwortlichen für den Holocaust, den Porajmos, die Ermordung von Millionen von Zivilisten und Kriegsgefangenen im Rahmen seines Generalplans Ost sowie für zahlreiche andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Himmler sorgte durch seine Befehle in der Endphase des Krieges für die Ausweitung von Terror und Selbstjustiz selbst auf deutsche Zivilisten und sondierte gleichzeitig auf vielfältige Weise seine persönlichen Optionen für eine Zeit nach Adolf Hitler. Eigenmächtige Verhandlungsversuche mit den westlichen Alliierten wurden von diesen abgewiesen und öffentlich gemacht. Hitler enthob ihn in seinem politischen Testament am 29. April 1945 all seiner Ämter und Titel und erließ Haftbefehl gegen ihn. Himmler tauchte nach Kriegsende unter, wurde aber am 21. Mai 1945 bei Zeven festgenommen und kam in britische Gefangenschaft. Zwei Tage später deckte er dort seine Identität auf und beging mit einer Zyankalikapsel Suizid. Sein Leichnam wurde an unbekannter Stelle in der Lüneburger Heide vergraben. Leben Familie und erste berufliche Entwicklung Heinrich Himmler wurde als zweiter von drei Söhnen des Oberstudiendirektors Joseph Gebhard Himmler (* 17. Mai 1865 in Lindau (Bodensee); † 29. Oktober 1936 in München) und dessen Frau Anna Maria Heyder (* 16. Januar 1866 in Bregenz, Kaisertum Österreich; † 10. September 1941 in München) geboren. Die Familie kam aus einem bürgerlichen, römisch-katholischen bayerischen Umfeld. Heinrichs Brüder, Gebhard Ludwig (1898–1982) und Ernst Hermann Himmler (1905–1945), schlossen sich später ebenfalls der SS an, spielten jedoch in der weiteren Geschichte dieser Organisation keine große Rolle. Der Vater war Rektor des angesehenen humanistischen Wittelsbacher-Gymnasiums in München. Heinrich erhielt seinen Vornamen nach seinem Paten Prinz Heinrich von Bayern, der von Gebhard Himmler erzogen worden war. Himmler wuchs in geordneten Verhältnissen in der Amalienstraße 16 im Münchner Stadtteil Maxvorstadt auf. Er besuchte das humanistische Wilhelmsgymnasium München bis zu seinem 13. Lebensjahr. Danach zog die Familie nach Landshut, wo er seine Gymnasialzeit auf dem Humanistischen Gymnasium Landshut, dem heutigen Hans-Carossa-Gymnasium, fortsetzte und 1919 mit dem Abitur abschloss. Er galt als überaus fleißiger Schüler. Am Ende des Ersten Weltkrieges hatte er die Offiziersausbildung durchlaufen, jedoch nicht beendet. Er hatte mit Kriegsende 1918 aus der Armee ausscheiden müssen, ohne jemals an der Front eingesetzt gewesen zu sein (Kriegsjugendgeneration). Dies erschien ihm als persönlicher Makel. Nach der Gleichschaltung der Presse im NS-Regime wurde offiziell wahrheitswidrig behauptet, dass Himmler an der Front gewesen sei. Nach dem Scheitern der Münchner Räterepublik, an deren Niederschlagung Himmler sich als Angehöriger des Freikorps Oberland beteiligt hatte, studierte er von 1919 bis 1922 an der Technischen Hochschule München Landwirtschaft. Am 22. November 1919 trat er der schlagenden schwarzen Studentenverbindung Apollo München (heute: Burschenschaft Franco-Bavaria München) im Rothenburger Verband Schwarzer Verbindungen (RVSV) bei. Er schloss sein Studium mit der Diplomhauptprüfung für Landwirte ab. Anschließend arbeitete er bis zum Hitlerputsch als Laborant in einer Fabrik für künstliche Düngemittel im Norden Münchens. Himmler war seit dem 3. Juli 1928 mit Margarete Boden verheiratet und hatte eine leibliche Tochter Gudrun Burwitz (1929–2018) sowie ab März 1933 den Adoptivsohn Gerhard von der Ahé (28. Juli 1928 – Dezember. 2010). Das geringe Einkommen als Parteiangestellter versuchte das Ehepaar erfolglos durch Hühnerhaltung aufzubessern. Mit seiner Privatsekretärin und späteren Geliebten Hedwig Potthast (1912–1994) hatte er zwei Kinder, einen Sohn, Helge (* 15. Februar 1942), und eine Tochter, Nanette-Dorothea (* 20. Juli 1944). Diese Zweitehe entsprach seinem Familienkonzept seit Ende der 1930er Jahre, das er mit dem Hinweis auf eine Zweit- oder Friedelehe bei den „gutrassigen, freien Germanen“ auch bei anderen SS-Leuten als legitimiert ansah, vorausgesetzt, es waren gemeinsame Kinder geplant. Partei-politische Entwicklung bis zur NSDAP Von 1919 bis 1923 engagierte sich Himmler bei der katholisch orientierten Bayerischen Volkspartei (BVP), aus der er aber wieder austrat. Über seine Mitgliedschaft bei den Artamanen kam Himmler in Kontakt mit der NSDAP, der er am 1. August 1923 beitrat (Mitgliedsnummer 42.404). Am 9. November 1923 beteiligte er sich in seiner Eigenschaft als Mitglied des Röhmschen „Bund Reichskriegsflagge“ am gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch. Anfang 1924 schloss sich Himmler der Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung (NSFB) Erich Ludendorffs an. Bereits im Februar 1924 war er deren Parteiredner in Nordbayern. Ferner erneuerte er seine alten Kontakte zu Ernst Röhm und anderen Freikorps-Mitgliedern, als er dem Deutschvölkischen Offiziersbund (DVOB) und der Altreichsflagge beitrat. Diesen Organisationen gehörte Himmler bis 1926 an. Anfang 1925 begann sein Aufstieg in der neu gegründeten NSDAP (Mitgliedsnummer 14.303). 1925 trat er auch in die SA ein und wechselte bereits am 8. August 1925 in die SS (SS-Nr. 168) über. Bis 1927 führte er zahlreiche hauptamtliche Partei-Tätigkeiten aus, schärfte als Redner seine antikapitalistische und antisemitische Rhetorik und profilierte sich als Agrarexperte, bis er 1927 zum stellvertretenden Reichsführer SS ernannt wurde. In dieser Entwicklungsphase hatte er folgende Funktionen inne: 1925: Reichsredner der NSDAP 1925: Leiter der NSDAP-Parteipropaganda für Niederbayern 1925: Schriftführer der Gauleitung Niederbayern 1926: Gaugeschäftsführer und stellvertretender Gauleiter für Niederbayern-Oberpfalz 1926: Stellvertretender Gauleiter für Oberbayern-Schwaben 1926: Gau-SS-Führer Niederbayern 1926: Stellvertretender Reichspropagandaleiter 1927: Stellvertretender Reichsführer SS 1927: Mitglied des Stabes der Obersten SA-Führung Nach der Absetzung Erhard Heidens als Reichsführer SS wurde Himmler am 6. Januar 1929 durch Adolf Hitler an die Spitze der Schutzstaffel berufen. Der Titel „Reichsführer SS“ war zwischen 1926 und 1934 eine reine Dienststellung innerhalb der SA und anfänglich ohne jede rechtliche Bedeutung. Dieses änderte sich erst im August 1934. Sicherung der politischen Macht Wenige Tage vor der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler gab Heinrich Himmler am 27. Januar 1933 Reinhard Heydrich, dem Chef des Sicherheitsdienstes der NSDAP, den Befehl, umgehend den Umzug der Dienststelle von München nach Berlin durchzuführen. Denn allein mit der Kanzlerschaft Hitlers waren die Instrumente zur Machtsicherung, allen voran die Politische Polizei, noch nicht in den Händen der NSDAP. In der ungefestigten Situation bis zu den Märzwahlen 1933 war noch ungewiss, ob es den Nationalsozialisten gelingen würde, die Exekutive in ihrem machtpolitischen Sinne vollständig in die Hand zu bekommen. Die Auflösung des Reichstages am 1. Februar, die Ernennung von SA- und (unter Himmlers Kommando stehenden) SS-Verbänden zu Hilfspolizisten, der Reichstagsbrand am 27./28. Februar und schließlich die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 waren Schritte auf dem Weg zur Aufrichtung der Diktatur. Aus dem für sie bereits gesicherten Bayern agierend, dehnten Göring und Himmler die mit dem Preußenschlag 1932 begonnene Unterwanderung der staatlichen Machtorgane auf das ganze Reich aus. Schritte dazu waren auch die Ernennung Himmlers zum Politischen Polizeikommissar für ganz Bayern am 1. April 1933 und die Einsetzung Heydrichs zum Leiter der Abteilung IV des Münchener Polizeipräsidiums. Im selben Jahr trat Himmler in das Kuratorium der Dirksen-Stiftung ein, die Kontakte zwischen den traditionellen Eliten und den NSDAP-Vertretern förderte, und wurde im September 1933 zum preußischen Staatsrat ernannt. Ferner gehörte Himmler im Oktober 1933 zu den Gründungsmitgliedern der Akademie für Deutsches Recht. Einer der ersten Ausschüsse der Akademie für Deutsches Recht war der Ausschuss für Polizeirecht. Es existiert ein Foto von einem Vortrag Himmlers vor dem Ausschuss für Polizeirecht, das in Longerichs Biographie über Himmler abgedruckt ist. Erst knapp ein Jahr später, als die nationalsozialistische Inbesitznahme der staatlichen Machtorgane bereits vollzogen und die Länderregierungen entmündigt waren, wurde Himmler am 20. April 1934 von Hermann Göring zum Leiter des Gestapoamtes für Berlin ernannt. Am 30. Juni und 1. Juli 1934 trug dann die Himmler unterstehende SS den wesentlichen Anteil an der als Röhm-Putsch bezeichneten Aktion zur Beseitigung der von Hitler als Gefahr für seine Machtposition betrachteten SA-Führung und anderer innerer Gegner wie Gregor Strasser oder des ehemaligen Reichskanzlers General Kurt von Schleicher. Himmler, der Röhm bis dahin unterstellt gewesen war, hatte sich bei der Vorbereitung dieser Morde zwar nicht exponiert. Dass er die Ermordung Röhms und Strassers, seiner beiden wichtigsten Förderer innerhalb der Partei, jedoch mittrug, war als Beweis seiner bedingungslosen Loyalität gegenüber Hitler zu deuten. Bereits am 23. August 1934 wurde Himmler in „Anerkennung der Loyalität dem Führer gegenüber“ von Adolf Hitler in die Dienststellung eines „Reichsleiters der NSDAP“ (offizielle Bezeichnung: „Reichsleiter SS“) erhoben und die SS aus der übergeordneten SA herausgelöst. „Reichsführer SS“ war mit der Ernennung Himmlers zum Reichsleiter zu dem höchsten offiziellen Dienstgrad innerhalb der SS geworden, und Himmler war nur noch Hitler persönlich verantwortlich. Der Erlass des Führers und Reichskanzlers (Hitler) und des Reichsministers des Innern (Frick) vom 17. Juni 1936 (veröffentlicht im Reichsgesetzblatt RGBl. I. S. 487) war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Umwandlung des Polizeiapparates in ein Instrument der Partei. Himmler setzte durch, dass sein Parteiamt des Reichsführers SS mit dem neu geschaffenen staatlichen Amt eines Chefs der Deutschen Polizei verbunden wurde, allerdings mit dem Zusatz "im Reichsministerium des Innern (RFSSuChdDtPol.imRMdI). Er weigerte sich jedoch, ein Büro im Ministerium zu beziehen und delegierte die Agenden an einen Polizeiadjutanten. Himmler war als Chef der Deutschen Polizei dem Minister "persönlich und unmittelbar unterstellt", erreichte aber, dass er an den Sitzungen des Reichskabinetts teilnehmen konnte, allerdings nur „soweit sein Geschäftsbereich berührt wird.“ Der Erlass vom 17. Juni 1936 bedeutete vor allem das Ende der noch in Teilen bestehenden Polizeihoheit der Länder zugunsten der Zentralgewalt (Verreichlichung der Polizei). Dadurch konnte der politisch gewünschte Prozess einer „Verschmelzung“ der staatlichen Polizei (Reichsministerium des Innern) mit der nur Hitler unterstehenden Parteipolizei SS eingeleitet werden. Im Einvernehmen mit dem Reichsinnenminister Frick teilte Himmler per Erlass vom 26. Juni 1936 (veröffentlicht im MBdIV S. 946f.) die Polizei in zwei eigenständige Bereiche mit unterscheidlichen Adressen auf: Einem Hauptamt Ordnungspolizei (Schutzpolizei, Gendarmerie, Gemeindepolizei) mit Sitz im Ministerium (Unter den Linden), als Chef setzte er den Generaloberst der Polizei Daluege ein, und einem Hauptamt Sicherheitspolizei (Geheime Staatspolizei/Gestapo, Kriminalpolizei) mit Sitz beim SS-Hauptamt (Prinz Albrecht Straße). Als dessen Chef setzte Himmler in Personalunion SS-Obergruppenführer Heydrich ein, der bereits Chef des Sicherheitsdienstes der SS/SD war und blieb. Die „Verschmelzung“ von Polizei und Partei gelang im Bereich der Sicherheitspolizei daher am weitesten. Am 1. Oktober 1939 wurden zudem auf Reichsebene die Sicherheitspolizei mit dem SD im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) auch organisatorisch unter einem Dach zusammengeführt. Himmler versuchte sich ebenfalls auf dem Gebiet der Außenpolitik, indem er Mohammed al-Husseinis antijüdische Aktivitäten unterstützte und ihm nach seiner Flucht nach Deutschland Raum für Aktivitäten gab. Himmler war auch die treibende Kraft bei der Verfolgung homosexueller Männer im Nationalsozialismus und gründete 1936 die Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung als Sonderabteilung der Polizei. Er leitete ebenfalls das Programm Lebensborn zur Erhaltung des „arischen Blutes“ bis in die letzten Jahre des Krieges. Per Geheimerlass wurde Himmler zusätzlich am 7. Oktober 1939 von Hitler zum „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ ernannt. In dieser Funktion war er für die „Eindeutschung“ der besetzten Gebiete in Polen zuständig. Das führte einerseits zur Vertreibung und Ermordung der eingesessenen polnischen und jüdisch-polnischen Bevölkerung und andererseits zur Ansiedlung von sogenannten Volksdeutschen in den besetzten Gebieten (vor allem im Wartheland). Obwohl Himmler eine der Stützen des NS-Regimes war, suchte er intensiviert ab dem Sommer 1943 in einer zunehmend aussichtslosen militärischen Lage insgeheim nach einer Rolle für sich und die SS in einem Deutschland nach Hitler. Er nahm Sondierungen auf, um möglicherweise mit den westlichen Alliierten einen Separatfrieden abzuschließen, den Krieg gegen die Sowjetunion jedoch weiterzuführen. Offenbar bot Himmler über Mittelsmänner seinen Gesprächspartnern an, Hitler zu entmachten, während er selbst mit der SS die innere Ordnung weiter gewährleiste. Himmler hatte eine gewisse Kenntnis der aus Offizieren und konservativen Politikern bestehenden Widerstandsbewegung um Carl Friedrich Goerdeler und Generaloberst Ludwig Beck, wie sich unter anderem aus den Tagebüchern Ulrich von Hassells ergibt, griff aber nicht ein. Einer seiner Gesprächspartner dabei war der Rechtsanwalt Carl Langbehn, der am 26. August 1943 ein Treffen mit dem preußischen Finanzminister Johannes Popitz arrangierte – in dem Popitz Hitlers Absetzung vorschlug. Langbehn wurde einen Monat später, nach dem Abfangen eines Funkspruchs über eine offenbar mit Himmlers Wissen unternommene Reise Langbehns zu alliierten Vertretern in der Schweiz, festgenommen. Himmler ließ weiterhin verhandeln und bot (teilweise mit Wissen Hitlers) den Austausch jüdischer Gefangener an. Die vage Kenntnis Himmlers von Widerstandsplänen und seine undurchsichtigen Kontaktaufnahmen lassen sich mangels dokumentarischer Belege nicht genau rekonstruieren; über Motive und Ernsthaftigkeit dieser Aktivitäten Himmlers gibt es nur Spekulationen. Peter Longerich erwähnt sie in seiner umfassenden Biographie Himmlers von 2008 nur kurz, während Karl-Günter Zelle in seiner 2010 veröffentlichten Dissertation über Hitlers zweifelnde Elite diesen Aspekt in den Mittelpunkt der Argumentation über wachsende Zweifel und Distanzierungen gegenüber Hitler rückt – ein Deutungsansatz, der allerdings von den meisten Historikern abgelehnt wird. Infolge des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944 wurde Himmler Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres. Er übte dieses Amt aber nicht selbst aus, sondern beauftragte damit den Leiter des SS-Führungshauptamtes Hans Jüttner. Am 3. August 1944 hielt er vor den Gauleitern eine Rede, in der er ihnen seine Sicht (und die der NSDAP) auf die Ereignisse des 20. Juli 1944 erläuterte und der Wehrmacht alle Verantwortung für die schwierige Lage zuwies. Darin forderte er die „Blutrache“ für alle Mitglieder der Familien der Attentäter und verteidigte – so die Einschätzung Theodor Eschenburgs – seine Fühlungnahme mit Vertretern des Widerstands. Beitrag zur NS-Germanenideologie Himmler war am 21. Dezember 1929 auf einem „Reichsthing“ der Artamanen in Freyburg an der Unstrut als „Gauführer“ des „Bundes Artam“ im Gau Bayern bestätigt worden, ein Amt, das er bereits Mitte 1928 von Hans Holfelder verliehen bekommen hatte. Himmler versuchte seit 1933 zusammen mit dem Co-Artamanen Walther Darré die SS in Westfalen zu verankern, weil es dort nach Darrés Überzeugung mehr als in anderen Gegenden Deutschlands noch Reste des alten Germanentums gab. 1934 übernahm die SS mit einem Pachtvertrag die Wewelsburg bei Paderborn. Nach Karl Hüser bestand später für die SS-Ideologen „kein Zweifel, sie [d. i. die Entstehungszeit der Burg] in die Zeit der Abwehrkämpfe König Heinrichs I. gegen die Ungarn oder ‚Hunnen‘ zu legen“. Als 1935 die Stadt Quedlinburg bei höchsten Reichsstellen um Unterstützung für die Ausrichtung der Feierlichkeiten zum 1000. Todestag Heinrichs I. am 2. Juli 1936 nachsuchten, legte Himmler im Dezember 1935 fest, „dass die SS mit der Stadt Quedlinburg alleinige Trägerin der Feiern am 2. Juli 1936 sein sollte“. Denn Heinrich I. galt seit dem 19. Jahrhundert in der deutschen Nationalgeschichtsschreibung als der am ursprünglichsten germanisch gebliebene mittelalterliche Herrscher und Initiator der Ostkolonisation. Mit der Gründung der „Ahnenerbe“-Stiftung im Jahr 1935 wollte Himmler alles in Erfahrung bringen, was sich über die quellenarme Zeit Heinrichs herausfinden und noch dokumentieren ließ. Mit der Todestagsfeier und der deutschlandweit im Radio übertragenen Himmlerrede machte Himmler die Stiftskirche St. Servatius (Quedlinburg) zu einer „nationalen Pilgerstätte“, in der bis 1944 jährlich am 2. Juli „Heinrichsfeiern“ stattfanden. 1938 gründete Himmler dort die „König-Heinrich-I.-Gedächtnisstiftung“, nach Heinz Höhne die wichtigste unter den Stiftungen Himmlers, in der ausgesuchte „König-Heinrich-Städte“ (Braunschweig, Enger, Fritzlar, Wetzlar, Bad Gandersheim, Erfurt, Goslar, Meißen, Nordhausen, Schleswig, Wallhausen und Quedlinburg) Mitglieder wurden. 1939 überreichte der Quedlinburger Oberbürgermeister Himmler den eigens für ihn komponierten „König-Heinrichs-Marsch“. Im Krieg fanden die Heinrichsfeiern ohne Himmler statt. Himmlers auffälliger Bezug auf Heinrich I. (und generell auf dem Namen Heinrich) – seinen seit Kriegsbeginn eingesetzten Sonderzug nannte er „Heinrich“, seine in der Nähe des Führerhauptquartiers befindliche Feldkommandostelle ebenfalls, seine Unternehmungen in Osteuropa liefen für ihn unter der Bezeichnung „Programm Heinrich“ –  führte dazu, dass er in seinem Umfeld „König Heinrich“ genannt wurde (woraus der politische Witz im Nationalsozialismus den „Reichsheini“ machte). Himmlers Geliebte Hedwig Potthast, die er – nach angeblich altgermanischem Brauchtum – als quasi-offizielle „Nebenfrau“ ansah, sprach auch nach dem Krieg noch von ihrem „König Heinrich“. Sein Freund und Chronist Hanns Johst hätte aus den Kriegstaten die „Heinrich-Saga“ zu dichten gehabt. Peter Longerich fasst Himmlers ideologische Prinzipien in seiner Germanenrezeption so zusammen: Einen weiteren auffälligen Niederschlag fanden Himmlers Vorstellungen vom Germanentum in seinen Siedlungsplänen, so in der Terminologie des „Generalplans Ost“: In Anlehnung an das mittelalterliche Lehnswesen werden die künftigen Siedler „Lehnsnehmer“ genannt. Weitere in diesem Zusammenhang verwendete Begriffe sind „Belehnung“, „Lehensfähige“, „Lehenshöfe und -stellen“, „Zeitlehen“, „Erblehen“, „Lehensgerichte“. Das „Lehen“ als zur Nutzung verliehener Besitz geht als Wort auf das Altgermanische zurück und bestimmte seit dem 8. Jahrhundert die feudale Rechts- und Gesellschaftsordnung des Mittelalters. In den verschiedenen Entwürfen ist außerdem von den zu schaffenden Siedlungsgebieten als „Siedlungsmarken“ oder „Reichsmarken“ „an der vordersten Front des deutschen Volkstums gegenüber dem Russen- und Asiatentum“ (Entwurf vom 28. Mai 1942) die Rede, an deren Spitze jeweils ein „Markhauptmann“ zu stehen kommen sollte. Hinter diesen nach außen gekehrten Anleihen beim Germanentum und dem, was Himmler dafür hielt, ging es ihm um weit mehr, nämlich darum, in Anlehnung an Geschichte, Geschichtsmythos, Germanenkult, Sternbeobachtung, Sterndeutung und Wiederverkörperungstheorie ein Welterklärungsmodell zu schaffen, das „tatsächlich ein Religionsersatz“ in Gestalt einer „germanischen Urreligion“ werden sollte. Mit diesen Vorstellungen, bei denen er sich zeitweise vor allem auf den umstrittenen Okkultisten Karl Maria Wiligut stützte, trat Himmler allerdings nie in die Öffentlichkeit. Spuren werden heute in der Wewelsburg gezeigt, deren Ausbau unter Ausschluss der Öffentlichkeit bis 1964 abgeschlossen sein sollte. In Anlehnung an Nicholas Goodrick-Clarkes Studie über die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus hält Hans Thomas Hakl dazu fest: „[…] bei Himmler, wie bei Hess, Rosenberg oder Darré (auf dessen okkult-völkische Tendenzen nicht so häufig verwiesen wird) gilt jedenfalls immer eines: Der Primat gehört der Politik!“ Siedlungspläne Himmlers Endziel war die Schaffung eines „großgermanischen Imperiums“, das er in einer Rede vor SS-Gruppenführern am 8. November 1938 wie folgt charakterisierte: Dazu plante Himmler „die eroberten Gebiete einem gigantischen Vertreibungs-, Umsiedlungs- und Ausrottungsprogramm zu unterwerfen. In seiner Perspektive war die Ermordung der Juden nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer wesentlich breiter angelegten rassistischen ‚Neuordnung‘.“ Dem sollte vor allem die von ihm in Auftrag gegebene Ausarbeitung des Generalplans Ost dienen, dessen Verwirklichung mit einer grenzkolonisatorischen „Germanisierung“ bis zum Ural auf die Zeit nach dem Krieg und dem ins Auge gefassten Sieg verschoben worden war, nachdem erste Siedlungsversuche unter der Leitung seines „Vorpostens im Osten“ (Peter Black), Odilo Globocnik, bei der Aktion Zamość gescheitert waren. Himmler hätte ihn gern im Osten weiter beschäftigt, anstatt ihn auf vielseitiges Drängen zu versetzen, weil er in ihm jemanden sah, der „wie kein zweiter für die Kolonisation des Ostens geschaffen“ sei, wie er in einem Brief an seinen Schwager Richard Wendler am 4. August 1943 schrieb. (Siehe auch: Hungerplan oder Landwirtschaft im Deutschen Reich.) Im Vorfeld des Krieges gegen die Sowjetunion waren die Aufgaben und Vollmachten Himmlers nochmals erheblich erweitert worden. Im Juni 1941, unmittelbar vor dem Russlandfeldzug, bestimmte Himmler in einer Geheimrede vor den SS-Gruppenführern in der Wewelsburg dessen Zweck als Dezimierung der slawischen Bevölkerung um dreißig Millionen. In der Folge ermordeten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD unter dem Befehl der SS im ersten Kriegssommer fast eine Million Menschen. Neben den Einsatzgruppen tat sich dabei die ihnen zeitweise zugeordnete besonders brutale SS-Sondereinheit Dirlewanger hervor, die Himmler auf Anregung des ihm nahestehenden Gottlob Berger Anfang 1940 aus rechtskräftig verurteilten Wilderern hatte aufstellen lassen. Ab Herbst 1940 war sie zunächst im Generalgouvernement im Raum Lublin eingesetzt, 1942 wurde sie nach Weißrussland zur so genannten Partisanenbekämpfung verlegt und war maßgeblich 1944 an der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes beteiligt, für dessen schnellstmögliche Beendigung Himmler in einer Rede am 21. September 1944 meinte, selbst die Bezeichnung „eines furchtbaren Barbaren“ zu verdienen: „Ja, das bin ich, wenn es sein muss.“ Denn auch da ging es ihm immer noch um die Verwirklichung seiner Ostvisionen: „Dann aber ist Warschau, die Hauptstadt, der Kopf, die Intelligenz dieses ehemaligen 16-, 17-Millionenvolkes ausgelöscht, dieses Volkes, das uns seit 700 Jahren den Osten blockiert und uns seit der ersten Schlacht bei Tannenberg im Wege liegt. Dann wird das polnische Problem für unsere Kinder und für alle, die nach uns kommen, ja schon für uns kein großes Problem mehr sein.“ Das in seiner Rede von 1938 angekündigte „großgermanische Reich“ sollte seine Grenzen am Ural haben. Noch im August 1944 schwärmte Himmler in Posen vor Gauleitern von „unseren politischen, wirtschaftlichen, menschlichen, militärischen Aufgaben in dem herrlichen Osten“. Bereits als junger Mann hatte er nach einem Vortrag von Rüdiger von der Goltz am 21. November 1921 in sein Tagebuch geschrieben: „Das weiß ich bestimmter jetzt als je, wenn im Osten wieder ein Feldzug ist, so gehe ich mit. Der Osten ist das Wichtigste für uns. Der Westen stirbt leicht. Im Osten müssen wir kämpfen und siedeln.“ „Siedeln“ ist das deutsche Wort für „kolonisieren“. Zu diesem „Siedeln“ gehörte, wie Himmler es in der Beschreibung Odilo Globocniks als eines Kolonisators verdeutlicht, der Völkermord, wie ihn Globocnik in der Aktion Reinhardt vollzog, als Voraussetzung dazu. Während Himmler von der Ermordung der Juden in seinen Posener Reden bereits in der Vergangenheitsform sprach und sie am 5. Mai 1944 in Sonthofen vor Generälen als Teil der „Auseinandersetzung mit Asien“ darstellte, waren längst alle Siedlungsplanungen im Lebensraum im Osten auf eine Zeit nach einem von Himmler immer noch als möglich fantasierten Sieg aufgeschoben, aber in Wirklichkeit im Vernichtungskrieg längst untergegangen. Peter Longerich fasst in seiner Biographie über Himmler die Idee des großgermanischen Reichs, die Himmler gebildet hatte, wie folgt zusammen: Sorge um den Nachruhm Frank-Lothar Kroll stellte 1998 fest, dass dem rastlosen Tätigsein Himmlers kein für seine Mitwelt nachvollziehbares Handlungskonzept entsprach: „Seine Weltanschauung hat […] keinen allgemeingültigen Ausdruck gefunden, der es einem größeren zeitgenössischen Publikum ermöglicht hätte, sich mit ihr vertraut zu machen. Ihre offizielle Breitenwirkung war dementsprechend gering, ihre Reichweite begrenzt […].“ Umso eifriger war Himmler darauf bedacht, sein Tun mit Kriegsbeginn von Historikern absegnen, von Chronisten begleiten und aufzeichnen zu lassen. Noch 1939 hatte Albert Brackmann, „höchstrangiger deutscher Historiker“ (Wolfgang J. Mommsen) und „graue Eminenz der Ostforschung“ (Mathias Beer), auf Bestellung Himmlers innerhalb von drei Wochen auf 61 Seiten eine Propagandaschrift abgefasst: Krisis und Aufbau in Osteuropa. Ein weltgeschichtliches Bild. Darin wird die Aufgabe der Deutschen in Osteuropa als riesiges Kolonisationsprojekt historisch legitimiert, und zwar hauptsächlich durch Verweis auf den im 10. Jahrhundert wirkenden Heinrich I. und seinen Sohn Otto I. Die Wehrmacht setzte es mit 7000 Exemplaren ab 1940 ebenfalls bei Schulungen von Führungskräften ein. Vor Kriegsbeginn war schon der Schriftsteller und Arzt Werner Jansen, der Himmler seit seiner Jugend als Autor von romanhaften Darstellungen germanischer Sagenstoffe begeisterte, an ihn herangetreten, „mich als Ihren Geschichtsschreiber an dem großen Geschehen teilhaben zu lassen“. 1940 wurde Jansen einem „Totenkopf“-Verband zugeteilt; er starb im Dezember 1943 nach längerer Krankheit. An der einzigen SS-Gruppenführertagung, die je auf der Wewelsburg als künftiger ideologischer Zentrale der SS vom 11. bis 15. Juni 1941, also unmittelbar vor Beginn von „Unternehmen Barbarossa“, stattfand und in deren Verlauf Himmler „die Dezimierung der Bevölkerung der slawischen Nachbarländer um 30 Millionen“ ankündigte, nahm auch Hanns Johst, Präsident der Reichsschrifttumskammer, teil. Als Chronist war Johst, der ab Herbst 1944 auch Mitglied in Himmlers „Persönlichem Stab“ war, von Oktober 1939 bis November 1944 immer wieder in Himmlers Feldkommandostelle anwesend, manchmal bis zu drei Monate. Ein erstes Werk in Vorbereitung der nicht mehr zu schreibenden „Heinrich-Saga“ oder „Saga des Großgermanischen Reichs“ hatte er 1940 vorgelegt, nachdem er Himmler im Sonderzug „Heinrich“ ins „Kolonialland“ Polen begleitet hatte: Ruf des Reiches – Echo des Volkes! Eine Ostfahrt. Im Juni 1941 bemühte sich Himmler außerdem um einen weiteren Autor, nämlich Edwin Erich Dwinger (1898–1981), der die geplanten SS-Unternehmungen im Osten literarisch begleiten und darstellen sollte. Über ihn als Erfolgsschriftsteller hoffte er, allerdings vergeblich, auf eine massenhafte Verbreitung der Schilderung seiner Kriegstaten in Form historischer Romane. Denn Dwinger hatte über seine Kriegserlebnisse im Ersten Weltkrieg und als Kriegsgefangener in Russland einige Bücher und als weiteren Bestseller 1940 Der Tod in Polen. Die volksdeutsche Passion über den Bromberger Blutsonntag veröffentlicht und anders als Johst in osteuropäischen Kriegsangelegenheiten bereits Erfahrungen gesammelt. Diese Absichten Himmlers, seine Taten literarisch verherrlichend darstellen zu lassen, entsprechen der Tradition, die nach der Antike auch im Mittelalter zur Abfassung von Epen geführt hatte, nachdem fremde Länder erobert waren und die Kolonisatoren „sozusagen Gründungsurkunden“ brauchten. So hatte auch Widukind von Corvey als der wichtigste Chronist des 10. Jahrhunderts von den ersten beiden sächsischen Herrschern ein rühmendes Bild von ihren Taten gezeichnet. Himmler stellte seine Sichtweise in einer Rede auf der Tagung der Befehlshaber der Kriegsmarine im Dezember 1943 so dar: „[…] die Saga unseres Volkes ist die Geschichte unseres Volkes aus frühester Zeit. Und diese Form der Sage, der Erzählung […] hört das Herz der Menschen […] in Deutschland viel, viel mehr mit feiner Stimme, als die Wissenschaft mit ihrer Lehrhaftigkeit dem Manne oder der Frau beizubringen vermag.“ Dementsprechend bereiteten die SS-Leithefte den historischen Stoff in Form von Heldensagen auf, 1937 und 1939 zum Beispiel in Bezug auf Heinrich I. Für seinen Umgang mit den Ottonen und gleichzeitig seine Sichtweise auf das Mittelalter wollte sich Himmler auch wissenschaftlich absichern lassen. So bemühte sich Josef Otto Plassmann, der seit 1928 mit Veröffentlichungen zu Heinrich I. in Erscheinung getreten war und dem „Persönlichen Stab“ Himmlers noch vor Hanns Johst angehörte, Ende der 1930er Jahre um eine Habilitation, mit der er nach Walther Wüst „das Geschichtsbild der Sachsenkaiser auf altgermanischer Grundlage aufbauen, dieses Geschichtsbild so der römischen Geschichtsklitterung endgültig entreißen und damit die Absichten des Reichsführers SS in einer Weise und Stärke mit verwirklichen helfen [wolle], wie sie eindrucksvoller nicht gedacht werden kann“. Die Schrift wurde schließlich nach einigem Zögern von Hermann Schneider im Oktober 1943 in Tübingen angenommen. Während Hitler auf die Verwirklichung seiner Planungen verschiedentlich mit dem Argument drängte, die ihm verbleibende Zeitspanne sei wegen seines Gesundheitszustandes kurz bemessen (vgl. z. B. Hoßbach-Niederschrift), kalkulierte Himmler ab Anfang der 1940er Jahre mit 20 ihm verbleibenden aktiven Jahren. So veranlasste er seinen Generalplaner Konrad Meyer, die Umsetzung des Generalplans Ost von zunächst 30 veranschlagten Jahren auf 25 und schließlich auf 20 Jahre herabzusetzen. Ganz ähnlich waren die Ausbaupläne für die Wewelsburg bis 1964 ausgelegt, wo er sich das Amt eines „Reichsverwesers“ für einen künftigen großgermanischen Wahlkönig und Weltherrscher ausüben sah, während nach Hitlers Visionen Berlin nach den Plänen von Albert Speer in gigantischer Weise unter dem Namen Germania zur Hauptstadt eines angestrebten großgermanischen Reiches ausgebaut worden wäre. Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden Himmler war es, der die Vernichtung der europäischen Juden, den Holocaust, ins Werk setzte. Diesem fielen zwischen 5,6 und 6,3 Millionen Menschen zum Opfer. Aber er war nicht allein: Zum einen handelte er im Auftrag Hitlers, zum anderen stand ihm die SS als williges Werkzeug zur Verfügung, und es drängten auch zahlreiche Gauleiter und andere hochrangige Nationalsozialisten. Für Hitler war die Ausrottung des Judentums ein vorrangiges und erklärtes Ziel, so bereits 1924 in seiner Programmschrift Mein Kampf. In seiner Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 verkündete er offen: „Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa!“ Mehrfach kam er auf diesen Ausspruch zurück und bekräftigte ihn damit. Himmler war zwar seit seiner Jugend auch Antisemit, aber Hitlers äußerste Destruktivität war ihm zunächst fremd. In den dreißiger Jahren redete er zwar von einer bevorstehenden Auseinandersetzung mit Bolschewismus und Judentum, aber erwartete diese offensichtlich in einer ferneren Zukunft. Die zunehmend an den Rand der Gesellschaft gedrängten deutschen Juden hielt er anscheinend für ungefährlich. Allerdings sollten diese Deutschland seiner Ansicht nach verlassen. Dies änderte sich im Herbst 1938 mit der Sudetenkrise. In seiner Rede vor den SS-Gruppenführern am 8. November 1938 beschrieb er seine Erwartungen: Die Verschärfung der deutschen Judenpolitik würde dazu führen, dass die Juden die Deutschen angreifen und ohne Ausnahme ausrotten würden. Aber zunächst blieb es bei der offiziellen Politik eines verstärkten Drucks zur Auswanderung. Erst im Mai 1941 wurde diese aufgegeben. Nach dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 dezimierten Reinhard Heydrichs Einsatzgruppen die polnische Elite und brachten auch zahlreiche Juden um. Im Wesentlichen wurde die jüdische Bevölkerung in Ghettos zusammengetrieben und dort je nach Gutdünken der örtlichen Machthaber dem allmählichen Hungertod preisgegeben oder für die Rüstungswirtschaft ausgebeutet. Auch die Juden Deutschlands und aus dem Protektorat Böhmen und Mähren sollten hier in geschlossenen Siedlungsgebieten untergebracht werden. Nach ersten Transporten im Oktober 1939 wurde diese Aktion abgebrochen. Für Himmler als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums war es jetzt wichtiger, die von Stalin freigegebenen Volksdeutschen in den annektierten Gebieten, zumal im Warthegau, anzusiedeln. Hierzu ließ er 87.000 nichtjüdische und eine unbekannte Zahl jüdischer Polen deportieren. Dies führte zu massiven Störungen, zumal in der Rüstungsproduktion, weswegen Himmler im Februar 1940 darauf verzichten musste, weitere Juden nach Polen zu verbringen. Ende Mai 1940, nach dem deutschen Sieg über Frankreich, machte er den Vorschlag, die Juden im deutschen Machtbereich nach Afrika zu verbringen. Hitler stimmte zu, denn schon 1938 hatte er dem Madagaskarplan zugestimmt. Im Herbst 1940 mussten die Pläne zur Deportation der Juden nach Madagaskar aufgegeben werden: als sich die geplante Invasion Englands (Unternehmen Seelöwe) als unmöglich erwies, wurde Madagaskar unerreichbar. Vorübergehend wurde nun doch wieder Polen als Ziel der Deportationen angesehen, später aber sollte dieses in neu zu erobernden Gebieten der Sowjetunion liegen. Himmlers Aktionen in diesen ersten beiden Kriegsjahren erscheinen hektisch und wenig planvoll, aber er sah sich stets von Hitler gedeckt: „Ich tue nichts, was der Führer nicht weiß.“ Beim Unternehmen Barbarossa am 22. Juni 1941 und dem folgenden Deutsch-Sowjetischen Krieg fiel Himmler die Aufgabe zu, die Exponenten des sowjetischen Systems auszuschalten: die Politkommissare der Roten Armee, die kommunistischen Funktionäre und die „jüdisch-bolschewistische Intelligenz“. In kurzer Zeit wurde hieraus die systematische Tötung der gesamten jüdischen Bevölkerung, einschließlich der Frauen und Kinder. Bis Ende 1941 brachten Himmlers Einsatzgruppen etwa eine halbe Million Menschen um. Himmler persönlich kümmerte sich intensiv um diese Mordaktionen, ließ sich täglich Bericht erstatten, besuchte wiederholt die Einsatzorte und sah auch bei Massenerschießungen zu. Aber er stand auch ständig mit Hitler im Kontakt, im ersten Vierteljahr des Feldzuges sah er diesen etwa 26 Mal. Aufzeichnungen über diese Gespräche gibt es nicht, aber die zunehmende Radikalisierung der Mordaktionen entsprach wohl genau Hitlers Vorstellungen. Die Erschießungsaktionen sah Himmler als schwere psychische Belastung seiner Einsatzgruppen an. Als ihm im Oktober 1941 vorgeschlagen wurde, das Vernichtungslager Belzec mit Gaskammern einzurichten, stimmte er sofort zu und ließ gleich weitere Vernichtungslager errichten. Schon vorher, im September 1941, hatte Hitler befohlen, die Juden aus dem Reich und dem Protektorat bis Ende des Jahres nach Osten zu deportieren. Zu diesem Zeitpunkt war aber die Aufnahme an den Bestimmungsorten nicht geregelt, so dass die Deportationen nach manchen Anläufen abgebrochen werden mussten. Als nach der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 die Organisation ausgearbeitet und die Vernichtungslager bereit waren, begann der systematische Abtransport der europäischen Juden. Zuvor hatte Himmler am 18. Oktober 1941 in einem Erlass mit Wirkung vom 23. Oktober allen Juden die Auswanderung aus Deutschland untersagt. Nach dem Attentat auf Heydrich in Prag am 27. Mai 1942 und dessen Tod am 4. Juni 1942 übernahm Himmler zunächst selbst kommissarisch die Führung des Reichssicherheitshauptamtes, bis er Ernst Kaltenbrunner am 30. Januar 1943 als neuen Chef des RSHA in sein Amt einführte. Zum Nachfolger Heydrichs als Stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren bestimmte er den Chef der Ordnungspolizei Kurt Daluege. Himmler war demnach der Organisator der „Endlösung“, berief sich dabei aber wiederholt auf Befehle Hitlers. Jedoch wird nicht angenommen, dass es einen expliziten, schriftlichen oder mündlichen derartigen Befehl gegeben hätte. Allerdings ordnete Hitler einzelne Maßnahmen an oder genehmigte diese, die sich aber oft als noch undurchführbar herausstellten und zunächst wieder abgebrochen werden mussten. Nachdem erste Erfahrungen mit Vergasungswagen in den „Euthanasie“-Aktionen von 1941 den Nationalsozialisten Ergebnisse zur arbeitsteiligen und industriemäßigen Tötung lieferten, ließ sich die Massenvernichtung effektiv durchführen. In seinen geheimen Posener Reden vom 4. Oktober 1943 vor den SS-Gruppenleitern und am 6. Oktober vor den Gauleitern gab Himmler einen Rückblick auf die inzwischen weitgehend abgeschlossene Judenvernichtung, die er als erster Vertreter der NS-Führungsspitze in unverschleierter Sprache als „Ausrottung des jüdischen Volkes“ bezeichnete (siehe auch Zeitgenössische Kenntnis vom Holocaust). Er lobte die SS für die Ausführung, was er als „niemals zu schreibendes Ruhmesblatt“ bezeichnete: Sie sei, auch im Angesicht hunderter ermordeter Personen, stets „anständig“ geblieben, eine für Himmlers Ideenwelt typische Pervertierung positiv besetzter soldatischer Werte. Er betrachtete diesen Auftrag als das „Allerhärteste und Allerschwerste, was es gibt“. Alle Zuhörer sollten „das Geheimnis mit ins Grab nehmen“ – und nach einer verbreiteten Historikeransicht als Komplizen in die Verantwortung genommen werden. Bernward Dörner sieht in der Einbeziehung der Zuhörer noch weitergehend einen Versuch der Selbstentlastung Himmlers. Die Reden stehen im Kontext des Verlusts Italiens als Bündnispartner und der immer schwieriger werdenden Kriegslage sowie der Priorisierung der Judenvernichtung zum wichtigsten Kriegsziel. Scheitern an der Front Der in der Militärführung unerfahrene Himmler wurde, nachdem er ab September 1944 in der Etappe der besetzten Westgebiete Kampfverbände und ab Oktober als Vorbereitung einer Miliz den Volkssturm und als Freischärler Werwolf-Verbände hatte aufstellen lassen, im November 1944 zum Oberbefehlshaber Oberrhein ernannt, um nach der weitgehend vollständigen Besetzung Frankreichs eine Abwehrfront aufzubauen, was er von Triberg im Schwarzwald aus zu organisieren versuchte. Am 21. Januar 1945 zog er von dort nach Schneidemühl, wo Himmler den Oberbefehl über die Heeresgruppe Weichsel antrat – mit der Aufgabe, den Vormarsch der Roten Armee zu stoppen. Goebbels notierte in seinem Tagebuch, die Truppen seien durch deren Vorrücken „ziemlich auseinandergefallen“; es brauche zur Reorganisation „eine starke Hand“, was Himmler „absolut zuzutrauen“ sei – als mögliche Vorbereitung dafür, ihm den Oberbefehl über das gesamte Heer zu erteilen. Zur Bewältigung der äußerst schwierigen Lage hatte Himmler wenig beizutragen und erkannte, dass er mit der Aufgabe überfordert war. Der Generalstabsoffizier Hans-Georg Eismann etwa erinnerte sich, man habe bei den Lagebesprechungen „unwillkürlich den Eindruck [gehabt], dass ein Blinder von der Farbe sprach“. Nach einer Serie von Misserfolgen und einem Sanatoriumsaufenthalt wurde Himmler im März 1945 von Hitler aufs Schärfste kritisiert und am 21. März abberufen. Letzte Verhandlungsversuche und Terrorbefehle Himmler traf sich am 15. Januar 1945 in Bad Wildbad heimlich mit dem früheren Schweizer Bundespräsidenten Jean-Marie Musy. Die dabei getroffene Vereinbarung Himmler–Musy ermöglichte die Ausreise von 1200 jüdischen Gefangenen des KZ Theresienstadt in die Schweiz. Am 17. Februar 1945 sprach Himmler mit dem schwedischen Grafen Folke Bernadotte, dem Vizepräsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes. Dieser konnte einige Häftlingsfreilassungen erreichen. Vor allem durfte er die skandinavischen Häftlinge im Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg zusammenführen und diese auch versorgen (vgl. Rettungsaktion der Weißen Busse). Im April 1945 erließ Himmler den sogenannten Flaggenbefehl, nach dem jede männliche Person aus einem Haus, an dem eine weiße Fahne hänge, unverzüglich zu erschießen sei. Dies erlaubte es Angehörigen von Wehrmacht und SS, Zivilisten auch ohne Standgericht und in willkürlicher Selbstjustiz schlicht zu exekutieren. Am 14. April befahl Himmler, dass kein Insasse von Arbeits- oder Konzentrationslagern lebend zurückzulassen sei. Dies war der Anlass für Massenhinrichtungen und die Todesmärsche. Am 21. April 1945 war Himmler sogar bereit, mit einem Vertreter des Jüdischen Weltkongresses zu sprechen, dem schwedischen Juden Norbert Masur. Er sagte diesem die Freilassung von 1000 Jüdinnen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück zu. Am selben Tag sprach auch Bernadotte mit Himmler und erreichte die Ausweitung der Zusage auf die Übergabe sämtlicher transportfähiger weiblicher Häftlinge aus diesem Konzentrationslager. Zwei Tage später, in der Nacht vom 23. zum 24. April, traf sich Himmler ein letztes Mal mit Bernadotte. Er gab alle skandinavischen Häftlinge frei, darüber hinaus so viele, wie Bernadotte würde abtransportieren können. Als Gegenleistung sollte dieser einen Kontakt mit Dwight D. Eisenhower herstellen, dem Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Nordwesteuropa. Himmler bot ihm eine einseitige Kapitulation gegenüber den Westmächten an. Damit handelte er, als sei er bereits der Nachfolger des in Berlin eingeschlossenen Hitler. Als Vorwand nannte er, dass Hitler schwer krank, vielleicht schon tot sei und in spätestens zwei Tagen sein Tod erwartet werden könne. Walter Schellenberg fügte hinzu, dass es sich um eine Hirnblutung handele. Die Alliierten gaben Himmlers Gesprächsangebot an die Presse weiter. Hitler reagierte mit einem Wutanfall und schloss Himmler aus der NSDAP sowie von allen Partei- und Staatsämtern aus. Zum Nachfolger von Himmler als Reichsführer SS ernannte Hitler am 29. April den Gauleiter von Niederschlesien, Karl Hanke. Longerich vermutet, dass Hitler, der schon am 22. April erklärt hatte, keine Befehle mehr zu erteilen und damit den Weg für Verhandlungen eröffnet habe, sich auf diese Weise zu distanzieren versuchte, um nicht mit der Schmach des Aufgebens in Verbindung gebracht zu werden. Flucht, Gefangennahme und Suizid Anfang Mai 1945 setzte sich Himmler mit seinem persönlichen RFSS-Stab, der aus 150 Personen bestand, über die sogenannte Rattenlinie Nord nach Flensburg ab. Nachdem sein Versuch gescheitert war, sich an der Regierung Dönitz im Sonderbereich Mürwik zu beteiligen, und der Krieg in Europa mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai endete, floh er vermutlich ab 11. Mai 1945 mit einigen Begleitern zunächst in Fahrzeugen, südlich der Elbe dann zu Fuß zurück nach Süden. Am Abend des 21. Mai gerieten Himmler und zwei ihm noch verbliebene Begleiter bei dem Versuch, eine Straße in der Nähe des Ortes Meinstedt zu überqueren, in britische Gefangenschaft. Himmler legte als Identifikationspapier einen „Vorläufigen Entlassungsschein“ aus dem Wehrdienst, ausgestellt auf den Feldwebel Heinrich Hizinger, vor und blieb zunächst unerkannt. In den folgenden zwei Tagen wurde Himmler über mehrere Stationen nach Lüneburg gebracht. Am Nachmittag des 23. Mai gab er seine wahre Identität preis. Daraufhin wurde Himmler in eine Dienststelle des britischen Nachrichtendienstes gefahren, die sich in einer Villa in der Uelzener Straße 31a befand. Vor seiner Vernehmung sollte Himmler ärztlich untersucht werden. Bei der Untersuchung seiner Mundhöhle zerbiss er eine Zyankalikapsel und verstarb wenig später gegen 23:15 Uhr. In den frühen Morgenstunden des 26. Mai wurde der Leichnam Himmlers von einem kleinen Trupp englischer Soldaten in der Lüneburger Heide an unbekannter Stelle vergraben. Rezeption Forschung Im Dezember 1945 schrieb Eugen Kogon das Vorwort zu seinem 1946 erschienenen und seither immer wieder aufgelegten Buch Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager. Himmler erfährt darin folgende Charakteristik: „Brutalität und Romantik. Er konnte sie wie Tag- und Nachthemden wechseln: – man denke an die mitternächtlichen SS-Fahnenjunker-Weihen im Dom zu Quedlinburg, wo Himmler vor den (übrigens unechten, aber kurzerhand für echt erklärten) Gebeinen Heinrichs I., des Begründers der mittelalterlichen deutschen Ostmacht, die Mystik der ‚verschworenen Gemeinschaft‘ zu entfalten pflegte, um dann, bei strahlendem Tagesgestirn, in irgendeinem Konzentrationslager der reihenweisen Auspeitschung politischer Gefangener beizuwohnen. Von der Symbolik des Sonnenrades führte der Hakenkreuzweg geradlinig zu den glühenden Öfen von Auschwitz.“ Hannah Arendt äußerte sich über Himmler in ihrem zuerst 1951 auf Englisch erschienenen politischem Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: „Himmler, der nach 1936 potentiell mächtigste Mann Deutschlands, gehörte weder zu den ‚bewaffneten Bohemiens‘ (K. Heiden) noch eigentlich zum Pöbel. Der Organisator der Vernichtungsfabriken war „normaler“ als irgendeiner der ursprünglichen Führer der Nazibewegung, war ein Spießer und weder ein verkommener Intellektueller wie Goebbels noch ein Scharlatan wie Rosenberg, noch ein Sexualverbrecher wie Streicher, noch ein hysterischer Fanatiker wie Hitler, noch ein Abenteurer wie Göring.“ Joachim C. Fest bescheinigte Himmler 1974 zur Erklärung seines politischen Aufstiegs ein Denken, das „von so suggestiver Dürftigkeit und gedanklicher Armut Ausdruck romantischer Verstiegenheit“ war, nämlich „die Verlängerung einer von Indianern und Operngermanen geprägten Kindheitserfahrung in die Politik“. Gleichzeitig sprach er von dessen „paternalische[r] Autorität“, dem „‚König Heinrich‘, wie ihn einige seiner Unterführer in Anspielung auf seinen Reinkarnationsspleen […] mit einigem Respekt nannten“. Peter Longerich kommt 2008 in der ersten umfangreichen wissenschaftlichen Himmler-Biographie zu dem Ergebnis, dass Himmler sich „eine ganz auf seine Person abgestellte und durch seine spezifischen Vorlieben und Eigenheiten bestimmte Machtposition“ schuf, die sich „als ein extremes Beispiel nahezu totaler Personalisierung politischer Macht“ beschreiben lasse: „Die charismatische Führerherrschaft, die Recht- und Regellosigkeit dieses Herrschaftssystems, der permanente Zwang, Machtstrukturen an veränderte politische Zielsetzungen anzupassen, hatten zur Folge, dass große Teile des Herrschaftsapparates durch dezidiert auf bestimmte Personen zugeschnittene Aufträge zwar unmittelbar an den ‚Führer‘ gebunden waren, diese Vertrauten aber zur Ausführung ihrer Aufträge über extrem große Handlungsspielräume verfügten.“ Belletristik 1944 stellte Curzio Malaparte im 16. Kapitel seines Romans Kaputt unter der Überschrift „Nackte Männer“ eine Begegnung mit Himmler 1942 in Finnland dar, und zwar zunächst im Fahrstuhl des Hotels „Pohjanhovi“ in der von deutschen Truppen besetzten lappländischen Hauptstadt Rovaniemi und später in einer Sauna im Hauptquartier des Oberkommandos der Nordfront bei General Eduard Dietl. Er erinnert den Erzähler an Igor Strawinsky, hat „kurzsichtige Fischaugen, die hinter zwei dicken Gläsern weiß schimmerten wie hinter einer Aquariumswand“. In einer Unterhaltung wird darüber gesprochen, ob man ihn sich auf einem Gemälde eher „mit dem Evangelium in der rechten Hand und dem Gebetbuch in der Linken“ oder mit einer Pistole und einer Peitsche vorstellen könnte. In der Sauna scheint es dem Erzähler, „als löse sich dieser Mann vor unseren Augen im Wasser auf, ich fürchtete, dass binnen kurzem von ihm nichts weiter übrigbleiben werde als eine leere und schlaffe Hauthülle“. Bei Alfred Andersch ging es 1980 in seiner Erzählung Der Vater eines Mörders um den Charakter von Himmlers Vater, indem er an dessen Wesen den Konflikt zwischen Autorität und Humanismus verdeutlicht. Im selben Jahr erschien Earthly Powers (dt. Der Fürst der Phantome) des englischen Romanciers und Satirikers Anthony Burgess. Hier rettet der homosexuelle Protagonist unfreiwillig Himmler das Leben und wird dafür von den Nationalsozialisten als Held gefeiert. Auch in Jonathan Littells Roman Die Wohlgesinnten (dt. 2008) begegnet ein Homosexueller, der SS-Offizier Max Aue, Himmler wiederholt persönlich. Dabei werden sowohl ausführliche Original-Zitate von ihm als auch fiktive Ratschläge wiedergegeben, wie etwa der an Aue, er solle möglichst viele Kinder zeugen: „Warum nicht über die Institution Lebensborn, Obersturmbannführer!“ Film Spielfilme In Der letzte Akt von 1955 wird Himmler von Erich Stuckmann dargestellt. Im Kriegsfilm Die gefrorenen Blitze (DDR 1967, Regie: János Veiczi) wird Himmler von dem tschechoslowakischen Schauspieler Jindřich Narenta dargestellt. Im sowjetischen Fernsehmehrteiler Siebzehn Augenblicke des Frühlings von 1973 wird Himmler von Nikolai Prokopowitsch dargestellt. Im Kriegsfilm Der Adler ist gelandet von 1976 wird Himmler von Donald Pleasence gespielt. In dem Spielfilm Aus einem deutschen Leben von 1977 wird Himmler von Hans Korte dargestellt. In Oliver Hirschbiegels Der Untergang von 2004 wird Himmler von Ulrich Noethen gespielt. In dem dreiteiligen deutschen Doku-Drama Speer und Er aus dem Jahr 2005 wird Himmler von Florian Martens verkörpert. In dem Hollywood-Film Operation Walküre (2008) wird Himmler von dem deutschen Schauspieler Matthias Freihof gespielt. Freihofs beide kurze Szenen als Himmler wurden jedoch herausgeschnitten, sodass er in der endgültigen Kinofassung nicht zu sehen war. In dem französischen Kinofilm Die Kinder von Paris (La Rafle) aus dem Jahr 2010 wird Himmler von dem deutschen Schauspieler Thomas Darchinger dargestellt. In der zweiten und dritten Staffel der US-amerikanischen Fernsehserie The Man in the High Castle von 2016 bzw. 2018 wird Himmler von Kenneth Tigar verkörpert. Dokumentationen Schwarze Sonne, Kultorte und Esoterik des III. Reiches, Regie: Rüdiger Sünner. Inhalt: unter anderem Himmlers Rolle bei Kult und Esoterik im III. Reich. In Nazis: Die okkulte Verschwörung wird aufgezeigt, welche Bedeutung Religion und Mystik für Himmler hatten. Der deutsche Regisseur Romuald Karmakar schuf in seinem Himmler-Projekt (2000) aus dem dürren Text der Posener Reden einen in seinem Minimalismus eindringlichen Dokumentarfilm, für den er zusammen mit Manfred Zapatka 2002 mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet wurde. Hexenforschung in Himmlers Auftrag, MDR-Fernsehen (2004) In Der Anständige wurden Jahrzehnte verschollene private Briefe und Texte von Himmler mit historischem Bildmaterial kombiniert. Regie: Vanessa Lapa; Israel, Deutschland, Österreich 2014, 94 Min., mit den Stimmen von Tobias Moretti, Sophie Rois, Antonia und Lenz Moretti, Pauline Knof, Florentín Groll, Martin Lalis; Drehbuch Vanessa Lapa und Ori Weisbrod. Nachlass Eine große Sammlung privater Dokumente von Himmler und seiner Frau Marga wurde von zwei amerikanischen Soldaten im Familiensitz Haus Lindenfycht in Gmund am Tegernsee erbeutet. Darunter waren die Tagebücher des jungen Himmler aus den Jahren 1914 bis 1922, die von Werner Tom Angress und Bradley F. Smith 1959 im Journal of Modern History in englischer Übersetzung veröffentlicht wurden. Zusammen mit Briefen von Marga Himmler an Heinrich Himmler und anderen Dokumenten kamen sie an die Hoover Institution der Stanford University und wurden Mitte der 1990er Jahre vom Bundesarchiv in Koblenz erworben. Ein anderer Teil des Himmler-Nachlasses tauchte in den 1980er Jahren in Israel auf. Daraus kamen die Tagebücher von Marga Himmler von 1937 bis 1945 in den Besitz des Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. Weiter waren darunter weitere Briefe von Himmler an seine Frau, Fotos und andere Dokumente. Die Dokumente wurden 1982/83 vom Bundesarchiv in Koblenz untersucht, als Verhandlungen über einen Ankauf liefen, und für authentisch befunden. Dieser Teil der Dokumente ging später in den Besitz der Familie der Filmemacherin Vanessa Lapa über. Der erste Teil des Dienstkalenders von Himmler für die Jahre 1941/42 wurde 1999 veröffentlicht, nachdem er von sowjetischer Seite aus den Archiven des KGB zugänglich gemacht wurde. Dort waren die 1946 an das sowjetische Innenministerium übergebenen Akten der Adjutantur Himmlers seit 1954. Der Verbleib des zweiten Teils der Diensttagebücher für die Jahre 1943 bis 1945 blieb bis 2013 im Westen unbekannt, wurde dann aber über ein Digitalisierungsprojekt des Zentralarchivs des russischen Verteidigungsministeriums in Podolsk bekannt. Sie wurden 2020 veröffentlicht – ergänzt um Teile des Tischkalenders, Himmlers Telefonbuchnotizen und den im Bundesarchiv befindlichen Teil des Dienstkalenders von Januar bis März 1945 – und dokumentieren fast alle Tage – bis auf sechs – vom 1. Januar 1943 bis zum 14. März 1945. Siehe auch Freundeskreis Reichsführer SS Hexenkartothek Schriften Der Reichstag 1930. Das sterbende System und der Nationalsozialismus. Eher, München 1931, . Die Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation. Eher, München 1936, . Die Schutzstaffel. Industrieverlag Spaeth & Linde, Berlin 1938, . Die Organisation des Terrors – der Dienstkalender Heinrich Himmlers (1. Januar 1943 bis 14. März 1945). Herausgegeben von Matthias Uhl, Thomas Pruschwitz, Martin Holler, Jean-Luc Leleu und Dieter Pohl. Piper 2020, ISBN 978-3-492-05896-4. Quellen Helmut Heiber (Hrsg.): Reichsführer. Briefe an und von Himmler. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1968, . Bradley F. Smith, Agnes F. Peterson (Hrsg.): Heinrich Himmler. Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen. Propyläen, Frankfurt am Main / West-Berlin / Wien 1974, ISBN 3-549-07305-4. Peter Witte u. a. (Hrsg. und Kommentar): Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42. Christians-Verlag Hamburg 1999, ISBN 3-7672-1329-X. Norbert Masur: En Jude talar med Himmler (Ein Jude spricht mit Himmler). Schweden 1945; deutsch in: Niklas Günther, Sönke Zankel (Hrsg.): Abrahams Enkel: Juden, Christen, Muslime und die Schoa. Stuttgart 2006, ISBN 978-3-515-08979-1, S. 133–144. 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Augenzeugenbericht von Edwin Austin über Himmlers Suizid (MP3; 03:19 Minuten) in der Österreichischen Mediathek Nachlass Bundesarchiv N 1126 Einzelnachweise Freikorps-Mitglied Reichstagsabgeordneter (Weimarer Republik) Reichstagsabgeordneter (Deutsches Reich, 1933–1945) Reichsminister (Deutsches Reich, 1933–1945) Heirich Mitglied der Akademie für Deutsches Recht Preußischer Staatsrat (ab 1933) Innenminister (Deutschland) Oberbefehlshaber einer Heeresgruppe (Heer der Wehrmacht) Reichsleiter (NSDAP) Reichsredner BVP-Mitglied NSFP-Mitglied NSDAP-Mitglied Teilnehmer am Hitlerputsch SA-Mitglied SS-Mitglied Burschenschafter (20. Jahrhundert) Person (Reichssicherheitshauptamt) Rassismus im Nationalsozialismus Täter des Holocaust Täter des Porajmos Nationalsozialismus (München) Polizeipräsident (München) Gestapo-Personal Person (Landshut) Deutscher Geboren 1900 Gestorben 1945 Mann
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Hermann Weyl
Hermann Klaus Hugo Weyl (* 9. November 1885 in Elmshorn; † 8. Dezember 1955 in Zürich) war ein deutscher Mathematiker, Physiker und Philosoph, der wegen seines breiten Interessensgebiets von der Zahlentheorie bis zur theoretischen Physik und Philosophie als einer der letzten mathematischen Universalisten gilt. Leben Weyl besuchte das Gymnasium Christianeum in Altona. Auf Empfehlung des Direktors, der ein Cousin David Hilberts war und den die Begabung des Jungen beeindruckte, begann Weyl nach seinem Abitur 1904 in Göttingen bei Hilbert Mathematik und nebenbei auch Physik zu studieren. Er belegte zudem Kurse in Philosophie bei Edmund Husserl, wobei er seine spätere Frau Helene kennenlernte. Bis auf ein Jahr (1905) in München studierte er in Göttingen, wo er 1908 bei David Hilbert mit der Arbeit „Singuläre Integralgleichungen mit besonderer Berücksichtigung des Fourierschen Integraltheorems“ promoviert wurde, sich 1910 habilitierte und bis 1913 als Privatdozent lehrte. 1913 heiratete er Helene Joseph aus Ribnitz, die später viele Werke des spanischen Philosophen José Ortega y Gasset übersetzte. Mit ihr hatte er zwei Söhne. Im gleichen Jahr erhielt er eine Professur für den Lehrstuhl der Geometrie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, wo er Albert Einstein kennenlernte, der zu jener Zeit (1916–1918) gerade seine Allgemeine Relativitätstheorie entwickelte, was Weyl zur intensiven Beschäftigung mit den mathematischen Grundlagen der Allgemeinen Relativitätstheorie und deren möglichen Erweiterungen (etwa zur Berücksichtigung der Elektrodynamik und eines Eichparameters), insbesondere aber mit der zugrunde liegenden Differentialgeometrie anregte. 1918 veröffentlichte er eines der ersten Lehrbücher der Allgemeinen Relativitätstheorie (neben Lehrbüchern von Max von Laue und Arthur Eddington), Raum, Zeit, Materie. Einen Ruf nach Göttingen, die Nachfolge von Felix Klein anzutreten, schlug er aus. Erst 1930, nachdem Hilberts Lehrstuhl verwaist war, nahm er an: Hilberts Nachfolger zu werden, war für ihn eine Ehre, die er nicht ablehnen konnte. Jedoch fiel ihm der Wechsel von Zürich nach Göttingen nicht leicht, da er die politische Radikalisierung und den Aufstieg des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik mit Besorgnis sah, wie er 1930 in einer Ansprache vor der Göttinger Mathematischen Verbindung zum Ausdruck brachte: „Nur mit einiger Beklemmung finde ich mich aus ihrer [der traditionell demokratischen Schweiz] freieren und entspannteren Atmosphäre zurück in das gähnende, umdüsterte und verkrampfte Deutschland der Gegenwart.“ Zeit seines Lebens fühlte er sich demokratischen Idealen verpflichtet, und 1933 sah er sich außerstande, im von den Nationalsozialisten beherrschten Deutschland zu lehren, zumal seine Frau Jüdin war. In seinem aus Zürich am 9. Oktober 1933 abgeschickten Entlassungsgesuch an den neuen nationalsozialistischen Unterrichtsminister Bernhard Rust schrieb er: „Daß ich in Göttingen fehl am Platze bin, ist mir sehr bald aufgegangen, als ich im Herbst 1930 nach 17-jähriger Tätigkeit an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich dorthin als Nachfolger von Hilbert übersiedelte.“ Durch Vermittlung von Albert Einstein nahm er eine Stellung am Institute for Advanced Study in Princeton an, wo er bis 1951 wirkte. In Princeton starb 1948 seine Frau Helene, und er heiratete 1950 die Bildhauerin Ellen Bär, Tochter von Richard Bär aus Zürich, von der die Hermann-Weyl-Büste stammt, die in den Universitäten von Princeton, Zürich und Kiel zu seinem Gedenken steht. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er vorwiegend in Zürich. 1955 erhielt er die Ehrenbürgerwürde seiner Geburtsstadt Elmshorn, kurz darauf verstarb er unerwartet in Zürich aufgrund eines Herzanfalls, den er beim Versenden von Post an einem Briefkasten erlitt. Weyl hieß bei engen Freunden Peter Weyl, zum Beispiel unter den Schrödingers. In Zürich hatte er ein Verhältnis mit Erwin Schrödingers Frau Anny, was an der Freundschaft mit Schrödinger nichts änderte, da die Schrödingers in offener Beziehung lebten. Weyls Ehefrau Helene (genannt Hella) wiederum hatte in dieser Zeit eine offene Beziehung mit Paul Scherrer. Mathematisches Werk und Theoretische Physik Weyl hat sich mit vielen Gebieten der Mathematik beschäftigt und schrieb mehrere Bücher und über 200 Zeitschriftenartikel. Er begann als Analytiker, entsprechend den Interessen der Hilbertschule am Anfang des 20. Jahrhunderts (Integralgleichungen, Spektraltheorie), und habilitierte 1910 über singuläre Differentialgleichungen und ihre Entwicklung in Eigenfunktionen, die unter anderem in der mathematischen Physik wichtig sind (später „Spektraltheorie selbstadjungierter Operatoren“ genannt). 1915 (Rendicondi Circolo Mathematico di Palermo) bestimmte er die asymptotische Verteilung der Eigenwerte der Laplacegleichung und zeigte, dass der erste Term proportional dem Volumen ist, was die Physiker (unter anderem Hendrik Antoon Lorentz) bei der Untersuchung der Hohlraumstrahlung, die die ersten Zusammenhänge zwischen Quantenmechanik und klassischer Theorie lieferte, schon vermutet hatten. Andere Parameter außer dem Volumen spielen keine Rolle. Die allgemeine Frage, ob man aus dem Spektrum (den Eigenschwingungen) auf die geometrische Form eines Gebietes schließen kann, popularisierte Mark Kac in seinem Aufsatz „Can one hear the shape of a drum?“ (American Mathematical Monthly 1966). Weniger bekannt ist, dass Weyl seinen Zürcher Kollegen Erwin Schrödinger nicht unwesentlich bei dessen grundlegendem Aufsatz zur quantentheoretischen Wellenmechanik unterstützte, indem er ihm den Weg zur Lösung der Schrödingergleichung beim Wasserstoffatom wies. 1913 veröffentlichte er das Buch Die Idee der Riemannschen Fläche, in dem die vorher eher heuristisch eingebrachten topologischen Methoden strenger behandelt wurden und das moderne Konzept der Mannigfaltigkeiten erstmals systematisch eingesetzt wurde. Seit seinem Buch über die Allgemeine Relativitätstheorie war Weyl an Verbindungen zur Physik stark interessiert. Er formulierte die zugrundeliegende Differentialgeometrie allgemeiner und flexibler unter Einführung eines affinen Zusammenhangs. In Raum, Zeit, Materie und in seinem Aufsatz Gravitation und Elektrizität von 1918 führt er erstmals das Konzept einer Eichtheorie ein, jedoch zunächst nicht in der heutigen Form, sondern durch einen lokal veränderlichen Skalenfaktor. Die Idee dahinter war, dass bei Paralleltransport eines Vektors längs einer geschlossenen Kurve nicht nur die Richtung verändert wird (was durch die Krümmung ausgedrückt wird), sondern auch die Länge veränderlich sein konnte. Er hoffte so die Elektrodynamik in die Theorie einzubinden. Als die Elektrodynamik umfassende Erweiterung der Theorie wurde sie schnell von Albert Einstein als den Experimenten widersprechend verworfen. Das Buch Raum, Zeit, Materie entwickelt systematisch den Riccischen Tensorkalkül und benutzt die Parallelverschiebung (von Tullio Levi-Civita eingeführt) von Vektoren als fundamentalen Begriff. Weyl ist der Begründer der Eichfeldtheorien im heutigen Sinn, in einer Arbeit von 1929, mit Eichtransformationen als Phasenfaktoren der quantenmechanischen Wellenfunktionen. Das Weylsche Einbettungsproblem der Differentialgeometrie ist nach ihm benannt. Die Analyse der Ideen von Bernhard Riemann und Hermann von Helmholtz zu den Raumformen, die unter „vernünftigen“ physikalischen Voraussetzungen möglich sind, griff Weyl in seinen spanischen Vorlesungen Die mathematische Analyse des Raumproblems 1920 auf. Dies führte ihn zu Anwendungen der Gruppentheorie, aus der sich seine Beschäftigung mit kontinuierlichen Gruppen entwickelte (Lie-Gruppen). Seine wichtigsten Arbeiten (Mathematische Zeitschrift, Bände 23/24, 1925/1926) sind vielleicht in der Theorie der Lie-Gruppen zu sehen, deren Darstellungstheorie er untersucht, wobei er globale Konzepte wie Mannigfaltigkeiten einbringt, statt der bis dahin überwiegenden lokalen Aspekte der Lie-Algebra. Beispielsweise erklärte er erstmals die Spinoren aus der Topologie der Drehgruppe. Außerdem schlägt er hier eine Verbindung zu den Methoden der von Ferdinand Georg Frobenius und Issai Schur entwickelten Darstellungstheorie endlicher Matrixgruppen vor. Weyl gibt eine allgemeine Formel („Weyl-Charakterformel“) für die Charaktere der irreduziblen Darstellungen halbeinfacher Lie-Gruppen, indem er die schon von Elie Joseph Cartan und Wilhelm Killing untersuchten Lie-Algebren mit Spiegelungsgruppen, den Weyl-Gruppen, untersucht. Nach ihm ist die Weylsche Integralformel in der Theorie der Liegruppen benannt. Ein weiteres wichtiges Resultat seiner Arbeit ist der Satz von Peter-Weyl (Mathematische Annalen 1927), den er zusammen mit seinem Studenten Fritz Peter (1899–1949) formulierte. Sind Sinus und Kosinus orthogonale Funktionensysteme in Bezug auf die Translationsgruppe in einer Dimension, so gibt es solche für allgemeine kompakte Lie-Gruppen G (bei denen ein invariantes (Haar-)Maß als Integral über die Gruppenelemente definiert werden kann). In diesem Funktionenraum, einem Hilbertraum, sind nach dem Peter-Weyl-Theorem die Darstellungen der Gruppe G durch irreduzible Darstellungen der unitären Gruppe gegeben. In Gruppentheorie und Quantenmechanik gab er 1928 (etwas vor den Büchern von Bartel Leendert van der Waerden und Eugene Wigner) eine Darstellung der gruppentheoretischen Aspekte (und allgemein der mathematischen Aspekte) der Quantenmechanik, speziell der Darstellungstheorie der unitären und orthogonalen Gruppen (die wiederum nach Issai Schur mit denen der symmetrischen Gruppe zusammenhängen). Im Buch The classical groups von 1939 erweiterte er dies auf alle klassischen Gruppen und schuf die Verbindung zur klassischen Invariantentheorie, einem wichtigen Teil der Algebra des 19. Jahrhunderts. Zusammen mit seinem Sohn Fritz Joachim Weyl veröffentlichte er 1943 das Buch Meromorphic functions and analytic curves, in dem die Nevanlinnasche Wertverteilungstheorie meromorpher Funktionen auf analytische Kurven verallgemeinert wird. Seit seinem Studium bei Hilbert war Weyl an Zahlentheorie interessiert (nach eigener Angabe verbrachte er mit dem Studium von Hilberts Zahlbericht in den Semesterferien die glücklichsten Monate seines Lebens). Beispielsweise veröffentlichte er in den Mathematischen Annalen 1916 einen Aufsatz über analytische Zahlentheorie Gleichverteilung der Zahlen mod 1. Darin zeigte er, dass die Nachkommastellen der Vielfachen einer irrationalen Zahl nicht nur im Intervall [0,1] dicht liegen, wie Leopold Kronecker bewies, sondern gleichverteilt sind. Sie lassen sich also gut als Zufallszahlen verwenden. Weyl veröffentlichte 1921 zudem eine Methode zur Abschätzung einer Exponentialsumme, diese wird heute in der analytischen Zahlentheorie als Weyls Methode bezeichnet. Im Buch Symmetrie gibt er eine populäre Darstellung des Gruppenkonzepts, von Schneekristallen, Ornamenten (Gruppen aus ebenen Translationen und Spiegelungen/Drehungen) bis zur Symmetrie von Gleichungen unter Vertauschung der Wurzeln (Galoistheorie). Philosophie und Grundlagen der Mathematik Weyls erste Reaktion auf die logischen und mengentheoretischen Antinomien, die Anfang des 20. Jahrhunderts die Grundlagen der Mathematik aufrüttelten, war sein Buch Das Kontinuum von 1918. Obwohl er in einem Aufsatz von 1910 Beiträge zur axiomatischen Mengenlehre leistete, war er ab 1917 zunehmend kritisch der Mengenlehre gegenüber eingestellt und ihrer Rolle als Grundlage der Analysis, wo er tiefliegende Zirkelschlüsse vermutete, und wollte in der Grundlegung wie Henri Poincaré zu elementaren Konzepten wie den natürlichen Zahlen und wenigen logischen Prinzipien zurückkehren. Wenig später wandte er sich in einem Aufsatz, der große Aufmerksamkeit fand (Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik, Jahresbericht DMV, 1921), dem Intuitionismus von Luitzen Egbertus Jan Brouwer zu und damit gegen das Programm seines Lehrers David Hilbert zu einer axiomatischen Grundlegung der Mathematik auf Basis der Mengenlehre. Weyl hatte den Intuitionismus aus persönlichen Diskussionen mit Brouwer beim Urlaub in der Schweiz 1919 kennen gelernt, nachdem Brouwer ihn in relativer Isolation im Ersten Weltkrieg entwickelt hatte. Dabei schlug Weyl in seinem Aufsatz einen kämpferischen Ton ein, der Bezüge zu den politischen Umwälzungen nach dem Ersten Weltkrieg herstellte. Hilbert war darüber irritiert, er sah im Intuitionismus mit seinen Einschränkungen für die mathematische Forschung einen Rückschritt (beispielsweise lehnte der Intuitionismus nichtkonstruktive Existenzbeweise ab) und fühlte sich an die apodiktisch verkündete Reduzierung der Mathematik auf die Arithmetik und Ablehnung der Mengenlehre durch Leopold Kronecker in seiner Jugendzeit erinnert. Während Brouwer damals wenig beachtet wurde, war Weyls Aufsatz Auslöser des Grundlagenstreits der Mathematik zwischen Intuitionisten und Formalisten, zumal Weyl ein prominenter Vertreter der Hilbert-Schule war. Weyl kam später wieder vom Intuitionismus ab, den er für zu einschränkend hielt. Er näherte sich wieder seinem Zugang von 1918 und schwankte zwischen Konstruktiver Mathematik und der Axiomatik der Hilbert-Schule. Weyl war philosophisch interessiert seit seiner Jugend, als er Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft las mit Raum und Zeit als A-priori-Konzepte der Erkenntnis (auch wenn ihm später die zu enge Bindung an die euklidische Geometrie bei Kant missfiel). Ab 1912 war er stark von Edmund Husserl und dessen Phänomenologie beeinflusst, was sich auch in einigen Stellen seines Buches „Raum, Zeit, Materie“ niederschlug. 1927 erschien sein Beitrag Philosophie der Mathematik und der Naturwissenschaften zum Handbuch der Philosophie im Oldenbourg Verlag, der später separat und überarbeitet als Buch erschien. In einem Versuch der Rekonstruktion der Ursprünge der Philosophie von Hermann Weyl und deren Einbettung in die Hauptströmungen der Philosophie wies Norman Sieroka auf intensive langjährige Diskussionen von Weyl mit seinem Züricher Philosophenkollegen Fritz Medicus hin, einem Spezialisten für Johann Gottlieb Fichte. Fichtes Wissenschaftslehre und Philosophie, nach der sich das „Sein“ aus der Wechselwirkung des „absoluten Ichs“ mit seiner materiellen Umgebung ergibt, ist danach auch von großem Einfluss auf Weyl und spiegelt sich in der Verwendung des Umgebungsbegriffs der Topologie (Kontinuum) bei Weyl wider und in Weyls Auffassung der Allgemeinen Relativitätstheorie, neben den direkt aus den Schriften von Weyl bekannten Einflüssen der Phänomenologie von Edmund Husserl. Weiter finden sich nach Sieroka bei Weyl Einflüsse der Theorie der Materie von Gottfried Wilhelm Leibniz (Monadenlehre u. a.) und des Deutschen Idealismus (Dialektik von Fichte) in Weyls philosophischer Interpretation des physikalischen Materiebegriffs im Rahmen der Quantentheorie und Allgemeinen Relativitätstheorie und bezüglich der Wechselwirkung eines Symbols mit seiner Umgebung in einem mathematischen Theoriegebäude auch in Weyls Philosophie der Mathematik (Auseinandersetzung Formalismus-Intuitionismus unter dem Einfluss Brouwers). Weyl hatte in den 1920er Jahren noch vor Entwicklung der Quantenmechanik und angeregt durch die damals immer deutlicher werdende statistische Natur der Quantentheorie eine Abkehr von der feldtheoretischen Beschreibung der Materie hin zu einer Theorie aktiver (agens) Materie gemacht, was sich durch Einbeziehung der räumlichen Umgebung in der feldtheoretischen Beschreibung ausdrückte. Zuvor hatte er die Allgemeine Relativitätstheorie und seine eigenen Erweiterungen derselben, die zum Ursprung des heutigen Konzepts von Eichfeldtheorien führte, mit differentialgeometrischen Methoden beschrieben. Unter dem Eindruck der Quantentheorie wandte er sich von dieser „geometrischen Feldtheorie“ ab. Fichte und Ernst Cassirer waren nach Sieroka auch ein wichtiger Einfluss in der Spätphilosophie von Weyl (Wissenschaft als „symbolische Konstruktion“). Weniger bekannt war noch Weyls Beschäftigung mit Martin Heidegger. Preise und Ehrungen 1923 wurde er zum Mitglied der Leopoldina gewählt. Lobatschewski-Preis für Geometrie der Universität Kasan in der UdSSR, 1927. 1928 hielt er einen Plenarvortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Bologna (Kontinuierliche Gruppen und ihre Darstellung durch lineare Transformationen). 1928 Fellow der American Physical Society. 1929 wurde er in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. 1932 war er Präsident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. 1935 Wahl zum Mitglied der American Philosophical Society. 1939 Wahl zum Ehrenmitglied der London Mathematical Society. 1940 wurde Weyl in die National Academy of Sciences gewählt. 1947 Aufnahme als korrespondierendes Mitglied in die Académie des sciences. Arnold-Reymond-Preis, Mai 1954. Ehrendoktor der Eidgenössischen Technischen Hochschule 1945 und der Universitäten Oslo 1929, Pennsylvania 1940, Sorbonne (Paris) 1952, Columbia-Universität New York 1954 und der Technischen Hochschule Stuttgart 1929. Ehrenbürger der Stadt Elmshorn 17. November 1955. Der Mondkrater Weyl ist nach ihm benannt. Zu seinem 100. Geburtstag fand zu seinen Ehren in Kiel der erste internationale Hermann-Weyl-Kongress statt, an dem unter anderen Hans Freudenthal, Jean Dieudonné, Erhard Scheibe, Jürgen Ehlers, Julian Schwinger, George Mackey, David Speiser, Eckehard W. Mielke, Friedrich W. Hehl, Gerhard Mack, Bas van Fraassen, Bernard d’Espagnat, Bernulf Kanitscheider, Wolfgang Deppert, John Archibald Wheeler und Andreas Bartels mit eigenen Originalbeiträgen teilnahmen. Der Asteroid "(32267) Hermannweyl" ist nach Hermann Weyl benannt. Materialgruppen, die etwa nichtohmsche elektrische Leitfähigkeit zeigen, werden Weyl-Metall bzw. Weyl-Semimetall genannt. Schriften Die Idee der Riemannschen Fläche, Teubner 1997 (zuerst 1913, in Neuauflage mit Beiträgen von Patterson, Hulek, Hildebrandt, Remmert, Schneider; Hrsg.: R. Remmert: TEUBNER-ARCHIV zur Mathematik, Suppl. 5, 1997) weiss-leipzig.de. Raum, Zeit, Materie – Vorlesungen über Allgemeine Relativitätstheorie, 8. Auflage, Springer 1993 (zuerst 1918, 5. Auflage 1922) Online. Das Kontinuum – kritische Untersuchungen über die Grundlagen der Analysis, Leipzig, von Veit und Comp., 1918 Online. Gravitation und Elektrizität, Sitzungsberichte Preuss. Akademie der Wiss., Januar–Juni 1918, S. 465 (wieder abgedruckt in Lorentz, Einstein, Minkowski Das Relativitätsprinzip). Was ist Materie? – Zwei Aufsätze zur Naturphilosophie, Springer, Berlin 1924. Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft, München: Oldenbourg Verlag 1927 [= Handbuch der Philosophie, hrsg. von Alfred Baeumler und Manfred Schröter, Teil A], 6. Auflage, München: Oldenbourg Verlag 1990 Online. Gruppentheorie und Quantenmechanik, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977 (Nachdruck der 2. Auflage 1931, zuerst Leipzig, Hirzel 1928). The classical groups – their invariants and representations, Princeton University Press 1939, 1946, 1961. 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Straub Biografie (PDF; 116 kB) von Michael Atiyah auf der Website der National Academies Press Mathematics Genealogy Project In Einsteins Netzwerk. Hermann Weyl und die allgemeine Relativitätstheorie. ETHeritage, 11. November 2015 Einzelnachweise Mathematiker (20. Jahrhundert) Hochschullehrer (ETH Zürich) Hochschullehrer (Georg-August-Universität Göttingen) Hochschullehrer (Institute for Advanced Study) Mitglied der American Academy of Arts and Sciences Mitglied der American Philosophical Society Mitglied der Leopoldina (20. Jahrhundert) Mitglied der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Auswärtiges Mitglied der Royal Society Korrespondierendes Mitglied der Académie des sciences Ehrenmitglied der London Mathematical Society Fellow der American Physical Society Mitglied der National Academy of Sciences Emigrant aus dem Deutschen Reich zur Zeit des Nationalsozialismus Ehrenbürger im Kreis Pinneberg Ehrendoktor einer Universität Ehrendoktor der ETH Zürich Ehrendoktor der Sorbonne Ehrendoktor der Columbia University Ehrendoktor der Universität Stuttgart Ehrendoktor der Universität Oslo Ehrendoktor der University of Pennsylvania Christianeum Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Absolvent der Georg-August-Universität Göttingen Person (Elmshorn) Deutscher Geboren 1885 Gestorben 1955 Mann
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Hermann August Korff
Hermann August Korff (* 3. April 1882 in Bremen; † 11. Juli 1963 in Leipzig) war ein deutscher Germanist und Literaturhistoriker. Biografie Korff war der Sohn des Bremer Unternehmers Wilhelm August Korff und seiner Frau Agathe. Er studierte von 1902 bis 1906 Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Im Jahr 1907 wurde er in Heidelberg mit der Dissertation Scott und Alexis. Eine Studie zur Technik des Romans zum Dr. phil. promoviert. 1913 folgte seine Habilitation Voltaire als klassizistischer Autor im literarischen Deutschland des 18. Jahrhunderts an der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt am Main. Von 1914 bis 1921 war er Privatdozent für Neuere Deutsche Literatur an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. 1921 wurde er außerplanmäßiger Professor in Frankfurt, 1923 ordentlicher Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen und 1925 ordentlicher Professor an der Universität Leipzig. Einer seiner Doktoranden war der spätere Pädagoge und Pionier der jüdischen Sozialarbeit Heinrich Selver, dessen Dissertation Die Auffassung des Bürgers im deutschen bürgerlichen Drama des 18. Jahrhunderts von Korff mit Cum laude bewertet worden war. Korff wurde im Jahr 1954 emeritiert. Er war Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Sein wichtigstes Werk ist Geist der Goethezeit. In dem vierbändigen Werk fasst er das Ende des 18. und den Anfang des 19. Jahrhunderts als eine im deutschsprachigen Raum einheitliche Epoche auf, die in Hegel ihre philosophische und in Goethe ihre poetische Ausprägung habe. Korffs Enkel ist der Oboenvirtuose Burkhard Glaetzner (* 1943). Der Musikbuchautor Malte Korff (* 1950) ist der Sohn aus der dritten Ehe. Schriften (Auswahl) Geist der Goethezeit: Versuch einer idellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. Teil 1: Sturm und Drang. Hirzel, Leipzig 1923. 8., unveränderte Auflage: Koehler & Amelang, Leipzig 1966. Teil 2, 1. Weltanschauung. Hirzel, Leipzig 1927. Teil 2, 2. Klassik. Hirzel, Leipzig 1930. 8., unveränderte Auflage: Koehler & Amelang, Leipzig 1966. Teil 3: Frühromantik. Hirzel, Leipzig 1940. 7., unveränderte Auflage: Koehler & Amelang, Leipzig 1966. Teil 4: Hochromantik. Koehler & Amelang, Leipzig 1953. 7., unveränderte Auflage 1966. Registerband für alle vier Bände. Koehler & Amelang, Leipzig 1957. 6., unveränderte Auflage 1966. Literatur Weblinks Einzelnachweise Literaturhistoriker Germanist Goetheforscher Hochschullehrer (Universität Leipzig) Hochschullehrer (Justus-Liebig-Universität Gießen) Hochschullehrer (Goethe-Universität Frankfurt am Main) Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften Deutscher Geboren 1882 Gestorben 1963 Mann
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Helgoland
Helgoland ([], (Helgoländer Friesisch für „das Land“), ) ist eine Insel im Bereich der Deutschen Bucht der Nordsee. Die ursprünglich größere Insel zerbrach in der Neujahrsflut 1721; seitdem existiert die als Düne bezeichnete Nebeninsel. Die Gemeinde Helgoland zählt Einwohner (). Gemessen vom östlichen Ufer der Hauptinsel bis zur Westküste des schleswig-holsteinischen Festlands bei Sankt Peter-Ording ist Helgoland 48,5 km vom Festland entfernt. Die Inselgruppe Helgoland und Düne gehört seit 1890 zum deutschen Staatsgebiet und ist als amtsfreie Gemeinde Helgoland in den Kreis Pinneberg (Schleswig-Holstein) integriert. Für beide Inseln gelten steuerrechtliche Sonderregelungen: Die Gemeinde ist zwar Teil des deutschen Wirtschaftsgebietes, zählt aber weder zum Zollgebiet der Union noch werden deutsche Verbrauchsteuern erhoben. Namen Die Insel trug vor dem 19. Jahrhundert keinen eindeutigen Namen. Oft wurde sie mit Varianten des hochdeutschen Heiligland bezeichnet, einmal sogar als Insel der Heiligen Jungfrau Ursula. Die kritische Diskussion des Namens im 19. Jahrhundert fasste Theodor Siebs 1909 zusammen mit der These, dass, ausgehend von der friesischen Selbstbezeichnung der Helgoländer als Halunder, der Inselname hohes Land bedeutete (ähnlich Hallig). In der Diskussion im Anschluss an Jürgen Spanuth wurde von Wolfgang Laur wieder ein ursprünglicher Name Heiligland angenommen. Die seit dem 16. Jahrhundert aufgetretene Variante Helgoland sei durch Gelehrte entstanden, die eine nordfriesische Form Helgeland latinisierten, da sie ihn als Hinweis auf den Sagenhelden Helgi lasen. Die Diskussion wird erschwert durch die Uneinigkeit darüber, mit welchen der angeführten Namen wirklich die Insel Helgoland gemeint sei, und durch den Wunsch, die Insel auch heute noch als heilig erscheinen zu lassen. Geografie Geografische Lage Wegen seiner Lage auf offener See wird Helgoland häufig als „einzige Hochseeinsel Deutschlands“ bezeichnet. Doch weder im geografischen noch im rechtlichen Sinn liegt die Insel im Bereich der Hohen See. Die Insel zählt zusammen mit der gesamten Deutschen Bucht zum Schelf (Festlandsockel) und damit (im Gegensatz etwa zu Madeira im Atlantik) nicht zum Tiefseebereich auf hoher See. Die seit 1995 gültige 12-Meilen-Zone vor dem Festland oder den vorgelagerten Inseln überschneidet sich mit derjenigen um Helgoland, so dass kein internationales Gewässer die Insel vom Festland trennt. Innerhalb der Deutschen Bucht ist Helgoland der nordwestliche Endpunkt der Helgoländer Bucht. Die Landfläche besteht aus der rund 1 km² großen Hauptinsel sowie der etwa 0,7 km² großen Insel Düne und liegt etwa 67 Kilometer südwestlich der Südspitze der Insel Sylt, 47 Kilometer westlich der Westküste der Halbinsel Eiderstedt, 62 Kilometer nordwestlich der Elbemündung, 57 Kilometer nordwestlich der niedersächsischen Küste bei Cuxhaven, 43 Kilometer nördlich von Wangerooge, 70 Kilometer nordöstlich von Norderney und 95 Kilometer nordöstlich von Borkum. Die Lage von Helgoland im geografischen Koordinatensystem (WGS 84) ist 54° 11′ nördliche Breite und 7° 53′ östliche Länge. Die Gemeindegröße wird mit 4,2 km² angegeben. Darin sind Meeresgebiete im Hafenbereich enthalten. Die Hauptinsel Die Hauptinsel gliedert sich in fünf Gebiete: Oberland, Mittelland und Unterland sowie, im 20. Jahrhundert durch Aufschüttung entstanden, Nordostland und Südhafen. Das Unterland mit dem Hafen befindet sich im Osten und Süden der Insel, das Oberland im Norden und Westen, das kleinere Mittelland im Südwesten. Die Siedlung liegt etwa je zur Hälfte im Unter- und Oberland. Viele öffentliche Einrichtungen finden sich im Nordostland. Die Insel besitzt im Süden neben der Landungsbrücke einen kleinen Sand-Badestrand und fällt im Norden, Westen und Südwesten in steilen Klippen etwa 50 m zum Meer hin ab, das im südwestlich gelegenen Helgoländer Becken bis zu 56 m tief ist. Der Sandstrand im Norden ist wegen der starken Strömung nicht zum Baden geeignet. Am Nordwestende der Hauptinsel befindet sich das bekannteste Wahrzeichen Helgolands, der 47 Meter hohe Brandungspfeiler Lange Anna. Die gesamte Oberfläche des Oberlands sowie das Mittelland wurden durch die Sprengung der Bunkeranlagen 1947 und die anschließende Bombardierung geformt. Dabei entstand auch die mit höchste Erhebung der Insel wie auch des Kreises Pinneberg, die seit 1998 nichtamtlich „Pinneberg“ genannt wird und mit einem Gipfelkreuz markiert ist. Düne Die Nebeninsel Düne befindet sich jenseits der kleinen Meeresstraße Reede, die in Nordreede und Südreede unterteilt ist, knapp einen Kilometer östlich der helgoländischen Hauptinsel. Sie wird als Badeinsel bzw. als eine flache Strandinsel bezeichnet und war bis zur Neujahrsflut 1721 mit Helgoland durch einen Naturdamm verbunden. Auf ihr ist auch der kleine Helgoländer Flugplatz neben dem Campingplatz und einem Bungalowdorf angelegt. Klima Auf Helgoland herrscht typisches Seeklima mit ganzjährigen Niederschlägen und nur geringen tageszeitlichen Temperaturschwankungen. Die Insel hat mit durchschnittlich 6,4 °C das wintermildeste Klima Deutschlands; Wintertiefsttemperaturen unter 0 °C sind selten. Die vom Golfstrom erwärmte Nordsee mit rund 5 °C Wassertemperatur im Winter wirkt dabei als Wärmespeicher. Die kalten Nordost- und Ostwinde aus Ost- und Nordeuropa werden abgeschwächt, die Wintertemperaturen können bis zu 10 Grad höher als zum Beispiel in Hamburg liegen. Es gibt jedoch häufig Nebel und nur wenig Sonnenschein im Winter; Schnee fällt selten. Der Frühling beginnt erst spät und die Temperaturen steigen meist erst ab Mai deutlich an. Im Sommer liegen die Temperaturen um 21 °C oder knapp darunter, während es nachts mit 13 bis 16 °C kaum kühler ist. Dazu kommen regelmäßige Niederschläge mit abwechselndem Sonnenschein. Die Wassertemperaturen der Nordsee steigen bis zum August auf 16 bis 17 °C. 1962 nahm eine Dauermessstation vor Helgoland den Betrieb auf; sie misst Wassertemperatur, Salzgehalt und andere Parameter. Seit Beginn ihrer Arbeit stieg die durchschnittliche Wassertemperatur um 1,7 Grad. Der Herbst beginnt im September, ist oft noch recht warm und dauert länger; er ist die feuchteste Zeit des Jahres mit milden Temperaturen um 10 °C und etwa 15 bis 20 Regentagen pro Monat. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei 9 °C, die jährlichen Niederschläge liegen bei etwa 700 mm. Extremwerte wurden mit −11,2 °C im Februar 1956 und +28,7 °C im Juli 1994 gemessen. Helgoland weist insgesamt mehr Sonnenstunden auf als das deutsche Festland. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts standen stattliche, regelmäßig fruchtende Feigenbäume auf der Insel. Noch steht aus dieser Zeit im Oberland ein sehr alter Maulbeerbaum. Auspflanzversuche mit Hanfpalmen, Honigpalmen und anderen Palmen sowie weiteren, auf dem deutschen Festland nicht oder nur bedingt winterharten subtropischen Pflanzen (Lorbeer, Yucca, Cordyline, Steineiche und andere) seit den 1980er Jahren sind erfolgreich verlaufen. Geologie Entstehung der Felseninsel Das Bild der Felseninsel Helgoland wird wesentlich durch Buntsandstein-Schichten aus dem Erdmittelalter geprägt. Diese sind an die Oberfläche gelangt, weil die darunter lagernden älteren Salzgesteine aus dem ausgehenden Erdaltertum durch ausgeprägte Salztektonik aufgewölbt wurden. Zechsteinmeer im ausgehenden Erdaltertum Die geologisch relevante Geschichte der Entstehung Helgolands begann vor etwa 260 Millionen Jahren im geologischen Zeitalter des Perm im ausgehenden Erdaltertum. Im beginnenden Zechstein, der zweiten Abteilung des Perm, kam es auf dem Urkontinent Pangaea zu Meereseinbrüchen in Europa und Amerika und so zum Vordringen des Meeres im Gebiet des heutigen Mitteleuropa. Die Region Helgolands lag in diesem Zechsteinmeer, im so genannten Elbe-Trog. Auf Grund des ariden Klimas verdampfte das Wasser jedoch mit der Zeit wieder und hinterließ Kalke, Dolomite, Anhydrite und Salze als Verdunstungsrückstände, so genannte Evaporite, die im norddeutschen Raum als Zechstein-Sedimente untersucht und bestimmt worden sind. Ein bedeutender paläontologischer Fund war 1910 die 51,5 cm große Kopfplatte eines Parotosuchus helgolandicus (Schröder), einer urtümlichen Amphibie aus der Gruppe der Temnospondyli. Das Gewicht des in der mittleren Trias vor rund 245 Millionen Jahren lebenden Tieres ist nicht bekannt. Seine Augen waren klein und saßen hoch am Kopf. Sein Lebensraum waren periodisch trockenfallende Flussdeltas und Gewässer, die es in jener Zeit im Gebiet der heutigen Nordsee gab. Gesteinsbildung im Erdmittelalter Im frühen Erdmittelalter fanden die für Helgoland wichtigsten gesteinsbildenden Prozesse statt. Das zu Beginn der Trias herrschende tropische und subtropische Klima dominierte die Verwitterung der variskischen Gebirge im umgebenden Festland. Das Klima begünstigt eine lateritische Verwitterung, die im Endprodukt hohe Eisen- und Aluminiumgehalte vorweist. Die Oxidation dieser Verwitterungsprodukte führt zu einer starken Rotfärbung der typischen Buntsandstein-Sedimente in Mitteleuropa. Die grünen Bänder des Felsens zeigen das abgelagerte Kupfer. Im Buntsandstein wurden große Mengen des Verwitterungsmaterials aus den Hochländern abgetragen und in tiefer liegenden Regionen sedimentiert. Im Gebiet Helgolands haben diese Ablagerungen eine Mächtigkeit von mehr als 1000 Metern. Sie bilden den sichtbaren Teil der Felseninsel. Auch in der folgenden erdgeschichtlichen Abteilung des Muschelkalk war das Gebiet Helgolands Sedimentationsgebiet. Die Ablagerungen aus dieser Zeit haben eine Mächtigkeit von mehr als 300 Metern. Eine große Zahl von Fossilienfunden belegt zudem die günstigen Lebensbedingungen zu dieser Zeit. So fand man verschiedene Fische, Meeressaurier, Muscheln und Schnecken. Auch aus der vor 140 Millionen Jahren beginnenden Kreidezeit sind im Helgoländer Raum Sedimentschichten zu finden. In dieser Zeit war der gesamte Nordseeraum Meeresgebiet. Im marinen Bereich bildete sich unter warmen und feuchten Klimabedingungen eine reichhaltige Flora und Fauna, so dass die Kreideschichten äußerst fossilienreich sind. Salz-Aufstieg im Tertiär Die große Mächtigkeit der Sedimentschichten im Nordseeraum – auch schon im Mesozoikum – ist auch darin begründet, dass der Nordseeraum Senkungsgebiet war. Somit konnten selbst in den flacheren Meeren des Buntsandstein und Tertiär diese Senkungsgebiete immer wieder von dem aus den Gebirgen verfrachteten Verwitterungsmaterial aufgefüllt werden. Unter dem Druck des auflagernden Materials verfestigten sich die darunterliegenden Schichten zunehmend. Im direkten Zusammenhang mit dieser Verfestigung und somit der Zunahme der Dichte sowie des Drucks auf die unteren Schichten ist auch die Heraushebung des Helgoländer Buntsandsteinfelsens zu sehen. Im Laufe der Zeit lagerten sich über den permischen Salzgesteinen im Erdmittelalter die Schichten des Trias, der Kreide sowie des Tertiär ab. Jede neue Sedimentationsschicht hatte auch zur Folge, dass die jeweils unterlagernden Sedimente sich durch die Last der darüber lagernden Sedimente weiter verfestigten und verdichteten. Die untenliegenden Salzgesteine lassen sich jedoch nur bis zu einer Dichte von maximal 2,2 g/cm³ verdichten. Da mit zunehmender Tiefe infolge des zunehmenden Druckes sich die Dichte einer Schicht erhöht, kam es im Bereich der Zechsteinsalze zu einer Dichteanomalie. Das Salzgestein reagierte plastisch auf den immer stärkeren Druck und neigte dazu, bevorzugt an Schwächezonen wie Verwerfungen aufzusteigen, um so zu einer Druckentlastung zu gelangen. Beim Aufstieg wurden aber auch die aufliegenden Schichten mitgehoben. Man spricht bei diesem Phänomen von einem Salzkissen, in dessen Scheitelbereich Helgoland sich befindet. Die Aufwölbung des Buntsandsteins sowie der weiteren Schichten durch den Aufstieg des Salzes (Salztektonik) wird auch in der tektonischen Struktur Helgolands sichtbar. Der Scheitel der Salzstruktur verläuft von Nordnordwest nach Südsüdost. Dies gibt die Streichrichtung der auflagernden Deckschichten an, die an den Abrasions-Plattformen im nördlichen Felswatt zu erkennen sind. Die Schichten sind bei der Aufwölbung gekippt worden, so dass eine Neigung der Buntsandsteinfelsen von etwa 17 bis 20 Grad zu erkennen ist. Somit finden sich an der Westseite Helgolands nach oben zeigende Schichten, während die Schichten an der Ostseite nach unten zeigen. Überprägung der neuentstandenen Felseninsel im Quartär Ausgangspunkt der Überprägung im Quartär ist die Abkühlung des Klimas im ausgehenden Tertiär. Drei große Vereisungsperioden haben bis in den nordmitteleuropäischen Raum zu einer starken Veränderung der Landschaft geführt. Bei allen drei Eiszeiten war das Gebiet zwischen England und Dänemark trocken; eine Nordsee existierte aufgrund des niedrigen Meeresspiegels (ca. 120–150 m unter heutigem Meeresniveau) nicht. Während der Elstereiszeit (vor etwa 480.000 bis 300.000 Jahren) und der Saaleeiszeit (vor etwa 280.000 bis 130.000 Jahren) erfasste die Vergletscherung auch Helgoland, wovon abgelagerte Geschiebelehme und Findlinge noch immer zeugen. Das Vordringen des Eises dürfte in dieser Zeit auch zu einer starken Abtragung der gehobenen und gekippten Schichten bis hin zu einer Freilegung der Salzstruktur im Bereich des westlich vorgelagerten Görtels geführt haben. Beide Eiszeiten hinterließen alluviale Anlagerungen und Aufschüttungen und Endmoränen. Während der letzten Eiszeit, der Weichsel-Kaltzeit (von vor etwa 115.000 bis 11.700 Jahren), war die Landfläche zwischen England, den Niederlanden, Deutschland und Dänemark weitestgehend eisfrei. Der Eisrand hat Helgoland nicht erreicht. Am Ende des Pleistozäns und Beginn des Holozäns stieg weltweit der Meeresspiegel wieder stark an; die Nordsee bildete sich wieder (Flandrische Transgression). Vor etwa 8000 Jahren gab es kurz nacheinander zwei Großereignisse: die Storegga-Rutschung vor Norwegen, die einen gigantischen Tsunami auslöste, und das Abschmelzen des nordamerikanischen Eisschildes und der plötzliche Durchbruch der Schmelzwassermassen aus dem Agassizsee zum Atlantik, der neben einer weltweiten Meeresspiegelerhöhung auch wohl wieder mit einem Tsunami einherging. Beide Ereignisse führten in kürzester Zeit dazu, dass glaziale Ablagerungen auch oberhalb des damaligen Meeresspiegels abgetragen wurden, und die Inselbildungen setzten ein. Die Regression der Nordsee war weitestgehend erfolgt. Helgoland widerstand einer schnellen Abtragung durch das Meer. Es bestand möglicherweise auch noch über eine längere Zeit eine Landbrücke zur Halbinsel Eiderstedt. Die heutigen Tiefen von 12–15 m weisen hier auf eine frühere Verbindung hin. Diese Landbrücke wird als teilweise spekulativ gesehen. Wann die Inselbildung einsetzte und wie sie ablief, lässt sich nicht präzise sagen. Auch der weitere Verlauf der Inselveränderung und -verkleinerung in geschichtlicher Zeit bis ins 16. Jahrhundert, als die ersten einigermaßen brauchbaren und zuverlässigen Karten gezeichnet wurden, lässt sich nicht genau nachzeichnen. Die früher unter anderem in einigen Schulatlanten dargestellte rasch abnehmende Fläche seit dem Frühmittelalter gilt als möglich, aber nicht gesichert. Die Felsformationen der Insel Helgoland wurden 2006 in die Liste der 77 ausgezeichneten Nationalen Geotope aufgenommen. Herausbildung der heutigen Inselform Natürliche Veränderungen Die hauptsächlichen gestaltenden natürlichen Kräfte, die auf die Felseninsel einwirken, sind die Verwitterung sowie die Abrasion durch die Meeresbrandung. Insgesamt sind 15 einige Meter tiefe Brandungshöhlen erfasst. Bei der Verwitterung ist besonders das kühle Winterklima von Bedeutung. Die Kälte fördert die physikalische Verwitterung des Gesteins. Die Frosteinwirkung zerklüftet und zersprengt das Gestein und fördert Gesteinsschutt als Verwitterungsrest zu Tage, der am Fuß der Klippen angelagert wird. Hierbei wird das Kliff langsam zurückgedrängt und so die Insel verkleinert. Typisch für Helgoland war hierbei auch die Entstehung von Felsvorsprüngen (Hörner) mit dazwischenliegenden Buchten (Slaps). Im Laufe der Zeit und unter weiterem Meeres- und Wettereinfluss können diese Vorsprünge von Brandungstoren durchbrochen werden, die beim Einsturz der Bogenverbindung einzelne Felstürme („Stacks“) hinterlassen. Die Lange Anna (im Helgoländer Friesisch: Nathurn Stak) ist mit einer Höhe von gut 48 m ein derartiger Stack und der einzige, der sich bis heute gehalten hat. Veränderungen von Menschenhand Die ersten menschlichen Eingriffe auf Helgoland bestanden in der Gewinnung von Rohstoffen: Von Bedeutung war ab dem Mittelalter der Muschelkalk- und Gipsabbau am damaligen Wittekliff. Dieser Abbau trug zu einer raschen Zerstörung der Steilfelsen bei, die schließlich so instabil wurden, dass 1711 die letzten Reste einstürzten. Weitere Rohstoffprospektionen blieben erfolglos, so dass über die Vorkommen fossiler Brennstoffe im Bereich Helgolands bislang keine weiteren Angaben getroffen werden können. Schutzmaßnahmen veränderten die Gestalt der Insel weiter: Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war die Felseninsel ungeschützt und hatte durch Abrasion und Verwitterung jährlich einen hohen Flächenverlust zu verzeichnen. Zum Ende des 19. Jahrhunderts begannen Planungen für einen wirksamen Brandungs- und Sturmflutschutz. Vorangetrieben wurden diese Planungen durch eine starke militärische Nutzung der Insel. So begann bereits im Jahr 1903 der Bau einer Schutzmauer auf der stärker witterungs- und brandungsgefährdeten Westseite, die 1927 fertiggestellt war. Im weiteren Verlauf (→ Projekt Hummerschere) wurden auch der Norden und der Osten der Hauptinsel sowie die Düne in die Schutz- und Ausbaumaßnahmen einbezogen, die die Grundlage für die Schaffung des Nordost-Geländes und die stete Vergrößerung der Helgoländer Düne waren. Vor der weiter voranschreitenden Verwitterung können jedoch auch die Schutzmauern nicht schützen. Davon zeugt der Verwitterungsschutt am Sockel der Kliffküsten, der stellenweise schon bis an die Schutzmauern angelagert ist. Wurde er früher noch von den Sturmfluten fortgetragen, so staut er sich heute an den Ufermauern. Infolge dieser Entwicklung wird Helgoland zwar nicht mehr flächenmäßig kleiner, doch nun droht es auf lange Sicht unter den Schuttkegeln der Verwitterung, die sich langsam begrünen, zu versinken. Ein weiterer bedeutender und bis heute markanter Eingriff in die Gestalt der Insel fand während und nach dem Zweiten Weltkrieg statt: Am 18. April 1945 war der damalige U-Boot-Stützpunkt Ziel eines massiven Luftangriffs der Royal Air Force. Die Bebauung der Insel wurde vollständig zerstört. Die Air Force nutzte die Insel in den Folgejahren als Übungsziel. Von den Bombardierungen zeugen die Bombenkrater im heutigen Oberland. Zwei Jahre später, am 18. April 1947, sollten in einer Sprengung sämtliche militärischen Anlagen auf und unter der Insel sowie alte Munitionsbestände vernichtet werden, um so eine weitere Nutzung Helgolands aus militärischer Sicht unmöglich zu machen. Die Sprengung von rund 6700 Tonnen Munition erschütterte die Insel mit ihrem Sockel bis in eine Tiefe von mehreren Kilometern und führte zu einer dauerhaften Veränderung ihres Aussehens. (Siehe auch: Ende des Zweiten Weltkriegs und Nachkriegszeit) Flora und Fauna Felswatt und Tangwälder Das Felswatt des Helgoländer Felssockels (Naturschutzgebiet) ist ein für Deutschland einzigartiger Lebensraum, der von über 300 Algenarten besiedelt wird. In der Spritzwasserzone leben Kleiner Röhrentang und Purpurtange, in der oberen Gezeitenzone folgt Spiraltang, während das Felswatt von Blasentang, Sägetang und Meersalat bedeckt wird. Unterhalb der Niedrigwasserlinie gedeihen Tangwälder aus Fingertang, Zuckertang und Palmentang, welcher bis zu einer Tiefe von 8 m unter der Niedrigwassergrenze vordringt (siehe Liste der Meeresalgen von Helgoland). Schon 1835 in der Frühzeit des Tourismus wurde den Badegästen ausführlich der Reichtum an Algen vorgestellt; die Forschungsergebnisse folgten z. B. 1863 bei Ferdinand Julius Cohn. Vegetation von Insel und Düne Am Fuße der Klippen befinden sich Spülsäume und Fragmente von Salzwiesen mit typischen Salzpflanzen wie Portulak-Keilmelde, Strand-Melde, Strand-Beifuß, Wilde Rübe und Salz-Schuppenmiere. An der Steilküste wachsen die Wildform des Gemüsekohls (von den Helgoländern Klippenkohl genannt), Strand-Grasnelke, Strand-Wegerich und Dänisches Löffelkraut. Das Oberland ist von Grünland bedeckt. Es gibt dichte Bestände von Pfeilkresse. Wegen des starken Seewinds kommen Gehölze nur in der Mulde des Fanggartens der Vogelwarte sowie gepflanzt im Mittelland vor. Der Großteil der Düne besteht aus Graudünen und Weißdünen sowie Gebüsch aus Sanddorn oder Silber-Ölweide. Auf der Aade im Südosten der Düne wird der Spülsaum von Kali-Salzkraut, Meersenf und Salzmiere besiedelt. Schon aus dem 19. Jahrhundert gibt es Darstellungen der Flora Helgolands von Ernst Hallier, Karl Wilhelm von Dalla Torre und Johannes Reinke. Die Insel war beliebter Badeort und wurde auch deshalb von Forschern gerne besucht. Fauna Auf den Felsbändern des Lummenfelsen brüten dichtgedrängt Trottellumme, Dreizehenmöwe, Silbermöwe, Tordalk, Eissturmvogel und seit 1991 auch der Basstölpel. Während des Vogelzugs im Frühling und Herbst nutzen Scharen von Zugvögeln die Insel als Rastplatz und werden in der Vogelwarte Helgoland beringt und erfasst. Helgoland gehört zu den Orten in Europa, an denen besonders viele Vogelarten nachgewiesen wurden; bis 1985 waren es bereits über 370 Arten. Seitdem sind immer wieder neue Erstnachweise von Vogelarten gelungen. Die Insel wurde mit 432 nachgewiesenen Arten (Stand Juni 2014) als „vermutlich der artenreichste Ort in Europa“ bezeichnet; zumindest gilt Helgoland als der an Vogelarten reichste Ort in Mitteleuropa. Jährlich werden rund 240 verschiedene Vogelarten registriert. Regelmäßig werden dabei Seltenheiten beobachtet, weswegen die Insel ganzjährig von Vogelbeobachtern besucht wird, vor allem zu den Zugzeiten im Herbst und Frühjahr, wenn vermehrt mit Nachweisen gerechnet werden kann. Neben außergewöhnlichen Seltenheiten wie dem Rubinkehlchen oder dem Kronenlaubsänger lassen sich alljährlich Arten wie die Krähenscharbe oder seltene Laubsänger wie der Gelbbrauen-Laubsänger beobachten. Im Herbst werden – vor allem nach Stürmen aus Nordwest – Hochseevögel gesichtet, die sonst die deutsche Bucht meiden. Zuletzt sind 2014 zwei neue Arten hinzugekommen: der Wüstengimpel (Heimat: Nordafrika bis Asien) und – besonders von den Medien beachtet – Ende Mai der Schwarzbrauenalbatros (Heimat: u. a. Falklandinseln). Die Vogelforschung ist untrennbar mit dem Namen Heinrich Gätke verbunden. Er kam 1837 als Kunstmaler ins Seebad Helgoland und begann bald Vögel zu jagen, zu sammeln und zu dokumentieren. Er knüpfte Kontakte zu den bedeutenden Ornithologen seiner Zeit, und Helgoland entwickelte sich zum Zentrum der Vogelforschung. Gätke war eine prägende Gestalt der Insel, er lebte im Gegensatz zu anderen Forschern dauerhaft auf Helgoland. Gätke veröffentlichte seine während mehrerer Jahrzehnte erworbenen Forschungsergebnisse 1891 in dem Buch Die Vogelwarte Helgoland. Damit prägte Gätke den Begriff „Vogelwarte“. Auf sein Wirken geht letztlich auch die Gründung der „Vogelwarte Helgoland“ zurück. Seine Vogel-Sammlung erwarb das Deutsche Reich; sie wurde der Grundstock des alten Helgoländer Museums. Schutzgebiete Die Meeresgebiete, die direkt nordwestlich über westlich bis südlich der Hauptinsel Helgoland liegen, und jene, die sich unmittelbar nordnordwestlich über östlich bis südlich der Nebeninsel Düne befinden, bilden das Naturschutzgebiet (NSG) Helgoländer Felssockel (CDDA-Nr. 30101; 1981 ausgewiesen; 53,4783 km² groß); beide Inseln gehören, abgesehen von ein paar Felsen der Steilküste der Hauptinsel, nicht zu den durch einen schmalen Meereskorridor voneinander getrennten NSG-Bereichen. Flächenmäßig ähnlich geformt ist das Fauna-Flora-Habitat-Gebiet Helgoland mit Helgoländer Felssockel (FFH-Nr. 1813-391; 55,09 km²); es schließt Inselkleinteile – wie einige Felsen der vorgenannten Steilküste – mit ein. Beide Schutzgebiete liegen im Vogelschutzgebiet (VSG) Seevogelschutzgebiet Helgoland (VSG-Nr. 1813-491; 1.613,33 km²); beide Inseln zählen, abgesehen von ein paar Felsen dieser Steilküste, nicht zu den VSG-Bereichen. Im Steilküstenbereich (Hauptinsel) befindet sich das NSG Lummenfelsen der Insel Helgoland (CDDA-Nr. 82122; 1964; 0,86 ha). Geschichte Vorgeschichte Forschungsgeschichte Zur Vorgeschichte Helgolands werden seit vielen Jahrhunderten Thesen aufgestellt: Im 17. Jahrhundert wurde zunächst eine frühere Größe der Insel postuliert. Hintergrund dieser Thesen war das Interesse des dänischen Königs, die Zugehörigkeit der Insel zu Schleswig zu beweisen. Johannes Mejer zeichnete 1652 die Karte eines großen Helgolands. Die Insel wurde schon 1631 von Johann Isaak Pontanus als Herthainsel, als germanisches Zentralheiligtum, angesehen. Dazu kamen schon in dieser Zeit Überlegungen, Helgoland als die antike Bernsteininsel zu sehen. Zu Grabungen kam es erst in der Zeit des Tourismus. Zwei Grabhügel wurden 1845 und 1893 durch interessierte Laien freigelegt. Die Funde wurden in dieser Zeit nicht in eine Theorie einer großen Bedeutsamkeit der Insel in vorgeschichtlicher Zeit eingeordnet. Sie wurden in den Museen vergessen oder gingen verloren. Emphatisch wurde die Vorgeschichte wieder in der völkischen Bewegung betrachtet, zum Beispiel von Heinrich Pudor. Nach der Sprengung von Bunkeranlagen auf Helgoland wurde in den 1950er Jahren in Aufnahme völkischer Ideen von Jürgen Spanuth die Insel mit Atlantis gleichgesetzt. Grabungen auf der Insel waren nun nicht mehr denkbar. Trotz der äußerst prekären Quellenlage werden weiter Hypothesen und Theorien gerade von archäologischen Laien aufgenommen und entwickelt. Dazu gehört die noch heute diskutierte und nicht durch Funde belegbare Theorie eines bronzezeitlichen Kupferabbaus. Die These eines Handels mit Helgoländer rotem Feuerstein scheint durch Funde auf dem Festland belegbar zu sein, auch sie wird besonders von Laien gerne unterstützt. Alte Theorien, die schon im 19. Jahrhundert oft widerlegt wurden, wurden immer wieder neu aufgenommen, so etwa von Heike Grahn-Hoek (siehe Abschnitt Literatur). Repräsentant einer kritischen Tradition ist der Heimatforscher Albert Panten; im 19. Jahrhundert waren es unter anderen der Historiker Johann Martin Lappenberg und der Publizist Friedrich Oetker. Zu den wenigen Fachleuten gehört der Archäologe Claus Ahrens. Dennoch wird auch heute noch die Insel als Zentrum für Kupferabbau, auch als Bernsteininsel und zentrales germanisches Heiligtum vorgestellt. In seriösen Aufsätzen wird dabei immer der Konjunktiv benutzt. Vorgeschichtliche Funde Auf Helgoland konnten im 19. Jahrhundert vier Hügel identifiziert werden, von denen drei eindeutig Hügelgräber aus der Bronzezeit waren. Im 17. Jahrhundert waren noch acht bekannt und in Karten mit Namen bezeichnet. Claus Ahrens vermutet, dass es in dieser Zeit aber insgesamt noch dreizehn Hügel gab. Auch weitere kann man vermuten, die auf Teilen des Oberlandes standen, die schon in den Jahrhunderten davor durch Felsabbruch verloren gingen. Am Moderberg wurde 1845 von dem Seebadgründer Jacob Andresen Siemens ein Steinkistengrab freigelegt; von den Funden gibt es heute Reste im Historischen Museum der Universität Lund (LUHM) in Schweden. Ob auf dem Flaggenberg ein Grabhügel war, ist nicht gesichert. Der Kleine Berg (nicht auf der Mejerschen Karte, aber südlich des Bredebergs mit der alten Feuerblüse) wurde von Otto Olshausen ausgegraben. Er fand hier die Steinkiste von Helgoland, die seit 2009 wieder im Museum für Vor- und Frühgeschichte, einem Teil des Neuen Museums, in Berlin ausgestellt ist. Eine Replik befindet sich vor dem Museum Helgoland. Die letzten Hügel sind alle durch die Festungsarbeiten der kaiserlichen Marine verschwunden. Auch durch diese Arbeiten kam es zu einigen Zufallsfunden, die Ahrens in seinem Aufsatz beschreibt. Nach ihm wurden zuletzt noch 1961 im Bauschutt in der Nähe der Vogelwarte vorgeschichtliche Funde gemacht. Für die Diskussion wichtig sind auch die Funde aus Helgoländer Feuerstein auf dem angrenzenden Festland. Bis zu 300 km im heutigen Binnenland von Deutschland, den Niederlanden und Dänemark finden sich Artefakte aus dem roten Feuerstein von Helgoland. Wohn- oder Rastplätze der frühen Kulturen mit Fundstücken auf dem Festland konnten altersmäßig zugeordnet werden. Die Funde von Kupferscheiben hingegen stammen unumstritten aus dem Mittelalter. Meeresanstieg Im Mesolithikum, der Mittelsteinzeit, etwa vor 11.600 Jahren bis 7.500 Jahren, wurde Helgoland langsam durch den Meeresanstieg zur Insel (siehe Doggerland). Dabei könnte in der südlichen Nordsee eine Vielzahl von großen und kleinen Inseln entstanden sein, die untereinander, aber auch vom Festland, erreichbar gewesen sein könnten. Die meisten dieser Inseln wären dann bei weiter steigendem Meeresspiegel untergegangen. Durch die Funde liegt eine vorgeschichtliche Besiedlung der Insel seit dem Neolithikum, der Jungsteinzeit, nahe. Ob die Besiedlung ununterbrochen war, ist allerdings nicht beweisbar. Das Neolithikum ist gekennzeichnet durch den Übergang auf sesshafte Besiedlungsformen. Es wurden Plankenboote entwickelt, die gerudert wurden und bei entsprechender Wetterlage den Verkehr zwischen dem Festland und der Insel ermöglichten. Nach der These von der Einmaligkeit des Helgoländer Feuersteins folgt, dass auch für diese Zeit ein lebhafter Warenaustausch bzw. Handel mit Halbfertig- und Fertigprodukten aus Helgoländer Feuerstein stattgefunden hat. Seit der Zeit der Trichterbecherkultur im Mittelneolithikum (dem mittleren Abschnitt der Jungsteinzeit) und „im Laufe der Bronzezeit bis in die mittlere Vorrömische Eisenzeit wurden in großem Umfang Artefakte aus Helgoländer Feuerstein hergestellt und von der Insel exportiert“, berichtet der Archäologe Jaap Beuker. Die These der Einmaligkeit des roten Feuersteins wird aber auch kritisiert. Antike Aus der Antike sind nur wenige Nachrichten über Nordeuropa überliefert worden. Aber in der Naturgeschichte Plinius’ des Älteren wird mehrfach der heute nicht mehr erhaltene Reisebericht des Pytheas von Massilia (um 325 v. Chr.) zitiert. Eine Textstelle wird von manchen Autoren auf Helgoland bezogen, was allerdings sehr umstritten ist. Weitere Hinweise auf Literatur der Antike wurden schon seit dem 16. Jahrhundert geliefert, von Friedrich Oetker aber schon kritisch diskutiert, von Spanuth oder Grahn-Hoek (siehe unten Literatur) dagegen positiv aufgenommen. Es ging immer darum, allein durch alte Quellen eine besondere Bedeutsamkeit der Insel festzustellen. Mittelalter Für das frühe Mittelalter gibt es als Quellen nur historisch wenig zuverlässige Heiligenlegenden. Um 800 schrieb Alkuin über einen Aufenthalt des Friesenherrschers Radbod auf Helgoland in der Heiligenlegende des Bischofs Willibrord von Utrecht. Willibrord versuchte danach zwischen 690 und 714 vergeblich, die Helgoländer Friesen zu missionieren. Die Christianisierung gelang erst 100 Jahre später durch Bischof Liudger von Münster. Nach seiner Heiligenlegende soll er alle Heiligtümer Fosites vernichtet und den Helgoländer Häuptlingssohn Landicius zum Priester geweiht haben. Kunde vom frühmittelalterlichen Heiligland gibt auch Adam von Bremen in seiner Chronik Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum. In den Scholien dazu wird der frühere Name unter Bezug auf Willibrord als „Fosetisland“, der aktuelle Name aber als „Farria“ bezeichnet, was auf eine Verwechslung mit den Färöern hinweisen kann. Bei allen frühen Quellen ist umstritten, ob sie sich auf Helgoland beziehen. Wie das übrige Nordfriesland stand Helgoland im 12. und 13. Jahrhundert unter der dänischen Krone und galt ab dem 14. Jahrhundert als dänisch. Der in dänischen Diensten stehende Amtmann und Kaperkapitän Waldemar Zappy wirkte Ende des 14. Jahrhunderts auf Helgoland. Nicht nachweisbar ist hingegen ein Aufenthalt Klaus Störtebekers auf der Insel, obwohl er 1401 bei Helgoland gefangen worden sein soll. Erst mit dem Aufkommen der Seebadliteratur wird die Insel mit seinem Namen verbunden. Noch heute wird mit dem – allerdings nicht belegbaren – Begriff „Seeräubernest“ für die Insel geworben. Helgoland war im Spätmittelalter als Fanggebiet von Heringen bekannt. Während der Blütezeit des Heringsfangs Ende des 15. Jahrhunderts versuchten die Hansestädte Bremen und Hamburg Besitzansprüche auf die Insel geltend zu machen. Eine schriftliche Quelle aus der Hansezeit berichtet von dem Verlust einer Schiffsladung Kupfer 1409 bei Helgoland. Kupferscheiben wurden noch nach dem Zweiten Weltkrieg in der Nähe der Insel gefunden und in das Mittelalter datiert. Im Rahmen einer Analyse von 1978 wurde vermutet, dass das Kupfer von Helgoland stammt, was zu vielen Theorien (siehe Vorgeschichte) führte. Eine weitere Analyse von 1999 legte das Gegenteil nahe. Frühe Neuzeit Helgoland wurde bei der Landesteilung 1544 zunächst vergessen, kam dann aber letztlich zum Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorf und gehörte – mit einem dänischen Zwischenspiel in den Jahren 1684–1689 – bis 1714/21 zu den gottorfischen Anteilen im Herzogtum Schleswig. Es hatte den Status einer Landschaft mit einem hohen Grad an Selbstverwaltung. Die Heringsfänge waren deutlich zurückgegangen. Im Jahr 1542 ließ sich der Dithmarscher Pirat Peter Wiben auf der Insel nieder; er wurde dort 1545 von einer Truppe aus Dithmarschen erschossen. Wichtig waren die Schifffahrt, die Fischerei und auch das Lotsenwesen, das sich ab dieser Zeit entwickelte. Für die Strandungen auf der Insel gab es ein eigenes Recht. Schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts unterhielt Herzog Adolf I. von Schleswig-Holstein-Gottorf eine kleine ständige militärische Besatzung. 1630 wurde von Hamburg das erste Leuchtfeuer (Feuerblüse) auf der Insel gebaut. 1656 ist das erste Lotsenexamen auf Helgoland nachweisbar. 1686 musste die 1609 errichtete Kirche neugebaut werden; erst 1706 wurde der Kirchturm fertig. Dänemark besetzte 1684 die schleswig-gottorfische Insel Helgoland, musste sie aber bald wieder zurückgeben. 1709 wurde ein neues Kommandantenhaus errichtet. Das Teilherzogtum Schleswig-Holstein-Gottorf wurde nach dem Großen Nordischen Krieg (1700–1721) auf seine holsteinischen Landesteile reduziert; es musste seine schleswigschen Besitzungen aufgeben. Helgoland wurde schon 1714 von dänischen Truppen erobert und gehörte von da an zum weitgehend einheitlichen Herzogtum Schleswig unter dänischer Krone. Die Neujahrsflut 1721 zerstörte den Woal, die Landzunge zwischen dem roten Buntsandsteinfelsen der Hauptinsel und dem östlich gelegenen Witte Kliff, einem Kalkfelsen, dessen Abtragung durch die Nordsee aufgrund des dort bis ins 17. Jahrhundert betriebenen Steinbruchs beschleunigt wurde. Über den verbliebenen Klippen bildete sich die heute für den Badebetrieb genutzte Düneninsel. Erst 1723 wurde ein Bollwerk zum Schutz des Unterlands am Nordoststrand gebaut. Die Insel geriet politisch in Vergessenheit. Gegen Ende der dänischen Zeit wurde die Insel von Naturforschern besucht; Georg Christoph Lichtenberg machte 1773 eine Reise und berichtete viel und begeistert, im September 1790 folgte Alexander von Humboldt. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte Helgoland in der gelehrten Öffentlichkeit Interesse gefunden; Besuche waren aber noch sehr selten und abenteuerlich. Britische Kronkolonie 1807–1890 In der britischen Zeit wurde Helgoland zum führenden Seebad und „Sehnsuchtsort“ der Deutschen. Gouverneur William Osborne Hamilton 1808–1815 Im Verlauf der Auseinandersetzungen zwischen Dänemark und Großbritannien in den Napoleonischen Kriegen besetzten am 5. September 1807 britische Truppen die Insel. Die dänische Garnison feuerte dabei keinen einzigen Schuss ab. In der Kapitulationsurkunde sicherten die Briten zu, dass die innere Selbstverwaltung der Insel unverändert bestehen bleiben und ihre Bewohner nicht zum Dienst in der Kriegsmarine des Landes verpflichtet werden sollten. Die Inselverwaltung bestand aus sechs Rathmännern, die acht Quartiersleute und sechzehn Landesälteste ernannten. Die Quartiersleute waren für öffentliche Aufgaben auf jeweils einem Teil der Insel zuständig. Die Landesältesten fungierten als Helfer und Vertreter der Quartiersleute. Die Rathmänner, Quartiersleute und Landesälteste bildeten als Vorsteherschaft den Rat der Insel. Grund der Besetzung war die Kontinentalsperre, die 1806 von Napoleon gegen das Vereinigte Königreich verfügt worden war und in die 1807 auch Dänemark einbezogen wurde. Helgoland wurde als Kronkolonie in das Vereinigte Königreich Großbritannien und Irland eingegliedert. Der erste Gouverneur wurde Corbet James D’Auvergne, der aber schon im Februar 1808 sein Amt an William Osborne Hamilton (1750–1818) übergab. Helgoland entwickelte sich seit Anfang 1808 zu einem lebhaften Schmuggelplatz; die Insel übernahm gewissermaßen die Funktion Hamburgs als Überseehafen. Viele Hamburger und britische Kaufleute hatten Vertretungen auf Helgoland. Bis zu 400 Schiffe liefen täglich die Insel an. Die Helgoländer Lotsen kannten die Wege zum Festland gut. In Richtung Kontinentaleuropa wurden vor allem Kolonialwaren und Fertiggüter geschmuggelt. Auf dem umgekehrten Weg wurden vor allem Agrargüter umgeschlagen. Die britische Regierung schätzte den Wert der Waren, die im ersten Halbjahr 1809 von Großbritannien über Helgoland auf den Kontinent ausgeführt wurden, auf rund fünf Millionen Pfund. Dazu war die Insel erster Anwerbungsort für die King’s German Legion; ein Hauptorganisator war Friedrich von der Decken. Über 2000 meist zuvor hannoversche Soldaten gingen über Helgoland nach England. Die Schwarze Schar des Herzogs Friedrich Wilhelm von Braunschweig rettete sich 1809 komplett über Helgoland nach England. Dazu residierte auf der Insel Edward Nicholas (1779–1828), der die Geheimdienstaktivitäten kontrollierte. Über Helgoland liefen viele Nachrichten zwischen England und dem Kontinent; Spione, Gegner Napoleons und Propagandaschriften wurden auf das Festland eingeschleust sowie Waffen an Widerstandsbewegungen geliefert. Im Verlauf des Jahres 1809 lagerten rund 50.000 Schusswaffen auf der Insel. Umgekehrt bildete Helgoland einen ersten Anlaufpunkt für Flüchtlinge aus dem napoleonischen Europa, darunter August Neidhardt von Gneisenau und Gustav IV. Adolf von Schweden. Der Schmuggel, der letztlich meist von Helgoländer Fischern gegen Bezahlung durch die Händler durchgeführt wurde, die zunehmende Tätigkeit als Schauerleute sowie die Unterbringung von Händlern und anderen ausländischen Besuchern führten zu erheblich wachsendem Wohlstand. Zwischen 1807 und 1810 verzehnfachten sich die Preise für Wohnhäuser. Von 1810 an begannen diese Aktivitäten aber nachzulassen, da Großbritannien durch seine militärischen Erfolge in Portugal und Spanien und über Geheimdienstaktivitäten in den Niederlanden einen verstärkten Zugriff auf den Kontinent erhielt. Das Ende der Kontinentalsperre führte zu einem wirtschaftlichen Niedergang und Bedeutungslosigkeit. Schmuggel fand nicht mehr statt und die Lotsendienste wurden vor allem von Hamburgern und Bremern erbracht. Derweil war die traditionelle Fischerei auf Helgoland in den Jahren zuvor wegen lukrativerer anderer Verdienstmöglichkeiten niedergegangen und konnte nur mit Mühe wiederbelebt werden. Der Niedergang war wohl auch ein Auslöser dafür, dass 1811 81 Kaufleute eine Petition an die britische Regierung richteten, in der sie eine schlechte Rechtspflege bemängelten. Hamilton ging gegen diesen – aus seiner Sicht – Akt der Verschwörung vor und ließ einen der Rädelsführer für drei Wochen unter Hausarrest nehmen. 1816 wurde Hamilton deshalb von einem britischen Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt. Die britische Regierung lehnte eine finanzielle Unterstützung des Auslandsterritoriums ab. Private und kirchliche Sammlungen in Großbritannien erbrachten 1815 aber einen rund 1000 Pfund starken Nothilfefonds für Arme auf Helgoland. Im Kieler Frieden vom 14. Januar 1814 verblieb Helgoland bei den Briten als eine ihrer wenigen Erwerbungen. Gouverneur Henry King 1815–1840 Unter Henry King verließen zu seinem Bedauern 1821 die letzten britischen Truppen die Insel. Er musste sich jetzt allein auf seine persönliche Autorität verlassen, was ihm aber gelang. Um der Armut zu begegnen, gründete Jacob Andresen Siemens 1826 nach dem Vorbild von Norderney das Seebad Helgoland. Der Durchbruch des Seebads kam 1829, als ein Kongress der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Hamburg eine Exkursion nach Helgoland unternahm. Teilnehmer waren Justus von Liebig und Adelbert von Chamisso; gerne dabei gewesen wäre auch Achim von Arnim; Goethe las mit Interesse die Berichte von der Exkursion. Ein eindrückliches Erlebnis war für die Gäste bereits die Fahrt mit dem Raddampfer. 1834 wurde die Treppenanlage erneuert. Es entstanden die ersten Gästehäuser am Falm und im Unterland das Gasthaus Mohr gegenüber dem Badehaus. Gegenüber dem Conversationshaus, der alten Börse der Schmuggelzeit, eröffnete eine Apotheke. In dieser Frühzeit der Helgolandbegeisterung malte Rudolf Jordan den Heiratsantrag auf Helgoland, der die Begeisterung für die schönen und natürlichen Helgoländerinnen deutlich machte. Das Bild erlangte eine hohe Popularität. Der Revolutionär Harro Harring sorgte auf der Insel 1838/39 für Unruhe; auch er schrieb über Helgoland. Heinrich Heine galt im 19. Jahrhundert als der Dichter der Insel. Er hatte sie 1829 und 1830 besucht. Sein Helgoländer Tagebuch in Ludwig Börne: Eine Denkschrift von 1840 ist bis heute die bedeutendste Literatur vor Helgoländer Hintergrund. Seine späten Nordsee-Gedichte gehören auch zur Helgoland-Literatur. Im Gegensatz zu Norderney gibt es von ihm keine spöttischen Anmerkungen über Helgoland. Wichtig für die Rezeption der Insel war Ludolf Wienbargs Helgolandbuch. Der Verleger Julius Campe machte regelmäßig auf der Insel Sommerurlaub. Ab 1840 hatte Helgoland mehr Badegäste als Norderney, 1842 schon doppelt so viele. Zu den weiteren Dichtern, Schauspielern und Literaten vgl. Eckhard Wallmann: Helgoland – Eine Deutsche Kulturgeschichte (siehe unten, Abschnitt Literatur). Gouverneure John Hindmarsh 1840–1856 und Richard Pattinson 1857–1863 John Hindmarsh war als Gouverneur in Südaustralien gescheitert, bevor er nach Helgoland kam. Er wie auch Richard Pattinson schafften es nicht, sich auf der Insel durchzusetzen. Gerne wurde den Gästen erzählt, dass auch ein englischer Polizist, der von Hindmarsh geholt worden war, von den Helgoländern verprügelt und unverrichteter Dinge wieder nach England zurückgeschickt worden war. Die anarchischen Zustände lockten freiheitssuchende Gäste an. Sie gründeten 1847 ein Selbstverwaltungskomitee, das mit den Helgoländern über Preise verhandelte und Veranstaltungen organisierte. Anders als in anderen Bädern, dominierte der Adel nicht die Seebad-Gesellschaft. Auf der Insel sah man unter den Gästen wie auch den Helgoländern eine ideale Gleichheit verwirklicht. Auf der Insel wurden keinerlei Papiere kontrolliert. Die Gäste gingen auf die Jagd nach Vögeln, Seehunden und Fischen. Das Schießen wurde auch als Üben für den Barrikadenkampf gedeutet. Berichtet wurde von dem hohen Alkoholkonsum und den daraus folgenden sehr freien politischen Reden. Helgoland wurde zum Treffpunkt der Oppositionellen des Vormärz aus dem alten, nicht nur deutschsprachigen Mitteleuropa. Die österreichische Opposition war stark vertreten. Die politische Führung der Restauration in den deutschsprachigen Gebieten war sich dieser Funktion der Insel bewusst: 1844 forderte Metternich den britischen Außenminister George Hamilton-Gordon auf, das Entstehen einer liberalen deutschsprachigen Presse zu unterbinden. Die deutschen, in der Regel national eingestellten Liberalen bewerteten Helgoland zwiespältig: Einerseits erkannten sie die großen persönlichen Freiheiten im Vergleich zu den deutschen Fürstentümern an. Andererseits wurde die britische Hoheit über eine als deutsch angesehene Insel abgelehnt. In diesen Zusammenhang gehören auch die Besuche des Dichters Hoffmann von Fallersleben. Er dichtete während eines Ferienaufenthalts auf Helgoland am 26. August 1841 das Lied der Deutschen auf die von Joseph Haydn 1797 komponierte Hymne für den römisch-deutschen Kaiser. In der Helgoländer Urschrift gab es eine Variante zur dritten Strophe: Stoßet an und ruft einstimmig: Hoch das deutsche Vaterland! Über die Feiern mit revolutionären Reden und viel Alkohol, die ihn zu diesem Lied inspirierten, wurde in den damaligen Zeitungen als Skandal geschrieben – nicht über ihn, den damals noch wenig bekannten Germanisten. 1844 erhielt Helgoland erstmals eine Orgel, ein wertvolles Instrument von Ernst Wilhelm Meyer & Söhne. Einer der wichtigsten Inselgäste über Jahrzehnte war Franz Dingelstedt. Häufig besuchten auch Adolf Stahr und Fanny Lewald die Insel. Thema vieler Veröffentlichungen war die Heirat der schönen Helgoländerin Anna Mohr mit einem Grafen, angeblich dem verhassten Fürsten Felix von Lichnowsky, der sie habe sitzen gelassen. Während der Revolution 1848/49 war die Insel ein Erholungsort für Revolutionäre; manche konnten auch von dort nach England fliehen. Vor Helgoland kam es trotz der britischen Präsenz zu einem deutsch-dänischen Seegefecht: 1849 mit Schiffen der Reichsflotte, was eine Attraktion für die Badegäste war, allerdings sonst in der deutschen Presse kaum wahrgenommen wurde. In der Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte die Popularität der Insel einen Höhepunkt. Nach der Revolution kam verstärkt auch der Hochadel zur Insel. Häufig zu Gast war Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach. Einen ersten Einbruch für das Seebadleben stellte die Werbung für die englische Fremdenlegion 1855/56 dar, die im Krimkrieg kämpfen sollte. Das Oberland war mit vielen Baracken übersät. Gouverneur Henry Berkeley Fitzhardinge Maxse 1863–1881 Gouverneur Maxse erhielt bei seiner Einsetzung von der britischen Regierung den Auftrag, verschiedene als negativ angesehene Entwicklungen auf Helgoland zu beheben. Insbesondere handelte es sich um das verbreitete Glücksspiel, den hohen Schuldenstand der Inselverwaltung von mehr als 7000 Pfund, die Auswüchse beim Bergungswesen (die Ladung gestrandeter Schiffe wurde nach der Bergung durch die Helgoländer zu großen Teilen gestohlen; der Bergungslohn wurde frei ausgehandelt, je nach Gefahr) und die fehlende Überwachung der Vorsteherschaft durch die britische Verwaltung. 1864 kündigte Maxse an, die Rathmänner in der Vorsteherschaft um weitere sechs Repräsentanten der Inselhonoratioren sowie den Gouverneur zu ergänzen und jedes Jahr zwölf weitere Mitglieder direkt von den Bewohnern wählen zu lassen. Alle weiteren bisherigen Funktionsträger sollten nicht mehr der Vorsteherschaft angehören. Zudem verlangte er, die Spielbank nach dem Auslaufen ihres Vertrags zu schließen und Vorschriften zu Steuern und Strandgut streng durchzusetzen. Ein Großteil der Maßnahmen wurde in den folgenden Jahren umgesetzt. Dies löste erheblichen Widerstand unter den Rathmännern aus. 1866 schickte ein von ihnen angestoßenes Bürgerkomitee eine Petition zur Rücknahme von Maxses Reformen nach London. Kolonialminister Richard Temple-Nugent-Brydges-Chandos-Grenville verkündete daraufhin am 11. Juni 1867 persönlich auf Helgoland, dass alle Regelungen wie vom Gouverneur angeordnet in Kraft blieben. Die Helgoländer reagierten daraufhin am 20. Januar 1868 mit dem Beschluss eines Steuerstreiks und einer Verweigerung der Wahl der Vorsteherschaft. Der Kolonialminister suchte daraufhin am 9. April erneut die Insel auf, ernannte Maxse demonstrativ zum Ritter, löste die Inselselbstverwaltung auf und übertrug ihre Befugnisse auf den Gouverneur. Dieser konnte daraufhin ohne weitere Rücksprache per Erlass regieren. Temple-Nugent-Brydges-Chandos-Grenville setzte darüber hinaus einen Exekutivrat ein, der aber lediglich als ausführendes Organ des Gouverneurs diente. Der vereinzelte Widerstand der Insulaner, der in der festländischen Presse auch mit deutsch-nationalen Argumenten unterlegt war, erlosch schnell. Maxse installierte eine zunächst sechs Mann starke Küstenwache mit neuer Kaserne im Unterland, um seine Autorität durchzusetzen. Die Helgoländer hatten keinerlei Mitbestimmungsrechte mehr. Das Seegefecht 1864 der preußischen und österreichischen gegen die dänische Marine wurde in der Öffentlichkeit wahrgenommen und machte die Insel in Österreich noch populärer. Die Spielbank der Insel, die seit der Gründung des Seebads im Conversationshaus bestanden hatte, wurde 1871 geschlossen, was zu einem starken Rückgang der Besucherzahlen führte. Um die Attraktivität der Insel zu steigern, gründete Maxse stattdessen ein Theater, dessen Intendanz er Carl Friedrich Wittmann übertrug. Maxses Frau Auguste Rudloff war eine ehemalige Schauspielerin des Wiener Burgtheaters. Beide waren Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens während der Saison. In seinen ersten Jahren wurde viel gebaut, eine neue Straße wurde am Nordoststrand angelegt. In diesen Jahren wurde Helgoland auch als Hochzeitsinsel für Gäste berühmt, vergleichbar mit Gretna Green. Paare konnten ohne Aufgebot in kurzer Frist heiraten. Ab 1871 wurden die Stimmen in der deutschen Presse aggressiver, die Helgoland für Deutschland forderten. In diesem Zusammenhang kam erstmals die Idee eines Tauschs der Insel gegen ein koloniales Territorium auf. In der deutschen Presse wurde zunächst das zu Französisch-Indien gehörende Gebiet Pondicherry vorgeschlagen; diese Bedingung sollte Frankreich nach dem deutschen Sieg im Deutsch-Französischen Krieg diktiert werden, wozu es jedoch nicht kam. Diese und ähnliche Ideen in den folgenden Jahren wurden zudem von der britischen Regierung mehrfach zurückgewiesen. Gouverneure Terence O’Brien 1881–1888 und Arthur Cecil Stuart Barkly 1888–1890 Unter Terence O’Brien entwickelte sich das Seebadleben wieder besser. Die Besucherzahlen steigerten sich von rund 4000 im Jahr 1880 auf 8320 im Jahr 1886. Damit ging eine erhebliche Besserung der wirtschaftlichen Lage der Insulaner einher. Der Haushalt der Kolonie entwickelte sich positiv. Am Südstrand entstanden neue Hotels und Pensionen. Auf der Insel weilte oft die kulturell sehr engagierte Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar; auch der Großherzog von Oldenburg und seine Familie gehörten zu den Stammbesuchern der Insel. Rudolf Lindau traf dort öfter Schriftsteller aus seinem Umkreis; er ließ sich im Ruhestand ganz auf der Insel nieder. Daneben gab es einen Kreis um Otto Brahm. Gouverneur Arthur Barkly kam schon krank auf die Insel; er wurde oft von seiner Frau in seiner Arbeit vertreten. Ihre Erinnerungen mit der Trauer über die Militarisierung der Insel nach 1890 wurden gerne zitiert. Das deutsche Helgoland Die deutsche Zeit ist durch den Festungsbau der Marine und den zunehmenden Massentourismus geprägt. Helgoland wurde ein Ort des Nationalstolzes. Kaiserreich Am 1. Juli 1890 ging Helgoland durch den Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und dem Vereinigten Königreich über die Kolonien und Helgoland an ersteres über und wurde dem Königreich Preußen zugeschlagen. Strategischer Hintergrund war aus deutscher und preußischer Sicht der im Bau befindliche Nord-Ostsee-Kanal. Dieser ermöglichte einen schnellen Wechsel von Handels- und Kriegsschiffen zwischen Nord- und Ostsee ohne Umrundung der Nordspitze Dänemarks; zudem mussten sich die passierenden Schiffe im Kriegsfall so nicht mehr der Bedrohung durch feindliche Kriegsschiffe und dänische Küstenartillerie aussetzen. Helgoland als britischer Beobachtungs- und möglicherweise Militärposten in der westlichen Kanaleinfahrt schmälerte dessen Wert. Aus britischer Sicht waren der Tausch gegen die inzwischen in den Blickpunkt gerückte ostafrikanische Insel Sansibar und Grenzvereinbarungen in Westafrika attraktiver als andere mögliche Abschlüsse, da sich dadurch die Möglichkeit zur Bereinigung von Territorialkonflikten mit dem Deutschen Reich in dieser Region bot. Königin Victoria stimmte trotz zuvor ablehnender Äußerungen am 12. Juni 1890 dem von Premierminister Lord Salisbury propagierten Tausch zu. Die offizielle Übergabe Helgolands fand am 9. August 1890 statt; daran nahmen von deutscher Seite Karl Heinrich von Boetticher (Staatssekretär im Reichsamt des Innern) und von englischer Seite Gouverneur Barkly teil. Organisiert wurde die Übergabe durch Adolf Wermuth, beraten wurden beide Seiten von Rudolf Lindau. Aus Gründen des Protokolls betrat Kaiser Wilhelm II. die Insel erst am 10. August – zur direkten Übergabe fehlte ihm ein britisches Staatsoberhaupt als Gegenüber. In der folgenden Übergangsperiode wurde die Verwaltung durch Erlass einem Seeoffizier mit dem Titel „Gouverneur von Helgoland“ (Kapitän zur See Wilhelm Geiseler) und einem Zivilbeamten mit dem Titel „kaiserlicher Kommissar für Helgoland“ (Adolf Wermuth) übertragen. Helgoland wurde in Bezug auf die staatliche Verwaltung dem Kreis Süderdithmarschen in der Provinz Schleswig-Holstein zugeordnet. Durch den umgangssprachlichen Namen des Vertragswerks (Helgoland-Sansibar-Vertrag, abschätzig auch „Hosenknopfvertrag“) wurde grob vereinfacht davon gesprochen, es habe sich um einen Tausch von Sansibar gegen Helgoland gehandelt. Deutschnationale Kritiker sprachen von einem „Tausch Hose gegen Hosenknopf“ und warfen Reichskanzler Caprivi vor, nach wirtschaftlichen wie kolonialpolitischen Gesichtspunkten gescheitert zu sein. Tatsächlich war Sansibar nie deutsche Kolonie. In der britischen Öffentlichkeit und im Parlament gab es viel Zustimmung für den Tausch, aber auch Kritik und Desinteresse. Da eine verlangte Volksabstimmung nicht durchgeführt wurde, veröffentlichte die kritische Pall Mall Gazette am 25. Juni 1890 eine eigene Umfrage unter den Helgoländern, die als Ergebnis eindeutig den Wunsch nach Verbleib unter englischer Herrschaft zeigte. Vereinzelte Kritik kam auch von einigen wenigen britischen Beamten, die auf Helgoland gedient hatten. Die mehrheitliche Meinung der englischen und der deutschen Presse und selbst beider Geheimdienste war, dass die Helgoländer mehrheitlich dagegen seien, Deutsche zu werden. Allerdings waren sie von den deutschen Badegästen wirtschaftlich abhängig. Wichtig für sie war, dass sie nach dem Vertrag weiter keine Steuern zahlen mussten, die (bis heute bestehende) Zollfreiheit 20 Jahre lang garantiert wurde und erst die nach 1890 auf Helgoland geborenen Männer wehrpflichtig wurden. Im Rahmen des Vertrages wurden Anker- und Handelsrechte für britische Fischer auf Helgoland festgeschrieben sowie das Recht aller Inselbewohner, bis zum 1. Januar 1892 die britische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Lediglich elf Bewohner machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Fünf von ihnen wanderten nach England aus. 1914, zum Beginn des Ersten Weltkriegs, gab es noch zwei Bewohner der Insel mit britischer Staatsbürgerschaft. Wer englisch blieb, musste eine nicht unerhebliche Kopfsteuer von 120 Mark zahlen und galt als Fremder, der im Krisenfall ausgewiesen werden konnte. Zur Germanisierungspolitik gehörte auch die Gründung eines Kindergartens. Die Kinder sollten hier schon früher als in der Schule Deutsch statt Helgoländisch sprechen und Kaisertreue einüben. Schon bald änderten sich die Lebensverhältnisse, da immer größere Teile der Insel zu einer Seefestung wurden. Kaiser Wilhelm II. ließ Helgoland sofort zu einem Marinestützpunkt ausbauen. Wilhelm kam nahezu jährlich nach Helgoland; allerdings besuchte er primär seine Marine, äußerst selten die Helgoländer oder die Badegesellschaft. Im neuen Conversationshaus von 1891 war er nie. Die Marine wurde eine Attraktion für die Badegäste. Nicht nur vor dem Flottenmanöver des Kaisermanövers von 1904 fand eine Flottenparade vor der Insel statt. Die Gästezahlen sanken, die wohlhabenderen Gäste kamen nicht mehr; dafür wurde Helgoland ein Ziel vieler Vereinsausflüge. Die Vereine feierten die deutsche Marine. In vielen Veröffentlichungen wurde darüber räsoniert, dass die Helgoländer den Betrieb der Festung stören würden. Außerdem galten sie als „halbe Engländer“ und damit als potentielle Verräter. Die Frage, wie lange sie noch auf der Insel bleiben könnten, lag in der Luft. Mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Jahr 1900 verschwand auch das besondere Helgoländer Eherecht. Helgoländer und Politiker hatten sich vergeblich für den Erhalt dieser liberalen Tradition eingesetzt. Das kulturelle Interesse änderte sich. Helgolandgemälde zeigten im Kaiserreich primär die Kriegsmarine. Es gab wenige Ausnahmen: In den Jahren 1901 und 1902 stellte die Malerin Elisabeth Reuter aus Lübeck im eigenen Atelier auf der Insel aus. Im Zuge der österreichischen Helgoland-Begeisterung komponierte Anton Bruckner im Jahr 1893 seine Kantate Helgoland für Männerchor und Orchester auf einen Text von August Silberstein; dieses Werk über eine gescheiterte römische Invasion erinnerte an das Seegefecht bei Helgoland von 1864. Dazu entwickelten sich im völkischen Umfeld Phantasien von einer alten heiligen Insel Helgoland, zum Beispiel bei Gorch Fock. 1900 wurde auf Helgoland als erstem deutschen Seebad das Familienbad eingeführt. Männer und Frauen konnten nun zusammen baden, allerdings nicht mehr wie bis zum Ende der englischen Zeit nackt. Ab 1908 wurde der Südhafen für die Marine gebaut. Der Tourismus litt deutlich unter den Bauarbeiten, das Oberland war schon militärisch genutzt, es gab Tunnel und unterirdische Anlagen. Mit der kaiserlichen Erklärung des Kriegszustandes am 31. Juli 1914 bekam der Festungskommandant absolute Vollmachten auf Helgoland. In seinem Anschlag des gleichen Tages verfügte er die Ausweisung aller Gäste und wies auf sein Recht zu Verhaftungen, Hausdurchsuchungen und Waffengewalt hin. Auch kleinere Versammlungen wurden verboten. Tags darauf am 1. August wurde den Helgoländern befohlen, die Insel binnen zwölf Stunden zu verlassen. In Hamburg angekommen, war entgegen Versprechungen des Militärs keine Unterkunft organisiert, sie wurden nach einer Nacht auf den Dampfern und Landungsbrücken zunächst in den Auswandererhallen untergebracht. Entgegen der allgemeinen Annahme, der Krieg werde nur wenige Wochen dauern, konnten die Helgoländer erst 1918 wieder zurückkehren. Im Krieg war Helgoland der Stützpunkt der 2. U-Boot-Flottille. In den Gewässern Helgolands fand 1914 das Erste Seegefecht bei Helgoland und 1917 das Zweite Seegefecht bei Helgoland statt. Beide Male kam es nicht zu einem Kampf um Helgoland oder zu einem Einsatz der Festungskanonen; die Besatzung langweilte sich hauptsächlich vier Jahre lang, was auch auf die britische Strategie der geografisch weit gefassten Seeblockade gegen das Deutsche Reich zurückzuführen ist. Weimarer Republik Während der Revolution 1918 übernahm zunächst ein deutscher Soldatenrat die Macht auf Helgoland. Dann kamen schon im Herbst die Helgoländer mit ihrer Gemeindevertretung zurück. Ihre Wohnungen waren nach der Benutzung durch die Soldaten verwahrlost. Die Helgoländer versuchten sehr schnell wieder Engländer zu werden. Britische Truppen waren ohnehin auf der Insel, um die Abrüstungsarbeiten gemeinsam mit Vertretern einer interalliierten Kontrollgruppe zu überwachen. Dazu gehörte auch, dass trotz Protesten der Einwohner große Teile der Hafenanlagen gesprengt werden mussten. Ein wichtiges Argument für das Verlassen Deutschlands war die Einkommensteuer, die jetzt von der deutschen Regierung eingezogen werden sollte. Zudem sahen die Helgoländer sich von den Abrüstungsarbeitern majorisiert. Letztlich scheiterte der Versuch an dem Unwillen der Briten, Helgoland wieder zurückzunehmen. Es gab Kontaktversuche zu den Dänen, aber auch die waren vergeblich. Die Reichsregierung sah diese Separationsversuche mit Sorgen und ergänzte die Verfassung nach Helgoländer Wünschen. Dazu wurde Helgoland ein eigener Landkreis mit einem Landrat auf der Insel. 1925 wurde das 100. Jubiläum der Seebadgründung gefeiert. Die politischen Streitigkeiten schienen sich gelegt zu haben. Gegründet wurde der Helgoländer Heimatbund mit einem eigenen Monatsblatt, das heute eine wichtige Quelle für die Geschichte ist. Im Jahr 1925 zählte Helgoland 2576 Einwohner, davon 2380 Evangelische, 148 Katholiken, 4 „sonstige Christen“ und 4 Juden. Die Besucher kamen jetzt oft wegen des günstigen zollfreien Einkaufs. Die Zahl der Tagesgäste hatte schon im Kaiserreich massiv zugenommen; die schlechten wirtschaftlichen Bedingungen machten den Einkauf aber erst nach dem Ersten Weltkrieg attraktiv und verschlechterten weiter das Image der Insel. Im alten Kriegshafen war ein Strandbad entstanden. Im Juni 1925 schloss der Physiker Werner Heisenberg auf Helgoland die grundlegenden Arbeiten an seiner mathematischen Beschreibung der Quantenmechanik ab. Er hatte sich wegen seines Heuschnupfens auf die Insel zurückgezogen. 1925 gründete sich der Club von Helgoland, um den Ruf der Insel zu verbessern. Landrat Gustav Etzel nutzte diesen Club für seinen Kampf gegen den Helgoländer Heimatbund; dessen Einsatz für Helgoländer Privilegien (Einkommensteuer-Freiheit) sah Etzel als Separatismus an. Über Helgolands Untreue dem Reich gegenüber wurde 1928 reichsweit wieder diskutiert, wie schon in den ersten Nachkriegsjahren. Die frühen Helgoländer Nationalsozialisten unterstützten den Heimatbund. Dagegen wehrten sich dessen Mitglieder nicht, aber sie grenzten sich von ihnen ab mit dem Hinweis auf ihre jüdischen Mitglieder, die den Heimatbund auch gegen den Vorwurf des Antisemitismus verteidigten. Bei den Kommunalwahlen trat die NSDAP nicht an. Es dominierten die Liste des Heimatbunds mit August Kuchlenz und eine Liste des nicht so radikalen Franz Schensky, die mehr auf Kooperation mit dem Reich setzte. Beide starken Männer hatten sich direkt nach dem Krieg für eine Rückkehr nach Großbritannien engagiert. In der NSDAP waren bis 1933 nur Helgoländer mit zweifelhaftem Ruf tätig. Bis 1933 blieben August Kuchlenz und der Heimatbund die stärkste Gruppierung. In der Wirtschaftskrise waren Suppenküchen und Wärmestuben für viele Helgoländer notwendig zum Überleben. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 erhielt die NSDAP auf Helgoland 50,6 % der Stimmen. Bei der Wahl der Gemeindevertretung 1933 gewann sie drei der neun Sitze im Gemeinderat. Aber einige Vertreter der Helgoländer Listen traten zur NSDAP über. Es war das Ziel neuer Aktivisten, dass sich die NSDAP-Ortsgruppe neu aufstellen sollte. Die Führung der alten Helgoländer NSDAP, die Helgoländer Parteien unterstützt hatte, wurde entmachtet. Nun übernahmen Wissenschaftler der Biologischen Anstalt sowie Helgoländer Schullehrer die Macht auf der Insel. An der Spitze stand Karl Meunier, ein junger ehrgeiziger Wissenschaftler, der u. a. von Helmuth Hertling (1891–1942) unterstützt wurde. Am 26. November 1933 wurde der bisherige starke Mann der NSDAP, Georg Friedrichs (1887–1945), von Karl Meunier verhaftet und kam mit anderen Lokalpolitikern, darunter August Kuchlenz, in ein Konzentrationslager. Die neue Führungsriege war absolut reichstreu und sah auch die Helgoländer als Deutsche an, was neu war und die Helgoländer mit ihrer bis dahin unklaren nationalen Identität in die nationalsozialistische Volksgemeinschaft aufnahm. Die Jugendlichen lernten bei der Hitlerjugend, dass sie Deutsche seien. Die zentrale Person zwischen 1933 und 1945 auf der Insel war Karl Meunier (1902–1986) von der Biologischen Anstalt. Er war als Amtsvorsteher Vorgesetzter des Bürgermeisters, als Ortsgruppenleiter hatte er die Macht in der Partei. Er war auf der Insel ausgesprochen verhasst; die alten Helgoländer Nationalsozialisten strengten Parteiprozesse gegen ihn an, aber vergebens. Viele Helgoländer in der NSDAP wehrten sich gegen seinen brutalen, autoritären Stil. Es gibt noch heute einen reichen Bestand von Prozessakten des Parteigerichts, die bis in die Kriegsjahre reichen. Höhepunkt war ein großer Homosexuellenprozess, in dem auch führende Mitglieder der örtlichen Partei angeklagt waren. Eines der prominentesten Opfer war Alfred Wulff (* 1888), der als Professor an der Biologischen Anstalt tätig war und als brillanter Biologe und Kassenwart der NSDAP-Ortsgruppe hoch geschätzt war, aber wegen seiner Homosexualität Anstalt und Partei verlassen musste. Er kämpfte später um die Wiederaufnahme in die NSDAP und betonte seine nationalsozialistische Gesinnung. Durch die Diskussionen über die alten Helgoländer Rechte (neben der Zollfreiheit auch die Steuerfreiheit) und die Bemühungen der Insulaner nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, britisch oder dänisch zu werden, galten die Helgoländer als potenzielle Staatsverräter. Die Nationalsozialisten hatten schon vor 1933 betont, dass die Helgoländer Deutsche seien, und sorgten so für eine eindeutige Identität. Seit der NS-Zeit wird diese Frage auch nicht mehr diskutiert. Viele militärische Anlagen der Insel waren nach dem Ersten Weltkrieg nur zurückgebaut, aber nicht zerstört worden. Im Zuge der vom NS-Regime betriebenen Aufrüstung der Wehrmacht wurden sie ab 1935 unter dem Decknamen Projekt Hummerschere zu einem großen Marinestützpunkt ausgebaut. Schon ab 1933 wurden über die NS-Organisation Kraft durch Freude Helgoland-Fahrten angeboten. Das führte zu einem Einbruch bei der Zahl der Dauergäste. Am Anfang des Zweiten Weltkriegs wurden die Helgoländer nicht deportiert. Am 3. Dezember 1939 erfolgte der erste Bombenangriff der Alliierten; es handelte sich um einen erfolglosen Angriff von 24 Wellington-Bombern der RAF-Squadrons 38, 115 und 149 gegen deutsche Kriegsschiffe, die bei Helgoland lagen. Die Insel war im Zweiten Weltkrieg zunächst wenig von Bombardierungen betroffen – was die geringe militärische Bedeutung zeigt, die vor allem die Briten ihr noch beimaßen. Durch die Entwicklung der Luftwaffe hatten Inseln ihre strategische Bedeutung weitgehend verloren. Das Projekt Hummerschere wurde 1941 abgebrochen. Der auf der Düne errichtete Flugplatz war für eine ernsthafte Kriegsnutzung zu klein und verwundbar. Die zur Abwehr alliierter Bombenangriffe zeitweise eingesetzte Jagdstaffel Helgoland war mit einer seltenen, ursprünglich für den Einsatz von Flugzeugträgern aus konzipierten Version des Jagdflugzeugs Messerschmitt Bf 109 ausgerüstet. Vollendet und einsatzfähig waren der U-Boot-Bunker Nordsee III im Südhafen (ab Januar 1942, jedoch nur bis März 1942 durch U-Boote benutzt), Marineartillerie-Batterien (größtes Kaliber 30,5 cm), ein Luftschutzbunker-System mit umfangreichen Bunkerstollen und der Flugplatz mit der Luftwaffen-Jagdstaffel Helgoland (April–Oktober 1943). Die endgültige gesamte Länge der Tunnelanlagen wurde auf über 13 km geschätzt. Beim Bau der militärischen Anlagen wurden auch Zwangsarbeiter eingesetzt, unter anderem sowjetische Kriegsgefangene. Es gibt keinen Überblick über die Stärke der Inselbesatzung im Kriegsverlauf. Für 1941 gibt eine Quelle 2378 Arbeiter beim Hafenbau und 436 Soldaten an, mit dem weiteren Kriegsverlauf nahmen die Zahlen ab. Im November 1944 gab es nur noch 614 Arbeiter, dementsprechend wird die Zahl der Soldaten auch rückgängig gewesen sein. Widerstand am Kriegsende – Versuch einer friedlichen Übergabe der Insel Kurz vor Kriegsende 1945, als die Briten schon vor Bremen standen, gelang es dem aus Süddeutschland stammenden Dachdeckermeister Georg E. Braun und dem Helgoländer Erich P. J. Friedrichs (1890–1945), auf der vom Militär kontrollierten Insel eine Widerstandsgruppe zu bilden. Ihnen war klar, dass der Zweite Weltkrieg nicht mehr zu gewinnen war; so wollten sie versuchen, Helgoland vor der völligen Zerstörung durch die Alliierten zu bewahren. Bei Georg Braun auf dem Oberland trafen sich hauptsächlich Offiziere und Soldaten der in der Nähe liegenden Batterien Falm und Jacobsen. Treffpunkt im Unterland war Erich Friedrichs’ Gastwirtschaft Das Friesenhaus. Dort fanden sich hauptsächlich Helgoländer und Zivilisten vom Festland ein. Nie trafen sie sich in größeren Gruppen, sondern kamen immer wie zufällig vorbei, um Informationen auszutauschen. Während die Militärgruppe um Georg Braun die Pläne für eine kampflose Übergabe der Insel an die Alliierten ausarbeitete, unterhielten Friedrichs, der Funkoffizier an der Signalstation unweit des Hauses von Georg Braun war, und einige seiner Kollegen Funkkontakt zu den Engländern. Kurz vor Ausführung der Pläne wurde die Aktion jedoch von zwei Mitgliedern der Gruppe verraten. Etwa 20 Männer wurden am frühen Morgen des 18. April auf Helgoland verhaftet und 14 von ihnen nach Cuxhaven transportiert. Nach einem Schnellverfahren wurden fünf Widerständler drei Tage später, am Abend des 21. April 1945, auf dem Schießplatz Cuxhaven-Sahlenburg hingerichtet. Die Urteile wegen Verschwörung und Aufforderung zur Meuterei wurden unterzeichnet von Rolf Johannesson. Den Verurteilten zu Ehren ließ das Helgoländer Museum am 17. April 2010 Stolpersteine auf Helgolands Straßen verlegen. Ihre Namen sind: Erich P. J. Friedrichs, Georg E. Braun, Karl Fnouka, Kurt A. Pester, Martin O. Wachtel (siehe die abgebildeten Stolpersteine). Ein sechster Stolperstein gilt der Erinnerung an den Friseur Heinrich Prüß, der seine Ablehnung des Nationalsozialismus öffentlich aussprach und 1944 verhaftet und im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet wurde. Ende des Zweiten Weltkriegs und Nachkriegszeit Bei zwei Angriffswellen am 18. und am 19. April 1945 warfen 1000 Flugzeuge der britischen Royal Air Force etwa 7000 Bomben ab. Die Mehrheit der Bewohner überlebte in den Luftschutzbunkern. 285 Menschen kamen ums Leben, darunter zwölf Zivilisten. Die anderen Opfer waren Soldaten, Flak- und Marinehelfer. Danach war die Insel kaum noch bewohnbar. Die Zivilbevölkerung wurde noch von den Deutschen evakuiert. Die rund 2500 Bewohner wurden in etwa 150 verschiedenen Orten Schleswig-Holsteins untergebracht. Zum Ende des Krieges wurde Deutschland schrittweise von den Alliierten besetzt. Am 4. Mai unterschrieb Hans-Georg von Friedeburg im Auftrag des letzten Reichspräsidenten Karl Dönitz, der sich zuvor mit der letzten Reichsregierung nach Flensburg-Mürwik abgesetzt hatte, bei Lüneburg die Kapitulation aller deutschen Truppen in Nordwestdeutschland, den Niederlanden und Dänemark. Die Kapitulationsurkunde erwähnte, dass die Kapitulation auch für Helgoland als Teil von Nordwestdeutschland galt. Am 11. Mai 1945 wurde die Kapitulation auch auf Helgoland vollzogen; britische Soldaten besetzten die Insel. Einige Helgoländer hatten zum Kriegsende eine Bleibe auf der Insel Sylt gefunden, von wo aus sie weiterhin Fischfang in ihren gewohnten Gewässern betreiben konnten. In Cuxhaven bildete sich eine Gruppe um August Kuchlenz, den alten Lokalpolitiker. Ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg gab es wieder Bestrebungen, nach Großbritannien zurückzukehren. Die Helgoländische Muttersprache Halunder Friesisch wurde für die Identität der Helgoländer wichtiger. Am 18. April 1947 zerstörten die Briten mit der bis 1985 größten nichtnuklearen Sprengung der Geschichte die militärischen Bunkeranlagen der Insel. Sie inszenierten diese für die deutsche Öffentlichkeit; es gab eine eigene Broschüre dazu. Für die Sprengung war Munition auf die Insel gebracht worden. Noch 1949 wurden im „Helgoländer Loch“, etwa 2,5 Seemeilen (ca. 4,6 km) südlich von Helgoland, Granaten mit bis zu zehn Tonnen Tabun versenkt, rund 90 Tonnen Giftgasgranaten (ca. 6000 einzelne Granaten). Die Exil-Helgoländer starteten nun weitere politische Initiativen zur Wiederbesiedlung der Insel: Im März 1948 wurden die Vereinten Nationen angerufen. Es gab Appelle an das britische Unterhaus, die neu gebildete Bundesregierung und sogar an den Papst. Die alten englandfreundlichen Insulaner um August Kuchlenz hatten jetzt an Einfluss verloren; es sprachen die jüngeren, die im Nationalsozialismus gelernt hatten, dass sie Deutsche waren. Wichtige Figur war ab dieser Zeit Henry Peter Rickmers. Helgoland blieb militärisches Sperrgebiet und Bombenabwurfplatz für die britische Luftwaffe. Am 20. Dezember 1950 besetzten die beiden Heidelberger Studenten René Leudesdorff und Georg von Hatzfeld für zwei Nächte und einen Tag die Insel und hissten für die Presse die deutsche Flagge, die Flagge der Europäischen Bewegung und die Flagge Helgolands in unterschiedlichen Variationen. An einer zweiten Besetzung ab dem 27. Dezember 1950 nahmen zunächst vier weitere Personen teil, ab dem 29. Dezember schloss sich auch der damals in Heidelberg Geschichte lehrende Publizist Hubertus zu Löwenstein an. Die Frage, wer welche Rolle spielte, wird bis heute unterschiedlich dargestellt. Die breite Berichterstattung der nationalen und internationalen Presse, die Nicht-Kooperation deutscher Behörden und die dadurch entstehenden diplomatischen Verwicklungen zwischen Deutschland und Großbritannien führten dazu, dass die zweite Besetzung erst am 3. Januar 1951 von Großbritannien (mit Unterstützung deutscher Polizeieinheiten) beendet werden konnte. Die Bemühungen der Helgoländer und die gewaltlose Aktion der zuletzt 16 Besetzer lösten eine breite Bewegung zur Wiederfreigabe Helgolands aus; selbst aus der DDR gab es eine breite Unterstützung. Nachdem der Deutsche Bundestag im Januar 1951 einstimmig die Freigabe der Insel gefordert hatte, gaben die Briten am 1. März 1952 Helgoland wieder an die Bundesrepublik Deutschland zurück. Die Bevölkerung erhielt die Erlaubnis, auf ihre Insel zurückzukehren. Bis heute ist der 1. März auf Helgoland ein Feiertag. Für ihre gewaltfreie Aktion erhielten Leudesdorff und von Hatzfeld am 30. September 1993 das Bundesverdienstkreuz I. Klasse aus der Hand von Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Am 19. Dezember 2010 wurden Georg von Hatzfeld posthum und René Leudesdorff bei einem Festakt auf Helgoland zu „Verdienten Bürgern der Gemeinde Helgoland“ ernannt, nachdem die Gemeindevertretung einstimmig einen entsprechenden Beschluss gefasst hatte. Die Heimatvertriebenen aus den deutschen Ostgebieten begrüßten die Wiederfreigabe der Insel; noch einmal wurde Helgoland zu einem deutschen Symbol. An die Stelle des Stolzes auf die deutsche Festung trat die Freude über die erste Rückgabe eines von den Alliierten besetzten Gebietes. Ihre Hoffnungen, dass auch die Ostgebiete wieder deutsch würden, wurden gestärkt. Als Symbol für das Überleben der Insel wurden später oft der Flakturm, der trotz schwerer Beschädigung zu einem Leuchtturm ausgebaut wurde, und der Maulbeerbaum nahe dem Einstieg zum Schutzbunker (s. Bild) genannt, obwohl vereinzelt auch andere Gebäude (z. B. die Nordseehalle) sowie Bäume und andere Pflanzen überlebten. Wiederaufbau Eine Wiederaufbaukommission wurde 1952 ins Leben gerufen. Georg Wellhausen, der sich beim Wiederaufbau Hamburgs einen Namen gemacht hatte, wurde mit der Leitung der Kommission und dem Aufstellen eines Bebauungsplanes beauftragt, und es wurde ein Wettbewerb durchgeführt. Er entwickelte das städtebauliche Konzept, das bewusst von einer Rekonstruktion der Altbebauung absah, aber die gewachsenen Strukturen mit ihrer Ausrichtung nach der Windbelastung berücksichtigte. Als typisch gelten die asymmetrischen Giebelprofile und die farbigen Holzverschalungen, beispielsweise bei den Hummerbuden. Johannes Ufer entwickelte für die Häuser auf Helgoland ein Farbspektrum von 14 Farben, wobei er eher zarte Töne für das Oberland wählte und kräftige Töne für das Unterland. Der Kommission gehörte Konstanty Gutschow als Preisrichter an. Weitere Mitglieder waren Godber Nissen und Otto Bartning, der die Oberbauleitung übernahm. Mit dem Wiederaufbau entwickelten sich der Fremdenverkehr und der Kurbetrieb wieder zu wichtigen Wirtschaftszweigen. Helgoland erhielt 1962 die staatliche Anerkennung als Nordseeheilbad. 1967 galt der Wiederaufbau als abgeschlossen. Krise und neue Wege Die Gästezahlen stiegen bis Anfang der 1970er Jahre. Dann galt die Insel als billiger Einkaufsort; es entstand die abschätzige Bezeichnung „Fuselfelsen“. Das Image wurde schlecht und die Besucherzahlen sanken. Durch neue Konzepte wird seitdem versucht ein besseres Image aufzubauen. Von der reichen Geschichte wird oft nur noch die Sprengung wahrgenommen. Die Reste der alten Bunkeranlagen werden gerne besucht – wie auch schon nach dem Ersten Weltkrieg. Ab 1983 wurden Bunkerführungen als regelmäßiges Angebot in die Inselprospekte aufgenommen. Die Gäste schätzen die Naturerlebnisse, seit 1998 wird mit den Seehunden auf der Düne geworben. Ab April 2008 wurden Pläne des Hamburger Bauunternehmers Arne Weber diskutiert, die eine großangelegte Neulandgewinnung auf Helgoland vorsahen. Arne Weber besitzt das größte Hotel auf der Insel; er hatte schon vorher mit spektakulären Ideen für Helgoland geworben. Das Nordostgelände sollte mit dem Westrand der Düne verbunden werden. Auch nach Ablehnung des Projekts durch eine Lenkungsgruppe unter Vorsitz des Pinneberger Landrats 2010 wurde das Projekt weiter von Bürgermeister Jörg Singer verfolgt, bis 2011 in einem Bürgerentscheid eine Mehrheit von 54,74 % der Helgoländer dagegen stimmte. Seit 2015 hat die Gemeinde große Einnahmen durch Windenergieanlagen. Durch die verstärkten Bauaktivitäten kommt es oft zu Bombenfunden. Am 19. Oktober 2017 wurde das gesamte Oberland evakuiert, da eine britische Fliegerbombe gefunden und entschärft wurde. Die Sozialstruktur der Insel ändert sich. Viele Arbeitsstellen im Tourismus wurden dauerhaft durch Polen, Rumänen und Bulgaren besetzt; im Kommunalwahlkampf 2018 gab es sogar Werbung auf Polnisch. Am 21. September 2020 wurden 68 Wohnungen eingeweiht, welche die Gemeinde in der Nähe des Leuchtturms bauen ließ, um dem Mangel an Wohnungen für Einheimische zu begegnen. Wappen Blasonierung: „Zweimal geteilt von Grün, Rot und Silber“. Helgoland besitzt das älteste Wappen im Kreis Pinneberg. 1696 wurde der Insel zusammen mit den anderen seefahrenden Städten und Landschaften des Herzogtums Schleswig-Holstein-Gottorf von Herzog Friedrich IV. eine Schifffahrtsflagge verliehen. Daraus entwickelte sich erst im späten 19. Jahrhundert das jetzige Wappen. Die Tingierung ist abgeleitet vom berühmten Helgoländer Spruch: „Grön is dat Land, rot is de Kant, witt is de Sand. Dat sünd de Farven vun’t hillige Land.“ „Grün ist das Land, rot ist die Kant (seltener: Wand), weiß ist der Sand: Das sind die Farben von Helgoland.“ Nach Stadler ist die Krone erstmals im Jahr 1913 sicher belegt. Die Flagge zeigt dieselben Farben wie das Wappen. Zur Zeit der britischen Herrschaft befand sich auf der Flagge zusätzlich der Union Jack in der Gösch. Politik Die Gemeinde Helgoland gehörte vom 18. Februar 1891 bis zum 30. September 1922 zum Kreis Süderdithmarschen in der Provinz Schleswig-Holstein. Am 1. Oktober 1922 wurde sie zur einzigen Gemeinde im neuen Kreis Helgoland. Am 1. Oktober 1932 wurde dieser Kreis aufgelöst. Helgoland kam als amtsfreie Landgemeinde zum Kreis Pinneberg. Bis heute ist sie mit einem direkt gewählten Abgeordneten im Pinneberger Kreistag vertreten. Der Grund für die Zuordnung zum Kreis Pinneberg war, dass Pinneberg von allen schleswig-holsteinischen Kreisstädten aufgrund seiner Nähe zu Hamburg die beste öffentliche Verkehrsverbindung nach Helgoland hatte. Ergebnis der Kommunalwahl vom 14. Mai 2023: Bei der Bürgermeisterwahl am 11. September 2016 konnte sich wie 2010 Jörg Singer durchsetzen, er bekam 65,4 % der abgegebenen Stimmen. Bildung Die einzige allgemeinbildende Schule der Insel ist die James-Krüss-Schule, eine Gemeinschaftsschule mit integrierter Grundschule. Städtepartnerschaften Millstatt am See in Kärnten, , seit dem 9. Mai 1974 Religion Helgoland wurde früher als das schleswig-holsteinische Festland von christlichen Missionaren besucht. Von Alkuin kommt ein erster schriftlicher Bericht über einen Inselbesuch des angelsächsischen Missionars Willibrord um 800. 100 Jahre nach dem Besuch schrieb er dessen Leben auf, um ihn als Heiligen zu rühmen. Nicht unumstritten ist, dass die beschriebene Insel auch Helgoland sei. In diesem Bericht wird auch kurz auf die Religion der Insulaner eingegangen und ein Gott Fosite erwähnt, der sonst allerdings nirgends erwähnt wird. Ebenso wird eine Quelle beschrieben, aus der nur schweigend geschöpft werden soll. Dieses Bild hat Alkuin wahrscheinlich aus der antiken Literatur übernommen. Alkuin gibt auch wörtlich die Rede Willibrords wieder, was genauso wenig als historischer Tatsachenbericht zu lesen ist. Welche Religion auf Helgoland damals verbreitet war, ist nur zu vermuten. Um 1900 wurde der Helgoländer Gott Fosite auf der Insel als Personifikation der Insel benutzt, ähnlich wie Germania für Deutschland oder Hammonia für Hamburg (siehe Abschnitt Sport). Willibrord war nicht erfolgreich. Etwa 791 wurde angeblich die erste Kapelle durch den Münsteraner Bischof Liudger erbaut. Er soll alle Fosite-Heiligtümer vernichtet haben. Nach der Reformation gab es bis Ende des 19. Jahrhunderts nur evangelisch-lutherische Bewohner auf der Insel. Der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde gehören etwa 800 Personen und damit die Mehrheit der Inselbevölkerung an. Am 29. November 1959 wurde die evangelische St.-Nicolai-Kirche, welche nach dem Schutzpatron der Seefahrer und Kaufleute, Nikolaus von Myra, benannt ist, eingeweiht. Die Kirchengemeinde ist Teil des Kirchenkreises Dithmarschen, obwohl die Kommunalgemeinde zum Kreis Pinneberg gehört. Dies resultiert noch aus der Zeit, als Helgoland verwaltungsmäßig zum Kreis Süderdithmarschen gehörte. Die römisch-katholische Pfarrgemeinde auf Helgoland hat etwa 200 Gemeindemitglieder. Für die katholischen Angehörigen der Marine wurde schon im Kaiserreich auf dem Oberland eine Kapelle in der Sonnenuntergangsstraße in einem Marinegebäude eingerichtet, die später auch als Fremdenheim fungierte. Seit der Kirchweihe am 27. Juni 1971 hat Helgoland mit der St.-Michaels-Kirche eine eigene katholische Kirche. Sie wurde nach dem Erzengel Michael, dem Patron der Soldaten und Deutschlands, benannt und gehörte bis 1995 zum Bistum Osnabrück, seitdem zum neu gegründeten Erzbistum Hamburg. Sprache Die traditionelle Sprache Helgolands ist das Halunder Spreek genannte Helgoländer Friesisch. Dieser inselfriesische Dialekt der nordfriesischen Sprache ist auf der Insel auch zum Amtsgebrauch zugelassen. Allerdings beherrschen nur noch wenige der Helgoländer das Halunder. Eine Textprobe auf Halunder: „Med’n Oktoober für de iáárs Foortschichen weer noa Hambörri, en de Damper fan Tres küm weer taumoal uun’e Wek.“ Übersetzt ins Hochdeutsche: „Mitte Oktober fuhren die ersten Schiffe (‚Fahrzeuge‘) wieder nach Hamburg, und der Dampfer von Cuxhaven kam wieder zweimal die Woche.“ Die verbreitetste Sprache ist derzeit das Standarddeutsche. Daneben sprechen einige ältere Helgoländer auch noch Plattdeutsch, das auf Helgoland zwar nie Volkssprache gewesen ist, aber lange Zeit die Verkehrssprache für den Kontakt mit dem Festland war. 2005 wurde die Gemeinde Helgoland von der Aktion Sprachenland Nordfriesland mit der Auszeichnung „Sprachenfreundliche Gemeinde“ bedacht. Sehenswürdigkeiten (Auswahl) Lange Anna: Geologisch-naturkundliche Sehenswürdigkeiten sind unter anderem die Lange Anna (friesisch Nathurn Stak), ein 47 m hoher, frei stehender Felsen, und der von tausenden Seevögeln bevölkerte Lummenfelsen. Sie sind gut von einem Rundweg aus zu sehen, der auf dem Oberland entlang der Steilküste führt. Hummerbuden: Die bunt bemalten, hölzernen Hummerbuden am Hafen sind ehemalige Werkstätten der Fischer. Die heutigen Nutzungsarten stehen meist im Zusammenhang mit dem Tourismus. Museum Helgoland mit James-Krüss-Museum: Auf dem Museumshof des Museums Helgoland gibt es in zwei nachgebauten Hummerbuden ein kleines James-Krüss-Museum, in dem Fernsehaufnahmen, CDs, Fotografien, Manuskripte und Briefwechsel, darunter auch ein Brief von Astrid Lindgren an James Krüss, gezeigt werden. Das Aquarium Helgoland am Nordosthafen wird von der Biologischen Anstalt Helgoland als Forschungs-, Lehr- und Schauaquarium betrieben. Anfang 2015 musste das Aquarium aufgrund finanzieller und technischer Probleme bei der Instandhaltung bis auf Weiteres geschlossen werden. Der Förderverein Bluehouse Helgoland strebt an, das Aquarium mit einem neuen Nutzungskonzept wieder zu eröffnen. Richtfunkturm Helgoland: Ein Sendeturm sehr ungewöhnlicher Bauweise befindet sich auf dem Oberland. Der Richtfunkturm Helgoland ist als Stahlfachwerkkonstruktion mit dreieckigem Querschnitt ausgeführt, die noch zusätzlich mit Pardunen gesichert ist. Leuchtturm: steht in unmittelbarer Nähe zum Richtfunkturm. Der im Zweiten Weltkrieg als Flakturm bzw. Flakleitstand konzipierte Bau wurde 1952 als Leuchtturm in Betrieb genommen. Er besitzt das lichtstärkste deutsche Feuer mit einer Tragweite von 28 Seemeilen (52 Kilometer), so dass der Lichtstrahl in klaren Nächten bis zu den Ostfriesischen Inseln auszumachen ist. In den unteren zwei Stockwerken des Leuchtturms wurde zur Zeit des Kalten Krieges ein Atombunker eingebaut; die Scheinfenster in diesen Stockwerken brachte man nur aus ästhetischen Gründen an. Bunker: Rund 400 Meter der alten unterirdischen, mehrere Kilometer langen Bunkeranlagen und Schutzräume können in Führungen über einen Eingang vor der Kirche im Oberland besichtigt werden. Die genaue Zahl und Länge der unterirdischen Gänge auf der Insel sind noch immer unbekannt. Bunkerstollen Unterland: In einem alten Verbindungsgang des Bunkersystems, der vom Fahrstuhleingang im Unterland zu erreichen ist, ist seit Dezember 2022 eine Ausstellung zu finden, in der die Bombardierung der Insel durch Animationen nacherlebt werden kann. St.-Nicolai-Kirche: Die Innenausstattung der auf dem Oberland gelegenen Kirche stammt zum Teil noch aus der alten Inselkirche, die am 18. April 1945 durch einen Bombenangriff zerstört wurde. Regelmäßige Veranstaltungen (Auswahl) Nordseewoche (Hochseeregatta): Deutschlands einzige Hochseeregattaserie findet jedes Jahr am Pfingstwochenende statt. Störtebeker Opti Cup: Regatta für Optimisten, findet seit 2003 Ende Juli/Anfang August statt. Marathonlauf: Der Helgoland-Marathon wird seit 1998 alljährlich mit einigen Hundert Teilnehmern im Mai ausgetragen, meist am Sonnabend des Wochenendes, an dem in Hamburg das Volksfest Hafengeburtstag gefeiert wird. Beachvolleyball-Turnier: findet alljährlich im Sommer statt. Flens BeachSoccer Cup: Jedes Jahr Ende Juli/Anfang August findet am Südstrand der Düne ein großes Beachsoccer-Turnier statt. Inselfest: Auch als „Straßenfest“ oder „Tag des Seebäderdienstes“ bekannt, findet alljährlich an einem Sonnabend um den 12. Juli statt. Ruderregatta: Jedes Jahr im Juli veranstaltet die Allgemeine Fetenveranstaltungsgesellschaft Helgoland mit vielen Ruderteams der Insel und vom Festland ein Ruderfest mit Kostümen und Livemusik. Börtebootregatta: Zum Jahrestag der Abtretung Helgolands von Großbritannien an Deutschland am 10. August findet eine Regatta der Börteboote statt. Rock’n’Roll Butterfahrt: Das Festival findet jedes Jahr Ende April / Anfang Mai auf der Düne statt. Sport Auf Helgoland befindet sich ein Fußballplatz mit Kunstrasen sowie einer Laufbahn und einer Sprunggrube. Die Fußballabteilung des VfL Fosite Helgoland ist (wie alle Vereine aus dem Kreis Pinneberg) Mitglied im Hamburger Fußball-Verband. Allerdings nimmt derzeit keine Mannschaft am regulären Spielbetrieb teil. Der Grund hierfür sind die hohen Kosten der Überfahrt aufs Festland. Deswegen bestreitet der Verein ausschließlich Freundschaftsspiele. Jedes Jahr im Mai findet der Helgoland-Marathon auf einem Rundkurs auf der Insel statt, der fünfmal durchlaufen wird. Es nehmen bis zu 200 Männer und Frauen zumeist aus Deutschland teil. Helgoland hat eine lange Schwimmtradition. Schon Georg Christoph Lichtenberg bewunderte 1773 das Schwimmen der Helgoländer Jugend. Der Sieger der Meisterschaft für Gentlemen 1882 – Vorläufer der deutschen Schwimmmeisterschaften – der Berliner Gnewkow hatte 1881 die Insel in 2 Stunden und 1 Minute umschwommen, daran erinnerte man sich noch 1912. Zum Medienereignis wurde das Umschwimmen der Insel Ende der 1920er Jahre. 1927 umrundete die dänische Langstreckenschwimmerin Edith Jensen die Insel – samt neuem Südhafen – in 3 Stunden und 47 Minuten. Ihr Lehrer, der Dauerschwimmer Otto Kemmerich, mit dem sie zusammen gestartet war, war daran zunächst gescheitert; erst bei seinem zweiten Versuch am 21. Juni 1927 war er relativ erfolgreich (4 Stunden und 20 Minuten). Später im gleichen Jahr, am 27. Juli 1927, umschwamm die deutsche Schwimmerin Anni Weynell Helgoland in 4 Stunden und 8 Minuten und wurde dadurch bekannt. Der 66-jährige Sanitätsrat Siegfried Schaff schaffte es 1928 in 4 Stunden und 56 Minuten. 1929 wurde die Umrundung der Insel in 4 Stunden und 3 Minuten durch die Kemmerichschülerin Else Walter gemeldet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ab 1955 bis 2002 regelmäßig einmal in der Saison ein Wettschwimmen Helgoland – Düne (Dünenschwimmen) angeboten. Eine Neuauflage ist von 2010 bis 2014 in den Inselprospekten nachzuweisen. Am 21. August 2021 schwamm André Wiersig als erster Mensch vom Festland (St. Peter-Ording) nach Helgoland. Die Entfernung beträgt 48,53 km. Wiersig schwamm, da er durch die Tide abgetrieben wurde, insgesamt 53,2 km. Wirtschaft und Infrastruktur Der traditionelle Haupterwerb der Helgoländer, Fischfang und Lotsenwesen, spielt schon seit dem 19. Jahrhundert kaum noch eine Rolle. Bedeutend ist auch heute der Tourismus, wie schon seit dem frühen 19. Jahrhundert, dann neu und sehr wichtig die Windenergie und drittens der öffentliche Sektor mit einer großen Forschungseinrichtung. Für alle arbeiten etliche Handwerksbetriebe. Tourismus Helgoland ist ein staatlich anerkanntes Seeheilbad. 2017 standen 1602 Betten in Privatquartieren, Pensionen und Hotels zur Verfügung. Die Zoll- und Umsatzsteuerfreiheit Helgolands lockt, vor allem in den Sommermonaten, Tagesausflügler auch zum Duty-free-Shopping auf die Insel. Allerdings wird der Preisvorteil aufgrund des Wegfalls der Umsatzsteuer und der Zölle durch die ausschließlich auf Helgoland erhobene Gemeindeeinfuhrsteuer gemindert. Aufgrund der niedrigen Preise für Dieselkraftstoff gilt Helgoland unter Sportbootkapitänen zudem als Geheimtipp für Törns in der Deutschen Bucht. Auch Sportpiloten profitieren von dem Preisvorteil beim Tanken auf dem Helgoländer Flughafen. Die der Hauptinsel vorgelagerte und per Fähre zu erreichende Düne ist bevorzugtes Ziel derjenigen Urlauber, die nicht nur als Tagestouristen auf Helgoland verweilen und sich vor dem täglichen Touristenandrang dorthin zurückziehen. Auf der Düne teilen sich die Badegäste an manchen Tagen den Strand mit Seehunden und Kegelrobben, die ihre Scheu gegenüber Menschen weitgehend abgelegt haben. Von Ende der 1960er bis Ende der 1970er Jahre kamen bis zu 800.000 Ausflügler im Jahr – Besucherzahlen, die später nicht mehr erreicht wurden. Helgoland wurde damals mit dem abfälligen Spitznamen „Fuselfelsen“ bedacht, weil Touristen dort alkoholische Getränke zollfrei kaufen konnten. Um den Schwerpunkt wieder weg vom reinen Tages- und Einkaufstourismus auf Übernachtungsgäste zu legen, wurde 1999 das alte Kurhaus durch einen Hotelneubau ersetzt und 2007 das Meerwasserschwimmbad renoviert, das jetzt den Namen Mare Frisicum Spa Helgoland trägt. Die Zahl der Tagestouristen stieg 2011 erstmals nach langer Zeit wieder leicht an. Von 2007 bis 2010 stieg die Zahl der Übernachtungsgäste um rund 30 %. Im Jahr 2012 gab es rund 70.000 Übernachtungsgäste, die Zahl der Helgoland-Ausflügler insgesamt betrug 316.241. 2012 wurde die HelgolandCard eingeführt, die die frühere Kurkarte ersetzt. Das Geschäft mit dem Tagestourismus steht in einem Spannungsverhältnis zu dem Geschäft mit den Übernachtungsgästen. Windenergie Seit den hohen Gewerbesteuereinnahmen durch die Offshore-Windenergie-Firmen ab 2015 ist der Haushalt der Gemeinde Helgoland mehr als ausgeglichen. Die etwa 100 Arbeitsplätze sind meistens im 14-täglichen Wechsel besetzt. Es gibt neugebaute Wohnheime für die Arbeiter. Das größte Hotel der Insel ist als Tagungsort an Windenergiefirmen vermietet. Auf dem im Jahr 2013 von der Hafenprojektgesellschaft Helgoland mbH (HGH) erschlossenen Südhafengelände bauten die Unternehmen E.ON, RWE und WindMW, die am Bau und Betrieb mehrerer Offshore-Windparks in der Deutschen Bucht beteiligt sind, eine Betriebsbasis für Wartung und Service. Vorher musste das Gelände von den noch zahlreich vorhandenen Kampfmitteln aus dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit geräumt werden. Die Offshore-Windparks Meerwind Süd und Meerwind Ost von WindMW wurden 2014 rund 23 km nördlich von Helgoland fertiggestellt. Der Windpark Nordsee Ost von RWE-Innogy wurde im Mai 2015 eröffnet. Der Offshore-Windpark Amrumbank West von E.ON ging im Oktober 2015 in Betrieb. Seit 2020 werden in Fortführung der Windenergieentwicklung bei Helgoland Anlagen zur Herstellung von grünem Wasserstoff diskutiert. Erste Forschungsprojekte wurden 2021 bewilligt. Helgoland soll zum zentralen Wasserstoff-Knotenpunkt werden, der von den Offshore-Windparks in der Umgebung profitiert. Öffentlicher Dienst Ein großer Arbeitgeber im 20. Jahrhundert war die Bundeswehr bzw. ihre Vorgängerorganisationen. Die letzten Kasernen für bis zu 60 Soldaten wurden 2006 von der Biologischen Anstalt übernommen. Die ursprünglich insgesamt hohen Stellenzahlen bei Post, Wetterdienst, Flugsicherung, Polizei, Zoll, Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt sind durch die Umstrukturierungen vergleichbar wie auf dem Festland personell deutlich verkleinert worden. Erhalten ist bis heute ein Krankenhaus, das seit 1985 eine private Fachklinik für Parkinson-Kranke ist, daneben aber weiterhin eine Grundversorgung für die Helgoländer und Gäste bereithält. Am Südhafen befindet sich eine Wetterwarte des Deutschen Wetterdienstes. Zur Überwachung der Umweltradioaktivität installierte das Bundesamt für Strahlenschutz auf Helgoland zwei ODL-Sonden. Eine befindet sich auf dem Oberland, die andere beim Hafen; sie dienen der radioaktiven Frühwarnung. Die seit 1892 bestehende Biologische Anstalt Helgoland (BAH) erforscht die Grundlagen des Lebens im Meer mit Schwerpunkten in der Nordsee und im Wattenmeer. Sie gehört seit 1998 zum Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) mit Sitz in Bremerhaven. Hier arbeiteten 2017 65 Menschen, überwiegend mit befristeten Verträgen. Eine weitere Forschungseinrichtung ist die aus der BAH hervorgegangene Vogelwarte Helgoland. Infolge der Zerstörungen auf Helgoland nahm sie 1947 ihren Hauptsitz in Wilhelmshaven und heißt jetzt Institut für Vogelforschung „Vogelwarte Helgoland“. Die Inselstation Helgoland ist heute eine Außenstelle dieses Institutes. Ver- und Entsorgung Trinkwasser wird auf Helgoland selbst gewonnen. Neben dem Kraftwerk befindet sich eine Meerwasserentsalzungsanlage, mit der durch Umkehrosmose das Helgoländer Trinkwasser gewonnen wird. Das Wasser ist etwa viermal so teuer wie auf dem Festland. Der ins Helgoländer Netz eingespeiste Strom wurde bis 2009 ausschließlich vor Ort produziert: Im nordöstlichen Teil des Unterlands befindet sich ein Kraftwerk mit zwei Generatoren, die mit Dieselmotoren betrieben werden. Die Abwärme sowie die Wärme zweier mit Heizöl betriebener Heizkessel werden zur Fernwärme-Versorgung eines Großteils der Helgoländer Gebäude genutzt. Die Abgase der zentralen Energieerzeugung werden einer Rauchgasreinigung unterzogen. Im Jahr 2009 wurde für 20 Millionen Euro das Helgolandkabel, ein knapp 53 km langes 30-kV-Seekabel von St. Peter-Ording nach Helgoland, verlegt. Seit der Inbetriebnahme am 30. November 2009 ist Helgoland als letzte deutsche Gemeinde an das europäische Verbundnetz angeschlossen. Die Abfallentsorgung des Helgoländer Mülls erfolgt auf dem Festland. Auf der Insel sammelt die Karl Meyer AG den vorgetrennten Müll und transportiert ihn mit einem ihrer Schiffe aufs Festland. Ebenso betreibt das Unternehmen im Auftrag der öffentlichen Hand die Kläranlage der Insel. Diese wurde nach einem kompletten Neubau im September 2021 eingeweiht und ersetzt die alte Anlage, deren Reinigungsergebnisse nicht mehr ausreichend waren. Sie hat eine Ausbaugröße von 6.150 Einwohnerwerten. Die zweistraßige Anlage arbeitet nach dem SBR-System: Im Gegensatz zu den meisten anderen Kläranlagen laufen die verschiedenen Phasen der Reinigung nicht in hintereinandergeschalteten Becken ab, sondern in einem Becken, aber mit zeitlichem Versatz. Auf diese Weise können die stark unterschiedlichen Belastungen im Jahresverlauf (Tourismus im Sommer) besser behandelt werden. Der anfallende Klärschlamm wird in einer ebenfalls neu gebauten Klärschlamm­behandlungs­anlage entwässert, anschließend per Schiff abgefahren und landwirtschaftlich verwertet. Verkehr Helgoland ist nur per Wasser- oder Luftfahrzeug erreichbar. Schiffe Während der Touristensaison fahren täglich Seebäderschiffe von verschiedenen Häfen auf dem deutschen Festland nach Helgoland. Wichtigster Festlandhafen ist Cuxhaven, von wo durch die Reederei Cassen Eils die einzige Ganzjahresverbindung nach Helgoland bedient wird. Hierfür wird seit Dezember 2015 die mit LNG angetriebene Helgoland eingesetzt. Zudem wird über Cuxhaven ein Großteil des Frachtverkehrs zur Ver- und Entsorgung der Insel abgewickelt. Das Unternehmen Helgoland Fracht Kontor (Teil der Karl-Meyer-Gruppe) bietet mit den beiden Schiffen Helgoland und Björn M. mehrmals wöchentlich Verbindungen nach Helgoland an. Weitere Schiffe werden nach Bedarf zur Versorgung der Insel mit Baumaterial, zur Versorgung der von der Insel aus betreuten Offshore-Windparks sowie zur Müllentsorgung eingesetzt. Weitere bedeutende Häfen für den Helgolandverkehr sind Büsum (Reederei Adler & Eils), Bremerhaven und Hooksiel (beide Reederei Cassen Eils) und Hamburg (über Wedel und Cuxhaven) (FRS). Auf der letztgenannten Route wird der Katamaran Halunder Jet eingesetzt. Die Fahrzeiten der Seebäderschiffe von und nach Helgoland vom nächstgelegenen Hafen in Cuxhaven belaufen sich auf rund 130 Minuten; die Halunder Jet brauchte 75 Minuten. Das Ausbooten Eine in Deutschland einmalige Touristenattraktion ist das Ausbooten der Passagiere der auf Reede liegenden Seebäderschiffe zur Helgoländer Landungsbrücke. Das Ausbooten wird mit offenen, kräftig gebauten Börtebooten (örtliche Bezeichnung Rudder) durchgeführt. Im Börteboot finden 40–50 Passagiere während der kurzen Fahrt vom Seebäderschiff zur Insel Platz. Die Bootsform der Börteboote stammt noch aus der Zeit, als Helgoland vom Fischfang und später vom Lotsengeschäft in der Deutschen Bucht und den Flussmündungen der Weser und Elbe lebte. Da die Insel bis zum Bau eines Marinehafens kurz vor dem Ersten Weltkrieg keinen eigenen Hafen hatte, landeten die Boote im Winter wie im Sommer am Südstrand der Hauptinsel an. Im Zuge der Errichtung des Seebades Helgoland im Jahr 1826 und der Einrichtung einer Versicherung der Börtebootbetreiber auf Gegenseitigkeit wurde das Ausbooten auf der Reede vor dem Strand eingeführt. Seit Inbetriebnahme des heutigen Südhafens sprechen verschiedene Gründe gegen seine Nutzung für die Seebäderschifffahrt im Sommer; war es zunächst die ausschließlich militärische Nutzung, die das Einlaufen von Seebäderschiffen verbot, sprach danach die Praktikabilität für die Beibehaltung des Ausbootens: Für die Abfertigung von täglich bis zu fünf Seebäderschiffen ist zu wenig Platz im Hafen. An der für die Abfertigung der zahlreichen Tagestouristen ausgelegten Landungsbrücke ist nicht die notwendige Wassertiefe für jedes Schiff vorhanden. Zudem ist das Ausbooten ein Markenzeichen der Insel und eine Einnahmequelle für ihre Bewohner: Im Fahrpreis nach Helgoland ist ein Börtezuschlag enthalten. Ausgenommen vom Ausbooten sind die Katamaranfähre von Hamburg, Wedel und Cuxhaven sowie das „Ganzjahreschiff“ Helgoland ab Cuxhaven, die beide direkt den Südhafen ansteuern. Seit 2020 wird wegen der Coronasituation auf das Ausbooten verzichtet. Nach Auslaufen der Coronamaßnahmen wurde das Ausbooten bisher nicht wieder eingeführt. (Stand August 2023) Luft Auf der Düne befindet sich der kleine Flugplatz Helgoland-Düne, von dem aus in etwa 20 bis 30 Minuten das deutsche Festland erreicht werden kann. Regelmäßige Flugverbindungen von und nach Helgoland werden derzeit von den Flughäfen Heide/Büsum, Cuxhaven/Nordholz und Uetersen/Heist angeboten. Daneben gab bzw. gibt es Charter- und Saisonverkehre. Straßenverkehr Auf der Insel Helgoland sind seit 1971 gemäß der StVO Sonderregelung für die Insel Helgoland der Verkehr mit Kraftfahrzeugen und das Radfahren verboten. Wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 50 auf der Insel Helgoland ein Kraftfahrzeug führt oder mit einem Fahrrad fährt, handelt gemäß Absatz 4 Nr. 7 ordnungswidrig im Sinne des des Straßenverkehrsgesetzes (StVG), was gemäß dessen Absatz 2 mit einer Geldbuße bis zu 2000 Euro geahndet werden kann. Sonderrechte Absätze 1 bis 1a StVO befreien die Bundeswehr, die Bundespolizei, die Feuerwehr, den Katastrophenschutz, die Polizei, den Zolldienst und ausländische Beamte, die auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarungen zur Nacheile oder Observation im Inland berechtigt sind, von dem Verbot, soweit es zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist; Absätze 5 bis 5a befreien die Truppen der nichtdeutschen Vertragsstaaten des Nordatlantikpaktes im Falle dringender militärischer Erfordernisse sowie Fahrzeuge des Rettungsdienstes, wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden. Absatz 6 berechtigt Fahrzeuge, die dem Bau, der Unterhaltung oder Reinigung der Straßen und Anlagen im Straßenraum oder der Müllabfuhr dienen und durch weiß-rot-weiße Warneinrichtungen gekennzeichnet sind, auf allen Straßen und Straßenteilen und auf jeder Straßenseite in jeder Richtung zu allen Zeiten zu fahren und zu halten, soweit ihr Einsatz es erfordert; Absatz 7 berechtigt Messfahrzeuge der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahn auf allen Straßen und Straßenteilen zu allen Zeiten zu fahren und zu halten, soweit ihr hoheitlicher Einsatz es erfordert. Wo Fußgängerverkehr zulässig ist, darf gemäß mit Krankenfahrstühlen oder mit anderen als Schiebe- und Greifreifenrollstühlen gefahren werden, jedoch nur mit Schrittgeschwindigkeit (Schiebe- und Greifreifenrollstühle sind nicht Fahrzeuge im Sinne der StVO; für den Verkehr mit diesen Fortbewegungsmitteln gelten die Vorschriften für den Fußgängerverkehr entsprechend (diese schreiben Schrittgeschwindigkeit nicht vor)). Für jeden anderen Verkehr mit Kraftfahrzeugen und jedes andere Radfahren auf der Insel Helgoland muss eine Ausnahme von den Vorschriften des § 50 StVO gemäß Absatz 2 Satz 1 StVO genehmigt sein, wofür gemäß der (Straßenverkehrsrechts-Zuständigkeitsverordnung – StrVRZustVO) vom 8. November 2004 der Landrat des Kreises Pinneberg als Kreisordnungsbehörde zuständig ist, wenn es sich um Kraftfahrzeuge handelt, und der Bürgermeister der Gemeinde Helgoland als örtliche Ordnungsbehörde zuständig ist, wenn es sich um Fahrräder handelt. Das Radfahrverbot wird damit begründet, dass anderenfalls Verkehrsschilder aufgestellt werden müssten, welche das Ortsbild negativ beeinflussen würden. Die Helgoländer Polizei besitzt seit Januar 2007 ein eigenes Kraftfahrzeug, seit 2014 einen E-Golf. Außerdem sind einige Baufahrzeuge und ein Taxi zum Flugplatz mit Verbrennungsmotor im Einsatz. Der Personen- und Warenverkehr wird, soweit er nicht zu Fuß möglich ist, mit Elektrofahrzeugen bewältigt. Die auf deren Kennzeichen häufig zu sehende Abkürzung „AG“ steht für „Ausnahmegenehmigung“. Inselrundfahrten sind mit der elektrisch angetriebenen Börte-Bahn auf dem Ober- und Unterland möglich. Gemäß den per Aushang am 29. Mai 2012 veröffentlichten Richtlinien für die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen § 50 StVO für Fahrräder des Bürgermeisters der Gemeinde Helgoland können Ausnahmegenehmigungen für Fahrräder vom Bürgermeister der Gemeinde Helgoland erteilt werden, unter anderem für Behörden mit Sicherheitsaufgaben, bestimmte Dienststellen, sofern es zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben erforderlich ist, Organisationen mit Sicherheitsaufgaben, bestimmte Wirtschaftsunternehmen sowie Einwohner über 70 Jahren. Kinder und Jugendliche bis 14 Jahre dürfen in der Zeit vom 1. Oktober eines Jahres bis zum 31. März des Folgejahres ganztägig, vom 1. April bis zum 30. September eines Jahres ab 17 Uhr Fahrrad fahren. „Innerhalb der Ortsmitten (jeweils Ober- und Unterland) ist das Fahrrad bei großem Fußgängeraufkommen zu schieben. Auch für Fahrräder gilt die Geschwindigkeitsbegrenzung von maximal 10 km/h“. Als Fahrradersatz sind auf Helgoland (muskelbetriebene) Tretroller erlaubt, wohingegen Elektro-Tretroller verboten sind. Es gibt zwei Fußgängerampeln; sie stehen auf der Düne und warnen vor landenden Flugzeugen. Eine Besonderheit sind die Hausnummern auf Helgoland. So gibt es jede Hausnummer, unabhängig von der Straße, nur einmal. Die Zählung beginnt im Unterland mit Haus Nr. 1 (Zollamt auf der Frachtmole) und endet bei 299 in der Husumer Straße. Die Häuser im Oberland beginnen mit 301 (Wohnungsanlage Fernsicht) und enden bei 762 (Wohn- und Ferienhäuser Tor zum Meer). Gebäude mit Hausnummern über 1000 gehören zum Hafen (beginnend bei der Gepäckhalle). Insgesamt gibt es 108 Straßen, Wege und Gassen auf Helgoland. Eisenbahn und Aufzug Das Marinehafenbauamt Helgoland betrieb während der beiden Weltkriege für den Bau und die Versorgung der Marinestützpunkte auf Helgoland eine meterspurige Heeresfeldbahn. Unterland und Oberland sind seit 1885 über einen Aufzug miteinander verbunden. Post Unter dänischer Verwaltung, bis 1807, gab es auf Helgoland kein geordnetes Postwesen. Die Briten eroberten 1807 die Insel. Während der Kontinentalsperre diente sie als Handelsplatz. In dieser Zeit besorgten britische Schiffe die Post. Nach Auflösung der Sperre ging das Postaufkommen wieder zurück und das Stadtpostamt in Hamburg beförderte die wenigen Briefe. Jeder Schiffer, der von Cuxhaven nach Helgoland kam oder nach dorthin auslief, war verpflichtet, die Post mitzunehmen. Erst als Helgoland als Seebad in Mode kam, entstand wieder ein regelmäßiger Postbetrieb. Die Postschiffer (mail carrier) erhielten aus der britischen Kasse einen Zuschuss. Das Vereinigte Königreich übernahm am 1. Juli 1866 die Postagentur und gab ab März 1867 eigene Briefmarken heraus, und zwar bis 1875 weiterhin in Hamburgischer Kurantwährung (1 Mark = 16 Schilling). Ab 1875 erschienen die Helgoländer Briefmarken mit englischem und deutschem Währungsaufdruck. Insgesamt sind zwanzig verschiedene Helgoland-Marken erschienen, die von Spezialisten in eine Vielzahl von Abarten unterschieden werden. Die Posthoheit endete mit dem Übergang zum Deutschen Reich im August 1890. Ein eigenes Postgebäude gab es bis 2007/08 auf dem Unterland; seitdem gab es eine Kleinfiliale innerhalb eines Lebensmittelladens und anschließend in einem Schreibwarengeschäft an der Siemensterrasse. Seit 2019 gibt es einen Postschalter im Zollgebäude. Die Postfächer sind an anderer Stelle verblieben. Zoll Beim Warenverkehr mit dem übrigen Deutschland wird Helgoland – genau wie die Exklave Büsingen am Hochrhein – wie ein Drittland behandelt. Dies bedeutete im Warenversand bis 2020, dass bei Sendungen mit einem Warenwert bis 22 Euro keine Mehrwertsteuer oder Zoll erhoben wurde. Diese Freigrenze wurde (nicht nur für Sendungen aus Helgoland) abgeschafft, um den Mehrwertsteuerbetrug einzudämmen. Seenotrettung Die Rettung Schiffbrüchiger ist auf Helgoland in unterschiedlichen Organisationsformen vertreten. Vor 1890 war die Helgoländer Coastguard zuständig. 1892 übernahm die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) die Organisation mit einer Rettungsstation. Seit 1955 ist stets ein Seenotrettungskreuzer stationiert, der im Südhafen einen festen Liegeplatz hat. Die Mannschaft wohnt während ihres Inseldienstes an Bord und wechselt vierzehntäglich. Die Station ist wegen der Nähe zu den Großschifffahrtswegen in der Deutschen Bucht eine der wichtigsten der Gesellschaft und hat mit der Hermann Marwede einen der größten Rettungskreuzer weltweit. Am 23. Februar 1967 ging während eines Orkaneinsatzes des Seenotrettungskreuzers Adolph Bermpohl die gesamte Besatzung mit drei geretteten Schiffbrüchigen verloren. Seit Juli 2003 hat die DGzRS den 46 Meter langen Seenotrettungskreuzer Hermann Marwede auf Helgoland stationiert. Die Deutsche Marine betreibt auf Helgoland einen Hubschrauberstützpunkt des SAR-Dienstes für Luftfahrzeuge in Deutschland. Rettungswesen Der Rettungsdienst wird von der Paracelsus-Nordseeklinik Helgoland in Kooperation mit der Rettungsdienst-Kooperation in Schleswig-Holstein (RKiSH) durchgeführt. Es stehen drei Rettungswagen (RTW) der RKiSH zur Verfügung: einer auf der Hauptinsel und einer auf der Düne; der dritte steht auf der Hauptinsel in Reserve. Der Rettungsdienst fährt zuerst die Paracelsus-Nordseeklinik an. Bei schweren Verletzungen oder Erkrankungen werden die Patienten mit einem Rettungshubschrauber oder einem Seenotrettungskreuzer der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) auf das Festland verlegt. Die RTW verfügen über eine Spezialausrüstung, die aufgrund der Insellage notwendig ist. Kommt es zu einem Notfall auf der Düne, setzt die Rettungswagenbesetzung mit einem Boot zur Düne über und führt den Einsatz mit dem dortigen RTW durch. Brandschutz und technische Hilfeleistungen werden durch die Freiwillige Feuerwehr Helgoland sichergestellt, die über drei Wachen (Unterland, Oberland und Düne) verfügt. Zu den Aufgaben gehört auch die Sicherstellung des Brandschutzes bei Flugbetrieb auf dem Flugplatz Helgoland-Düne auf der Düne. Auf der Düne werden im Sommer freiwillige Feuerwehrleute eingesetzt, die sich für 14 Tage melden und mit ihren Angehörigen auf der Düne Urlaub machen und im Notfall in den Einsatz gehen. Seit 2021 befindet sich das sog. BOS-Zentrum, ein gemeinsames Dienstgebäude für Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei, auf dem Oberland im Bau. Persönlichkeiten (Auswahl) Söhne und Töchter der Insel Rickmer Clasen Rickmers (1807–1886), Werftbesitzer, Reederei-Gründer und Reiskaufmann William Henry Balmain (1817–1880), britischer Chemiker und Unternehmer (Leuchtstoffe, Balmain-Phosphore), lehrte in Liverpool Franz Schensky (1871–1957), Fotograf und politischer Wortführer der Allgemeinen Helgoländer Liste Robert Knud Friedrich Pilger (1876–1953), Botaniker Eva von der Osten (1881–1936), Opernsängerin und Regisseurin Erich Hornsmann (1909–1999), Jurist, Sachbuchautor und Umweltschutzaktivist Henry Peter Rickmers (1919–2013), Erster Bürgermeister Helgolands nach dem Krieg, Ehrenbürger Gustava Mösler (1920–2021), Journalistin, erste Hörfunkdirektorin des BR und der gesamten ARD James Krüss (1926–1997), Dichter, Schriftsteller und Kinderbuchautor; das James-Krüss-Museum wurde Anfang 2007 eingeweiht Detlef Bückmann (* 1927), Zoologe und Hochschullehrer, zuletzt an der Universität Ulm Reimer Boy Eilers (* 1948 in Wedel, in einer Helgoländer Familie, verbrachte seine spätere Kindheit auf Helgoland), Schriftsteller und Publizist Persönlichkeiten, die auf der Insel gewirkt haben Benedikt von Ahlefeldt (1717–1776), Kommandant von Helgoland (1753 bis 1764) und Landrat in Uetersen Heinrich Heine (1797–1856), Dichter; kurte schon 1829 und 1830 auf der Insel. Seine Zeitgenossen sahen hinter seinen Nordseegedichten Helgoland-Erfahrungen. Ein Gedenkstein vor der Landungsbrücke erinnert an ihn. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874), Dichter; schrieb am 26. August 1841 auf der Insel das Lied der Deutschen Heinrich Gätke (1814–1897), Ornithologe und Maler Ignacy Prądzyński (1792–1850), Held des polnischen Novemberaufstands von 1830/31, nahm sich auf Helgoland das Leben. Ein polnisch-deutscher Gedenkstein vor der Landungsbrücke erinnert an ihn. Werner Heisenberg (1901–1976), Physiker (Nobelpreis 1932); entwickelte während eines Helgoland-Aufenthaltes 1925 grundlegende Ideen seiner Theorie über die Quantenmechanik, welche die Heisenbergsche Unschärferelation beinhaltet; ein Gedenkstein auf dem Oberland erinnert daran. René Leudesdorff und Georg von Hatzfeld, damals Studenten, und der damalige Hochschuldozent Hubertus Prinz zu Löwenstein besetzten die Insel im Dezember 1950 und stärkten damit die Bewegung zur Rückgabe der Insel an Deutschland. Leudesdorff und von Hatzfeld wurden am 19. Dezember 2010 „Verdiente Bürger der Gemeinde Helgoland“. Leudesdorff verfasste das Buch Wir befreiten Helgoland. Sonstiges Die Satire-Zeitung Helgoländer Vorbote hat mit der Insel nichts zu tun; sie berichtet nur marginal in der Rubrik Lokales über Helgoland und entsteht in Berlin und Bochum. Das Meerwasser wird auf Helgoland für Kuranwendungen genutzt. Das Bisterk Ding und die Enerbanske sind Helgoländer Fabelwesen. Die Preußenmauer ist eine brandungsabweisende Mauer auf der Nordseeinsel Helgoland. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts benannten sich in Deutschland viele Vereine nach Helgoland. Bis 2016 existierte der TSV Helgoland 1897, ein Fußballverein in Berlin-Tempelhof. Der Komponist Anton Bruckner schrieb eine weltliche Kantate für Männerchor und großes Orchester Helgoland. Die englische Band Massive Attack benannte ihr fünftes Album Heligoland nach der Insel. Eine Höhle im Buntsandstein Helgolands, deren Sohle von versteinerten Wellenrippeln gebildet wird, haben Mitarbeiter der Höhlenforschergruppe Dresden 1993 erstmals beschrieben. Gunther von Hagens (bekannt durch die anatomischen Ausstellungen Körperwelten) war als Assistenzarzt im Inselkrankenhaus auf Helgoland tätig. Der Helgoländer Hut war ein im 19. Jahrhundert und am Anfang des 20. Jahrhunderts populärer Damenhut mit einem im Rücken hängenden Zipfel. Der durch die Thüringer Landessternwarte Tautenburg am 6. April 1989 entdeckte Asteroid (6305) Helgoland wurde nach der Insel benannt. Ein typisches Gericht der Helgoländer Küche ist heute, weil weniger Hummer gefangen werden, Knieper. Literatur Die Literatur über Helgoland ist ausgesprochen reichhaltig. Eine eigene Helgoland-Bibliographie aus dem Jahr 1987 verzeichnet über 600 Monographien: Dirk Meyer, James Packross, Henry Peter Rickmer: Helgoland-Bibliographie. Ein Führer durch das monographische Schrifttum über die Insel Helgoland. Helgoland 1987. Jährlich erscheinen mehrere Titel über Helgoland, oft kleine Hefte für die Inseltouristen oder Reiseführer, in der Regel ohne eigene Forschungsergebnisse. Eine Online-Bibliographie, erstellt von Astrid Friederichs, wird vom Museum Helgoland auf seiner Website angeboten: Museum Helgoland: Helgolands Lebendige Geschichte/n. Zu den Standardwerken zählen: Friedrich von der Decken: Philosophisch-historisch-geographische Untersuchungen über die Insel Helgoland oder Heiligeland und ihre Bewohner. Hannover 1826. Emil Lindemann: Das deutsche Helgoland. Berlin 1913 (271 S.); ähnliches Vorgängerwerk im Internet: Die Nordseeinsel Helgoland in topographischer, geschichtlicher, sanitärer Beziehung. 1889 (147 Seiten; bei archive.org). Friedrich Oetker: Helgoland. Berlin 1855 (bei archive.org). Jan Rüger: Heligoland: Britain, Germany, and the Struggle for the North Sea. Oxford 2017 (deutsch unter dem Titel Helgoland: Deutschland, England und ein Felsen in der Nordsee. Berlin 2017; Besprechung in: Holger Knudsen: Die englische Kolonialgesetzgebung für Helgoland – »Ordinances of Heligoland«: Zugleich eine kurze Besprechung des Buches »Helgoland« von Jan Rüger, rg.rg.mpg.de). H. H. von Schwerin: Helgoland. Historisk-geografisk undersökning. Lund 1896 (schwedisch). Benno Eide Siebs, Erich Wohlenberg: Helgoland und die Helgoländer. Kiel 1953. Eckhard Wallmann: Helgoland. Eine deutsche Kulturgeschichte. Koehler, Hamburg 2017, ISBN 978-3-7822-1286-1 (672 Seiten; Besprechung von Renate Sternagel in: Heine-Jahrbuch, Bd. 57 (2018), S. 222–225). Daneben gibt es sehr viele Einzeldarstellungen: Max Arnhold: Das Helgoländer Lotswesen. Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, Husum 2012, ISBN 978-3-89876-640-1. Max Arnhold: Schiffsunglücke vor Helgoland. 16. bis 20. Jahrhundert. Koehler Verlag, Hamburg 2008, ISBN 978-3-7822-0975-5. Adolf Brohm: Helgoland in Geschichte und Sage. Seine nachweisbaren Landverluste und seine Erhaltung. Rauschenplat, Cuxhaven/Helgoland 1907. Jochen Dierschke: Die Vogelwelt der Insel Helgoland. Missing Link E. G., 2011, ISBN 978-3-00-035437-3. A. Friederichs: Wir wollten Helgoland retten – Auf den Spuren der Widerstandsgruppe von 1945. Museum Helgoland, 2010, ISBN 978-3-00-030405-7. Claude Fröhle, Hans-Jürgen Kühn: Hochseefestung Helgoland. Eine militärische Entdeckungsreise 1891–1922 und 1934–1947. Fröhle-Kühn, Herbolzheim 1998, ISBN 3-9805415-1-7. Heike Grahn-Hoek: Roter Flint und Heiliges Land Helgoland. Wachholtz-Verlag, Neumünster 2009, ISBN 978-3-529-02774-1. Michael Herms: Flaggenwechsel auf Helgoland – Der Kampf um einen militärischen Vorposten in der Nordsee. Ch.-Links-Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-86153-260-3. 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(Bände I bis IV), Cuxhaven 1985 ff. 1973–1976 erschien, ebenfalls in vier Bänden, eine Fotokopie-Ausgabe in einer anderen und größeren Auswahl der ursprünglich mindestens 9-bändigen Typoskripte der Jahre 1925–1944 (NS-orientiert). Roland H. Winkelhöfer: Helgoland – Exkursion zu Deutschlands nördlichsten Höhlen. In: Der Höhlenforscher. Dresden, 25/1993, , S. 90. Weblinks Internetauftritt der Gemeinde Helgoland Heide Soltau: 09.08.1890 – Helgoland geht in deutschen Besitz über. Westdeutscher Rundfunk, ZeitZeichen (Podcast). Unsere Nordseebäder anno 1905. In: Berliner Volkszeitung. 15. August 1905 (dfg-viewer.de). Einzelnachweise und Anmerkungen Ort im Kreis Pinneberg Seebad in Schleswig-Holstein Insel (Europa) Insel (Schleswig-Holstein) Insel (Nordsee) Friesland Autofreier Ort Geotop in Schleswig-Holstein Nationaler Geotop Geographie (Kreis Pinneberg) Heilbad Insel als Namensgeber für einen Asteroiden Region oder Ort mit Kampfmittelbelastung Wikipedia:Artikel mit Video
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Hans Bethe
Hans Albrecht Bethe (* 2. Juli 1906 in Straßburg; † 6. März 2005 in Ithaca, New York) war ein deutsch-amerikanischer Physiker und Nobelpreisträger für Physik (1967). Leben Hans Bethe war das erste von drei Kindern des Physiologen Albrecht Bethe, der an der Universität Straßburg arbeitete und protestantisch war. Seine Mutter Anna, Tochter des Medizinprofessors Abraham Kuhn, war jüdischer Abstammung. Er wuchs in Straßburg und Frankfurt am Main auf, besuchte von 1915 bis 1916 in Frankfurt das Goethe-Gymnasium, von 1918 bis 1921 die Odenwaldschule und dann bis 1924 wieder das Goethe-Gymnasium und studierte Physik in Frankfurt am Main von 1924 bis 1926. Anschließend ging er für zweieinhalb Jahre nach München und arbeitete unter anderem bei Arnold Sommerfeld, bei dem er im Juli 1928 promoviert wurde. Seine Doktorarbeit beschäftigte sich mit der Theorie der Elektronenbeugung, die bleibenden Wert für die Analyse von experimentellen Daten hat. Mit Sommerfeld veröffentlichte er 1933 auch ein Buch über die Elektronentheorie der Metalle, die heute noch Gültigkeit hat. Vom Herbst des Jahres 1929 an bis Herbst 1933 war er wieder in München, ab Mai 1930 als Privatdozent. Bis zum Jahre 1933 erhielt Bethe Lehrpositionen in Frankfurt am Main und Stuttgart jeweils für ein Semester. In dieser Zeit unternahm er auch Reisen nach Cambridge im Herbst 1930 und nach Rom im Frühjahr 1931 und 1932, wo er mit Enrico Fermi zusammenarbeitete. Im Wintersemester 1932/33 vertrat er das Extraordinariat für Theoretische Physik an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Diese Stelle verlor er mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten, weil seine Mutter Jüdin war. Bethe schrieb an seinen akademischen Lehrer Arnold Sommerfeld am 11. April 1933: „Sie werden wahrscheinlich nicht wissen, dass meine Mutter Jüdin ist: Ich bin also nach dem Beamtengesetz 'nicht arischer Abstammung' und folglich nicht würdig, Beamter des Deutschen Reiches zu sein. […] Ich muss also wohl oder übel die Konsequenzen ziehen und versuchen irgendwo im Ausland unterzukommen.“ Er emigrierte im Oktober 1933 nach Großbritannien, wo er zeitweise die Position eines Dozenten an der Universität Manchester in den Jahren 1933 und 1934 innehatte. Im Herbst 1934 war Bethe akademischer Lehrer an der Universität Bristol. Im Februar 1935 erhielt Bethe eine Einladung in die USA, wurde Assistenzprofessor an der Cornell-Universität in Ithaca und im Sommer 1937 Professor. Bis zu seinem Lebensende blieb er mit einigen Unterbrechungen dort. Im Zweiten Weltkrieg ging er zuerst an das Radiation Laboratory am Massachusetts Institute of Technology, um am Mikrowellenradar zu arbeiten. Ein Sommersemester lang war Bethe an der University of California in Berkeley auf Einladung von Robert Oppenheimer. Anschließend ging Bethe an das Los Alamos Scientific Laboratory, wo er, von Oppenheimer berufen, als Leiter der Theoretischen Abteilung an der Entwicklung der ersten Atombombe mitwirkte. 1941 wurde Bethe Staatsbürger der USA. Im Jahre 1952 kehrte Bethe erneut für ein halbes Jahr nach Los Alamos zurück, um (widerstrebend, wie er im Rückblick sagte) an der Wasserstoffbombe mitzuarbeiten. Er war ein einflussreicher Regierungsberater, der sich ab den 1960er Jahren jedoch zunehmend für Abrüstung einsetzte. Vor dem Oppenheimer-Untersuchungsausschuss 1954 stellte er sich im Gegensatz zu Edward Teller hinter seinen ehemaligen Chef aus Los Alamos. Weitere kurze Abwesenheiten von seiner Universität betrafen die Columbia University, die Universität Cambridge, das CERN und Kopenhagen. 1957 wurde Bethe ausländisches Mitglied der Royal Society of London sowie Mitglied der National Academy of Sciences in Washington, D. C. Im Jahre 1975 wurde Bethe emeritiert. In den 1980er und 1990er Jahren führte er eine Kampagne zur friedlichen Nutzung der Kernenergie und machte sich auch allgemein Gedanken über alle Aspekte der Energieversorgung, so dass eine 1988 erschienene Biographie über ihn den Titel Prophet of Energy trägt. Mit anderen US-amerikanischen Physikern wie Sidney Drell äußerte er sich in den 1980er Jahren kritisch zum SDI-Programm, das er für leicht zu umgehen hielt. 1995 schrieb Bethe einen offenen Brief an seine Kollegen, in dem er sie aufforderte, Arbeiten an Nuklearwaffen einzustellen. 2004 unterschrieb er zusammen mit 47 anderen Nobelpreisträgern einen Brief, der John Kerry für die Wahl zum Präsidenten der USA unterstützte und vor einer Beschränkung der Freiheit der Forschung durch George W. Bush warnte. Bethe starb im März 2005 in seinem Haus in Ithaca im Alter von 98 Jahren. Er war der letzte Überlebende aus einer großen Reihe von bedeutenden Physikern aus der Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts. Bethe hinterließ seine Frau Rose (* 1917 in München, gest. 2019 in Ithaca), Tochter des Physikers Paul Peter Ewald, seinen Sohn Henry und seine Tochter Monica. Arbeiten Bethe war ein Pionier der Anwendung der Quantenmechanik auf verschiedenen Gebieten der Physik. Dabei fasste er immer wieder ganze Gebiete der Physik in Handbüchern und großen Übersichtsartikeln zusammen, so 1933 die Quantentheorie von Wasserstoff- und Heliumatomen – also den einfachsten Fällen der Atomphysik – in einem Artikel von Buchlänge im Handbuch der Physik, neu bearbeitet 1957 mit Edwin Salpeter, und zuletzt die Theorie der Supernovae in den Reviews of Modern Physics 1990. In seiner frühen Zeit bei Sommerfeld beschäftigte er sich mit Festkörperphysik. 1929 publizierte er eine Arbeit über die Aufspaltung der Energieniveaus eines Atoms in Kristallen; diese Arbeit wurde Ausgangspunkt für die von John H. van Vleck entwickelten Kristallfeldtheorie. 1933 schrieb Bethe zusammen mit Sommerfeld eine Monographie über die Elektronentheorie der Metalle, die bis in jüngste Zeit neu aufgelegt wurde, sowie 1931 einen Aufsatz über Spinwellen in einer Dimension, die er mit dem Bethe-Ansatz löste (ein wichtiges Werkzeug in vielen exakt lösbaren Modellen der statistischen Mechanik). 1935 untersuchte er das zweidimensionale Isingmodell (order-disorder transition). Hans Bethe untersuchte 1930 die Bremsung von Elektronen in Materie, was praktische Anwendungen z. B. für Detektoren hat, und die Bremsstrahlung relativistischer Elektronen (Bethe-Heitler-Formel, 1934), einer der frühen Anwendungen der Quantenelektrodynamik (QED). Ein Unsinns-Artikel, mit dem Bethe und seine Kollegen Beck und Riezler 1931 Arbeiten von Arthur Stanley Eddington parodieren wollten und den sie in einem angesehenen Physik-Journal (Die Naturwissenschaften) unterbringen konnten, verursachte damals einen kleinen Skandal. Bethe erwarb sich schon in den 1930er Jahren einen Ruf als führender Kernphysiker. Seine Artikelserie in den Reviews of Modern Physics (1936/37) galt damals als Standardwerk; daraus entwickelte sich dann sein Buch Elementary nuclear theory mit Philip Morrison, das 1956 publiziert wurde. Zum Abschluss des Jahrhunderts (1999) fasste er die Entwicklungen auf diesem Gebiet in einem Artikel in den Reviews of Modern Physics noch einmal zusammen. Seine Arbeiten auf dem Gebiet der Kernphysik machten ihn während des Zweiten Weltkrieges zu einem der wichtigsten Mitarbeiter im Manhattan-Projekt, dem Bau der ersten Atombombe in Los Alamos. Von 1943 bis 1946 war er dort Direktor der Abteilung für Theoretische Physik. Auch nach dem Krieg behielt er seine führende Position in der Kernphysik. 1949 entwickelte er die Theorie der „effektiven Reichweite“ bei Kernreaktionen. In den 1950er und 1960er Jahren untersuchte er das kernphysikalische Vielteilchenproblem am Modell der Kernmaterie (Brueckner-Bethe-Theorie, Bethe-Goldstone-Gleichung u. a.). In den 1970er Jahren wandte er die gefundenen Zustandsgleichungen für Kernmaterie dann auch in der Untersuchung von Neutronensternen an. 1947 gab Hans Bethe die erste Erklärung der Lamb-Verschiebung der Spektrallinien des Wasserstoffs in einer ersten groben nicht-relativistischen Näherung der Quantenelektrodynamik, die zeigte, dass das Problem angreifbar war, und die bald darauf folgende relativistische Behandlung durch Richard Feynman und Julian Schwinger motivierte. 1951 beschrieb er mit Edwin Salpeter gebundene Zustände in der Quantenfeldtheorie mit der Bethe-Salpeter-Gleichung, wobei er das Wasserstoffatom der QED, das Positronium (Elektron-Positron-Paar) und den einfachsten Kern, das Deuteron (aus Proton und Neutron), im Auge hatte. Seinen Nobelpreis bekam er nicht zuletzt für eine Arbeit zur Energieerzeugung in Sternen aus dem Jahr 1939: Er identifizierte die in Sternen wie der Sonne ablaufenden Kernreaktionsketten, die Wasserstoff zu Helium verschmelzen, wie den in der Sonne ablaufenden Proton-Proton-Zyklus und den in massereicheren Sternen ablaufenden Kohlenstoff-Stickstoff-Zyklus, der in Anerkennung seiner theoretischen Arbeiten Bethe-Weizsäcker-Zyklus genannt wird. Bis zu seinem Lebensende blieb Bethe wissenschaftlich aktiv. Ab den 1970er Jahren wandte er sich verstärkt der Astrophysik zu und nutzte seine umfangreichen physikalischen Kenntnisse z. B. in der Kernphysik und der Theorie der Stoßwellen – die er schon in Los Alamos bei der Untersuchung des Implosionsmechanismus einer Atombombe erworben hatte – zur Untersuchung der Theorie der Supernova-Explosionen (vor der Explosion fällt der Stern in sich zusammen). Sein Interesse verstärkte sich, als die Theorie an der Supernova 1987A überprüft werden konnte. In einem einflussreichen Artikel setzte er die Erklärung des „solar neutrino puzzles“ durch russische Physiker (MSW-Effekt) durch. Bei einem so umfangreichen Werk machte Bethe auch einige falsche Vorhersagen, auf die er auch in seinen Selected works eingeht. Beispielsweise meinte er 1935 mit Rudolf Peierls bewiesen zu haben, dass Neutrinos nie beobachtbar wären, oder er gab 1937 eine obere Grenze für die Beschleunigung mit Zyklotronen an, die aber durch die Erfindung frequenzmodulierter Ringbeschleuniger (Synchrotron) schon 1945 (Edwin McMillan, Weksler) überholt war. Experimentatoren wie Edward Mills Purcell war das Anlass genug, in der „Star-wars“-Debatte vor „Unmöglichkeitsargumenten“ Bethes zu warnen. Auszeichnungen und Ehrungen 1947 wurde Bethe in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. 1955 wurde ihm die Max-Planck-Medaille verliehen. Er war u. a. Mitglied der National Academy of Sciences (Washington). Im Jahre 1961 erhielt er die Eddington-Medaille der Royal Astronomical Society für seine Arbeiten zur Identifizierung der Energiegewinnung in Sternen. Noch im selben Jahr erhielt er ebenfalls den Enrico-Fermi-Preis. Im Jahr 1978 wurde er zum Mitglied der Gelehrtenakademie Leopoldina gewählt. 1981 erhielt er den Leo Szilard Lectureship Award. Im Jahre 1984 wurde er Mitglied im „Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste“. 1989 erhielt er die Lomonossow-Goldmedaille der Russischen Akademie der Wissenschaften. 1993 erhielt er die Oersted Medal der American Association of Physics Teachers. Am 5. Oktober 1995 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Louis Pasteur Strasbourg. Außerdem war er Ehrendoktor der Technischen Universität München und der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. 2001 gewann Bethe die Bruce Medal. Der Asteroid (30828) Bethe wurde 2002 nach ihm benannt. Die American Philosophical Society, deren gewähltes Mitglied er seit 1947 war, zeichnete ihn 2005 mit ihrer Benjamin Franklin Medal aus. Zu seinen Ehren vergibt die American Physical Society seit 1998 den Hans-A.-Bethe-Preis und die Cornell University seit 1977 die Bethe Lectures. Des Weiteren wurde das Bethe Center for Theoretical Physics der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn nach ihm benannt. Nobelpreis 1967 erhielt er den Nobelpreis für Physik, als erster Physiker für ein Thema aus der Astrophysik (seine Arbeiten über die Energieumwandlung in Sternen aus dem Jahre 1938). Oskar Klein von der Königlichen Schwedischen Akademie der Wissenschaften sagte in seiner Nobelpreisrede: „Sie waren vielleicht überrascht, daß wir aus Ihren zahlreichen Forschungsbeiträgen zur Physik, von denen einige für den Nobelpreis vorgeschlagen wurden, eine ausgewählt haben, die sich weniger auf die Grundlagenphysik bezieht als die anderen und Sie nur eine kurze Zeit Ihres Wissenschaftlerlebens beschäftigt hat. Dies ist aber durchaus in Übereinstimmung mit den Regeln der Nobelpreisvergabe und soll nicht implizieren, daß wir nicht höchst beeindruckt sind von Ihrer Rolle bei so vielen anderen Entwicklungsrichtungen der Physik, seit Sie vor mehr als 40 Jahren mit der Forschung begannen. Auf der anderen Seite ist Ihre Aufklärung über die Energieumwandlung in Sternen eine der wichtigsten Anwendungen der Grundlagenphysik unserer Tage, die uns zu einem tiefen Wissen über unser Universum geführt hat.“ Werke Selected works with commentary. world scientific 1997, ISBN 981-02-2876-7 mit Roman Jackiw: Intermediate Quantum Mechanics, 1964, 1968, 1986 The road to Los Alamos. American Institute of Physics 1991 mit G. Brown: How a supernova explodes, Scientific American Mai 1985 mit Garwin, Gottfried und Kendall: Space based atomic missile defense. In: Scientific American. Oktober 1984 Interview zum 90. Geburtstag in: Physik in unserer Zeit 1996, Nr. 3 Bibliographie von Hans Bethe Literatur Jeremy Bernstein: Bethe. Prophet der Energie. Hirzel, Stuttgart 1988, ISBN 3-7776-0442-9. Gerald E. Brown: Hans Bethe and his physics. World Scientific Books, New Jersey, N.J. 2006, ISBN 981-256-610-4. Robert E. Marshak (Hrsg.): Perspectives in modern physics. Essays in honour of Hans A. Bethe on the occasion of his 60th birthday. Interscience Publications, New York 1966 (u. a. Aufsätze von Robert Bacher und Victor Weisskopf zu Bethes Karriere bis dahin). Michael Schaaf: Heisenberg, Hitler und die Bombe. Gespräche mit Zeitzeugen. GNT-Verlag, Diepholz 2018, ISBN 978-3-86225-115-5 (darin: „Heisenberg hat die technischen Schwierigkeiten unterschätzt.“ ein Gespräch mit Hans Bethe). Michael Schaaf: Weizsäcker, Bethe und der Nobelpreis. Acta Historica Leopoldina, Nr. 63 (2014), S. 145–156. Silvan S. Schweber: In the shadow of the bomb. Bethe, Oppenheimer and the moral responsability of scientists. University Press, Princeton, N.J. 2000, ISBN 0-691-12785-9. Silvan S. Schweber Nuclear Forces. The making of the physicist Hans Bethe, Harvard University Press 2012 Physics Today, 58. Jg. (2005), Oktober (verschiedene Aufsätze zu Hans Bethe, u. a. von Gerald E. Brown, Freeman Dyson, Richard L. Garwin, Kurt Gottfried, John Negele und Silvan S. Schweber). Siehe auch Alpher-Bethe-Gamow-Theorie Bethe-Bloch-Formel Bethe-Salpeter-Gleichung Bethe-Slater-Kurve Bethe-Tait-Störfall Bethe-Weizsäcker-Formel nukleare Astrophysik Weblinks Nobel-Vortrag von Bethe, Energy production in stars cornell.edu: Personal and Historical Perspectives of Hans Bethe – Einführung in die Quantentheorie, drei Vorlesungen für ein Laienpublikum, 1999 (engl.) Biografie, Universität St.Andrews Bibliographie zu Bethe Verschiedene Artikel zu Bethe in der Zeitschrift Resonance, u. a. Rajaraman zu nuclear many body problem, Gespräch Bethe mit Mermin über die frühe Zeit der Festkörperphysik kurze Biographie von Baron Oral History Interview mit Bethe am Caltech 1982, 1993, mit Judith Goodstein, Englisch Oral History Interview mit Bethe von Charles Weiner 1967, Niels-Bohr-Archiv Hans Bethe im Online-Archiv der Österreichischen Mediathek Arianna Borrelli: Hans Bethe, in: NDB-online. Einzelnachweise Kernphysiker Physiker (20. Jahrhundert) Emigrant aus dem Deutschen Reich zur Zeit des Nationalsozialismus Person (Manhattan-Projekt) Hochschullehrer (Cornell University) Hochschullehrer (Eberhard Karls Universität Tübingen) Hochschullehrer (University of Manchester) Absolvent der Ludwig-Maximilians-Universität München Erfinder Mitglied der National Academy of Sciences Nobelpreisträger für Physik Träger des Pour le Mérite (Friedensklasse) Träger der Lomonossow-Goldmedaille Träger der National Medal of Science Mitglied der Leopoldina (20. Jahrhundert) Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften Ehrenmitglied des Physikalischen Vereins Ehrendoktor der Universität Straßburg Ehrendoktor der Technischen Universität München Ehrendoktor der Goethe-Universität Frankfurt am Main Mitglied der American Academy of Arts and Sciences Auswärtiges Mitglied der Royal Society Fellow der American Physical Society Mitglied der American Philosophical Society Träger der Max-Planck-Medaille Person als Namensgeber für einen Asteroiden Deutscher Emigrant in den Vereinigten Staaten Deutscher US-Amerikaner Geboren 1906 Gestorben 2005 Mann
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Heroin
Heroin (griechisches Kunstwort: , siehe Heros), auch Diamorphin oder Diacetylmorphin (DAM), Handelsname Diaphin, ist ein halbsynthetisches, stark analgetisches Opioid und Rauschgift mit einem sehr hohen Abhängigkeitspotential bei jeder Konsumform. Trotz 1,5- bis 3-fach höherer schmerzstillender Wirksamkeit des Diamorphins im Vergleich zur Stammsubstanz Morphin ist die therapeutische Anwendung von Diamorphin (Heroin) in den meisten Ländern verboten. Geschichte Die Geschichte des Konsums von betäubenden oder euphorisierenden Opiaten reicht bis ungefähr 2000 bis 3000 v. u. Z. in das alte Ägypten. Chemiker versuchten ab dem 19. Jahrhundert, ein synthetisches Äquivalent zu dem Naturstoffextrakt Opium zu finden und ein Heilmittel zu entwickeln, das schnell herzustellen war und auch entsprechend vermarktet werden konnte. Der englische Chemiker Charles Romley Alder Wright untersuchte 1873 die Reaktionen von Alkaloiden wie Morphin mit Essigsäureanhydrid. Zwanzig Jahre später befasste sich der im Bayer-Stammwerk in Elberfeld (Wuppertal-Elberfeld) beschäftigte Chemiker und Pharmazeut Felix Hoffmann mit dieser Reaktion, die direkt zu Diacetylmorphin führte. Bayer entwickelte hieraus ein Verfahren zur Synthese von Diacetylmorphin und ließ sich dafür am 27. Juni 1898 den Markennamen „Heroin“ schützen. Heroin wurde in einer Werbekampagne in zwölf Sprachen als ein oral einzunehmendes Schmerz- und Hustenmittel vermarktet. Es wurde außerdem bei etwa 40 weiteren Indikationen angewendet, zum Beispiel bei Bluthochdruck, Lungenerkrankungen, Herzerkrankungen, zur Geburts- und Narkoseeinleitung sowie als „nicht süchtigmachendes Medikament“ gegen die Entzugssymptome von Morphin und Opium. Es wurde angenommen, Heroin habe alle Vorteile von Morphin, aber kaum Nebenwirkungen – zunächst wurden lediglich Verstopfung und leichte sexuelle Lustlosigkeit als solche vermutet. Heroin wurde von vielen Ärzten und Patienten zunächst positiv aufgenommen. Doch 1904 wurde erkannt, dass Heroin noch stärker oder schneller als Morphin abhängig macht und dass Patienten bei wiederholter Einnahme bald eine größere Heroinmenge brauchten, um dessen anfängliche Wirkung erneut zu erzielen. Einige Ärzte warnten, dass Heroin das gleiche Abhängigkeitspotenzial wie Morphin habe; diese Erkenntnis verbreitete sich aber nur langsam. Das lag unter anderem daran, dass die orale Darreichungsform eine relativ langsame Aufnahme des Stoffes bewirkt, wodurch starke Rauschzustände in der Regel ausblieben. Ab etwa 1910 wurde vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Morphin- und Opiumsucht häufiger und in breiteren Schichten vorkam als in Europa, die von der Droge Heroin ausgehende Gefahr erkannt. Als in den USA bekannt wurde, dass gerauchtes, geschnupftes und insbesondere intravenös gespritztes Heroin eine weitaus stärkere Wirkung hatte, stiegen viele Opioidabhängige auf die leicht erhältliche Substanz um, die außerdem nebenwirkungsärmer als Morphin war (hinsichtlich Histaminreaktion). Die Zahl der Abhängigen stieg rasch an, so auch unter oftmals stigmatisierten und mit Opiumkonsum in Verbindung gebrachten chinesischen Einwanderern. Zunächst erließen einzelne Bundesstaaten der USA verschiedene Gesetze zwecks Verbot einiger Opioide. Später, auf der ersten Opiumkonferenz 1912, wurde zum ersten Mal ein staatenübergreifendes Verbot diskutiert. 1931 gab Bayer dem politischen Druck nach, stellte die Produktion ein und entfernte Heroin damit aus seiner Produktpalette. Erste illegale Herstellungslabore entstanden in den 1930er Jahren in Marseille, wo sie durch die French Connection, geleitet von Paul Carbone und François Spirito, betrieben wurden. Das Rohmaterial stammte aus Indochina und der Türkei, wurde nach Frankreich geschmuggelt und dort raffiniert. Dieses Heroin wurde dann hauptsächlich in die USA gebracht. Trotz der Verbote stieg insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Vietnamkrieg die Zahl der Heroinsüchtigen weltweit an, weil Soldaten bei ihren Einsätzen mit Morphin und Heroin in Kontakt gekommen waren. Nach 1945 organisierte vornehmlich die italo-amerikanische Mafia in Zusammenarbeit mit der italienischen Mafia sowie der French Connection den Schmuggel von Heroin in die USA (siehe Pizza Connection). Einen ersten Höhepunkt erreichte die Zahl der Heroinsüchtigen in den 1970er Jahren. US-Präsident Richard Nixon verwendete den Begriff War on drugs auf einer Pressekonferenz am 18. Juni 1971, bei der er Drogenkonsum zum erklärte. 1982 begann unter anderem der damalige US-Vizepräsident George H. W. Bush, CIA und US-Truppen dafür einzusetzen, um Drogenanbau und -handel im Ausland zu reduzieren. Nach vorübergehenden Erfolgen hat die Zahl der Heroinabhängigen in den Jahren seit 2000 in den USA wieder stark zugenommen, wobei diesmal besonders Gebiete abseits der Ballungszentren betroffen sind. Das wird zumeist damit in Verbindung gebracht, dass seit Ende der 1990er von amerikanischen Ärzten vermehrt Opioide wie Oxycodon, Hydrocodon und Fentanyl verschrieben wurden. Sind Patienten von diesen abhängig geworden, steigen sie oft auf das weitaus billigere Heroin um: Vier von fünf Heroinsüchtigen in den USA haben zuerst verschreibungspflichtige Opioide genommen (siehe Opioidkrise in den USA). Dieser Umstand wird insbesondere von mexikanischen Drogenkartellen genutzt, deren illegale Heroinproduktion Schätzungen zufolge alleine in den Jahren zwischen 2005 und 2009 um 600 Prozent gesteigert wurde, um die gewachsene Nachfrage in den USA zu bedienen. Die Süchtigen entstammen nun stärker als früher allen Gesellschaftsschichten und Bevölkerungsgruppen. 2015 starben fast 13.000 US-Amerikaner an einer Heroin-Überdosis, dies waren 23 Prozent mehr als 2014. In der Bundesrepublik Deutschland wurde Heroin bis 1958 legal verkauft. Es wurde anschließend im Betäubungsmittelgesetz verboten. Der medizinische Einsatz von Heroin ist heute in mehreren Staaten – darunter seit 2009 auch wieder Deutschland – unter strengen Auflagen erlaubt; es gibt eine legale Heroinproduktion. Herstellung Heroin wird halbsynthetisch hergestellt, Ausgangssubstanz ist dabei das Morphin. Gewonnen wird Morphin als Extrakt aus Rohopium, dem getrockneten Milchsaft aus den Samenkapseln des Schlafmohns (Papaver somniferum). Zur Herstellung von Heroin wird die im ersten Bearbeitungsschritt gewonnene Morphinbase an den beiden Hydroxy-Gruppen mittels Essigsäureanhydrid (Acetanhydrid) oder Essigsäurechlorid acetyliert und zur Heroinbase umgewandelt. Als Nebenprodukt kann monoacetyliertes Morphin entstehen (z. B. 6-MAM). Unter Zugabe von organischen Lösungsmitteln (z. B. Aceton) und Salzsäure entsteht ggf. in einem weiteren Schritt das sogenannte Heroinhydrochlorid. Reines Heroin ist sowohl als Base als auch als Hydrochlorid-Salz ein farbloser kristalliner Feststoff. Pharmakologie Wirkung Diacetylmorphin hat ähnlich wie Morphin eine euphorisierende und analgetische Wirkung, normaler Schlaf wird durch die Verabreichung aber eher gestört. Es wirkt je nach Applikationsform mit einer Halbwertszeit von vier bis sechs Stunden und ist für die Organe des menschlichen Körpers nicht toxisch. Weitere Wirkungen auf den ungewöhnten Körper sind die emetische (griechisch Emesis = Brechreiz) und atemdepressive Wirkung. Die Nebenwirkung der Obstipation unterliegt keiner Toleranzbildung – der Wirkstoff wurde um die Jahrhundertwende als Mittel gegen Durchfall eingesetzt. Bei einer Überdosierung ist hauptsächlich eine Atemdepression gefährlich, die, insbesondere wenn zusätzlich andere sedierende psychotrope Substanzen wie Alkohol, Benzodiazepine oder Barbiturate im Sinne einer Polytoxikomanie hinzukommen, zum Atemstillstand mit Todesfolge führen kann (der sogenannte „goldene Schuss“). Um die Wirkung im Falle einer Überdosierung aufzuheben, werden Opioidantagonisten (zum Beispiel Naloxon) eingesetzt. Pharmakodynamik Heroin bindet nur schwach an die verschiedenen Opioid-Rezeptoren, wirkt aber als Prodrug (Drogen-Vorstufe), dessen aktive Metaboliten hauptsächlich die Wirkung vermitteln. Erwähnenswert ist die hohe intrinsische Aktivität von 6-MAM am µ-Opioidrezeptor, sie ist höher als die von Morphin und ist daher mitentscheidend für die starke Ausprägung des Rauschgefühls nach intravenöser Heroininjektion. Die Dosen, die ein körperlich Heroinabhängiger zu sich nimmt, überschreiten nicht selten das 10- bis 30fache der ursprünglich therapeutischen Dosis (Einzeldosis zur Schmerzlinderung: 2,5 bis 20 mg bei Erwachsenen) der Substanz. Wenn man den durchschnittlichen Reinheitsgrad von Schwarzmarktheroin mit berücksichtigt, der in Europa – von den Niederlanden abgesehen – für den Endkunden in der Regel zwischen 5 und 15 %, selten über 20 % (Stand 2006) beträgt – in den USA liegt der Reinheitsgrad inzwischen oft deutlich höher –, kommt ein durchschnittlicher langjähriger intravenöser Heroinkonsument mit einer Menge aus, die 100–200 mg der Reinsubstanz entspricht. Die Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland legte bei der Festlegung der nicht geringen Menge Heroin im Sinne von § 29a Betäubungsmittelgesetz zugrunde, dass eine Dosis von 50 mg bei einer nicht drogenabhängigen Person letal wirkt, obwohl diese Zahl höchstwahrscheinlich nicht der Wahrheit entspricht und einige Studien von einer weitaus höheren humanen LD50 ausgehen. Diese Zahl scheint eher für Mischkonsum zuzutreffen, der sehr häufig anzutreffen ist und in vielen Toxizitätsberichten von Krankenhäusern nach fatalen Überdosen nicht erkannt wird, speziell, wenn die Substanzen mit einem Standard-Drogenscreening nicht erfassbar sind oder es sich um den weitaus verbreitetsten fatalen Mischkonsum, den mit Ethanol, handelt. Die Wirkung von Heroin hält bei Konsumenten ohne Toleranz 6 Stunden bis oftmals über 24 Stunden an, wobei Nachwirkungen nach dem ersten Konsum manchmal mehrere Tage andauern können. Hingegen dauert die Wirkung von Heroin bei einem körperlich Abhängigen, wenn er eine für sich durchschnittlich hohe Dosis konsumiert, nicht länger als 6–8 Stunden, wonach die Entzugserscheinungen langsam wieder einsetzen. Opioide wie das Diamorphinsubstitut Methadon besitzen eine Halbwertszeit von bis zu 24 Stunden. Die Dosistoleranz von Opioiden steigt bei täglichem Konsum zügig auf ein Mehrfaches an. Pharmakokinetik Die Bioverfügbarkeit ist abhängig von der Konsumform. Heroin ist deutlich stärker lipophil (fettlöslich) als Morphin und gelangt daher rasch ins Gehirn, was zu einer starken Anflutung an den Wirkrezeptoren führt; daher löst eine intravenöse Heroin-Injektion einen initialen „Kick“ (auch Flash genannt) aus. Dieser Effekt ist bei allen anderen Konsumformen als der intravenösen Injektion aufgrund der langsameren Anflutung nach dem heutigen Stand der Wissenschaft zumindest stark abgeschwächt, wenn überhaupt vorhanden. Gründe dafür sind die langsamere Resorption, die vorzeitige Hydrolyse und der First-Pass-Effekt. Die Hauptmetabolisierungsroute des Heroins ist Heroin → 6-MAM → Morphin Heroin wird im Körper rasch, mit einer Plasmahalbwertszeit von drei Minuten, zu 6-Monoacetylmorphin (6-MAM) deacetyliert. Daneben gibt es noch den inaktiven Metaboliten 3-MAM. Beide werden weiter zu Morphin hydrolysiert (Halbwertszeit ca. 20 Minuten). Etwa 1–10 % des Morphins werden in den ebenfalls aktiven Metaboliten Morphin-6-Glucuronid umgewandelt, der eine deutlich höhere Halbwertszeit als Morphin selbst aufweist und sich deswegen bei Patienten mit einer gestörten Nierenfunktion bei langandauernder Verabreichung anhäufen kann. Weitere 55–75 % des Morphins werden zu inaktivem Morphin-3-Glucuronid metabolisiert. Es wird auch zu etwa 5 % zu Normorphin verstoffwechselt. Nachweis In forensischen Erfassungstests, sogenannten Screeningtests (), können die metabolischen Rückstände chemischer Substanzen verschiedener Analgetika (beispielsweise Paracetamol), Barbiturate und Opiate wie Heroin toxikologisch im menschlichen Körper nachgewiesen werden. Hierfür wird in der klinischen Chemie bei Verdacht auf Intoxikation mit Medikamenten und Drogen das Screening aus Blutserum, Speichel, Sperma, Heparinplasma oder Urin verwendet. Chemisch standardisiert können halbsynthetische Opiate wie Heroin jedoch nur über Urinausscheidungen nachgewiesen werden, da das Diacetyl-Morphin Heroin vom Organismus relativ schnell zu Morphin metabolisiert wird. Verfälscht werden kann der Urintest überdies durch opiatähnliche Substanzen gleicher Struktur oder Wirkung wie beispielsweise das Codein, welches in handelsüblichen Schmerzmitteln oder in Antitussiva (Hustensäften) vorkommt. Insofern muss ein positives toxikologisches Ergebnis nicht unbedingt auf einen Heroinmissbrauch schließen lassen. Der zuverlässige qualitative und quantitative Nachweis in verschiedenen Untersuchungsmaterialien gelingt nach angemessener Probenvorbereitung durch chromatographische Verfahren in Kopplung mit der Massenspektrometrie. Toxikologie Bei keiner anderen gängigen Droge ist die relative Differenz zwischen einer wirksamen und einer tödlichen Dosis so gering wie bei Heroin, wodurch sich in Kombination u. a. mit dem ebenfalls höchsten Abhängigkeitspotential und einer Tendenz zur Dosissteigerung die vergleichsweise hohe Zahl von Todesfällen erklären lässt. Die konkrete Dosis, die zum Tode eines Konsumenten führt, ist von Person zu Person sowie insbesondere stark von einer möglichen Toleranzentwicklung und damit auch vom Zeitpunkt des letzten Konsums abhängig. Ein langjähriger Dauerkonsument „verträgt“ u. U. das 10fache einer Menge, die bei einem Erstkonsumenten bereits zum Tode führen würde. Nach wenigen Tagen Konsumpause kann dieser Wert aber schon wieder sinken und eine entsprechende Hochdosierung auch für den Dauerkonsumenten tödlich enden. Problematisch sind auch die üblichen Verunreinigungen (Streckungen), die Konsumenten generell zu einer schwer kalkulierbaren Höherdosierung veranlassen, was dann u. U. bei unerwartet reinerem Stoff zum Tod führt. Einige Quellen geben für die in 50 % der Fälle tödliche Dosis (LD50) Dosen von 1 bis 5 mg pro Kilogramm Körpergewicht für Erstkonsumenten an (75 bis 375 mg bei einer Person von 75 kg Körpergewicht). Tödliche Dosen wurden beim Menschen aber auch schon ab 10 mg (absolut) beobachtet. Antidote und Opioidantagonisten Bei einer opiat- oder heroinbedingten Intoxikation werden Opioidantagonisten eingesetzt. In Deutschland wird häufig Naloxon-Hydrochlorid verwendet, welches die Aufnahme des Opioids an den Opioidrezeptoren blockiert. Problematisch ist hier die weitaus kürzere Halbwertszeit gegenüber dem Opioid. Dieser Antagonist wirkt zu kurzzeitig (etwa eine Stunde) und hebt außerdem die etwa drei bis vier Stunden dauernde analgetische (schmerzstillende) Wirkung des Heroins auf, was sofort zu heftigsten Entzugssyndromen (Schweißausbrüche, Schmerzen und Krämpfen bis hin zum Kreislaufkollaps) führen kann, wenn der Patient eine auch nur kleine Toleranz gegenüber Opioiden hat. Opioidantagonisten dürfen aufgrund ihrer Nebenwirkungen nur unter ärztlicher Kontrolle verabreicht werden. Vorsicht gilt in besonderem Maße für Substituierte mit dem halbsynthetischen Opioid Buprenorphin (z. B. Subutex), welches eine höhere Rezeptoraffinität als Naloxon besitzt – alle derzeit am Markt verwendeten Opioidrezeptor-Vollagonisten haben eine signifikant niedrigere Affinität als Naloxon und werden daher vom Naloxon schnell verdrängt – hingegen lässt sich aus diesem Grund Buprenorphin nur mit äußerst hohen Dosen Naloxon antagonisieren. Es besitzt außerdem eine interindividuell stark variable Halbwertszeit bis zu 48 Stunden, weshalb zusätzlich Naltrexon gegeben werden muss. Konsumformen Es gibt verschiedene Konsumformen, die alle mit Risiken verbunden sind. Die Sucht kann bei jeder Konsumform eintreten. Intravenöser Konsum Der intravenöse Konsum (umgangssprachlich „drücken“, „ballern“ oder „fixen“) ist wohl die bekannteste Konsumform. Da die zumeist in Europa erhältliche Heroinbase nicht in Wasser löslich ist, braucht man einen Hilfsstoff, um sie in Lösung zu bringen. Das Heroin wird (in der Regel auf einem Löffel) mit einer Säure (pulverige Ascorbinsäure (Vitamin C) oder Zitronensaft) und Wasser erhitzt und danach durch einen Filter aufgezogen. Die Säure bewirkt beim Aufkochen die für die intravenöse Injektion notwendige Bildung eines wasserlöslichen Heroinsalzes. Durch häufige intravenöse Injektionen unter nicht sterilen Bedingungen, wie sie unter Schwarzmarktbedingungen vorherrschen, bilden sich oft Hämatome und Vernarbungen, die eine Thrombose (Venenverschluss) verursachen können. Allerdings kann auch der injizierende Konsum von reinem Heroin, wie jede andere Injektion auch, zu Abszessen führen. Zittern als Entzugserscheinung führt zu einer erhöhten Verletzungsgefahr bei der Selbstinjektion. Es besteht die Gefahr, die Vene zu verfehlen und sich eine „Kammer“ unter die Haut zu spritzen („sich ein Ei schießen“), was bei ausbleibender medizinischer Behandlung zu Abszessen führen kann. Die Benutzung derselben Kanüle durch mehrere Personen oder das Aufteilen einer aufgekochten Zubereitung birgt das Risiko einer Infektion mit HIV/AIDS und sonstigen durch das Blut übertragbaren Krankheiten (z. B. Hepatitis B und besonders Hepatitis C). Durch die Strecksubstanzen in Schwarzmarktheroin (Strychnin und viele andere) kann es zu lebensbedrohlichen Vergiftungen kommen. Auf einen intravenösen Heroinkonsum deuten Einstichstellen (nicht nur am Arm) und Vernarbungen hin. Intranasaler Konsum Zum Schnupfen (Sniefen, Sniffing) durch die Nase wird das Heroin zu feinem Pulver zermahlen. Ähnlich wie bei Kokain wird es anschließend mit einem Schnupfröhrchen durch die Nase eingezogen, wodurch es auf die Nasenschleimhaut gelangt. Dort geht es umgehend in die Blutbahn über und entfaltet dann seine Wirkung. Wie auch beim intravenösen Konsum von Kokain besteht die Gefahr einer Überdosierung. Wird Heroin über einen längeren Zeitraum immer wieder auf die Nasenschleimhaut aufgebracht, trocknet diese aus und atrophiert, was wiederum Nasenbluten begünstigt. Da die Nasenschleimhaut nach einer toxischen Schädigung nur bedingt regenerationsfähig ist, bildet diese bei anhaltendem, extremem nasalem Heroinkonsum geschwürige Substanzdefekte aus, und kann – sofern im Bereich der Nasenscheidewand lokalisiert – diese unter Einbeziehung des Nasenscheidewandknorpels schließlich perforieren. Gemeinsamer Gebrauch von Ziehwerkzeugen mit anderen Konsumenten kann zur Übertragung ansteckender Krankheiten führen. Inhalation Das Rauchen des Heroins (Slangbegriffe: „Blowen“, „Chasing the Dragon“, „den Drachen jagen“, „eine Folie rauchen“, „ein Blech rauchen“, „chineesen“) ist eine Konsumform, bei der das Heroin auf einem Stück Alufolie verdampft wird. Dieser Dampf wird dann zum Beispiel mithilfe eines Aluröhrchens inhaliert. Da sublimiertes Heroin bei Raumtemperatur sehr schnell wieder kondensiert, setzt sich in dem Inhalationsröhrchen schnell eine Schicht Heroin ab, die von den Konsumenten, wenn sie eine bestimmte Menge erreicht hat, dann gesammelt und konsumiert wird. Der Vorteil des Inhalierens von Heroin ist die relativ gut kontrollierbare Dosierung. Aufgrund des sofortigen Wirkungseintritts wird eine drohende Überdosis bemerkt, bevor eine zu große Menge der Droge konsumiert wurde, was beim Injizieren oder „Sniefen“ nicht möglich ist. Bei den letzteren Konsumformen wird jeweils eine bestimmte Menge der Droge zugeführt und befindet sich dann im Körper. Die Wirkung erreicht ihren Höhepunkt also erst, nachdem der Konsument sich die entsprechende Menge zugeführt hat, sodass er keine Chance hat, diese zu korrigieren. Seit 1982 werden unspezifische Veränderungen der weißen Hirnsubstanz mit der Inhalation von Heroin in Verbindung gebracht und als spongiforme Leukenzephalopathie bezeichnet. Auch wenn vermutet worden ist, dass beim Erhitzen des Heroins ein Streckstoff oder eine andere Substanz im Heroin in eine für das Gehirn schädliche Form umgewandelt werden könnte, bleiben Ätiologie und Pathogenese bislang ungeklärt. Orale Anwendung Die orale Applikation von Heroin ist nicht weit verbreitet. Der Grund dafür ist, dass je nach Zustand des Verdauungssystems der Wirkungseintritt nach Konsum stark verzögert ist, die Wirkung langsam und graduell eintritt und sich der Rausch auch noch nach Stunden intensivieren kann. Im Gegensatz zum parenteralen Konsum tritt zudem der First-Pass-Effekt ein, der einen Teil des Wirkstoffes noch vor Erreichen der Rezeptoren eliminiert. Die benötigte Dosis ist dadurch größer, teurer und schwerer zu kontrollieren. In der Schweiz wird Heroin unter dem Namen Diaphin in Tablettenform an Patienten abgegeben, die in heroingestützter Behandlung sind. Mischkonsum Der Konsum mehrerer Drogen gleichzeitig kann zu Wechselwirkungen führen, welche die Wirkung von Heroin verstärken. Es gibt sehr wenige Überdosierungen von Heroinabhängigen, die letal enden, wenn nur Heroin allein genommen wurde. Wenn allerdings Mischkonsum mit anderen sedierenden Substanzen wie Alkohol oder Benzodiazepinen wie zum Beispiel Flunitrazepam oder Diazepam betrieben wird, steigt die Gefahr einer lebensgefährlichen Überdosis enorm an. Eine Mischung aus Heroin und Kokain wird umgangssprachlich „Cocktail“ oder „Speedball“ genannt. Hierbei ist die Wirkung der beiden Drogen entgegengesetzt, was vor allem für das Kreislaufsystem eine gefährliche Belastung darstellt. Die Gefahr einer Überdosierung ist dabei besonders hoch. Werden mit Heroin auch Benzodiazepine eingenommen, besteht die Gefahr eines Atemstillstandes. Beide Stoffe wirken atemdepressiv, rufen also eine verminderte Aktivität der Atemmuskulatur hervor. Heroin kann über eine zerebrale Vaskulitis – vorwiegend in Zusammenhang mit Alkoholaufnahme – auch zu Blutungen im Gehirn führen. Logistik Heroin wird hauptsächlich in Westeuropa und den USA konsumiert. Braunes Heroin (Heroinbase) wurde im Jahr 2015 hauptsächlich in Afghanistan und anderen Ländern in Südwestasien hergestellt. Das seltenere weiße Heroin (Heroinhydrochlorid, „Heroinsalz“) wurde früher hauptsächlich in Südostasien hergestellt, im Jahr 2015 vor allem in Afghanistan und vermutlich im Iran und in Pakistan. Diese als Goldener Halbmond bezeichnete Region ist der Hauptlieferant für den europäischen Markt. Handelsrouten Der Rohstoff Opium wurde im Jahr 1979 vor allem in den benachbarten Staaten Afghanistan, Pakistan und Iran (zusammen 1600 Tonnen) sowie im goldenen Dreieck um Thailand (160 Tonnen) und in Mexiko (10 Tonnen, mit zuletzt stark steigender Tendenz) erzeugt. Bis in die 1980er Jahre war auch die Türkei ein wichtiger Opiumproduzent. In Deutschland ist die in Afghanistan hergestellte braune Heroinbase am gebräuchlichsten, wohingegen das vorwiegend in Südostasien produzierte weiße Heroin von relativ geringer Bedeutung ist. Von den 1600 Tonnen Opium, die 1979 in den drei größten Erzeugerländern hergestellt wurden, wurden 1000 Tonnen im Inland verbraucht. Die restlichen 600 Tonnen wurden in chemischen Labors, die sich vor allem in Pakistan, Syrien, im Libanon, Iran und der Türkei befanden, in etwa 55 Tonnen Morphin umgewandelt. Der Mohn, aus dem das Rohopium gewonnen wird, wird von Bauern angebaut. Es handelt sich dabei oft um Kleinbauern, für die das die einzige Geldeinkommensquelle ist. Einen Teil des Opiums verkaufen sie legal an staatliche Einrichtungen, die auch für die Kontrolle des Opiumanbaus verantwortlich sind. Der Rest wird an lokale Händler verkauft, die oft ein Vielfaches des offiziellen Preises zahlen. Im Dreiländereck Afghanistan, Iran, Pakistan wird ein großer Teil der Produktion von eigenen Händlergruppen en gros aufgekauft, die das Opium oder das bereits umgewandelte Morphin im Mittleren Osten weiterverkaufen. Im Mittleren Osten wird das Morphin weiterverkauft, wobei oft Mitglieder der politischen und militärischen Eliten beteiligt waren. Anschließend gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie das Morphin gen Westen kommt. Die beliebteste davon ist ein Transport über die Balkanroute, wo das Morphin beispielsweise in Zügen, Autos und auf Mauleseln nach Ankara und Istanbul transportiert und dann weiter über den Balkan nach Westeuropa geschafft wird. Hier wird das Morphin in Heroin umgewandelt, das für den europäischen oder nordamerikanischen Markt bestimmt ist. Eine zweite Möglichkeit ist der Transport über die sogenannte „Südroute“, welche vom Mittleren Osten über Ostafrika schließlich per Schiff oder Flugzeug nach Europa führt. Weniger gebräuchlich ist die „nördliche Schwarzmeerroute“ über die Kaukasusregion oder Anrainerstaaten des Schwarzmeers. Heroin kann leicht transportiert und versteckt werden, es hat im Verhältnis zu seinem Wert ein geringes Gewicht und Volumen. Die Behörden sind daher nur imstande, einen Bruchteil des im Umlauf befindlichen Heroins zu beschlagnahmen. Wie legale Waren wird auch Heroin von verschiedenen Händlern gekauft und weiterverkauft, jedoch wesentlich öfter. Je mehr Händler beteiligt sind, desto schwieriger ist es, die Großhändler ausfindig zu machen. Die Information, die kleinere Dealer vom nächsthöheren Dealerring (zum Beispiel über die Identität der Mitglieder) bekommen, beschränken sich meist auf ein Minimum. Um große Lieferungen kaufen zu können, werden von den Dealern oft vermögende Leute beteiligt, die der legalen und anerkannten Welt angehören (Freiberufler, Geschäftsmänner, Kaufleute). Diese haben mit dem Geschäft nichts zu tun, sie strecken lediglich unter der Hand größere Geldbeträge vor, mit denen die Drogen gekauft werden. Nach Geschäftsabschluss und oft kurzer Zeit erhalten sie ein Vielfaches des schwarz investierten Kapitals zurück. Der Großhandel mit Heroin wurde in den 1980er Jahren zu einem erheblichen Teil von kriminellen Organisationen verschiedener Nationalität durchgeführt (zum Beispiel Mafiafamilien oder -Clans). Diese kauften große Mengen und verkauften die Drogen weiter an kleinere, unabhängige Gruppen, welche das Heroin dann weiter an die nichtkriminellen Konsumenten verkaufen. Um im größeren Stil im Heroingeschäft mitmischen zu können, benötigten die kriminellen Organisationen erstens Kapital zum Ankauf der Drogen und zur chemischen Umwandlung in geheimen Labors. Zweitens Gewalt, um die Konkurrenz zu bekämpfen, Zeugen, Polizisten und Beamte einzuschüchtern und schließlich sicherzustellen, dass eingegangene Abmachungen eingehalten werden. Die zur Gewaltausübung rekrutierten Personen reichten von arbeitslosen Jugendlichen bis hin zu Profimördern. Während sich in den Endphasen des Verteilungsprozesses beinahe jeder als kleiner oder mittlerer Dealer am Drogenmarkt betätigen konnte, war der Großhandel umkämpft und nur mit organisierter Gewalt kontrollierbar. Der Schmuggler Eric Chalier berichtete in den 1970ern vor Gericht, dass ein Kilo Morphin in Afghanistan 2.000 Dollar kostete, in der Türkei 3.500, in Griechenland 8.000 und in Mailand 12.000 Dollar. Eine weitere Möglichkeit, hohe Gewinne zu erzielen, ist die Veredelung des Morphins in das weitaus teurere Heroin. Hier lagen die Profite damals zwischen 1.000 und 2.000 Prozent. Während es in Afghanistan noch jedem größeren Bauern möglich ist, mit Opium zu handeln, erfordert Heroinhandel in Europa ein gewisses verfügbares Kapital. Preisentwicklungen Der Schwarzmarktpreis ist stark vom Reinheitsgrad und dem Verkaufsort abhängig. Die Reinheit des „braunen Heroins“ liegt in den meisten europäischen Ländern zwischen 15 % und 25 %. In Ländern wie Österreich, Griechenland und Frankreich liegt der Wert unter 10 % und in Großbritannien bei 41 %. Die Reinheit des „weißen Heroins“ liegt höher bei 45 % bis 71 %. Der durchschnittliche Preis des „braunen Heroins“ in den meisten europäischen Ländern liegt zwischen 30 und 45 Euro pro Gramm, in Schweden bei 110 Euro pro Gramm, in der Türkei dagegen nur 7–10 Euro pro Gramm bei einer durchschnittlichen Reinheit zwischen 30 und 50 Prozent. Der Preis des „weißen Heroins“ ist wesentlich differenzierter und wird in wenigen europäischen Ländern zwischen 27 und 110 Euro pro Gramm gemeldet. Die Preise haben eine sinkende Tendenz. Gefahren Abhängigkeit Heroin zählt aufgrund der für einen hohen Anteil der Konsumenten überwältigenden psychischen Wirkung zu den Substanzen mit dem höchsten Abhängigkeitspotential überhaupt. Körperliche Entzugserscheinungen können je nach individueller Konstellation bereits nach zwei Wochen täglichen Konsums auftreten. Die Konsumform und -dosis wird in der Regel von dem Grad der körperlichen und psychischen Abhängigkeit beeinflusst. Mit häufigerem Rauchen oder nasalem Konsum und damit steigender Toleranz wird diese Einnahmeform unökonomisch, da bei beiden genannten Konsumformen im Schnitt etwa zwei Drittel des Wirkstoffes bei der Einnahme verloren gehen, ohne dass sie an ihren Wirkort, die Opioidrezeptoren, gelangt sind und Heroin am Schwarzmarkt gekauft extrem teuer ist. So sind Abhängige meist gezwungen, auf intravenöse Injektion überzugehen, was durch die höhere Wirkstoffaufnahme auch die Toleranz noch weiter steigen lässt. Gesundheitliche Risiken Nicht jeder mit Heroin experimentierende (psychisch stabile und sozial abgesicherte) Konsument wird zwangsläufig abhängig. Nichtsdestoweniger führt die sich in der Regel rasch entwickelnde und ausgeprägte körperliche und psychische Abhängigkeit mit ihren Folgen, das Leben in der Drogenszene (mit Vernachlässigung, sozialer Marginalisierung, Disstress, Delinquenz, Obdachlosigkeit), die indirekten Gesundheitsschäden (u. a. Infektionen, Thrombophlebitiden, Embolien bei intravenösem Konsum ohne entsprechende Maßnahmen zur Sterilität) sowie die häufig nachweisbaren Komorbiditäten zu einer gegenüber der Normalbevölkerung 20–50-fach erhöhten Sterblichkeit. Die Suizidrate ist gegenüber der gleichaltrigen Normalbevölkerung um das 14fache erhöht. Zunehmend wird erkannt, dass Schadensminimierung (harm reduction) sich nicht auf die körperlichen und psychischen Probleme des einzelnen Konsumenten beschränken darf, sondern auch soziale (und damit politische) Lösungen für ein soziales Problem erfordert. In Deutschland wurden im Jahr 2010 529 Todesfälle gezählt, die direkt mit dem alleinigen Konsum von Heroin in Verbindung standen. In 326 weiteren Todesfällen war Heroin neben anderen Drogen ebenfalls involviert. Heroin spielte somit in rund 70 % aller mit dem Konsum illegaler Drogen in Verbindung gebrachten Todesfälle eine Rolle. Im Jahr 2013 wurden in Deutschland 194 Todesfälle im direkten Zusammenhang mit Heroin/Morphin gezählt, in 280 weiteren Fällen war Heroin neben anderen Drogen involviert. Der somit auf etwa 47 % gesunkene Anteil lässt sich durch einen entsprechend gestiegenen Anteil an Todesfällen erklären, der mit Opiat-Substitutionsmitteln in Verbindung gebracht wird. Bezogen auf das Jahr 2014 veröffentlichte die Drogenbeauftragte der Bundesregierung keine konkreten Zahlen, bezeichnete Heroinmissbrauch aber weiterhin als Hauptursache in Bezug auf die Zahl der Drogentoten. Die Sterblichkeit der Opioidabhängigen ist in der Schweiz gegenüber der Normalbevölkerung nur noch geringfügig erhöht, da rund Dreiviertel in dauerhafter Behandlung mit Opioidagonisten (Methadon, Morphin, Heroin) stehen und gegen HIV oder HCV behandelt werden. Akutes körperliches Symptom einer Intoxikation ist hauptsächlich eine dosisabhängige Atemdepression, die durch gleichzeitig eingenommene Sedativa (meist den Beikonsum von Benzodiazepinen) erheblich verstärkt wird. Eine nachgewiesene Folge des Langzeitkonsums ist die Obstipation, welche allerdings auch kurzfristig auftreten kann, da die µ2-Rezeptoren im GI-Trakt wenig oder gar keiner Toleranzentwicklung unterworfen sind, weswegen dieses Symptom bei Dauerkonsum auch langfristig bestehen bleiben kann. Unregelmäßigkeiten des Menstruationszyklus (Oligomenorrhoe oder Amenorrhoe), Unfruchtbarkeit und Abnahme der Libido sind teilweise auf Heroin (oder Opioide) zurückzuführen. Auswirkungen der Opioide auf das Hormonsystem sind vielfach nachgewiesen. So kommt es zu einer Abnahme der Blutspiegel des Luteinisierenden Hormons (LH) und Follikel-stimulierenden Hormons (FSH), im Verlauf einer Substitutionsbehandlung bei vielen Frauen aber auch wieder zu einer Normalisierung, womit die Gefahr unerwünschter Schwangerschaften steigt. Es wird angenommen, dass zumindest ein großer Teil dieser hormonellen Veränderungen, die zur Oligo- oder Amenorrhoe führen, auf die Lebensumstände von Opioidabhängigen unter Prohibitionsbedingungen (unausgewogene/Mangelernährung, reduzierter Allgemeinzustand aufgrund diverser Infektionen, welche durch unsauberen i.v.-Konsum entstehen, soziale Ausgrenzung usw.) zurückzuführen ist. Neugeborene heroinabhängiger Mütter weisen in der Regel ein Neugeborenen-Entzugssyndrom auf, welches zwar nicht grundsätzlich lebensgefährlich für das Neugeborene ist; jedoch wird angenommen, dass durch den vorgeburtlichen Dauerkontakt mit exogenen Opioiden biochemische/physiologische Veränderungen im ZNS/Neurotransmitterstoffwechsel stattfinden. Welche Auswirkungen das konkret hat, ist bisher noch nicht genau bekannt. Injektion oder Folienrauchen von Heroin kann über eine Beeinflussung des Hippocampus die Krampfschwelle senken und damit Krampfanfälle auslösen. Diese stellten im bundesdeutschen Modellprojekt zur heroingestützten Behandlung Opiatabhängiger bei den insgesamt 156 Teilnehmern eines Beobachtungszeitraums von vier Jahren mit insgesamt zehn Fällen das häufigste schwerwiegende unerwünschte Begleitsymptom dar. Unter Methadon-Substitution dürften epileptische Anfälle seltener auftreten. Nach den CASCADE-Daten war die Übersterblichkeit von HIV-infizierten Drogenkonsumenten 2004/2006 insgesamt 3,7-fach höher als bei HIV-infizierten männlichen Homosexuellen. Soziale Folgen „Längerdauernde Heroinabhängigkeit führt in einem Teil der Fälle zu schwerwiegenden sozialen Folgen, unter anderem aufgrund der Kriminalisierung durch Beschaffung, Besitz und Handel des illegalen Rauschmittels.“ Die durch Heroinkonsumenten begangenen Straftaten, welche in die Kategorie Beschaffungskriminalität fallen, können nicht auf die Substanz an und für sich zurückgeführt werden, sondern müssen mit der Kriminalisierung der Beschaffung erklärt werden. Eine kontrollierte Legalisierung könnte diesen Teil der kriminellen Belastung beseitigen (siehe erfolgreiche Pilotversuche in Deutschland, Schweiz, Niederlanden, England usw.). Oft versetzen abhängige Konsumenten ihren gesamten Besitz, um die Substanz zu finanzieren, was mit sozialem Abstieg verbunden ist (der per se zu einer vermehrten Gesundheitsbeeinträchtigung führt). Die Betroffenen sind meist nicht imstande, einer Arbeit nachzugehen, werden häufig obdachlos, auch weil sie es nicht mehr schaffen, ihren Verpflichtungen (Ämtergänge etc.) nachzukommen oder weil das gesamte Bargeld für Drogen ausgegeben wird. Allerdings gibt es auch eine nicht bekannte Zahl von Heroinabhängigen (über die z. B. in der niedrigschwelligen Drogenhilfe wiederholt berichtet wurde), die ihrer Arbeit geregelt nachgehen, sozial integriert sind und ihrem Umfeld ihre Abhängigkeit verheimlichen können, sodass nicht zwingend ein sozialer Abstieg folgt. Entzug Wenn stark Heroinabhängige nicht innerhalb von acht bis zwölf Stunden nach dem letzten Konsum eine weitere Dosis zu sich nehmen, kommt es zu Entzugssymptomen. Dieser Entzug ist im Allgemeinen nicht lebensbedrohlich, aber oft sehr gefürchtet und körperlich sehr anstrengend. Sämtliche Entzugsmethoden werden kontrovers diskutiert. So kann beispielsweise ein „Turboentzug“ mit Opioidantagonisten wie Naltrexon (forcierter Opioidentzug in Narkose) mit schwersten gesundheitlichen Risiken verbunden sein. Nach einem körperlichen Entzug besteht die Gefahr, dass die zuvor gewohnte Dosis bei erneutem Konsum wegen einer Toleranzabsenkung zu einer Überdosierung führen kann. Heroinentzug führt zu einer erhöhten Sterblichkeit. In entzogenem Zustand ist die Sterblichkeit gegenüber mit Methadon oder anderen Opioiden behandelten Opioidabhängigen um ein Vielfaches erhöht. Modellversuch zur diamorphingestützten Behandlung Das Bundesministerium für Gesundheit initiierte in Kooperation mit den Bundesländern Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen und den Städten Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, Bonn, Hannover, München und Karlsruhe ein Modellprojekt zur heroingestützten Behandlung Opiatabhängiger. Im März 2002 lief das Projekt in Bonn an, die anderen Städte folgten nach und nach. Dabei erhielten Opiatabhängige, bei denen bisherige Drogentherapien nicht erfolgreich waren oder bei denen die Methadonsubstitution nicht befriedigend verlief, pharmakologisch reines Heroin (Diacetylmorphin, Diamorphin) zur intravenösen Einnahme unter Aufsicht; eine Kontrollgruppe erhielt parallel die Ersatzdroge Methadon. Beide Gruppen wurden regelmäßig medizinisch betreut und erhielten eine psychosoziale Begleittherapie. Die Zuweisung zu den beiden Gruppen wurde per Zufall vorgenommen; Teilnehmer der Methadongruppe konnten, als Anreiz, nach dem Jahr zur Heroingruppe wechseln. Die Trennung in Experimentalgruppe (Heroin) und Kontrollgruppe (Methadon) war erforderlich, da es sich bei der Studie um eine klinische Arzneimittelprüfung handelte, was für eine mögliche Zulassung von Heroin als Medikament die Voraussetzung darstellte. Beide Gruppen wurden nochmals unterteilt in Untergruppen, die mit unterschiedlichen Verfahren psychosozial betreut wurden, entweder durch Case-Management oder in Form von Drogenberatung mit Psychoedukation. Die Rekrutierung erstreckte sich bis Ende 2003. Insgesamt nahmen 1032 Patienten an dem Projekt teil. Im Ergebnis traten in der Diamorphingruppe mehr Zwischenfälle auf, die gesundheitliche und soziale Situation der Patienten verbesserte sich aber im Vergleich zu denen der Methadongruppe signifikant. Das Projekt war ursprünglich auf zwei beziehungsweise drei Jahre angelegt (zwei Jahre Studie und ein Jahr Auswertung der Studie), wurde aber im August 2004 bis 2006 verlängert, da man die Behandlung nicht abbrechen wollte, aber erst 2006 über die Zulassung von Heroin als Medikament entschieden werden sollte. Nachdem die CDU eine Aufnahme der diamorphingestützten Behandlung in die Regelversorgung lange Zeit blockiert hatte, wurde diese im Mai 2009 schließlich mit den Stimmen von SPD, FDP, Linkspartei und Grünen beschlossen. In Großbritannien ist Heroin als Schmerzmittel verschreibungsfähig und wird von einigen Ärzten mit Genehmigung des Home Office auch an Heroinsüchtige verschrieben. Diese Behandlungspraxis existiert schon seit den 1920er-Jahren, wurde in den 1970er-Jahren allerdings stark reduziert. Zurzeit werden in ganz England nur einige hundert Suchtkranke mit Heroin behandelt. In den Niederlanden liefen ebenfalls schon Versuche einer heroingestützten Behandlung, die sehr positive Ergebnisse erzielten, genauso wie in Spanien, Belgien, Kanada und Dänemark. In der Schweiz wurde die Heroinabgabe im Rahmen der PROVE-Versuche (Projekte zur Verschreibung von Betäubungsmitteln) 1991 durch das Bundesamt für Gesundheitswesen BAG unter Flavio Cotti vorbereitet und vom eidgenössischen Bundesrat am 21. Oktober 1992 beschlossen: Versuche der ärztlich kontrollierten Drogenabgabe erlaubten die Abgabe von Heroin, Methadon und Morphin in spritzbarer Form, Heroin (und sehr beschränkt Kokain) in rauchbarer Form und von Heroin, Methadon und Morphin als schluckbare Zubereitungen. Die Heroinabgabe wurde 2008 per Volksabstimmung dauerhaft in Sonderinstitutionen erlaubt. Theoretisch könnte Heroin in Palliativbehandlungen durch jeden Arzt in der Schweiz verschrieben werden. Heute ist Heroin, Diacethylmorphin, DAM, in der Schweiz unter dem Handelsnamen Diaphin registriert. Da Heroinbehandlungen nur in sehr restriktiven Sondersettings erlaubt sind, haben sie nie eine wichtige Bedeutung zur Bewältigung der in den 1990er Jahren extremen Drogenprobleme erlangt. Zu keinem Zeitpunkt waren mehr als 3 Prozent der Süchtigen in der Schweiz in Heroinbehandlung (dagegen sind seit Mitte der 1990er Jahre immer mehr als die Hälfte der Opioidabhängigen in Substitutionsbehandlungen mit Methadon, Morphin retards oder Buprenorphin). Da durch die „Nulltoleranzstrategie“ und Kriminalisierung keine Verringerung der Zahl der Heroinsüchtigen erreicht werden konnte und kann, entstanden dort, wo Heroinsüchtige aufgrund ihrer Anzahl und segregierten Existenz (oft an zentralen Plätzen von Großstädten, etwa am Zürcher Platzspitz) von einer breiteren Öffentlichkeit als Gesundheits- und Sicherheitsproblem wahrgenommen wurden, neue Wege des Umgangs mit Heroinsüchtigen. Insbesondere entstand so die akzeptierende Drogenarbeit, deren wesentliches Merkmal die Einrichtung von Drogenkonsumräumen als sicherer Rahmen fürs Konsumieren ist. 2023 beschreibt Correctiv, wie die an sich sinnvolle Gabe von Diamorphin durch ihre Lukrativität möglicherweise zu häufig angewendet wird. Heroin und Kunst Heroin spielt, wie auch andere Drogen, im Leben und Werk mehrerer Musiker eine Rolle. Bekannte Rockbands thematisierten den Gebrauch und die Folgen von Heroin in ihren Songs. Jazz Eine der ersten Künstlerszenen, in denen häufig Heroin gespritzt wurde, war die New Yorker Jazzszene der 1940er und 1950er Jahre. Teilweise auch infolge von Charlie Parkers Heroinkonsum übernahmen andere Jazzmusiker die Angewohnheit, manche davon mit ausdrücklichem Verweis auf Parkers zugeschriebenes Improvisationstalent. Musiker wie Chet Baker, Art Blakey, John Coltrane, Miles Davis, Stan Getz, Grant Green, Dexter Gordon, Billie Holiday, Jackie McLean, Hank Mobley, Thelonious Monk, Bud Powell und Sonny Rollins konsumierten über einen längeren Zeitraum Heroin und waren zeitweise Junkies. Mit Paul Chambers, Sonny Clark, Elmo Hope, Fats Navarro, Charlie Parker und Freddie Webster gab es mehrere prominente Herointote. Parker setzte seinem Dealer Emry Bird mit der Komposition Moose the Mooche ein musikalisches Denkmal. Anita O’Day nannte ihre 1981 erschienene Autobiografie High Times, Hard Times. Rock John Lennon schrieb 1969 den Song Cold Turkey. Darin beschrieb er den Versuch, gemeinsam mit Yoko Ono von der Droge loszukommen. Janis Joplin starb 1970 nach einer Überdosis Heroin. Die Rolling Stones veröffentlichten die Songs Coming Down Again („Wieder runterkommen“) und Before They Make Me Run, die von Keith Richards geschrieben wurden und von seiner Heroinsucht handeln. Mick Jagger schrieb die Songs Monkey Man und zusammen mit Marianne Faithfull Sister Morphine. Das Album Sticky Fingers, welches in den britischen und amerikanischen Charts Platz eins erreichte, behandelt in jedem Track Aspekte von Drogenkonsum. Black Sabbath schrieben mit Hand of Doom einen Song, der sich mit der oft vernichtenden Wirkung der Droge befasste. Die New Yorker Band The Velvet Underground, besonders Lou Reed, schrieb mehrere Songs über Heroin: Waiting for the Man und das eindeutig betitelte Heroin gelten als Klassiker des drogeninspirierten Rock. Im Punk-Rock war Heroin zum Ende der 1970er-Jahre ein verbreitetes Thema. Die Ramones weigerten sich, den von Dee Dee Ramone geschriebenen Song Chinese Rocks zu spielen, da er zu offensichtlich Drogenmissbrauch thematisierte. Dee Dee vollendete das Lied mit Richard Hell von den Heartbreakers. Der Song wurde zu einem der populärsten Stücke der Gruppe. Das wohl bekannteste Lied der Stranglers, Golden Brown, dreht sich nach Aussage von deren damaligem Frontmann Hugh Cornwell um Heroin, zwecks Wahrung der Zweideutigkeit im Text aber auch um ein Mädchen. Ein ähnliches lyrisches Mittel ließ Lou Reed in seiner Ballade Perfect Day aus dem Jahr 1972 durchblicken. Einer der bekanntesten Songs von Red Hot Chili Peppers, Under the Bridge, thematisiert die Heroinerfahrungen des Sängers Anthony Kiedis in den Drogenregionen von Los Angeles. Der Christian-Death-Sänger Rozz Williams beschrieb in seinem letzten Soloalbum vor seinem Suizid, From the Whorse’s Mouth, seine Suchtprobleme. Kurt Cobain injizierte sich zur Zeit der Veröffentlichung von Nevermind regelmäßig die Droge. Kevin Russell, Sänger der Band Böhse Onkelz, war jahrelang abhängig. Die Band thematisiert dies im Song H. Der niederländische Rockmusiker Herman Brood war ebenfalls jahrzehntelang abhängig. In Liedern wie Rock’n’Roll Junkie und Dope Sucks setzte er sich mit Heroin auseinander. Er nahm sich das Leben, im Juli 2001 nach einer Entgiftung. Laut seinem Abschiedsbrief erschien ihm ein Leben ohne Drogen nicht lebenswert. Einige bekannte Rockmusiker starben an den Folgen ihrer Sucht, wie John Belushi, Janis Joplin, Phil Lynott, Dee Dee Ramone, Hillel Slovak und Sid Vicious. Literatur und Film Die Öffentlichkeitswahrnehmung von Heroinkonsum wird unter anderem von Spielfilmen beeinflusst, in denen die Droge eine dominante Rolle spielt, wie in Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo oder in Trainspotting – Neue Helden, die jeweils auf Buchvorlagen beruhen. Rechtslage Deutschland Mit dem Gesetz zur diamorphingestützten Substitutionsbehandlung (Diamorphin-Gesetz) wurde Diamorphin im Juli 2009 ein verschreibungsfähiges Betäubungsmittel, das unter staatlicher Aufsicht in Einrichtungen, die eine entsprechende Erlaubnis besitzen, an Schwerstabhängige abgegeben werden kann. Der verschreibende Arzt muss suchttherapeutisch qualifiziert sein, die Betroffenen müssen mindestens 23 Jahre alt, seit mindestens fünf Jahren opiatabhängig sein und mindestens zwei erfolglose Therapien nachweisen. Durch das Gesetz wurden das Betäubungsmittelgesetz, die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung und das Arzneimittelgesetz entsprechend geändert. Unabhängig von den oben genannten Regularien ist das Führen von Kraftfahrzeugen unter Heroin-Einfluss gem. § 24a StVG ordnungswidrig, im Falle einer daraus resultierenden Fahruntüchtigkeit ist das Führen von Fahrzeugen oder Kraftfahrzeugen strafbar gem. § 316 StGB. Schweiz In der Schweiz darf Heroin nach dem Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe nicht eingeführt, hergestellt oder in Verkehr gebracht werden. Eine ärztlich kontrollierte Abgabe zur heroingestützten Behandlung (HeGeBe) von schwer Abhängigen ist unter speziellen Bedingungen jedoch möglich. Im Unterschied zu anderen Substitutionsmitteln wie Methadon, muss man für den Heroinbezug einen Antrag bei den Bundesbehörden stellen. Dabei bekommen die Patienten Heroin (Diacetylmorphin) als Medikament für die Einnahme oder können es sich in speziellen Kliniken unter Aufsicht intravenös verabreichen. Das Medikament wird unter dem Handelsnamen Diaphin vertrieben und gibt es in drei Verabreichungsformen: für die orale Gabe mit rascher oder verlangsamter (retardierter) Wirkstofffreisetzung sowie als Injektionslösung. Der Transport von Diaphin zu den Abgabestellen unterliegt höchsten Sicherheitsvorkehrungen und ist vergleichbar wie ein Goldtransport geschützt mit gepanzerten Lieferwägen und bewaffnetem Personal. Andere Staaten In Kanada und vor allem in Großbritannien wird Diacetylmorphin nach wie vor als Schmerzmittel eingesetzt, insbesondere bei chronischen Schmerzen und in der Palliativmedizin. In Großbritannien darf es von zugelassenen Ärzten auch zur Erhaltungstherapie bei Opiatabhängigen eingesetzt werden. Großbritannien ist das einzige Land weltweit, in dem Abhängige Heroin tatsächlich „auf Rezept“ bekommen können, während entsprechende Behandlungsformen in Deutschland und der Schweiz immer die Einnahme unter Aufsicht voraussetzen. In Dänemark wird der Besitz einer geringfügigen Heroinmenge zur Deckung des persönlichen Bedarfs nicht bestraft und in diesen Fällen auch die Sicherstellung der Substanz unterlassen, da das kriminelle Handlungen bei der Beschaffung einer neuen Dosis auslösen könnte. Aus diesem Grund ist auch in Tschechien Anfang 2010 eines der liberalsten Drogengesetze in Kraft getreten, das den Besitz von bis zu 1,5 g Heroin erlaubt. Von dortigen Hilfsorganisationen wie „Sananim“ oder „Drop“ wird die neue Gesetzgebung einerseits wegen der Entkriminalisierung begrüßt, andererseits aber auch kritisiert mit dem Argument, der Staat kümmere sich unzureichend um Vorbeugung und Betreuungsangebot für Drogensüchtige. Parallel zur Präsidentschaftswahl am 3. November 2020 in den Vereinigten Staaten von Amerika stimmten die Einwohner in einer Volksabstimmung des US-Bundesstaates Oregon einer Entkriminalisierung von Heroin zu. Seit dem 1. Februar 2021 wird bei Konsumenten eine geringe Menge Heroin wie eine Ordnungswidrigkeit gehandhabt. Siehe auch Ibogain (Substanz, die als Entzughilfe genutzt wird) 18-MC (vom Ibogain abgeleitete Forschungssubstanz mit Craving- und Entzugs-lindernder Wirkung) Literatur Alfred W. McCoy: Die CIA und das Heroin. Weltpolitik durch Drogenhandel. Westend Verlag, Frankfurt am Main 2016, ISBN 978-3-86489-134-2. Michael de Ridder: Heroin. Vom Arzneimittel zur Droge. Campus, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-593-36464-6. Herbert Elias: Der Heroinrausch. Fünfunddreißig Interviews zur Pharmakopsychologie von Diacetylmorphin. VWB, Berlin 2001, ISBN 3-86135-221-4. Lutz Klein: Heroinsucht, Ursachenforschung und Therapie. Biographische Interviews mit Heroinabhängigen. Campus, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-593-35828-X (Campus Forschung. Band 755). Andre Seidenberg, Ueli Honegger: Methadon, Heroin und andere Opioide. Medizinisches Manual für die ambulante opioidgestützte Behandlung. Huber, Bern 1998, ISBN 3-456-82908-6. Robert Knoth, Antoinette de Jong: Poppy – Trails of Afghan Heroin. Hatje Cantz, 2012, ISBN 978-3-7757-3337-3. Hamish Warburton, Paul J. Turnbull, Mike Hough: Occasional and controlled heroin use: Not a problem? Joseph Rowntree Foundation, York 2005, ISBN 1-85935-424-6. Hörspiele Heroin, WDR-Hörspiel über die Entwicklung und Vermarktung von Heroin, 2013 Weblinks Hubert Ostendorf: Geschichte eines „Hustensaftes“: 100 Jahre Heroin von BAYER. In: STICHWORT BAYER. 01/1998 Werbe-Motive von BAYER aus dem Jahr 1912 aufgetaucht. Werbung für Heroin Weblinks zum Thema Heroinabgabe und Methadonprogramme Unbequeme Sensation – Kontrollierte Herointherapie wirkungsvoller als Methadonersatz. Deutschlandradio, 23. Juni 2006 Verordnung über die ärztliche Verschreibung von Heroin vom 8. März 1999 (Stand am 1. Januar 2010). (PDF; 155 kB) Schweizer Rechtslage Einzelnachweise Arzneistoff Opioid Essigsäureester Cumaran Piperidin Cyclohexen Halbsynthetische psychotrope Substanz Betäubungsmittel (BtMG Anlage I) Betäubungsmittel (BtMG Anlage II) Betäubungsmittel (BtMG Anlage III) Psychotroper Wirkstoff Psychotropes Opioid
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Hainbuche
Die (Gemeine) Hainbuche (Carpinus betulus), auch Weißbuche, Hagebuche oder Hornbaum () genannt, gehört zur Gattung der Hainbuchen (Carpinus) aus der Familie der Birkengewächse (Betulaceae). Sie wächst als mittelgroßer, laubabwerfender Baum oder Strauch in Europa und Westasien. Entgegen dem, was ihre deutschsprachigen Namen suggerieren, ist sie nicht näher mit der (einzigen in Mitteleuropa vertretenen Buchenart) Rotbuche (Fagus sylvatica) verwandt. Diese gehört vielmehr zur Gattung der Buchen (Fagus) innerhalb der Familie der Buchengewächse (Fagaceae). Hainbuche und Rotbuche gehören lediglich derselben Ordnung (Buchenartige (Fagales)) an. Name Die Namen Hainbuche wie auch Hagebuche leiten sich vom althochdeutschen Haganbuoche ab, wobei hag Einzäunung, Hecke bedeutet und sich auf die Schnittfähigkeit der Pflanze bezieht. Ersterer, jüngerer Name steht ab dem Mittelalter zu Hain kleiner Wald als Wortbildung zu Hag, da Hainbuchen klimatolerant sind und auch auf dem freien Feld gut gedeihen und daher Haine bilden können. Der zweite Namensteil Buche rührt von der äußerlichen Ähnlichkeit mit der Rotbuche (Größe, Form und Nervenmuster der Blätter, glatte Rinde) her; in anderen Merkmalen (Habitus, Früchte) sind Hainbuchen und Buchen jedoch völlig verschieden. Von Hagebuche kommt das Adjektiv hanebüchen für derb, grob (hartes, zähes Holz). Der Name Weißbuche beruht auf der im Gegensatz zur Rotbuche hellen Holzfarbe der Hainbuche. Merkmale Die Hainbuche ist ein sommergrüner Laubbaum, der Wuchshöhen bis 25 Meter und Stammdurchmesser bis einen Meter erreicht. Im Kaukasus wird der Baum bis 35 Meter hoch. Das Höchstalter beträgt etwa 150 Jahre. Die Stämme bilden in geschlossenen Beständen acht bis zehn Meter, im Extremfall auch bis 18 Meter lange Schäfte. Der Stamm hat meist einen unregelmäßigen Querschnitt (spannrückig). Häufig ist der Stamm krumm. Die Äste sind bei jungen Bäumen senkrecht orientiert und biegen im Alter in die Horizontale um. Die Kronen sind dicht und setzen sich aus weit ausladenden Ästen der unteren Bereiche und senkrecht orientierten Ästen der oberen Bereiche zusammen. Freistehende Bäume bilden mächtige, breit-ovale Kronen. Knospen, Blätter, junge Triebe Die Winterknospen sind spindelförmig und 5–8 Millimeter lang. Die Seitenknospen liegen dem Zweig eng an, wobei deren Knospenspitzen dem Zweig oft zugekehrt sind. Die Knospenschuppen sind braun bis rotbraun und am Rand bewimpert. Die Blütenknospen sind etwas größer und weniger spitz als die vegetativen Knospen. Die wechselständigen dunkelgrünen Blätter sind 4–10 Zentimeter lang, zwei bis fünf Zentimeter breit, eiförmig und am Ende zugespitzt, die Basis ist spitz bis gerundet, auch gestutzt, manchmal schief oder herzförmig. Der Blattrand ist doppelt gesägt. Es gibt 10 bis 15 parallel stehende, ausgeprägte Blattadern-Paare, die Blätter wirken dadurch wie gefaltet. Die Unterseite der Blätter ist anfangs behaart (zumindest in den Winkeln der Blattadern), später jedoch kahl. Die Herbstfärbung ist leuchtend gelb, die Blätter haften teilweise in verwelkten Zustand bis zum Frühjahr an den Zweigen (Marzeszenz). Die jungen Triebe sind glänzend braun (bis grünlich braun) und schwach behaart. Später werden sie bräunlich-grau und kahl. Sie besitzen zahlreiche weiße, elliptische Lentizellen. Blüten und Früchte Hainbuchen sind monözisch, d. h., sie besitzen männliche und weibliche Blüten, die jedoch auf einem Individuum vorkommen. Den Blüten fehlen die Kronblätter. Die Blütenstände sind Kätzchen. Blüten werden an den jungen Trieben angelegt, überwintern als Knospe, die Bestäubung erfolgt durch den Wind. Blütezeit ist im April und Mai. Die männlichen Blüten stehen einzeln in den vielblütigen, achselständigen, sitzenden, zylindrischen Kätzchen. Sie erscheinen kurz vor dem Blattaustrieb. Diese sind hängend, vier bis sechs Zentimeter lang und gelbgrün. Eine Blüte besteht aus vier bis zwölf anfangs hellgrünen, später bräunlichen, geteilten Staubblättern mit einem haarspitzigen Staubbeutel pro Ast. Eine Blütenhülle fehlt. Jede Blüte steht in der Achsel eines hellgrünen, bräunlichspitzigen, breiteiförmigen, spitzigen, bewimperten Tragblattes, Vorblätter fehlen. Die weiblichen, haarigen Blüten stehen nebenständig, zu zweit in der Achsel eines eiförmigen, bewimperten, bespitzten, abfallenden Tragblattes und sie haben jeweils zwei Vorblätter und ein Tragblatt (Vorblatt der fehlenden Blüte des Dichasiums), diese sind anfangs feinhaarig. Zusammen bilden sich vielblütige, gestielte, erst aufrechte, dann hängende, anfangs grüne, später hellbraune, zwei bis vier Zentimeter lange Kätzchen, diese stehen endständig. Sie erscheinen erst mit dem Blattaustrieb. Zur Reifezeit (August/September) sind die Fruchtstände bis 17 Zentimeter lang. Der oberständige, zweifächrige Fruchtknoten besitzt zwei fädliche, rote, vorstehende Narben. Die Samenanlagen besitzen zwei Integumente, der Embryosack entwickelt sich nach dem Polygonum-Typ. Die Befruchtung verläuft chalazogam, die Entwicklung des Endosperms nukleär. Die Frucht ist eine kleine, anfangs gelblich-grüne, später bräunliche, längsrippige, abgeflachte, breiteiförmige, einsamige, harte, ca. 6 bis 9 mm lange und 5 bis 6 mm breite Nuss, welche vom beständigen Perianth und Narbenresten gekrönt ist. Die Schale besitzt ein papieriges Tegmen (Innenseite der Samenschale oder Testa). Die Tausendkornmasse beträgt 3 bis 10 Gramm. Die Nuss ist in der Achsel in die dreilappig, spießförmig und flügelartig verwachsenen Vorblätter eingehüllt (Flügelfrucht). Dieses flügelartige Blatt ist drei bis fünf Zentimeter lang und zunächst grün, später zur Fruchtreife vertrocknet es, wird papierartig und hellbraun. Es dient als Flügel bei der Windausbreitung und anfangs der Versorgung der sich entwickelnden Frucht mit Assimilaten. Die Früchte lösen sich erst während der Wintermonate ab und beschreiben dabei eine schraubenförmige Flugbahn (Schraubenflieger; Pterometeorochorie). Chromosomenzahl Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 64. Wurzeln und Mykorrhizen Hainbuchen bilden in tiefgründigen Böden tiefreichende Herzwurzeln aus. In feuchten Böden konzentrieren sich die Wurzeln in den obersten 35 Zentimetern, weshalb die Bäume solcher Standorte anfällig gegen Windwurf sind. Die Art geht mehrere Formen von Ektomykorrhiza-Symbiosen ein, bevorzugt aber keinen spezifischen Partner. Als Symbionten sind rund 25 Arten von Ständerpilzen bekannt, aber nur wenige Schlauchpilze und Deuteromyceten. Holz und Rinde Das Holz der Hainbuche ist weiß bis gräulich-weiß, was ihr den Namen Weißbuche im Gegensatz zum rötlichen Holz der Rotbuche einbrachte. Es gibt keine Farbunterschiede zwischen Splint- und Kernholz. Das Holz ist gleichmäßig aufgebaut, Jahresringe sind nur schwer erkennbar. Das Holz der Hainbuche ist sehr hart und schwer, es ist härter als das der Buche und der Eiche (Härte nach Brinell 36). Diese Eigenschaft hat der Hainbuche – wie einigen anderen Baumarten – den Namen Eisenbaum eingebracht. Die Rohdichte beträgt im Mittel 0,82 g/cm³. Das Holz hat im Mittel folgende Zusammensetzung: 18 bis 28 % Lignin, 43 bis 49 % Zellulose, 19 bis 27 % Pentosane. Die Rinde ist grau, dünn und glatt. Sie kann bei alten Bäumen in Längsrichtung aufreißen. Auch innerhalb der Rinde bilden sich ca. 0,12 Millimeter breite Jahresringe. Vorkommen Obwohl die Gattung Carpinus fossil bereits aus dem Tertiär bekannt ist, lässt sich die Hainbuche erst in Sedimenten aus dem Quartär nachweisen. Die eiszeitlichen Refugien der Hainbuche lagen in Südeuropa und im Kaukasus. Ab ca. 7000 v. Chr. wanderte sie nach Mitteleuropa ein. 5000 bis 4000 v. Chr. war sie bereits weit verbreitet. Etwa 2000 v. Chr. hatte sie ihre heutige Ausdehnung erreicht. Areal Das Areal der Hainbuche umschließt Mitteleuropa, Nordanatolien, den Kaukasus und das Elbursgebirge. Die Nordgrenze in Europa verläuft von Südwestengland über Nordbelgien nach Norddänemark, wo die Hainbuche bei 57° 30' nördlicher Breite ihren nördlichsten Punkt erreicht. Weiter führt die Grenze über Südschweden durch Lettland, Litauen, Belarus und durch die Ukraine, wo sie den Dnepr nur geringfügig in östlicher Richtung überschreitet. In den Steppenregionen, die nordwestlich ans Schwarze Meer angrenzen, also in der Südukraine und in der Dobrudscha, fehlt die Hainbuche ebenso wie auf der Krim. Sie kommt im gesamten Kaukasus und in Küstennähe des Kaspischen Meeres auch im Elbrusgebirge vor. Südlich der Pyrenäen, auf Korsika, Sardinien und Sizilien kommt die Hainbuche nicht vor, wohl aber auf der Apennin- und der Balkanhalbinsel. Auch in Anatolien kommt sie nur in einem schmalen Streifen entlang der Küste des Schwarzen Meeres vor. Nahe ihrer Nordgrenze wächst die Hainbuche in Meereshöhe, in den Gebirgen steigt sie in folgende Höhen: Mitteleuropa: 700 bis 1000 m Seealpen: 1300 m Kaukasus: 2000 m Elbrus-Gebirge: 2300 m Standorte Die Hainbuche ist im subozeanischen Klima verbreitet. Sie verträgt warme Sommer, an ihrer östlichen und nördlichen Verbreitungsgrenze erträgt sie Temperaturen bis −30 °C. Im Süden des Areals wächst sie bevorzugt in feuchten, schattigen Tallagen bzw. in regenreichen Gebieten wie Nordanatolien, Kolchis und an den Nordhängen von Kaukasus und Elbrus. Im Norden des Areals ist die Hainbuche relativ wärmebedürftig und meidet exponierte Lagen. Optimale Wuchsleistungen erbringt die Hainbuche auf nährstoffreichen, mesotrophen bis eutrophen Böden, die frisch bis periodisch nass sind. In Mitteleuropa wächst sie meist auf Braunerde und Pseudogley, die aus diluvialen Ton- bzw. Ton-Sand-Ablagerungen hervorgegangen sind. In Südeuropa und in den Gebirgen wächst sie auf Rendzinen, in Südost-Europa auf Lößböden. Nach Heinz Ellenberg hat die Hainbuche folgende Zeigerwerte: Halbschatten bis Schattenpflanze, Mäßigwärme- bis Wärmezeiger, subozeanisch, mit Schwergewicht in Mitteleuropa, nach Osten ausgreifend. Bezüglich Feuchte, Reaktionszahl und Stickstoff ist die Art indifferent. Die Hainbuche ist die Charakterart des Verbands der Eichen-Hainbuchen-Wälder (Carpinion betuli), kommt aber auch in Gebüschen der Ordnung Prunetalia vor. Aufgrund ihrer sehr hohen Trockenheitstoleranz, die auch auf das kräftige und tiefreichende Wurzelsystem zurückzuführen ist, gilt die Hainbuche als sturmfest und eignet sich auch für ungünstige, temporär schlecht mit Wasser versorgte Standorte auch im städtischen Bereich. Sie kommt damit vor dem Hintergrund des Klimawandels als Baum in Betracht, der künftig eine höhere Bedeutung erlangen kann. Systematik Innerhalb der Gattung Carpinus gehört die Hainbuche zur Sektion Carpinus. Schon 1753 wurde sie von Carl von Linné unter dem heute noch gültigen Namen Carpinus betulus beschrieben. Es können mehrere Varietäten unterschieden werden, die vor allem im Gartenbau Verwendung finden: Carpinus betulus var. angustifolia mit länglichen Blättern und konischen, stark gerippten Früchten, aus der Ukraine. Carpinus betulus var. carpinizza (Syn.: Carpinus betulus subsp. carpinizza ) mit kleinen, am Grunde herzförmigen Blättern mit sieben bis neun Adernpaaren, aus Rumänien. Carpinus betulus var. parva mit kleinen, stark behaarten Blättern und aufgetriebenen Früchten, aus der Ukraine. Des Weiteren sind auch mehrere Zierformen entstanden: 'Columnaris' – anfangs mit säulenförmiger Krone, später eiförmig bis fast rund, dicht verzweigt, langsamwüchsig. 'Fastigiata' – raschwüchsig, mit regelmäßiger Krone, anfangs säulenförmig, im Alter breit eiförmig. 'Fastigiata Monument' – kompakt und säulenförmig wachsend, sehr langsamwüchsig. 'Frans Fontaine' – säulen- bis eiförmige Krone, langsam wachsend und im Alter schmal bleibend. 'Incisa' – mit schmalen, tief gelappten Blättern. 'Quercifolia' – mit schmalen, rund gelappten Blättern. 'Variegata' – mit gelb gefleckten Blättern. Krankheiten und Fraßfeinde Es sind mehr als 200 Pilzarten bekannt, die die Hainbuche befallen können, darunter etliche Mehltau- und Rostpilze. So wird die Hainbuche vom Rostpilz Melampsoridium carpini mit Uredien und Telien befallen. Die Echten Mehltaue Phyllactinia guttata, Erysiphe arcuata und Erysiphe carpinicola besiedeln die Blätter. Taphrina carpini erzeugt große Hexenbesen an Hainbuchen. Von den holzzerstörenden Pilzen sind besonders die Weißfäule-Erreger wichtig, unter denen es jedoch keine Hainbuchen-spezifischen Arten gibt. Unter den über 70 Insekten- und Milbenarten, die die Hainbuche befallen, sind nur wenige auf die Hainbuche spezialisiert, zum Beispiel die Schildlaus Parthenolecanium rufulum Cockerell und der Borkenkäfer Scolytus carpini Ratz. Junge Pflanzen können durch Rothirsch und Reh verbissen werden, Sämlinge und Früchte werden von verschiedenen Nagetieren gefressen. Nutzung Die wirtschaftliche Bedeutung der Hainbuche ist heute eher gering. Das Holz wird wegen seiner Dichte und Härte zur Herstellung von Parkett und bestimmten Werkzeugen, zum Beispiel Hobelsohlen, für Werkzeughefte und Hackblöcke verwendet. Im Klavierbau verwendet man das Holz z. B. für die Hammerstiele und Hebeglieder. Die früheren Einsatzbereiche waren weit umfangreicher: Webstühle, Zahnräder, Zollstöcke, Schuhleisten, Stellmacherei, landwirtschaftliche Geräte und vieles mehr. Die Hainbuche liefert hervorragendes Brennholz, welches sich jedoch in getrocknetem Zustand nur außerordentlich schwer spalten lässt; frisch geschlagenes Hainbuchenholz ist gut spaltbar. In dieser Anwendung lag früher die Hauptnutzung der Hainbuchen. In Mitteleuropa wurde die Hainbuche durch den Menschen früher indirekt stark gefördert, da sie in den der Brennholzgewinnung dienenden Niederwäldern durch ihr hohes Stockausschlag­vermögen gegenüber der Rotbuche einen eindeutigen Konkurrenzvorteil hatte. Das Holz hat einen sehr hohen Brennwert von etwa 2.300 kWh/RM und damit sogar geringfügig mehr als Rotbuchenholz (2.100 kWh/RM). Bereits in römischer Zeit, aber auch noch im Dreißigjährigen Krieg, wurden Wehrhecken (Landwehren) in Mitteleuropa zu einem großen Teil aus Hainbuchen angepflanzt. Die Hagebüsche wurden mit Äxten angehauen und umgeknickt. So wuchsen sie – zusammen mit Brombeeren, Heckenrosen und anderen Dornensträuchern – zu undurchdringlichen Gebilden, die Knickicht, Wehrholz, Landheeg oder Gebück genannt wurden. Im 11. Jahrhundert etwa legte Kurmainz eine Landwehr, das Rheingauer Gebück, an, das den ganzen Rheingau zwischen Nieder-Walluf und Lorchhausen gegen den Taunus hin abgrenzte. Die Landwehr war 50 bis 100 Schritt breit und nur an wenigen Stellen mit Durchlässen versehen. Für die Instandhaltung sorgte ein eigenes Haingericht. Viele Ortsnamen mit den Endungen -hagen und -hain weisen auf solche Landwehren hin. In Gärten werden Hainbuchen wegen ihres guten Ausschlagvermögens und ihrer dichten Belaubung gern als geschnittene Hecke gepflanzt. Auch als Alleebäume werden sie verwendet, hierfür gibt es schmalkronige Sorten. Hainbuchen wurden früher oft regelmäßig geschneitelt, um Futter für das Vieh zu gewinnen. Es entstanden dadurch bizarre, knorrige und oft hohle Baumgestalten, die man in manchen Wäldern heute noch vorfindet. Als Heilpflanze wird die Hainbuche in der traditionellen Medizin nach Hildegard von Bingen gegen weiße Hautflecken (Vitiligo) eingesetzt. Hierbei werden die erwärmten Hainbuchenspäne auf die betroffenen Hautstellen gedrückt. In der Bach-Blütentherapie wird sie als Hornbeam, englische Bezeichnung für die Hainbuche, gegen Übermüdung und Erschöpfung eingesetzt. Die Hainbuche war Baum des Jahres im Jahr 2007 in Österreich. und 1996 in Deutschland. Weitere Trivialnamen Für die Hainbuche bestehen bzw. bestanden daneben auch weitere regionale Trivialnamen: Haanböke (Unterweser, Holstein), Haböke (Holstein), Häneböke (Göttingen), Hagabuache (St. Gallen), Hagbeik (Pommern), Hagböhk (Mecklenburg), Hageböke (Holstein), Hainbuche (Österreich, Ostpreußen), Haineböcke (Göttingen), Hambuche (Elsass, Schlesien), Haonbôk oder Heimbök (Altmark), Hoanbuchen (Salzburg), Hohnbach oder Hombeach (Siebenbürgen), Hornbuche (Schlesien), Hoster (Mecklenburg), Rauchbuche (im Sinne von „raublättrige“; Hohenlohe), Steinbuche (Bayern um Eichstätt, Kärnten laut Frisch), Steinriglholz (im Sinne von „Felshügelholz“, rigl = „ragend“; Wien), Weißbuche (Österreich, Schlesien), Welgebaum, Wieglbaum oder Wielholzbaum (ohne Ort), Wittboike (Altmark, Göttingen, Weser). Im Althochdeutschen hieß sie Hageboche, Hagenbocha, Hagenbucha, Hagenpuocha, Hagenpuoche, Haginbuocha oder Heginbouch, im Mittelhochdeutschen Hagbuche, Hagbuoch, Hagebouche, Hagebuche, Hagebuocha, Hagenbucha, Hagenbuocha, Hagenbutzbaum, Hagenpuch, Hainbuache, Hanbuoche oder Leimpaum. Hildegard von Bingen verwendet in ihren Subtilitatum diversarum creaturarum libri 9 (um 1160) den Namen Hainbucha. Später finden sich in der medizinischen und botanischen Literatur: Hanbuchen (Hieronymus Bock, Kreuterbuch, Straßburg 1580), Bucheschern (Adam Lonitzer, Kreuterbuch, Frankfurt am Main 1587), Spindelbaum (Jacobus Tabernaemontanus, Neu Kreuterbuch, Frankfurt am Main 1588), Buchäsche (Johann Leonhard Frisch, Teutsch-lateinisches Wörterbuch, Berlin 1741), Hornbaum (Otto von Münchhausen, Verzeichniss aller Bäume und Stauden in Deutschland, in: Hausvater, Hannover 1770) sowie Jochbaum (Johann Matthäus Bechstein, Forstbotanik, Erfurt 1810). Der Botaniker und Arzt Johann Gottlieb Gleditsch des 18. Jahrhunderts verwendet in seinen zahlreichen Schriften die Namen Flegelholz, Hartbaum, Hartholz, Hanbuche, Hekebuche, Rollholz, Tragebuche, Zaunbuche und Zwergbuche. Literatur Horst Bartels: Gehölzkunde: Einführung in die Dendrologie. UTB Eugen Ulmer, Stuttgart 1993, ISBN 3-8252-1720-5. Adam Boratyński: Carpinus betulus. In: P. Schütt u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie der Laubbäume. Nikol, Hamburg 2006, ISBN 3-937872-39-6, S. 165–176. Doris Laudert: Mythos Baum. Geschichte, Brauchtum. 40 Porträts. blv, München 2004, ISBN 3-405-16640-3, S. 129–131. Peter Kiermeier: Handbuch Wildgehölze. Verlag Grün ist Leben, Pinneberg 2000, ISBN 3-934480-09-8, S. 30–31. Heinrich Rubner: Die Hainbuche in Mittel- und Westeuropa. Untersuchungen über ihre ursprünglichen Standorte und ihre Förderung durch die Mittelwaldwirtschaft. (= Forschungen zur deutschen Landeskunde. Band 121). Bundesanstalt für Landeskunde und Raumforschung, Bad Godesberg 1960. Marilena Idžojtić: Dendrology. Academic Press, 2019, ISBN 978-0-444-64175-5, S. 122. Weblinks Fotos und Infos zur Hainbuche bei baumkunde.de. Thomas Meyer: Datenblatt mit Bestimmungsschlüssel und Fotos bei Flora-de: Flora von Deutschland (alter Name der Webseite: Blumen in Schwaben). Einzelnachweise Hainbuchen Baum des Jahres (Deutschland) Baum des Jahres (Österreich) Baum
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hypsobarometer
Hypsobarometer
Ein Hypsobarometer oder auch Siedebarometer ist ein Instrument zur Höhenmessung, das sich die Abhängigkeit des Siedepunktes einer Flüssigkeit vom Luftdruck zunutze macht, welches in der Zeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert auf Expeditionen zur Höhenbestimmung verwendet wurde. Gabriel Daniel Fahrenheit beschrieb es 1724 in Abhandlungen über Thermometrie für die Philosophical Transactions der Royal Society in London. Unabhängig davon wurde dieser Zusammenhang auch von Robert Boyle entdeckt. Funktionsweise Die Siedetemperatur einer Flüssigkeit ist abhängig vom Luftdruck. Bildlich gesprochen erschwert ein höherer Luftdruck den Übergang eines Teilchens aus der flüssigen in die gasförmige Phase, d. h. bei höherem Druck siedet die Flüssigkeit bei höheren Temperaturen, bei niedrigerem Druck dementsprechend bei niedrigeren Temperaturen. Die Temperatur am Siedepunkt wird auf dem Hypsobarometer abgelesen und daraus der Luftdruck berechnet. Bei bekanntem Bodendruck kann aus der Siedetemperatur die Meereshöhe bestimmt werden. Bei Normaldruck siedet Wasser auf Meereshöhe bei 100 °C. Der Gleichgewichtszustand zwischen flüssigem und gasförmigem Wasser wird mit guter Näherung mit der Clausius-Clapeyron-Gleichung beschrieben. Begrenzt wird dieses Messprinzip durch die geringe Abnahme der Temperatur des Siedepunktes pro hPa um nur 0,049 K. D.h. die Skala der Temperaturablesung muss sehr hochauflösend sein (0,01 °C bis 0,02 °C). Allerdings ist ein Bereich von 95–105 °C ausreichend. Nachweise Siehe auch Altimeter Meteorologisches Messgerät Dimensionales Messgerät
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https://de.wikipedia.org/wiki/Holland
Holland
Holland ist ein Teil der Niederlande. Man kann den Ausdruck auf die beiden (von 12) Provinzen Noord-Holland und Zuid-Holland beziehen, oder aber auf ein größeres Gebiet, das mehr der historischen Grafschaft Holland entspricht. Außerdem verwenden viele Menschen außerhalb der Niederlande Holland als Synekdoche für die gesamten Niederlande. Im Westen wird das Gebiet von der Nordsee, im Osten durch das IJsselmeer und die Provinzen Utrecht und Gelderland sowie im Süden von den Provinzen Noord-Brabant und Zeeland begrenzt. Holland, das lange als Grafschaft Holland auch eine politische Einheit war, ist seit 1840 auf die Provinzen Noord-Holland und Zuid-Holland verteilt. Die nördliche Grenze liegt bei Den Helder und der Insel Texel, die südliche im Delta von Rhein, Maas und Schelde. In Holland liegen unter anderem die Großstädte Den Haag, Rotterdam und Amsterdam, die Teil des Ballungsraumes Randstad sind. Im Westen, an der Nordsee, befinden sich entlang der Küste überwiegend Dünen, landeinwärts sind flache Polder vorzufinden. Der Großteil Hollands liegt unterhalb des Meeresspiegels. Der Name Holland wurde erstmals 866 als Holtland („Holzland“ oder „Waldland“) für die Gegend um Haarlem erwähnt. In vielen Sprachen sagt man, zumindest umgangssprachlich, „Holland“ anstatt des korrekten Staatsnamens Niederlande (pars pro toto). Das liegt an der großen Bedeutung Hollands in den unabhängigen Niederlanden, die in der Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden sind. Vor der Teilung Hollands in zwei Provinzen lebten etwa 29 Prozent der Niederländer in Holland. Heutzutage leben in Nord-Holland und Süd-Holland zusammen etwa 6,2 Millionen Menschen bei einer Gesamtbevölkerungszahl von ca. 17 Millionen (etwa 36 Prozent). Die städtischen Gebiete der beiden Provinzen sowie der Provinz Utrecht und die Stadt Almere (Flevoland) nennt man zusammen die Randstad. Niederländer nennen ihr eigenes Land durchgehend Nederland; allenfalls in fremden Sprachen weichen sie auf das bekanntere Holland aus. Im Niederländischen verweist man nicht so sehr auf Holland, sondern auf die Randstad oder eventuell den Westen des Landes. Hollands (Sprache) oder Hollanders (Bewohner) wird durchaus von den Bewohnern der übrigen Landesteile verwendet, um sich vom Westen abzugrenzen. Das gilt besonders für Friesen und Limburger. Holland oder das Eigenschaftswort Hollands kann sich ferner auf etwas beziehen, das man als urtümlich und traditionell empfindet; dann kann es auch zur Abgrenzung gegenüber Einwanderergruppen verwendet werden. Im Jahr 2020 hat die niederländische Regierung in Absprache mit der Tourismus-Branche entschieden, dass man Holland nicht mehr als Synonym für die Niederlande verwenden will. Bis dahin hatte zum Beispiel das staatliche niederländische Amt für Tourismus noch selbst stets Holland verwendet. Geschichte Das Gebiet war für einige Jahre unter Augustus als Germania magna Bestandteil des Römischen Reiches. Nach Jahrhunderten der Unabhängigkeit der Friesen wurde es dann Teil des Frankenreiches und des nachfolgenden Heiligen Römischen Reiches. 1384 kam es unter französischen Einfluss (Burgundische Niederlande). 1430 kam die Grafschaft Holland durch Erbschaft endgültig an das Haus Valois-Burgund und nach dem Tod des letzten Burgunderherzogs Karls des Kühnen 1477 an das Haus Habsburg, später an die spanische Linie der Habsburger (Spanische Niederlande). In der deutschen Umgangssprache wird der Begriff „Holland“ oft pars pro toto für die „Niederlande“ verwendet. Dieser Sprachgebrauch setzte mit Beginn des 17. Jahrhunderts ein, als die Grafschaft Holland zur einflussreichsten und handelsmächtigen Provinz der Republik der Vereinigten Niederlande aufstieg. Hiermit trat eine Veränderung im internationalen Sprachgebrauch ein, denn bis Ende des 16. Jahrhunderts war das Land bei Handelspartnern im Ausland mehr unter der Bezeichnung „Flandern“ bekannt. Die Provinzen Flandern und Brabant waren dem Ausland eher ein Begriff, da sie bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert die aktivsten der siebzehn Provinzen im internationalen Handel waren. Ab 1581 war die Grafschaft Holland führende Provinz der Vereinigten Niederlande. Ab 1795 waren die Provinzen nur noch Verwaltungseinheiten der zentralistischen Batavischen Republik. Zeitweise erhielten sie auch andere Namen. Während der napoleonischen Zeit gab es das Königreich Holland (1806–1810), das fast die ganzen heutigen Niederlande umfasste. Um die Dominanz Hollands zu verringern, welches der kulturelle, politische und gesellschaftliche Hauptteil des Landes war, wurde es 1840 in die heutigen beiden Provinzen Noord-Holland und Zuid-Holland geteilt. Siehe auch Liste der Grafen von Holland Liste der Landesadvokaten und Ratspensionäre Liste der Statthalter in den Niederlanden Weblinks Die offizielle Internetseite des Niederländischen Büro für Tourismus Einzelnachweise Historische Landschaft oder Region in Europa
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Hundertjähriger Krieg
Als Hundertjähriger Krieg (, ) wird die Zeit von 1337 bis 1453, bezogen auf den zu dieser Zeit herrschenden bewaffneten anglofranzösischen Konflikt sowie den ebenfalls zu der Zeit stattfindenden französischen Bürgerkrieg der Armagnacs und Bourguignons (1410 bis 1419) bezeichnet. Hintergrund der andauernden Kämpfe bildeten ein lehensrechtlicher Streit um die Besitzungen und die Rolle der englischen Könige als Herzöge von Aquitanien im Königreich Frankreich, der sich daran anschließende Streit um die Thronfolge in Frankreich zwischen dem englischen König Edward III. (Haus Plantagenet) und dem französischen König Philippe VI. (Haus Valois) sowie ein innerfranzösischer Konflikt um Macht und Einfluss zwischen den Parteien der Armagnacs und der Bourguignons. Letzten Endes waren es die Valois, die siegreich aus der langjährigen Auseinandersetzung hervorgingen. Der Hundertjährige Krieg trug entscheidend zur endgültigen Herausbildung eines eigenen Nationalbewusstseins sowohl bei den Franzosen als auch bei Engländern bei, wie auch zu einer abschließenden Aufspaltung von Frankreich und England in zwei separate Staatswesen. Außerdem wurden viele technische Neuerungen der Kriegführung eingeführt, zum Beispiel schwere Artillerie in der Schlacht von Castillon (1453), die die erste europäische Feldschlacht war, die mit Schießpulver entschieden wurde. Begriffsgeschichte Der Begriff „Hundertjähriger Krieg“ wurde von Historikern rückblickend eingeführt und bezeichnet traditionell die Zeit von 1337 bis 1453, in der englische Könige versuchten, ihre Ansprüche auf den französischen Thron mit Waffengewalt durchzusetzen. Dennoch bestand dieser Konflikt aus mehreren Phasen und einzelnen Kriegen, die erst später als ein einziger Komplex gesehen wurden. Bereits zeitgenössische französische Chronisten datierten die Kriege jener Zeit zurück bis ins Jahr 1328 und deuteten somit die größeren Zusammenhänge an. So schrieb zum Beispiel Eustache Deschamps um das Jahr 1389 in einem Gedicht von damaligen Kämpfen, die seit cinquante-deux ans (52 Jahren) andauerten. Auch im 16. Jahrhundert erkannte man einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Kampfhandlungen. So bemerkte Jacques de Meyer in seinen Commentaria sive Annales Rerum Flandicarum, dass der Krieg zwischen England und Frankreich mit seinen Intervallen über hundert Jahre dauerte. Doch erst Jean de Montreuil ging in seinem 1643 erschienenen Buch Histoire de France explizit von einem einzigen Krieg aus, der von 1337 bis 1497 gedauert habe. Darin folgten ihm später auch britische Historiker wie David Hume in seiner History of England (1762) und Henry Hallam in seinem View of the State of Europe During the Middle Ages (1818), auch wenn sie bezüglich der Dauer des Konfliktes voneinander abwichen. In Frankreich machte Professor François Guizot diese Herangehensweise ab 1828 bekannt, wiewohl der konkrete Begriff „guerre de cent ans“ bereits einige Jahre älter war. Zum ersten Mal verwendete ihn C. Desmichels im Jahre 1823 in seinem Tableau chronologique de l’Histoire du Moyen Age. Das erste Buch, das diesen Begriff als Titel trug, wurde 1852 von Théodore Bachelet herausgegeben. Kurz darauf machte der Historiker Henri Martin den Begriff und ein umfassendes Konzept dazu in seiner populären Histoire de France (1855) bekannt. Begriff und Konzept setzten sich in Frankreich schnell durch. Bereits 1864 verwendete ihn Henri Wallon und später auch François Guizot selbst in seiner Histoire de France (1873). Im englischsprachigen Raum setzte sich Edward Freeman seit 1869 für eine Übernahme des französischen Begriffs ein. John Richard Green folgte diesem Rat in seiner Short History of the English People (1874), und in den folgenden Jahren erschienen in Großbritannien zahlreiche Monographien unter diesem Titel. Die Encyclopædia Britannica verzeichnete ihn erstmals in ihrer Ausgabe von 1879. Im 20. Jahrhundert wurde der Begriff mehrfach kritisiert. Man wies darauf hin, dass er lediglich die dynastischen Aspekte und eine bestimmte Phase der englisch-französischen Beziehungen hervorhebe, die sich nicht wesentlich von der vorangegangenen Entwicklung seit der normannischen Eroberung Englands (1066) unterscheide. Andere Historiker vertraten die Ansicht, dass die verschiedenen Phasen und Kriege des Konfliktes zu unterschiedlich seien, als dass sie zusammengefasst werden könnten. Auch stelle es einen Kritikpunkt dar und sei ziemlich willkürlich, wenn das Kriegsende auf 1453 festgelegt werde. Dem Fall von Bordeaux folgte in der Tat kein Friedensschluss und auch danach kam es 1474, 1488 und 1492 zu englischen Invasionen, die in der Tradition des vorangegangenen Konfliktes lagen. Weiterhin hielt die englische Krone die Stadt Calais bis zum Jahr 1558, während sie ihre Ansprüche auf den französischen Thron bis zum Jahr 1802 behauptete. So unterschiedlich die Kritik ausfiel, so unterschiedlich sehen bis heute die verschiedenen Konzepte aus, die daraus resultierten. Gemeinsam ist ihnen lediglich eine allgemeine Abkehr von der nationalen Herangehensweise des 19. Jahrhunderts. Wie der Historiker Kenneth Fowler betonte, betrachtet man die Geschichte des Krieges inzwischen als anglo-französisch statt englisch und französisch. Dies sei notwendig, weil es ein „England“ oder „Frankreich“ in unserem heutigen Verständnis vor 1337 nicht gab und die beiden vorstaatlichen Gebilde eng ineinander verwoben waren. Ihre Loslösung voneinander ergab sich erst im Laufe des Konfliktes selbst. Hintergrund und Vorgeschichte Das anglo-französische Verhältnis 1066 hatte der normannische Herzog Wilhelm I. England erobert und sich dort zum König ausgerufen. In der Folge stellten die mit ihm in das Land gekommenen Adeligen die neue Aristokratie Englands. Sie blieben der französischen Herkunft noch lange kulturell und in ihrem Selbstverständnis eng verbunden, die englische Sprache setzte sich beispielsweise erst ab etwa 1250 nach und nach in der herrschenden Schicht durch. Zudem verfügte die englische Aristokratie bis zu Beginn des 13. Jahrhunderts oftmals noch über teilweise beträchtlichen Grundbesitz in Frankreich. Politisch nahmen die englischen Könige eine Doppelrolle ein. Während sie einerseits England als souveränes Königreich beherrschten und damit dem französischen König gleichgestellt waren, blieben sie zugleich Herzöge und Grafen in Frankreich und waren in dieser Rolle dem französischen König lehensrechtlich untergeordnet. Auf dem Höhepunkt ihrer territorialen Ausdehnung (1173) beherrschte das sogenannte Angevinische Reich neben dem Königreich England die französischen Herzogtümer Normandie, Aquitanien, Gascogne und Bretagne sowie die Grafschaften Anjou, Maine und Touraine. Der souveräne englische König war damit zugleich größter Grundbesitzer in Frankreich und mit den dortigen Territorien mächtigster Vasall des französischen Königs. Das französische Königsgeschlecht der Kapetinger war stets bemüht, die Rolle der anglo-französischen Vasallen zu schwächen. In einer Vielzahl von teils diplomatischen, teils bewaffneten Konflikten gelang es ihm nach und nach, den ungeliebten Vasallen zurückzudrängen. Um die Wende zum 13. Jahrhundert kam es zum Krieg zwischen dem französischen König Philipp II. und seinem englischen Vasallen Johann Ohneland. In der Folge gingen diesem im Jahr 1202 die Grafschaften Touraine und Anjou, 1204 das Herzogtum Normandie sowie 1205 die Grafschaft Maine verloren. Nach einem Streit um die Nachfolge entfernte sich auch die Bretagne 1213 zusehends von England. Alle Versuche des englischen Königshauses, die verlorenen Gebiete zurückzuerobern, scheiterten in den folgenden Jahren (Schlachten von Roche-aux-Moines und Bouvines). 1224 besetzte König Ludwig VIII. den überwiegenden Teil Aquitaniens. Der englische König Heinrich III. erkannte die Verluste schließlich 1259 im Vertrag von Paris an. Die wenigen verbliebenen Gebiete Aquitaniens wurden mit der Gascogne zum neuen Herzogtum Guyenne zusammengefasst. Auch wenn es in den folgenden Jahrzehnten aufgrund der guten persönlichen Beziehungen zwischen Eduard I. und Philipp IV. zunächst zu einer gewissen Beruhigung kam, bestand der grundsätzliche Gegensatz doch fort. Unter Eduard II. auf englischer und Ludwig X., Philipp V. und schließlich Karl IV. auf französischer Seite intensivierten sich die Streitigkeiten ab 1307 erneut. Eine zentrale Frage war hierbei die Huldigung, die der englische König als Herzog der Guyenne seinem Lehnsherrn, dem französischen König, zu leisten hatte und die von ihm als unwürdige Demütigung empfunden wurde. Auch die Zirkulation englischer Münzen mit dem Konterfei des englischen Königs in Frankreich sowie der Streit um gerichtliche Zuständigkeiten belasteten das Verhältnis schwer. Streit um die französische Thronfolge und um Schottland Als 1328 der letzte männliche Kapetinger und französische König Karl IV. starb und keine direkten Nachkommen hinterließ, war die Frage der Erbfolge zunächst ungeklärt. Nach dem geltend gemachten salischen Erbrecht, welches Thronansprüche über weibliche Nachkommen ausschloss, erhob sein Cousin Philipp von Valois als Philipp VI. aus der nächsten Nebenlinie der Kapetinger, dem Haus Valois, Anspruch auf den Thron. Aufgrund seiner Abstammung – seine Mutter Isabella war die Tochter von Philipp IV. – erhob auch König Eduard III. von England Ansprüche auf die Krone. Dieser Anspruch wurde zunächst wieder verworfen, da der erst 15 Jahre alte englische König unter der Vormundschaft seiner Mutter sowie ihres Geliebten Roger Mortimer stand, die beide einen schlechten Ruf in Frankreich genossen. Eduard konnte somit keine nennenswerte Unterstützung unter den französischen Pairs für seine Thronfolge erlangen und blieb als Kandidat aussichtslos. Nachdem Eduard 1330 die Regentschaft seiner Mutter und Mortimers abgeschüttelt hatte und selbstständig regierte, bemühte er sich zunächst um einen diplomatischen Ausgleich mit Frankreich bezüglich der Streitigkeiten in der Gascogne. Unter anderem gab es auch Überlegungen zu einer englischen Beteiligung an einem in den kommenden Jahren geplanten französischen Kreuzzug nach Outremer zur Rückeroberung Jerusalems. Dieser Kurs der Entspannung wurde 1332 aber jäh unterbrochen, als Edward Balliol mit einer privaten Armee in Schottland landete und die Anhänger des minderjährigen Königs David II. in der Schlacht von Dupplin Moor vernichtend schlug. Balliol krönte sich selbst zum schottischen König, Eduard erkannte ihn an und führte in den folgenden vier Jahren mehrere bewaffnete Expeditionen mit wechselndem Erfolg in das widerspenstige Schottland, um die Herrschaft Balliols und eigene Gebietsgewinne dort abzusichern. Der junge David II. konnte mit Hilfe Philipps VI. fliehen und fand Zuflucht in Château Gaillard in Frankreich. Aufgrund der so genannten Auld Alliance, eines militärischen Beistandsabkommens zwischen Frankreich und Schottland, sah sich Philipp VI. in der Pflicht zu intervenieren. Nachdem einige diplomatische Offerten keinen Widerhall bei Eduard gefunden hatten, rüstete Philipp 1336 eine Flotte und Landungstruppen aus, um direkt in Schottland bewaffnet eingreifen zu können. Wegen Geldmangels konnten die hochtrabenden Pläne nicht verwirklicht werden, und so wurden die bereits angemusterten Schiffe ab 1337 stattdessen für sporadische Überfälle auf englische Handelsschiffe und Küstenstädte genutzt. In England setzte sich zu diesem Zeitpunkt die feste Überzeugung durch, dass Frankreich bald eine Invasion Südenglands plane. Eduard verließ Schottland, begann mit dem Aufbau einer englischen Kriegsflotte und schmiedete erste Pläne für eine Invasion Frankreichs. Neben diesen realpolitischen Auseinandersetzungen gewann eine diplomatische Affäre zunehmende Bedeutung. Robert von Artois, ehemals ein enger Berater des französischen Königs, war über die Tatsache, dass er bei der Erbfolge der Grafschaft Artois übergangen worden war, mit Philipp und dem Haus Burgund in Streit geraten. Er wurde in die Emigration gezwungen und gelangte 1334 schließlich zum englischen Hof, wo er Aufnahme fand. Ab 1336, vor dem Hintergrund der zunehmenden Spannungen zwischen Frankreich und England, forderte Philipp die Auslieferung Roberts. Im Dezember schließlich erging ein Befehl an den Seneschall der Gascogne, Robert an den französischen König zu überstellen. Als Eduard, der in dieser Angelegenheit vom französischen König als sein Vasall angesprochen wurde, der Aufforderung nicht nachkam, erging Befehl, seine französischen Güter mit Waffengewalt einzuziehen, wozu am 30. April 1337 der Arrière-ban, also die Mobilisierung Frankreichs zum Krieg ausgerufen wurde. Etwa ein Jahr später, vermutlich im Mai 1338, überbrachte Bischof Henry Burghersh im Auftrag Eduards dem französischen König ein Schreiben, in dem er seinen Anspruch auf den französischen Thron gegenüber Philipp erklärte. Die öffentliche Proklamation Eduards zum „König von Frankreich“ erfolgte erst am 26. Januar 1340. Damit waren die politischen Leitlinien beider Parteien im aufziehenden Krieg umrissen: Der französische König ging nach seinem Verständnis gegen einen unbotmäßigen Vasallen vor, während der englische König proklamierte, lediglich seinen legitimen Anspruch auf den französischen Thron gegen einen unrechtmäßigen Usurpator durchzusetzen. Beide Auffassungen sollten sich im folgenden Hundertjährigen Krieg anscheinend unversöhnlich gegenüberstehen. Erste Phase 1337–1386 Im Januar 1340 ernannte sich Eduard III. selbst zum französischen König und fiel mit seinen Truppen in Frankreich ein, um seinen Thronanspruch durchzusetzen. Eduard war ein Enkel des französischen Königs Philipp IV. Sein Heer war den Franzosen zwar zahlenmäßig unterlegen, dennoch schlug er sie in der Schlacht von Crécy (1346) vernichtend, denn er führte etwa 8000 Langbogenschützen mit sich, die er taktisch geschickt einsetzte, indem er seine Ritter von ihren Pferden absitzen ließ und zwischen die Bogenschützen stellte. Im Jahr darauf konnte Calais nach elfmonatiger Belagerung eingenommen werden. Damit gewannen die Engländer einen strategisch wichtigen Brückenkopf an der Kanalküste. 1355 flammte der Krieg erneut auf, als der älteste Sohn Eduards III., Edward of Woodstock, lange nach seinem Tod der Schwarze Prinz genannt, bei Bordeaux landete. Unter seiner Führung konnten die Engländer im September 1356 in der Schlacht bei Maupertuis in der Nähe von Poitiers ihren zweiten großen Sieg erringen und sogar König Johann II., der 1350 Philipp VI. auf den Thron gefolgt war, gefangen nehmen. 1360 beendete der Friede von Brétigny die erste Phase des Krieges. Eduard III. erklärte seinen Verzicht auf die französischen Thronansprüche gegen ein hohes Lösegeld für Johann und die Abtretung von Guyenne, Gascogne, Poitou und Limousin, die er in voller Souveränität, also ohne Lehnsabhängigkeit von der französischen Krone, in Besitz nehmen wollte. Doch Frankreich wollte die verlorenen Gebiete zurückerlangen. Nachdem es in Kastilien einen Verbündeten auf den Thron gebracht hatte, begannen ab 1369 unter dem französischen König Karl V. die Kriegshandlungen von neuem. In wenigen Jahren eroberten seine Söldner einen großen Teil der verlorengegangenen Gebiete zurück. Sie besiegten 1372 mit Hilfe der Kastilier die englische Flotte bei La Rochelle, eroberten unter Bertrand du Guesclin große Teile der Gascogne zurück und vertrieben die englischen Besatzungen aus der Normandie und der Bretagne. Der frühe Tod des Thronfolgers Edward of Woodstock 1376 und der seines Vaters Eduard III. im darauffolgenden Jahr brachten die englischen Aktionen vorerst zum Erliegen, da der Sohn des Thronfolgers, der 1377 den englischen Thron als Richard II. bestieg, erst zehn Jahre alt war, und einem Regentschaftsrat unterstand. Nachdem Frankreich die meisten besetzten Gebiete zurückerobert hatte, scheiterten letzte Versuche Englands, mit Hilfe von Portugal diese Situation zu drehen. 1386 führte Philipp II. von Burgund, der Onkel des französischen Königs, sogar ein burgundisch-französisches Heer samt einer Flotte von 1.200 Schiffen bei der seeländischen Stadt Schleuse zusammen, um seinerseits eine Invasion Englands zu versuchen, jedoch scheiterte dieses Unterfangen. Für diesen Zweck wurde extra eine hölzerne Stadt mit durchnummerierten Holzteilen und dazugehörigen Scharnieren vorbereitet. Die Stadt sollte dabei eine Stadtmauer von 14 Kilometern Länge erreichen. Jedoch erschien der Bruder Philipps Johann von Berry, mit einer absichtlichen Verspätung, so dass die herbstliche Wetterlage ein Auslaufen der französischen Flotte verhinderte und sich das Invasionsheer darauf hin wieder zerstreute. Letzten Endes wurden damit 1386 die Kampfhandlungen beendet, womit sich beide Seiten eine 28-jährige Pause verschafften; ein offizieller Friedensvertrag wurde jedoch erst 1396 unterzeichnet. Zweite Phase 1415–1435 Nach der Abdankung von König Richard II. im Jahre 1399 folgten in England mit Heinrich IV. (1399–1413) und Heinrich V. (1413–1422) zwei fähige Herrscher aus dem Haus Lancaster – einer jüngeren Linie des Hauses Plantagenet. Nach Konsolidierung der Macht und der Versöhnung zwischen Krone und Parlament rückten die Expansionspläne wieder in das zentrale Interesse Englands. Ihr Ziel waren die reichen Städte Flanderns und die weiten Güter Aquitaniens. Frankreichs durch Karl V. zwischenzeitlich wiedergewonnene Stärke zerrann unter seinem geisteskranken Nachfolger Karl VI. durch den plötzlichen Tod des Dauphins Ludwig und die erbitterten Kämpfe der Hofparteien des Herzogs von Orléans (Armagnacs) und des Herzogs von Burgund (Bourguignons), die um die Kontrolle des Königs rivalisierten. Die Ermordung beider Parteiführer trieb die Burgunder 1414 in ein Bündnis mit England (→ Bürgerkrieg der Armagnacs und Bourguignons). 1413 folgte Heinrich V., Urenkel Eduards III. aus dem Haus Lancaster, seinem Vater als englischer König nach und erneuerte den Anspruch auf den französischen Thron. Er nutzte die innenpolitische Lage in Frankreich aus, belagerte 1415 mit seinen Truppen Harfleur und wollte die Normandie erobern. Als Charles d’Albret mit französischen Truppen nahte, zog sich Heinrich in Richtung Calais zurück, wurde aber nach geschickter Umgehung aufgehalten und zur Schlacht gezwungen. Nach starkem Regen kam es am Morgen des 25. Oktober 1415 zur Schlacht von Azincourt. Die Engländer waren dabei zahlenmäßig unterlegen (nach dem sich hierzu entwickelnden patriotischen britischen Mythos im Verhältnis 1:4, nach neueren Erkenntnissen wohl nur im Verhältnis 2:3), da Heinrich V. bereits einen Großteil seines Heeres bei der Belagerung durch Seuchen verloren hatte. Aber eine schlechte Schlachtaufstellung der französischen Armbrustschützen und der vom Regen aufgeweichte Boden ließen die übermütigen schweren französischen Ritter und die Artillerie im Schlamm stecken bleiben. So wurde der französische Gegenangriff zurückgeschlagen. Die Franzosen gerieten in Unordnung und Panik und wurden schließlich von den englischen Langbogenschützen niedergestreckt. Um genügend Männer für den letzten halbherzigen Angriff versprengter Franzosen bereitzuhaben, ließ Heinrich den Großteil der in der Zwischenzeit gefangenen Franzosen kurzerhand töten. Die Schlacht endete für Frankreich in einer Katastrophe: 5000 Mann des französischen Adels und der Ritterschaft waren gefallen, weitere 1000 gefangen genommen. Die Engländer hatten nur etwa 100 Mann Verluste zu beklagen. Heinrich V. setzte 1417 seinen Eroberungsfeldzug fort, bei dem er weite Teile Nordfrankreichs unter englische Herrschaft brachte. In Paris fielen die Bourguignons ein und übernahmen die Herrschaft über die Stadt. Als König Karl VI. und seine Gattin Isabeau 1418 in die Gewalt der Burgunder gerieten, floh der erst 16 Jahre alte letzte Thronerbe, der spätere Karl VII., aus der Stadt nach Südfrankreich und verbündete sich dort mit den Armagnacs. 1419 ermordeten seine Männer den Herzog von Burgund, was den Konflikt mit Isabeau noch verschärfte. Im Vertrag von Troyes erklärte 1420 Isabeau im Namen Karls VI. schließlich ihren Sohn Karl, den Dauphin, für illegitim und schloss ihn damit von der Thronfolge aus. Als Erbe wurde stattdessen Heinrich V. eingesetzt, der zudem Katharina, die Tochter Karls VI., ehelichte. Heinrich starb aber überraschend im August 1422, Karl VI. knapp zwei Monate später. Die Franzosen erkannten den Vertrag daraufhin nicht mehr an und riefen den Dauphin als Karl VII. zum König von Frankreich aus. Der englische Regent John of Lancaster war bestrebt, die Anerkennung des Vertrages von Troyes im gesamten Königreich für den einjährigen Heinrich VI., den Sohn Heinrichs V. und Enkel Karls VI., durchzusetzen. Die Engländer eroberten Nordfrankreich bis zur Loire-Linie und begannen 1428 mit der Belagerung von Orléans, dem Schlüssel zu Südfrankreich und dem Dauphin in Bourges. In dieser verzweifelten Lage schöpften die Franzosen durch das Auftauchen eines jungen Mädchens wieder neuen Mut – Johanna von Orléans. Von ihren göttlichen Visionen geleitet, überzeugte sie den Dauphin, dass sie die Franzosen zum Sieg führen werde. Ihr Einsatz führte zum Ende der Belagerung von Orléans durch die Engländer und zur Eroberung von Reims, wo die Könige Frankreichs gekrönt wurden. 1429 wurde Karl VII. in Reims zum König von Frankreich gekrönt. Bald darauf wurden, unter dem Einfluss der Friedenspartei am Hofe, Verträge mit Philipp dem Guten von Burgund geschlossen. Diese nutzte Philipp jedoch dazu, Verstärkung nach Paris zu schaffen. Als der Angriff auf Paris letztendlich erfolgte, wurden die Franzosen daher unter schweren Verlusten zurückgeschlagen. Karl und seinen Ratgebern wurde klar, dass die englisch-burgundische Allianz zu stark war und gebrochen werden musste. Karl VII. untersagte Johanna von Orléans jede weitere militärische Aktion, um die fortschreitenden Verhandlungen mit den Burgundern nicht weiter zu gefährden. Johanna zog daraufhin auf eigene Faust gegen die Besatzer. Karl VII. entledigte sich ihrer daraufhin durch Verrat bei Compiègne; sie wurde von den Burgundern gefangen genommen und für stattliche 10.000 Franken an die Engländer verkauft. In dem folgenden Inquisitionsprozess wurde Johanna ein Pakt mit dem Teufel, das Tragen von Männerkleidung und ein kurzer Haarschnitt vorgeworfen. Am Ende wurde sie der Ketzerei für schuldig befunden und am 30. Mai 1431 in Rouen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ihr Märtyrertod stärkte Karl VII. und schüchterte die Burgunder ein. So erreichte schließlich Karl VII. durch die Vermittlung von Papst Eugen IV. und das Konzil von Basel im Vertrag von Arras (1435) eine Verständigung und die Lösung Burgunds von England. Dritte Phase 1436–1453 Doch selbst mit dem Tod von Johanna konnten die Engländer die Niederlage im Hundertjährigen Krieg nicht mehr abwenden. Heinrich VI. wurde zwar noch im selben Jahr in Paris zum französischen König gekrönt, doch hatte dies nicht annähernd die gleiche politische Wirkung wie die Krönung Karls in Reims. Nachdem 1435 der Herzog von Burgund das Bündnis mit England aufgegeben hatte, waren die Franzosen auf dem Vormarsch. Der seit 1436 mündige, aber leicht beeinflussbare Heinrich VI. von England vermochte dem nichts entgegenzusetzen. 1436 bis 1441 erfolgte die Rückeroberung der Île-de-France, trotz des französischen Adelsaufstandes der Praguerie unter einem der wichtigsten französischen Feldherrn und Diplomaten, Jean de Dunois. 1437 zog Karl VII. – der Siegreiche – in die Hauptstadt Paris ein. Darauf folgten französische Vorstöße nach Südwestfrankreich (1442) und in die Normandie (1443), die nach dem Waffenstillstand von 1444 in den Jahren 1449/50 endgültig an Frankreich verloren ging. Die Handlungsunfähigkeit der Engländer resultierte aus der Verbannung und Ermordung des wichtigsten Ratgebers des Königs durch das Parlament, dem Aufstand 1451 und dem 1452 versuchten Staatsstreich des Herzogs von York. 1453 folgte der gesundheitliche Zusammenbruch des Königs. Die um ihren Brückenkopf Calais besorgten Engländer eröffneten eine Gegenoffensive, die aber mit Niederlage und Tod des englischen Heerführers John Talbot bei Castillon endete. Bordeaux wurde 1453 von den Franzosen erobert. Mit diesem Sieg fielen fast alle von den Engländern beherrschten Territorien auf dem Festland an Frankreich zurück, lediglich Calais verblieb bis 1558 in englischem Besitz. Das Ende des Hundertjährigen Krieges hatte eine große Zahl beschäftigungsloser Söldner nach England zurückgeführt, welches in den folgenden 31 Jahren in den Rosenkriegen zwischen den Häusern Lancaster und York versank. Dennoch gaben die englischen Könige ihren Anspruch auf die französische Krone, die sie stets im Titel führten, erst während der Koalitionskriege gegen das revolutionäre Frankreich Anfang des 19. Jahrhunderts auf. Quellen Eine ausführliche Auflistung der Quellen (erzählende und Dokumente, Akten etc.) bietet die Bibliographie bei Jonathan Sumption (The Hundred Years War, Band 1ff., London 1990ff.). Jean Froissart: Chroniques de France, d’Angleterre, d’Ecosse, de Bretagne, de Gascogne, de Flandre et lieux circonvoisinsan (entstanden um 1370–1405 und nicht immer zuverlässig) Literatur Christopher T. Allmand: The Hundred Years War. England and France at War c.1300 – c.1450. Cambridge University Press, Cambridge 1988, ISBN 978-0-521-31923-2 C. A. J. Armstrong: England, France and Burgundy in the Fifteenth Century. Hambledon Continuum, London 1983, ISBN 978-0-907628-13-2. Philippe Contamine: La guerre de cent ans. 9. Auflage. 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Hugenottenkriege
Die Hugenottenkriege, im englischen und französischen Sprachgebrauch als (Französische) Religionskriege bekannt (fr.: Guerres de Religion, en.: French Wars of Religion), waren eine Reihe von acht Bürgerkriegen in Frankreich zwischen Katholiken und protestantischen Hugenotten. Die Kriege fanden von 1562 bis 1598 statt. Die Hugenottenkriege waren keine reinen Religionskriege; dynastische und machtpolitische Ziele spielten ebenso eine Rolle. Der französische Adel kämpfte um seine Privilegien und Handlungsfreiräume gegenüber der Monarchie. Hintergründe Dynastische Hintergründe Frankreich war unter den Valois-Herrschern Franz I. (1515–1547) und seinem Sohn Heinrich II. (1547–1559) der stärkste europäische Staat, doch schon vor dem Vertrag von Cateau-Cambrésis 1559 zeichnete sich ab, dass es diese Stellung an Spanien verlieren würde. Kaiser Karl V. beherrschte mehrere Staaten, die sich rings um Frankreich gruppierten. Der vorzeitige Tod von Heinrich II. und ein Jahr später seines ältesten Sohnes schuf eine instabile Situation, in der die aus Italien stammende Königin Katharina von Medici die Adelsparteien gegeneinander ausspielte, um ihren minderjährigen Söhnen den Thron zu sichern. Wesentlicher Bestandteil war das Ringen um die Macht in Frankreich zwischen dem Haus Guise (Lothringen) einerseits und dem Haus Bourbon andererseits. Religiöse Hintergründe König Franz I. stand den Forderungen der Reformation zunächst recht wohlwollend gegenüber. Dies änderte sich grundlegend mit der Affaire des Placards: im Oktober 1534 wurden an öffentlichen Plätzen in größeren Städten Frankreichs Plakate angeschlagen, in denen eine unverhüllte Attacke auf das katholische Konzept der Eucharistie vorgetragen wurde. Da eines dieser Plakate im Inneren des königlichen Schlosses von Amboise angebracht worden war, musste Franz I. von nun an um seine eigene Sicherheit fürchten. Bereits zwei Wochen später wurden protestantische Sympathisanten verhaftet und sogar auf den Scheiterhaufen gebracht. In Frankreich fasste der Protestantismus erst relativ spät in der Variante des Calvinismus Fuß: Das französischsprachige Genf stand seit 1536 unter dem dauerhaften Schutz der Eidgenossen. Dort führte der aus Frankreich geflohene Johannes Calvin die Reformation ein, setzte aber mit der Prädestinationslehre andere religiöse Akzente als das Luthertum in Deutschland und Zwingli in der deutschsprachigen Schweiz. Vor allem organisierte Calvin eine systematische Mission, die auf den Adel in Frankreich und den wallonischen Teilen der Spanischen Niederlande abzielte. Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen beiden konkurrierenden christlichen Glaubensinterpretationen, also zwischen dem katholischen und calvinistischen Glauben, lag in der Auslegung der Eucharistie oder des Abendmahls. Die Katholiken glauben, dass dabei Brot und Wein zum Leib und Blut Christi werden und Jesus so in jeder Messe körperlich anwesend sei, auch darf nur ein geweihter Priester diese konsekrieren. Für den Calvinisten sind Brot und Wein beim Abendmahl mehr ein Symbol für Jesu Liebe zu den Menschen. Die Protestanten, Calvinisten wie Lutheraner, lehnten ferner die Verehrung Marias und der Heiligen ab, da hierdurch Gottes Ehre geschmälert werden könnte. Hinzu kommt, dass die Calvinisten an die Prädestination glauben. Dies bedeutet, dass bereits vor der Geburt vorherbestimmt ist, wer in den Himmel kommen kann. An dieser Prädestination lässt sich auch durch ein frommes Leben nichts ändern. Allerdings will der Calvinist durch Sittenstrenge und Erfolg beweisen, dass er auserwählt ist. Im Katholizismus ist es prinzipiell möglich, dass ein glaubender Mensch in den Himmel kommt und dies trotz zum Teil erheblicher Verstöße gegen ein frommes und sündenloses Leben. Voraussetzung hierzu besteht aber in der Notwendigkeit, Buße zu tun. Nach Luther entscheidet allein Gottes Gnade und Vergebung über das Leben nach dem Tod, und der Christ muss dies vor allem durch seinen Glauben annehmen. In Frankreich breitete sich jedoch nur der Calvinismus aus. Staatspolitischer Hintergrund Etwa um diese Zeit war das Heilige Römische Reich bereits in eine Vielzahl von so genannten Territorien zerfallen, deren Herrscher nach dem Prinzip „Cuius regio, eius religio“ ab 1555 auch die Religion in ihren Territorien bestimmten. Heinrich II. wollte eine religiöse Zersplitterung wie in Deutschland verhindern. Eine Übereinkunft nach dem Prinzip des Augsburger Religionsfriedens hätte möglicherweise die unter Franz I. begonnene Zentralisierung Frankreichs zerstört. Maßnahmen König Heinrichs II. Bereits im ersten Jahr seiner Herrschaft (1547) errichtete Heinrich II. die Chambre ardente in Paris, eine Kammer, welche die hugenottischen Mitglieder des Parlement de Paris verfolgte. Im Jahre 1551 wurde dieses Prinzip im Edikt von Châteaubriant dann auch auf die Provinzparlemente ausgedehnt. 1557 folgte das Edikt von Compiègne: „die Ordnung in irgendeiner Weise störende“ Protestanten wurden der weltlichen Gerichtsbarkeit unterstellt; die Verurteilung wegen Häresie überließ Heinrich noch der Kirche. Dies gipfelte dann 1559 im Edikt von Écouen: Von nun an durften die Gerichte für Häresie nur noch die Todesstrafe verhängen. Diese Repression war auch außenpolitisch motiviert: Der Thronfolger Franz II. war mit der schottischen Königin Maria Stuart verheiratet, die aus katholischer Sicht rechtmäßige Ansprüche auf den englischen Königsthron erheben konnte. Heinrich II. behielt deshalb die Repression bei. Im März 1560 schlug der Versuch fehl, Franz II. zu entführen (Verschwörung von Amboise). Mit Ausnahme von Ludwig I. von Bourbon, Prinz de Condé, verloren alle Verschwörer ihr Leben. Doch waren die Hugenotten bereits so stark, dass ihr Anführer, Admiral Gaspard II. de Coligny, in Fontainebleau gegen die Verletzung der Gewissensfreiheit protestieren konnte. Mit Unterstützung des Hauses Bourbon, welches das Königreich Navarra beherrschte, brachten protestantische Prediger hinreichend Mittel zusammen, eine ganze Armee einschließlich schlagkräftiger Kavallerie auszurüsten. (Auf dem Höhepunkt ihrer Macht kontrollierten die Hugenotten rund 60 befestigte Städte und wurden zu einer ernsthaften Bedrohung des katholischen Hofes und der Hauptstadt Paris.) Erst nach dem frühen Tod von Franz II. versuchte seine Mutter als Regentin für den minderjährigen Karl IX. (ab 1560) als Gegengewicht zu dem zu mächtigen Herzog von Guise eine vorsichtige Toleranzpolitik. Ein Religionsgespräch zu Poissy 1561 führte nicht zu der angestrebten Einigung. Die Königinmutter erhob den Bourbonen Anton von Navarra zum Generalstatthalter, mit Michel de l'Hôpital ernannte sie einen gemäßigten Kanzler, der 1562 das hugenottenfreundliche Edikt von Saint-Germain formulierte. Darin wurde den Hugenotten freie Religionsausübung außerhalb der festen Städte zugesichert. Abfolge der Kriege Diese Toleranzpolitik wurde im März desselben Jahres von dem entmachteten Onkel von Maria Stuart, Herzog Franz II. von Guise, im Blutbad von Vassy an unbewaffneten Hugenotten torpediert. Ob die Provokationen nun von Katholiken oder Protestanten ausgingen, ist ungeklärt, jedoch machtpolitisch wahrscheinlich von Franz de Guise forciert. (Hinsichtlich der Zahl der Todesopfer gibt es Widersprüche: manche nennen nur 23, andere Quellen hunderte.) In drei Kriegen sicherten sich danach die Hugenotten bis 1570 eine begrenzte Toleranz, abgesichert durch einige wenige Sicherheitsplätze. Im Ersten Hugenottenkrieg (1562–1563) organisierte der Fürst von Condé eine Art Protektorat zugunsten der hugenottischen Gemeinden. Die Guisen (Anhänger des Herzogs von Guise) entführten den König und seine Mutter nach Paris. In der Schlacht bei Dreux wurde de Condé gefangen genommen, auf der anderen Seite Anne de Montmorency, der General der Regierungstruppen. Im Februar 1563 wurde Franz II. von Guise bei der Belagerung von Orléans ermordet; Katharina beeilte sich nun, einen Waffenstillstand abzuschließen, der im März zum Edikt von Amboise führte. Es war ein Religionsfriede, in dem den Hugenotten – ausgenommen Paris – freie Religionsausübung gestattet wurde. Der Zweite Hugenottenkrieg (1567–1568) wurde ausgelöst, weil die Königinmutter die Macht, die den Guisen entglitten war, nicht einfach den Hugenotten zukommen lassen wollte. So wurden 1564 Ausführungsbestimmungen zum Edikt von Amboise erlassen, die dessen Sinn weitgehend verwässerten. Auch befürchteten die Protestanten in Frankreich Gewaltmaßnahmen, wie sie Herzog Alba in Flandern eingeleitet hatte; die Hugenottenführer de Condé und Admiral Coligny beschlossen daher, den jungen König Karl in ihre Gewalt zu bringen (Surprise de Meaux). Der Plan wurde verraten, de Condé belagerte den Hof sechs Wochen lang in Paris und lieferte dann am 10. November 1567 eine Schlacht bei Saint-Denis. Mit Hilfstruppen unter dem kurpfälzischen Prinzen Johann Kasimir rückte er im Februar 1568 wieder gegen Paris vor, während die Katholischen Unterstützung von Herzog Alba erhielten. Der Frieden von Longjumeau bestätigte den Friedensschluss von Amboise und versprach allgemeine Amnestie. Bereits im Herbst desselben Jahres brach der Dritte Hugenottenkrieg (1568–1570) aus. Beide Seiten waren unzufrieden, es kam zu vielen blutigen Gewalttaten. Die Führer der Hugenotten begaben sich nach La Rochelle, das wegen seiner günstigen Überseeverbindung zu ihrem Hauptquartier wurde. Auch Königin Johanna von Navarra mit ihrem Sohn Heinrich – ein Bourbone – traf dort ein. Wieder kam Hilfe aus dem protestantischen Deutschland (Zweibrücken sowie Oranien) und aus England. Doch in der Schlacht bei Jarnac (März 1569) unterlagen die Hugenotten; Fürst von Condé kam ums Leben. Im Oktober 1569 folgte in der Schlacht bei Moncontour eine weitere Niederlage, doch konnten die Hugenotten mit ausländischer Unterstützung La Rochelle entlasten und im Juni 1570 bei Luçon die königlichen Truppen schlagen (die ihrerseits Hilfe aus Spanien, dem Kirchenstaat und vom Herzogtum Toskana erhalten hatten). Der Dritte Hugenottenkrieg endete damit, dass gemäßigte Politiker sich Geltung verschafften und den Frieden von St. Germain en Laye schlossen. Nunmehr erhielten die Hugenotten neben Glaubensfreiheit und Amnestie auch – neben La Rochelle – drei befestigte Plätze zugesprochen. Danach gelang es dem hugenottischen Führer Admiral Coligny, den jungen französischen König Karl zu einer antispanischen, pro-protestantischen Politik zu bewegen. Als Maßnahme des guten Willens wurde die Hochzeit der Schwester des jungen Königs, Marguerite (Margot) von Valois, mit dem Hugenottenführer Heinrich von Navarra vereinbart. Der Vermählung am 18. August 1572 folgte eine Woche später die – von der Königinmutter veranlasste – berüchtigte Bartholomäusnacht. Die Metzeleien dauerten mehrere Tage. Im September feierte der zur Familie der Guises gehörende Kardinal von Lothringen aus diesem Anlass einen Dankgottesdienst, der Papst und Philipp II. applaudierten. Im unausweichlich folgenden Vierten Hugenottenkrieg (1572–1573) verteidigten sich die überlebenden Protestanten von nun an mit dem Mut der Verzweiflung. Die Belagerung von La Rochelle durch Heinrich, Herzog von Anjou, blieb erfolglos. Erst als dieser zum König von Polen-Litauen gewählt werden sollte (und zu diesem Zweck religiöse Toleranz demonstriert werden musste), fand dieser Krieg im Juni 1573 sein Ende. Im Edikt von Boulogne wurde den Hugenotten zwar Amnestie zugesagt, ihnen jedoch sämtliche öffentlichen Gottesdienste untersagt. Nach dem frühen Ableben Karls IX. kehrte Heinrich aus Polen zurück. Unter seiner Herrschaft (als Heinrich III.) begannen bald neue Kämpfe, der Fünfte Hugenottenkrieg (1574–1576). Der König und die Königinmutter Katharina von Medici versuchten verzweifelt, zwischen den rivalisierenden Fraktionen die königliche Autorität aufrechtzuerhalten. Die Hugenotten bekamen Zulauf von bedeutenden Adeligen und Marschällen, ein deutsches Hilfskorps kam hinzu. Angesichts der zahlenmäßigen Übermacht der Protestanten – besonders im Südwesten – riet der Herzog von Mayenne, Charles de Lorraine, dem König und seiner weiterhin aktiven Mutter zum Frieden. Der wurde im Mai 1576 in Beaulieu-lès-Loches geschlossen und war für die Hugenotten vorteilhafter als alle Abmachungen vorher: mit Ausnahme von Paris und dessen Umkreis von zwei Meilen erhielten sie in ganz Frankreich freie Religionsübung, Zutritt zu allen Ämtern und insgesamt acht Sicherheitsplätze zugesichert. Heinrich III. schwankte: Zeitweise versuchte er, die Führung der katholischen Partei persönlich zu übernehmen; zeitweise näherte er sich den Hugenotten, weil er seinen jüngeren Bruder Franz, damals Herzog von Anjou, als Führer der Protestanten in den aufständischen Niederlanden etablieren wollte. Die Friedensbedingungen von Beaulieu stießen bei der katholischen Partei auf so viel Widerstand, dass der Extremist Henri I. von Guise (der Sohn des Herzogs Franz II.) 1576 die „Heilige Liga (1576)“ gründete, einen Adelsverein zur Verteidigung des Glaubens. Tatsächlich sollte dieser Bund nicht nur den wahren Glauben verteidigen, sondern im Interesse des regionalen Adels die Zentralmacht in Frankreich schwächen. Heinrich III. stellte sich an die Spitze der Liga und nahm die Kriegshandlungen wieder auf, doch die Generalstände verweigerten ihm die für eine erfolgreiche Kriegführung nötigen Mittel. Dieser Sechste Hugenottenkrieg (1576–1577) dauerte nicht lange – nach kleinen Erfolgen lenkte Heinrich III. 1577 ein, denn die Königinmutter Katharina fürchtete allmählich die ehrgeizigen Pläne des Herzogs von Guise, die dieser mit Hilfe der Liga durchzusetzen hoffte, mehr als die Hugenotten. Katharina näherte sich sogar dem Protestantenführer Heinrich von Navarra an. Noch einmal gab es über die Ausführung des Friedens Konflikte, sogar eine kurze Waffenerhebung fand mit dem Siebten Hugenottenkrieg (1579–1580) statt. Aber der Herzog Franz von Anjou, der jüngste Bruder (und Thronfolger) des Königs, vermittelte bald im November 1580 zu Le Fleix einen neuen Frieden. Die Heilige Liga wurde aufgelöst. Nach dem Tod dieses Herzogs von Anjou im Jahre 1584 war nach salischem Erbrecht der Hugenotte Heinrich III. von Navarra der nächste Thronanwärter. Henri I. von Guise wollte die Krone keinesfalls einem Ketzer zugestehen und aktivierte die Heilige Liga wieder. König Heinrich III. seinerseits trat mit seinem Schwager Heinrich von Navarra in Unterhandlungen ein und sicherte diesem die Thronfolge zu – allerdings unter der Bedingung, dass der (wieder) zum katholischen Glauben konvertiere. Die erneuerte Heilige Liga hatte allerdings einen neuen Charakter: Sie war keine reine Adelspartei mehr, sondern auch eine Bewegung mit Rückhalt bei den Volksmassen – besonders von Paris. Sie schloss Anfang 1585 ein Bündnis mit Spanien, proklamierte den alten Kardinal von Bourbon als Thronfolger und nötigte den König im Juli 1585 zu dem Edikt von Nemours, das alle früheren Zugeständnisse an die Hugenotten zurücknahm und auch Heinrich von Navarra von der Thronfolge ausschloss. Hierauf griffen die Hugenotten im Achten Hugenottenkrieg (1585–1598) von neuem zu den Waffen. Dieser Bürgerkrieg, der eher die Thronfolge als religiöse Inhalte zum Gegenstand hatte, wird nach den drei Häuptern (König Heinrich III. von Frankreich, König Heinrich III. von Navarra und Herzog Heinrich I. von Guise) auch der „Krieg der drei Heinriche“ genannt. Im Herbst 1587 gab jedoch der Sieg der Hugenotten bei Coutras dem Krieg eine neue Wendung. Herzog Heinrich von Guise versuchte, den geschwächten König durch ein Ultimatum in die Knie zu zwingen. Anstatt den Forderungen der Liga nachzugeben, reagierte dieser jedoch mit überraschender Festigkeit und ließ Truppen in Paris einrücken. Daraufhin löste eine „Liga der Sechzehn“ unter der Führung des Herzogs von Guise in der Stadt einen Volksaufstand aus („Tag der Barrikaden“ am 12. Mai 1588). Im Juli schien König Heinrich III. entmachtet: das Unionsedikt von Rouen erneuerte die Bestimmungen von Nemours und schloss jeden nichtkatholischen Fürsten von der Thronfolge aus. Auf der Versammlung der Generalstände in Blois im Dezember 1588 wurden jedoch auf Veranlassung des Königs seine ärgsten Widersacher, der Herzog von Guise und dessen Bruder, Kardinal Ludwig von Lothringen, ermordet. Den nachfolgenden Aufstand fanatisierter Massen suchte Heinrich III. im Bündnis mit Heinrich von Navarra niederzuwerfen, wurde dabei aber Anfang August 1589 bei der Belagerung von Paris selbst ermordet. Mit seinem Tod erlosch die Dynastie der Valois. Heinrich III. von Navarra aus der Nebenlinie Bourbon wurde als Heinrich IV. König. Er beherrschte mit seinen Truppen den (schon seit Jahrzehnten traditionell hugenottischen) Süden und den Westen Frankreichs, während die Liga unter Charles II. de Lorraine, duc de Mayenne, dem Nachfolger des ermordeten Henri von Guise, den Norden und den Osten hielt, insbesondere Paris. Im September 1589 besiegte Heinrich die Liga in der Schlacht von Arques und gewann schrittweise die Herrschaft über die ganze Normandie. Sechs Monate später brachte sein Sieg bei Ivry eine Vorentscheidung, doch konnte Paris sich mit spanischer Hilfe halten. Er konnte sich die Hauptstadt und den Thron aber erst nach der Konversion zum Katholizismus sichern. Der achte Hugenottenkrieg – als Bürgerkrieg begonnen – verwandelte sich zuletzt in einen nationalen Krieg gegen Spanien. Im Jahr 1582 hatte Heinrich III. den damaligen Führer der Heiligen Liga, Philippe Emmanuel, Herzog von Mercœur, zum Gouverneur der Bretagne gemacht, der sich wiederum 1588 zum „Protektor der Katholischen Kirche“ ernannte und – auf Grund alter Erbansprüche seiner Gattin – die Bretagne aus dem Königreich Frankreich lösen wollte. Als „Fürst und Herzog der Bretagne“ verbündete er sich mit Philipp II. von Spanien. Dieser hoffte sich auf diese Weise in die französische Innenpolitik einmischen zu können und gleichzeitig in seiner Auseinandersetzung mit England in der Bretagne einen wertvollen Stützpunkt zu gewinnen. Heinrich IV. musste zunächst (am 23. Mai 1592 bei Craon) eine Niederlage hinnehmen, konnte aber mit englischer Unterstützung im März 1598 Mercœurs Unterwerfung erreichen. Danach beendete im Jahre 1598 das Edikt von Nantes die Hugenottenkriege. Die Hugenotten erhielten beschränkte religiöse Toleranz, gesichert durch Sicherheitsplätze im südlichen Frankreich, deren hugenottische Besatzung vom König besoldet wurde. Folgen Frankreich konnte seine wirkliche Macht erst unter Ludwig XIV. ab 1661 ausspielen, der seine starke persönliche Herrschaft auch wegen der traumatischen Hugenottenkriege etablieren konnte. Im europäischen Machtkonzert konnte das habsburgische Spanien seinen Abstieg bis etwa 1659 hinausschieben. Die kolonialen Rivalen England, Spanien und Portugal gründeten bis 1661 amerikanische Kolonialreiche, die zukunftsträchtiger als die französischen Kolonien in Amerika waren. Literatur Jean Paul Barbier-Mueller: La Paroles et les Armes. Chronique des Guerres de religion en France (1562–1598). Genève o. J. Julien Coudy (Hrsg.): Die Hugenottenkriege in Augenzeugenberichten. Herausgegeben von Julien Coudy. Vorworte von Pastor Henry Bosc und A.-M. Roguet O.P. Historischer Abriß von Ernst Mengin. Düsseldorf 1965, ISBN 3-423-02707-X. Natalie Zemon Davis: The Rites of Violence: Religious Riot in Sixteenth-Century France. In: Soman, Alfred (Hrsg.): The Massacre of St. Bartholomew. Reappraisals and Documents. The Hague 1974, S. 203–242. Barbara B. Diefendorf: Beneath the Cross. Catholics and Huguenots in Sixteenth-Century Paris. New York/Oxford 1991. Mack P. Holt: The French Wars of Religion, 1562–1629. (= New approaches to European history 8) Cambridge 1995. Nancy Lyman Roelker: One King, One Faith: The Parlement of Paris and the Religious Reformations of the Sixteenth Century. University of California Press, Berkeley 1996. N.M. Sutherland: The Massacre of St Bartholomew and the European Conflict 1559–1572. London/ Basingstoke 1973. August Lebrecht Herrmann: Frankreichs Religions- und Bürgerkriege im 16. Jahrhundert. Voß, 1828 Robert J. Knecht: Renaissance France 1483–1610. Blackwell Classic Histories of Europe, John Wiley & Sons, 2001, ISBN 0-6312-2729-6. Robert J. Knecht: The French Wars of Religion, 1559–1598. Seminar Studies in History, Longman, 2010, ISBN 1-4082-2819-X. Weblinks Die Hugenottenkriege – Das Grab des deutschen Adels auf kriegsreisende.de Einzelnachweise Bürgerkrieg Renaissance Krieg (Frankreich) Religiöser Konflikt Krieg (16. Jahrhundert) !Hugenottenkriege Französische Geschichte (16. Jahrhundert) Christentumsgeschichte (Frankreich)
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Hochmittelalter
Als Hochmittelalter oder hohes Mittelalter wird in der Mediävistik die von der Mitte des 11. Jahrhunderts bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts dauernde Epoche im Mittelalter bezeichnet (zirka 1050 bis 1250). Im wissenschaftlichen Sinne wird der Begriff primär auf das christlich-lateinische Europa bezogen (vor allem West- und Mitteleuropa). Auf den benachbarten byzantinischen bzw. den islamischen Bereich und die außereuropäische Geschichte trifft der Begriff nicht oder nur sehr begrenzt zu, wenngleich der byzantinische und der islamische Kulturraum in der historischen Forschung für diesen Zeitraum ebenfalls eigens betrachtet werden. Dem Hochmittelalter voran geht das Frühmittelalter. Die auf das Hochmittelalter folgende Epoche wird als das Spätmittelalter bezeichnet. Während germanische und slawische Sprachen das Mittelalter wie eine Welle betrachten und mit den Adjektiven „früh“, „hoch“ und „spät“ einteilen, wählen romanische Sprachen ein Deszendenz- also Abstiegsmodell und teilen das Mittelalter in „hohes“, „klassisches“ (auch „volles“ oder „mittleres“) und „unteres“ ein. Daher kann in wortwörtlichen Übersetzungen oder bei Autoren romanischer Muttersprache „Hochmittelalter“ stehen, obwohl Frühmittelalter gemeint ist. Charakteristika Die Abgrenzung des Hochmittelalters zum Frühmittelalter wird unterschiedlich vorgenommen. Als Anfangszeitraum ist in der Forschung die Mitte des 11. Jahrhunderts gängig, weil sich ab dieser Zeit ein umfassender Wandel im lateinischen Europa vollzog. Wirtschaftlich und kulturell kam es zu einer neuen Entfaltung. Dieser Wandel wurde durch ein bis in das 14. Jahrhundert anhaltendes Bevölkerungswachstum ausgelöst. Neue Gebiete mussten erschlossen, die Produktionsmethoden zur Erhöhung der Erträge verbessert werden. Dies förderte Handwerk und Handel (einschließlich neuer Handelsrouten) und damit wiederum die Geldwirtschaft. Es kam zur Ausbildung eines Bankensystems, vor allem in Oberitalien. Neue Märkte entstanden, die wiederum die Kassen der Städte füllten. Eine seit der Antike nicht gekannte soziale Mobilität entwickelte sich, sowohl geografisch als auch den sozialen Stand betreffend. Zu dem wirtschaftlichen Aufschwung kamen technische Fortschritte. Die Christianisierung war in Nordeuropa und weiten Teilen Osteuropas weitgehend abgeschlossen. Die Kirche mit dem herausgebildeten Papsttum entwickelte nach innen eine klare Hierarchie, nach außen kämpfte sie mit den weltlichen Herrschern um die Vormacht. Diese Machtkämpfe wurden von vielen Zeitgenossen kritisiert. So entstanden in Deutschland kirchliche Reformbewegungen. Es kam in dieser Zeit allerdings auch zum Investiturstreit sowie in der Folgezeit wiederholt zu Konflikten zwischen römisch-deutschen Kaisern und dem Papsttum. Die Päpste strebten dabei durchaus die Verfügungsgewalt über die weltliche Herrschaft an, was aber nicht ohne Widerspruch blieb (Zwei-Schwerter-Theorie). Das Hochmittelalter war auch eine Blütezeit der geistlichen Orden, wie beispielsweise der Zisterzienser oder Prämonstratenser. Es entstanden neue Dom- und Klosterschulen, vor allem wurden die ersten Universitäten gegründet. Dort wurden in erster Linie Theologie, Medizin (besonders in Frankreich) und Rechtswissenschaften (besonders in Italien und speziell in Bologna) gelehrt. Diese Bildungsrevolution wurde durch die Wiederentdeckung antiker Schriften ermöglicht, wie die des Aristoteles, die aus dem arabischen und byzantinischen Raum nach Westeuropa gelangten. Auch in Italien selbst wurden wichtige Funde gemacht, so die verschollen geglaubten Digesten in Form der Handschrift der Littera Florentina. Infolge dieses Prozesses bestimmte nun die Scholastik das wissenschaftliche Denken. Im juristischen Bereich lässt es sich an den Arbeiten der Glossatoren und Kommentatoren ablesen. Lesen und Schreiben waren nicht mehr nur Fertigkeiten des Klerus, wenngleich es bereits im Frühmittelalter einige Laien gab, die über diese Kenntnisse verfügten. Auch einige Beamte (Ministeriale) und Adelige lernten es. Die Literatur bediente die neuen Leser, indem sie nicht nur geistliche und philosophische Themen verarbeitete. Es wurde nicht mehr nur in lateinischer, sondern auch in Landessprache geschrieben. Man malte neben geistlichen Themen nun auch Natur und Alltag. In der Architektur herrschte die Romanik vor. Die Menschen, denen dies finanziell möglich war, konnten sich relativ sicher und frei innerhalb weiter Teile des lateinischen Europas bewegen. Ebenso begannen die Kreuzzüge in den Vorderen Orient, die später auch nach Spanien (gegen den islamischen Süden) und in den baltischen Raum zielten. Das Hochmittelalter war zudem die Blütezeit des Rittertums, das sich infolge eben jener Kreuzzüge neu definierte (siehe Ritterorden). Im staatlichen Bereich fand eine Neuformierung statt. Das römisch-deutsche Reich verlor schließlich seine hegemoniale Stellung. Die Herrschaft der Salier wurde durch den Investiturstreit im späten 11. und frühen 12. Jahrhundert erschüttert. Den Staufern im 12./13. Jahrhundert gelang es nicht, den Verlust der Königsmacht im Reich zu verhindern, wobei durch die Italienpolitik auch starke Kräfte in Reichsitalien gebunden wurden. Währenddessen gewannen Frankreich und England zunehmend an politischem Einfluss. Das englische Haus Plantagenet verfügte zugleich über große Besitzungen in Frankreich, was wiederholt zu Kampfhandlungen mit den französischen Königen führte, die ihre Macht im 12./13. Jahrhundert konsolidierten. Byzanz verlor im 11. Jahrhundert fast ganz Kleinasien an die Seldschuken, gewann Teile davon im 12. Jahrhundert zurück, war aber seit dem fatalen 4. Kreuzzug nur noch eine Regionalmacht. Terminologie Der französische Begriff Haut Moyen Âge bezeichnet das Frühmittelalter, beginnt also mit der Völkerwanderung. Dem deutschen Begriff Hochmittelalter entspricht im Französischen le Moyen Âge classique oder le Moyen Âge central. Dagegen bezeichnen Haute Renaissance und Hochrenaissance ein und dieselbe Periode. Die italienische Geschichtswissenschaft unterscheidet meist zwei Phasen: das Alto Medioevo (vor 1000) und das Basso Medioevo (nach 1000); weniger verbreitet ist die Einschaltung einer mittleren Phase, des Pieno Medioevo („volles“ Mittelalter), die dem deutschen Hochmittelalter entspricht. Dem dreiphasigen Modell entsprechen im Spanischen die Bezeichnungen Alta Edad Media, Plena Edad Media und Baja Edad Media. Das im Englischen verbreitete Phasenmodell entspricht dem im Deutschen üblichen: Early Middle Ages – High Middle Ages – Late Middle Ages. Literatur The New Cambridge Medieval History. Band 4 bis 5. Cambridge 1999–2004. [umfassendes Handbuch] Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. 10. Auflage. Band 4 bis 6. Stuttgart 2003ff. [wichtiges Handbuch, noch nicht abgeschlossen] Michael Borgolte: Europa entdeckt seine Vielfalt. 1050–1250. (= Handbuch der Geschichte Europas. 3). Stuttgart 2002. [Einführung mit zahlreichen Literaturangaben] Hermann Jakobs: Kirchenreform und Hochmittelalter 1046–1215 (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte. 7). München 1999 (unv. ND der 3. Aufl. 1994). Jacques Le Goff: Das Hochmittelalter (= Fischer Weltgeschichte. Bd. 11). Frankfurt am Main 1965. Henning Krauss: Europäisches Hochmittelalter. (= Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Band 7). Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, Wiesbaden 1981, ISBN 3-7997-0768-9. Bernhard Schimmelpfennig: Könige und Fürsten, Kaiser und Papst im 12. Jahrhundert. (= Enzyklopädie deutscher Geschichte. Band 37). 2. Auflage. München 2010, ISBN 978-3-486-59678-6. [Einführung mit Darstellung des Forschungsstands und Bibliographie] Weblinks Einzelnachweise !Hochmittelalter Historisches Zeitalter
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Hypertext Markup Language
Die Hypertext Markup Language (HTML, für Hypertext-Auszeichnungssprache) ist eine textbasierte Auszeichnungssprache zur Strukturierung elektronischer Dokumente wie Texte mit Hyperlinks, Bildern und anderen Inhalten. HTML-Dokumente sind die Grundlage des World Wide Web und werden von Webbrowsern dargestellt. Neben den vom Browser angezeigten Inhalten können HTML-Dateien zusätzliche Angaben in Form von Metainformationen enthalten, z. B. über die im Text verwendeten Sprachen, den Autor oder den zusammengefassten Inhalt des Textes. HTML wird vom World Wide Web Consortium (W3C) und der Web Hypertext Application Technology Working Group (WHATWG) weiterentwickelt. Die aktuelle Version ist seit dem 14. Dezember 2017 HTML 5.2, die bereits von vielen aktuellen Webbrowsern und anderen Layout-Engines unterstützt wird. Auch die Extensible Hypertext Markup Language (XHTML) wird durch HTML5 ersetzt. HTML dient als Auszeichnungssprache dazu, einen Text semantisch zu strukturieren, nicht aber zu formatieren. Die visuelle Darstellung ist nicht Teil der HTML-Spezifikationen und wird durch den Webbrowser und Gestaltungsvorlagen wie CSS bestimmt. Ausnahme sind die als veraltet ( deprecated) markierten präsentationsbezogenen Elemente. Entstehung Vor der Entwicklung des World Wide Web und dessen Bestandteilen, zu denen auch HTML gehört, war es nicht möglich, Dokumente auf elektronischem Weg einfach, schnell und strukturiert zwischen mehreren Personen auszutauschen und miteinander effizient zu verknüpfen. Man benötigte neben Übertragungsprotokollen auch eine einfach zu verstehende Textauszeichnungssprache. Genau hier lag der Ansatzpunkt von HTML. Um Forschungsergebnisse mit anderen Mitarbeitern der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) zu teilen und von den beiden Standorten in Frankreich und in der Schweiz aus zugänglich zu machen, entstand 1989 am CERN ein Projekt, welches sich mit der Lösung dieser Aufgabe beschäftigte. Am 3. November 1992 erschien die erste Version der HTML-Spezifikation. Syntax Dem Text wird durch Auszeichnungen (englisch markup) von Textteilen eine Struktur gegeben. Die Auszeichnung erfolgt durch genormte (SGML) Elemente. Die meisten dieser HTML-Elemente werden durch ein Tag-Paar markiert, das heißt durch einen Starttag und einen Endtag. Ein Starttag beginnt immer mit dem Zeichen <. Es folgt der Elementname (z. B. p für einen Absatz oder h1 für eine Überschrift erster Ordnung) und optional eine Liste seiner Attribute (z. B. class="warning" oder id="warning"). Mit einem > wird der Starttag geschlossen. Ein Endtag besteht aus den Zeichen </, dem Elementnamen und dem abschließenden >. Die zusammengehörenden Start- und Endtags bilden zusammen mit dem dazwischenliegenden Inhalt ein Element allgemeiner SGML-Spezifikation. Diese Elemente lassen sich nach Regeln, die in einer Dokumenttypdefinition (DTD) angegeben sind, verschachteln: <p>Ein Textabsatz, der ein <em>betontes</em> Wort enthält.</p> Bestimmte Elemente müssen nicht explizit notiert werden. Bei einigen Elementen darf gemäß der SGML-Regel „OMITTAG“ der Endtag fehlen (z. B. </p> oder </li>). Zudem spielt bei Element- und Attributnamen Groß- und Kleinschreibung keine Rolle (z. B. <ul>, <UL>, <uL>). Zum Vergleich: In XHTML sind diese Regeln strenger verfasst. Neben Elementen mit Start- und Endtag gibt es in HTML auch inhaltsleere Elemente, wie etwa Zeilenumbrüche (br) oder Bilder (img). Eine Textzeile,<br>die hier fortgesetzt wird. <img src="E-Mail-Button.jpg" alt="E-Mail"> Es geht in HTML um beschreibende (englisch descriptive), nicht um verfahrens- (englisch procedural) und darstellungsorientierte (englisch presentational) Textauszeichnung, auch wenn sich HTML in früheren Versionen dafür verwenden ließ. HTML-Elemente sind keine Angaben zur Präsentation, die dem Webbrowser mitteilen, wie er den Text visuell zu formatieren hat. Vielmehr sind Elemente eine strukturierende Auszeichnung, mit der sich Textbereichen eine Bedeutung zuordnen lässt, z. B. <h1>…</h1> für eine Überschrift, <p>…</p> für einen Textabsatz und <em>…</em> für betonten Text. Wie diese Bedeutung letztlich dem Benutzer vermittelt wird (im Falle einer Überschrift z. B. durch vergrößerte, fette Schrift), ist zunächst dem Webbrowser überlassen und hängt von der Ausgabe-Umgebung ab. Denn obwohl HTML-Dokumente in der Regel auf Computerbildschirmen dargestellt werden, können sie auch auf anderen Medien ausgegeben werden, etwa auf Papier oder mittels Sprachausgabe. CSS-Formatvorlagen eignen sich dazu, um auf die Präsentation eines HTML-Dokuments in verschiedenen Medien Einfluss zu nehmen. Daher gelten Elemente und Attribute zur Präsentation wie <font>…</font>, <u>…</u> und noshade als veraltet (englisch deprecated) und sollen nach allgemeiner Auffassung vermieden werden; sie sollten in neu entwickelter Software nicht mehr verwendet und bei der Überarbeitung der dokumentengenerienden Software ersetzt werden. Das Einlesen des Quelltextes sowie das Verarbeiten der vorhandenen Informationen wird in der Fachsprache auch als Parsen bezeichnet, und die Aufbereitung für das Ausgabemedium als Rendern. Die Sprache HTML beschreibt, wie der Browser (oder ein anderes Programm, wie z. B. ein Texteditor) die Auszeichnungen des Textes zu „verstehen“ hat, nicht, wie er sie dann in der Darstellung umsetzt. So besagt <h1> zwar, dass eine Überschrift folgt, nicht aber, in welcher Schriftgröße oder Schriftschnitt diese darzustellen ist – hier haben sich nur gewisse übliche Standardeinstellungen eingebürgert, die aber nicht Teil der HTML-Spezifikation sind. Zeichenvorrat Der ursprünglich auf 7-Bit-ASCII angelegte Standard-Zeichensatz wurde schon in den Frühzeiten des WWW um zahlreiche Sonderzeichen erweitert und als HTML-Entität kodiert. Die Unterstützung universeller Zeichensätze für alle gängigen Sprachen weltweit setzte die Unterstützung von UTF (Unicode) voraus, die heute in allen gängigen Browsern implementiert ist. HTML ist damit auf plattformunabhängige Portierbarkeit angelegt, sofern diese vom verwendeten HTML-Renderer unterstützt werden. Die Wahl des zugrunde liegenden Zeichenvorrats für ein Webdokument erfolgt in den Meta-Elementen im Dateikopf, der Browser stellt sich dann darauf ein. Ersteller von Webseiten, deren Tastatur eventuell nicht alle Zeichen direkt zur Verfügung stellt, etwa deutsche Umlaute, können auf mehrere Arten Sonderzeichen codieren; so kann ein A-Umlaut („ä“) entweder als HTML-Entität (&auml;), als Unicode dezimal (&#228;) oder als Unicode hexadezimal (&#x00E4;) kodiert werden, vgl. Unicode #Codepunkt-Angaben in Dokumenten. Viele komplex arbeitende Website-Editoren lösen Sonderzeichen automatisch bei der Kodierung des Quelltextes auf. Bei der Auflösung in Adresszeilen (URLs) wird wiederum anders verfahren, hier werden die nicht direkt unterstützten Zeichen nach dem MIME-Verfahren in ASCII-Zeichen kodiert, so z. B. %20 für ein Leerzeichen, wenn es beispielsweise in einem Dateinamen vorkommt und sich vom regulären Leerzeichen am Ende des Links unterscheiden muss. Sprachtyp HTML ist eine Auszeichnungssprache und wird als solche meist von Programmiersprachen abgegrenzt (siehe dazu Abschnitt Äußere Systematik: Einordnung als Programmiersprache oder Datenformat im Artikel über Auszeichnungssprachen). Eine Gemeinsamkeit mit den meisten Programmiersprachen ist, dass für die Bearbeitung der Quelldokumente keine spezielle Software (siehe auch Liste von HTML-Editoren) nötig ist, sondern ein beliebiger Texteditor ausreicht. Ein ähnliches Konzept (logische Beschreibung) wie hinter HTML steht hinter dem Satzsystem TeX/LaTeX, das im Unterschied zu HTML jedoch auf die Ausgabe per Drucker auf Papier zielt. Versionen HTML wurde erstmals am 13. März 1989 von Tim Berners-Lee am CERN in Genf vorgeschlagen. HTML (ohne Versionsnummer, 3. November 1992): Urversion, die sich nur an Text orientierte. HTML (ohne Versionsnummer, 30. April 1993): Zu Text kam neben Attributen wie fette oder kursive Darstellung die Bildintegration dazu. HTML+ (November 1993) Geplante Erweiterungen, die in spätere Versionen einflossen, aber nie als HTML+ verabschiedet wurden. HTML 2.0 (November 1995): Die mit RFC 1866 definierte Version führte u. a. Formulartechnik ein. Der Status dieses Standards ist „HISTORIC“. Auch die Vorgänger sind veraltet. HTML 3.0: Nicht erschienen, weil sie mit der Einführung des Netscape-Browsers in der Version 3 bereits vor der geplanten Veröffentlichung veraltet war. HTML 3.2 (14. Januar 1997): Neu waren zahlreiche Features wie Tabellen, Textfluss um Bilder, Einbindung von Applets. HTML 4.0 (18. Dezember 1997): Einführung von Stylesheets, Skripten und Frames. Auch eine Trennung in Strict, Frameset und Transitional erfolgte. Am 24. April 1998 erschien eine leicht korrigierte Version. HTML 4.01 (24. Dezember 1999): Ersetzte HTML 4.0 mit vielen kleineren Korrekturen. War lange Zeit Standard bis 2014. XHTML 1.0 (26. Januar 2000): Neuformulierung von HTML 4.01 mit Hilfe von XML. Am 1. August 2002 erschien eine überarbeitete Version. XHTML 1.1 (31. Mai 2001): Nachdem XHTML in Module aufgeteilt wurde, wurde mit XHTML 1.1 eine strikte Version definiert, bei der die mit HTML 4 eingeführten Varianten Frameset und Transitional entfielen. XHTML 2.0 (closed, 26. Juli 2006): Diese Version sollte nicht mehr auf HTML 4.01 basieren und einige neue Elemente einführen, so z. B. <nl> für Navigationslisten. Die Trennung von Auszeichnung und Stil sollte in dieser Version vollendet werden. – Das W3C beendete die Arbeiten an XHTML 2.0 im Sommer 2009, weil XHTML durch HTML5 ersetzt werden sollte. HTML5 (Recommendation, 28. Oktober 2014): Schuf auf Basis von HTML 4.01 und XHTML 1.0 ein neues Vokabular. Die zu HTML gehörende DOM-Spezifikation wurde ebenfalls überarbeitet und erweitert. HTML 5.1 (Recommendation, 1. November 2016) HTML 5.2 (Recommendation, 14. Dezember 2017): Aktuelle Version. HTML-Struktur Allgemeine Struktur Ein HTML-Dokument besteht aus drei Bereichen: der Dokumenttypdeklaration (Doctype) ganz am Anfang der Datei, die die verwendete Dokumenttypdefinition (DTD) angibt, z. B. HTML 5, dem HTML-Kopf (HEAD), der hauptsächlich technische oder dokumentarische Informationen enthält, die üblicherweise nicht im Anzeigebereich des Browsers dargestellt werden dem HTML-Körper (BODY), der jene Informationen enthält, die gewöhnlich im Anzeigebereich des Browsers zu sehen sind. Somit sieht die Grundstruktur einer Webseite wie folgt aus: <!DOCTYPE html> <html> <head> <title>Titel der Webseite</title> <meta http-equiv="content-type" content="text/html; charset=utf-8" /> <!-- weitere Kopfinformationen --> <!-- Kommentare werden im Browser nicht angezeigt. --> </head> <body> <p>Inhalt der Webseite</p> </body> </html> HTML-Kopf Im Kopf (englisch head) können sieben verschiedene Elemente verwendet werden: title bezeichnet den Titel der Seite, der von den meisten Browsern in der Titelleiste angezeigt wird. meta kann vielfältige Metadaten enthalten. Siehe Meta-Element. base gibt entweder eine Basis-URI oder einen Basisframe an. link dient zur Angabe von logischen Beziehungen zu anderen Ressourcen. Wird am häufigsten zur Einbindung von Stylesheets benutzt. script bindet JavaScript Code ein. style enthält Stilinformationen, hauptsächlich CSS-Deklarationen. object bindet eine externe Datei ein. Browser dürfen solche Objekte im Dokumentkopf nicht darstellen. Ab HTML5 ist das object-Tag nicht mehr im HTML-Kopf erlaubt. HTML-Körper Der HTML-Körper (englisch body) enthält die eigentlichen Seiteninformationen. HTML unterscheidet zwischen Block- und Inline-Elementen. Der wesentliche Unterschied ist, dass erstere in der Ausgabe einen eigenen Block erzeugen, in dem der Inhalt untergebracht wird, während die Inline-Elemente den Textfluss nicht unterbrechen. Vereinfacht gesprochen haben Block-Elemente immer ihren eigenen Absatz. Mithilfe von CSS ist es jedoch möglich, Block-Elemente wie ein Inline-Element darzustellen und umgekehrt. Zudem lassen sich alle Elemente via CSS auch als inline-block auszeichnen, mit dem Ergebnis, dass ein solches Element sowohl Eigenschaften eines Block-Elementes als auch eines Inline-Elementes besitzt. Eine Überschrift erster Ordnung wird so ausgezeichnet: <h1>Überschrift</h1> h1 steht für Heading 1, zeichnet also eine Überschrift der ersten (und in HTML höchsten) Gliederungsstufe aus. Weiter möglich sind h2 bis h6, Überschriften zweiter bis sechster Gliederungsstufe. Ein Hyperlink: <a href="http://example.com/">Dies ist ein Verweis auf example.com</a> Hyperlinks sind Verweise auf andere Ressourcen, meistens ebenfalls HTML-Dokumente, die üblicherweise im Browser durch Klick verfolgt werden können. Dieser Link könnte so gerendert werden: Dies ist ein Verweis auf example.com Ebenso ist an diesem Beispiel zu sehen, dass das Link-Element ein Inline-Element ist und keine neue Zeile beginnt. Normaler Text wird standardmäßig mit p (für Paragraph) angegeben, obwohl ein Text ohne p problemlos möglich wäre, allerdings ist es sehr zu empfehlen, da dadurch zum einen eine Abtrennung zwischen Quelltext und Ausgabe möglich ist, und zum anderen spätestens bei CSS-Programmierung der Befehl zwingend notwendig ist. So wird ein Text in HTML ausgegeben: <p>Ich bin ein Beispieltext</p> Zur Logik stehen zum Beispiel die Elemente strong oder em bereit, mit denen sich stark hervorgehobener oder betonter Text auszeichnen lässt. Per Voreinstellung (lt. W3C-Empfehlung) werden strong- und em-Elemente durch Fettschrift beziehungsweise kursive Schrift gerendert. Die Strukturbeschreibung des Textes vereinfacht es, das Rendern dem Betrachter anzupassen, um etwa den Text einem Sehbehinderten vorzulesen oder als Braille auszugeben. HTML-Varianten Beim Entwurf der letzten HTML-Version 4 sollte der Tatsache, dass in vielen HTML-Dokumenten noch Elemente und Attribute zur Präsentation eingesetzt werden, Rechnung getragen werden. Das Ergebnis waren schließlich drei Varianten: Strict Diese Dokumenttypdefinition (DTD) umfasst den Kernbestand an Elementen und Attributen. Es fehlen die meisten Elemente und Attribute zur Beeinflussung der Präsentation, unter anderem die Elemente font, center und u sowie Attribute wie bgcolor, align und target. Deren Rolle sollen in Strict-Dokumenten Stylesheets übernehmen. Text und nicht-blockbildende Elemente innerhalb der Elemente body, form, blockquote und noscript müssen sich grundsätzlich innerhalb eines Container-Elements befinden, zum Beispiel in einem p-Element. Transitional Die Transitional-Variante enthält noch ältere Elemente und Attribute, die auch physische Textauszeichnung ermöglichen. Durch diese DTD soll Webautoren, die noch nicht logische Strukturierung und Präsentation voneinander trennen, die Möglichkeit gegeben werden, standardkonformes HTML zu schreiben. Gleichzeitig soll sie sicherstellen, dass bestehende Webseiten weiterhin durch aktuelle Webbrowser angezeigt werden können. Frameset Diese Variante enthält zusätzlich zu allen Elementen der Transitional-Variante noch die Elemente für die Erzeugung von Framesets. Zusatztechniken und Weiterentwicklungen Cascading Style Sheets Im Laufe der Jahre ist HTML um Elemente erweitert worden, die der visuellen Gestaltung der Dokumente dienen. Das lief der ursprünglichen Idee einer Systemunabhängigkeit entgegen. Eine Rückbesinnung auf die Trennung von Struktur und Layout (besser: Präsentation) wurde durch die Definition von Cascading Style Sheets (CSS) vorgenommen. So soll das Aussehen bzw. die Darstellung des Dokuments in einer separaten Datei, dem sogenannten Stylesheet, festgelegt werden. Dies verbessert die Anpassungsfähigkeit des Layouts an das jeweilige Ausgabegerät und an spezielle Bedürfnisse der Benutzer, beispielsweise eine spezielle Darstellung für Sehbehinderte. Heutzutage ist die CSS-Unterstützung der Browser ausreichend, um damit eine anspruchsvolle Gestaltung zu realisieren. In den Anfangsjahren von HTML bis in die 2000er Jahre hinein wurde noch nicht streng zwischen Layout und Seitenphysik unterschieden. So wurde Design mit Hilfe von Layout-Attributen wie color="Farbe" oder Layout-Tags wie <font> umgesetzt oder das Aussehen von Tabellen direkt im table-Bereich grob vorgegeben. Dies gilt heute als veraltet und unprofessionell. Außerdem lässt sich der CSS-Code auch in einer Seite ohne ausgelagerte Datei einbinden. Eine CSS-Datei kann im HTML-Kopf über das link-Element eingebunden werden: <link rel="stylesheet" type="text/css" href="stylesheet.css"> Dynamisches HTML Schon sehr früh in der Geschichte von HTML wurden Zusatztechniken erfunden, die es ermöglichen, HTML-Dokumente während der Anzeige im Browser dynamisch zu verändern. Die gebräuchlichste ist JavaScript. Man spricht bei solchen interaktiven Dokumenten von dynamischem HTML. Diese Techniken wurden von verschiedenen Browser-Herstellern, allen voran Microsoft und Netscape, unabhängig voneinander entwickelt. Daher gab es erhebliche Probleme bei der Umsetzung der Techniken zwischen den verschiedenen Browsern. Mittlerweile interpretieren alle verbreiteten JavaScript-fähigen Browser das Document Object Model (DOM). Dadurch ist es möglich, in allen Browsern lauffähige Skripte zu schreiben. Es gibt jedoch noch immer Differenzen bei der Unterstützung des DOM-Standards. XHTML Auf Grundlage von HTML 4.01 (SGML) wurde XHTML 1.0 entwickelt. XHTML genügt den im Vergleich zu SGML strengeren syntaktischen Regeln von XML, ist aber in seinen drei DTD-Varianten semantisch mit der jeweils entsprechenden DTD-Variante von HTML 4.01 identisch. HTML5 Die jeweiligen Vorteile von SGML und XML der bisherigen HTML-Versionen wurden vereint in HTML5. Abweichend von den bisherigen HTML-Versionen gibt es in HTML5 keine DTD mehr. Ajax Mit der Ajax-Technologie ist es mittels JavaScript möglich, einzelne bereits geladene Webbrowser-Inhalte gezielt zu ändern und nachzuladen, ohne dass die Webseite komplett neu geladen werden muss. Wegen des geringeren Datenaufkommens wird zum einen eine schnellere Webserver-Antwort ermöglicht, und zum anderen lassen sich Reaktionsweisen von Desktop-Anwendungen simulieren. Siehe auch Entität (Auszeichnungssprache) MIME Encapsulation of Aggregate HTML Documents (MHTML) Literatur Standardwerke (mit mindestens 2. Auflage): Björn Seibert, Manuela Hoffmann: Professionelles Webdesign mit (X)HTML und CSS. 2. Auflage. Galileo Computing, Bonn 2008, ISBN 978-3-8362-1104-8. Robert R. Agular, Thomas Kobert: HTML für Kids. 5. Auflage. mitp, Frechen 2012, ISBN 978-3-8266-8681-8. Elisabeth Robson, Eric Freeman: HTML und CSS von Kopf bis Fuß. 2. Auflage. O’Reilly, Köln 2012, ISBN 978-3-86899-934-1. Stefan Münz, Clemens Gull: HTML5 Handbuch. 10. Auflage. Franzis-Verlag, Haar 2014, ISBN 978-3-645-20345-6. Jennifer Niederst Robbins: HTML5 – kurz & gut. 5. Aufl. O’Reilly, 2014, ISBN 978-3-95561-656-4. Kai Günster: Schrödinger lernt HTML5, CSS und JavaScript. Das etwas andere Fachbuch. 3. Auflage. Rheinwerk, Bonn 2018, ISBN 978-3-8362-6825-7. Thomas Kobert: HTML und CSS für Kids. 2. Auflage. mitp, Frechen 2020, ISBN 978-3-7475-0117-7. Jürgen Wolf: HTML und CSS. Das umfassende Handbuch. 4. Auflage. Rheinwerk, Bonn 2021, ISBN 978-3-8362-8117-1. Peter Müller: Einstieg in HTML und CSS. 2. Auflage. Rheinwerk, Bonn 2022, ISBN 978-3-8362-9089-0. Florence Maurice: HTML & CSS für Dummies. 2. Auflage. Wiley-VCH, Weinheim 2022, ISBN 978-3-527-72014-9. Christian Wenz, Christoph Prevezanos: Jetzt lerne ich HTML5 und CSS3. 2. Auflage. Markt+Technik Verlag, Burgthann 2022, ISBN 978-3-95982-549-8. Weblinks Tutorials Validierung Checkliste für Webstandards W3C-Validator zur Überprüfung der syntaktischen Richtigkeit eines HTML-Dokuments (englisch) Verschiedene nützliche Testwerkzeuge, Site Check (englisch) WDG Validator zur Überprüfung einer kompletten Webseite, Link defekt am 10. Juli 2023 Ältere Standards Einzelnachweise Offenes Format Web-Entwicklung ! SGML Beschreibungssprache
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hypertext%20Transfer%20Protocol
Hypertext Transfer Protocol
Das Hypertext Transfer Protocol (HTTP, für Hypertext-Übertragungsprotokoll) ist ein 1991 eingeführtes zustandsloses Protokoll zur Übertragung von Daten auf der Anwendungsschicht über ein Rechnernetz. Es wird hauptsächlich eingesetzt, um Webseiten (Hypertext-Dokumente) aus dem World Wide Web (WWW) in einen Webbrowser zu laden. Es ist jedoch nicht prinzipiell darauf beschränkt und auch als allgemeines Dateiübertragungsprotokoll sehr verbreitet. HTTP wurde von der Internet Engineering Task Force (IETF) und dem World Wide Web Consortium (W3C) standardisiert. Aktuelle Version ist HTTP/3, welche als RFC 9114 im Juni 2022 veröffentlicht wurde. Die Weiterentwicklung wird von der HTTP-Arbeitsgruppe der IETF (HTTPbis) organisiert. HTTP verwendet standardmäßig Port 80 für unverschlüsselte und Port 443 für verschlüsselte Übertragung. Es gibt zu HTTP ergänzende und darauf aufbauende Standards wie HTTPS für die Verschlüsselung übertragener Inhalte oder das Übertragungsprotokoll WebDAV. Eigenschaften Nach etablierten Schichtenmodellen zur Einordnung von Netzwerkprotokollen nach ihren grundlegenderen oder abstrakteren Aufgaben wird HTTP der sogenannten Anwendungsschicht zugeordnet. Diese wird von den Anwendungsprogrammen angesprochen, im Fall von HTTP ist das meist ein Webbrowser. Im ISO/OSI-Schichtenmodell entspricht die Anwendungsschicht der 7. Schicht. HTTP ist ein zustandsloses Protokoll. Informationen aus früheren Anforderungen gehen verloren. Ein zuverlässiges Mitführen von Sitzungsdaten kann erst auf der Anwendungsschicht durch eine Sitzung über einen Sitzungsbezeichner implementiert werden. Über Cookies in den Header-Informationen können aber Anwendungen realisiert werden, die Statusinformationen (Benutzereinträge, Warenkörbe) zuordnen können. Dadurch werden Anwendungen möglich, die Status- beziehungsweise Sitzungseigenschaften erfordern. Auch eine Benutzerauthentifizierung ist möglich. Bis HTTP/2 kann die Information, die über HTTP übertragen wird, normalerweise auf allen Rechnern und Routern gelesen werden, die im Netzwerk durchlaufen werden. Über HTTPS jedoch kann die Übertragung verschlüsselt erfolgen. HTTP/3 baut auf QUIC auf, das eine TLS Kodierung erzwingt. Durch Erweiterung seiner Anfragemethoden, Header-Informationen und Statuscodes ist HTTP nicht auf Hypertext beschränkt, sondern wird zunehmend zum Austausch beliebiger Daten verwendet, außerdem ist es Grundlage des auf Dateiübertragung spezialisierten Protokolls WebDAV. Zur Kommunikation ist HTTP auf ein zuverlässiges Transportprotokoll angewiesen, wofür bis zu HTTP/2 in nahezu allen Fällen TCP verwendet wird. HTTP/3 setzt auf QUIC auf, welches seinerseits auf UDP basiert. Derzeit werden hauptsächlich zwei Protokollversionen, HTTP/1.0 und HTTP/1.1, verwendet. Neuere Versionen alltäglicher Webbrowser wie Chromium, Chrome, Opera, Firefox, Edge und Internet Explorer sind darüber hinaus bereits kompatibel zu der neu eingeführten Version 2 des HTTP (HTTP/2) Aufbau Die Kommunikationseinheiten in HTTP zwischen Client und Server werden als Nachrichten bezeichnet, von denen es zwei unterschiedliche Arten gibt: die Anfrage (englisch Request) vom Client an den Server und die Antwort (englisch Response) als Reaktion darauf vom Server zum Client. Jede Nachricht besteht dabei aus zwei Teilen, dem Nachrichtenkopf (englisch Message Header, kurz: Header oder auch HTTP-Header genannt) und dem Nachrichtenrumpf (englisch Message Body, kurz: Body). Der Nachrichtenkopf enthält Informationen über den Nachrichtenrumpf wie etwa verwendete Kodierungen oder den Inhaltstyp, damit dieser vom Empfänger korrekt interpretiert werden kann (siehe Hauptartikel: Liste der HTTP-Headerfelder). Der Nachrichtenrumpf enthält schließlich die Nutzdaten. Funktionsweise Wenn in einem Web Browser der Link zur URL http://www.example.net/infotext.html aktiviert wird, so wird an den Rechner mit dem Hostnamen www.example.net die Anfrage gerichtet, die Ressource /infotext.html zurückzusenden. Der Name www.example.net wird dabei zuerst über das DNS-Protokoll in eine IP-Adresse umgesetzt. Zur Übertragung wird über TCP auf den Standard-Port 80 des HTTP-Servers eine HTTP-GET-Anforderung gesendet. Anfrage: GET /infotext.html HTTP/1.1 Host: www.example.net Enthält der Link Zeichen, die in der Anfrage nicht erlaubt sind, werden diese %-kodiert. Zusätzliche Informationen wie Angaben über den Browser, zur gewünschten Sprache etc. können über den Header (Kopfzeilen) in jeder HTTP-Kommunikation übertragen werden. Mit dem „Host“-Feld lassen sich verschiedene DNS-Namen unter der gleichen IP-Adresse unterscheiden. Unter HTTP/1.0 ist es optional, unter HTTP/1.1 jedoch erforderlich. Sobald der Header mit einer Leerzeile (beziehungsweise zwei aufeinanderfolgenden Zeilenenden) abgeschlossen wird, sendet der Rechner, der einen Web-Server (an Port 80) betreibt, seinerseits eine HTTP-Antwort zurück. Diese besteht aus den Header-Informationen des Servers, einer Leerzeile und dem tatsächlichen Inhalt der Nachricht, also dem Dateiinhalt der infotext.html-Datei. Übertragen werden Dateien normalerweise in Seitenbeschreibungssprachen wie (X)HTML und alle ihre Ergänzungen, zum Beispiel Bilder, Stylesheets (CSS), Skripte (JavaScript) usw., die meistens von einem Browser in einer lesbaren Darstellung miteinander verbunden werden. Prinzipiell kann jede Datei in jedem beliebigen Format übertragen werden, wobei die „Datei“ auch dynamisch generiert werden kann und nicht auf dem Server als physische Datei vorhanden zu sein braucht (zum Beispiel bei Anwendung von CGI, SSI, JSP, PHP oder ASP.NET). Jede Zeile im Header wird durch den Zeilenumbruch <CR><LF> abgeschlossen. Die Leerzeile nach dem Header darf nur aus <CR><LF>, ohne eingeschlossenes Leerzeichen, bestehen. Antwort: Der Server sendet eine Fehlermeldung sowie einen Fehlercode zurück, wenn die Information aus irgendeinem Grund nicht gesendet werden kann, allerdings werden auch dann Statuscodes verwendet, wenn die Anfrage erfolgreich war, in dem Falle (meistens) 200 OK. Der genaue Ablauf dieses Vorgangs (Anfrage und Antwort) ist in der HTTP-Spezifikation festgelegt. Geschichte Ab 1989 entwickelten Tim Berners-Lee und sein Team am CERN, dem europäischen Kernforschungszentrum in der Schweiz, das Hypertext Transfer Protocol, zusammen mit den Konzepten URL und HTML, womit die Grundlagen des World Wide Web geschaffen wurden. Erste Ergebnisse dieser Bemühungen war 1991 die Version HTTP 0.9. HTTP/1.0 Die im Mai 1996 als RFC 1945 publizierte Anforderung ist als HTTP/1.0 bekannt geworden. Bei HTTP/1.0 wird vor jeder Anfrage eine neue TCP-Verbindung aufgebaut und nach Übertragung der Antwort standardmäßig vom Server wieder geschlossen. Sind in ein HTML-Dokument beispielsweise zehn Bilder eingebettet, so werden insgesamt elf TCP-Verbindungen benötigt, um die Seite auf einem grafikfähigen Browser aufzubauen. HTTP/1.1 1999 wurde eine zweite Anforderung als RFC 2616 publiziert, die den HTTP/1.1-Standard wiedergibt. Bei HTTP/1.1 kann ein Client durch einen zusätzlichen Headereintrag (Keepalive) den Wunsch äußern, keinen Verbindungsabbau durchzuführen, um die Verbindung erneut nutzen zu können (persistent connection). Die Unterstützung auf Serverseite ist jedoch optional und kann in Verbindung mit Proxys Probleme bereiten. Mittels HTTP-Pipelining können in der Version 1.1 mehrere Anfragen und Antworten pro TCP-Verbindung gesendet werden. Für das HTML-Dokument mit zehn Bildern wird so nur eine TCP-Verbindung benötigt. Da die Geschwindigkeit von TCP-Verbindungen zu Beginn durch Verwendung des Slow-Start-Algorithmus recht gering ist, wird so die Ladezeit für die gesamte Seite signifikant verkürzt. Zusätzlich können bei HTTP/1.1 abgebrochene Übertragungen fortgesetzt werden. Eine Möglichkeit zum Einsatz von HTTP/1.1 in Chats ist die Verwendung des MIME-Typs multipart/replace, bei dem der Browser nach Senden eines Boundary-Codes und eines neuerlichen Content-Length-Headerfeldes sowie eines neuen Content-Type-Headerfeldes den Inhalt des Browserfensters neu aufbaut. Mit HTTP/1.1 ist es neben dem Abholen von Daten auch möglich, Daten zum Server zu übertragen. Mit Hilfe der PUT-Methode können so Webdesigner ihre Seiten direkt über den Webserver per WebDAV publizieren und mit der DELETE-Methode ist es ihnen möglich, Daten vom Server zu löschen. Außerdem bietet HTTP/1.1 eine TRACE-Methode, mit der der Weg zum Webserver verfolgt und überprüft werden kann, ob die Daten korrekt dorthin übertragen werden. Damit ergibt sich die Möglichkeit, den Weg zum Webserver über die verschiedenen Proxys hinweg zu ermitteln, ein traceroute auf Anwendungsebene. Aufgrund von Unstimmigkeiten und Unklarheiten wurde 2007 eine Arbeitsgruppe gestartet, die die Spezifikation verbessern sollte. Ziel war hier lediglich eine klarere Formulierung, neue Funktionen wurden nicht eingebaut. Dieser Prozess wurde 2014 beendet und führte zu sechs neuen RFCs: HTTP/2 Im Mai 2015 wurde von der IETF HTTP/2 als Nachfolger von HTTP/1.1 verabschiedet. Der Standard ist durch RFC 7540 und RFC 7541 spezifiziert. Die Entwicklung war maßgeblich von Google (SPDY) und Microsoft (HTTP Speed+Mobility) mit jeweils eigenen Vorschlägen vorangetrieben worden. Ein erster Entwurf, der sich weitgehend an SPDY anlehnte, war im November 2012 publiziert und seither in mehreren Schritten angepasst worden. Mit HTTP/2 soll die Übertragung beschleunigt und optimiert werden. Dabei soll der neue Standard jedoch vollständig abwärtskompatibel zu HTTP/1.1 sein. Wichtige neue Möglichkeiten sind die Möglichkeit des Zusammenfassens mehrerer Anfragen, weitergehende Datenkompressionsmöglichkeiten, die binär kodierte Übertragung von Inhalten und Server-initiierte Datenübertragungen (push-Verfahren), einzelne Streams lassen sich priorisieren. Eine Beschleunigung ergibt sich hauptsächlich aus der neuen Möglichkeit des Zusammenfassens (Multiplex) mehrerer Anfragen, um sie über eine Verbindung abwickeln zu können. Die Datenkompression kann nun (mittels neuem Spezialalgorithmus namens HPACK) auch Kopfdaten mit einschließen. Inhalte können binär kodiert übertragen werden. Um nicht auf serverseitig vorhersehbare Folgeanforderungen vom Client warten zu müssen, können Datenübertragungen teilweise vom Server initiiert werden (push-Verfahren). Durch die Verwendung von HTTP/2 können Webseitenbetreiber die Latenz zwischen Client und Server verringern und die Netzwerkhardware entlasten. Die ursprünglich geplante Option, dass HTTP/2 standardmäßig TLS nutzt, wurde nicht umgesetzt. Allerdings kündigten die Browser-Hersteller Google und Mozilla an, dass ihre Webbrowser nur verschlüsselte HTTP/2-Verbindungen unterstützen werden. Dafür ist ALPN eine Verschlüsselungs-Erweiterung, die TLSv1.2 oder neuer braucht. HTTP/2 wird von den meisten Browsern unterstützt, darunter Google Chrome (inkl. Chrome unter iOS und Android) ab Version 41, Mozilla Firefox ab Version 36, Internet Explorer 11 unter Windows 10, Opera ab Version 28 (sowie Opera Mobile ab Version 24) und Safari ab Version 8. HTTP/3 HTTP bis Version 2 stützt sich auf das Transmission Control Protocol (TCP) als Transportprotokoll. TCP bestätigt den Erhalt jedes Datenpakets. Dies führt dazu, dass im Falle eines Paketverlustes alle anderen Pakete auf die erneute Übertragung des verloren gegangenen warten müssen (Head-of-Line Blocking). Google arbeitet seit 2012 an einer Alternative unter dem Namen QUIC, was von der IETF übernommen und im Jahr 2021 standardisiert wurde. QUIC ist ein Transportprotokoll, das auf das verbindungslose UDP aufbaut und darin fehlende Eigenschaften wie Zuverlässigkeit und verbindungsorientierte Kommunikation bereitstellt. Verbindungen sind verschlüsselt, wofür QUIC TLS Version 1.3 einsetzt. QUIC unterstützt das Multiplexing von mehreren Datenströmen und umgeht dabei das Head-of-Line Blocking. Falls ein Paket bei QUIC verloren geht, blockiert es nur die Ströme, die in dem jeweiligen Paket enthalten waren. Die Verbindungsaushandlung von QUIC ist darauf optimiert, die Latenz zur Übertragung der eigentlichen Nutzdaten zu verringern. Im November 2018 beschloss die IETF, dass HTTP über QUIC den Namen HTTP/3 tragen soll. Im Juni 2022 wurde HTTP/3 als RFC 9114 standardisiert. Auch bei HTTP/3 werden Datenströme getrennt verarbeitet. Geht ein Paket unterwegs verloren, betrifft es nicht mehr alle Datenströme, wie es bei HTTP/2 der Fall ist. Bei HTTP/3 wird der betroffene Strom warten, bis das fehlende Paket eintrifft. HTTP/3 ist generell verschlüsselt und verspricht deutliche Geschwindigkeitsvorteile gegenüber HTTP/2 mit TLS. Google Chrome Canary war ab Mitte 2019 der erste verfügbare Browser, der eine experimentelle QUIC- und HTTP/3-Unterstützung integriert hatte. cURL zog bald nach. Die Vorab-Versionen von Firefox (nightly und beta) versuchen seit April 2021 automatisch, HTTP/3 zu verwenden, wenn es vom Webserver angeboten wird. Webserver können die Unterstützung anzeigen, indem sie den Alt-Svc-Antwortheader verwenden oder die HTTP/3-Unterstützung mit einem HTTPS DNS-Eintrag ankündigen. HTTP-Anfragemethoden GET ist die gebräuchlichste Methode. Mit ihr wird eine Ressource (zum Beispiel eine Datei) unter Angabe eines URI vom Server angefordert. Als Argumente in dem URI können auch Inhalte zum Server übertragen werden, allerdings soll laut Standard eine GET-Anfrage nur Daten abrufen und sonst keine Auswirkungen haben (wie Datenänderungen auf dem Server oder ausloggen). (siehe unten) POST schickt Daten (z. B. den Inhalt einer Datei) zur weiteren Verarbeitung zum Server, diese werden als Inhalt der Nachricht übertragen und können beispielsweise aus Name-Wert-Paaren bestehen, die aus einem HTML-Formular stammen. Es können so neue Ressourcen auf dem Server entstehen oder bestehende modifiziert werden. POST-Daten werden im Allgemeinen nicht von Caches zwischengespeichert. Zusätzlich können bei dieser Art der Übermittlung auch Daten wie in der GET-Methode an den URI gehängt werden. (siehe unten) HEAD weist den Server an, die gleichen HTTP-Header wie bei GET, nicht jedoch den Nachrichtenrumpf mit dem eigentlichen Dokumentinhalt zu senden. So kann zum Beispiel schnell die Gültigkeit einer Datei im Browser-Cache geprüft werden, und Dateigrößen können im Voraus abgerufen und durch die Content-Length-Zeile erlesen werden. PUT dient dazu, eine Ressource (zum Beispiel eine Datei) unter Angabe des Ziel-URIs auf einen Webserver hochzuladen. Besteht unter der angegebenen Ziel-URI bereits eine Ressource, wird diese ersetzt, ansonsten neu erstellt. PATCH Ändert ein bestehendes Dokument ohne dieses wie bei PUT vollständig zu ersetzen. Wurde durch RFC 5789 spezifiziert. DELETE löscht die angegebene Ressource auf dem Server. TRACE liefert die Anfrage so zurück, wie der Server sie empfangen hat. So kann überprüft werden, ob und wie die Anfrage auf dem Weg zum Server verändert worden ist – sinnvoll für das Debugging von Verbindungen. OPTIONS liefert eine Liste der vom Server unterstützten Methoden und Merkmale. CONNECT wird von Proxyservern implementiert, die in der Lage sind, SSL-Tunnel zur Verfügung zu stellen. RESTful Web Services verwenden die unterschiedlichen Anfragemethoden zur Realisierung von Webservices. Insbesondere werden dafür die HTTP-Anfragemethoden GET, POST, PUT/PATCH und DELETE verwendet. WebDAV fügt die Methoden PROPFIND, PROPPATCH, MKCOL, COPY, MOVE, LOCK und UNLOCK zu HTTP hinzu. Argumentübertragung Häufig will ein Nutzer Informationen an eine Website senden. Dazu stellt HTTP prinzipiell zwei Möglichkeiten zur Verfügung: HTTP-GET Die Daten sind Teil der URL und bleiben deshalb beim Speichern oder der Weitergabe des Links erhalten. Sie müssen URL-kodiert werden, das heißt reservierte Zeichen müssen mit „%<Hex-Wert>“ und Leerzeichen mit „+“ dargestellt werden. HTTP-POST Übertragung der Daten mit einer speziell dazu vorgesehenen Anfrageart im HTTP-Nachrichtenrumpf, so dass sie in der URL nicht sichtbar sind. HTTP GET Hier werden die Parameter-Wertepaare durch das Zeichen ? in der URL eingeleitet. Oft wird diese Vorgehensweise gewählt, um eine Liste von Parametern zu übertragen, die die Gegenstelle bei der Bearbeitung einer Anfrage berücksichtigen soll. Häufig besteht diese Liste aus Wertepaaren, welche durch das &-Zeichen voneinander getrennt sind. Die jeweiligen Wertepaare sind in der Form Parametername=Parameterwert aufgebaut. Seltener wird das Zeichen ; zur Trennung von Einträgen der Liste benutzt. Ein Beispiel: Auf der Startseite von Wikipedia wird in das Eingabefeld der Suche „Katzen“ eingegeben und auf die Schaltfläche „Artikel“ geklickt. Der Browser sendet die folgende oder eine ähnliche Anfrage an den Server: GET /wiki/Spezial:Search?search=Katzen&go=Artikel HTTP/1.1 Host: de.wikipedia.org … Dem Wikipedia-Server werden zwei Wertepaare übergeben: Diese Wertepaare werden in der Form Parameter1=Wert1&Parameter2=Wert2 mit vorangestelltem ? an die geforderte Seite angehängt. Dadurch erfährt der Server, dass der Nutzer den Artikel Katzen betrachten will. Der Server verarbeitet die Anfrage, sendet aber keine Datei, sondern leitet den Browser mit einem Location-Header zur richtigen Seite weiter, etwa mit: HTTP/1.0 302 Found Date: Fri, 13 Jan 2006 15:12:44 GMT Location: http://de.wikipedia.org/wiki/Katzen … Der Browser befolgt diese Anweisung und sendet aufgrund der neuen Informationen eine neue Anfrage, etwa: GET /wiki/Katzen HTTP/1.1 Host: de.wikipedia.org … Und der Server antwortet und gibt den Artikel Katzen aus, etwa: HTTP/1.1 200 OK Date: Fri, 13 Jan 2006 15:12:48 GMT Last-Modified: Tue, 10 Jan 2006 11:18:20 GMT Content-Language: de Content-Type: text/html; charset=utf-8 Die Katzen (Felidae) sind eine Familie aus der Ordnung der Raubtiere (Carnivora) innerhalb der Überfamilie der Katzenartigen (Feloidea). … Der Datenteil ist meist länger, hier soll nur das Protokoll betrachtet werden. Nachteil dieser Methode ist, dass die angegebenen Parameter mit der URL meist in der Historie des Browsers gespeichert werden und so persönliche Daten unbeabsichtigt im Browser gespeichert werden können. Stattdessen sollte man in diesem Fall die Methode POST benutzen. HTTP POST Da sich die Daten nicht in der URL befinden, können per POST große Datenmengen, zum Beispiel Bilder, übertragen werden. Im folgenden Beispiel wird wieder der Artikel Katzen angefordert, doch diesmal verwendet der Browser aufgrund eines modifizierten HTML-Codes (method="POST") eine POST-Anfrage. Die Variablen stehen dabei nicht in der URL, sondern gesondert im Rumpfteil, etwa: POST /wiki/Spezial:Search HTTP/1.1 Host: de.wikipedia.org Content-Type: application/x-www-form-urlencoded Content-Length: 24 search=Katzen&go=Artikel Auch das versteht der Server und antwortet wieder mit beispielsweise folgendem Text: HTTP/1.1 302 Found Date: Fri, 13 Jan 2006 15:32:43 GMT Location: http://de.wikipedia.org/wiki/Katzen … HTTP-Statuscodes Jede HTTP-Anfrage wird vom Server mit einem HTTP-Statuscode beantwortet. Er gibt zum Beispiel Informationen darüber, ob die Anfrage erfolgreich bearbeitet wurde, oder teilt dem Client, also etwa dem Browser, im Fehlerfall mit, wo (zum Beispiel Umleitung) beziehungsweise wie (zum Beispiel mit Authentifizierung) er die gewünschten Informationen (wenn möglich) erhalten kann. 1xx – Informationen Die Bearbeitung der Anfrage dauert trotz der Rückmeldung noch an. Eine solche Zwischenantwort ist manchmal notwendig, da viele Clients nach einer bestimmten Zeitspanne (Zeitüberschreitung) automatisch annehmen, dass ein Fehler bei der Übertragung oder Verarbeitung der Anfrage aufgetreten ist, und mit einer Fehlermeldung abbrechen. 2xx – Erfolgreiche Operation Die Anfrage wurde bearbeitet und die Antwort wird an den Anfragesteller zurückgesendet. 3xx – Umleitung Um eine erfolgreiche Bearbeitung der Anfrage sicherzustellen, sind weitere Schritte seitens des Clients erforderlich. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn eine Webseite vom Betreiber umgestaltet wurde, so dass sich eine gewünschte Datei nun an einem anderen Platz befindet. Mit der Antwort des Servers erfährt der Client im Location-Header, wo sich die Datei jetzt befindet. 4xx – Client-Fehler Bei der Bearbeitung der Anfrage ist ein Fehler aufgetreten, der im Verantwortungsbereich des Clients liegt. Ein 404 tritt beispielsweise ein, wenn ein Dokument angefragt wurde, das auf dem Server nicht existiert. Ein 403 weist den Client darauf hin, dass es ihm nicht erlaubt ist, das jeweilige Dokument abzurufen. Es kann sich zum Beispiel um ein vertrauliches oder nur per HTTPS zugängliches Dokument handeln. 5xx – Server-Fehler Es ist ein Fehler aufgetreten, dessen Ursache beim Server liegt. Zum Beispiel bedeutet 501, dass der Server nicht über die erforderlichen Funktionen (das heißt zum Beispiel Programme oder andere Dateien) verfügt, um die Anfrage zu bearbeiten. Zusätzlich zum Statuscode enthält der Header der Server-Antwort eine Beschreibung des Fehlers in englischsprachigem Klartext. Zum Beispiel ist ein Fehler 404 an folgendem Header zu erkennen: HTTP/1.1 404 Not Found … HTTP-Authentifizierung Stellt der Webserver fest, dass für eine angeforderte Datei Benutzername oder Passwort nötig sind, meldet er das dem Browser mit dem Statuscode 401 Unauthorized und dem Header WWW-Authenticate. Dieser prüft, ob die Angaben vorliegen, oder präsentiert dem Anwender einen Dialog, in dem Name und Passwort einzutragen sind, und überträgt diese an den Server. Stimmen die Daten, wird die entsprechende Seite an den Browser gesendet. Es wird nach RFC 2617 unterschieden in: Basic Authentication Die Basic Authentication ist die häufigste Art der HTTP-Authentifizierung. Der Webserver fordert eine Authentifizierung an, der Browser sucht daraufhin nach Benutzername/Passwort für diese Datei und fragt gegebenenfalls den Benutzer. Anschließend sendet er die Authentifizierung mit dem Authorization-Header in der Form Benutzername:Passwort Base64-codiert an den Server. Base64 bietet keinen kryptographischen Schutz, daher kann dieses Verfahren nur beim Einsatz von HTTPS als sicher angesehen werden. Digest Access Authentication Bei der Digest Access Authentication sendet der Server zusätzlich mit dem WWW-Authenticate-Header eine eigens erzeugte zufällige Zeichenfolge (Nonce). Der Browser berechnet den Hashcode der gesamten Daten (Benutzername, Passwort, erhaltener Zeichenfolge, HTTP-Methode und angeforderter URI) und sendet sie im Authorization-Header zusammen mit dem Benutzernamen und der zufälligen Zeichenfolge zurück an den Server, der diese mit der selbst berechneten Prüfsumme vergleicht. Ein Abhören der Kommunikation nützt hier einem Angreifer nichts, da sich aufgrund der verwendeten kryptologischen Hashfunktion aus dem Hashcode die Daten nicht rekonstruieren lassen und für jede Anforderung anders lauten. HTTP-Kompression Um die übertragene Datenmenge zu verringern, kann ein HTTP-Server seine Antworten komprimieren. Ein Client muss bei einer Anfrage mitteilen, welche Kompressionsverfahren er verarbeiten kann. Dazu dient der Header Accept-Encoding (etwa Accept-Encoding: gzip, deflate). Der Server kann dann die Antwort mit einem vom Client unterstützten Verfahren komprimieren und gibt im Header Content-Encoding das verwendete Kompressionsverfahren an. HTTP-Kompression spart vor allem bei textuellen Daten (HTML, XHTML, CSS, Javascript-Code, XML, JSON) erhebliche Datenmengen, da sich diese gut komprimieren lassen. Bei bereits komprimierten Daten (etwa gängige Formate für Bilder, Audio und Video) ist die (erneute) Kompression nutzlos und wird daher üblicherweise nicht benutzt. In Verbindung mit einer mit TLS verschlüsselten Kommunikation führt die Komprimierung allerdings zum BREACH-Exploit, wodurch die Verschlüsselung gebrochen werden kann. Applikationen über HTTP HTTP als textbasiertes Protokoll wird nicht nur zur Übertragung von Webseiten verwendet, es kann auch in eigenständigen Applikationen, den Webservices, verwendet werden. Dabei werden die HTTP-eigenen Befehle wie GET und POST für CRUD-Operationen weiterverwendet. Dies hat den Vorteil, dass kein eigenes Protokoll für die Datenübertragung entwickelt werden muss. Beispielhaft wird dies bei REST eingesetzt. Siehe auch Liste der HTTP-Headerfelder Request Cycle SOAP Extensible Markup Language (XML) Zeichenkodierung Content Negotiation HTTP ETag HTTP Caching Weblinks Arbeitsgruppe der IETF zur Weiterentwicklung von HTTP. HttpTea, ein HTTP-Analysator. (Freeware) httptea.sourceforge.net (englisch) Microsofts ausführlicher Bericht zu http 2.0. (englisch) Einzelnachweise Internet-Anwendungsprotokoll Internetstandard
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hauptstadt
Hauptstadt
Eine Hauptstadt ist ein symbolisches, zumeist auch politisches Zentrum eines Staates und oft Sitz der obersten Staatsgewalten: Parlament, Monarch bzw. Staatsoberhaupt, Regierung, Oberstes Gericht. Dieser Status ist oftmals per Verfassungsgesetz deklariert. Selten weicht der Regierungssitz ab; so zum Beispiel in Bolivien, Malaysia, Niederlande, Südafrika und Tansania sowie von 1990 bis 1999 in Deutschland. Auch gibt es Hauptstädte, die räumlich vom judikativen Verfassungsorgan getrennt sind, so in Deutschland (Karlsruhe), in der Schweiz (Lausanne), Südafrika (Bloemfontein) und in Tschechien (Brünn). Vor allem in Bundesstaaten können die obersten Organe der Staatsgewalt auf mehrere Städte verteilt sein. Oft gibt es abweichende Finanz-, Industrie-, Verkehrs-, Wissenschafts- und Kulturzentren. Hauptstadt als wichtigstes Zentrum Sehr oft entwickelte sich die Hauptstadt über einen langen Zeitraum hinweg zum unangefochtenen Herzstück eines Nationalstaats. Sie ist nicht nur politisches Zentrum (Residenzstadt), sondern auch Mittelpunkt der Industrie, Wissenschaft, Kunst und Kultur einer Region (Hauptort). Im Städtebau einer Hauptstadt machen sich die Hauptstadt- und Regierungsfunktionen häufig durch monumentale und auf staatliche Selbstdarstellung zielende Gebäude, Straßenzüge, Plätze und Grünanlagen sowie durch die Anlage eines Regierungsviertels bemerkbar. In Frankreich konnte sich die Hauptstadt Paris zur bedeutendsten Stadt des Landes entwickeln. Bereits im Mittelalter wurde der Grundstein für diese Entwicklung gelegt, als die französischen Könige die Stadt zu ihrer Hauptstadt machten, indem sie damit begannen, zentralörtliche, oft höfische, später zunehmend staatliche Funktionen an diesem Ort zu konzentrieren (Zentralismus). 1257 entstand etwa mit dem Gymnasium Collège de Sorbonne der Vorgänger der ältesten und bekanntesten Universität Frankreichs. Franz I. ließ im 16. Jahrhundert Künstler wie Michelangelo, Tizian oder Raffael nach Paris kommen und legte damit den Grundstock für die königliche Gemäldesammlung, die heute der Louvre beherbergt. In den folgenden Jahrhunderten entstanden weitere für Frankreich bedeutende Einrichtungen wie z. B. die Académie française. Trotz der Verlagerung der Residenz von Paris nach Versailles unter Ludwig XIV. blieb die Stadt weiterhin das politische und wirtschaftliche Zentrum. Die Stadt wurde weiter ausgebaut, sie beherbergte zwischen 1855 und 1937 sechs Weltausstellungen. Während der Belle Époque wurde die Stadt erneut zu einem international anerkannten kulturellen und intellektuellen Zentrum. Noch in den letzten Jahrzehnten errichteten französische Präsidenten monumentale Bauwerke wie den Grande Arche, was die Bedeutung der Stadt weiter unterstrich. Paris ist auch heute nicht nur Zentrum der Kultur und Politik, die Stadt ist größter Verkehrsknotenpunkt und größter Wirtschaftsraum in Frankreich. Es fahren auch viele Besucher in die Hauptstadt. Auch London durchlief zunächst für England, später für das ganze Vereinigte Königreich eine vergleichbare Entwicklung. Weitere Beispiele sind Mexiko-Stadt (Mexiko), Buenos Aires (Argentinien) oder Bangkok (Thailand). Hauptstadt als vorwiegend politisches Zentrum Von der weit verbreiteten Norm, als Hauptstadt auch das kulturelle und wirtschaftliche Zentrum zu sein, weichen viele Hauptstädte aus verschiedenen historischen oder politischen Gründen ab. So ist die Hauptstadt nicht immer gleichzeitig die größte und bedeutendste Stadt. Ihre Bedeutung beschränkt sich oftmals nur auf die Funktion als Regierungssitz. Oftmals wandeln sich allerdings im Laufe der Jahre anfänglich bedeutungslose, zu Hauptstädten ernannte Städte durch ihren erlangten Status zu wichtigen Zentren über ihre administrative Bedeutung hinaus. Zur Wahl Berns als Sitz von Bundesregierung und Bundesparlament siehe Hauptstadtfrage der Schweiz. Die Hauptstadt der Vereinigten Staaten, Washington, D.C., belegt in der Reihung nach Einwohnerzahlen nur Platz 27 (auf Rang 1 steht New York City). Aufgrund der geografisch zentraleren Lage und als Zeichen der Abgrenzung vom Osmanischen Reich wurde die Hauptstadt der neu gegründeten Türkischen Republik 1923 von der Metropole Istanbul ins deutlich kleinere und vergleichsweise unbedeutende Ankara verlegt. Die zuvor eher unbedeutende kanadische Stadt Ottawa wurde aufgrund ihrer Lage an der englisch-französischen Sprachgrenze und somit besseren Akzeptanz für beide Bevölkerungsteile als Hauptstadt ausgewählt. Man ging für eine Kleinstadt auch von einer geringeren Bedrohungslage im Kriegsfall aus. Kasachstan verlegte 1997 seine Hauptstadt von Almaty in das halb so große Astana. Zum einen geschah dies wegen der Erdbebengefahr in Almaty, zum anderen wählte man die Stadt in der ungefähren Mitte des Landes zwecks besserer Kontrolle der russischsprachigen Minderheit im Norden. Im Jahr 1949 wurde in der Bundesrepublik Deutschland die bis dahin wenig bedeutende Stadt Bonn zur (provisorischen) Bundeshauptstadt gewählt. Dies geschah wohl vor allem auf Initiative des Rheinländers und ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Ein weiterer Grund für den Erfolg Bonns gegenüber dem Mitbewerber Frankfurt am Main war vermutlich die Befürchtung, dass sich die Bevölkerung nach einer Wiedervereinigung für die Beibehaltung Frankfurts als Hauptstadt hätte aussprechen können. Bei Bonn handelte es sich bei Weitem nicht um die größte Stadt der alten Bundesrepublik; Bonn hatte zu dieser Zeit etwa 115.000 Einwohner, Hamburg z. B. 1,6 Millionen. Im Laufe der Jahre wurde Bonn für die Aufgaben als Hauptstadt ausgebaut; die anfänglich hämisch als Bundesdorf, Bundeshauptdorf oder Konradopolis in Anspielung auf Adenauer bezeichnete Stadt konnte durch Eingemeindungen ihre Einwohnerzahl mehr als verdoppeln. Mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 wurde Bonn durch Berlin als gesamtdeutsche Hauptstadt (wieder) abgelöst. Im Berlin/Bonn-Gesetz wurde Bonn (nun mit dem Zusatztitel „Bundesstadt“) jedoch der Verbleib zahlreicher Bundesministerien und die Zuordnung mehrerer vormals in Berlin ansässiger Bundesbehörden zugestanden, so dass Berlin keine zentralistische Hauptstadt ist. Für das untergegangene Preußen kann man Berlin jedoch durchaus eine mit London oder Paris vergleichbare Entwicklung und Funktion attestieren. Geplante Hauptstadt Die Gründe für den Entschluss eines Staates, eine Planhauptstadt zu errichten, sind vielfältig. Pakistan entschloss sich für den Bau der neuen Hauptstadt Islamabad, da man Vorbehalte gegenüber der Konzentration von Investitionen in der bisherigen Hauptstadt Karatschi hatte. Der Grund für den Bau der brasilianischen Hauptstadt Brasília lag darin, dass man Bedarf nach einer neutralen und föderalen Hauptstadt hatte. Zudem sollte die nun im geographischen Zentrum liegende Stadt die Entwicklung des Binnenlandes fördern, was mit der an der Küste liegenden vorherigen Hauptstadt Rio de Janeiro so nicht möglich gewesen wäre. In den letzten hundert Jahren entstanden weltweit eine Reihe künstlicher Hauptstädte. Die bekanntesten sind neben den schon genannten wohl Abuja in Nigeria, Canberra in Australien, Neu-Delhi in Indien und 2005 Naypyidaw in Myanmar. Schon in vergangenen Jahrhunderten errichteten Herrscher und Staatsführungen auf dem Reißbrett entstandene Hauptstädte. 1703 ließ Zar Peter I. in den Sümpfen der Newa-Mündung den Grundstein für die neue russische Hauptstadt Sankt Petersburg legen. Von 1712 bis 1918 löste sie Moskau als Hauptstadt ab. Auch Washington, D.C. ist eine geplante Hauptstadt. Gegen Ende desselben Jahrhunderts wurde 1792 an den Ufern des Potomac River mit dem Bau der Hauptstadt der USA begonnen. Am 11. Juni 1800 wurde Washington offiziell zur Hauptstadt. Auch in Deutschland ließen absolutistische Herrscher des 17. und 18. Jahrhunderts Residenzstädte völlig neu entstehen. Ein Beispiel dafür ist die ehemalige badische Landeshauptstadt Karlsruhe. Markgraf Karl Wilhelm von Baden-Durlach ließ am 17. Juni 1715 den Grundstein für die nach ihm benannte Stadt legen. Die strahlenförmige Anordnung der Straßen und Alleen, in deren Zentrum das Residenzschloss liegt, ist heute noch gut zu erkennen, ihr verdankt die Stadt den Beinamen „Fächerstadt“. Von der Hauptstadt abweichender Regierungssitz Der Regierungssitz einiger weniger Staaten befindet sich nicht in der Hauptstadt. So ist Amsterdam sowohl die größte Stadt der Niederlande als auch deren nominelle Hauptstadt, offizieller Regierungssitz und königliche Residenz ist jedoch Den Haag. In Südafrika verteilt sich der Sitz der Verfassungsorgane sogar auf drei Städte, wobei die größte Stadt (Johannesburg) nicht dazugehört. Das Parlament tagt in Kapstadt, das Verwaltungs- und Regierungszentrum ist Pretoria (Tshwane) und die obersten judikativen Einrichtungen (Gerichtshöfe) befinden sich in Bloemfontein. Staaten ohne bzw. mit nicht international anerkannter Hauptstadt De jure keine Hauptstadt haben Monaco, Nauru und die Vatikanstadt: Bei Monaco und der Vatikanstadt gibt es aufgrund der Tatsache, dass es sich um reine Stadtstaaten handelt, keine Hauptstadt, auch wenn für Monaco häufig fälschlicherweise Monte-Carlo als Hauptstadt genannt wird. In Nauru wird der Ort, an dem sich die Regierung befindet (Yaren), als inoffizielle Hauptstadt aufgefasst. Sonderfälle finden sich in weiteren Staaten: In der Schweiz wird Bern zwar durch zwei Bundesgesetze als Sitz von Exekutive und Legislative definiert, aber der Begriff Hauptstadt wird amtlich vermieden (siehe Hauptstadtfrage der Schweiz). Israel hat das wiedervereinigte Jerusalem zu seiner Hauptstadt bestimmt. Viele Staaten lehnen die Erweiterung der Stadtgrenzen auf Ostjerusalem ab. Einige Staaten verweigern auch Westjerusalem die Anerkennung als Hauptstadt Israels, da Jerusalem nach dem Teilungsplan als Corpus separatum weder zum arabischen noch zum jüdischen Staat gehören sollte. Die meisten ausländischen Botschaften befinden sich in Tel Aviv oder dessen Vorstädten. In Japan wiederum gibt es die Besonderheit, dass die Stadt Tokio 1943 aufgelöst wurde und die Hauptstadtfunktion von den 23 Stadtbezirken Tokios wahrgenommen wird, die als eigene Städte gelten. Des Weiteren ist unklar, ob Tokio auch de jure die Hauptstadt ist, da es nie eine explizite, offizielle Verlegung der Hauptstadt von Kyōto nach Tokio gab (siehe dazu Hauptstadt Japans). In Liechtenstein gibt es keine Stadt. Vaduz wird daher als Hauptort des Fürstentums bezeichnet. Hauptstadt von Teilstaaten Auch Teilstaaten (beispielsweise Länder in Deutschland und Österreich oder Bundesstaaten in den USA) haben Landeshauptstädte, die für ihr Land außer den politischen auch die übrigen Hauptstadtfunktionen aufweisen. Im Land Preußen gab es auch Provinzhauptstädte. Jeder Schweizer Kanton kennt einen Hauptort, mit Ausnahme des Kantons Appenzell Ausserrhoden, das de jure keinen Hauptort kennt (de facto ist es Herisau). Hauptstädte von Staaten Dabei handelt es sich um eine teils historische, teils aktuelle Aufstellung der Hauptstädte der einzelnen Staaten, ihrer eventuellen Vorgängerstaaten (z. B. Deutscher Bund, Deutsches Reich), der obersten Verwaltungseinheiten (Bundesstaaten, Länder, Bundesländer, Provinzen) und der abhängigen Gebiete. Liste der Hauptstädte der Erde Hauptstädte Australiens Hauptstädte Brasiliens Hauptstädte Deutschlands Hauptstädte Kanadas Hauptstädte Kasachstans Hauptstädte Nigerias Hauptstädte Österreichs Hauptstädte Polens Hauptstädte der Vereinigten Staaten von Amerika Staaten und subnationale Entitäten mit mehreren Hauptstädten Staaten, die heute mehrere Hauptstädte haben Staaten, die in der Vergangenheit mehrere Hauptstädte hatten Subnationale Entitäten mit zwei Hauptstädten Indien Der Bundesstaat Jammu und Kashmir hat je nach Jahreszeit eine andere Hauptstadt, im Sommer Srinagar und im Winter Jammu. Polen: in Polen gibt es zwei Woiwodschaften, deren Verwaltungsorgane in jeweils zwei Städte geteilt sind. Eine davon ist Sitz des Woiwoden, die andere des Sejmiks (Regionalparlament) und des Woiwodschaftsmarschalls (Parlamentspräsident). Keine der beiden Städte gilt damit offiziell als Hauptstadt, jedoch werden beide im Sprachgebrauch so genannt. Woiwodschaft Kujawien-Pommern: Woiwodensitz: Bydgoszcz (Bromberg) Parlamentssitz: Toruń (Thorn) Woiwodschaft Lebus: Woiwodensitz: Gorzów Wielkopolski (Landsberg/Warthe) Parlamentssitz: Zielona Góra (Grünberg) Subnationale Entitäten mit gemeinsamer Hauptstadt Österreich Die Bundeshauptstadt Wien ist Stadtstaat und war außerdem von 1922 bis 1986 Hauptstadt (bis 1996 noch Regierungssitz) von Niederösterreich Indien Das Unionsterritorium Chandigarh ist die Hauptstadt der Bundesstaaten Punjab Haryana Als Besonderheit liegt die Hauptstadt außerhalb beider Bundesstaaten. Hyderabad liegt im 2014 neu gebildeten Bundesstaat Telangana, fungiert aber für weitere zehn Jahre noch als Hauptstadt von Andhra Pradesh Kleinste und größte Hauptstädte der Welt Angaben basieren auf Volkszählungen gemäß Liste der Hauptstädte der Erde. Berechnungen auf Grundlage von World Gazetteer. Die fünf kleinsten Hauptstädte (ohne Agglomeration) Die fünf größten Hauptstädte (ohne Agglomeration) Die fünf größten Hauptstädte (mit Agglomeration) Die kleinsten Hauptstädte nach Kontinenten Die größten Hauptstädte nach Kontinenten (ohne Agglomeration) Die größten Hauptstädte nach Kontinenten (mit Agglomeration) Die fünf größten Hauptstädte um 1900 Hauptstädte, die nicht größte Städte ihres Landes sind Insgesamt gibt es derzeit 39 Staaten auf der Welt, deren Hauptstädte ihrer Einwohnerzahl nach nicht an erster Stelle des Landes stehen. Das sind wie folgt: Siehe auch Hauptstadtbeschluss Hauptstadtplanung Hauptstadtfrage Hauptstadtfrage der Bundesrepublik Deutschland Literatur Andreas W. Daum: Capitals in Modern History: Inventing Urban Spaces for the Nation. In: Andreas W. Daum, Christof Mauch: Berlin – Washington, 1800–2000: Capital Cities, Cultural Representation, and National Identities. Cambridge University Press, Cambridge 2011, ISBN 978-1-107-40258-4, S. 3–28. Jens Kirsch: Hauptstadt – Zum Wesen und Wandel eines nationalen Symbols. LIT-Verlag, Münster 2005, ISBN 3-8258-8593-3. Weblinks Hauptstädte der Welt, deutsche Landeshauptstädte inkl. Telefonvorwahlen Einzelnachweise Stadttitel Politische Geographie !Welt
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hardware
Hardware
Hardware ( im britischen bzw. im amerikanischen Englisch, gelegentlich mit „HW“ abgekürzt) ist der Oberbegriff für die physischen Komponenten (die elektronischen und mechanischen Bestandteile) eines datenverarbeitenden Systems, als Komplement zu Software (den Programmen und Daten). Wortherkunft Ursprünglich ist das englische hardware ungefähr bedeutungsgleich mit „Eisenwaren“ und wird heute im englischsprachigen Raum auch noch in diesem Sinne verwendet – also nicht nur ausschließlich für computer hardware. In Anlehnung an diese Wortherkunft wird als Synonym für Hardware Blech verwendet. Abgrenzung Hardware und Software Datenverarbeitende Systeme, im Folgenden als „Computer“ bezeichnet, bestehen immer aus Hard- und Software. Hardware ist der Teil, den man anfassen kann und umfasst alle Komponenten vom einfachen Kondensator bis zur komplett bestückten Platine, das Gerät als Ganzes sowie dessen Zubehör wie beispielsweise Maus, Tastatur, Bildschirm und Drucker, aber auch Datenträger wie Festplattenlaufwerke oder USB-Speichersticks. Software ist Information und kann nicht angefasst werden, da sie immateriell ist. Sie ist unterteilbar in Programme (Ablaufbeschreibungen und Konfiguration) sowie Daten und bestimmt, was ein Computer tut und wie er es tut (in etwa vergleichbar mit einem Drehbuch). Die Hardware führt Software aus und setzt sie so in Aktionen um. Ebenso wie Information kann Software nicht ohne physische Repräsentation existieren: Software kann zwar auf Medien gespeichert, gedruckt, angezeigt oder transportiert werden. Diese sind aber nicht die Software, sondern beinhalten sie nur. Das hard- und softwaregesteuerte Arbeitsprinzip Bei der Betrachtung von Software kommt es drauf an, ob diese losgelöst von der Hardware veränderlich ist, oder ob die Abläufe und Konfiguration fest an die Struktur der Hardware gebunden sind. Es braucht nicht zwingend eine ausdrückliche Software, um eine Hardware in ihrem Arbeitsablauf automatisiert zu steuern. Selbst komplexe Arbeitsabläufe lassen sich komplett in Hardware umsetzen – das hardwaregesteuerte Arbeitsprinzip. Die grundsätzliche Funktion der Maschine, hier der Ablauf der Rechnung, wird damit während der Konstruktion vorgegeben. Als Beispiel sei eines der frühen Spielhallenspiele genannt, das von Atari 1976 produzierte Spiel Breakout. Das komplette „Programm“ (der Ablauf, die Logik) bestand ausschließlich aus Hardware, bildlich gesehen aus „fest verdrahteten Schalttafeln“. Auch bei Analogrechnern wird die komplette Logik über die Verschaltung und Verdrahtung ihrer Komponenten bestimmt. Die Software widerspiegelt sich hier in der Konfiguration. Auch in heutigen elektronischen Geräten werden automatisierte Arbeitsabläufe teilweise direkt in der Hardware implementiert, z. B. in Form von Logikgattern. Sie setzen einen bestimmten Ablauf von Instruktionen um. Ihre Funktion ist fest durch die Struktur der Hardware vorgegeben und kann nachträglich nicht mehr verändert werden. Für ein Update auf neue Funktionen oder zum Beheben von Fehlern muss die Hardware (zumindest teilweise) ausgetauscht, ergänzt oder durch anderweitige physische Eingriffe angepasst werden. Dafür ist die Verarbeitungsgeschwindigkeit in der Regel höher und der Energieverbrauch oft geringer als bei einer Softwarelösung. Soll ein Arbeitsablauf ohne physische Eingriffe über bloße Konfiguration hinaus nachträglich abänderbar sein, so kommt das softwaregesteuerte Arbeitsprinzip zum Tragen: Dafür erhält die Hardware einen Prozessor. Dieser ist in der Lage, Software in Form von Abläufen „zu verstehen“ und sie abzuarbeiten. Zudem enthält die Hardware konfigurierbare Einheiten, deren Funktion sich ebenfalls umprogrammieren lässt. Die Software und damit die Funktion des Gerätes kann so einfach angepasst und sogar komplett ausgetauscht werden, ohne die Hardware dafür verändern zu müssen. So lassen sich auf ein und demselben Gerät nahezu beliebige Anwendungen nutzen. Heutige komplexere Datenverarbeitungssysteme enthalten oft eine Kombination aus hardware- und softwaregesteuerten Komponenten, wobei die Hardware sowohl aus fest verdrahteter Elektronik, als auch programmierbarer digitaler Elektronik (FPGAs) besteht. Im obigen Beispiel verwendete das von Atari produzierte Spielhallengerät von 1976 keinen Prozessor. Bereits ein Jahr später wurde das Spielprinzip auf ein prozessorgesteuertes Gerät übertragen, den Computer. Seither gab es das Spiel auch als Software. Das Computerspiel bestand nicht mehr aus „verdrahteten Schalttafeln“, sondern aus Anweisungen für einen Prozessor inklusive der für die Abarbeitung notwendigen weiteren Informationen (den Daten), die gemeinsam auf einem Datenträger gespeichert und von dem Computer ausgewertet wurden. Unterteilung Die Basis-Bestandteile eines Prozessors sind die verschiedenen Untergruppen wie Steuerwerk, Rechenwerk („ALU“ Arithmetisch-logische Einheit), Speicherwerk und Eingabe-/Ausgabewerk (Peripheriegerät). Mittlerweile sind bei modernen Prozessoren viele dieser Strukturen eines Rechners in einem Hardwarechip integriert, etwa: Steuerwerk zur ALU und zur Befehlskodierung gleich mehrere Male zur Parallelverarbeitung; Steuerwerk zur Speicherverwaltung (MMU Memory Management Unit); der Cache als Teil des Speicherwerks, die Steuerung für ein Bus-System, das interne und externe Komponenten miteinander verbindet. Bei sogenannten eingebetteten Prozessoren (embedded systems) wie sie zum Beispiel in PDAs (Personal Digital Assistant) oder Waschmaschinen verwendet werden, findet man im selben Gehäuse noch ein Ein-/Ausgabewerk in Form serieller Schnittstellen (zum Beispiel USB), digitalem I/O (Input/Output) zum Beispiel für einen Touchscreen oder eine Motorsteuerung und analogem I/O für zum Beispiel Lämpchen. Noch stärker integriert sind sogenannte SoCs (System on a Chip) für zum Beispiel Smartphones, bei denen weitere Komponenten integriert sind, bis hin zu Arbeitsspeicher (RAM) und Flash-Speicher. Zur Computer-Hardware gehören ferner die PC-Komponenten: Die Grundbestandteile der Rechnerarchitektur: Hauptplatine (auch Motherboard oder Mainboard genannt) mit Chipsatz (für IO), Prozessor (CPU) und Arbeitsspeicher (RAM) Massenspeicher: Laufwerke (Festplattenlaufwerk, Flash-Speicher, CD-ROM-Laufwerk, DVD-Laufwerk, Zip-Laufwerk, Jaz-Laufwerk …) und Speichermedien Erweiterungskarten (Grafikkarte, Soundkarte, Netzwerkkarte, WLAN-Karte, TV-Karte, ISDN-Karte, USB-Karte, PhysX-Karte …) Netzteil, Gehäuse, Lüfter Peripheriegeräte: Ausgabegeräte (Drucker, Bildschirm, Beamer, Lautsprecher …) Eingabegeräte (Tastatur, Maus, Joystick …) Einlesegeräte (Mikrofone, Kartenlesegeräte, verschiedene Arten von Scannern …) Die Elektronik dieser Peripheriegeräte und viele Baugruppen eines Computers sind mit Logikschaltungen aufgebaut. Häufig ist Hardware mit einer FCC-Nummer versehen, die eine eindeutige Identifizierung des Herstellers erlaubt. Weblinks Einzelnachweise Englische Phrase
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https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%B6lloch
Hölloch
Das Hölloch (auch in der Schreibweise Höllloch) ist ein Karst-Höhlensystem im Muotatal im Schweizer Kanton Schwyz. Es ist mit bislang über 210 km bekannter Länge das zweitlängste Höhlensystem in Europa und das elftlängste der Welt. Der Eingang des Höllochs befindet sich in Muotathal oberhalb des Weilers Stalden. Geschichte Der Eingang und ein kleiner Teil der Höhle waren den Talbewohnern längst bekannt. Im Jahre 1875 wurde das Hölloch erstmals begangen, und zwar vom Bergbauern Alois Ulrich aus Stalden; systematische Erforschungen setzten ab 1889 ein. Im Jahre 1905 begann eine belgisch-schweizerische Gesellschaft mit dem touristischen Ausbau der Höhle: Der vorderste Teil der Höhle wurde mit Strom erschlossen und beleuchtet, was für diese Zeit revolutionär war. Es wurden Treppen und Geländer installiert und im Sommer 1906 wurde der erste Teil zur touristischen Nutzung eröffnet. Am 14./15. Juni 1910 zerstörte ein Hochwasser die gesamte vorhandene elektrische Lichtanlage. Die touristische Erschliessung wurde dadurch nach wenigen Jahren durch die Natur wieder beendet. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Hölloch wieder geforscht; 1949 wurde das erste Biwak errichtet. 1993 pachtete und 1995 kaufte die Trekking Team AG die touristischen Nutzungsrechte am Hölloch. Sie organisiert seither Führungen in der Höhle, die damals auf 172 Kilometer erkundet war. Parallel dazu lief die Forschung weiter. Im Mai 2004 kannte man 190,1 Kilometer Gangsystem im Hölloch. Die offiziellen Vermessungswerte der Arbeitsgemeinschaft Höllochforschung (AGH) erreichten im Jahre 2012 erstmal eine gesamte Länge von über 200 km. Die aktuelle vermessene Höhlenlänge beträgt 210,229 km und die Höhendifferenz ist 1033 Meter (Stand November 2022). Das Hölloch ist sehr gut erforscht, und es gibt im begehbaren (trockenen) Bereich kaum noch unerforschte Seitenarme. Aufbau der Höhle Das Hölloch besteht grob gesehen aus drei Ebenen, wobei die unterste Ebene grösstenteils unter dem Karstwasserspiegel liegt und daher mit Wasser gefüllt ist. Bedingt durch die geologischen Gesteinsschichten fallen die Gänge in der Regel gegen Norden ab und es gibt nur wenige Gänge, die waagrecht verlaufen. Mehrfach wurden Höhlenforscher von eindringendem Wasser überrascht und für einige Tage eingeschlossen. Seit 1980 wurden vier weitere Eingänge entdeckt (bzw. geöffnet). Daher können seitdem Eingeschlossene z. B. von einem oben liegenden Eingang erreicht werden. Der Zugang ist jedoch sehr anspruchsvoll und nicht als Rettungsausgang geeignet. Zudem sind in diversen Biwaks Lebensmittelvorräte vorhanden, mit deren Hilfe sich mehrere Personen ein paar Tage versorgen können, das sogenannte Dom-Biwak für Touristentouren und mehrere Forschungsbiwaks für die Höhlenforscher. Dazu kommt, dass die Wassersituation im Hölloch besser bekannt ist und gerade bei touristischen Führungen versucht wird, Risiken zu vermeiden. Wer einen bisher unbekannten Gang oder Raum entdeckt hat, ist berechtigt, diesen zu benennen. Häufig werden Namen verwendet, die spezielle Eigenheiten dieses Ortes wiedergeben. So gibt es etwa den Schlangengang oder den Rittersaal. In der Anfangszeit der Erforschung wurden auch Gänge nach dem Entdecker benannt. Aktuelle Forschung Das Wasser findet den Weg vom Silberensystem ins Hölloch. Könnten die Höhlenforscher diese Verbindung bestätigen, so würde das Hölloch um einen Schlag um 38 km anwachsen. Im Moment scheint das Finden dieser Verbindung jedoch nicht absehbar. Damit die Höhlen offiziell als verbunden gelten, müsste ein begehbarer Gang entdeckt werden. Auch hydrologisch wird viel geforscht, um das Hölloch und die Wege des Wassers immer besser kennenzulernen. Dank mehrerer Messstationen in der Höhle, auf der Oberfläche und bei der wichtigsten Quelle «Schlichenden Brünnen» konnte die Wassersituation im Hölloch bis zum grossen Hochwasser vom Sommer 2005 ziemlich gut beurteilt werden. Seither hat sich das Wasserverhalten verändert, und die bis im Sommer 2005 geltenden Erfahrungswerte sind heute nicht mehr vorbehaltlos gültig. Prinzipiell sind Höhlenbefahrungen oder Expeditionen mit den nötigen Vorsichtsmassnahmen nicht gefährlicher geworden, aber man muss das Verhalten des Wassers nun wieder über einen längeren Zeitraum beobachten, um neue Erfahrungswerte zu sammeln. Als zweitlängstes Höhlensystem in der Schweiz zählt derzeit die Siebenhengste-Hohgant-Höhle. Tierfunde Häufig werden in grossen Höhlensystemen neue Tierarten gefunden. So wurde 2010 im Hölloch der rund drei Millimeter grosse, braun-weisse Pseudoskorpion Pseudoblothrus infernus entdeckt. Das weder den Spinnen noch den Skorpionen zugeordnete Tier ist mit zwei Greifzangen und einer Giftdrüse ausgestattet. Name Zum Namen Hölloch gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Der Höhlenforscher Alfred Bögli leitete den Namen von alemannisch hääl «schlüpfrig, glatt» ab. Die Muotataler Lokalbevölkerung spricht den Namen des Höllochs allerdings Helloch aus, was auf einen Zusammenhang mit älter schweizerdeutsch Hell «Höhle, Hölle» hinweist. Tatsächlich kommt Hell als Örtlichkeitsname sehr häufig vor und bezeichnet oft einen «schauerlichen», abgelegenen Ort. Die in unmittelbarer Nachbarschaft zum Hölloch liegenden Örtlichkeitsnamen Hellbach und Helltobel finden sich denn auch schon 1501 beziehungsweise 1639 urkundlich bezeugt. Literatur Alfred Bögli: Le Hölloch et son karst. Das Hölloch und sein Karst. Baconnière, Neuenburg 1970. Hugo Nünlist: Abenteuer im Hölloch. Zehn Jahre Höhlenforschung. Huber, Frauenfeld 1960. Weblinks Arbeitsgemeinschaft Höllochforschung AGH Reisebericht auf Spiegel-Online Das Hölloch in Muotathal (1965) | In der grössten Höhle Europas. In: SRF Archiv, YouTube, 42 Min. Einzelnachweise Höhle in Europa Höhle in der Schweiz Geographie (Muotathal)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hugo%20Sinzheimer
Hugo Sinzheimer
Hugo Daniel Sinzheimer (geboren am 12. April 1875 in Worms; gestorben am 16. September 1945 in Bloemendaal-Overveen, Niederlande) war ein deutscher Rechtswissenschaftler und sozialdemokratischer Politiker. Leben und Beruf Hugo Sinzheimer war ein Sohn des Kleiderfabrikanten Leopold Sinzheimer und der Franziska Mayer, er hatte vier Geschwister. Nach seinem Abitur auf dem Großherzoglichen Gymnasium in Worms (heute Rudi-Stephan-Gymnasium) 1894 begann Sinzheimer, der jüdisch war, zunächst eine kaufmännische Lehre, die er aber schon nach einem Jahr abbrach. Anschließend studierte er in München, Berlin, Freiburg im Breisgau, Marburg und Halle (Saale) Rechtswissenschaften und Nationalökonomie. Während des Studiums trat er dem staatswissenschaftlichen Verein Berlin bei. Nach seiner Promotion zum Doktor der Rechte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1902 ließ er sich 1903 als Rechtsanwalt in Frankfurt am Main nieder. Als Rechtsanwalt vertrat er vielfach politische und gewerkschaftliche Mandanten. Wesentliche Rechtsprinzipien waren für ihn die Würde und Freiheit des Menschen; er stand dem Humanismus und der Freirechtsbewegung nahe. Hugo Sinzheimer wird in Deutschland auch als Vater des Arbeitsrechts bezeichnet. 1914 wurde er Mitherausgeber der Zeitschrift Arbeitsrecht. Zudem war er Rechtsberater des Deutschen Metallarbeiterverbandes. Während der Novemberrevolution war er provisorischer Polizeipräsident von Frankfurt am Main. Er erarbeitete den Artikel 165 der Weimarer Reichsverfassung, der die Grundlage für die Verankerung der Räte im Wirtschaftsleben legte. Er war ab 1920 Professor für Arbeitsrecht und Rechtssoziologie an der Universität Frankfurt. Er initiierte 1921 die Gründung der Akademie der Arbeit. 1925 übernahm er bis 1931 gemeinsam mit Gustav Radbruch und Wolfgang Mittermaier die Herausgeberschaft der Zeitschrift Die Justiz, der Publikation des Republikanischen Richterbundes. In der Weimarer Republik war er mehrfach als Schlichter in Tarifkonflikten eingesetzt und setzte, obwohl eigentlich gewerkschaftsnah, während des Metallarbeiterstreiks von 1930 zwei Lohnkürzungen durch. Im Jahr 1928 berief der ADGB eine hochrangig besetzten Kommission ein, zu der neben Sinzheimer unter anderem Fritz Baade, Rudolf Hilferding, Erik Nölting und Fritz Naphtali gehörten. Aufgabe war die Erarbeitung eines wirtschaftspolitischen Grundsatzprogramms. Die Ergebnisse veröffentlichte Napthali in seinem Buch Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel (1928). Nach der „Machtergreifung“ wurde der bekennende Jude im Februar 1933 in „Schutzhaft“ genommen. Nach seiner Freilassung im April 1933 floh Sinzheimer in die Niederlande, wo er im Juli 1933 (Antrittsrede 6. November 1933) Professor für Rechtssoziologie zunächst in Amsterdam und später in Leiden wurde. Im September 1933 war ihm im Deutschen Reich die Lehrbefugnis entzogen wurden; im April 1937 wurde er ausgebürgert. Im Mai 1937 entzog ihm die Universität Heidelberg die Doktorwürde. Im Mai 1940, dem Monat der deutschen Besetzung der Niederlande, versuchte Sinzheimer erfolglos, nach England zu flüchten. Kurz darauf wurde er verhaftet und zwei Monate lang in Norddeutschland gefangen gehalten. Nach seiner Freilassung kehrte er nach Amsterdam zurück. Im Februar 1941 wurde er als Hochschullehrer in Leiden entlassen. Im August 1942 wurde Sinzheimer zusammen mit seiner Frau erneut verhaftet und zur Sammelstelle beim Hauptquartier des SD in der Amsterdamer Euterpestraat gebracht, nach Fürsprachen jedoch freigelassen. Die folgenden Jahre bis Kriegsende verbrachte Sinzheimer in wechselnden Quartieren im Untergrund. Nach der Befreiung war Sinzheimer „entkräftet und unterernährt“; er starb wenige Monate später an den Folgen des Lebens in der Illegalität. Partei Während seiner Studienzeit gehörte Sinzheimer linksliberalen Organisationen an. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 trat Sinzheimer der SPD bei, wo er sich dem Hofgeismarer Kreis anschloss. Abgeordneter Sinzheimer war 1919/20 Mitglied in der verfassunggebenden Weimarer Nationalversammlung. Dort begründete er am 16. Juli 1919 den Antrag seiner Fraktion, den Passus „Die Todesstrafe ist abgeschafft“ in die Verfassung aufzunehmen. Bereits im Juni 1919 hatte er versucht, Reichsarbeitsminister zu werden. Er unterlag aber in einer fraktionsinternen Abstimmung mit 35 zu 69 Stimmen gegen Alexander Schlicke. Von 1917 bis 1933 war er Stadtverordneter in Frankfurt am Main. Gedenken An Sinzheimers Geburtshaus in Worms ist eine Gedenktafel angebracht. Das Sinzheimer Institut der Fakultät der Rechtswissenschaft der Universität von Amsterdam ist ebenso nach Sinzheimer benannt wie eine Straße in Frankfurt am Main. Seit 1992 erinnert in Berlin in der Nähe des Reichstags eine der 96 Gedenktafeln für von den Nationalsozialisten ermordete Reichstagsabgeordnete an Sinzheimer. Am 29. April 2010 eröffnete die Otto-Brenner-Stiftung das Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht (HSI) in Frankfurt am Main. Das HSI verleiht ihm zu Ehren den Hugo-Sinzheimer-Preis für herausragende Dissertationen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts und der Arbeitsrechtssoziologie. Preisträger sind: 12. Preisträger: Stephan Pötters, Grundrechte und Beschäftigtendatenschutz 11. Preisträger: Tim Husemann, Das Verbot der parteipolitischen Betätigung – Zur Auslegung des § 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG 10. Preisträgerin: Andrea Potz, Beweiserleichterungen im Arbeitsrecht am Beispiel des Gleichhandlungsrechts 9. Preisträger: Benedikt Schmidt, Tarifpluralität im System der Arbeitsrechtsordnung 8. Preisträger: Ralf Nöcker, Pensionsfonds – Versorgungseinrichtung und Finanzsituation 7. Preisträger: Robert Kretzschmar, Die Rolle der Koalitionsfreiheit für Beschäftigungsverhältnisse jenseits des Arbeitnehmerbegriffs 6. Preisträger: Niklas Wagner, Internationaler Schutz sozialer Rechte – die Kontrolltätigkeit des Sachverständigenausschusses für die Anwendung der Übereinkommen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation 5. Preisträgerin: Annedore Flüchter, Kollektivverträge und Konfliktlösung im SGB V 4. Preisträgerin: Eva Dreyer, Race Relations Act 1976 und Rassendiskriminierung in Großbritannien 3. Preisträger: Michael Hammer, Die betriebsverfassungsrechtliche Schutzpflicht für die Selbstbestimmungsfreiheit des Arbeitnehmers 2. Preisträgerin: Martina Benecke, Beteiligungsrechte und Mitbestimmung im Personalvertretungsrecht 1. Preisträger: Martin Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland. Vom Beginn der Industrialisierung bis zum Ende des Kaiserreichs Schriften Lohn und Aufrechnung. Ein Beitrag zur Lehre vom gewerblichen Arbeitsvertrag auf reichsrechtlicher Grundlage. Diss. Univ. Heidelberg, Berlin 1902. Der korporative Arbeitsnormenvertrag. Leipzig 1907. Brauchen wir ein Arbeitstarifgesetz? Rechtsfragen des Tarifvertrags. Jena 1913. Ein Arbeitstarifgesetz. Die Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht. 1916. Grundzüge des Arbeitsrechts. Jena 1921. Das Problem des Menschen im Recht. Groningen 1933. Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft. Amsterdam 1938 (mit einem Geleitwort von Franz Böhm wiederaufgelegt von Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1953). Theorie der Gesetzgebung. Die Idee der Evolution im Recht. Haarlem 1949 (postum) Arbeitsrecht und Rechtsoziologie. Gesammelte Aufsätze und Reden. Herausgegeben von Otto Kahn-Freund und Thilo Ramm, zwei Bände, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1976. Literatur Rainer Erd: Hugo Sinzheimer (1875–1945), Aufruf zur Befreiung des Menschen, In: Kritische Justiz (Hrsg.): Streitbare Juristen. Eine andere Tradition. Nomos, Baden-Baden 1988, ISBN 3-7890-1580-6, S. 282 ff. Eckhard Hansen, Florian Tennstedt (Hrsg.) u. a.: Biographisches Lexikon zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1871 bis 1945. Band 2: Sozialpolitiker in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus 1919 bis 1945. Kassel University Press, Kassel 2018, ISBN 978-3-7376-0474-1, S. 181 f. (Online, PDF; 3,9 MB). Thomas Klein: Leitende Beamte der allgemeinen Verwaltung in der preußischen Provinz Hessen-Nassau und in Waldeck 1867 bis 1945 (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte. Bd. 70), Hessische Historische Kommission Darmstadt, Historische Kommission für Hessen, Darmstadt/Marburg 1988, ISBN 3-88443-159-5, S. 214–215. Susanne Knorre: Soziale Selbstbestimmung und individuelle Verantwortung. Hugo Sinzheimer (1875-1945). Eine politische Biographie. Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-631-43436-7 (= Beiträge zur Politikwissenschaft, Band 45, zugleich Dissertation an der Universität Hamburg 1990). Keiji Kubo: Hugo Sinzheimer – Vater des deutschen Arbeitsrechts. Biografie (Originaltitel: Aru-hōgakusha-no-jinsei - Hugo Sinzheimer. Übersetzt von Monika Marutschke), Bund, Köln 1995, ISBN 3-7663-2647-3. (Inhalt) Hugo Sinzheimer. In: Franz Osterroth: Biographisches Lexikon des Sozialismus. Band 1: Verstorbene Persönlichkeiten. Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH, Hannover 1960, S. 292–293. Hubert Rottleuthner: Drei Rechtssoziologen: Eugen Ehrlich, Hugo Sinzheimer, Max Weber. In: Erk Volkmar Heyen (Hrsg.): Historische Soziologie der Rechtswissenschaft. Frankfurt am Main 1986, S. 227–252. Sandro Blanke: Soziales Recht oder kollektive Privatautonomie? Hugo Sinzheimer im Kontext nach 1900. Mohr Siebeck, Tübingen 2005. Abraham de Wolf: Hugo Sinzheimer und das jüdische Gesetzesdenken im deutschen Arbeitsrecht. Herausgegeben vom Centrum Judaicum, Hentrich und Hentrich, Berlin 2013, ISBN 978-3-95565-067-4 (= Jüdische Miniaturen, Band 159). Christoph Müller: Hugo Sinzheimer (1875–1945). Selbstorganisation und Selbstverwaltung im Arbeitsrecht. In: Detlef Lehnert (Hrsg.): Vom Linksliberalismus zur Sozialdemokratie. Politische Lebenswege in historischen Richtungskonflikten 1890–1945. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2015, S. 145–174. ISBN 978-3-412-22387-8. Weblinks Hugo-Sinzheimer-Institut: Hugo-Sinzheimer-Preis Ausführlichere Biografie auf der Seite des Vereins Warmaisa e. V. über berühmte Wormser Bürger jüdischen Glaubens AIAS-HSI – Amsterdam Institute for Advanced Labour Studies (AIAS) und Hugo Sinzheimer Institute (HSI) der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Amsterdam (englisch) Hugo-Sinzheimer-Institut Webseite des Hugo-Sinzheimer-Instituts der Otto-Brenner-Stiftung The Hugo Sinzheimer Repository (www.sinzheimer.net) enthält eine komplette Liste von Sinzheimers Publikationen und eine kurzgefasste Biographie. Einzelnachweise Mitglied der Weimarer Nationalversammlung Arbeitsrechtler (20. Jahrhundert) Polizeipräsident (Frankfurt am Main) Emigrant aus dem Deutschen Reich zur Zeit des Nationalsozialismus NS-Opfer DV-Mitglied SPD-Mitglied Hochschullehrer (Goethe-Universität Frankfurt am Main) Person des Judentums (Worms) Hochschullehrer (Universität von Amsterdam) Hochschullehrer (Universität Leiden) Rechtssoziologe (20. Jahrhundert) Deutscher Geboren 1875 Gestorben 1945 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Halifax%20%28Nova%20Scotia%29
Halifax (Nova Scotia)
Halifax (offiziell Halifax Regional Municipality, HRM) ist die Hauptstadt der Provinz Nova Scotia in Kanada. Sie liegt an der Ostküste der Nova-Scotia-Halbinsel am Nordatlantik. Der urbane Teil der HRM setzt sich aus Halifax, Dartmouth, Bedford und Sackville zusammen und bildet ein einheitliches Stadtgebiet, genannt Halifax Metro. Als wirtschaftliches und kulturelles Zentrum der atlantischen Provinzen gehört Halifax seit dem 1. April 1996 zum Gebiet der Halifax Regional Municipality, die neben Halifax, Bedford, Dartmouth und Sackville auch Cole Harbour, Halifax West, Eastern Shore und weitere Regionen auf einer Fläche von 5490 km² vereint. In der HRM leben etwa 414.000 Menschen (Stand 2021), was 45 % der Bevölkerung von Nova Scotia und 15 % aller Bewohner der atlantischen Provinzen ausmacht. Somit ist Halifax das größte Bevölkerungszentrum östlich von Québec und nördlich von Boston. Zu Halifax gehört auch die abgelegene Insel Sable Island. Geschichte Zur Geschichte der First Nations in Kanada, die lange vor dem Eintreffen der Europäer auch in der Gegend um das spätere Halifax ansässig waren, siehe z. B. Geschichte Kanadas. Am 9. Juli 1749 landete Captain General Edward Cornwallis mit etwa 2500 Siedlern auf der sogenannten Chebucto-Halbinsel, um eine befestigte Siedlung als Vorposten für das britische Militär zu errichten. Diese kleine Gemeinde wurde nach Lord Halifax (1716–1771) benannt, dem Präsidenten des Board of Trades. Ein Jahr später, im Jahr 1750, wurde „Dartmouth“ gegründet, das nach der Stadt Dartmouth in England sowie zur Ehre von Sir William Legge, dem zweiten Grafen von Dartmouth, benannt wurde. 1752 wurde eine Fährverbindung zwischen Halifax und Dartmouth eingerichtet, die heute als „Dartmouth Ferry“ die älteste permanent in Betrieb befindliche Salzwasserfährverbindung in Nordamerika ist. Trotz vieler Probleme entwickelte sich die Gemeinschaft weiter und wurde zur Geburtsstätte der ersten kanadischen Zeitung, der „Halifax Gazette“ (1752), und des ersten kanadischen Postbüros im Jahre 1755. Im Jahre 1758 fand die erste Abgeordnetenversammlung statt und noch im selben Jahr begann die Geschichte von Halifax als bedeutende Hafenstadt mit dem Bau der ersten Werft. 1759 war Halifax die Basis für britische Operationen gegen die französische Festung Louisbourg. Kriege und internationale Konflikte verhalfen Halifax durch militärische Einrichtungen zu Reichtum und Wohlstand. Der Siebenjährige Krieg ist ein erstes Beispiel. Kurz darauf, um 1770, war Halifax im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg wieder Ausgangspunkt und Basis militärischer Operationen zu Land und zu Wasser. Viele Schwarze siedelten in dieser Zeit in Halifax, gefolgt von Jamaikanern, was zu einer starken schwarzen Gemeinschaft führte. Die Machtschwankungen innerhalb Europas und besonders das mächtige Frankreich mit Napoleon Bonaparte hielten Großbritannien und somit auch Halifax als atlantische Bastion in ständiger Alarmbereitschaft. Im Jahre 1812 war Halifax wieder dabei, sich gegen bevorstehende Angriffe, diesmal der südlichen Nachbarn, zu rüsten. In den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Halifax zwischen Frieden und Krieg. In diesen Jahren fanden die folgenden bedeutenden Ereignisse statt: die Gründung der „Halifax Insurance Company“ im Jahre 1809 die Gründung einer der führenden Banken des Landes, der Bank of Nova Scotia 1832 die erste Überquerung des Atlantiks mit einem dampfbetriebenen Schiff, der Royal William im Jahr 1837 die Aufnahme des regulären transatlantischen Dampfschiffbetriebs des Cunard-Liners Britannia im Jahre 1840 die Installation des Telefonsystems im Jahre 1882 die Eröffnung des Rathauses im Jahre 1890. Die Opfer des Untergangs der Titanic wurden 1912 in Halifax bestattet. Während des Ersten Weltkriegs war Halifax wieder ein Dreh- und Angelpunkt militärischer Operationen und Logistik. Dabei kamen bei der Explosion des französischen Schiffs Mont Blanc, der Halifax-Explosion, die große Teile der Halbinsel verwüstete, im Dezember 1917 mindestens 1635 Menschen ums Leben. Über 2000 blieben vermisst, 9000 wurden verletzt und 25.000 verloren ihr Obdach. Auch im Zweiten Weltkrieg von 1939 bis 1945 war Halifax ein wichtiger westlicher Anker der transatlantischen Routen für die alliierte Kriegslogistik. Die großen geschützten Gewässer der Bedford-Bucht erlaubten der Royal Navy und der Royal Canadian Navy, zahlreiche große Konvois mit Truppen und Material zusammenzustellen. Die wichtigen HX-Geleitzüge hatten hier ihren Ausgangspunkt. Torpedonetze im Hafen von Halifax verhinderten das Eindringen deutscher U-Boote. Besonders die Zugverbindung und die Lage weit im Osten Kanadas machten Halifax zu einem der wichtigsten nordamerikanischen Häfen in der Atlantikschlacht. Im Jahre 1925 wurde die transatlantische Telegrafenverbindung nach Halifax hergestellt, und „Trans-Canada Airlines“ startete eine Flugverbindung zwischen Halifax und Vancouver im Jahre 1941. Im Jahre 1960 eröffnete der Halifax International Airport für die nächste Generation von Reisenden. Vom 15. bis 17. Juni 1995 fand der 21. Gipfel der G7-Staaten in Halifax mit Kanada, den Vereinigten Staaten von Amerika, dem Vereinigten Königreich, Japan, Deutschland, Italien und Frankreich statt. Auch der russische Präsident und der Kommissionspräsident der EU waren vertreten. Neben dem Gewinn an Ansehen brachte der G7-Gipfel circa 5100 Menschen nach Halifax, darunter 2100 Medienmitarbeiter und Journalisten, 2000 Delegierte und 1000 Sicherheitsbeamte. Es wurden 28 Millionen Dollar an staatlichen und fünf Millionen Dollar an Ländermitteln für den Gipfel veranschlagt. Klima Wirtschaft und Infrastruktur Halifax besitzt als Basis der Atlantikflotte der kanadischen Marine noch immer eine signifikante militärische Bedeutung und stellt den größten Militärkomplex der kanadischen Marine sowie – nach stationiertem Personal – die größte Militäreinrichtung des Landes dar. Halifax ist ebenfalls die Basis der kanadischen Küstenwache. Der Hafen Halifax besitzt zwei große Container-Terminals, eine Ölraffinerie sowie weitere Einrichtungen für das Verladen von Autos und anderen Gütern mit direktem Anschluss zur Eisenbahn. Des Weiteren existieren spezialisierte Einrichtungen für die logistische Versorgung von Hochsee-Gas- und Ölförderanlagen nahe Sable Island sowie zur Suche nach Vorkommen von fossilen Brennstoffen vor der Küste Nova Scotias. Von Bedeutung für den Tourismus sind in den letzten Jahren die Passagiere der in der wärmeren Jahreszeit ankommenden Kreuzfahrtschiffe. Im Jahr 2009 lagen erstmals fünf Kreuzfahrtschiffe gleichzeitig in Halifax vor Anker. Halifax hat mehrere große Kongresszentren, die für wirtschaftliche und politische Zusammenkünfte genutzt werden. Weitere Wirtschaftsbereiche sind der Fischfang und Landwirtschaft sowie Rohstoffgewinnung und Produktion, daneben Tourismus sowie das Allgemeine Dienstleistungsgewerbe. Größere private Arbeitgeber sind J. D. Irving ein Mischkonzern mit mehreren Standorten in den Atlantikprovinzen. EastLink, ein Telekommunikationsunternehmen, Emera, ein Elektrizitätsversorger, sowie General Dynamics. Air Canada Jazz, eine regionale Tochterairline von Air Canada, die ihren Hauptsitz am Flughafen von Halifax hat. Eine weitere größere Airline ist die CanJet Airlines die zur IMP Group gehört. Pratt & Whitney Canada betreibt ein Fertigungswerk für Flugzeugturbinen in Halifax. Bildung Halifax besitzt sechs Hochschulen: Dalhousie University, Saint Mary’s University, Mount Saint Vincent University, University of King’s College, Atlantic School of Theology und Nova Scotia College of Art and Design. Neben diesen sechs Hochschulen unterhält das Nova Scotia Community College weitere drei Bildungseinrichtungen innerhalb des Stadtgebiets. Neben den Universitäten sind in Halifax auch renommierte Privatschulen wie die Halifax Grammar School angesiedelt. Medien Eine der wichtigsten und größten Tageszeitungen sowohl in Halifax als auch in der gesamten Provinz ist The Chronicle Herald. Die Zeitung wird an Zeitungsständen, online sowie durch Heimlieferungen vertrieben. Eine weitere Tageszeitung ist die Metro Halifax. The Coast ist eine wöchentlich erscheinende und gratis verteilte Zeitung in der größeren Umgebung von Halifax. Daneben befinden sich mehrere Radiosender wie The Bounce 101.3FM und CBC Radio sowie regionale Fernsehsender von CTV, CBC und Global TV, die aktuelle regionale Informationen ausstrahlen. Halifax ist an das digitale Kabelnetz angeschlossen, welches von Bell und EastLink angeboten wird, und somit können Fernsehsender aus ganz Kanada und teils aus den USA empfangen werden. Öffentliche Einrichtungen Für die öffentliche Sicherheit sind die 615 Beamten und 321 Zivilangestellten der Halifax Regional Police zuständig. Die Polizei verfügt über acht Dienststellen und ist in drei Bezirke unterteilt. Die Beamten werden zu gegebenen Anlässen von der kanadischen Bundespolizei der Royal Canadian Mounted Police (RCMP) unterstützt. Halifax verfügt über fünf Krankenhäuser, die auch für die umliegenden Vororte zuständig sind. Das Dartmouth General Hospital ist das größte Krankenhaus in der Stadt. Weitere Krankenhäuser sind das Eastern Shore Memorial Hospital, IWK Health Centre, Nova Scotia Hospital und das Queen Elizabeth II Health Sciences Centre. Das Netzwerk der Stadtbibliothek hat 14 Teilbibliotheken. Besonders sehenswert ist die 2014 fertiggestellte Zentralbibliothek. Sie hat eine öffentlich zugängliche Dachterrasse mit Meerblick, und eine futuristisch anmutende Architektur, die viel Tageslicht ins Innere lässt. Sehenswürdigkeiten Die wichtigste Sehenswürdigkeit bildet die sternförmige Zitadelle (Fort George) im Zentrum der Stadt auf einer Anhöhe namens Citadel Hill. In deren unmittelbarer Nähe befindet sich das von 1811 bis 1818 errichtete Province House, der Uhrturm von Halifax Old Town Clock, die Halifax City Hall und die Art Gallery of Nova Scotia. Neben dem 75 Hektar umfassenden Point Pleasant Park, der auf der Südspitze der Halifax-Halbinsel liegt und in dem einige militärhistorische Gebäude stehen, ist auch der im viktorianischen Stil angelegte Halifax Public Garden, der bereits seit 1867 als öffentlicher Park in der Innenstadt besteht, sehenswert. Weitere wichtige Gebäude sind Purdy’s Wharf, die St. Mary’s Basilica, St. Paul’s Church und das Halifax Metro Centre. Pier 21 war ein bedeutender Ankunftsort für Einwanderer bis in die 1950er Jahre und ist heute ein Museum und eine nationale historische Stätte. In Halifax sind 121 Opfer der Titanic-Katastrophe von 1912 auf dem Fairview Cemetery bestattet worden. Weitere 29 Opfer liegen auf dem Mount Olivet Cemetery und dem Baron de Hirsch Cemetery in Halifax. Verkehr Luftverkehr Der Halifax International Airport (IATA-Code: YHZ, ICAO-Code: CYHZ) ist das Hauptluftdrehkreuz der atlantischen Provinzen mit etwa 160 täglichen Abflügen zu 38 nordamerikanischen und internationalen Zielen. Der Flughafen befindet sich in Enfield, etwa 35 km von Downtown Halifax und etwa 30 km von Dartmouth entfernt. Das Umsatzaufkommen am Flughafen beläuft sich auf etwa drei Millionen Passagiere sowie etwa 79.000 Flugbewegungen pro Jahr. Neben Linienflügen existieren auch viele saisonale Verbindungen. Eisenbahnverkehr Für Passagiere existieren Zugverbindungen in den Westen Kanadas und zu US-Amtrak-Zügen. Dreimal wöchentlich verbindet der Via Rail Zug The Ocean/L'Océan Halifax mit Québec (Stadt) und Montréal. Individualverkehr Für Autofahrer gibt es verschiedene Möglichkeiten, Halifax zu erreichen: Aus dem Norden und vom Flughafen ist Route 102 der direkte Zubringer nach Halifax. Von der Ostküste verbindet die Route 107 zum Highway 111, der über die A. Murray MacKay Bridge ebenfalls ein Zubringer für die Kernstadt ist. Von der Südküste und Yarmouth sind die Routen 3 und 103 die Verbindungsstrecken. Route 101 kommt vom Annapolis Valley, ist aber ebenfalls als Route aus Yarmouth geeignet. Reisende aus den USA können Halifax entweder über New Brunswick oder eine der direkten Bootsverbindungen aus Maine nach Yarmouth erreichen. Busverkehr Maritime Bus hat gute Verbindungen innerhalb von Nova Scotia, New Brunswick und Prince Edward Island (PEI). Diese Firma hat jetzt auch Service in Quebec, so wie die Linien nach Quebec-Stadt und Montreal. Sie hat die Hauptlinie von der ungenutzten Firma „Acadian Lines“ übernommen, als sie in Konkurs gegangen ist. Fährverkehr 1752 wurde eine Fährverbindung zwischen Halifax und Dartmouth am gegenüberliegenden Ufer eingerichtet, die als „Dartmouth Ferry“ die älteste bis heute betriebene Salzwasserfähre Nordamerikas ist. Im Jahr 2002 wurde das 250-jährige Bestehen der Fährverbindung gefeiert. Eingerichtet wurde die Verbindung zwischen Dartmouth und Halifax, um die Garnison von Halifax mit Lebensmitteln und Eis für die Eishäuser zu versorgen. Bis 1955, als die Angus L. Macdonald Bridge eröffnet wurde, war die Fähre die einzige Direktverbindung zwischen Halifax und Dartmouth. Heute ist die Fähre in den ÖPNV der HRM eingegliedert. Schiffsverkehr Es gibt verschiedene Wasserverbindungen nach Halifax bzw. Nova Scotia. Neben den unten gelisteten Linienverbindungen wird Halifax von Kreuzfahrtschiffen verschiedener Reedereien angelaufen. Im Bereich des Pier 21, das schon früher Terminal für Transatlantikverbindungen war, können drei bis vier Schiffe anlegen. Wasserverbindungen nach Halifax/Nova Scotia Bay Ferries Ltd. von Bar Harbor, Maine nach Yarmouth, Nova Scotia (Juni bis Oktober) Bay Ferries Ltd. von Saint John, New Brunswick nach Digby, Nova Scotia (ganzjährig) Scotia Prince Cruises von Portland, Maine nach Yarmouth, Nova Scotia (30. April bis 6. November) Northumberland Ferries Ltd. von Wood Islands, Prince Edward Island nach Yarmouth, Nova Scotia (März bis Dezember) Marine Atlantic von Port aux Basques und Argentia, Neufundland nach North Sydney, Nova Scotia (Mitte Juni bis Mitte Dezember) Partnerstädte Hakodate, Campeche, Norfolk, Persönlichkeiten Weblinks Halifax Regional Municipality Website der Dalhousie University Website der Saint Mary’s University Website der Mount Saint Vincent University Politische Deklaration der G7-Staaten beim Treffen in Halifax Fährverkehr Halifax – Dartmouth Hans-Jürgen Hübner: Halifax, Hauptstadt Neuschottlands (Geschichte) Einzelnachweise Ort in Nova Scotia Ort mit Seehafen Kanadische Provinzhauptstadt Hochschul- oder Universitätsstadt in Kanada
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Hirohito
Hirohito (japanisch ; * 29. April 1901 in Tokio; † 7. Januar 1989 ebenda) war entsprechend der traditionellen Thronfolge der 124. Tennō des Japanischen Kaiserreichs und der dritte der modernen Periode. Er regierte von 1926 bis zu seinem Tod 1989 und ist seitdem offiziell als Shōwa-tennō bekannt () – d. h. „Tenno der Ära des erleuchteten Friedens“. Außerhalb Japans wird er weiter als Kaiser Hirohito bezeichnet. Hirohito, der sich persönlich für Meeresbiologie interessierte, übernahm schon 1921 für seinen erkrankten Vater die Regentschaft. Damals war Japan bereits eine militärische Großmacht und strebte die Vorherrschaft in Ostasien (Großostasiatische Wohlstandssphäre) an. Unter Hirohito gewann das japanische Militär zunehmend die Oberhand über die zivile Führung, was zur Ausweitung der Aggressionen gegen andere Länder führte. Diese Expansionspolitik mündete im Dezember 1941 in den Angriff auf die amerikanische Flotte in Pearl Harbor, wodurch Japan an der Seite der Achsenmächte in den Zweiten Weltkrieg eintrat. Die Kämpfe im Pazifik endeten am 2. September 1945 mit der Kapitulation Japans und das Land wurde von amerikanischen Streitkräften besetzt. Wegen Hirohitos Mitverantwortung für den Angriffskrieg und den damit verbundenen Kriegsverbrechen sollte er vor einem Militärtribunal angeklagt werden. Allerdings verzichtete die amerikanische Militärverwaltung unter General Douglas MacArthur darauf und beließ Hirohito auf dem Kaiserthron. Die neue Verfassung Japans aus dem Jahr 1947 reduzierte die Funktion des Kaisers nunmehr auf rein repräsentative Aufgaben. In den kommenden Jahrzehnten war Hirohito stark in der Öffentlichkeit präsent und beteiligte sich an der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen. Japan stieg in dieser Zeit zu einer führenden Wirtschaftsmacht auf. Eine Aufarbeitung der japanischen Kriegsverbrechen und der Rolle Hirohitos fand kaum statt; allerdings boykottierte er seit 1978 den Yasukuni-Schrein, der auch Kriegsverbrecher ehrt. Nach Hirohitos Tod im Jahr 1989 folgte ihm sein Sohn Akihito nach. Frühes Leben Hirohito wurde am 29. April 1901 im Aoyama-Palast in Tokio geboren. Er war der älteste von vier Söhnen des damaligen Kronprinzen Yoshihito (später Taishō-tennō) und Kronprinzessin Sadako (später Teimei), und damit der erste japanische Thronanwärter seit 1750 dessen leibliche Mutter offizielle Gemahlin seines Vorgängers war. Der Neugeborene erhielt den Titel Prinz Michi (, Michi no miya) und der Tradition des japanischen Kaiserhauses entsprechend, wurde er unmittelbar nach seiner Geburt in die Obhut des Adligen Kawamura Sumiyoshi und dessen Ehefrau übergeben. Nach Kawamuras Tod im Jahr 1904 kehrten Hirohito und sein ebenfalls dort lebender Bruder Chichibu Yasuhito zu ihren Eltern zurück. Als zukünftiger Herrscher durfte Hirohito keine Beziehungen zu den einfachen Bevölkerungsschichten unterhalten und wuchs fernab der japanischen Lebenswirklichkeit in der Isolation der kaiserlichen Residenzen auf. Ein strenges Hofzeremoniell reglementierte den Tagesablauf. Von 1908 bis 1914 besuchte Hirohito die Gakushūin-Adelsschule, die Angehörigen der Kaiserfamilie und des Hochadels (Kazoku) vorbehalten war. Im Alter von elf Jahren wurde er zum Leutnant der Kaiserlich Japanischen Armee sowie zum Ensign der Kaiserlichen Marine ernannt. Mit dem Tod seines Großvaters, Kaiser Meiji, und der Thronbesteigung seines Vaters (Taishō-Zeit) am 30. Juli 1912 wurde Hirohito offiziell zum Thronfolger ernannt und erhielt den Chrysanthemenorden. Die weitere Erziehung unterstand ab 1914 einer speziellen Institution (Tōgū-gogakumonsho), die von dem Großadmiral (Gensui) und Kriegshelden Tōgō Heihachirō geleitet wurde. Hirohitos Erziehung zeichnete sich durch militärischen Drill aus und war von der Begrifflichkeit des Kokutai geprägt. Die konservativ-nationalistischen Lehrer (u. a. Sugiura Jūgō und Shiratori Kurakichi) erzogen ihren Schüler in striktem Rassedenken. Sie vermittelten Hirohito das Wesen der japanischen Monarchie, deren mythologischer Herrschaftsursprung und Erbfolge auf die Göttin Amaterasu zurückzuführen sei (Arahitogami). Neben der Vermittlung militärischer Kenntnisse umfasste das Lernprogramm moralische, religiöse, geschichtliche und philosophische Inhalte, die sich an der Lehre des Staats-Shintō und des Konfuzianismus orientierten. Die formale Einführung Hirohitos als Kronprinz (Tōgū Gosho) erfolgte am 2. November 1916. Als erster Kronprinz in der Geschichte Japans begab sich Hirohito vom 3. März bis zum 3. September 1921 auf eine Auslandsreise nach Europa, die er nach eigenem Bekenntnis als glücklichste Zeit seines Lebens bezeichnete. Die Abreise an Bord des Kriegsschiffes Katori rief ein gewaltiges Medieninteresse hervor. Hirohito erreichte am 9. Mai das Vereinigte Königreich und wurde als Zeichen der Anglo-Japanischen Allianz von König Georg V. und Premierminister David Lloyd George in Portsmouth empfangen. Der Staatsbesuch führte ihn u. a. in den Londoner Buckingham Palace, nach Windsor Castle, an die University of Oxford und nach Edinburgh. Die weiteren Ziele waren Frankreich, die Niederlande, Belgien, Italien und die Vatikanstadt. In Frankreich besichtigte Hirohito die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs (Westfront) und vor seiner Heimreise traf er mit Italiens König Viktor Emanuel III. zusammen. Regentschaft Am 29. November 1921, wenige Wochen nach seiner Rückkehr aus Europa, wurde Hirohito für seinen geistig erkrankten und regierungsunfähigen Vater zum Regenten ernannt. Die wichtigsten Berater des 20-Jährigen waren General Yamagata Aritomo als Vorsitzender des Kronrates sowie der französische Diplomat Jean Ray, der ihm Fremdsprachenkenntnisse vermittelte. Der letzte Genrō, Saionji Kimmochi, übernahm die Einführung in die Staatsgeschäfte. Hirohitos Regentschaft fiel in die Periode der Taishō-Demokratie, die sich durch eine Liberalisierung von Staat und Gesellschaft auszeichnete. Außenpolitisch vertrat Japan einen gemäßigten, auf Ausgleich mit den Westmächten zielenden Kurs (Shidehara-Diplomatie). Trotz wachsenden Misstrauens gegenüber den westlichen Kolonialmächten trat das Land 1921 dem Washingtoner Viermächteabkommen bei. Darin verpflichteten sich die Vereinigten Staaten, das Britische Empire, Frankreich und Japan zur gegenseitigen Respektierung der Besitzungen im Pazifikraum. Zur Stärkung der diplomatischen Beziehungen mit Großbritannien empfingen Kronprinz Hirohito und seine Mutter Kaiserin Temei im Frühjahr 1922 den britischen Thronfolger Prinz Eduard. Vom 12. bis zum 27. April 1923 unternahm Hirohito eine Inspektionsreise nach Taiwan, das zu einer japanischen „Modellkolonie“ aufgebaut werden sollte. Im September 1923 ereignete sich mit dem Großen Kantō-Erdbeben eine verheerende Naturkatastrophe, die einen anschließenden Feuersturm in Tokio verursachte und schätzungsweise 142.800 Menschenleben kostete. Hirohito, der sich zum Zeitpunkt des Erdbebens im zentral gelegenen Akasaka-Palast aufgehalten hatte, blieb unverletzt. Unmittelbar nach der Katastrophe kam es in Japan zu zahlreichen fremdenfeindlichen Ausschreitungen gegen koreanische Einwanderer und anderen Übergriffen (z. B. Amakasu-Zwischenfall). Am 27. Dezember 1923 verübte der kommunistische Agitator Daisuke Nanba ein Attentat auf Hirohito, als dieser sich auf dem Weg zur Parlamentseröffnung befand. Nanba schoss auf die Kutsche des Regenten und verletzte einen Kammerherrn, während Hirohito unverletzt blieb. Der Attentäter wurde am 13. November 1924 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Der Anschlag war ein Grund dafür, dass 1925 das Friedenssicherungsgesetz verabschiedet wurde, welches in den kommenden Jahren die zentrale Rechtsgrundlage einer antikommunistischen Unterdrückungspolitik darstellte. Ehe und Nachkommen Hirohito heiratete am 26. Januar 1924 seine Cousine Nagako, eine Prinzessin von kaiserlicher Herkunft. Sie war die älteste Tochter des Prinzen Kuni Kuniyoshi, ihre Mutter entstammte der Militäraristokratie (Daimyō). Damit gehörte Nagako keinem der fünf Hauptzweige des Fujiwara-Clans an, die seit Jahrhunderten die Hauptfrauen des Kaisers stellten. Aus der Ehe entstammten sieben Kinder: Prinzessin Teru (Teru no miya Shigeko, * 6. Dezember 1925; † 23. Juli 1961) ⚭ Prinz Morihiro (1916–1969) Prinzessin Hisa (Hisa no miya Sachiko, * 10. September 1927; † 8. März 1928) Prinzessin Taka (Taka no miya Kazuko, * 30. September 1929; † 26. Mai 1989) ⚭ Toshimichi Takatsukasa (1923–1966) Prinzessin Yori (Yori no miya Atsuko, * 7. März 1931) ⚭ Takamasa Ikeda (1927–2012) Kronprinz Akihito, 125. Tennō (* 23. Dezember 1933) ⚭ Michiko Shōda (* 1934) Prinz Hitachi (Hitachi no miya Masahito, * 28. November 1935) ⚭ Hanako Tsugaru (* 1940) Prinzessin Suga (Suga no miya Takako, * 2. März 1939) ⚭ Hisanaga Shimazu Im Gegensatz zu seinen Vorgängern verzichtete Hirohito auf kaiserliche Nebenfrauen und schaffte das bislang übliche Konkubinat ab. Das Gesetz über die kaiserliche Familie von 1889 beschränkte die Thronfolge auf männliche Nachkommen und schloss weibliche Nachkommen explizit aus. Nach vier Töchtern brachte das Paar am 23. Dezember 1933 mit Akihito den ersehnten Thronfolger zur Welt, wodurch die ununterbrochene Erblinie der Dynastie gesichert war. Als Tennō Thronübernahme Durch den Tod seines Vaters am 25. Dezember 1926 fiel die Kaiserwürde an Hirohito, der damit offiziell zum 124. Tennō proklamiert wurde. Die neue Ära stand unter der Regierungsdevise Shōwa (Erleuchteter Friede) und die traditionelle Übergabe der Throninsignien (Daijō-sai) erfolgte am 10. November 1928 im Kaiserpalast Kyōto. Die im Jahr 1890 nach preußischem Vorbild in Kraft gesetzte Meiji-Verfassung erklärte den Tennō zur göttlichen Verkörperung und Artikel 3 betrachtete seine Person als heilig und unverletzlich. Der Tennō war die höchste Autorität des Staates und in formeller Hinsicht gestand ihm die Verfassung unumschränkte Befugnisse zu: Der Staatshaushalt und die Streitkräfte unterstanden der kaiserlichen Befehlsgewalt, die Regierung war nicht dem Reichstag, sondern allein ihm verantwortlich. Tatsächlich war der Kaiser, trotz seiner göttlichen Abstammung, ein Herrscher mit begrenzter Souveränität, der kaum eigene Entscheidungen traf. Eine Einmischung in die Tagespolitik war nicht vorgesehen und wurde vom Thron nach Möglichkeit unterbunden. De facto fungierte Hirohito als Klammer zwischen Politik und Militär und war laut dem Japanologen Gerhard Krebs „mehr ein Konzept als ein Individuum.“ Zentrales Beratungsgremium des Tennō war der Kronrat (Sūmitsu-in). Wie seine Vorgänger übernahm Hirohito die kultischen Aufgaben als oberster Priester des Shintō, allerdings beschränkte sich diese Rolle auf rein zeremonielle Funktionen. Mit Hirohitos Thronbesteigung im Jahr 1926 wurde sein Geburtstag am 29. April zum Feiertag erklärt (Shōwa-Tag). Seit 1928 residierte Hirohito mit seiner Familie in der Abgeschiedenheit des Kaiserpalastes im Stadtteil Chiyoda und zeigte großes Interesse an Meeresbiologie. Unter der Anleitung führender Naturwissenschaftler widmete er sich in einem eigens für ihn eingerichteten Forschungslabor Studien über Quallen. Machtzuwachs des Militärs Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 hatte neben den ökonomischen Folgen auch Auswirkungen auf das politische Klima in Japan. Die Fälle rechtsgerichteter Gewalt gegen Minderheiten häuften sich und staatliche Repressalien der Gedankenpolizei Tōkkō gegen Andersdenkende nahmen zu. Die Armee hatte sich nach dem Kantō-Erdbeben stark an den Rettungs- und Wiederaufbaumaßnahmen beteiligt und sich als stabilisierender Faktor der japanischen Gesellschaft etabliert. Ohnehin hatte das Militär, das seit 1900 ein Vetorecht bei der Regierungsbildung besaß, unter dem schwachen Taishō-tennō eine weitgehend unabhängige Stellung erlangt und strebte nach innenpolitischer Macht. Von 1930 bis 1935 kam es zu 20 rechtsextremistischen Anschlägen von Armeeangehörigen, vier politischen Morden, fünf verhinderten Mordkomplotten und vier Putschversuchen (z. B. März-Zwischenfall, Shimpeitai-Zwischenfall). Die Ermordung des gemäßigten Premierministers Inukai Tsuyoshi durch revoltierende Marinekadetten und junge Heeresoffiziere (Zwischenfall am 15. Mai 1932) und die anschließende Regierungsübernahme des Kabinetts Saitō („Kabinett der nationalen Einheit“) markierten die Abwendung von der Parteienherrschaft. Damit setzten sich die radikalen Kräfte im Umfeld Hirohitos durch, der den politischen Entwicklungen nicht entgegen trat und den offenen Machtzuwachs der Streitkräfte duldete. Die Unabhängigkeit des Militärs ging mittlerweile so weit, dass es eine eigenständige Außenpolitik betrieb. Durch den inszenierten Mukden-Zwischenfall löste die japanische Kwantung-Armee 1931 die Mandschurei-Krise aus und leitete einen aggressiv-expansionistischen Kurs gegenüber China ein. Durch diese Insubordination hatten sie vollendete Tatsachen geschaffen, weshalb Hirohito und die kaiserliche Regierung den Einmarsch nachträglich genehmigen mussten. Nach der Errichtung des Marionettenstaates Mandschukuo, der völkerrechtlich nicht anerkannt wurde, erklärte Japan 1933 aus Protest seinen Austritt aus dem Völkerbund (siehe dazu: Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges im Pazifikraum). Es folgte der gescheiterte Putschversuch vom 26. Februar 1936 durch niederrangige Armeeoffiziere, der Wahlverluste der militaristischen Fraktion im Parlament zum Anlass hatte. Während des Putsches wurde eine Anzahl hochrangiger Regierungsbeamter und Armeeoffiziere ermordet. Dieser wurde schließlich niedergeschlagen, wobei Hirohito eine wichtige Rolle spielte. Während der 1930er Jahre erlangte das Militär eine nahezu unbeschränkte politische Machtstellung und begann eine aggressive Politik. Im Krieg Der Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke am 7. Juli 1937 löste den Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg aus. Damit setzte die nahezu unabhängig agierende Kwantung-Armee ihre territoriale Expansion in China fort und entfachte eine patriotische Begeisterung in Japan. Zur Unterwerfung Chinas betrieb die Regierung eine Mobilisierung sowie Gleichschaltung der Gesellschaft und verstärkte die Aufrüstung der Streitkräfte (z. B. das Flottenbauprogramm Maru Keikaku). Bis 1940 eroberten die Japaner den Norden Chinas und kontrollierten zahlreiche Küstenstädte, als der unerwartet harte Widerstand der chinesischen Armee die Front zum Stillstand brachte. Der entscheidende strategische Sieg blieb aus und hohe Verluste steigerten die Gewaltbereitschaft der japanischen Truppen. Deren rassistisch und kulturell motivierte Verachtung der Chinesen hatte schon in den Jahren zuvor wiederholt zu Exzessen geführt und im Namen ihres Kaisers verübten sie schwere Kriegsverbrechen wie das Massaker von Nanking (Dezember 1937). Premierminister Konoe Fumimaro entwarf das Konzept der Großostasiatischen Wohlstandssphäre, indem Südostasien von den westlichen Kolonialmächten befreit und unter der politischen Führung Japans zusammengeführt werden sollte (Panasienbewegung) – der Weg in den Pazifikkrieg war beschritten. Mit dem Machtzuwachs von General Tōjō Hideki war Japan spätestens ab 1940 faktisch eine Militärdiktatur und nach Gründung der Zentralorganisation Taisei Yokusankai („Bund zur Förderung der Kaiserherrschaft“) ein Einparteienstaat. Die Militärs rückten die Figur des göttlichen Tennō in das Zentrum ihrer politischen Ideologie und erklärten ihn zur Verkörperung der japanischen Nation (Yamato-damashii). Der fanatische Kaiserkult war das zentrale Objekt ihrer absoluten Hingabe, Loyalität und Selbstaufopferung, der einem theokratischen Tennō-Faschismus gleichzusetzen war. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Europa besetzten japanische Truppen Französisch-Indochina und das Land trat am 27. September 1940 dem Dreimächtepakt mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich und dem faschistischen Italien bei (sog. Achsenmächte). Die imperiale Aggression brachte Japan in Gegensatz zu den bislang neutralen Vereinigten Staaten. Diese reagierten auf die Expansion mit einem Embargo, das die von ausländischen Rohstoffen abhängige japanische Kriegswirtschaft und die Fortsetzung des Feldzugs in China gefährdete, weshalb eine Konfrontation als unausweichlich galt. Zunächst befürwortete Hirohito gegenüber der Regierung Konoe eine diplomatische Lösung. Am 4. September 1941 traf sich das japanische Kabinett, um die vom Kaiserlichen Generalhauptquartier vorbereiteten Kriegspläne zu erörtern, und beschloss: Die zu erreichenden Ziele waren klar definiert: Freie Hand bei der Eroberung Chinas und Südostasiens, keine Verstärkung US-amerikanischer oder britischer Militärkräfte in der Region und Kooperation des Westens „bei dem Erwerb der von unserem Reich benötigten Güter“. Am 5. September übergab Premierminister Konoe dem Kaiser informell den Entwurf der Entschließung, nur einen Tag vor der kaiserlichen Konferenz, auf der sie formell in Kraft gesetzt werden würde. Entsprechend den traditionellen Ansichten (wiederum aber in Widerspruch zur Forschung von Bix) war Hirohito von der Entscheidung, „Kriegsvorbereitungen den diplomatischen Verhandlungen vorzuziehen“, tief betroffen und kündigte seine Absicht an, mit dem jahrhundertealten Protokoll zu brechen und bei der kaiserlichen Konferenz am folgenden Tag die Generalstabschefs von Armee und Marine direkt zu befragen – ein Vorgehen ohne Präzedenzfall in der japanischen Geschichte der letzten Jahrhunderte. Konoe überzeugte Hirohito rasch, sie stattdessen für eine private Konferenz zusammenzurufen, auf welcher der Monarch deutlich machte, dass eine friedliche Lösung „bis zum Letzten“ zu verfolgen sei. Der Chef des Generalstabs der Marine, Admiral Osami Nagano, früherer Marineminister und sehr erfahren, sagte später zu einem vertrauten Kollegen: Dennoch waren sich alle Sprecher auf der kaiserlichen Konferenz darin einig, dass sie Krieg der Diplomatie vorzogen. Baron Yoshimichi Hara, Präsident des kaiserlichen Rats und Vertreter des Kaisers, befragte sie eingehend und bekam von einigen Antworten, dass Krieg nur als letztes Mittel betrachtet würde, andere schwiegen. An diesem Punkt erstaunte Hirohito alle Anwesenden, indem er sich direkt an die Konferenz wandte und damit die Tradition des kaiserlichen Schweigens brach. Dies hinterließ seine Berater „starr vor Schreck“ (so Premierminister Konoes Beschreibung des Ereignisses). Hirohito betonte die Notwendigkeit einer friedlichen Lösung internationaler Probleme, drückte Bedauern darüber aus, dass seine Minister Baron Haras Befragungen nicht beantworteten und rezitierte ein Gedicht seines Großvaters Kaiser Meiji, das er, so sagte er, „immer wieder gelesen“ habe. Ich denke, dass also alle Menschen der Welt Kinder Gottes sind, warum sind die Wellen und der Wind heutzutage so unruhig? Nachdem sie sich von ihrem Schrecken erholt hatten, beeilten sich die Minister ihren tiefen Wunsch auszudrücken, alle möglichen friedlichen Mittel zu versuchen. Die Kriegsvorbereitungen wurden jedoch ohne die geringste Änderung fortgesetzt und innerhalb von Wochen ersetzte das Kabinett den nicht ausreichend kriegswilligen Konoe durch den Hardliner General Tōjō, formell durch Hirohito im Rahmen der Verfassung gewählt. Es ist jedoch umstritten, ob er tatsächlich von Hirohito favorisiert wurde. Am 8. Dezember (7. Dezember in Hawaii) 1941 griffen die japanischen Streitkräfte in gleichzeitigen Angriffen die US-Flotte in Pearl Harbor an und begannen die Invasion Südostasiens. Unmittelbar nach Kriegsende glaubten viele, dass der Kaiser hauptverantwortlich für Japans Rolle im Krieg sei; andere meinten, dass er nur eine machtlose Marionette war und die wirkliche Macht bei Premierminister Tōjō lag. Eine abschließende Bewertung wird letztlich auch durch die Tatsache erschwert, dass die japanische Armeeführung nach Ende des Kriegs versuchte, ihren Kaiser aus dem Fokus des Interesses zu nehmen und konsequent belastende Unterlagen vernichtete bzw. bereitwillig die Verantwortung für das Geschehen während des Kriegs übernahm. Dieses Verhalten stand im Gegensatz zu dem der deutschen Generalität und NS-Führungsebene, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sämtliche Verantwortung für die Geschehnisse Adolf Hitler zuzuweisen versuchte und ihre persönliche Verantwortung fast immer generell abstritt. Hinzu kam, dass die amerikanische Militärregierung Hirohito als aus ihrer Sicht stabilisierendes Element der japanischen Nachkriegspolitik benötigte und daher ebenso wenig an einer Aufarbeitung seiner Rolle während des Kriegs interessiert war wie seine Gefolgsleute im Militär. Viele Menschen in der Volksrepublik China, der Republik China, Korea und in Südostasien sehen in Hirohito den Kriegstreiber und Hauptverantwortlichen der Kriegsgräuel, und einige meinen (darunter damals die Sowjetunion), dass er wegen Kriegsverbrechen hätte vor Gericht gestellt werden sollen. Deshalb haben viele Asiaten in den damals japanisch besetzten Gebieten bis heute eine feindliche Einstellung zum japanischen Kaiserhaus. Die zentrale Frage bleibt aber, wie viel Kontrolle Hirohito wirklich über das japanische Militär im Krieg hatte. Die sowohl vom Kaiserpalast und den amerikanischen Okkupationskräften direkt nach dem Zweiten Weltkrieg vertretene Ansicht war, dass sich Hirohito strikt nach Protokoll zu verhalten und Abstand zu den Entscheidungsprozessen zu halten hatte. Auf der anderen Seite haben die jüngeren Forschungen von Herbert P. Bix, Akira Fujiwara, Peter Wetzler und Akira Yamada Hinweise darauf gefunden, dass der Kaiser durch Mittelsmänner einen hohen Grad an Kontrolle über das Militär ausübte und er sogar die Haupttriebkraft hinter den Ereignissen der zwei Kriege gewesen sein könnte. Nach Erkenntnissen der Historiker Yoshiaki Yoshimi und Seiya Matsuno erhielt Yasuji Okamura vom Shōwa-Tennō die Erlaubnis, chemische Waffen während dieser Gefechte einzusetzen. Wie auch immer seine Beteiligung an den Ereignissen war, die zu den ersten Feindseligkeiten führten – sobald Japan den Angriffskrieg eröffnete, zeigte Hirohito großes Interesse an militärischen Fortschritten und versuchte die Moral zu stärken. Zu Beginn ging der japanische Vormarsch voran. Als sich das Blatt Ende 1942 und Anfang 1943 zu wenden begann, so behaupten einige, habe der Informationsfluss in den Palast immer weniger mit der Realität zu tun gehabt. Andere meinen, dass der Kaiser eng mit Premierminister Tōjō zusammengearbeitet habe, weiterhin gut und zutreffend informiert worden sei und Japans militärische Lage bis zum Zeitpunkt der Kapitulation exakt kannte. In den ersten sechs Monaten des Kriegs waren alle größeren Gefechte Siege. In den nächsten Jahren wurde die Reihe unentschiedener und dann eindeutig verlorener Schlachten der Öffentlichkeit als Serie großer Siege verkauft. Nur langsam wurde es den Menschen auf den japanischen Inseln klar, dass die Entwicklung zuungunsten Japans verlief. Der Beginn von US-Luftangriffen auf japanische Städte ab 1944 machte die propagandistische Behauptung von Siegen endgültig unglaubwürdig. Später in diesem Jahr wurden nach dem Sturz der Regierung Tōjō zwei andere Premierminister ernannt, um den Krieg fortzusetzen, Koiso Kuniaki und Suzuki Kantarō – wiederum mit zumindest formeller Zustimmung von Hirohito. Ob er jedoch mit ihrer Politik übereinstimmte, ist umstritten. Beide waren erfolglos. Japan näherte sich der Niederlage. Kapitulation Japans Als 66 japanische Städte zu über 40 % sowie einige zu mehr als 90 % zerstört waren, der Verkehr zwischen den Inseln größtenteils lahmgelegt war, die Lazarette überfüllt und viele Menschen aufgrund des Mangels an Lebensmitteln, Medikamenten und Ärzten verstarben, versuchte der Tennō nach einigen gescheiterten Friedensverhandlungen in Bern und Stockholm, die Regierung der Sowjetunion um Vermittlung zu bitten. Die japanische Führung hoffte, über Josef Stalin mit den Alliierten verhandeln zu können. So sandte man folgenden Funkspruch am 12. Juli 1945 an den japanischen Botschafter Naotake Sato in Moskau: Während täglich Tausende Menschen starben und von der japanischen Regierung kein vollständiges Kapitulationsangebot abgegeben wurde, nutzte Stalin protokollarische Ausreden und schob die Weiterleitung der Nachricht von Hirohito bis zum 18. Juli 1945 auf. Allerdings hatte man in Washington den vorausgegangenen Funkspruch des japanischen Außenministeriums bereits zuvor entziffert und wusste von den Bemühungen Hirohitos. Auf der Potsdamer Konferenz am 18. Juli erhielt US-Präsident Truman von Stalin persönlich eine Kopie des Vermittlungsversuchs des Tennō mit der Bemerkung, es sei nicht ernst zu nehmen, da es das Kriegsziel der bedingungslosen Kapitulation nicht beinhaltete. Truman, der über den Funkspruch und die Versuche japanischer Diplomaten in Bern und Stockholm ausreichend informiert war, hatte den Abwurf der ersten Atombombe für den 3. August geplant und bereits am 11. Februar 1945 während der Konferenz von Jalta mit Stalin vereinbart, dass die Sowjetunion entgegen ihrem Neutralitätsabkommen mit Japan zwei bis drei Monate nach der deutschen Niederlage in den Pazifikkrieg eintreten werde, und auch reiche Beute versprochen. In dem Geheimabkommen des 11. Februars heißt es unter anderem: In der Nacht vom 26. auf den 27. Juli erhielt Japan dann die Antwort in Form eines von Truman, Churchill und im Auftrag von Marschall Chiang Kai-shek gezeichneten Ultimatums, in dem es unter anderem hieß: Die strenge Bestrafung aller Kriegsverbrecher der japanischen Seite wurde gleichzeitig angekündigt. Die japanische Regierung nahm dieses Ultimatum nicht an, unter anderem deswegen, weil unklar war, ob dem Tennō nicht auch eine Bestrafung als Kriegsverbrecher drohe. Japan hatte sich schwerster Kriegsverbrechen schuldig gemacht, vor allem Grausamkeiten gegenüber Zivilisten in China (Nanking-Massaker, Einheit 731, Tokioter Prozesse). Während Hirohito stets erklärte, dass sein persönliches Schicksal nichts bedeute und er sich nach der Annahme des Ultimatums freiwillig für den Bestand des japanischen Volks opfern wolle, fürchteten seine Berater nach seinem Verlust eine kommunistische Machtergreifung und hofften immer noch, dass Moskau vermitteln würde. Japan hatte während des Kriegs darauf geachtet, Deutschland gegen die UdSSR keinesfalls zu unterstützen, und sich an das Neutralitätsabkommen mit der UdSSR gehalten. So gingen Telegramme zwischen Außenminister Togo und dem Botschafter Naotake Sato hin und her, die von der US-Funkaufklärung aufgefangen, entziffert und der Regierung vorgelegt wurden. Konzessionen an den Feind hätten aber nach amerikanischer Sicht keinem vollständigen Sieg entsprochen und überzeugte Republikaner bestanden auf dem Kopf des Tennō als Unterzeichner der Kriegserklärung. Nach tagelangen Beratungen sagte Premierminister Suzuki, man wolle das Ultimatum „totschweigen“ (, mokusatsu), wohl da es nichts Neues enthielt und auf laufende diplomatische Bemühungen der Regierung (etwa um Zusicherungen für die Wahrung der monarchischen Staatsform) nicht einging und weil man weiterhin hoffte, durch sowjetische Vermittlung eine Antwort zu erhalten. Die Nachrichtenagentur Domei zitierte jedoch in ihrer englischen Berichterstattung Suzuki mit der Aussage, die Regierung weise das Ultimatum zurück (reject). Nach dieser letzten missverständlichen Kommunikation wurde dann ohne Vorwarnung am 6. August 1945 als „Demonstration der vollen Anwendung der militärischen Möglichkeiten“ die erste Atombombe über der besonders bevölkerungsreichen Stadt Hiroshima abgeworfen. Noch am selben Tag fielen die sowjetischen Truppen in Mandschukuo ein und fanden nur geringen Widerstand, da die Besatzungstruppen im Vorfeld an andere Fronten verlagert worden waren. Hirohito äußerte: Da die Fanatiker der japanischen Führung den längst aussichtslos gewordenen Kampf weiterführen wollten, wurde weitere drei Tage lang beraten, bis am 9. August 1945 die zweite Atombombe über der Stadt Nagasaki gezündet wurde. Der Tennō entschloss sich nun gegen den Willen von Militär und Regierung dafür, seine Vollmachten einzusetzen und den Krieg durch die Kapitulation zu beenden. Seinen Ministern gegenüber begründete er dies wie folgt: Nachkriegszeit So wurde bereits am 10. August 1945 den Regierungen der USA, dem Vereinigten Königreich, der Republik China und der UdSSR die Annahme des Ultimatums mitgeteilt. Am 12. August erhielten sie Antwort aus Washington: So wurde Japan zwar die Entscheidung überlassen, ob es den Tennō und seine Blutlinie erhalten möchte, jener sollte aber auch persönlich für die Niederlegung der Waffen sorgen und die volle Verantwortung für deren Ablauf tragen, was auf Grund der vielen Fanatiker Schwierigkeiten bei der Durchführung bereitete. Schließlich sprach der Tennō Hirohito selbst zum ersten Mal durch eine als Gyokuon-hōsō bezeichnete Radioansprache zu dem gesamten Volk, obwohl dies von vielen Seiten und auf vielerlei Arten zu verhindern versucht worden war: Die US-Amerikaner besetzten Japan, ohne dass sich jemand gegen die bedingungslose Kapitulation wehrte. Die von den Alliierten befürchteten Anschläge auf die Besatzer und die Millionen Selbstmorde blieben aus. General MacArthur, der nun das japanische Volk regierte, nannte dann seine Richtlinien für die Verfassung der neuen Regierungsform: Nachdem keine Reaktion aus Japan erfolgt war, stritten die Alliierten wieder darum, ob Hirohito nun nicht doch als Kriegsverbrecher besser an den Galgen gehöre. Am 26. September 1945 stattete Hirohito zum Erstaunen der Alliierten deren Oberkommandierendem MacArthur einen überraschenden Besuch ab. Dieser empfing den Tennō in Hemdsärmeln, um zu zeigen, wie wenig ihm der Kaiser in Cutaway und Zylinder imponierte. Die Vereinigten Staaten nahmen an, dass Hirohito um sein Schicksal besorgt sei und darlegen wolle, wie er nach besten Kräften bemüht gewesen war, die japanische Aggression zu verhindern, da es um sein Leben ging. Aber es kam vollkommen anders, als es die USA und MacArthur je erwartet hatten: Hirohito sagte in dem Gespräch, das außer einem Dolmetscher keine Zeugen hatte, nach MacArthurs Bericht ohne den sonst üblichen Austausch von Höflichkeiten: MacArthur berichtete weiter, dass ihn „tiefste Bewegung“ überkam. Die Übernahme aller Schuld hätte für den Tennō in einem Kriegsverbrecherprozess zweifellos das Todesurteil bedeutet. MacArthur sagte anschließend über Hirohito: MacArthur vertrat gegenüber seiner Regierung noch am selben Tage die Ansicht, dass eine Anklage gegen Hirohito unmöglich und er für Japan nicht zu entbehren sei. Die Gegner Hirohitos in der neuen US-Regierung zwangen darauf die japanische Presse, jenes bekannte Foto zu veröffentlichen, welches Hirohito im offiziellen Dress neben dem hemdsärmeligen MacArthur zeigt, der ihn um eine Haupteslänge überragt und schief stehend die Hände in den Hosentaschen verbirgt, während sein gelangweilter Blick der Kamera ausweicht. Da sein Vermögen von der neuen Regierung konfisziert worden war, konnte Hirohito bald nicht einmal mehr Gärtner entlohnen. Als daraufhin bekannt wurde, dass die kaiserlichen Gärten verwilderten, meldeten sich innerhalb weniger Tage 20.000 Männer und Frauen aller Altersklassen, um die Arbeit kostenlos zu übernehmen. Die Polizei musste einschreiten, sonst hätten sich jene vor den Toren gegenseitig erdrückt. Da die US-Amerikaner immer noch der Ansicht waren, dass der Tennō zu hohes Ansehen genieße, forderten sie ihn dazu auf, öffentlich zu bekennen, dass er kein Gott und ein Mensch wie jeder andere auch sei. Da niemals ein Tennō behauptet hatte, er sei ein göttliches Wesen (Arahitogami), gab Hirohito in seiner üblichen Neujahrsbotschaft eine Erklärung ab, die für die Japaner nichts an der uralten Überlieferung änderte, dass seine Vorfahren von der Sonnengöttin Amaterasu abstammten: Spätere Herrschaft Für den Rest seines Lebens war Kaiser Hirohito eine aktive Figur des japanischen Lebens und übte zahlreiche Aufgaben eines Staatsoberhaupts aus. Der Kaiser und seine Familie zeigten starke öffentliche Präsenz, waren oft auf öffentlichen Wegen zu sehen und traten auf besonderen Ereignissen und an Feiertagen auf. Hirohito spielte auch eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau von Japans diplomatischer Stellung im Ausland. Auf Auslandsreisen traf er sich mit vielen ausländischen Staatsoberhäuptern einschließlich des US-Präsidenten und Königin Elisabeth II. Hirohito war stark an Meeresbiologie interessiert, weswegen der kaiserliche Palast ein Laboratorium beherbergte. Der Kaiser veröffentlichte mehrere wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Fachgebiet. Er ist der Erstbeschreiber folgender Nesseltierarten: Yasukuni-Schrein Hirohito hielt sich von den politischen Auseinandersetzungen um den umstrittenen Yasukuni-Schrein, einen Shintō-Schrein für die Soldaten, die für den japanischen Kaiser gestorben sind, fern. Nachdem ihm bekannt wurde, dass der neue Oberpriester 1978 auch Klasse-A-Kriegsverbrecher einschreinen ließ, boykottierte Hirohito den Schrein bis zu seinem Tode. Dieser Boykott wurde von seinem Sohn und Nachfolger, Akihito, weitergeführt, der sich seit 1978 ebenfalls weigerte, den Yasukuni zu besuchen, anders als viele japanische Premierminister. Tod Am 22. September 1987 unterzog sich Hirohito einer Operation an der Bauchspeicheldrüse, nachdem er mehrere Monate Verdauungsprobleme gehabt hatte. Die Ärzte entdeckten Krebs im Zwölffingerdarm, aber in Übereinstimmung mit der japanischen Tradition teilten sie ihm dies nicht mit. Hirohito schien sich nach dem Eingriff gut zu erholen. Etwa ein Jahr später, am 19. September 1988, brach er in seinem Palast zusammen und seine Gesundheit verschlechterte sich in den folgenden Monaten, da er an ständigen inneren Blutungen litt. Am 7. Januar 1989 um 6:33 Uhr starb Hirohito im Alter von 87 Jahren. Um 7:55 Uhr verkündete der Oberste Kammerherr des kaiserlichen Hofamts, Shoichi Fujimori, offiziell den Tod des Kaisers und machte erstmals Details zu seiner Krebserkrankung bekannt. Mit seinem Tod wurde er nach der Ära, in der er regierte, „Kaiser Shōwa“ (Shōwa Tennō) genannt. Das Begräbnis fand am 24. Februar statt, und im Gegensatz zu allen seinen Vorgängern wurde er nicht strikt nach den Regeln des Shintō bestattet. Viele führende Politiker aus aller Welt nahmen daran teil. Er liegt in einem Mausoleum im Kaiserlichen Friedhof Musashi bei Hachiōji begraben. Auszeichnungen Japan: Chrysanthemenorden, Großkreuz mit Ordenskette Orden der Aufgehenden Sonne, Orden der Paulownienblüte Orden vom Goldenen Weih, Großkreuz Orden des Heiligen Schatzes, Großkreuz Ausland: Sankt-Olav-Orden, Großkreuz mit Ordenskette Orden vom Goldenen Vlies (1928) Hosenbandorden (1929–1942, 1971 wiederhergestellt) Order of the Bath, Großkreuz Royal Victorian Order, Großkreuz Feldmarschall des Vereinigten Königreichs (ab 26. Juni 1930 –1942) Fellow of the Royal Society Literatur Leonard Mosley: Hirohito, Emperor of Japan. Prentice-Hall, Englewood Cliffs 1966, ISBN 1-111-75539-6, ISBN 1-199-99760-9. – Die erste ausführliche Biografie über Hirohito. Edwin P. Hoyt: Hirohito: The Emperor and the Man. Praeger Publishers, 1992, ISBN 0-275-94069-1. Edward Behr: Hirohito: Behind the Myth. Villard, New York, 1989. – Ein kontroverses Buch, das ausführt, dass Hirohito eine aktivere Rolle im Zweiten Weltkrieg hatte, als öffentlich zugegeben; es trug zur Neubewertung seiner Rolle bei. Herbert P. Bix: Hirohito and the Making of Modern Japan. HarperCollins, 2000, ISBN 0-06-019314-X. – Ein neuerer und sorgfältig mit Quellen untermauerter Blick auf das gleiche Thema, grundlegende Ansichten von Behr untermauert. Peter Wetzler: Hirohito and War: Imperial Tradition and Military Decision Making in Prewar Japan. University of Hawaii Press, 1998, ISBN 0-8248-1925-X. Toshiaki Kawahara: Hirohito and His Times: A Japanese Perspective. Kodansha International, 1997, ISBN 0-87011-979-6. – Über das traditionelle japanische Bild von Hirohitos Leben. Weblinks , Informationen auf der Website des Kaiserlichen Hofamts (japanisch) Hirohito, Emperor. Artikel in A Trivial Encyclopedia of Japan (mehrsprachig) Arcucci, Isabella: Tenno Hirohito - Der „Hitler Asiens“? Bayern 2 Radiowissen. Ausstrahlung am 31. Oktober 2016 (Podcast) Einzelnachweise Tennō Herrscher (20. Jahrhundert) Person im Zweiten Weltkrieg (Japan) Mitglied der Royal Society Feldmarschall (Vereinigtes Königreich) Ritter des Hosenbandordens Honorary Knight Grand Cross des Order of the Bath Honorary Knight Grand Cross des Royal Victorian Order Träger des Chrysanthemenordens (Großkreuz mit Ordenskette) Träger des Ordens der Aufgehenden Sonne Träger des Ordens des Heiligen Schatzes Träger des Verdienstordens der Italienischen Republik (Großkreuz mit Ordenskette) Träger des Finnischen Ordens der Weißen Rose (Großkreuz mit Ordenskette) Träger des Sankt-Olav-Ordens (Großkreuz mit Ordenskette) Träger des Weißen Adlerordens Träger des Elefanten-Ordens Träger des Seraphinenordens Träger des Leopoldsordens (Großkreuz) Träger des Bundesverdienstkreuzes (Sonderstufe des Großkreuzes) Träger des Nationalen Ordens vom Kreuz des Südens (Großkreuz) Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies (Spanien) Meeresbiologe Japaner Geboren 1901 Gestorben 1989 Mann
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Holzwickede
Die Gemeinde Holzwickede (niederdeutsch: Hol(t)wicker) liegt am östlichen Rand des Ruhrgebiets, Nordrhein-Westfalen, und ist eine kreisangehörige Gemeinde des Kreises Unna im Regierungsbezirk Arnsberg. Geografie Räumliche Lage Das Gemeindegebiet von Holzwickede wird im Norden durch den Dortmunder Rücken an der alten Bundesstraße 1 und dem Flughafen Dortmund und im Süden von der Ruhr begrenzt. Westlich bilden das südöstliche Dortmund und Schwerte die Grenze, und im Osten von Holzwickede befinden sich Unna und die westlichen Ortsteile von Fröndenberg/Ruhr. Durch das Gemeindegebiet verläuft der Höhenzug des Ardeygebirges. Die Emscher hat ihre Quelle in Holzwickede. Der tiefste Punkt des Gemeindegebietes liegt im Nordosten, wo der Holzwickeder Bach das Gemeindegebiet verlässt. Der höchste Punkt trägt eine Funkanlage der Bundeswehr und liegt auf dem westlichen Teil des Ardeys in Hengsen. Ortsteile Die Ortsteile Hengsen (8,03 km²) und Opherdicke (gesprochen: Op-Hérdicke, 4,62 km²) bilden den südlichen Teil der Gemeinde, der alte Ort Holzwickede (9,76 km²) den nördlichen Teil. Die Ortskerne von Hengsen und Opherdicke liegen auf dem Haarstrang (Herdicker Haar). Das Hengser Ortsgebiet reicht im Süden bis zur Ruhr, Opherdicke reicht ebenfalls fast bis an die Ruhr. Ein großer Teil dieser Ortsgebiete wird durch einen Standortübungsplatz der Bundeswehr belegt. Der alte Ort Holzwickede setzt sich aus den Teilen „Altes Dorf“ (das ursprüngliche Holzwickede), Dudenroth, Rausingen und Natorp zusammen und liegt zwischen den Höhenzügen des Ardeygebirges und dem Dortmunder Rücken in der Emscherniederung. Bis zum 31. Juli 1929 gehörte ein westlicher Streifen Rausingens zu Sölde, dessen übriges Gemeindegebiet zum gleichen Zeitpunkt nach Dortmund eingemeindet wurde. Neben diesen Ortsteilen gibt es weitere Siedlungsgebietsnamen: Keller, Brauck, Ostendorf, Alte Kolonie, Hohenleuchte. Nachbargemeinden Die folgenden Städte haben eine gemeinsame Grenze mit Holzwickede (von Norden im Uhrzeigersinn): Dortmund, Unna, Fröndenberg/Ruhr, Iserlohn, Schwerte Geschichte Die Geschichte Holzwickedes ist naturgemäß eng mit der Geschichte der Umgebung verbunden, daher ist zur Holzwickeder Geschichte auch die Geschichte des Ruhrgebiets lesenswert. Das Gebiet der späteren Gemeinde Holzwickede war schon in der Jungsteinzeit (5000–2000 v. Chr.) besiedelt. Das belegen Funde wie zum Beispiel ein geschliffener Pflugkeil, der im Ortsteil Hengsen gefunden wurde und heute (2004) im Museum für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund aufbewahrt wird. Etwa um die Zeitenwende besetzten römische Truppen neben anderen strategisch wichtigen Punkten zwischen Ruhr und Lippe auch die Landskrone in Holzwickede. Zwischen 300 und 400 n. Chr. haben der Sage nach die Nibelungen den Römerweg auf der Höhe des Ardeygebirges (durch Hengsen und Opherdicke) auf ihrem Zug nach Soest benutzt. Über den Kamm des Ardeygebirges führte etwa ab dem Hochmittelalter auch ein Abschnitt des berühmten Jakobswegs nach Santiago de Compostela. Die Pilger kamen vom Hellweg in Unna aus auf den sogenannten kleinen Hellweg zwischen Opherdicke und Ostendorf. Von hier aus ging es durch Opherdicke und Hengsen nach Breckerfeld, wo sich die Pilger zur Weiterreise in größeren Gruppen gesammelt haben. In Hengsen soll zu der Zeit auch eine Kapelle mit einer Statue des Jakobus gestanden haben. Die erste bekannte urkundliche Erwähnung findet sich 1100 für Opherdicke in einem Besitzverzeichnis und 1150 für Hengsen (als Hegeninchusen) in Urkunden des Klosters Werden (bei Essen). 1176 wird ein Schloss in Opherdicke erstmals erwähnt. Die ersten Kohlefunde sind für 1575 in Opherdicke nachgewiesen. Holzwickedes Bergbaugeschichte währt bis zum 31. Mai 1951, als die Zeche Caroline endgültig stillgelegt wird und fast 500 Bergleute ihre Arbeit verlieren (bzw. teilweise auf andere Schachtanlagen verlegt werden). Im Jahre 1825 schlossen sich die vier Bauerschaften Dudenroth, Rausingen, Holzwickede und Natorp offiziell zur Gemeinde (dem heutigen Ortsteil) Holzwickede zusammen. 1929 wurde Holzwickede im Rahmen der kommunalen Neuordnung in der preußischen Provinz Westfalen um einen Teil von Sölde erweitert. Dazu gehörte vor allem das Gelände der Zeche Freiberg (heute V.W. Werke Vincenz Wiederholt). In der heutigen Form entstand Holzwickede erst durch die kommunale Neuordnung 1968, als die bis dahin selbständigen Gemeinden Hengsen, Holzwickede und Opherdicke zu einer Großgemeinde zusammengeführt wurden. Am 15. Dezember 1860 wurde Holzwickede Bahnstation an der Eisenbahnstrecke Dortmund – Soest. Die Strecke wurde von 1853 bis 1855 gebaut, in Holzwickede hielten die Züge zunächst aber nicht. Ein Jahr nach dem Bahnhof erhielt Holzwickede 1861 das erste Postamt. 1867 wurde Holzwickede durch die Inbetriebnahme einer weiteren Bahnstrecke von Hengstey über Schwerte nach Holzwickede ein überregional bedeutsamer Eisenbahnknotenpunkt mit einem heute fast vollständig abgebrochenen Rangierbahnhof. Auch die Eisenbahnstrecke von Schwerte an der Ruhr entlang nach Warburg führt durch Holzwickeder Gebiet; das heutige Naturschutzgebiet Bahnwald beheimatete früher den östlichen Teil des an dieser Strecke gelegenen und bereits vollständig abgebrochenen Rangierbahnhofes Geisecke (Ruhr). Der Anschluss der privaten Haushalte und der Holzwickeder Straßenbeleuchtung an das öffentliche Stromnetz erfolgte 1907, der Anschluss an die öffentliche Wasserversorgung ebenfalls Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Frühjahr 1966 wurden in Opherdicke Flugabwehrraketen des Flugabwehrraketenbataillons 21 der Bundeswehr stationiert. Für dieses Waffensystem waren auch Nuklearsprengköpfe vorhanden. Sie standen unter Bewachung des 66th US Army Artillery Detachment (66th USAAD). Die Stationierung fand nicht den ungeteilten Beifall der Holzwickeder Bevölkerung. 1987 wurde das Nike-Herkules Waffensystem durch das mobile Flugabwehr-Raketensystem Patriot ersetzt. 2004 wurde der Standort aufgelöst. Im Jahr 1987 hatte die Gemeinde Holzwickede 15.878 Einwohner. Eingemeindungen Am 1. August 1929 wurde Holzwickede um einen Teil der aufgelösten Gemeinde Sölde (östliches Rausingen) erweitert. Am 1. Januar 1968 wurden Hengsen und Opherdicke eingemeindet. Ritter- und Adelsgüter Auf dem Gebiet der heutigen Gemeinde Holzwickede befanden sich folgende Herrensitze: Haus Opherdicke in Opherdicke, Haus Dudenroth in Holzwickede, Haus Ruhr/Lappenhausen, Haus Vierbecke, Rittergut Hegeninghusen und Haus Linscheid in Hengsen. Erhalten ist von diesen Gütern einzig Haus Opherdicke. Vom Haus Ruhr existiert noch ein Mauerfragment im Wald an der Ruhr, Haus Dudenroth wurde im 20. Jahrhundert abgerissen und von Haus Vierbecke sind nur noch die Gräften auf dem Gelände des Standortübungsplatzes zu erahnen. Geschichte Hengsens Nach Inkrafttreten der Landgemeindeordnung für die Provinz Westfalen (am 31. Oktober 1843) gab es in Hengsen bis zum Zusammenschluss 1968 folgende Gemeindevorsteher / Bürgermeister: 1844–1850: Strenge (Landwirt) 1850–1851: Schulte-Hengsen (Landwirt) 1851–1854: Flunkert (Landwirt) 1854–1859: Fiene (Landwirt) 1859–1871: Wilhelm Westermann (Landwirt) 1871–1887: Friedrich Schulte-Hengsen († 1887, Landwirt) 1887–1893: Wilhelm Westermann (Landwirt) 1893–1917: Heinrich Kissing (Schmied) 1917–1923: Karl Schulze-Braucks 1923–1924: Wilhelm Riedel 1924–1930: Hugo Strenge (Landwirt) 1930–1933: Ludwin Adrian (Bergmann, SPD) 1933–1933: Wilhelm Riedel (Berginvalide, von NSDAP ernannt) 1933–1939: Fritz König (NSDAP) 1939–1945: Wilhelm Riedel 1945–1945: Rabe (NSDAP) 1945–1958: Ludwig Adrian († 1958) 1958–1963: Gustav Brauckmann (SPD) 1963–1968: Heinrich Beining (SPD) Geschichte Holzwickedes Nach Inkrafttreten der Landgemeindeordnung für die Provinz Westfalen (am 31. Oktober 1843) gab es in Holzwickede bis zum Zusammenschluss 1968 folgende Gemeindevorsteher / Bürgermeister: 1843–1850: Middelschulte (Landwirt) 1850–1859: Friedrich Stehfen (Landwirt) 1859–1881: Gottfried Hiddemann (1812–1893; Landwirt) 1881–1893: Wilhelm Barenbräucker (Landwirt) 1893–1911: Ludwig Büddemann (Landwirt) 1911–1914: Wilhelm Schröer (Landwirt) 1914–1924: Karl Luicke (Kaufmann) 1924–1929: Theodor Rieke (Kaufmann) 1929–1931: Karl Luicke 1931–1933: Theodor Rieke 1933–1939: Friedrich Wilhelm Spring (1895–1970; Gutsbesitzer, NSDAP) 1939–1941: Paul Geldmacher (als Stellvertreter, NSDAP) 1941–1945: Wellemeyer (als Stellvertreter, NSDAP) 1945–1946: Josef Kiel (ernannt von britischer Besatzung, SPD) 1946–1968: Erwin Heller (SPD) Geschichte Opherdickes Nach Inkrafttreten der Landgemeindeordnung für die Provinz Westfalen am 31. Oktober 1843 gab es in Opherdicke bis zum Zusammenschluss 1968 folgende Gemeindevorsteher/Bürgermeister: 1843–18??: Die ersten Gemeindevorsteher sind nicht bekannt, aufgrund der sichtbaren Praxis ab 1888 hatte das Amt vermutlich der jeweilige Hausherr auf Haus Opherdicke inne 18??–1888: Hermann von Lilien († 1888) 1888–1906: Franz Kaspar von Lilien († 1906) 1906–1921: Karl Saatmann (Landwirt) 1921–1935: Theodor Regenbogen (Rücktritt 1935) 1935–1945: Josef Höber (NSDAP) 1945–1948: Theodor Regenbogen 1948–1956: Fritz Kötter (Landwirt) 1956–1968: Josef Wortmann (CDU) Demographie Einwohnerstatistik Nach den statistischen Daten des Demographie-, des Integrations- sowie des Sozialberichts, welche von Wegweiser-Kommune veröffentlicht wurden, ergeben sich für Holzwickede folgende Werte: Bevölkerungsanteil der unter 18-Jährigen: 15,7 % (Stand: 2021) Bevölkerungsanteil der mindestens 65-Jährigen: 25,3 % (Stand: 2021), der höchste Anteil im Kreis Unna Ausländeranteil: 8,9 % (Stand: 2021) Arbeitslosenanteil (im Verhältnis zu den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten): 6,8 % (Stand: 2021) Die neueste Prognose von IT.NRW sagt einen Rückgang der Bevölkerung von 2021 bis 2050 um fast 10 Prozent voraus. Konfessionsstatistik Gemäß dem Zensus 2011 waren 42,3 % der Einwohner evangelisch, 30,2 % römisch-katholisch und 27,5 % waren konfessionslos, gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Die Zahl der Katholiken und vor allem die der Protestanten ist seitdem gesunken. Nach der Gemeindestatistik waren (Stand 31. Dezember 2018) 37,1 % (6.449) evangelisch, 28,7 % (4.978) katholisch und 35,2 % (5.942 Personen) waren Gemeinschaftslos bzw. ohne Angaben. Politik und Verwaltung Ergebnisse der Kommunalwahlen 2020 in Holzwickede Die Sitze im Stadtrat verteilen sich nach dem Ergebnis der Kommunalwahl 2020 folgendermaßen auf die einzelnen Parteien: Gemeinderat Der Rat der Gemeinde besteht aus 40 Ratsmitgliedern. Seit der Kommunalwahl am 25. Mai 2014 mit einer Wahlbeteiligung von 55,61 % bestehen fünf Fraktionen, die von vier Parteien und einer Wählervereinigung gebildet werden. Die jeweilige Sitzverteilung nach den vergangenen Wahlen zeigt die folgende Tabelle. (*) Timon Becker, ehemaliges CDU-Mitglied, wechselte 1999 zur Fraktion der jungeliste In der obigen Liste werden nur Parteien und Wählergemeinschaften aufgeführt, die mindestens 1,95 Prozent der Stimmen bei der jeweiligen Wahl erhalten haben. 1 BBL (Bürgerblock): 1994: HBB, 1999 und 2004: BBL, 2009: BBLH 2 Grüne: B’90/Grüne 3 1984: zusätzlich: Einzelbewerber: 2,5 % Bürgermeister Der letzte eigene Bürgermeister von Hengsen war Heinrich Beining, der letzte Opherdicker Bürgermeister war Josef Wortmann. Derzeitige Bürgermeisterin ist seit 2015 Ulrike Drossel (BBL). Sie wurde im September 2020 mit 62,29 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Ihr Mitbewerber Peter Wehlack (SPD) erhielt 37,71 Prozent. Die Liste der Holzwickeder Bürgermeister seit 1950 1950–1967: Erwin Heller (WG), letzter Bürgermeister Holzwickedes vor der Zusammenlegung mit Hengsen und Opherdicke 1967–1968: Walter Adelt (SPD) († 2015) (ernannt bis zur ersten Bürgermeisterwahl der neuen Gemeinde) 1968–1969: Erwin Heller (WG) 1969–1975: Josef Wortmann († 2010) 1975–1989: Heinrich Schürhoff 1989–1999: Margret Mader (SPD)(1942–2020) 1999–2015: Jenz Rother (SPD)(1945–2021) 2015–: Ulrike Drossel (BBL) Wappen Das Wappen von Holzwickede stellt eine alte Holzwickeder Sehenswürdigkeit, den Hilgenbaum, dar. Eine neunblättrige grüne Eiche vor goldenem Hintergrund steht auf einem rot-silbernen Schachbrettmuster als Symbol der (ehemaligen) Zugehörigkeit zur Grafschaft Mark. Städtepartnerschaften Holzwickede unterhält zwei Städtepartnerschaften. Die ältere besteht seit 1977/78 mit dem französischen Louviers. Seit 1986/87 besteht auch eine Städtepartnerschaft mit dem englischen Seebad Weymouth. Zusätzlich unterhält die Gemeinde seit November 1990 auch eine Städtefreundschaft zur Stadt Colditz in Sachsen. Alle Städtepartnerschaften werden von den lokalen Partnerschaftsvereinen aufrechterhalten. Die deutsch-französische Partnerschaft liegt in den Händen der Deutsch-Französischen Gesellschaft Holzwickede, besser bekannt als „Freundeskreis Holzwickede-Louviers“. Er ist mit über 250 Mitgliedern der größte Kulturverein Holzwickedes. Kultur und Sehenswürdigkeiten Natur Als Erstes zu nennen ist hier der Wappenbaum der Gemeinde Holzwickede, der Hilgenbaum. Östlich des alten Ortskernes stand früher eine uralte Eiche, die ihren Namen dadurch bekam, dass dort Nachrichtenzettel (Hilgen) angebracht wurden. Andere Quellen deuten den Namen als heiligen (= hilgen) Baum. Nachdem der historische alte Baum einem Feuer zum Opfer gefallen war, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts an (fast) gleicher Stelle ein neuer Baum gepflanzt. Er befindet sich auf der SO-Seite der Kreuzung Massener Straße/Goethestraße, während der erste Hilgenbaum den Unterlagen nach „auf der Kreuzung“ stand. Holzwickede beherbergt den Emscherquellhof mit der Emscherquelle. Der Hof wurde 2003 von der Emschergenossenschaft gekauft und instand gesetzt. Die Schöne Flöte ist ein kleines Waldgebiet am Bachlauf des Holzwickeder Baches vom Freibad „Schöne Flöte“ nordwärts (längs der Trasse der A1) bis zur Quelle des Baches. Bis zur Querung der Holzwickeder Straße führt ein Wanderweg für Fußgänger und Radfahrer durch den Wald. Das Bachtal des Holzwickeder Baches ist auch Teil des sehenswerten Historischen Bergbaurundwegs Holzwickede. Gebäude Besondere Gebäude sind vor allem im Ortsteil Opherdicke zu sehen. Die evangelische Kirche Opherdicke ist das älteste Gebäude der Gemeinde, eine romanische Kleinbasilika mit Entstehungszeitraum zwischen 1220 und 1250. Der Turm wird auf die Zeit vor der ersten Jahrtausendwende datiert. Etwas weiter östlich ebenfalls in Opherdicke liegt das Wasserschloss Haus Opherdicke, das nach abwechslungsreicher Geschichte im Juli 1980 in die Hände des Kreises Unna kam und nach erfolgreicher Restaurierung heute als Veranstaltungsort dient. Erste geschichtliche Erwähnung findet das Haus als Burg Opherdicke im Jahre 1182. Von 1663 bis 1687 wurde die alte Wasserburg umgebaut und erhielt ihre heutige Gestalt. Im 18. und 19. Jahrhundert entstanden die Wirtschafts- und Nebengebäude, die noch heute (2014) in unveränderter Form den Innenhof begrenzen. Letzter adliger Bewohner des Wasserschlosses war die aus Werl stammende Erbsälzerfamilie von Lilien. Vom Haus Opherdicke offenbart sich dem Wanderer ein schöner Blick ins Tal der Ruhr. Die katholische Liebfrauenkirche in der Ortsmitte wurde 1904 errichtet, 1907 folgte die evangelische Kirche am Markt. Beide Gebäude stehen seit 1984 unter Denkmalschutz. Denkmäler Im Südwesten des Gemeindegebiets befindet sich das 130er Denkmal (auch Kellerkopfdenkmal). Am steilen Abhang des Kellerkopfes zum Ruhrtal hin wurde am 1. September 1929 das Regimentsdenkmal für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen des 1. Lothringischen Infanterie-Regiments Nr. 130 (im Volksmund „130er“) eingeweiht. Gebaut wurde diese Gedenkstätte nach einem Entwurf des Berliner Bildhauers Fritz Richter-Elsner von 1926 bis 1929 im Geiste der damaligen Zeit zu Ehren und zur Erinnerung an die gefallenen Soldaten des Regiments, unter denen sich viele einheimische Soldaten befanden. Initiator und Stifter des Denkmals war der 130er Soldatenverein, gebildet aus den überlebenden Angehörigen des Regiments. Der Kellerkopf war für lange Zeit Ausflugsziel und Naherholungsgebiet. Heute findet lediglich zu Pfingsten eine größere Anzahl an Menschen zum Kellerkopf, denn seit 1979 feiert der Förderverein zur Erhaltung und Pflege des Kellerkopfdenkmals jeden Pfingstsonntag dort ein Friedensfest. Das in den 1960er Jahren im Emscherpark errichtete Mahnmal gegen den Krieg, gestaltet vom in Unna lebenden Künstler Josef Baron, sollte ursprünglich nach dem Willen des Gemeinderats an einen anderen Standort innerhalb der Gemeinde versetzt werden. Nachdem sich der Künstler dagegen wandte, das Objekt an einen abgelegenen Ort zu verstecken, wurde 2009 eine Replik des Werks im Forum des Clara-Schumann–Gymnasiums errichtet. Das Original wurde im August 2009 zerlegt und 2012 in Munster in der Lüneburger Heide wieder aufgestellt. Sport Holzwickede hat viele Sportvereine mit den unterschiedlichsten Aktivitäten. Der größte Erfolg einer Fußballmannschaft ist 1976 der Titel Deutscher Fußballmeister der Amateure der Spielvereinigung Holzwickede 1912/29 (HSV). Größter Sportverein ist die Turngemeinde Holzwickede mit etwa 1100 Mitgliedern. Die TGH ist ein Mehrspartensportverein, der die Sportarten Leichtathletik, Badminton, Ballspiele, Gerätturnen, Gymnastik und den Präventions-/Rehabilitationssport unter seinem Dach vereint. Auf dem Haarstrang zwischen Hengsen und Opherdicke ist mit den Holzwickede Joboxers ein ehemaliger Baseball-Bundesligist in Holzwickede ansässig. Der Baseball in Holzwickede hat seinen Ursprung in der Stationierung US-amerikanischer Truppen in der Gemeinde (1960–1985). Auf der Ruhrtalbahn veranstaltete der MSC Holzwickede Motorrad-Grasbahnrennen auf einem Gelände der Bundeswehr. Die Rennstrecke lag zwischen Dortmund und Unna. In Holzwickede sind beim TTC 1950 Holzwickede auch Tischtennisaktive heimisch. Die 1. Mannschaft der Herren spielt derzeit in der Oberliga (vierthöchste Liga), in der auch der ehemalige Deutsche Meister im Doppel der Herren und im Einzel bei den Senioren Bernd Sonntag spielt. Holzwickede hat auch einen Kanu-Verein, dessen Bootshaus allerdings in Fröndenberg an der Ruhr liegt. Tennissport wird in Holzwickede intensiv betrieben. Der größte Verein ist der TuS Elch 1963 Holzwickede e. V., der mit 12 Außensandplätzen auf einer im Grünen gelegenen Tennisanlage im Holzwickeder Norden und etwa 300 Mitgliedern einer der größten Vereine in der Region ist. Montanhydraulikstadion Das Montanhydraulikstadion (früher Emscherstadion) ist die zentrale Wettkampfstätte für Fußballer, Leichtathleten und andere Freiluftsportler in Holzwickede. Mit einem Fassungsvermögen von rund 5000 Zuschauern ist es das größte im Kreis Unna. Es verfügt über eine überdachte Haupttribüne. Bisheriger Höhepunkt seiner Geschichte war die Amateurmeisterschaft des SV Holzwickede 1976 sowie die Austragung des A-Länderspiels der Frauen gegen China in den späten 1990er Jahren. Die Amateure des BVB weichen in dieses Stadion aus, wenn ihr eigenes Stadion Rote Erde nicht zur Verfügung steht. Regelmäßige Veranstaltungen Seit 1979 feiert der Förderverein zur Erhaltung und Pflege des Kellerkopfmahnmals jeden Pfingstsonntag dort ein Friedensfest. Im Frühsommer am letzten Juni-Wochenende fand mit jump! bis 2007 das größte ehrenamtlich organisierte Fest in NRW, organisiert von der DLRG Holzwickede und vielen Helfern, im Holzwickeder Freibad, der „Schönen Flöte“ statt. Von 1999 bis 2012 veranstalteten die Holzwickede Joboxers im Holzwickeder Freibad jährlich mit summer splash eine in ganz Nordrhein-Westfalen bekannte Pool- & Cocktail-Party. Seit 1951 feiert der Bürgerschützenverein 1865 e. V. an jedem ersten Sonntagswochenende im Juli sein Schützenfest – früher auf Haus Dudenroth, heute auf dem Platz von Louviers. Seit 2007 stellt Jörg Hegemann aus Witten jedes Jahr im Sommer in der alten Scheune von Haus Opherdicke deutsche und europäische Bluesmusiker auf dem Klavier (Boogie Woogie) mit ständig wachsender Beliebtheit vor. Wirtschaft und Infrastruktur Seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts war Holzwickede vom Bergbau und Eisenbahn geprägt. Die Zeche Caroline war die letzte Zeche, die in Holzwickede noch gefördert hat. Auf dem ehemaligen Zechengelände entsteht seit 2006 ein Wohngebiet. Im Norden der Gemeinde entsteht derzeit in unmittelbarer Nähe zum Flughafen Dortmund ein neues Gewerbegebiet. In Holzwickede befindet sich der Hauptsitz der Montanhydraulik GmbH, einem weltweit tätigen Hersteller von Hydrauliksystemen mit über 1.200 Mitarbeitern. Die Gemeinde Holzwickede weist das höchste durchschnittliche Primäreinkommen je Einwohner im Kreis Unna auf. Im Landesvergleich belegte sie bezüglich des durchschnittlich verfügbaren Einkommens im Jahr 2016 die Rangziffer 29 unter den 396 Gemeinden in Nordrhein-Westfalen. Damit gehört Holzwickede zu den einkommensstärksten Gemeinden des Bundeslandes. Verkehr Holzwickede ist über Straße, Schiene und durch die Luft zu erreichen. Durch den Ort führen die Autobahnen A 44 (Aachen–Düsseldorf-Kassel) und A 1 (Puttgarden–Euskirchen–Saarbrücken). An der A 44 existiert eine eigene Abfahrt für Holzwickede. Außerdem führen durch Holzwickede die folgenden Bundes- (B) und Landesstraßen (L): Die B 1 mündet – von Dortmund kommend – an der Anschlussstelle Holzwickede in die A 44. Die L 673 verläuft nördlich der Ruhr und durchquert den Süden Holzwickedes. Sie führt vom Abzweig mit der L 675 in Hagen über Schwerte, Fröndenberg/Ruhr und über Wickede bis zur B 516 im Enser Ortsteil Bremen. Die L 677 beginnt an der L 821 und durchquert Holzwickede in Nord-Süd-Richtung. Über den Schwerter Ortsteil Geisecke erreicht sie schließlich die L 676 im Iserlohner Ortsteil Rheinen. Die L 678 beginnt an der A-1-Anschlussstelle Kamen-Zentrum in Verlängerung der von Norden kommenden B 233. Über Unna und Opherdicke führt sie nach Hengsen, wo sie an der L 677 endet. Die L 821 beginnt an der B 234 im Dortmunder Stadtteil Aplerbeck. In Holzwickede bildet sie die Nordgrenze nach Dortmund und Unna. Anschließend führt sie in nördlicher Richtung über Unna-Massen, Kamen-Methler und Bergkamen-Oberaden bis zur L 736 in Bergkamen-Heil. Der Bahnhof Holzwickede/Dortmund Flughafen liegt an den Bahnstrecken Hagen–Hamm und Dortmund–Soest. Nördlich der Gemeinde liegt der Flughafen Dortmund, dieser ist fußläufig erreichbar. Vom Bahnhof Holzwickede verkehrt ein Pendelbus zum Flughafen. Im Süden des Ortsteils Hengsen befindet sich das Segelfluggelände Hengsen-Opherdicke. Dort ist der Luftsportverein Unna-Schwerte e. V. beheimatet. Bildung Die Gemeinde Holzwickede unterhält vier Grundschulen. Die katholische Aloysiusschule, die evangelische Dudenrothschule, sowie die Nordschule und die Paul-Gerhardt-Schule als Gemeinschaftsgrundschulen. Im Schulzentrum befinden sich das Clara-Schumann-Gymnasium und die Josef-Reding-Schule. Ferner beherbergt die Gemeinde die Karl-Brauckmann-Schule, eine Förderschule des Kreises Unna mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Medizinische Versorgung Die medizinische Versorgung wird von den Krankenhäusern in Schwerte, Unna und Dortmund übernommen. Persönlichkeiten Zu bekannten gebürtigen und mit der Gemeinde Holzwickede verbundene Persönlichkeiten gehören Personen aus Religion, wie beispielsweise Hermann Mandel, Theologe und Religionswissenschaftler, Personen der Wirtschaft, aus Kunst und Kultur, sowie Militär, Sport, Wissenschaft und Politik. Eine vollständige Liste, inklusive Bürgermeister und Ehrenbürger, findet sich im Hauptartikel. Weblinks Website der Gemeinde Holzwickede Einzelnachweise Ort im Kreis Unna Ort an der Ruhr
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hadrian%20%28Kaiser%29
Hadrian (Kaiser)
Publius Aelius Hadrianus (Titulatur als Kaiser: Imperator Caesar Traianus Hadrianus Augustus; * 24. Januar 76 in Italica in der Nähe des heutigen Sevilla oder in Rom; † 10. Juli 138 in Baiae) war der vierzehnte römische Kaiser. Er regierte von 117 bis zu seinem Tod. Hadrian war ebenso wie sein Großonkel und kaiserlicher Vorgänger Trajan in Hispanien beheimatet. Er bemühte sich als Herrscher intensiv um die Festigung der Einheit des Römischen Reiches, das er in weiten Teilen ausgiebig bereiste. Durch Zuwendungen und administrative Maßnahmen auf der Ebene der römischen Provinzen und Städte förderte er den Wohlstand und stärkte die Infrastruktur. Mit der Fixierung des edictum perpetuum gab er dem Justizwesen einen wichtigen Impuls. Da er nur wenige Kriege führte, speziell den gegen die aufständischen Juden, war seine Regierungszeit für den weitaus größten Teil des Reichs eine Epoche des Friedens. Er verzichtete auf Eroberungen und gab die von Trajan im Partherkrieg besetzten Gebiete auf, womit er einen scharfen und umstrittenen Kurswechsel vollzog, der sein Verhältnis zum Senat belastete, einer Überspannung der Kräfte Roms aber vorbeugte. Danach konzentrierte Hadrian seine militärischen Bemühungen auf eine effiziente Organisation der Reichsverteidigung. Diesem Zweck dienten insbesondere Grenzbefestigungen, darunter der nach ihm benannte Hadrianswall. Hadrian war vielseitig interessiert und bei der Erprobung seiner Talente ehrgeizig. Seine besondere Wertschätzung galt der griechischen Kultur, insbesondere der als klassisches Zentrum griechischer Bildung berühmten Stadt Athen, die er neben vielen anderen Städten durch eine intensive Bautätigkeit förderte. In seiner Regierungszeit entstanden bedeutende Bauwerke wie die Bibliothek in Athen, das Pantheon und die Engelsburg in Rom sowie die Hadriansvilla bei Tivoli. Im Privatleben des Kaisers spielte seine homoerotische Beziehung zu dem früh verstorbenen Jüngling Antinoos eine zentrale Rolle. Nach dem Tod seines Geliebten setzte Hadrian reichsweit dessen kultische Verehrung in Gang, die im Osten, aber auch in Italien viel Anklang fand. Hadrians auf zwei Generationen ausgelegte Nachfolgeregelung war die Weichenstellung für die erfolgreiche Fortsetzung der von ihm eingeleiteten Reichskonsolidierung unter seinen beiden Nachfolgern Antoninus Pius und Mark Aurel. Herkunft und Aufstieg Iberische Wurzeln und Bindungen Hadrian entstammte einem römischen Geschlecht, das sich bereits in republikanischer Zeit im Zuge der römischen Expansion in Italica in der Provinz Hispania ulterior (später Baetica) im Süden der Iberischen Halbinsel angesiedelt hatte. Der unbekannte Verfasser von Hadrians Lebensbeschreibung in der Historia Augusta, der Material aus der heute verlorenen Autobiographie Hadrians verwertete, berichtet, die Familie habe ursprünglich aus Hadria oder Hatria (jetzt Atri) im mittelitalischen Picenum gestammt. Auf den Namen dieser Stadt, die auch für die Adria namengebend war, geht demnach der Beiname Hadrianus zurück. Baetica war reich an Mineralien; Korn und Wein wurden dort in großen Mengen angebaut und die Provinz exportierte unter anderem auch die für die römische Küche essentielle Speisewürze Garum. Einige in Hispanien zu Reichtum gelangte einflussreiche Familien, darunter die Ulpii mit Trajan, die Aelii mit Hadrian und die Annii mit Mark Aurel, bildeten durch Heiratsallianzen ein Netzwerk und hielten in Rom beim Streben nach einflussreichen Positionen zusammen. Zu Hadrians Kindheit ist nichts überliefert. Mit Blick auf seinen frühzeitig ausgeprägten Philhellenismus wird erwogen, dass ihn sein Vater, der Senator Publius Aelius Hadrianus Afer, als möglicher Prokonsul der Provinz Achaea im Kindesalter nach Griechenland mitgenommen haben könnte. Den Vater, der prätorischen Rang erreicht hatte, verlor er im Alter von zehn Jahren. Seine Mutter Domitia Paulina lebte zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr. Hadrian kam unter die Vormundschaft Trajans, der ein Cousin seines Vaters war, sowie unter die des ebenfalls in Italica beheimateten Ritters Publius Acilius Attianus. Als Vierzehnjähriger fand sich Hadrian nach dem Anlegen der toga virilis auf den Familienbesitzungen in Italica ein. Er durchlief dort die militärische Grundausbildung und sollte sich wohl mit der Verwaltung der Familiengüter vertraut machen. Dabei entwickelte er aber eine aus Sicht seines Vormunds Trajan übertriebene Begeisterung für die Jagd und wurde von ihm nach Rom zurückbeordert. Aufstieg unter Trajans Anleitung Der Werdegang Hadrians zwischen seiner Rückkehr aus Hispanien und seinem Herrschaftsantritt als Kaiser 117 beschäftigt die Forschung vor allem unter dem Gesichtspunkt der ungeklärten Frage, ob er tatsächlich von Trajan kurz vor dessen Tod adoptiert und zum Nachfolger bestimmt worden ist, was schon in der Antike bezweifelt wurde. Anhaltspunkte für eine Klärung von Trajans Absichten können aus den vorliegenden Nachrichten über das Verhältnis der beiden Männer ab den neunziger Jahren des ersten Jahrhunderts gewonnen werden. Mit achtzehn Jahren wurde Hadrian als decemvir stlitibus iudicandis im Jahr 94 in ein Aufsichtsgremium bei Gericht berufen. Noch in zwei weiteren Funktionen auf dem Weg in eine senatorische Laufbahn ist er inschriftlich bezeugt: Er diente als Militärtribun erst bei der Legio II Adiutrix in Aquincum (Budapest), dann bei der Legio V Macedonica in der Moesia inferior (Niedermösien). Im Herbst 97 wurde Trajan von dem in Rom unter den Druck der Prätorianergarde geratenen Nerva adoptiert. Hadrian wurde von seiner Legion beauftragt, dem designierten Nachfolger des Kaisers die Glückwünsche zur Adoption zu übermitteln. Er machte sich im Spätherbst auf den Weg an den Rhein, wo sich Trajan aufhielt. Dieser setzte ihn nun für ein drittes Militärtribunat bei der in Mogontiacum (Mainz) stationierten Legio XXII Primigenia ein. Hier ergab sich ein Spannungsverhältnis zu dem für die Provinz Germania superior neu eingesetzten Statthalter Lucius Iulius Ursus Servianus, dem Mann von Hadrians Schwester, der nun sein Vorgesetzter war und mit ihm um die Gunst Trajans rivalisierte. Als Nerva im Januar 98 starb und Trajan ihm als Kaiser nachfolgte, setzte sich die Rivalität zwischen Hadrian und Servianus fort. Hadrians Bindung an das Kaiserhaus wurde durch seine Ehe mit der um zehn Jahre jüngeren Großnichte Trajans Vibia Sabina, die er als Vierundzwanzigjähriger heiratete, noch enger. Im selben Jahr 100 gelangte Hadrian zur Quästur und damit in den Senat, und zwar in der privilegierten Stellung des quaestor Augusti, dem es unter anderem oblag, die Reden des Kaisers zu verlesen. Beim Feldzug gegen den Daker-König Decebalus war Hadrian 101 als comes Augusti im Stab des Kaisers tätig. Für 102 ist sein Volkstribunat anzusetzen, für 105 die Prätur, bei deren volksnaher Ausgestaltung durch die Abhaltung kostenträchtiger Spiele Trajan großzügig aushalf. An Trajans im Juni 105 beginnendem zweiten Dakerkrieg nahm Hadrian ebenfalls teil, nunmehr als Befehlshaber (legatus legionis) der Legio I Minervia. Für seine militärischen Leistungen wurde er von Trajan mit einem Diamanten ausgezeichnet, den dieser von Nerva bekommen hatte. In der Folge gelangte er auf den Statthalterposten in Niederpannonien, das gegen die Jazygen gesichert werden musste. Im Alter von 32 Jahren wurde Hadrian im Jahre 108 Suffektkonsul. Ob aus dieser Karriere hervorgeht, dass Hadrian planmäßig auf die Rolle als künftiger Nachfolger Trajans vorbereitet wurde, ist eine nicht eindeutig geklärte Frage. Trajan hatte ihn nicht von vornherein zum Patrizier erhoben, was ihm das Überspringen von Volkstribunat und Ädilität gestattet hätte; dennoch wurde Hadrian ebenso schnell Konsul, wie es bei Patriziern möglich war. Er hatte diesen gegenüber den Vorteil einer bedeutenden militärischen Erfahrung, wie sie bei Patriziern in dieser Form nicht üblich war. Trajan verlieh Hadrian bedeutende Vorrechte und Befugnisse, die er aber immer dosierte. Vielseitige Persönlichkeit Ehrgeiz ließ Hadrian nicht nur beim raschen Aufstieg in der politischen Laufbahn und auf militärischem Gebiet erkennen, sondern auch in diversen anderen Betätigungsfeldern. Seine gute Beherrschung der beiden Sprachen Latein und Griechisch sowie seine durch literarische Quellen und Fragmente überlieferten rhetorischen Qualitäten lassen auf eine intensive Ausbildung in Grammatik und Rhetorik schließen. Den Quellen zufolge verfügte er über Scharfsinn, Wissensdurst, Lerneifer und eine rasche Auffassungsgabe. Diese Angaben werden in der Forschung nicht nur als gängiges Repertoire der Lobpreisung von Herrschern beurteilt, sondern gelten in Anbetracht seines Handelns als plausibel. Von der Vielseitigkeit seiner Interessen zeugen seine überlieferten Betätigungsfelder, darunter das Singen, das Spielen eines Saiteninstruments, Malerei, Bildhauerei und Dichtkunst, aber auch Geometrie und Arithmetik, Heilkunde und Astronomie. Allerdings ist die Einschätzung seiner konkreten Leistungen im Rahmen dieses weiten Betätigungsspektrums umstritten; negativen Bewertungen zufolge war er nur ein profilierungssüchtiger Dilettant, der sich sogar vor den jeweiligen besonderen Könnern eines Faches aufzuspielen suchte. Hadrians Ehe blieb kinderlos. Er soll außereheliche Beziehungen gehabt haben, doch gibt es keine bestätigten Nachkommen. Anscheinend war er in erster Linie homoerotisch orientiert, was sich in Erastes-Eromenos-Verhältnissen niederschlug. So wird etwa behauptet, er habe mit den im Hause Trajans anzutreffenden Lustknaben häufig Umgang gehabt. Von nachhaltiger Bedeutung war seine Beziehung zu Antinoos, einem jungen Bithynier, den Hadrian wohl in Kleinasien kennen gelernt hatte. Antinoos gehörte einige Zeit zum Hofstaat des Kaisers und begleitete ihn auf seinen Reisen, bis er unter nie geklärten Umständen im Nil ertrank. Von Charakter und Wesensart Hadrians wird in den literarischen Quellen ein vielfältiges und teils widersprüchliches Bild gezeichnet. So heißt es in der Historia Augusta: „Er war zugleich streng und heiter, leutselig und würdevoll, leichtfertig und bedächtig, knauserig und freigebig, in Heuchelei und Verstellung ein Meister, grausam und gütig, kurz, immer und in jeder Hinsicht wandelbar.“ Cassius Dio bescheinigte Hadrian unersättlichen Ehrgeiz, Neugier und ungehemmten Tatendrang. Über Schlagfertigkeit und Witz soll er ebenfalls verfügt haben. Die phänomenalen Gedächtnisleistungen, die Hadrian in der Historia Augusta zugeschrieben werden, hält Jörg Fündling, der führende Fachmann für diese Quelle, allerdings für übertrieben und in dieser Form unglaubhaft. Dazu gehören die Behauptungen, Hadrian habe niemanden gebraucht, der ihm im Alltag mit Namen aushalf, denn er habe jeden ihm Begegnenden namentlich zu begrüßen gewusst und sogar die Namen aller Legionäre, mit denen er je zu tun hatte, im Gedächtnis behalten. Er habe nur einmal verlesene Namenslisten rekapitulieren und im Einzelfall sogar korrigieren können; auch wenig bekannte neue Bücher habe er nach einmaliger Lektüre rezitiert. Skeptisch beurteilt Fündling auch die Angabe der Historia Augusta, Hadrian habe gleichzeitig schreiben, diktieren, zuhören und mit seinen Freunden plaudern können. Nach Fündlings Ansicht wollte Hadrians Biograph die Darstellung Caesars durch Plinius den Älteren überbieten, der zufolge der Iulier, während er schrieb, zugleich entweder diktieren oder zuhören konnte. Herrschaftsbeginn Die Problematik der angeblichen Adoption durch Trajan Als Trajans Redenschreiber Sura bald nach Hadrians Suffektkonsulat starb, gelangte Hadrian auch in diese Vertrauensstellung nahe beim Herrscher. Während des Partherkriegs, zu dem sich Trajan im Herbst 113 entschloss, war Hadrian ebenfalls Teil des Führungsstabs. Als Trajans Offensive gegen das Partherreich in Mesopotamien auf massiven Widerstand stieß und Aufstände innerhalb des Römischen Reiches, vor allem in Nordafrika, ihrerseits erheblichen Aufwand zur Niederschlagung erforderten, trat Trajan den Rückzug an, plante die Rückkehr nach Rom und setzte Hadrian als Statthalter in Syrien ein. Damit wurde diesem auch die Führung des Heeres im Osten übertragen, eine Machtposition, über die kein anderer möglicher Nachfolgekandidat verfügte. Zwei hohe Offiziere, Aulus Cornelius Palma Frontonianus und Tiberius Iulius Celsus Polemaeanus, die möglicherweise eigene Nachfolgeambitionen verfolgten, hatte Trajan noch selbst aus seinem engeren Machtzirkel entfernt. Somit hatte Hadrian keine ernsthaften Rivalen. Hadrian war demnach von Trajan auf vielfältige Weise gefördert worden. Offen bleibt aber die Frage, warum Trajan die Adoption, falls er sie überhaupt vollzogen hat, erst unmittelbar vor seinem Tod vornahm. Als plausibler Grund gilt in der neueren Forschung, dass Trajan angesichts seiner krankheitsbedingt eingeschränkten Handlungsfähigkeit eine vorzeitige Entmachtung befürchtete; die Adoption musste eine Umorientierung der führenden Kreise auf den kommenden Mann zur Folge haben und konnte in ihrer Wirkung faktisch einer Abdankung gleichkommen. Sicher ist, dass Freunde und Verbündete Hadrians in der unmittelbaren Umgebung des sterbenden Kaisers ihren Einfluss nachdrücklich geltend machten. Zu ihnen zählten die Kaiserin Plotina, Trajans Nichte Matidia und vor allem der Prätorianerpräfekt Attianus, Hadrians einstiger Vormund. Eine weitere Möglichkeit ist, dass Trajan, als er die Seereise nach Rom antrat, die Adoption dort durchzuführen gedachte, so wie er selbst einst während seines Militärkommandos am Rhein von Nerva in Abwesenheit adoptiert worden war. Eine öffentliche Adoption in Rom hätte Hadrian eine unbezweifelbare Legitimation verschafft. Die Rückreise musste aber wegen Trajans dramatisch schwindender Gesundheit – Schlaganfall und beginnendes Kreislaufversagen – vor der kilikischen Küste bei Selinus abgebrochen werden. Die Nachricht von der doch noch erfolgten Adoption stützt sich allein auf das Zeugnis der Plotina und des Prätorianerpräfekten Attianus, deren massive Parteinahme für Hadrian unzweifelhaft ist. Der einzige möglicherweise unabhängige Zeuge, der Kammerdiener Trajans, starb unter merkwürdigen Umständen drei Tage nach dem Kaiser. Daher erhob sich früh der Verdacht, die Adoption sei von Hadrians Förderern vorgetäuscht worden. Dieser Verdacht gilt auch in der modernen Forschung nicht als entkräftet. Indem Trajan den richtigen Zeitpunkt und Rahmen zur Bestimmung eines Nachfolgers verpasste, erschwerte er Hadrian den Amtsantritt beträchtlich: Es gab keine für die römische Öffentlichkeit eindeutige Anbahnung des Übergangs und praktisch keine Übergangsfrist, stattdessen in Anbetracht der Umstände des Herrscherwechsels begründbare Zweifel am rechtmäßigen Zustandekommen von Hadrians Prinzipat. Trajan hatte 19 Jahre Zeit gehabt, Hadrian als Nachfolger zu designieren; dass er dies entweder nie oder aber erst in letzter Minute getan hatte, musste Zweifel daran wecken, ob er seinen Großneffen wirklich als neuen Kaiser gewünscht hatte. Machtübernahme und außenpolitische Wende Nach offizieller Lesart erfuhr Hadrian am 9. August 117 von seiner Adoption durch Trajan und am 11. August von dessen Ableben. Möglicherweise waren aber beide Meldungen bereits in einem aus Selinus am 7. August abgeschickten Schreiben enthalten; jedenfalls ließ die zeitliche Staffelung der Bekanntgabe an die Soldaten aber Raum für die geordnete Ausrufung des bereits unter Annahme des Caesar-Titels adoptierten Hadrian zum Kaiser. Wie der 9. August als Adoptionstag wurde auch der Tag der Kaisererhebung (dies imperii), der 11. August, von den syrischen Truppen fortan als Feiertag begangen. Dem bis dahin übergangenen Senat sandte Hadrian umgehend ein Schreiben, in dem er seine Erhebung durch Heeresakklamation ohne Senatsvotum damit erklärte, dass der Staat jederzeit eines Herrschers bedürfe; daher habe man schnell handeln müssen. Mit dieser Begründung sollte eine Brüskierung des Senats möglichst vermieden werden. In der Reaktion des Senats wurde Hadrian nicht nur als neuer Prinzeps bestätigt, sondern es wurden ihm auch gleich eine Anzahl besonderer Ehrungen angetragen, darunter der Titel pater patriae („Vater des Vaterlandes“), die er aber zunächst ablehnte. Hadrian begab sich in den zwölf Monaten nach seiner Erhebung nicht nach Rom, sondern blieb mit der militärischen Reorganisation im Osten und an der Donau befasst. Einerseits musste er die Legitimation seiner Herrschaft vor der Öffentlichkeit Roms festigen, andererseits traf er außenpolitische und militärische Entscheidungen, die aus seiner Sicht notwendig waren, aber eine Abkehr von der Expansionspolitik seines sehr populären Vorgängers darstellten, mit territorialen Einbußen verbunden waren und daher der Öffentlichkeit nicht leicht zu vermitteln waren. Ein neuer Herrscher, der zum Rückzug blies, war für Senat und Volk von Rom eine wenig attraktive Erscheinung, zumal der Senat nach den anfänglichen Siegesmeldungen von Trajans Parther-Feldzug im Osten für diesen 116 bereits den Triumph und den Siegernamen Parthicus beschlossen hatte. Hadrian gab nun binnen kurzer Zeit sowohl im Osten als auch an der unteren Donau im Bereich der Provinz Dakien weite bisherige Gebietsansprüche Roms preis. Er räumte die von Trajan eroberten und neueingerichteten Provinzen Mesopotamia und Armenia, wodurch der Euphrat wieder Reichsgrenze wurde. Dies war militärisch notwendig, da die Römer in den 24 Monaten zuvor ohnehin aufgrund von lokalen Aufständen und parthischen Gegenangriffen weitgehend die Kontrolle über diese östlichen Gebiete verloren hatten. Auch nördlich der unteren Donau wurden große Teile der unter Trajan eroberten Gebiete aufgegeben, etwa am unteren Olt und in der Großen Walachei, im östlichen Teil der Karpaten sowie im Süden Moldaviens. Während Hadrian diese deutliche außenpolitische Wende vollzog, betonte er – wohl auch wegen der Zweifel an seiner Adoption – die Kontinuität zu seinem Vorgänger, um dessen zahlreiche Anhänger zu besänftigen. Deshalb förderte er die ausgiebige Ehrung Trajans, übernahm zunächst dessen gesamte Titulatur und ließ unter anderem Münzen prägen, die ihn mit Trajan – die Machtübergabe symbolisierend – einander die Hände reichend zeigten. Merkmale von Hadrians Prinzipat Der Schwerpunkt der Politik Hadrians lag darin, das Römische Reich in seinem Zusammenhalt zu stabilisieren. Dazu trug der Kaiser auch bei, indem er sich für die je regionalen Besonderheiten interessierte, sie gelten ließ und vielfach förderte. Als ein besonderes Charakteristikum seines Prinzipats werden in der Forschung seine mehrjährigen, ausgedehnten Reisen herausgestellt, einzigartig in der Römischen Kaiserzeit sowohl in ihrem Ausmaß als auch in ihrer Konzeption. Auf Münzen ließ er sich als „Wiederhersteller“ und „Bereicherer des Erdkreises“ (restitutor orbis terrarum und locupletor orbis terrarum) feiern. Hadrian verband seine weit ausgreifenden Reisen mit Maßnahmen zur Grenzbefestigung und mit der gründlichen Inspektion und Reorganisation der römischen Heeresverbände, an deren ungeschmälerter Einsatzbereitschaft und Schlagkraft er auch in Zeiten weitgehenden äußeren Friedens energisch festhielt. Als größte militärische Herausforderung seines Prinzipats sollte sich jedoch bereits weit nach Halbzeit seiner Herrschaft eine Erhebung im Innern erweisen: die langwierige und verlustreiche Niederschlagung des jüdischen Aufstands. Hadrians besonderes Augenmerk und Interesse hatte aber schon vordem der griechischen Osthälfte des Römischen Reiches gegolten, deren historische und kulturelle Zusammengehörigkeit er wiederzubeleben suchte. Ein Zentrum seiner reichsweit verteilten, vielfältigen baulichen Initiativen und Ausgestaltungsmaßnahmen war darum Athen, zu dem er sich, wie seine vergleichsweise häufigen längeren Aufenthalte zeigten, persönlich besonders hingezogen fühlte. Ein „Goldenes Zeitalter“ – Programm und politischer Alltag Vor allem in seinen ersten Regierungsjahren war Hadrian darauf bedacht, als Erbe Trajans erkannt und anerkannt zu werden; mit dessen Erhöhung steigerte er zugleich das eigene Ansehen. Andererseits wollte er aber auch seine eigene Linie zur Geltung bringen, dabei insbesondere seine einschneidende außenpolitische Kursänderung in ein möglichst günstiges Licht rücken und dem Römischen Reich ein dazu passendes neues Leitbild vorgeben. Als geschichtliche Vorbilder für seine auf Frieden und Konsolidierung konzentrierte Politik dienten Hadrian König Numa Pompilius, der friedfertige Nachfolger des Romulus, und vor allem Kaiser Augustus, der Reorganisator des Römischen Reiches nach Beendigung der Bürgerkriege und Begründer des Prinzipats. Ein Kaiser, der die aus dem Gleichgewicht geratene Ordnung des Reichs wiederherstellte, konnte sich damit als Erbe des Augustus präsentieren. Mit der im Allgemeinen respektvollen Behandlung des Senats und seiner Politik äußerer Befriedung konnte sich Hadrian auf den Boden einer neuen Pax Augusta stellen. Die Münzprägungen der Anfangsjahre von Hadrians Prinzipat betonten mit vorherrschenden Losungen wie Eintracht (concordia), Gerechtigkeit (iustitia) und Frieden (pax) das Ziel stabiler und erfreulicher äußerer und innerer Verhältnisse. Beschworen wurden zudem Vorstellungen von langer Dauer (aeternitas) und einem Goldenen Zeitalter (saeculum aureum); der Phoenix symbolisierte sowohl den wiedergewonnenen Wohlstand als auch den ewigen Bestand des Reiches. Die Orientierung Hadrians an Augustus zeigte sich auch beim Bau des Pantheons, des ersten Großobjekts, das unter ihm als Kaiser in Rom fertiggestellt wurde. Dort zeigt sich der Bezug zu Augustus nicht nur in der Architravinschrift, die mit Agrippa einen wichtigen Vertrauten dieses Kaisers nennt, sondern auch durch den Vorhof und die Tempelfront der Vorhalle, die deutlich an das Augustusforum erinnern. Besondere Beachtung schenkte Hadrian nicht nur in Rom, sondern auch während seiner Inspektionsreisen der Rechtsprechung. Dabei sorgte er für eine Systematisierung der Rechtsprechungsgrundsätze, indem er den führenden Juristen seiner Zeit, Publius Salvius Iulianus, beauftragte, die prätorische Rechtssetzung, die bis dahin durch ein Edikt nach Amtsantritt der Prätoren jährlich neu gefasst worden war, im edictum perpetuum (wahrscheinlich aus dem Jahre 128) auf eine dauerhafte Grundlage zu stellen. Das Edikt bedeutete zwar keine eigentliche Kodifikation, hatte aber großen Einfluss: Der Jurist Ulpian verfasste über 80 Bücher Kommentare dazu, die später Eingang in Justinians Digesten fanden. Das edictum perpetuum trug dazu bei, dass der Kaiser immer mehr als Quelle des Rechts angesehen wurde. Sehr positiv bewertete Karl Christ Hadrians Bemühungen um die Rechtsprechung. Die einschlägigen Maßnahmen des Herrschers seien nicht von monarchischer Willkür, sondern von Sachlichkeit, Objektivität und auch Humanität gekennzeichnet. Davon hätten insbesondere benachteiligte Gruppen und Unterschichten der römischen Gesellschaft profitiert. Frauen erhielten das Recht, eigenes Vermögen und Erbschaften selbst zu verwalten. Die Verheiratung der Mädchen bedurfte fortan deren ausdrücklicher Einwilligung. Als höchster Richter zeigte sich Hadrian offenbar sachkundig und bewältigte ein beeindruckendes Arbeitspensum. Im Winterquartier des Jahres 129 soll er 130 Gerichtstage abgehalten haben. Nach einer verbreiteten, in verschiedenen Varianten überlieferten Anekdote wurde Hadrian auf einer Reise von einer alten Frau angesprochen und sagte ihr weitereilend, er habe keine Zeit. „Dann höre auf, Kaiser zu sein!“, habe ihm die Frau nachgerufen. Da habe Hadrian angehalten und sie angehört. Eine nochmalige Stärkung ihrer gesellschaftlichen Bedeutung erfuhren unter Hadrian die dem Senatorenstand (ordo senatorius) nachgeordneten Ritter (ordo equester). In ihre Hand legte der Princeps sämtliche vormals von Freigelassenen geführten zentralen Verwaltungsressorts; unter ihnen suchte er auch die beiden Gardepräfekten aus, von denen nun einer Fachjurist sein musste. Auf dezentraler Ebene in den Provinzen förderte Hadrian die städtische Selbstverwaltung. Dies kam unter anderem in der Verleihung von Münzrechten und in der Gewährung bedarfsorientierter Stadtverfassungen zum Ausdruck. Bei der zentralen Finanz- und Steuerverwaltung des Reiches hingegen setzte er wiederum auf Systematisierung der bisherigen Verfahrensweisen und berief Spezialbeauftragte für die fiskalischen Interessen des Staates, die advocati fisci. Stärker auf die kaiserliche Zentralverwaltung ausgerichtet wurde Italien, das Hadrian in vier Regionen unterteilte, die fortan der Kontrolle je eines kaiserlichen Legaten unterstanden. Dies ging zu Lasten der Senatskompetenzen, da die Legaten zwar aus den Reihen vormaliger Konsuln ausgewählt werden sollten, aber eben nicht vom Senat, sondern vom Kaiser. Verhältnis zu Senat und Volk Auch im Verhältnis zum Senat stellte sich Hadrian in die Augustus-Nachfolge: Er bezeugte Achtung vor der Institution, indem er die Sitzungen besuchte, wenn er sich in Rom aufhielt; er pflegte den Umgang mit Senatoren und stellte denjenigen Mitgliedern des Senatorenstandes, die finanziell in Bedrängnis geraten waren, die fehlenden Mittel zur Verfügung. In Fragen der politischen Mitgestaltung aber ließ er dem Senat wenig Entscheidungsspielraum und beriet sich stattdessen mit Leuten seines persönlichen Vertrauens. Schwer belastet wurde das Verhältnis des Kaisers zum Senat zu Beginn und dann wieder am Ende seines Prinzipats durch die Hinrichtung von im ersten Fall vier, im zweiten Fall mindestens zwei Konsularen. Bei der ersten Beseitigungsmaßnahme ging es um die Ausschaltung einer Gruppe von vier wichtigen Militärkommandanten Trajans (Avidius Nigrinus, Aulus Cornelius Palma Frontonianus, Lucius Publilius Celsus und Lusius Quietus), die im Verdacht standen, Hadrians Machtübernahme zu missbilligen. Sie alle wären aufgrund ihrer militärischen Verdienste selbst als Kaiser in Frage gekommen und stellten schon allein deshalb eine potentielle Bedrohung für den neuen princeps mit seiner fragwürdigen Legitimität dar. Während Hadrian selbst noch nicht wieder in Italien war, organisierte sein Prätorianerpräfekt Attianus daher noch 117 eine Hinrichtungsaktion an vier unterschiedlichen Orten, ohne die Opfer auch nur vor Gericht zu stellen. Diese Aktion führte zu starken Spannungen mit dem Senat, wo man die vorgebrachte Begründung, die Konsulare hätten sich gegen den neuen Kaiser verschworen, als Vorwand durchschaute, so dass Hadrian nach seinem Eintreffen in Rom Attianus als Sündenbock demonstrativ seines Amtes enthob, um die Senatoren zu beschwichtigen. Überdies behauptete der Kaiser, nichts von den Hinrichtungen gewusst zu haben; doch wurde ihm dies nicht geglaubt, und sein Verhältnis zum Senat blieb auch dann noch schwierig, als er versprochen hatte, künftig keine Senatoren mehr hinrichten zu lassen. Im anderen Fall, der sich ereignete, als Hadrian gesundheitlich bereits stark beeinträchtigt war und sich mit Dispositionen für seine Nachfolge befasste, gaben wohl das Verhalten und die Ambitionen zweier Verwandter des Kaisers, die sich in der Nachfolgeregelung übergangen sahen, den Anstoß zu ihrer Hinrichtung. Es handelte sich um Hadrians fast neunzigjährigen Schwager Servianus und dessen Enkel Fuscus, Hadrians Großneffen. Den beiden könnte ein Übergang der Kaiserwürde erst auf Servianus und nach dessen Ableben auf Fuscus erreichbar erschienen sein; jedenfalls erschienen sie Hadrian als potentiell bedrohlich, so dass sie zum Tode verurteilt wurden. Vor seiner von schwerer Erkrankung geprägten letzten Lebensphase, in der er sich aus der Öffentlichkeit zurückzog, hatte Hadrian versucht, sich als princeps civilis sowohl den Senatoren wie auch einfachen Bürgern gegenüber leutselig, entgegenkommend und hilfsbereit zu zeigen. Man konnte ihn, wie es heißt, unter einfachen Bürgern in öffentlichen Bädern antreffen und mit ihm ins Gespräch kommen. Er machte Krankenbesuche nicht nur bei Senatoren, sondern auch bei ihm wichtigen Rittern und bei Freigelassenen, mitunter nicht nur einmal am Tag. Dieses Verhalten machte ihn zwar bei den Rittern und Freigelassenen beliebt, nicht aber beim Senat, der seine Stellung bedroht sah. Hadrians demonstrative Freigebigkeit und Großzügigkeit beeindruckten nachhaltig. So berichtet Cassius Dio, dass man ihn nicht erst um Hilfe bitten musste, sondern dass er von sich aus dem jeweiligen Bedarf entsprechend aushalf. Zu seinen abendlichen Tischgesellschaften lud er Gelehrte, Philosophen und Künstler ein, um mit ihnen zu diskutieren. Hadrians politisches und gesellschaftliches Auftreten wird in manchen Quellen als von moderatio (Besonnenheit) und modestia (Mäßigung) gekennzeichnet geschildert; dabei ist allerdings mit Übertreibungen, Stilisierungen und Typologisierungen zu rechnen, doch gilt der Tenor manchen Forschern als glaubwürdig. Andererseits kursierten über ihn aber auch Anekdoten, die der Tyrannentopik entlehnt waren; und mindestens einmal kam es beinahe zu einem Skandal, als der Kaiser dem im Circus versammelten Volk befehlen wollte zu schweigen; dies wäre ein schwerer Verstoß gegen die Prinzipatsideologie gewesen, der nur durch den Herold verhindert wurde. Die lange Abwesenheit des Herrschers aus Rom, zunächst aufgrund seiner Reisen, dann durch den Rückzug in seine Villa, wurde zweifellos als Missachtung des Volkes empfunden. Nur gegen Widerstände im Senat konnte Antoninus Pius später die Vergöttlichung seines Vorgängers durchsetzen. Reisetätigkeit, Truppeninspektion und Grenzbefestigung Die ausgedehnten Reisen Hadrians, die auch der Befriedigung seiner weltoffenen Wissbegierde dienten, sollten den Übergang zu einer Neuordnung des Reichs unterstützen und absichern. Der allgemeinen Bekanntmachung dieses großräumig verteilten Herrscherwirkens dienten unter anderem Münzprägungen: Adventus-Münzen, welche die Ankunft des Kaisers in einer Region oder Provinz feierten, Restitutor-Prägungen, die seine Tätigkeit als Wiederhersteller von Städten, Regionen und Provinzen rühmten, und exercitus-Münzen anlässlich der Inspektionen der Truppenkontingente verschiedener Provinzen. Gerade bei der Organisation des militärischen Bereichs musste Hadrian in der Nachfolge Trajans unter veränderten Bedingungen neue Wege gehen. Hatte Trajan die Truppen bei Expansionsfeldzügen um sich versammelt und sich schon dadurch als Kaiser oft ordnend in ihrem Zentrum befunden, so ergab sich für Hadrian nun die Lage, dass die erste und wichtigste Stütze seiner Herrschaft vorwiegend an den Außengrenzen des Reiches verteilt stationiert war. Das Aufsuchen der von Italien zum Teil weit entfernten Heeresteile, die Ansprachen vor Ort, Inspektionen, Manöverbegleitung und -auswertung konnten dazu dienen, die Bindung der Legionen an den Kaiser lebendig zu erhalten und Verselbständigungstendenzen von Militäreinheiten vorzubeugen, die sonst fern von Rom kaum wirksam zu kontrollieren waren. So aber zeigte der Prinzeps, dass er auch weite Wege nicht scheute und dass man mit seinem Kommen rechnen konnte oder musste. Dabei legten er und sein Gefolge nach neueren Berechnungen ein Tempo vor, das bei entsprechend ausgebauten Straßen und Wegen auf Reisebedingungen schließen lässt, die bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 20 bis 30 Kilometern pro Tag erst im 19. Jahrhundert wieder erreicht wurden. An den Truppenstandorten angekommen, beschränkte er seine Inspektionen nicht allein auf die militärischen Belange im engeren Sinn, sondern untersuchte laut Cassius Dio auch zum Teil Privatangelegenheiten. Wo das Lagerleben aus seiner Sicht luxuriöse Züge angenommen hatte, traf Hadrian Vorkehrungen dagegen. Dabei teilte er die täglichen Strapazen mit den Soldaten und beeindruckte damit, dass er barhäuptig jedem Klima trotzte: dem Schnee im Norden ebenso wie der sengenden Sonne Ägyptens. Die von ihm zur Schulung der Disziplin angewandten Methoden und militärischen Übungen überdauerten sein Jahrhundert. Bereits im Vorfeld seiner ersten großen Reise von 121 bis 125 ordnete Hadrian Maßnahmen zum Ausbau des Obergermanisch-Rätischen Limes an, der durch Palisaden aus halbierten Eichenstämmen eine deutlich sichtbare, befestigte Außengrenze des Römischen Reiches bilden sollte: sinnfälliger Ausdruck für Hadrians Entscheidung, der Expansionspolitik ein Ende zu setzen. Mit der Inspektion von Truppen und Grenzbefestigungen im Bereich von Donau und Rhein begann 121 eine vierjährige Abwesenheit Hadrians von Rom. Den Rhein abwärts ziehend und nach Britannien übersetzend begab er sich 122 zu den Truppen, die zwischen Solway Firth und Tyne mit der Errichtung des Hadrianswalls beschäftigt waren. Diese Mauer erlaubte die effektive Kontrolle des gesamten Menschen- und Güterverkehrs; ein System von Festungswerken und Vorposten ermöglichte die Kontrolle eines beträchtlichen Gebiets nördlich und südlich des Walls. Noch vor dem Winter verließ Hadrian die Insel wieder und reiste durch Gallien, wo ein Aufenthalt in Nîmes bezeugt ist. Auf der Via Domitia erreichte er Spanien, wo er in Tarragona überwinterte und eine Zusammenkunft von Vertretern aller Regionen und Hauptorte Spaniens organisierte. Im Jahre 123 setzte er nach Nordafrika über und führte Truppeninspektionen durch, bevor er sich wegen einer im Osten drohenden neuen Auseinandersetzung mit den Parthern dorthin auf den Weg machte und in Verhandlungen am Euphrat eine Beruhigung der Lage erreichte. Die weitere Reiseroute führte über Syrien und diverse kleinasiatische Städte nach Ephesos. Von dort aus erreichte Hadrian auf dem Seeweg Griechenland, wo er das ganze Jahr 124 verbrachte, bevor er im Sommer 125 nach Rom zurückkehrte. Nach einem Nordafrika-Besuch 128 begab sich Hadrian über Athen erneut auf eine Reise in die Osthälfte des Reiches. Besuchsorte und Durchgangsstationen waren die kleinasiatischen Regionen Karien, Phrygien, Kappadokien und Kilikien, bevor er in Antiochia den Winter verbrachte. Im Jahre 130 war er in den Provinzen Arabia und Judäa unterwegs. In Ägypten zog er, die alten Städte besuchend, nilaufwärts. Nach dem Tod des Antinoos reiste er von Alexandria aus per Schiff entlang der syrischen und kleinasiatischen Küste mit Zwischenaufenthalten nach Norden. Im Sommer und Herbst 131 weilte er entweder anhaltend in den Westküstenregionen Kleinasiens oder weiter nördlich in Thrakien, Moesien, Dakien und Makedonien. Den Winter und das Frühjahr 132 verbrachte er letztmals in Athen, bevor er dann, durch den jüdischen Aufstand alarmiert, entweder nach Rom zurückkehrte oder sich in Judäa selbst ein Bild der Lage machte. Auf die Wohlfahrt der Gebiete, die der Kaiser aufsuchte, wirkten sich seine Reisen gesamthaft positiv aus. Er initiierte viele Projekte, nachdem er sich vor Ort von ihrer Notwendigkeit überzeugt hatte. Lokale historische und kulturelle Traditionspflege förderte er, indem er dafür sorgte, dass repräsentative alte Bauten restauriert, örtliche Spiele und Kulte erneuert sowie Grabanlagen bedeutender Persönlichkeiten instand gesetzt wurden. Auch infrastrukturelle Verbesserungen bei Straßennetz, Hafenanlagen und Brückenbauten verbanden sich mit Hadrians Reiseaktivitäten. Andere Fragen, etwa die nach belebenden wirtschaftlichen Auswirkungen der Kaiserreisen, sind in der Forschung ungeklärt. Münzprägungen in zusammenhängenden Emissionen aus Hadrians letzten Regierungsjahren bilanzierten den Ertrag der großen Reisen für die Bevölkerung auf vollkommen neuartige Weise, ein Tatenbericht von eigener Art. Von den sogenannten Provinzmünzen gibt es drei Arten: eine, welche die Personifikation eines Reichsteils zeigt und den Namen des Kaisers nennt, eine andere, die an die Ankunft des Kaisers im jeweiligen Gebiet erinnert, wobei Hadrian und die jeweilige Personifikation einander gegenüberstehen, und eine dritte, die dem Kaiser als dem ‚Erneuerer‘ eines Reichteils gewidmet ist und ihn eine vor ihm kniende Frauengestalt aufrichten lässt. Philhellenismus Neben Rom als Herrschaftszentrum, das er nicht vernachlässigen durfte, galt Hadrians Freigebigkeit und dauerhafte Zuwendung in außergewöhnlichem Maße Griechenland und insbesondere Athen. Sein vielleicht schon früh ausgeprägter Philhellenismus, der ihm den Beinamen Graeculus („Griechlein“) eintrug, bestimmte nicht allein seine ästhetischen Neigungen, sondern zeigte sich auch in seinem Äußeren, in Akzenten seiner Lebens- und Umfeldgestaltung sowie im politischen Wollen und Wirken. Dabei markiert der Ausdruck Graeculus auch eine gewisse spöttische Distanz der römischen Oberschicht zum reichhaltigen und anspruchsvollen griechischen Bildungsgut. Schon in republikanischer Zeit hatte eine allzu intensive Beschäftigung etwa mit griechischer Philosophie als für einen jungen Römer schädlich gegolten. Andererseits fand der heranwachsende Hadrian in Rom unter Domitian, der selbst Gedichte geschrieben und als Kaiser in Athen das Amt des Archonten übernommen hatte, ein der griechischen Kultur durchaus aufgeschlossenes Klima vor. Seit 86 veranstaltete Domitian im vierjährigen Turnus einen Wettstreit für Poeten und Musiker, Athleten und Reiter, dem er griechisch gekleidet in einer neu erbauten Arena für 15.000 Zuschauer selbst vorsaß. An Hadrians äußerem Erscheinungsbild auffällig und mit Trajan deutlich kontrastierend waren Frisur und Bart. Hadrians gelockte Stirn – mit aufwendig gekräuselten Haaren im Gegensatz zu Trajans „Gabelfrisur“ – war der eine, sein Bart der andere augenfällige Unterschied. Mit seiner Barttracht veränderte Hadrian die Mode des Reiches für über ein Jahrhundert. Er konnte sich damit Trajan gegenüber als eigene Persönlichkeit zur Geltung bringen und mit dem „Griechenbart“ oder „Bildungsbart“ zugleich Akzente in kultureller Hinsicht setzen. Sobald sich für Hadrian nach vollständiger Absolvierung der Ämterlaufbahn und in einer Pause von Trajans militärischen Großaktionen die Gelegenheit ergab, suchte er 111/112 Athen auf, ließ sich dort das Bürgerrecht verleihen und wurde zum Archonten gewählt, was von seinen Vorgängern nur Domitian und von seinen Nachfolgern erst wieder Gallienus beschieden war, die allerdings im Gegensatz zu ihm zur Zeit ihres Archontats bereits amtierende Kaiser waren. Für die Zeit in der Mitte seines vierten Lebensjahrzehnts war Hadrian von anderweitigen Aufgaben und Verpflichtungen anscheinend weitgehend entbunden und konnte sich mehr als sonst seinen Neigungen zuwenden, Kontakte herstellen und pflegen. So dürfte er in dieser Zeit den stoischen Philosophen Epiktet aufgesucht und gesprochen haben. Durch Vermittlung seines Freundes Quintus Sosius Senecio, der auch mit Plinius dem Jüngeren befreundet war, oder des Favorinus könnte er mit Plutarch zusammengekommen sein und häufiger mit dem Sophisten Polemon von Laodikeia in Kontakt gestanden haben. Auch an den Epikureern hatte Hadrian offenbar Interesse, wie sich spätestens 121 nachweisen lässt, als er an einer Neuregelung bei der Besetzung der Schulleitung beteiligt war. Eine klare Zuordnung Hadrians zu einer bestimmten philosophischen Schule ergibt sich daraus nicht. Als Eklektiker dürfte er eine Auswahl des für ihn Bedeutsamen getroffen haben: Epikureisches vielleicht mit Blick auf den eigenen Freundeskreis, stoische Elemente eher im Hinblick auf die staatlichen Obliegenheiten. Auch in religiöser Hinsicht nahm Hadrian die weit zurückreichende Athener Tradition für sich selbst an. Er war nach Augustus der zweite römische Kaiser, der sich in die Mysterien von Eleusis einweihen ließ. Seine Einweihung auf der ersten Stufe könnte bereits in die Zeit seines Archontats fallen. Eine spätere, wohl auf die zweite Einweihungsstufe (Epopteia) bezogene Münzprägung, die auf der Vorderseite Augustus zeigt, trägt auf der Rückseite außer der Abbildung einer Getreidegarbe die Aufschrift Hadrianus Aug(ustus) p(ater) p(atriae) ren. Dabei steht ren. für renatus („wiedergeboren“); Hadrian firmierte also im Zeichen der eleusinischen Mysterien als Wiedergeborener. Unter die Epopten dürfte er demnach anlässlich eines der weiteren Athen-Aufenthalte 124 oder 128 aufgenommen worden sein. Während Griechenland in großen Teilen der römischen Oberschicht damals nur als ein zu Erbauungszwecken besichtigenswertes kulturgeschichtlich-museales Ensemble betrachtet wurde, arbeitete Hadrian darauf hin, die Griechen als östlichen Bevölkerungspol des Römischen Reiches zu neuer Einheit und Stärke und zu mehr Selbstbewusstsein zu führen. Während seiner Inspektionsreisen durch die griechischen Provinzen löste er mit der Abhaltung von Spielen und Wettkämpfen einen Festrausch aus. Kein anderer Kaiser gab so vielen Spielen seinen Namen wie er mit den Hadrianeen. Mit bedeutenden baulichen Neuerungen und infrastrukturellen Verbesserungsmaßnahmen sorgte er dafür, Athen als Metropole der Griechen wiederzubeleben. Mit dem auf sein Betreiben nach Jahrhunderten endlich vollendeten Bau des Olympieions, das er als kultisches Zentrum eines Panhellenions vorsah, einer repräsentativen Versammlung aller Griechen im Römischen Reich, knüpfte Hadrian an das gut ein halbes Jahrtausend zurückliegende Synhedrion an, dessen Kompetenzen in der Ära der größten Machtentfaltung der Attischen Demokratie unter Perikles nach Athen verlagert worden waren. Die Athener dankten Hadrian seine Zuwendung, indem sie den ersten Aufenthalt des Kaisers als den Beginn einer neuen Stadtära feierten. Dem entsprach offenbar in hohem Maße Hadrians Selbstverständnis und die Art seiner Selbstinszenierung im öffentlichen Raum. Am Übergang der Stadt zum Olympieion-Bezirk wurde zu seinen Ehren 132 das Hadrianstor errichtet. Die an beiden Torseiten angebrachten Inschriften verwiesen einerseits auf Theseus als Athens Gründungsheros, andererseits auf Hadrian als den Gründer der neuen Stadt. Indem Hadrian hier ohne die sonst übliche zusätzliche Titulatur erschien, übte er sich nicht so sehr in Bescheidenheit, sondern stellte sich mit dem kultisch verehrten Stadtgründer Theseus, der ebenfalls ohne besonderen Rang und Titel genannt wurde, erkennbar auf eine Stufe. Hadrian seinerseits gründete noch 135 in Rom das Athenäum. Die Athener zeigten sich dem Kaiser auch in anderer Hinsicht demonstrativ dankbar, wie die große Zahl der Ehrenstatuen verdeutlicht, die für Hadrian nachgewiesen sind. Es gab allein in Athen mehrere hundert Porträts des Kaisers in Marmor oder Bronze. In Milet erhielt er auf Beschluss des Rats jährlich eine neue, sodass dort am Ende seiner Regierungszeit 22 Statuen oder Büsten Hadrians standen. Der Archäologe Götz Lahusen schätzt, dass es in der Antike 15.000 bis 30.000 Bildnisse von ihm gab; heute sind etwa 250 davon bekannt. Eine machtpolitische Komponente von Hadrians Engagement für die Griechen bestand darin, dass die griechischsprachigen Provinzen als Widerlager und ruhender Pol im Hinterland der orientalischen militärischen Brennpunkte und Konfliktzonen wirkten. Dies war die politische und strategische Seite von Hadrians Philhellenentum. Eine Verlagerung des politischen Machtzentrums in den östlichen Reichsteil hat Hadrian aber nicht angestrebt. Die Bedeutung des Panhellenions als politisches Binde- und Stärkungsmittel griechischer Einheit hielt sich ohnehin in Grenzen. Ungewiss sind sowohl Gründungsdatum und Sitz der Versammlung wie auch ihr Ziel. Vielleicht sollten die griechischen Poleis untereinander harmonisiert und zugleich über Athen enger an Rom und den Westen gebunden werden. Außer kulturellen Kontakten scheint nach Hadrians Tod nicht viel geblieben zu sein. Bautätigkeit Der Prinzipat Hadrians war verbunden mit einem anhaltenden Aufschwung von Baumaßnahmen verschiedenster Art, die nicht nur Rom und Athen galten, sondern den Städten und Regionen überall im Reich. Die Bautätigkeit wurde eine von Hadrians Prioritäten. Dazu trugen sowohl politische und dynastische Erwägungen als auch das tiefe persönliche Interesse des Kaisers an Architektur bei. Einige der in Hadrians Ära entstandenen Bauten stellen einen Wende- und Höhepunkt römischer Architektur dar. Frühe Studien der Malerei und Modellierkunst sowie Hadrians Interesse an Architektur sind bei Cassius Dio bezeugt. Auch zeigte Hadrian anscheinend keine Scheu, mit eigenen Konstruktionsvorstellungen und Entwürfen auch unter Meistern des Faches aufzuwarten. Cassius Dio berichtet von einer herben Abfuhr, die der berühmte Architekt Apollodor von Damaskus dem vielleicht etwas vorwitzigen jungen Mann erteilte. Apollodor soll Hadrian, der ihn in seinen Ausführungen Trajan gegenüber unterbrochen hatte, zurechtgewiesen haben: „Verzieh dich und zeichne deine Kürbisse. Du verstehst nichts von diesen Dingen.“ Mit der Umsetzung eines eigenen Bauprogramms begann Hadrian schon bald nach dem Herrschaftsantritt sowohl in Rom als auch in Athen und auf dem Familienbesitz bei Tibur. Der Betrieb auf diesen wie zahlreichen weiteren Baustellen lief über lange Zeit parallel und teils über Hadrians Tod hinaus, so im Falle des Tempels der Venus und der Roma und beim Hadriansmausoleum. Damit ließ sich speziell in Rom ein dauerndes Engagement des Kaisers für die Metropole auch in den langen Zeiten seiner Abwesenheit vor Augen führen. Auf die Inspektionsreisen in die Provinzen des Reiches begleitete ihn nicht nur die für den Schriftverkehr zuständige kaiserliche Kanzlei, der anfänglich noch Sueton vorstand, sondern auch eine Auswahl von Baufachleuten aller Art. Wie der Archäologe Heiner Knell feststellt, stand in kaum einer anderen Zeitspanne der Antike die aufblühende Baukultur unter einem so günstigen Stern wie unter Hadrian; damals entstanden Bauwerke, „die zu Fixpunkten einer Geschichte der römischen Architektur geworden sind“. Ein markantes erhaltenes Monument dieser architektonischen Blütezeit ist das 110 durch Blitzschlag zerstörte und unter Hadrian neu konzipierte Pantheon, das bereits Mitte der 120er Jahre fertiggestellt war und von Hadrian für Empfänge und Gerichtssitzungen öffentlich genutzt wurde. Die Lage des Pantheons auf einer Achse mit dem gut siebenhundert Meter entfernten Eingang des gegenüberliegenden Augustusmausoleums deutet wiederum auf ein Bekenntnis zum Erbe des Augustus, zumal Agrippa das Pantheon wohl ursprünglich als ein Heiligtum für die Familie des Augustus und die ihr verbundenen Schutzgötter konzipiert hatte. Spektakulär ist der Bau mit seinem Innenraum, der von der größten nicht verstärkten Betonkuppel der Welt überwölbt ist. Voraussetzung dafür war eine „Betonrevolution“, die der römischen Bautechnik Gebäudekonstruktionen ermöglichte, wie sie in der Menschheitsgeschichte bis dahin noch nicht vorgekommen waren. Neben den Ziegeln (figlinae) war bzw. wurde Beton (opus caementicium) grundlegendes Baumaterial. Die Führungsklasse einschließlich der Kaiserfamilie investierte in dieses Gewerbe, besonders die Ziegelproduktion. Auf andere Weise beeindruckend neuartig nahm sich für die Römer die Anlage des Doppeltempels für Venus und Roma auf der Velia, einem der ursprünglichen sieben Hügel Roms, aus. Die Verbindung zweier Göttinnen war unüblich und es gab auch kaum Präzedenzfälle für einen so bedeutenden Kult der Roma in ihrer eigenen Stadt. Mit diesem Bau erschien Hadrian als neuer Romulus (Stadtgründer). Während die Cellae des Doppeltempels jeweils dem italischen Tempeltypus entsprachen, folgte die beide Cellae umschließende Säulenringhalle dem griechischen Tempeltypus. Es handelte sich dabei um die bei weitem größte Tempelanlage in Rom. In ihr konnte die kulturübergreifende Ausdehnung des Römischen Reiches ebenso versinnbildlicht werden wie eine daraus gewonnene kulturelle Einheit und Identität. Als Hadrian die Pläne Apollodor zur Prüfung und Stellungnahme zukommen ließ, soll dieser – wiederum nach dem Bericht Cassius Dios – drastisch Kritik geübt und sich neuerlich Hadrians Zorn zugezogen haben. Die Überlieferung, wonach Hadrian erst für die Verbannung und sodann auch noch für den Tod Apollodors im Exil gesorgt habe, gilt in der neueren Forschung jedoch als äußerst unglaubwürdig. Schon bei der Erschließung des Bauplatzes für den Doppeltempel wurde den Römern ein unvergesslicher Anblick geboten: Der unter Nero angefertigte und dort aufgestellte Koloss, eine 35 Meter hohe Bronzestatue von über 200 Tonnen geschätztem Mindestgewicht, die man mit dem Sonnengott Sol verband, wurde auf technisch ungeklärte Weise unter Einsatz von 24 Elefanten angeblich aufrecht stehend umgesetzt. Annähernd auf freiem Feld konnte Hadrian seinen Ambitionen als Bauherr auf dem Landsitz bei Tibur, dessen allein baulich erschlossene Fläche sich heute über etwa 40 Hektar erstreckt, nachgehen. Das Gelände ist zum großen Teil zerstört, doch ist die Hadriansvilla Teil des UNESCO-Weltkulturerbes und nicht zuletzt aufgrund der eklektischen Zusammenstellung unterschiedlichster Baustile (römisch, griechisch, ägyptisch) einzigartig. Die Villa, ein ausgedehnter Palast und Alternativsitz der Regierung, erschien fast wie eine kleine Stadt. In der Planung und den Konstruktionstechniken wurden neuartige Experimente gewagt. Durch ihren Formenreichtum und die Pracht ihres Dekors wurde die Villa in der Folgezeit zu einer der Saatstätten für die Entwicklung von Kunst und Architektur. Die neuen Möglichkeiten im Betonbau kamen auch hier vielfältig zum Einsatz, so zum Beispiel in Kuppeln und Halbkuppeln, in die man bei der Entwicklung neuartiger Formen der Raumausleuchtung variationsreiche Öffnungen schnitt. In Verbindung mit stark wechselnden Raumgrößen und -gestaltungsformen sowie mit einer vielfältigen Innenausschmückung begleitete den Besucher bei einem Rundgang ein stetes Überraschungsmoment, das sich auch im Perspektivwechsel von den Innenräumen zu Ausblicken auf Gärten und Landschaft Geltung verschaffte. So setzte die Villa für die römische Architektur einen neuen Standard. Bereits in den ersten Jahren seines Prinzipats traf Hadrian Vorsorge für den eigenen Tod und die Grablegung, indem er etwa parallel mit dem Baubeginn des Doppeltempels der Venus und Roma die Errichtung des monumentalen Mausoleums auf der dem Marsfeld gegenüberliegenden Uferseite des Tibers betrieb. Dort bildete es aber schließlich vor allem das optische Gegenstück zu dem ebenfalls zylindrischen Hauptteil des Augustusmausoleums, das wenige hundert Meter nordöstlich auf dem anderen Tiberufer lag. Bei einer Gesamthöhe des Monuments von etwa 50 Metern hatte die allein 31 Meter hohe Trommel an der Basis einen Durchmesser von 74 Metern. Die wohl 123 begonnene und im Kern bis heute erhaltene Konstruktion ruhte auf einer Betonplattform von ungefähr zwei Metern Dicke. Die Rekonstruktion der Aufbauten und figuralen Ausstattung oberhalb des Grundbaus ist nicht mehr möglich. Eine Zusammenschau des von Hadrian realisierten Bauprogramms lässt erkennen, dass er auch darin die charakteristischen Kulturmerkmale unterschiedlicher Teile des Römischen Reiches zu einer Synthese zusammenzuführen suchte – sehr deutlich etwa in der anspielungs- und zitatereichen architektonischen Vielfalt der Hadriansvilla bei Tibur. Doch auch Rom und Athen wurden von Hadrian architektonisch aufeinander verwiesen. Der römische Doppeltempel der Venus und Roma hatte in der Außenansicht griechisches Gepräge, während beispielsweise die für Athen gestiftete Hadriansbibliothek hinsichtlich der Säulengestaltung eine typisch römische Architektur transferierte. Antinoos Zu den aufsehenerregenden Besonderheiten von Hadrians Prinzipat und zu den das Bild dieses Kaisers nachhaltig bestimmenden Faktoren zählt seine Beziehung zu dem griechischen Jüngling Antinoos. Der Zeitpunkt ihres Zustandekommens ist nicht überliefert. Cassius Dio und der Verfasser der Historia Augusta beschäftigten sich mit Antinoos erst anlässlich der Umstände seines Todes und der Reaktionen Hadrians darauf. Diese fielen bezüglich der Trauer des Kaisers und der damit einhergehenden Schaffung eines Antinoos-Kults so ungewöhnlich aus, dass die Hadrian-Forschung dadurch zu vielerlei Deutungen angeregt bzw. herausgefordert wurde. Da zwischen den beiden unzweifelhaft eine Erastes-Eromenos-Beziehung bestand, hielt sich Antinoos wahrscheinlich etwa von seinem fünfzehnten Lebensjahr bis zu seinem Tode als rund Zwanzigjähriger in der Nähe des Kaisers auf. Diese Annahme wird von bildlichen Darstellungen des Antinoos gestützt. Er stammte aus dem bithynischen Mantineion bei Claudiopolis. Hadrian dürfte ihm während seines Aufenthalts in Kleinasien 123/124 begegnet sein. Für das zeitgenössische Umfeld war nicht so sehr die homoerotische Neigung Hadrians zu dem Heranwachsenden irritierend – solche Verhältnisse gab es auch bei Trajan –, sondern der Umgang des Kaisers mit dem Tod des Geliebten, der ihn anhaltend tief traurig machte und den er nach Frauenart beweinte – anders als den Tod seiner Schwester Paulina, der auch in diese Zeit fiel. Als auffällige Diskrepanz registriert wurde auch das höchst unterschiedliche Ausmaß der postumen Ehrungen, die Hadrian Antinoos und Paulina gewährte. Dies wurde als unschickliche Vernachlässigung der Schwester wahrgenommen. Anstößig war sowohl das Übermaß der Trauer als auch der Umstand, dass der Verstorbene als bloßer Lustknabe und daher nicht betrauernswert galt. So wenig diese Formen der Trauerarbeit des Herrschers zu römischer Denkart passen mochten, so dubios waren die Umstände, unter denen Antinoos zu Tode kam: Neben dem natürlichen Tod durch Sturz in den Nil und anschließendes Ertrinken, wie von Hadrian wohl selbst dargestellt, kamen alternative Deutungen in Betracht, denen zufolge Antinoos entweder sich für Hadrian opferte oder in unhaltbarer Lage den Freitod suchte. Die Annahme des Opfertods gründet in magischen Vorstellungen, wonach das Leben des Kaisers verlängert werden konnte, wenn ein anderer das seine für ihn opferte. Aus eigenem Antrieb könnte Antinoos den Tod gesucht haben, weil er als nun Erwachsener die bisherige Beziehung zu Hadrian nicht fortsetzen konnte, da er die spezifische Attraktivität eines Heranwachsenden verloren hatte und eine Beziehung zwischen zwei erwachsenen Männern – anders als zwischen einem Mann und einem Jugendlichen – in der römischen Gesellschaft als inakzeptabel galt. Ort und Zeitpunkt von Antinoos’ Tod im Nil kamen Hadrians Bestrebungen um Vergöttlichung und kultische Verehrung des toten Geliebten entgegen. In Ägypten bot sich die Angleichung des Antinoos an den Gott Osiris an. Dazu trug der Umstand bei, dass sich sein Tod etwa um den Jahrestag von Osiris’ Ertrinken ereignete. Nach einer ägyptischen Überlieferung, die Antinoos gekannt haben dürfte, erlangten im Nil Ertrunkene göttliche Ehren. Der Gedanke, mit dem eigenen Leben das eines anderen zu retten, war Griechen und Römern vertraut. Nahe der Stelle, wo Antinoos ertrunken war, gründete Hadrian am 30. Oktober 130 die Stadt Antinoupolis, die um den Begräbnisort und Grabtempel des Antinoos herum emporwuchs, und zwar getreu dem Muster von Naukratis, der ältesten griechischen Siedlung in Ägypten. Möglicherweise hatte er für den aktuellen Aufenthalt am Nil ohnehin eine Stadtgründung für griechische Siedler vorgesehen. Das lag auf der Linie seiner Hellenisierungspolitik in den östlichen Provinzen des Reiches. Zudem mochte ein weiterer Hafen auf dem rechten Nilufer wirtschaftliche Impulse mit sich bringen. Antinoupolis reihte sich unter eine Vielzahl von Stadtneugründungen ein, die Hadrian auch teilweise mit dem eigenen Namen ausstattete. Seit Augustus hatte kein Kaiser Städtegründungen in so großer Zahl und über derart viele Provinzen verteilt vorgenommen. Die postume Vergöttlichung ihrer Geliebten hatten bereits einzelne hellenistische Herrscher betrieben. Die Vorlage dafür hatte Alexander der Große gegeben, als er seinen Geliebten Hephaistion nach dessen Tod mit Ehrungen einschließlich eines Heroenkults überhäufte, womit er ebenfalls auf Kritik stieß. Neu an dem von Hadrian für Antinoos errichteten Kult war aber das flächendeckende Ausmaß sowie die Einbeziehung des Katasterismos; Hadrian gab an, den Stern des Antinoos gesehen zu haben. Über die konkrete Ausgestaltung des Antinoos-Kults könnte beraten worden sein, nachdem die kaiserliche Gesellschaft für einen mehrmonatigen Aufenthalt nach Alexandria zurückgekehrt war. Reden und Gedichte zur Tröstung Hadrians mochten dabei mancherlei Anregungen für die spätere Antinoos-Ikonografie geboten haben. Der Antinoos-Kult fand in verschiedenen Spielarten enorme Verbreitung. Der als Statue vielerorts präsente Jüngling wurde demonstrativ eng mit dem Kaiserhaus assoziiert, wie ein Stirnreif unterstreicht, auf dem Nerva und Hadrian erscheinen. Dabei überwog die Verehrung als Heros die göttlichen Ehren im engeren Sinn; meist erscheint Antinoos als Hermes-Äquivalent, als Osiris-Dionysos oder als Schutzherr von Saaten. Etwa 100 Marmorbildnisse des Antinoos hat die Archäologie zutage gefördert. Nur von Augustus und Hadrian selbst sind aus der klassischen Antike noch mehr solcher Bildnisse überliefert. Frühere Annahmen, dass der Antinoos-Kult nur im griechischen Ostteil des Römischen Reiches verbreitet war, wurden unterdessen widerlegt: Aus Italien sind mehr Antinoos-Statuen bekannt als aus Griechenland und Kleinasien. Nicht nur dem Kaiserhaus nahestehende, gesellschaftlich führende Kreise förderten den Antinoos-Kult; er hatte auch unter den Massen eine Anhängerschaft, die mit ihm auch die Hoffnung auf ein ewiges Leben verband. Lampen, Bronzegefäße und andere Gegenstände des täglichen Lebens zeugen von der Aufnahme des Antinoos-Kults in der breiten Bevölkerung und ihren Auswirkungen auf die Alltagsikonografie. Auch mit festlichen Spielen, den Antinóeia, wurde die Antinoos-Verehrung gefördert, nicht nur in Antinoupolis, sondern etwa auch in Athen, wo solche Spiele noch im frühen 3. Jahrhundert abgehalten wurden. Unklar ist, ob die Entwicklung des Kults von Anfang an so geplant war. Jedenfalls ermöglichte die Antinoos-Verehrung der griechischen Bevölkerung des Reiches, ihre eigene Identität zu feiern und zugleich ihre Loyalität zu Rom auszudrücken, was den Zusammenhalt des Reiches stärkte. Jüdischer Aufstand Hadrian hielt während der gesamten Dauer seiner Herrschaft an seinem Befriedungs- und Stabilisierungskurs im Hinblick auf Außengrenzen und Nachbarn des Römischen Reiches fest. Dennoch kam es schließlich zu schwerwiegenden militärischen Auseinandersetzungen, die sich im Inneren des Reichs abspielten, in der Provinz Judäa. Dort brach 132 der Bar-Kochba-Aufstand aus, dessen Niederschlagung bis 136 dauerte. Nach dem Jüdischen Krieg 66–70 und dem Diasporaaufstand 116/117, mit dessen Ausläufern Hadrian bei seinem Amtsantritt noch zu tun hatte, war dies der dritte und letzte Feldzug römischer Kaiser gegen jüdisches Autonomiestreben und den damit verbundenen bewaffneten Selbstbehauptungswillen. Hadrian folgte in dieser Frage der von seinen Vorgängern eingeschlagenen Linie, die auf Unterordnung der Juden und Christen unter die römischen Gesetze und Normen zielte. Anstelle der traditionellen Abgabe für den Jerusalemer Tempel, den die Römer 71 im Jüdischen Krieg zerstört hatten, war den Juden danach eine entsprechende Abgabe für den Tempel des Jupiter Capitolinus auferlegt worden, ein fortdauernder Stein des Anstoßes für alle, die sich der Anpassung verweigerten. Gegenstand einer Forschungskontroverse ist die Frage, ob Hadrian zum Ausbruch des Aufstands beigetragen hat, indem er ein Beschneidungsverbot erließ, eine den Juden früher erteilte Erlaubnis, den zerstörten Jerusalemer Tempel wieder aufzubauen, rückgängig machte und beschloss, Jerusalem als römische Kolonie mit dem Namen Aelia Capitolina (was den Stadt- an seinen Familiennamen band) neu zu erbauen. Diese drei Gründe für den Ausbruch des Krieges werden in römischen und jüdischen Quellen genannt bzw. sind aus ihnen erschlossen worden. Nach dem aktuellen Forschungsstand ergibt sich aber ein anderes Bild: Die These vom zunächst erlaubten, dann verbotenen Tempelbau gilt heute als widerlegt, das Beschneidungsverbot wurde wahrscheinlich erst nach dem Ausbruch des Aufstands verhängt und die Gründung von Aelia Capitolina war – falls sie tatsächlich schon vor Kriegsausbruch erfolgte – nur einer der Umstände, die den Aufständischen inakzeptabel erschienen. Zu größeren Konflikten zwischen Juden und Römern scheint es vorher nicht gekommen zu sein, denn die Römer wurden vom Aufstand überrascht. Dieser war keine Unternehmung des gesamten jüdischen Volkes, sondern es gab unter den Juden eine römerfreundliche und eine römerfeindliche Richtung. Die Römerfreunde waren mit der Eingliederung des jüdischen Volkes in die römische und griechische Kultur einverstanden, während sich die Gegenseite aus religiösem Grund der von Hadrian gewünschten Assimilation radikal widersetzte. Anfänglich wurde die Rebellion nur von einer möglicherweise relativ kleinen römerfeindlichen, streng religiös gesinnten Gruppe in Gang gesetzt, später weitete sie sich stark aus. Nach dem Bericht Cassius Dios war die Erhebung von langer Hand vorbereitet worden, indem Waffen gesammelt und Waffenlager sowie geheime Rückzugsorte räumlich verteilt angelegt worden waren. Als der Aufstand 132 losbrach, erwiesen sich die beiden vor Ort stationierten römischen Legionen binnen kurzem als unterlegen, sodass Hadrian Heeresteile und militärisches Führungspersonal aus anderen Provinzen nach Judäa beorderte, darunter den als besonders fähig angesehenen Kommandeur Sextus Iulius Severus, der aus Britannien am Schauplatz eintraf. Unklar ist, ob Hadrian bis 134 selbst an der expeditio Iudaica teilnahm; einige Indizien sprechen dafür. Zweifellos war die enorme Truppenmobilisierung für die Kämpfe in Judäa eine Reaktion auf hohe römische Verluste. Als Hinweis darauf wird auch der Umstand gedeutet, dass Hadrian in einer Botschaft an den Senat auf die übliche Bekundung verzichtete, dass er selbst und die Legionen wohlauf seien. Der Vergeltungsfeldzug der Römer, als sie schließlich wieder die Oberhand in Judäa gewannen, war gnadenlos. Bei den Kämpfen, in denen nahezu hundert Dörfer und Bergfesten einzeln genommen werden mussten, fanden über 500.000 Juden den Tod, das Land blieb menschenleer und zerstört zurück. Aus Iudaea wurde die Provinz Syria Palaestina. Hadrian bewertete den schließlichen Sieg so hoch, dass er im Dezember 135 die zweite imperatorische Akklamation entgegennahm; doch verzichtete er auf einen Triumph. Die Tora und der jüdische Kalender wurden verboten, man ließ jüdische Gelehrte hinrichten und Schriftrollen, die den Juden heilig waren, auf dem Tempelberg verbrennen. Am früheren Tempelheiligtum wurden Statuen Jupiters und des Kaisers errichtet. Aelia Capitolina durften die Juden zunächst nicht betreten. Später erhielten sie die Zutrittserlaubnis einmal jährlich am 9. Av, um Niederlage, Tempelzerstörung und Vertreibung zu betrauern. Tod und Nachfolge Anfang des Jahres 136 erkrankte Hadrian als nun Sechzigjähriger so schwer, dass er den gewohnten Alltag aufgeben musste und fortan weitgehend ans Bett gefesselt blieb. Als Ursache kommt eine bluthochdruckbedingte Arterienverkalkung der Herzkranzgefäße in Betracht, die schließlich den Tod durch Nekrose in den mangeldurchbluteten Gliedmaßen und durch Ersticken herbeigeführt haben könnte. Damit stellte sich dringlich das Problem der Nachfolgeregelung. In der zweiten Jahreshälfte 136 präsentierte Hadrian der Öffentlichkeit Lucius Ceionius Commodus, der zwar amtierender Konsul, aber doch ein Überraschungskandidat war. Er war der Schwiegersohn des Avidius Nigrinus, eines der nach Hadrians Herrschaftsantritt hingerichteten vier Kommandeure Trajans. Ceionius hatte einen fünfjährigen Sohn, der in die voraussichtliche Thronfolge einbezogen war. Hadrians Motive für diese Wahl sind ebenso ungeklärt wie die von ihm dabei für seinen mutmaßlichen Neffen Mark Aurel vorgesehene Rolle. Mark Aurel wurde auf Betreiben des Kaisers 136 mit einer Tochter des Ceionius verlobt und während des Latinerfestes als Fünfzehnjähriger mit dem Amt des temporären Stadtpräfekten (praefectus urbi feriarum Latinarum causa) betraut. Die Adoption des Ceionius, der mit dem Caesar-Titel nun offiziell Herrschaftsanwärter war, wurde durch Spiele und Geldzuwendungen an Volk und Soldaten in aller Form öffentlich begangen. Danach begab sich der von Hadrian mit der tribunizischen Gewalt und dem imperium proconsulare für Ober- und Niederpannonien ausgestattete, militärisch noch wenig versierte präsumptive Nachfolger zu den an der latent unruhigen Donaugrenze stationierten Heeresteilen. Dort mochte er aus Hadrians Sicht wohl besonders lohnende militärische Erfahrungen sammeln und wichtige Kontakte in die Führungsebene herstellen. Gesundheitlich war der vermutlich bereits länger an Tuberkulose Leidende in dem rauen pannonischen Klima allerdings nicht gut aufgehoben. Nach Rom zurückgekehrt, verstarb Ceionius nach starkem, anhaltendem Blutverlust bereits am 1. Januar 138. Diese erste, nun gescheiterte Nachfolgeregelung fand in Rom wohl wenig Verständnis. Erbitterung erzeugte die damit einhergehende Beseitigung von Hadrians Schwager Servianus und dessen Neffen Fuscus, die eigener Herrschaftsambitionen verdächtigt wurden. Hadrian sah sich angesichts seiner Hinfälligkeit zu einer zügigen Neuregelung seiner Nachfolge gezwungen. Am 24. Januar 138, seinem 62. Geburtstag, gab er vom Krankenbett aus prominenten Senatoren seine Absichten bekannt, die am 25. Februar in den offiziellen Adoptionsakt mündeten: Neuer Caesar wurde der Hadrians Beraterstab bereits länger angehörige Antoninus Pius, Konsul bereits 120, auch er im militärischen Bereich weit weniger erfahren als in Verwaltungsangelegenheiten, doch als 134/35 bewährter Prokonsul der Provinz Asia ein auch in Senatskreisen angesehener Mann. Die Adoption des Antoninus verband Hadrian mit der Bedingung, dass der neue Caesar in einem Gesamtvorgang seinerseits die Doppeladoption Mark Aurels und des Ceionius-Sprösslings Lucius Verus vollzog, was noch am selben Tag geschah. Ob damit Mark Aurel, der neun Jahre ältere der beiden Adoptivbrüder, bereits von Hadrian zum künftigen Nachfolger des Antoninus bestimmt wurde, ist in der Forschung umstritten. Antoninus selbst legte diese Abfolge jedenfalls fest, indem er nach Hadrians Tod Mark Aurel die Verlobung mit der Ceionius-Tochter lösen ließ und ihm die eigene Tochter zur Frau gab. Die eigene körperliche Verfassung wurde Hadrian zunehmend unerträglich, sodass er das Ende immer dringlicher herbeiwünschte. Mit durch Wassereinlagerung aufgedunsenem Körper und von Atemnot gepeinigt, suchte er nach Möglichkeiten, die Qualen zu beenden. Er bat einzelne in seinem Umfeld mehrfach, ihm Gift zu verschaffen oder einen Dolch, wies einen Sklaven an, ihm an vorbezeichneter Stelle das Schwert in den Leib zu stoßen, und reagierte zornig auf die allseitige Weigerung, seinen Tod vorzeitig herbeizuführen. Antoninus ließ dies jedoch nicht zu, weil er, der Adoptivsohn, anderenfalls als Vatermörder anzusehen gewesen wäre. Es lag aber auch im Legitimationsinteresse seiner eigenen bevorstehenden Herrschaft, dass Hadrian nicht durch Suizid endete, womit er sich unter die „schlechten Kaiser“ wie Otho und Nero eingereiht, die Vergöttlichung verwirkt und damit Antoninus den Status des divi filius („Sohn des Vergöttlichten“) vorenthalten hätte. In die von Krankheit und Todeserwartung geprägte letzte Phase von Hadrians Leben gehört sein als authentisch geltendes animula-Gedicht: Nach seinem letzten Aufenthalt in Rom ließ sich Hadrian nicht in seine Villa nach Tibur, sondern auf einen Landsitz in Baiae am Golf von Neapel bringen, wo er am 10. Juli 138 verschied. Nach der Darstellung der Historia Augusta ließ Antoninus die Asche seines Vorgängers nicht sogleich von Baiae nach Rom überführen, sondern wegen Hadrians Verhasstheit bei Volk und Senat vorläufig unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf Ciceros einstigem Landsitz in Puteoli beisetzen. Dies gilt aber in der Forschung als unwahrscheinlich. Auch ein langwieriges Ringen von Antoninus Pius um die Vergöttlichung Hadrians mit einem sich weigernden Senat wirkt kaum glaubhaft; zwar hatte der Verstorbene erbitterte Feinde, doch empfahl es sich für Antoninus, das Programm des Machtwechsels zügig abzuwickeln, und er verfügte über alle dafür erforderlichen Mittel. Quellenlage Die einzige erzählende Quelle, die der Überlieferung zufolge zu Hadrians Lebzeiten verfasst wurde, war seine Autobiographie, von der aber nur ein an Antoninus Pius gerichteter Brief als Auftakt erhalten ist, in dem Hadrian sein nahes Ende anspricht und dem Nachfolger für dessen Fürsorge dankt. Die anderen überlieferten Originalzeugnisse Hadrians – fragmentarisch auf Stein oder Papyrus erhaltene Reden, Briefe und Reskripte sowie lateinische und griechische Gedichte – stellen jedoch eine beachtliche Materialsammlung dar. Aufschlüsse liefern ferner die aus Hadrians Prinzipat erhaltenen Münzen. Im 3. Jahrhundert verfasste Marius Maximus eine Sammlung von Kaiserbiographien im Anschluss an diejenige Suetons, der mit Domitian geendet hatte; sie enthielt auch eine Lebensbeschreibung Hadrians. Dieses Werk ist nicht erhalten und nur bruchstückhaft erschließbar. In mehreren spätantiken Breviarien (so in den Caesares Aurelius Victors) finden sich nur knappe Informationen über Hadrian. Die beiden Hauptquellen sind die Historia Augusta und die Römische Geschichte von Cassius Dio. Das letztgenannte Werk ist aus dem 3. Jahrhundert und ist in dem Hadrian betreffenden 69. Buch nur in Fragmenten und Exzerpten aus byzantinischer Zeit überliefert. Allerdings wird sie als weitgehend zuverlässige Quelle eingestuft. Die (Vita Hadriani) in der Historia Augusta (HA), die wahrscheinlich erst Ende des 4. Jahrhunderts entstanden ist, gilt als höchst umstrittene, aber dafür umfangreichste Quelle. Hier sind Informationen aus heute verlorenen Quellen wie dem Werk des Marius Maximus eingeflossen, doch hat der unbekannte spätantike Verfasser Material eingebracht, für das Herkunft aus glaubwürdigen Quellen nicht anzunehmen ist, sondern das vornehmlich dem Gestaltungswillen des Geschichtsschreibers zuzurechnen ist. Theodor Mommsen sah in der HA „eine der elendesten Sudeleien“ unter dem antiken Schrifttum. Der aus diesem Eindruck abgeleiteten Forderung Mommsens nach akribischer Prüfung und Kommentierung jeder einzelnen Aussage durch umfassenden Vergleich sowohl innerhalb der HA-Viten als auch mit dem verfügbaren Quellenmaterial außerhalb der HA ist Jörg Fündling in seinem zweibändigen Kommentar zur vita Hadriani der HA nachgekommen. In der Biographie Hadrians, die in der Forschung zu den relativ zuverlässigsten HA-Viten gezählt wird, hat Fündling mindestens ein Viertel des Gesamtumfangs als unzuverlässig ausgewiesen, darunter 18,6 Prozent als mit hoher Sicherheit fiktiv und weitere 11,2 Prozent, deren Quellenwert als sehr zweifelhaft anzusehen ist. Mit diesem Ergebnis tritt Fündling einer neueren Tendenz entgegen, die Vielzahl der in der HA-Forschung kontrovers vertretenen Positionen mit dem „Überspringen sämtlicher Quellenprobleme“ zu beantworten, „als wären diese irrelevant für den Inhalt, weil sowieso unlösbar“. Aussehen und Porträt Von Hadrian sind über 250 Porträtskulpturen überliefert, die alle nach seiner Thronbesteigung datiert werden. Auch sind Münzen mit seinem Porträt sehr häufig. Diesen Darstellungen zufolge war Hadrian der erste römische Kaiser, der sich mit einem (kurzen) Vollbart darstellen ließ. Allerdings gibt es weder Skulpturen noch Münzporträts von ihm aus der Zeit, bevor er 117 n. Chr. Kaiser wurde. Solche 'jugendlichen' Porträts muss es gegeben haben, denn wir kennen leere Statuenpodeste mit seinem Namen aus dieser Zeit. Bisher wurden in der Klassischen Archäologie acht kaiserliche Porträttypen für Hadrian definiert. Die ersten sieben zeigen Hadrian mit kurzem Vollbart und einer welligen „gradus“-Frisur des Haupthaares. Sie unterscheiden sich voneinander nur gering durch unterschiedliche Lockenrollenmuster auf der Stirn. Der davon deutlich abweichende achte Porträttyp „Delta Omikron“ wurde zuerst auf seltenen römischen Goldmünzen (Aurei) beobachtet, später auch in der Porträtplastik. Dieser ‘jugendliche’ Typus hat eine „anulus“-Frisur mit gedrehten Locken des Haupthaars, einen breiten gelockten Backenbart, einen nur angedeuteten Schnurrbart und ein freies Kinn. Hadrian scheint hier im jugendlichen Alter von etwa 20 Jahren dargestellt zu sein. Diese Aurei wurden allerdings erst geprägt, als Hadrian bereits über 50 war. Eine Analyse der Porträts auf Hadrians ersten Münzen der Jahre 117–118 n. Chr. zeigt zwei weitere frühe Porträttypen als Kaiser, die vom Alter Hadrians zwischen den oben genannten sieben Porträttypen und dem 'jugendlichen' Delta Omikron einzuordnen sind. Man findet zunächst den ‚jugendlichen‘ Delta-Omikron-Porträttyp, der in Rom erst deutlich später wieder auftaucht, in Alexandria auf den ersten Münzemissionen als Augustus. Dann folgen in den Münzstätten von Antiochia, Alexandria und Rom ein erster imperialer Porträttyp mit noch gedrehten ‘anulus’-Haaren, ähnlich zu Delta Omikron, aber mit deutlichem Schnurrbart, der mit den breiten Koteletten verschmilzt. Das Kinn bleibt frei. Dem folgt ein zweiter imperialer Porträttyp auch noch mit gedrehtem ‘anulus’-Haar, aber bereits dem späteren kurzen Vollbart, der jetzt auch das Kinn bedeckt. Danach zeigt Hadrian, bis auf die römischen Sonderemissionen mit Delta Omikron Jahrzehnte später, auf seinen Münzen immer welliges ‘gradus’-Haar und kurzen Vollbart. Dieser endgültige Portättyp ist wohl erst nach Hadrians Rückkehr als Kaiser nach Rom aus dem Osten Mitte 118 n. Chr. entstanden. Hadrian dürfte also als junger Mann zunächst eine modische Frisur mit Bart getragen haben. Diese Frisur des Delta Omikron scheint bereits seit Kaiser Nero und flavischer Zeit unter jungen Männern in Rom populär gewesen zu sein. Rezeption Antike Hadrians Vielseitigkeit und sein teils widersprüchliches Erscheinungsbild bestimmen auch das Spektrum der über ihn gefällten Urteile. Im zeitgenössischen Umfeld ist auffällig, dass sich Mark Aurel weder im ersten Buch seiner Selbstbetrachtungen, in dem er seinen wichtigen Lehrern und Förderern umfänglich dankt, noch an anderer Stelle in dieser Gedankensammlung näher mit Hadrian befasst, dem er doch durch das vorgegebene Adoptionsarrangement den eigenen Aufstieg zur Herrschaft verdankte. Cassius Dio bescheinigt Hadrian eine insgesamt menschenfreundliche Herrschaftsausübung und ein umgängliches Naturell, aber auch einen unstillbaren Ehrgeiz, der sich auf die verschiedensten Bereiche erstreckte. Unter seinen Eifersüchteleien hätten viele Fachspezialisten diverser Richtungen zu leiden gehabt. Den Architekten Apollodoros, der seinen Zorn erregt habe, habe er erst in die Verbannung geschickt und später umbringen lassen. Als charakteristische Eigenschaften Hadrians nennt Cassius Dio u. a. Übergenauigkeit und zudringliche Neugier einerseits, Umsicht, Großzügigkeit und vielfältige Geschicklichkeit andererseits. Wegen der Hinrichtungen zu Beginn und am Ende seiner Regierungszeit habe ihn das Volk nach seinem Tode gehasst, trotz seiner beachtlichen Leistungen in den Zeiten dazwischen. Die antiken Christen beurteilten Hadrian vor allem in zweierlei Hinsicht negativ: wegen seiner suizidalen Absichten und Tatvorbereitungen sowie wegen seiner homoerotischen Neigungen, die im Verhältnis zu Antinoos und im Antinoos-Kult unübersehbar hervortraten. Die göttliche Verehrung des als Lustknabe eingestuften Geliebten Hadrians war für die Christen so provokant, dass Antinoos bis ins späte 4. Jahrhundert zu den Hauptzielen christlicher Angriffe auf das „Heidentum“ zählte. An der Beziehung Hadrians zu Antinoos nahmen insbesondere Tertullian, Origenes, Athanasius und Prudentius Anstoß. Jörg Fündling meint, die vielseitigen Interessen und teils widersprüchlichen Züge Hadrians erschwerten eine Urteilsbildung über die Persönlichkeit – sowohl für den Autor der Historia Augusta als auch für die Nachwelt. Die angetroffene „Fülle intellektueller Ansprüche und brennenden Ehrgeizes“ wirke einschüchternd, die Beschäftigung mit Fehlern und Absonderlichkeiten Hadrians für den Betrachter hingegen entlastend, weil auf ein menschliches Maß zurückführend. Letztlich sei die Darstellung des Verfassers der Historia Augusta Ausdruck seiner Dankbarkeit für die Reize exzentrischer Persönlichkeiten. Doch blieb Hadrian auch nach seinem Tod noch vielen verhasst; das überwiegend positive Bild des Kaisers, das bis heute seine Wahrnehmung prägt, scheint erst später entstanden zu sein. Forschungsgeschichte Einen Überblick über die Forschungsgeschichte seit dem Erscheinen der ersten großen Hadrian-Monographie von Ferdinand Gregorovius 1851 gibt Susanne Mortensen. Als wirkungsgeschichtlich ehedem besonders wichtig hebt sie Ernst Kornemann mit seinem negativen Urteil zu Hadrians Außenpolitik sowie Wilhelm Weber hervor. Weber sei in einer umfassenden Auseinandersetzung mit Hadrians Wirken zu einem insgesamt ausgewogeneren Urteil gelangt, dann aber unter dem Einfluss der nationalsozialistischen „Blut- und Rassenlehre“ auch zu „Überzeichnungen und Fehldeutungen“. Weber sah in Hadrian einen typischen „Spanier“ „mit seiner Verachtung des Körpers, seiner Pflege des herrischen Geistes, seinem Willen zu strengster Zucht und seinem Drang, der Macht des Übersinnlichen in der Welt sich hinzugeben, mit ihr sich zu vereinigen, mit seiner Organisationskraft, die sich nie ausgibt, immer Neues ersinnt und mit immer neuen Mitteln das Erdachte zu verwirklichen strebt“. 1923 legte Bernard W. Henderson mit The Life and principate of the emperor Hadrian A. D. 76–138 für Jahrzehnte die letzte umfangreiche Hadrianmonografie vor. Für die Hadrian-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg konstatiert Mortensen, es sei zu einer verstärkten Spezialisierung auf lokal oder thematisch eng begrenzte Fragestellungen gekommen. Kennzeichnend sei eine äußerst nüchterne Darstellungsweise mit weitgehendem Verzicht auf Werturteile. Neuerdings seien aber waghalsige Hypothesen und psychologisierende Konstrukte vorgetragen worden; sie erstreckten sich vor allem auf Themen, die bei lückenhafter oder widersprüchlicher Quellenlage eine Rekonstruktion historischer Wirklichkeit unmöglich machten. Für die seriöse Forschung resümiert Mortensen mit Blick vornehmlich auf die Bereiche Außenpolitik, Militärwesen, Förderung des Hellenentums und Reisetätigkeit, infolge des neu gewählten breiteren Blickwinkels entstehe der Eindruck, Hadrian sei für die Probleme seiner Zeit sensibel gewesen und habe angemessen auf Missstände und Notwendigkeiten reagiert. Anthony R. Birley legte 1997 mit Hadrian. The restless emperor die seither maßgebliche Darstellung der Ergebnisse der Hadrianforschung vor. Deutlich wird Hadrians Bewunderung für den ersten Princeps Augustus und sein Bestreben, sich als zweiter Augustus zu präsentieren. Seine rastlosen Reisen machten Hadrian zum „sichtbarsten“ Kaiser, den das Römische Reich jemals hatte. Robin Lane Fox hat 2005 seine Darstellung der klassischen Antike, die mit der Zeit Homers einsetzt, mit Hadrian abgeschlossen, weil dieser Herrscher selbst viele Vorlieben klassischer Prägung habe erkennen lassen, sich aber auch als einziger Kaiser auf seinen Reisen ein Gesamtbild der griechisch-römischen Welt aus erster Hand verschafft habe. Lane Fox sieht Hadrian bei seiner panhellenischen Mission ambitionierter noch als ehedem Perikles und findet ihn aus Quellenzeugnissen am deutlichsten fassbar in der Kommunikation mit den Provinzen, aus denen er vielfältige Eingaben ständig zu beantworten hatte. Fast alle Darstellungen sehen Hadrians Prinzipat wegen des außenpolitischen Kurswechsels als Zäsur oder Epochenwende an. Karl Christ hebt hervor, Hadrian habe den militärischen Schutzschild des etwa 60 Millionen Einwohner umfassenden Imperiums geordnet und gestrafft und die Verteidigungsbereitschaft des 30 Legionen und rund 350 Hilfstruppenteile zählenden Heeres systematisch gesteigert. Er bescheinigt Hadrian eine fortschrittliche Gesamtkonzeption. Der Kaiser habe die tiefe Zäsur bewusst herbeigeführt. Dabei habe er keineswegs nur impulsiv auf das Zusammentreffen nicht kalkulierter Katastrophen reagiert, sondern sich für eine kohärente, neue, langfristig angelegte Politik entschieden, die tatsächlich die Entwicklung des Reichs auf Jahrzehnte festgelegt habe. 2008 brachte die Großausstellung Hadrian: Empire and conflict in London den bisherigen Höhepunkt der Hadrianforschung. Belletristik Eine bekannte belletristische Darstellung Hadrians bietet der erstmals 1951 veröffentlichte Roman von Marguerite Yourcenar Ich zähmte die Wölfin. Die Erinnerungen des Kaisers Hadrian. Yourcenar legte darin nach langjähriger Auseinandersetzung mit den Quellen eine fiktive Autobiographie Hadrians in Ichform als Roman vor. Dieses Buch hat die Wahrnehmung Hadrians in einer breiteren Öffentlichkeit stark geprägt und wurde zu einem wesentlichen Bestandteil von Hadrians moderner Rezeptionsgeschichte. Literatur Einführungen und Allgemeines Anthony R. Birley: Hadrian. The restless emperor. Routledge, London u. a. 1997, ISBN 0-415-16544-X (maßgebliche Biographie). Anthony R. Birley: Hadrian. Der rastlose Kaiser. Zabern, Mainz 2006, ISBN 3-8053-3656-X (basierend auf der englischsprachigen Ausgabe, allerdings stark gekürzt und teils umgearbeitet. Rezension sehepunkte). Anthony R. Birley: Hadrian to the Antonines. In: Alan K. Bowman, Peter Garnsey, Dominic Rathbone (Hrsg.): The Cambridge Ancient History. 2. Auflage. Bd. 11, Cambridge 2000, S. 132–194, speziell S. 132–149. Karl Christ: Geschichte der römischen Kaiserzeit. Von Augustus bis Diokletian. C. H. Beck, München 1995 (und neuere Auflagen), S. 314–332 (Standardwerk zur römischen Kaiserzeit, inzwischen aber teils überholt) Anthony Everitt: Hadrian and the Triumph of Rome. Random House, New York 2009, ISBN 978-1-4000-6662-9. Jörg Fündling: Kommentar zur Vita Hadriani der Historia Augusta (= Antiquitas. Reihe 4: Beiträge zur Historia-Augusta-Forschung, Serie 3: Kommentare, Bände 4.1 und 4.2). Habelt, Bonn 2006, ISBN 3-7749-3390-1 (umfassende Analyse der Vita Hadriani nebst Auswertung der Forschungsergebnisse zu Hadrian; Rezension sehepunkte). Alessandro Galimberti: Adriano e l’ideologia del principato (= Centro Ricerche e Documentazione sull’Antichità Classica. Band 28). L’Erma di Bretschneider, Rom 2007, ISBN 978-88-8265-436-8. Susanne Mortensen: Hadrian. Eine Deutungsgeschichte. Habelt, Bonn 2004, ISBN 3-7749-3229-8 (Überblick über die Hadrian-Forschung seit Mitte des 19. Jahrhunderts). Thorsten Opper: Hadrian: Machtmensch und Mäzen. Darmstadt 2009, ISBN 978-3-8062-2291-3 (englische Originalausgabe: Hadrian: Empire and conflict, London 2008). Christian Seebacher: Zwischen Augustus und Antinoos. Tradition und Innovation im Prinzipat Hadrians. Steiner, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-515-12586-4. Michael Zahrnt: Hadrian. In: Manfred Clauss (Hrsg.): Die römischen Kaiser. 55 historische Portraits von Caesar bis Iustinian. 4., aktualisierte Auflage. C. H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60911-4, S. 124–136. Religionspolitik, Bar-Kochba-Aufstand Peter Kuhlmann: Religion und Erinnerung. Die Religionspolitik Kaiser Hadrians und ihre Rezeption in der antiken Literatur (= Formen der Erinnerung. Band 12). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3-525-35571-8 (Digitalisat). Marco Rizzi (Hrsg.): Hadrian and the Christians. De Gruyter, Berlin 2010, ISBN 978-3-11-022470-2 (Rezension sehepunkte; Rezension H-Soz-u-Kult). Peter Schäfer: Der Bar-Kokhba-Aufstand. Studien zum zweiten jüdischen Krieg gegen Rom (= Texts and studies in ancient Judaism. Band 1). Mohr, Tübingen 1981, ISBN 3-16-144122-2. Christopher Weikert: Von Jerusalem zu Aelia Capitolina. Die römische Politik gegenüber den Juden von Vespasian bis Hadrian (= Hypomnemata. Band 200). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016, ISBN 978-3-525-20869-4. Architektur Mary Taliaferro Boatwright: Hadrian and the City of Rome. Princeton University Press, Princeton 1987, ISBN 0-691-03588-1. Heiner Knell: Des Kaisers neue Bauten. Hadrians Architektur in Rom, Athen und Tivoli. Zabern, Mainz 2008, ISBN 978-3-8053-3772-4 (Rezension H-Soz-u-Kult). Dietrich Willers: Hadrians panhellenisches Programm. Archäologische Beiträge zur Neugestaltung Athens durch Hadrian. Vereinigung der Freunde antiker Kunst, Basel 1990, ISBN 3-909064-16-7. Portraits Max Wegner: Hadrian, Plotina, Marciana, Matidia, Sabina (= Das römische Herrscherbild Abteilung 2. Band 3). Gebr. Mann, Berlin 1956 (Digitalisat). Max Wegner, R. Unger: Verzeichnis der Bildnisse von Hadrian und Sabina. In: Boreas 7, 1984, S. 105–156. Cécile Evers: Les portraits d'Hadrien. Typologie et ateliers. Académie Royale de Belgique, Brüssel 1994, ISBN 2-8031-0118-1. Münzprägung Harold Mattingly, Edward Allen Sydenham: Vespasian to Hadrian (AD 96–138) (= The Roman Imperial Coinage Band 2). London 1926. Weblinks Biografie aus der Historia Augusta (englisch) bei LacusCurtius Herwig Katzer: 10.07.138 - Todestag des römischen Kaisers Hadrian WDR ZeitZeichen vom 10. Juli 2013. (Podcast) Anmerkungen Kaiser (Rom) Herrscher (2. Jahrhundert) Konsul (Römische Kaiserzeit) Statthalter (Pannonia inferior) Militärperson (Römische Kaiserzeit) Legatus (Legio I Minervia) Militärtribun (Legio II Adiutrix) Militärtribun (Legio V Macedonica) Militärtribun (Legio XXII Primigenia) Philhellenismus Pontifex Augur Geboren 76 Gestorben 138 Mann
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Herat
Herat (, in der Antike Haraiva[ta]) ist eine Stadt im westlichen Afghanistan im Tal des Hari Rud. Sie ist die Hauptstadt der Provinz Herat und die zweitgrößte Stadt des Landes nach Kabul. Der Großteil der 632.206 Einwohner sind Tadschiken (Eigenbezeichnung Farsi). Geographie Klima Die Temperaturen schwanken im Winter zwischen 5 und 10 °C und liegen im Sommer um 30 °C. Geschichte Der iranische Stamm Aria, altpersisch Haraiva[ta], altgriechisch Artakoana, siedelte um 800 v. Chr. in der Oase Hera. Artakoana war die Hauptstadt der Region Aria und der gleichnamigen persischen Satrapie. Alexander der Große eroberte die Stadt 330 v. Chr. und baute sie unter dem Namen Alexandria in Aria zu einem militärischen Stützpunkt aus. In dieser Zeit entstand die berühmte Zitadelle der Stadt. Die Region um Herat wurde nach dem Fall der Seleukiden von den einheimischen Parthern erobert – von hier aus begann die Gründung des mächtigen Parther-Imperiums. Mit dem Fall der persischen Sassaniden wurde Herat Teil des muslimischen Kalifats. Die Samaniden erhoben Herat später zu einer Residenzstadt und entwickelten sie zu einem Zentrum der persischen Kunst, Kultur und Literatur. Um 1000 n. Chr. eroberten die türkischen Ghaznawiden die Stadt und circa 1040 die Seldschuken. Ab 1150 herrschten hier die einheimischen Ghuriden, bevor die Stadt 1215 an die Choresm-Schahs fiel. In Firu-zkuh bei Herat gibt es 20 Grabsteine von persischen Juden. Die Inschriften belegen für 1115–1215 die Existenz einer jüdischen Gemeinde, die einen Friedhof besaß. In dieser Zeit war Herat ein wichtiges Zentrum der Herstellung von Metallwaren, besonders Bronze, die oft mit kunstvollen Einlegearbeiten aus wertvollen Metallen verziert wurden. 1220/1221 kamen die Mongolen unter Dschingis Khan und zerstörten mehrmals Herat. Im Jahre 1245 wurde die Stadt an die Kartiden vergeben, einer Vasallendynastie der Mongolen, unter der sich Herat wieder erholen konnte. Timur Lang zerstörte Herat um 1381. Unter seinem Sohn Schāh Ruch wurde es wieder aufgebaut und zur Hauptstadt Chorasans und des Timuridenreiches erklärt. Schah-Ruchs Frau Gauhar-Schad errichtete hier u. a. den Musallā-Komplex mit seinen zum Teil noch heute stehenden Minaretten. 1452–75 übernahm Abu l-Qasim Babur die Herrschaft, dem 1459 Abu Sa'id und 1469–1506 Husain Baiqara folgten. Unter Husain Baiqara blühte die Stadt noch einmal auf – er förderte die Landwirtschaft und festigte die timuridische Herrschaft. Die Usbeken eroberten 1507 Herat; 1510 wurde die Stadt von Ismail Safawi eingenommen. Herat wurde wieder Teil von Persien und blieb bis zur Eroberung durch die Afghanen eine der wichtigsten Städte der Safawiden in Chorasan. Die Stadt gehörte Anfang des 18. Jahrhunderts zum safawidischen Persien, das jedoch an Macht verlor. 1717 gewann die regionale Paschtunengruppe der Abdali die Macht. Zwischen 1718 und 1880 gab es viele Schlachten um Herat. 1731 gewann Nader Schah die Kontrolle über die Stadt. 1749 eroberte der Paschtune („Afghane“) Ahmad Schah Durrani Herat von den Persern und vereinigte die Städte Kandahar und Kabul zu seinem neuen afghanischen Reich. Um 1800 begannen Machtkämpfe zwischen den beiden herrschenden Clans der Durranis, die 1819 faktisch ein autonomes Emirat unter der einen Dynastielinie zur Folge hatten. Besitzansprüche der Perser führten im Lauf des 19. Jahrhunderts zu mehreren Schlachten um die Stadt, die 1852 und 1856 von Persern besetzt und zu großen Teilen zerstört wurde. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann The Great Game, das politische Schachspiel der beiden europäischen Kolonialmächte Russland und Großbritannien um Zentralasien. Der Konflikt endete 1887, und mit Afghanistan entstand eine Pufferzone zwischen Russland und Britisch-Indien, die gleichzeitig die Unabhängigkeit Persiens und Afghanistans versicherte. Im Jahr 1837 belagerte die persische Armee Mohammed Schah Herat. Der zufällig in Herat anwesende britische Artillerieoffizier Eldred Pottinger bot dem Emir von Herat seine Dienste an. Ihm wurde die Verteidigung übertragen und es gelang, die Stadt zu halten. Der russische Botschafter Graf Simonitsch übernahm das Kommando über die persische Armee. Daraufhin landeten britische Truppen am Persischen Golf. Dies hatte zur Folge, dass sich die persischen Truppen zurückzogen und sowohl Simonitsch, als auch Witkewitsch nach Russland zurückbeordert wurden. Diese Situation führte schließlich zum Ersten Anglo-Afghanischen Krieg. 1863 wurde Herat von Dost Mohammed, dem Begründer der Baraksai-Dynastie eingenommen. 1879 unterstellte sein Enkel Mohammed Yakub Khan, Emir Afghanistans aus Herat, das Land der britischen Kontrolle. Erst mit Abdur Rahman Khan, der von 1880 bis 1901 regierte, kam es zu einer Periode relativer politischer Stabilität und kulturellen Wiederbelebung. Die ausgeprägte Musikszene in Herat war zu dieser Zeit bis Anfang des 20. Jahrhunderts persisch, im Unterschied zu der von Indien beeinflussten Musik Kabuls. Schon vor der sowjetischen Invasion Afghanistans Ende 1979 gab es eine umfangreiche Präsenz von sowjetischen Beratern mit ihren Familien in Herat. Vom 10. bis zum 20. März 1979 meuterte die Armee in der Stadt unter Führung von Ismail Khan und 350 Sowjetbürger wurden getötet. Die Sowjets bombardierten die Stadt, was zu umfangreichen Zerstörungen und zu tausenden Toten führte, und eroberten die Stadt mit Panzern und Fallschirmjägern zurück. Ismail Khan wurde Mudschahedin-Kommandeur und nach dem Abzug der Sowjets Gouverneur von Herat. 1995 eroberten die Taliban Herat. In dieser Zeit entstand das geheime Frauencollege „Goldene-Nadel-Nähschule“. Am 12. November 2001 – nach dem Aufstand in Herat – fiel die Stadt an die Nordallianz und Ismail Khan kam in der Region wieder an die Macht. Im Jahre 2004 setzte Hamid Karzai Ismail Khan ab und ernannte Said Mohammad Kheir-Khowa zum neuen Gouverneur. Kurz danach rebellierten die Einwohner Herats, da sie mit der Entscheidung Karzais nicht einverstanden waren. Im Zuge des Vormarsches der Taliban im Sommer 2021 drangen deren Kämpfer am 12. August 2021 in die Stadt ein. Prominente Vertreter der Lokalregierung setzten sich daraufhin offenbar in eine nahegelegene Armeebasis ab, wo sie gemeinsam mit Vertretern der örtlichen afghanischen Sicherheitskräfte die Kontrolle über Herat nach Verhandlungen noch am gleichen Tag an die Taliban übergaben. Am 7. und 11. Oktober 2023 ereigneten sich schwere Erdbeben in der Region von Herat. Das Epizentrum lag 40 Kilometer nordwestlich der Stadt. Mit einer Stärke von 6,3 auf der Richterskala handelte es sich um die schwersten Beben seit 1998. Die Taliban gaben nach dem ersten Beben am 7. Oktober bekannt, dass über 2000 Menschen starben, die gleiche Anzahl an Personen wurde verletzt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ging davon aus, dass circa 4200 Menschen von der Katastrophe betroffen sind und mindestens 600 Häuser zerstört wurden. Bevölkerungsentwicklung der Agglomeration laut UN Kultur Herat war lange Zeit ein Zentrum der persisch-muslimischen Kulturwelt. Besonders bekannt ist die Stadt für ihre bedeutende Kunst- und Literaturtradition. Einer der bekanntesten Dichter Persiens, Dschāmi, der gleichzeitig als der letzte bedeutende Sufi-Meister des Mittelalters gilt, war aus Herat. Auch der Halveti- und der Cheschti Sufi-Orden wurden in Herat gegründet. Eine weitere Berühmtheit der Stadt war Ustad Kamal-ud Din Behzad, der bedeutendste Vertreter der persisch-muslimischen Miniaturmalerei. Herat ist zudem für seine handgeknüpften Perserteppiche bekannt. Der (nach der Stadt benannte) Herat-Stil gehört zu den teuersten und bekanntesten seiner Art. Bis zum Zerfall des Safawiden-Reichs war Herat, damals auch bekannt als Perle Persiens, die zweitgrößte Stadt des Königreichs und die wichtigste Metropole im Osten Persiens. Sehenswürdigkeiten Herat ist eine alte Stadt mit vielen historischen Bauwerken, obwohl diese unter den militärischen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte litten. Die meisten Gebäude sind aus Lehmziegeln erbaut. Die kürzlich wiederaufgebaute Zitadelle von Herat, die unter Alexander dem Großen errichtet wurde, beherrscht die Ansicht der Stadt. Im 15. bis 17. Jahrhundert wurde Herat auch als das Florenz Asiens bezeichnet. Der Park Takht-e Safar ist ein beliebtes Naherholungsziel in Herat mit Ausblicke über die Stadt. Bildung und Forschung In Herat wird zurzeit die Universität im nördlichen Teil der Stadt aufgebaut. Trotz der Aufbauarbeiten, findet der Lehrbetrieb in den schon errichteten Gebäuden statt. Es gibt derzeit 10 Fakultäten: Agrarwirtschaft Naturwissenschaften Bildungs- und Erziehungswissenschaften Wirtschaftswissenschaften Ingenieurwissenschaften Bildende Künste Islamische Studien Literaturwissenschaften Jura und Politikwissenschaften Informatik Verkehr Die Stadt hat eine günstige Lage an den Handelsrouten zwischen Iran, Indien, der Volksrepublik China und Europa. Die Straßen nach Turkmenistan und in den Iran sind noch immer von strategischer Bedeutung. Der Flughafen Herat liegt 10 km südöstlich an der Straße nach Farah. Fluglinien wie Ariana Afghan Airlines und Kam Air fliegen ihn an. Eine Bahnstrecke von der iranischen Stadt Khaf ist in Bau. Söhne und Töchter der Stadt Chwadscha Abdullah Ansari (1006–1089), persischer Sufi-Dichter Dschāmi (1414–1492), persischer Sufi-Meister und klassischer Dichter Mir ʿAli Schir Nawāʾi (1441–1501), tschagatai-türkischer Dichter, Politiker und Bauherr Gauhar-Schad († 1457), Ehefrau des timuridischen Sultans Schāh Ruch Ustad Kamal-ud Din Behzad (* zwischen 1460 und 1466; † 1535/1536), persischer Miniaturmaler Abbas der Große (1571–1629), Schah Persiens aus der Dynastie der Safawiden Mashal (1917–1998), Minitaturkünstler des Behzad'schen Tradition Mohammad Rahim Khushnawaz (1943–2011), afghanischer Rabābspieler Ismael Khan (* 1946), Freiheitskämpfer und Politiker Latif Nazemi (* 1947), persischer Dichter und Literaturwissenschaftler Gada Mohammad, Musiker, dutar-Spieler Aziz Herawi (* um 1952), Musiker, dutar- und rubab-Spieler Rangin Dadfar Spanta (* 1953), ehemaliger afghanischer Außenminister Mahbuba Maqsoodi (* 1957), deutsch-afghanische Künstlerin Zebulon Simentov (* 1960), afghanischer jüdischer Geschäftsmann Mirwais Sadik (1973–2004), afghanischer Politiker Nadia Anjuman (1980–2005), afghanische Dichterin Roya Sadat (* 1983), afghanische Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin Noor Ahmad (* 2005), Cricketspieler Amirjan Sabori, Musiker Literatur Dietrich Brandenburg: Herat. Eine timuridische Hauptstadt. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1977, ISBN 3-201-01031-6. Veronica Doubleday: Three Women of Herat. Jonathan Cape, London 1988, ISBN 0-224-02440-X. (Neuauflage: Three Women of Herat: A Memoir of Life, Love and Friendship in Afghanistan. Palgrave Macmillan, Hampshire 2006) (Feldforschung in den 1970er Jahren) deutsch: Die Kluge, die Bedrückte, die Unabhängige : drei Frauen in Afghanistan. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1989, ISBN 3-499-12388-6. Heinz Gaube: Herat und sein Umland im 15. Jahrhundert nach literarischen und archäologischen Quellen. In: C. Rathjens (Hrsg.): Neue Forschungen zu Afghanistan. Opladen 1981, ISBN 3-8100-0326-3, S. 202–213. Jürgen Paul: Zentralasien. S. Fischer, Frankfurt am Main 2012 (Neue Fischer Weltgeschichte, Band 10). Weblinks Einzelnachweise Antike iranische Stadt Antike griechische Stadt Ehemalige Hauptstadt (Afghanistan) Ort in der Provinz Herat Provinzhauptstadt in Afghanistan la:Artacoana
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hubschrauber
Hubschrauber
Ein Hubschrauber oder Helikopter ist ein senkrecht startendes und landendes Luftfahrzeug, das Motor­kraft auf einen oder mehrere nahezu horizontal angeordnete Rotoren für Auftrieb und Vortrieb überträgt. Diese arbeiten als sich drehende Tragflächen oder Flügel. Damit zählen Hubschrauber zu den Drehflüglern und sind mit Abstand die bedeutendsten Vertreter dieser Großgruppe von Luftfahrzeugen. „Drehflügler“ ist auch die sinngemäße Übersetzung des Worts Helikopter, kurz auch Heli, das sich zusammensetzt aus (Gen. ) „Windung, Spirale, Schraube“ und „Flügel“. Die Wörter Helikopter und Hubschrauber sind gleichbedeutend. Umgangssprachlich setzt sich im deutschsprachigen Raum Helikopter immer mehr durch (vgl. auch Helikopter-Eltern). Amtlich hingegen werden in der Schweiz beide Wörter verwendet. Die Abgrenzung des Begriffs Hubschrauber ist variabel. Im weitesten Sinne werden Hubschrauber und Drehflügler als Synonyme behandelt. Üblicherweise werden jedoch Drehflügler ohne angetriebenen Hauptrotor, wie Tragschrauber mit eigenen Vortriebsrotoren, nicht zu den Hubschraubern gezählt. Bei Flugschraubern, die die Eigenschaften dieser beiden Luftfahrzeuge kombinieren, ist die Einordnung zu den Hubschraubern uneinheitlich. Hubschrauber, die zusätzlich über starre Tragflächen verfügen, werden als Verbundhubschrauber bezeichnet. Wandelflugzeuge zählen nicht zu den Hubschraubern. Geschichte Das Prinzip des Auftriebs in Wendelform war bereits im alten China bekannt, wo es vor 2500 Jahren im Spielzeug „Fliegender Kreisel“ genutzt wurde. Leonardo da Vinci fertigte um 1487–1490 in seinen „Pariser Manuskripten“ Skizzen eines Hubschraubers an; erst im 20. Jahrhundert gelang die technische Umsetzung dieser Idee. Pioniere der Hubschrauberentwicklung waren u. a. Jakob Degen, Étienne Œhmichen, Raúl Pateras Pescara, Oszkár Asbóth, Juan de la Cierva, Engelbert Zaschka, Louis Charles Breguet, Alberto Santos Dumont, Henrich Focke, Anton Flettner und Igor Sikorski. Anfänge Bereits im 14. Jahrhundert war in Europa ein Spielzeug namens „chinesischer Luftkreisel“ bekannt, das auch heute noch in abgewandelter Form hergestellt wird. Es handelte sich um ein rotorähnliches Gebilde aus angestellten Vogelfedern, das in Drehung versetzt ähnlich einem Hubschrauber senkrecht in die Luft aufsteigen konnte. Leonardo da Vinci beschäftigte sich im 15. Jahrhundert mit dem Hubschrauber und zeichnete ein Fluggerät, das einen Antrieb nach Art der archimedischen Wasserschraube erhalten sollte. 1768 entwarf der französische Mathematiker Alexis-Jean-Pierre Paucton das erste Konzept, Pterophore genannt, für einen muskelkraftbetriebenen Hubschrauber mit zwei getrennten für Auftrieb und Vortrieb zuständigen Rotoren. 1783 bauten der französische Naturforscher Christian de Launoy und sein Mechaniker Bienvenu eine Koaxialversion des chinesischen Luftkreisels. Eine ähnliche Konstruktion entwarf der britische Ingenieur George Cayley. Im 18. und 19. Jahrhundert gab es eine Vielzahl von Ideen für hubschrauberähnliche Fluggeräte. So entwarf Michail Lomonossow ein Hubschraubermodell mit koaxialen Rotoren zur Erforschung der Atmosphäre. Der österreichische Uhrmachermeister Jakob Degen experimentierte ebenfalls mit Koaxialmodellen und verwendete ein Uhrwerk als Antrieb. Um 1825 baute der Engländer David Mayer einen muskelbetriebenen Hubschrauber, 1828 entwarf der Italiener Vittorio Sarti einen Hubschrauber mit zwei dreiblättrigen Propellern. Der Amerikaner Robert Taylor stellte 1842 seine Konstruktion der kollektiven Blattverstellung fertig und offerierte diese dem Luftfahrtpionier George Cayley. Dieser übernahm das Taylorsche Konzept für ein Fluggerät mit zwei seitlich montierten Koaxialrotoren und zwei Luftschrauben für den Vortrieb. Als Antrieb sollte eine Dampfmaschine dienen, die sich jedoch als zu schwer erwies und das Projekt zum Scheitern verurteilte. Im Jahr 1861 erhielt Gustave de Ponton d’Amécourt ein Patent auf ein koaxiales Rotorenkonzept. Beiden war offensichtlich die Notwendigkeit des Drehmomentenausgleichs bewusst, der sie durch Verwendung zweier gegenläufiger Hauptrotoren Rechnung trugen. Der russische Ingenieur Alexander Nikolajewitsch Lodygin unterbreitete 1869 dem Kriegsministerium ein Konzept eines Hubschraubers mit einem Elektromotor als Antrieb. Das Modell war bereits mit einem Haupt- und einem Heckrotor versehen. Um 1870 baute Alphonse Pénaud Koaxialhubschrauber mit Gummibandantrieb als Kinderspielzeug. Eines seiner Spielzeugflugzeuge soll die Gebrüder Wright inspiriert haben. Im Jahr 1874 skizzierten Fritz und Wilhelm von Achenbach einen Drehflügler mit Haupt- und Heckrotor (der heute gebräuchlichsten Hubschrauberkonfiguration), der mit einer Dampfmaschine angetrieben werden sollte. 1877 baute der Italiener Enrico Forlanini einen kleinen unbemannten 3,5 kg schweren Hubschrauber mit Dampfantrieb und zwei koaxialen gegenläufigen Rotoren. Im Sommer jenes Jahres führte er dieses Fluggerät in einem öffentlichen Park in Mailand vor, wobei er etwa 20 Sekunden lang und 13 Meter hoch flog. Auch Thomas Edison baute 1885 im Auftrag von James Gordon Bennett Jr. einen Hubschrauber, der aufgrund zu hohen Gewichtes aber nicht abhob. Um 1890 baute Wilhelm Kress ein Fluggerät mit Koaxialrotoren und ermittelte den Zusammenhang von Rotordurchmesser, Leistung und Auftrieb. Im Jahr 1901 fand in Berlin-Schöneberg der Erstflug eines Hubschraubers von Hermann Ganswindt statt. Da es noch keine ausreichend starken Motoren gab, nutzte Ganswindt ein Fallgewicht, das den Rotor auch über ein Seil antrieb. Der Hubschrauber flog zwar nur einige Sekunden lang, aber er hob mit zwei Personen an Bord ab. Ein Film der Brüder Skladanowsky von dem Ereignis ist verschollen. Da Ganswindt eine Sicherheitsstange angebracht hatte, wurde er 1902 des Betruges bezichtigt und für acht Wochen in Untersuchungshaft genommen. Im gleichen Jahr erreichte auch ein von Ján Bahýľ konstruierter Hubschrauber eine Flughöhe von 50 cm. Am 13. November 1907 hob Paul Cornu mit seinem 260 kg schweren fliegenden Fahrrad für 20 Sekunden 30 cm senkrecht vom Boden ab. Er benutzte Tandemrotoren, die von einem 24 PS starken V8-Motor angetrieben wurden. Es handelte sich hierbei um den ersten dokumentierten freien bemannten Vertikalflug, obwohl der Flug aufgrund der geringen Motorleistung bezweifelt wird. In diesem Jahr bauten die Brüder Louis Charles und Jacques Bréguet in Zusammenarbeit mit Charles Richet auch den Gyroplane Nr. 1 mit vier gegenläufigen Rotoren, 45-PS-Benzinmotor und 580 kg Abflugmasse, der jedoch nur senkrecht nach oben fliegen konnte. Im Jahr 1909 baute Wladimir Walerianowitsch von Tatarinoff mit Unterstützung des russischen Kriegsministeriums das Tatarinow Aeromobile, das eine autoähnliche Form mit einem Front- und vier über dem Fahrzeug angebrachten Hubpropellern besaß. Die wenig erfolgversprechende Konstruktion wurde nach öffentlicher Kritik vom Konstrukteur zerstört. Ab 1910 löste Boris Nikolajewitsch Jurjew einige theoretisch-konstruktive Grundprobleme der Stabilität und des Antriebs und entwickelte die Taumelscheibe (). Im Jahr 1913 konstruierte der Dresdner Ingenieur Otto Baumgärtel einen Senkrechtstarter, der sich durch Verlagerung des Schwerpunktes ohne besonderen Propeller vorwärts bewegen konnte. 1916 baute der Däne Jacob Christian Hansen Ellehammer einen Hubschrauber mit koaxialen Rotoren und einem Bugpropeller, einem selbst konstruierten 6-Zylinder-Sternmotor mit 36 PS und der erstmaligen Verwendung der kollektiven und zyklischen Blattverstellung. Der Italiener Gaetano Arturo Crocco hatte diese Technik 1906 vorgeschlagen. Ellehammer ist damit der Erfinder der heute allgemein üblichen Rotoransteuerung. Nach dem Absturz und der Zerstörung der Maschine gab er die Entwicklung auf. Wiederum einen Koaxialrotor bauten die Gebrüder Rüb in Stuttgart 1917, der jedoch mangels Antriebsleistung nicht abheben konnte. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges führten die Konstrukteure Stephan Petróczy von Petrócz, Theodore von Kármán und Wilhelm Zurovec im Auftrag der k.u.k. Armee erfolgreiche Flugversuche mit den nach ihnen benannten Schraubenfesselfliegern PKZ-1 und PKZ-2 durch. Durch solche senkrecht aufsteigenden Fluggeräte sollten die bis dahin üblichen Fesselballone zur Feindbeobachtung ersetzt werden. Der PKZ-2 mit koaxialem Rotor und drei Motoren mit je 120 PS Leistungsabgabe erreichte eine Flughöhe von rund 50 m, was zu jener Zeit einen Rekord darstellte. Bei einem Demonstrationsflug am 10. Juni 1918 in Fischamend stürzte das Gerät ab. Der zu Ende gehende Krieg verhinderte eine weitere Entwicklung. In den Jahren 1919 bis 1922 konstruierte Henry A. Berliner in den USA sowohl Hubschrauber mit koaxialen als auch mit nebeneinander liegenden Rotoren. Mit beiden unternahm er freie Schwebeflüge von kurzer Dauer. Am 11. November 1922 brachte Étienne Œhmichen erstmals seinen Œhmichen No. 2 in die Luft, den ersten dokumentierten und zuverlässig fliegenden manntragenden Senkrechtstarter, einen Quadrocopter. Bei der Entwicklung seines Autogiro gelangen Juan de la Cierva (Spanien) im Jahr 1923 wesentliche Lösungen zur Stabilisierung des Rotors eines Drehflüglers, so z. B. die Schlaggelenke. Dieses Konzept war im Deutschen Reichspatent Nr. 249702 aus dem Jahre 1912 von Max Bartha und Josef Madzsar im Zusammenhang mit der Kopfkippsteuerung für einen koaxialen Rotor patentiert worden. Im gleichen Jahr flog in den USA der durch George de Bothezat entwickelte damals größte Hubschrauber der Welt mit vier Rotoren auf Auslegern und zwei zusätzlichen kleineren Steuerrotoren. Er hatte eine Startmasse von 1600 kg und wurde von einem 220-PS-Motor angetrieben. Am 18. April 1924 verbesserte der von Raúl Pateras Pescara entwickelte Pescara No. 3 den vier Tage vorher von Œhmichen aufgestellten Weltrekord für Rotorflugzeuge um das Doppelte. Er setzte dabei erstmals zyklische Blattverstellung ein, um den Hauptrotor zum Vortrieb zu nutzen. Œhmichens Hubschrauber besaß vier verstellbare Hauptrotoren, fünf Propeller zur Stabilisierung, zwei Propeller zum Vortrieb, einen Propeller zur Steuerung und als Antrieb einen 180-PS-Gnôme-Motor. Trotz der ersten beiden offiziell anerkannten „Weltrekorde“ für Hubschrauber waren diese komplizierten Maschinen eine technische Sackgasse. In Deutschland entwickelte Oberingenieur Engelbert Zaschka 1927 einen kombinierten Trag- und Hubschrauber. Bei der Entwicklung wurden im Unterschied zu den bis damals bekannten Trag- und Hubschraubern die Rotoren des Zaschka-Rotationsflugzeugs mit einer durch zwei Kreisel wirksamen Schwungmasse zwangsläufig rotierend verbunden. Das Hubschraubermodell verfügte demnach über eine Gleichgewichtsregelung durch eine kreiselnde Masse (kinetische Energie). Durch diese Anordnung konnte mit abgestelltem Motor ein gefahrloser senkrechter Gleitflug ausgeführt werden. Ab 1925 versuchte der Holländer A. G. von Baumhauer die heute gebräuchliche Rotoranordnung mit je einem Haupt- und Heckrotor zu realisieren. Sein Hubschrauber hatte einen Hauptrotor mit etwa 15 m Durchmesser, der von einem 200-PS-Motor angetrieben wurde. Für den Antrieb des Heckrotors verwendete er einen separaten Motor mit 80 PS. Der Erstflug fand 1930 statt, jedoch wurde nach dem Bruch eines Hauptrotorblattes die Entwicklung eingestellt. Im gleichen Jahr erprobten der Belgier Nicholas Florine und der Italiener Corradino D’Ascanio erfolgreich ihre Hubschrauber. Die Maschine von Florine hatte eine Tandem-Rotoranordnung mit zwei Vierblattrotoren von 7,2 m Durchmesser und wog etwa 950 kg. Sie wurde von einem 220-PS-Hispano-Suiza-Motor angetrieben und erlaubte Schwebeflüge von bis zu zehn Minuten. Der von D’Ascanio konstruierte Hubschrauber mit koaxialen Rotoren und drei verstellbaren Zusatzpropellern flog bis zu 1078 m weit, erreichte eine Flughöhe von 18 m und eine Flugdauer von neun Minuten. Ebenfalls 1930 baute in Österreich Raoul Hafner mit Bruno Nagler einen Hubschrauber. Obwohl dieser sogar eine Taumelscheibe hatte, führten Steuerprobleme zum Abbruch der Versuche. Zwischen 1930 und 1935 experimentierten Oszkár Asbóth in Ungarn und Walter Rieseler in Deutschland mit Hubschraubern mit koaxialen Rotoren, bei denen die Steuerbarkeit mit Leitwerken im Rotorabwind verbessert werden sollte. 1932 wurde unter der Leitung von Boris Nikolajewitsch Jurjew in der Sowjetunion der ZAGI 1-EA mit einem Hauptrotor und je zwei Steuerrotoren am Bug und am Heck entwickelt. Dieser hatte eine Abflugmasse von 1200 kg und zwei Motoren mit je 120 PS Leistung. Weiteres 20. Jahrhundert In den frühen 1930er Jahren bauten Louis Charles Breguet und René Dorand mit dem Gyroplane-Laboratoire den ersten längere Zeit stabil fliegenden Hubschrauber. Er hatte Koaxialrotoren und hielt ab Juni 1935 alle internationalen Rekorde für Hubschrauber. Die Focke-Wulf Fw 61, die zwei seitlich angeordnete Rotoren benutzte, brach beim Jungfernflug im Juni 1936 eine Reihe von bisherigen Weltrekorden bei Hubschraubern. Sie war zudem der erste Hubschrauber, mit dem eine Autorotationslandung gelang. In den USA war die 1939 zum Erstflug gestartete Sikorsky VS-300 der erste praktisch einsetzbare Hubschrauber. Dieser Prototyp wurde das Vorbild des ab 1942 in Serie gebauten Sikorsky R-4. 1941 war die deutsche Focke-Achgelis Fa 223 der erste in Serie gebaute Hubschrauber, ebenfalls mit zwei seitlich angeordneten Rotoren. Es folgten 1943 die Flettner Fl 282, ebenfalls mit Doppelrotor, und 1944 die Sikorsky R-4 „Hoverfly“ in den USA, die wie ihr Vorgänger Sikorsky VS-300 einen Einzelrotor zusammen mit einem Heckrotor verwendete. 1943 flog mit der Doblhoff WNF 342 der erste experimentelle Hubschrauber, der einen heißen Blattspitzenantrieb verwendete. Die von Frank Piasecki und Harold Venzie ebenfalls 1943 konstruierte PV-1 hatte eine Bauweise ohne Heckrotor, ähnlich der heutigen NOTAR-Technik. Die Arbeiten daran wurden jedoch bald zugunsten eines Heckrotorentwurfs aufgegeben. Am 8. März 1946 erhielt die auf eine Konstruktion von Arthur M. Young zurückgehende Bell 47 der Bell Aircraft Corporation, ein leichter zwei- oder dreisitziger Hubschrauber, als erster ziviler Hubschrauber die Flugzulassung in den Vereinigten Staaten. Seine Varianten waren bis in die 1980er Jahre und darüber hinaus weltweit anzutreffen. Auf sowjetischer Seite war der von Michail Mil entwickelte Mil Mi-1 der erste in Serie gebaute Hubschrauber, dessen Prototyp GM-1 im September 1948 zum ersten Mal flog. 1955 rüstete die französische Firma Sud Aviation ihren Hubschrauber Alouette II mit einer 250-kW-Turbomeca-Artouste-Wellenturbine aus und baute damit den ersten Hubschrauber mit Gasturbinenantrieb, der heute von fast allen kommerziellen Herstellern verwendet wird. Lediglich Robinson Helicopter (Robinson R22 und Robinson R44), Brantly (Brantly B-2 bzw. Brantly 305) und Sikorsky (Schweizer 300C) stellen noch Hubschrauber mit Kolbenmotoren her. Die mit bis heute 16.000 Exemplaren meistgebaute Hubschrauberfamilie, die Bell 204 – militärisch Bell UH-1 genannt – startete am 22. Oktober 1956 zu ihrem Jungfernflug. Die deutsche Bölkow Bo 105 wurde 1967 als erster Hubschrauber mit einem gelenklosen Rotorkopf zusammen mit GFK-Rotorblättern, die erstmals bei der Kamow Ka-26 zum Einsatz gekommen waren, ausgerüstet. Der Eurocopter EC 135 als aktueller Nachfolger benutzt eine weiterentwickelte Form, den sogenannten gelenk- und lagerlosen Rotorkopf. Dort wurden auch die Lager für die Blattwinkelverstellung durch ein aus glasfaserverstärktem Kunststoff bestehendes Drillsteuerelement mit Steuertüte ersetzt. 1968 startete mit der sowjetischen Mil Mi-12 der größte jemals gebaute Hubschrauber. Er verfügt über nebeneinander angeordnete Rotoren, ein maximales Startgewicht von 105 t bei einer maximalen Nutzlast von 40 t und 196 Passagierplätzen. Nach drei Prototypen, die eine Reihe von Rekorden erzielten, wurde die Produktion eingestellt. 1975 startete der ab 1979 in Großserie gebaute leichte und kostengünstige Robinson R22 zu seinem Erstflug. 1977 fand der Erstflug des größten in Serie gebauten Helikopters statt, der Mil Mi-26, die bis heute produziert und eingesetzt wird. Ab 1980 wurde mit dem Kamow Ka-50 „Hokum“ der erste Hubschrauber entwickelt, der mit einem Schleudersitz ausgerüstet ist. Zusammen mit seiner Weiterentwicklung, dem Kamow Ka-52 „Alligator“, ist er der einzige Hubschrauber, der bisher mit einem Schleudersitz ausgerüstet wurde. Die Rotorblätter werden bei Aktivierung des Schleudersitzes automatisch abgesprengt. Ab 1983 entstand mit dem Boeing-Sikorsky RAH-66 Comanche ein Kampfhubschrauber mit Tarnkappentechnik, dessen Fertigung jedoch kurz vor Erreichen der Einsatzreife im Jahr 2004 aufgrund ausufernder Kosten gestoppt wurde. 1984 flog erstmals die Sikorsky X-wing, deren Rotor beim Vorwärtsflug angehalten und festgestellt wird und dann als zusätzliche Tragfläche dient. Wie bei anderen VTOL-Konzepten sollen damit gegenüber reinen Drehflüglern bessere Flugleistungen erreicht werden. Es blieb jedoch bei einem Prototyp. 1989 hob mit Da Vinci III erstmals ein Muskelkraft-Hubschrauber für wenige Sekunden vom Boden ab – bis zu 20 cm hoch, per Pedalkurbel und Einzelrotor, in Kalifornien. 21. Jahrhundert Im August 2008 bewies der Sikorsky X2 im Erstflug die Tauglichkeit des mit neuesten Verfahren optimierten Koaxialrotors in Kombination mit einem Schubpropeller – dem Prinzip der früheren Tragschrauber. Zwei Jahre später erreichte er mit 250 Knoten True Airspeed (463 km/h) das Entwicklungsziel und überbot damit den bisherigen Geschwindigkeitsrekord um 15 %. Auch andere Hersteller erprobten ähnliche neue Hochgeschwindigkeits-Muster, so Eurocopter den X³ und Kamow den Ka-92. Im Oktober 2011 fand mit dem Volocopter der weltweit erste bemannte Flug mit einem rein elektrisch angetriebenen Hubschrauber statt. 2011/2012/2013 verbesserten verschiedene Teams in den USA mit 3 Prototypen (Gamera (I), Gamera II und AeroVelo Atlas) von Muskelkraft-Quadrocoptern für eine Person, indoors die Leistungen. Zuletzt wurde mit Atlas 64 Sekunden Flugdauer, 3,3 m maximale Flughöhe und weniger als 10 m Abdrift erreicht und damit der Sikorsky-Preis gewonnen. Antrieb Für den Antrieb der Rotorblätter sind zwei Hauptbauteile notwendig. Der Motor und das Hauptgetriebe. Der Motor stellt die mechanische Leistung zur Verfügung und das Getriebe sorgt für die Drehzahlanpassung. Kraftmaschine (Motor) Für den Antrieb von Hubschraubern können alle heute bekannten und gängigen Kraftmaschinen verwendet werden. Kolbenmotor: Der Kolbenmotor war zu den Anfängen der Hubschrauberentwicklung weit verbreitet. Einer der bekanntesten Hubschrauber mit Kolbenmotor ist der Sikorsky S-58. Aber auch heute stellt der Kolbenmotor einen robusten und günstigen Antrieb in kleinen Hubschraubern dar. Zu den bekanntesten zählen heute der Robinson R22 und Robinson R44. Wellenturbine: Am verbreitetsten ist heute die Wellenturbine. Das Prinzip ist dem einer Turbine für Strahl- oder Turboprop-Flugzeuge ähnlich. Größter Unterschied ist, dass es in den meisten Fällen keine mechanisch starre Verbindung zwischen Turbine und Rotoren gibt, wie bei einer Turboprop-Freilaufturbine. Man bezeichnet diese auch als 2-Wellen-Turbine. Blattspitzenantrieb (wird weiter unten beschrieben). Elektromotor: Der Elektromotor ist eine Sonderform beim Antrieb von Hubschraubern, welcher in erster Linie bei ferngesteuerten Modellen und unbemannten Drohnen seine Anwendung findet. (Haupt-)Getriebe Das Hauptgetriebe hat die Aufgabe das zugeführte Drehmoment der Kraftmaschine auf die Drehzahlen des Haupt- und Heckrotors zu übersetzen. Während die Drehzahl der Kraftmaschine zwischen ca. 2000/min bei Kolbentriebwerken und 6000/min bei Turbinen liegt, beträgt die Hauptrotordrehzahl selten über 300/min. Bei Hubschraubern mit Kolbenantrieb hat das Getriebe zusätzlich die Aufgabe den Motor mittels Kupplung von den Rotorblättern mechanisch zu trennen. Als Kupplung kommt entweder eine durchschaltbare Strömungskupplung oder in kleinen Hubschraubern eine Reibkupplung über Riementrieb zum Einsatz. Funktion Die rotierenden Rotorblätter erzeugen durch die anströmende Luft einen dynamischen Auftrieb. Wie bei den starren Tragflächen eines Flugzeugs ist dieser u. a. abhängig von ihrem Profil, dem Anstellwinkel und der (über die Blattlänge nicht konstanten) Anströmgeschwindigkeit der Luft, siehe Hauptrotor. Wenn ein Hubschrauber sich vorwärts bewegt, ändert sich die Anströmgeschwindigkeit, da sich Umlauf- und Fluggeschwindigkeit des nach vorne bewegten Blattes addieren. Beim zurücklaufenden Blatt subtrahieren sie sich, siehe auch die Skizze weiter unten. Durch die Aerodynamik der Rotorblätter entstehen beim Flug asymmetrische Kräfte auf die jeweils nach vorne und nach hinten bewegten Blätter, die bei älteren Modellen durch Schlag- und Schwenkgelenke an der Befestigung, dem Rotorkopf, aufgefangen werden mussten. Neuere Konstruktionen kommen ohne diese Gelenke aus. Rotorkopf und -blätter bestehen bei diesen neueren Modellen aus einem Verbund von Materialien unterschiedlicher Elastizität (Elastomeren sowie hochfesten und leichten Metallen wie Titan), die die in Größe und Richtung sich ständig ändernden dynamischen Kräfte bewältigen können, ohne dass die Bauteile hierdurch Schaden nehmen. Ein solcher gelenkloser Rotorkopf wurde erstmals bei der Bölkow Bo 105 durch Blätter aus glasfaserverstärktem Kunststoff und einem massiven Rotorkopf aus Titan im Verbund mit Elastomeren realisiert. Beim Eurocopter EC 135 wurde dieser zum lagerlosen Rotorkopf weiterentwickelt, der sich bei den meisten Modellen durchgesetzt hat. Blattverstellung Die zyklische (auch rotationsperiodische) Blattverstellung – allgemein auch Blattsteuerung genannt – dient der Steuerung der Horizontalbewegung des Hubschraubers, die eine Neigung der Hauptrotor-Ebene erfordert. Zum Einleiten oder Beenden von Vorwärts-, Rückwärts- oder Seitwärtsflug werden die Einstellwinkel der Blätter während des Umlaufs des Rotors (zyklisch) verändert. Dies führt zu einer zyklischen Schlagbewegung der Blätter, sodass ihre Blattspitzen auf einer Ebene umlaufen, die sich in der beabsichtigten Richtung neigt. Der Auftrieb bleibt auf dem gesamten Umlauf konstant. Dementsprechend steht der Rotorschub, der den Hubschrauber trägt und vorwärtsbringt, im rechten Winkel zur Blattspitzenebene. Die im Schwebeflug rein senkrecht hebende Kraft erhält durch diese Neigung nun einen nach vorne treibenden Schub. Aufgrund des Rumpfwiderstandes neigt sich der gesamte Hubschrauber und damit auch seine Rotorwelle ebenfalls in Flugrichtung. Wenn der Schwerpunkt des Hubschraubers (bei geeigneter Beladung) in Verlängerung der Rotorwelle liegt, geht der Schub bei jeder gleichbleibenden Fahrt durch den Schwerpunkt. Die Blattspitzenebene befindet sich dann im rechten Winkel zur Rotorwelle, und Schlagbewegungen finden nicht statt. Sie gibt es nur bei anderen Schwerpunktlagen oder wenn die Fluggeschwindigkeit geändert werden soll. Mit der kollektiven Blattverstellung (Pitch) verändert der Pilot den Anstellwinkel aller Rotorblätter gleichmäßig, was zum Steigen oder Sinken des Hubschraubers führt. Einfache Konstruktionen, etwa bei verschiedenen Elektroantrieben in Modellhubschraubern, ersetzen diese Steuerung durch eine Drehzahländerung. Nachteilig ist dabei die längere Reaktionszeit durch die Massenträgheit des Hauptrotors. Bei einem realen Hubschrauber sowie Modellhubschraubern mit kollektiver Blattverstellung ist die Rotordrehzahl im Flug konstant. Die Rotorblätter werden meist mit einer Taumelscheibe angesteuert. Deren unterer, feststehender Teil wird vom Piloten mit Hilfe des kollektiven Verstellhebels nach oben oder unten verschoben. Mit dem zyklischen Steuerknüppel kann dieser wiederum in jede Richtung geneigt werden. Der obere (sich mit dem Rotor drehende) Teil der Taumelscheibe überträgt über Stoßstangen und Hebel an den Blattwurzeln den gewünschten Einstellwinkel auf die Rotorblätter. Rotorvarianten und Giermomentausgleich Man unterscheidet Einrotorsysteme, Doppelrotoren, Dreifachrotoren und Maschinen mit vier (Quadrocopter) oder mehr Rotoren. Mit Ausnahme des Blattspitzenantriebs werden die Rotoren dabei stets durch einen Motor im Rumpf angetrieben. Dadurch entsteht an der Rotorachse ein Gegendrehmoment (Giermoment), das bei einem einzelnen Rotor eine gegenläufige Drehung des Rumpfes erzeugen würde. Um dieses zu kompensieren, werden verschiedene Konstruktionen benutzt: Einrotorsystem Erzeugung eines seitlichen Gegenschubs durch einen Heckrotor, auch gekapselt als Mantelpropeller beim Fenestron, oder durch Schubdüsen beim NO-TAil-Rotor-(NOTAR)-System Doppelrotorsysteme Zwei gegenläufige Hauptrotoren, deren Giermomente sich ausgleichen – durch Anordnung übereinander auf derselben Achse (Koaxialrotor), hintereinander (Tandem-Konfiguration) oder nebeneinander (transversal). Eine weitere Variante sind die ineinandergreifenden Rotoren mit nahe zusammenliegenden, zueinander schräggestellten Drehachsen beim Flettner-Doppelrotor. Beim Sikorsky X2 ermöglicht die Koaxialbauweise auch höhere Geschwindigkeiten in Kombination mit einem Schubpropeller, wie er erstmals 1947 beim Fairey Gyrodyne verwendet wurde. Dreifachrotorsysteme Nur selten (Cierva W.11), in der Planung (Mil Mi-32) oder im Modellbau (Tribelle, Tricopter) traten Dreifachrotoren auf, bei denen das Drehmoment durch leichtes Kippen der Rotorhochachsen oder auch durch Schwenkbarkeit eines der Rotoren ausgeglichen wird. Quadro- und Multicopter Der Quadrocopter verwendet vier Rotoren in einer Ebene und erlaubt allein durch verknüpfte Verstellung von Pitch oder Drehzahl eine Steuerung um alle drei Achsen. Üblich ist quadratische Anordnung, nötig ist gegenläufiger Drehsinn benachbarter Rotoren. Auf Basis dieser Technologie werden auch Muster mit sechs, acht, zwölf oder mehr (z. B. Volocopter mit 16 bzw. 18) Rotoren eingesetzt. Blattspitzenantrieb Beim Blattspitzenantrieb wird der Rotor durch Rückstoß eines Propellers oder Gasstrahls angetrieben, sodass kein Gegendrehmoment auf den Rumpf wirkt. Ein System mit zwei Rotoren ist zwar technisch die effizientere Konstruktion, da alle Rotoren zum Auf- und Vortrieb genutzt werden, während der Heckrotor im Schwebeflug etwa 15 % der Gesamtleistung kostet. In der Praxis hat sich jedoch weitgehend das Einrotorsystem mit einem Heckrotor durchgesetzt. Ökonomisch schlagen hier die niedrigeren Bau- und Wartungskosten bei nur je einem Rotorkopf und Getriebe ins Gewicht, da diese die beiden aufwendigsten und empfindlichsten Baugruppen eines Hubschraubers sind. Heckrotoren gibt es in Ausführungen mit zwei bis fünf Blättern. Um den Lärm zu verringern, werden teils vierblättrige Rotoren in X-Form eingesetzt. Eine besonders leise Variante ist der Fenestron, ein ummantelter Propeller im Heckausleger mit bis zu 18 Blättern. Meist wird der Heckrotor aus dem Hauptgetriebe über Wellen und Umlenkgetriebe angetrieben, sodass seine Drehzahl stets proportional zu der des Hauptrotors ist. Der Schub zur Steuerung um die Gierachse wird hierbei vom Piloten mit den Pedalen über den Einstellwinkel der Heckrotorblätter analog der kollektiven Verstellung des Hauptrotors geregelt. Während des Reiseflugs wird bei vielen Konstruktionen der Heckrotor dadurch entlastet, dass ein Seitenleitwerk das Giermoment weitgehend kompensiert. Dies wird meist durch Endscheiben an der horizontalen Dämpfungsfläche realisiert, die zur Rumpflängsachse schräg gestellt sind, bei einer einzelnen Seitenflosse in der Regel zusätzlich durch ein asymmetrisches Profil. Notsteuerung und Autorotation Sollte der Antrieb ausfallen, können Hubschrauber dennoch unbeschadet landen. Dazu muss der Pilot in einen steilen Sinkflug übergehen, wobei der freilaufende Rotor durch die nun von unten nach oben anströmende Luft in Drehung gehalten bzw. möglichst beschleunigt wird, um den Drehimpuls zu erhalten oder zu erhöhen. Diese daraus resultierende Autorotation wie beim Tragschrauber liefert den die Sinkgeschwindigkeit limitierenden Auftrieb und unterstützt den Helikopter beim Halten in aufrechter Position. Ein Giermomentausgleich ist dabei nicht notwendig, da nur das geringe Moment aus der Lagerreibung (im Hauptrotorkopf, Getriebe und Antrieb) auszugleichen wäre, das aber bis zur Landung nicht zu einem kritischen Anstieg der Gierrate führt. Eine solche Landung ist daher auch beim Ausfall des Heckrotors möglich, z. B. bei Bruch der Antriebswelle für den Heckrotor, des Winkelgetriebes zum Heckrotor oder gar des ganzen Heckauslegers. Kritischer ist hingegen das Erreichen eines geeigneten Platzes für diese Notlandung. Kurz vor dem Erreichen des Bodens wird der kollektive Einstellwinkel (Anstellwinkel) von leicht negativ auf positiv vergrößert, um den Auftrieb deutlich zu erhöhen. Damit wird das Sinken mit dem Ziel eines halbwegs sanften und für Technik und Besatzung sicheren Aufsetzens abgebremst und die Rotordrehung verringert sich. Der Drehimpuls des Rotors nimmt dabei ab, seine Energie wird aufgezehrt, es gibt daher nur einen Versuch für dieses heikle Manöver. Der Verlust der Steuerung um die Hochachse und die Notwendigkeit, den richtigen Moment genau zu treffen, macht dieses Manöver jedoch stets riskant. Für die Notlandung bedarf es einer Mindesthöhe über Grund, da beim Ausfall des Hauptantriebes ein Durchsacken unvermeidlich ist und auch Zeit benötigt wird, um in die neue Fluglage überzuleiten. Das Notlanden mit Autorotation muss von Piloten regelmäßig geübt werden. Steuerung Ein Hubschrauber ist ein nicht eigenstabiles Luftfahrzeug – er hat vor allem im Schwebeflug und langsamen Flug stets die Tendenz, seine Fluglage zu verlassen und in die eine oder andere Richtung zu schieben, sich zu neigen oder zu drehen. Dies ist u. a. darin begründet, dass der Neutralpunkt über dem Rumpf und damit über dem Schwerpunkt liegt. Der Pilot muss diese Bewegungen durch kontinuierliche, entgegenwirkende Steuereingaben abfangen. Bei einer Fluggeschwindigkeit oberhalb von ca. 100 km/h verhält sich ein Hubschrauber ähnlich wie ein Tragflächenflugzeug und ist entsprechend einfach zu steuern. Besondere Gefahren beinhaltet die Landung, da bei einem Motorausfall in zu geringer Höhe nicht genug Reserven vorhanden sind, in Autorotation überzugehen. Bei der Bodenberührung kann die sogenannte Bodenresonanz auftreten, die sehr schnell zur Zerstörung des Hubschraubers führen kann. Anders als im Starrflügel-Flugzeug sitzt der Pilot eines Hubschraubers in der Regel auf der rechten Seite. Zur Steuerung benötigt er beide Hände und Füße: Mit der linken Hand kontrolliert er über einen Hebel die kollektive Blattverstellung (). Dabei wird die Taumelscheibe gerade über die Rotorachse nach oben bzw. unten geschoben und so der Anstellwinkel aller Rotorblätter des Hauptrotors in gleichem Maße geändert und damit der Auftrieb des Rotors erhöht oder vermindert. Dadurch steigt bzw. sinkt der Hubschrauber. Um bei Vergrößerung des Anstellwinkels der Hauptrotorblätter den Abfall der Rotordrehzahl durch die daraus resultierende Erhöhung des Luftwiderstandes zu verhindern, wird über diesen Hebel auch die Motor- bzw. Turbinenleistung erhöht. Das erfolgt entweder manuell mit einem Drehgriff am Hebel oder automatisch. Durch die Änderung der Motor- bzw. Turbinenleistung wird auch das erzeugte Drehmoment geändert, was ein Gegensteuern über den Heckrotor erforderlich macht. Mit der rechten Hand kontrolliert der Pilot über den Steuerknüppel () (im obigen Foto der S-förmig gebogene Knüppel mittig vor dem Pilotensitz) die zyklische Blattverstellung. Dadurch wird die Taumelscheibe geneigt und die Rotorebene entsprechend geändert und so die Bewegung des Hubschraubers um die Längs- (Rollen nach links oder rechts) und Querachse (Nicken nach vorne oder hinten) eingeleitet. Die mit dem Steuerknüppel über die Taumelscheibe an den Rotorkopf gegebenen Steuerbefehle ermöglichen auch Kombinationen von Nick- und Rollbewegungen. Am Cockpitboden befinden sich zwei Pedale, mit denen der Anstellwinkel des Heckrotors und damit die Bewegung des Hubschraubers um die Gierachse (Hochachse), also die Drehung nach rechts bzw. links, gesteuert wird. Flugleistungen Hubschrauber erreichen prinzipiell nicht die (Vorwärts-)Flugleistungen von Starrflügelflugzeugen: Die Höchstgeschwindigkeit liegt meist zwischen 200 und 300 km/h, einige Kampfhubschrauber erreichen über 360 km/h. Der Geschwindigkeitsrekord liegt bei 472 km/h und wurde am 7. Juni 2013 mit einem Eurocopter X³ erzielt. Die Höchstgeschwindigkeit wird dabei durch die Aerodynamik der Rotorblätter begrenzt: Das jeweils nach vorne laufende Blatt hat gegenüber der von vorn anströmenden Luft eine höhere Geschwindigkeit als das nach hinten laufende. Nähert sich nun das vorlaufende Blatt im Außenbereich der Schallgeschwindigkeit, kommt es dort zu einem Abfall des Auftriebs, starker Erhöhung des Widerstands und großer Blattbeanspruchung durch Torsionsmomente. Dies äußert sich etwa in starken Schwingungen und erschwert so dem Piloten die Kontrolle über den Hubschrauber. Für einen typischen Rotordurchmesser von 10 m bedeutet dies, dass der Rotor nicht mehr als ca. 11 Umdrehungen pro Sekunde (das sind 660 Umdrehungen pro Minute) ausführen kann, ohne dass in den Außenbereichen der Rotorblätter die Schallgeschwindigkeit (ca. 343 m/s bei 20 °C) überschritten wird. Typische Drehzahlen des Rotors im Betrieb liegen daher deutlich unter diesem Wert. Häufig wird die Geschwindigkeit eines Hubschraubers jedoch durch das rücklaufende Rotorblatt begrenzt: Hier führt die Kombination aus hohem Anstellwinkel (zyklische Verstellung, s. o.) und geringer Strömungsgeschwindigkeit zum Strömungsabriss und damit zum Auftriebsverlust. Viele Hubschrauber kippen daher beim Erreichen der kritischen Geschwindigkeit zuerst auf die Seite, auf der sich die Rotorblätter nach hinten drehen, bevor die nach vorne drehenden Blätter in den Überschallbereich gelangen. Auch die Gipfelhöhe ist begrenzt und liegt typisch etwa bei 5.000 Metern, wobei einzelne Modelle bis zu 9.000 Meter erreichen. Der FAI-Höhenrekord von 12.442 m wurde im Juni 1972 von Jean Boulet mit einer Aérospatiale SA-315 aufgestellt. Erst im März 2002 wurde er durch einen Flug von Fred North mit einem Eurocopter AS 350 überboten (12.954 m), der allerdings bisher (2012) von der FAI nicht als offizieller Rekord anerkannt wurde. Der Kraftstoffverbrauch eines Hubschraubers liegt bei gleicher Zuladung auf die Flugstrecke bezogen meist deutlich über dem eines Tragflächenflugzeugs. Ein Vorteil des Hubschraubers liegt hingegen in der Fähigkeit, in der Luft stehen zu bleiben (Schwebeflug, auch Hover genannt), rückwärts oder seitwärts zu fliegen sowie sich im langsamen Flug um die Hochachse (Gierachse) zu drehen. Weiterhin kann er senkrecht starten und landen (VTOL) und benötigt daher keine Start- und Landebahn. Steht kein regulärer Hubschrauberlandeplatz zur Verfügung, reicht dazu bereits ein ebener und hindernisfreier Platz von ausreichendem Durchmesser. Rekorde (Auswahl) Die NASA hat den 1,8 kg schweren kleinen Helikopter Ingenuity zum Flug in der Marsatmosphäre bauen lassen. Dieser flog dort erstmals am 19. April 2021. Die Dichte der Marsatmosphäre gleicht schon beim Abheben an der Marsoberfläche der geringen Dichte der Erdatmosphäre in 30.500 m Höhe. Allerdings beträgt die Fallbeschleunigung auf dem Mars (3,71 m/s²) nur etwa ein Drittel derer auf der Erde (9,81 m/s²). Verwendung Der Betrieb eines modernen Hubschraubers ist im Vergleich zu einem Flächenflugzeug mit vergleichbarer Zuladung deutlich teurer. Dennoch ergeben sich durch seine Fähigkeit, auf unvorbereitetem Gelände landen, starten und darüber schweben zu können, eine Reihe zusätzlicher Einsatzgebiete, unterscheidbar in zivile und militärische. Zivile Verwendung Die häufigste Verwendung in Mitteleuropa ist, gemessen am Flugstundenaufkommen, mit Abstand der Arbeitsflug. Dazu zählen die Überwachung von Strom-, Gas- und Öltransportleitungen, Flüge in der Forst- und Landwirtschaft (Agrarflug, etwa das Ausbringen von Pflanzenschutzmitteln oder Dünger), Außenlastflüge, Vermessungsflüge, Bildflüge, Waldbrandbekämpfung etc. Das Spannen einer Vorausleine für das Seilziehen einer Seilbahn, Freileitung oder Seilbrücke kann auch mit einem Modellhubschrauber erfolgen. Zum Trimmen von Baumbewuchs an Freileitungstrassen wird ein verdrehfest vom Helikopter hängendes Schwert mit acht großen Kreissägeblättern verwendet. Ein Militärhubschrauber wurde eingesetzt, um per Abwind (downwash) außerordentlich starken Schneebelag, der Äste zum Brechen bringen könnte, von Bäumen entlang einer gesperrten Bahntrasse zu blasen. Ein weiteres wichtiges Einsatzfeld ist die Luftrettung mit dem Rettungshubschrauber, wofür es allein in Deutschland über 70 Stützpunkte gibt. Weitere Spezialisierungen stellen Intensivtransporthubschrauber, Großraum-Rettungshubschrauber, Notarzteinsatzhubschrauber und Bergrettungsdienst dar. Auch bei der Polizei sind Hubschrauber zu einem wichtigen unterstützenden Faktor geworden, zum Beispiel bei der Vermisstensuche, Verbrechensbekämpfung oder Brandbekämpfung mittels Löschwasser-Außenlastbehälter. Für den zivilen Passagiertransport werden Transporthubschrauber eingesetzt, etwa bei Bohrinseln, wo sie ein wichtiges Element der Logistik darstellen. Eine weitere Anwendung ist der Frachttransport, wenn Güter schnell direkt an einen bestimmten Ort zu bringen sind. Im Hochgebirge ist der Transport von Baumaterial und Bauteilen mangels geeigneter Landwege oft wichtig für die Errichtung und Versorgung von alpinen Einrichtungen. Gleiches gilt für Montagearbeiten an unzugänglichen Stellen; mitunter werden Hubschrauber dort auch als Baukran eingesetzt. Alpine Schutzhütten, die nicht mit Fahrzeugen erreichbar sind und bis in die siebziger Jahre mit Tragtieren oder bei schwierigeren Zugangswegen mit Trägern versorgt wurden, erhalten heute den Lebensmittelnachschub und die Entsorgung überwiegend mit dem Hubschrauber. In nichtmechanisierbaren steilen Weinbergen werden Pflanzenschutzmittel zum Teil von Hubschraubern versprüht. Im Touristikbereich werden Rundflüge und Heliskiing angeboten. Eine weitere Verwendung von Hubschraubern ist der Kunstflug, bei dem die hohe Belastbarkeit moderner Hubschrauberkonzepte, vor allem der Rotoren und deren Steuerung, demonstriert wird. In Deutschland sind 729 Hubschrauber zugelassen (Stand Ende 2017). Sie haben die Kennzeichenklasse H, tragen also ein Luftfahrzeugkennzeichen der Form D-Hxxx. Militärische Verwendung Neben dem überwiegenden Einsatz als Transporthubschrauber zum Truppentransport findet man als weitere typische militärische Anwendungen den Kampf gegen Bodenziele, die Panzerabwehr durch spezialisierte Kampfhubschrauber wie den Eurocopter Tiger, den Hughes AH-64 oder den Mil Mi-24, die Artilleriebeobachtung, Combat Search and Rescue (CSAR, deutsch ‚Suchen/Retten im Gefecht‘), die Flugabwehr (Bordkanone, Luft-Luft-Rakete) und Einsätze bei der Marine zur U-Jagd, Seeaufklärung und Seenotrettung (SAR – Search and Rescue). Andere Verwendung Am 23. September 2009 wurde beim Helikopterraub von Västberga in Schweden ein Hubschrauber für einen Überfall auf ein Gelddepot verwendet. Die Täter landeten mit diesem auf dem Dach des Gebäudes, drangen über ein Dachfenster ein und entkamen mit umgerechnet etwa 4,1 Millionen Euro. Pilotenlizenzen Das Steuern eines Hubschraubers erfordert spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten, die sich teils stark von denen unterscheiden, die für Flugzeuge benötigt werden. Es gibt in Deutschland vier Typen von Pilotenlizenzen: Privatpilotenlizenz – PPL (H) Berufspilotenlizenz – CPL (H) Verkehrspilotenlizenz – ATPL (H) diverse militärische Pilotenlizenzen. Unfälle Verglichen mit Tragflächenflugzeugen weisen Hubschrauber eine deutlich höhere Unfallhäufigkeit auf: Zwischen 1980 und 1998 verzeichnete die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) bei Hubschraubern statistisch pro einer Million Abflüge 54 Unfälle mit sechs Toten, bei Tragflächenflugzeugen lediglich zehn Unfälle mit 1,6 Toten. Die Unfallursachen liegen dabei anteilig mit über 80 % im menschlichen Versagen. Aus Sicht der Technik sind Hubschrauber nicht unsicherer als Tragflächenflugzeuge und werden unter den gleichen Zuverlässigkeitsforderungen ausgelegt und zugelassen. Die höhere Unfallgefahr kann mehr durch die Einsatzbedingungen erklärt werden: Rettungsdienste und Militär können einen Einsatzort nicht vorher bestimmen, Hindernisse wie Antennen oder Stromleitungen sind dem Piloten dann teilweise unbekannt. Einsätze im Hochgebirge, wie Lastentransport und Bergrettung, können wiederum durch die geringere Luftdichte und Abwinde den Antrieb an die Leistungsgrenze bringen. Bei dessen Ausfall sind zudem die Bedingungen für eine Autorotations-Landung häufig schlecht. Optionale Seilschneider oberhalb und unterhalb der Kabine können in bestimmten Situation Seile durchschneiden, um Unfälle zu verhindern. Seile von Stromleitungen, Mastabspannungen und Seilbahnen sind nur teilweise markiert und auf 50.000er-Detailkarten verzeichnet und stellen eine besondere Gefahr bei niedrigen Flügen dar. Technik-Artikel Weitere Details zu Bauweise und Technik von Hubschraubern finden sich in diesen Artikeln: Varianten der Bauweise zum Drehmomentausgleich Heckrotor-Konfiguration – Hubschrauber mit seitlichen Rotoren – Tandem-Konfiguration – Koaxialrotor – Flettner-Doppelrotor – Blattspitzenantrieb Verwandte Flugzeug-Bauweisen Tragschrauber – Flugschrauber – Wandelflugzeug – Senkrechtstarter – VTOL Rotor Hauptrotor – Rotorkopf – Taumelscheibe – Schlaggelenk – Schwenkgelenk Schwebeflug Landevorrichtung Hubschraubertriebwerk Modellhubschrauber Wichtige Hersteller Europa: Deutschland/Frankreich/EU: Airbus Helicopters (bis 2013: Eurocopter Group): Tochter des europäischen Luft- und Raumfahrtkonzerns Airbus Group, in der u. a. die deutschen Vereinigten Flugtechnischen Werke (VFW) und Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB) sowie Aérospatiale und Sud Aviation aus Frankreich aufgegangen sind. Airbus Helicopters beschäftigt rund 14.000 Mitarbeiter, im Jahr 2006 wurden 615 Hubschrauber neu bestellt, der Marktanteil weltweit beträgt etwa 30 Prozent. Aktuell sind etwa 9800 Hubschrauber in 140 Ländern in Betrieb. Italien/Vereinigtes Königreich: AgustaWestland (früher Agusta in Turin, Westland Aircraft in Yeovil) Polen: Państwowe Zakłady Lotnicze (PZL) Russland: Mil Kamow Asien: Indien: Hindustan Aeronautics Limited (HAL) Afrika: Südafrika: Denel Nordamerika: USA: Bell Helicopter Robinson Helicopter Enstrom Schweizer Aircraft Corporation Kaman MD Helicopters Boeing Vertol Sikorsky Südamerika: Brasilien: Helibras (war Teil der Eurocopter Group, die Januar 2014 in Airbus Helicopters (s. o.) aufging) Siehe auch :Kategorie:Hubschrauberhersteller Liste der Hubschraubertypen Bodeneffekt Heli-Expo :Kategorie:VTOL-Flugzeug Literatur In chronologischer Sortierung: Engelbert Zaschka: Drehflügelflugzeuge. Trag- und Hubschrauber. C. J. E. Volckmann Nachf. E. Wette, Berlin-Charlottenburg 1936, , . Rolf Besser: Technik und Geschichte der Hubschrauber. Von Leonardo da Vinci bis zur Gegenwart. Bernard & Graefe, Bonn 1996, ISBN 3-7637-5965-4. Hans-Liudger Dienel: Verkehrsvisionen in den 1950er Jahren: Hubschrauber für den Personenverkehr in Deutschland. In: Technikgeschichte. Band 64, H. 4, 1997, S. 287–303. Kyrill von Gersdorff, Kurt Knobling: Hubschrauber und Tragschrauber. Bernard & Graefe, Bonn 1999, ISBN 3-7637-6115-2. Heinrich Dubel: Helikopter Hysterie Zwo. Fantôme, Berlin 2011, ISBN 978-3-940999-18-4. Steve Coates, Jean-Christophe Carbonel: Helicopters of the Third Reich. Ian Allen, 2003, ISBN 1-903223-24-5 (englisch). Ernst Götsch: Luftfahrzeugtechnik. Motorbuchverlag, Stuttgart 2003, ISBN 3-613-02006-8. Walter J. Wagtendonk: Principles of helicopter flight. Aviation Supplies & Acad., Newcastle 2003, ISBN 1-56027-217-1 (englisch). Yves Le Bec: Die wahre Geschichte des Helikopters. Von 1486 bis 2005. (Originaltitel: La véritable histoire de l’hélicoptère.) Vorwort von Jean Boulet. Ducret, Chavannes-près-Renens 2005, ISBN 2-8399-0100-5. Walter Bittner: Flugmechanik der Hubschrauber. Technologie, das flugdynamische System Hubschrauber, Flugstabilitäten, Steuerbarkeit. Springer, Berlin 2005, ISBN 3-540-23654-6. Marcus Aulfinger: Hubschrauber-Typenbuch. Motorbuchverlag, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-613-02777-0. J. Gordon Leishman: Principles of helicopter aerodynamics. Cambridge University Press, Cambridge 2008, ISBN 978-0-521-85860-1 (englisch). Helmut Mauch: Das große Buch der Hubschrauber. Geschichte, Modelle, Einsatz. GeraMond, München 2009, ISBN 978-3-7654-7001-1. Hans-Joachim Polte: Hubschrauber. Geschichte, Technik, Einsatz. 5., völlig neu überarbeitete und erweiterte Auflage. Mittler, Hamburg/ Berlin/ Bonn 2011, ISBN 978-3-8132-0924-2. Film Himmelsreiter – Die Geschichte der Hubschrauber. Dokumentation, Deutschland, 2006, 52 Min., Regie: Mario Göhring, Peter Bardehle, Produktion: NDR, Arte, Erstsendung: 19. April 2006 Professor Oehmichens fliegende Maschinen. Dokumentation, Frankreich, 2009, 52 Min., Regie: Stephane Begoin; Produktion: arte F, Erstsendung: 20. Juni 2009, von arte History of Helicopters – Helicopter Invention Documentary Film youtube.com, Video 44:21, History TV Channel, 9. März 2015, abgerufen am 13. Oktober 2017. – Vom Spielzeug in China, Technik für bemannten Flug und ein erster unbemannter Heli. Mit Sergei Sikorsky. Weblinks Hubschrauber/Helikopter. Fotos und Angaben über 80 zivile und militärische Hubschrauber, Technik, Lexikon und Geschichte der Fliegerei. . Übersicht auf: flugzeuginfo.net. Zivile und militärische Hubschrauber, Daten und Fotos. The Helicopter: A hundred Years of Hovering. Wired (englisch). Einzelnachweise Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hei%C3%9Fluftballon
Heißluftballon
Ein Heißluftballon ist ein Luftfahrzeug, das den statischen Auftrieb heißer Luft in seinem Inneren nutzt. In der Ballonhülle wird eine große Luftmenge erwärmt. Dadurch dehnt sich die Luft aus, was ihr spezifisches Gewicht reduziert. Der Ballon hebt ab, wenn der Auftrieb der erwärmten Luftmenge der Gewichtskraft von Hülle, Korb und Nutzlast entspricht. Der Heißluftballon besitzt keine Tragestruktur – der Korb hängt (über Seile) an der Hülle oder diese wird von Seilen umspannt, an denen der Korb hängt. Bemannte Ballons werden üblicherweise mit Propan-Gasbrennern betrieben. Die sogenannten Kuhbrenner sind besonders leise. Abgrenzung zu anderen Fluggeräten Im Gegensatz zum Heißluftballon wird beim Gasballon nicht Luft verwendet, sondern ein anderes Gas, das bereits bei Umgebungstemperatur leichter als Luft ist. Es wird üblicherweise nicht erhitzt. Der Solarballon erhitzt die Innenluft durch Sonneneinstrahlung. Ein Heißluft-Luftschiff hat wie alle Luftschiffe einen Antrieb, im Gegensatz zum Ballon. Bauweise Ein Heißluftballon besteht aus: Ballonhülle mit Trag- und Steuerseilen Weidenkorb mit Anbindung an die Tragseile Brenner mit Rahmen, Gasflaschen, Ventile, Schlauchverbindungen Variometer, GPS-Navigationsausrüstung, Funkgerät mit Transponder Zum Aufbau wird ein Ventilator benötigt. Alle Teile werden meist in einen Transport-Anhänger verladen, der vom Verfolger-Fahrzeug gezogen wird. Geschichte Nach den viel älteren Fesseldrachen, die teilweise auch bemannt waren, ist der Heißluftballon das älteste Luftfahrzeug. Allerdings gab es schon in China kleine, unbemannte Heißluftballons, die sogenannten Kong-Ming-Laternen. Die Beobachtung, dass Rauch und heiße Luft nach oben steigt, führte immer wieder zu Versuchen mit erwärmter Luft. Der Jesuitenpater Bartolomeu de Gusmão führte zeitgenössischen Berichten zufolge einige Ballon-Modelle am portugiesischen Hof vor und erbat von König Johann V. ein Patent. Den Schritt von eher spielerischen Modellen zum praktisch nutzbaren Luftfahrzeug leisteten die Brüder Joseph Michel und Jacques Etienne Montgolfier, die deshalb als Erfinder des Heißluftballons gelten. Deren erste Ballonfahrt fand am 4. oder 5. Juni 1783 statt, Menschen waren nicht an Bord. Die zweite Fahrt fand am 19. September in Versailles statt. Weil man der Sache aber noch nicht richtig traute, und auch noch nichts über das „Luftmeer“ wusste, zog man es vor, statt Menschen drei Tiere, nämlich einen Hahn, eine Ente und einen Hammel zu befördern. Heißluftballons wurden nach ihren Erfindern auch Montgolfièren genannt. Die ersten Ballonfahrer in der Menschheitsgeschichte waren Jean-François Pilâtre de Rozier und der Gardeoffizier François d’Arlandes, die am 21. November 1783 aus dem Garten des Schlosses La Muette bei Paris mit einem Heißluftballon aufstiegen. Die erste bekannte Ballonfahrt außerhalb Frankreichs wurde von Don Paolo Andreani und den Brüdern Agostino und Carlo Gerli am 25. Februar 1784 in der Nähe von Mailand unternommen. Zuvor experimentierte Ulrich Schiegg unter dem Eindruck der Versuche der Gebrüder Montgolfier mit Heißluftballons und konnte im Kloster Ottobeuren am 22. Januar 1784 den ersten (unbemannten) Ballonstart Deutschlands durchführen. 1979 gelang zwei thüringischen Familien mit einem selbst gebauten Heißluftballon die „Ballonflucht“ aus der DDR in die Bundesrepublik. Eine Fahrt bis in eine Höhe von 69.852 Fuß (über 21 Kilometer) gelang am 26. November 2005 dem indischen Millionär Vijaypat Singhania. Sein Start erfolgte in Mumbai, Landeort war die Stadt Sinnar im Bundesstaat Maharashtra. Funktionsweise Physik Unter Normalbedingungen bei 0 °C auf Meereshöhe besitzt ein Kubikmeter Luft eine Masse von etwa 1,3 kg. Bei konstantem Druck sinkt die Dichte von Gasen umgekehrt proportional zur steigenden Temperatur, nach dem Gesetz von Gay-Lussac. Durch den Dichteunterschied der kälteren äußeren Luft und der wärmeren Luft im Ballon entsteht so eine Auftriebskraft. Diese wirkt der Schwerkraft (dem Gewicht) des Heißluftballons entgegen. Das Gewicht des Heißluftballons setzt sich zusammen aus dem Gewicht der Ballonhülle plus dem Gewicht der ihm angehängten Nutzlast (Korb mit Brenner, Gasbehältern und Insassen). Für eine erste grobe Abschätzung der Tragkraft eines Ballons kann dieser als Kugel betrachtet werden. Da das Volumen einer Kugel (und damit der Auftrieb des Ballons) mit der dritten, die Oberfläche (und damit das Gewicht der Hülle) aber nur mit der zweiten Potenz des Durchmessers zunimmt, kann ein größerer Ballon eine größere Nutzlast tragen. Verfeinerte Betrachtungen beziehen die Umstände mit ein, dass mit steigendem Ballondurchmesser schwerere Brenner und festere Hüllen benötigt werden. Gängige Größen sind 3.000 bis 10.000 Kubikmeter. Die Temperatur im Innern eines Heißluftballons beträgt während einer Ballonfahrt zwischen 70 und 125 °C, je nach Stoffart, Zuladung und Außentemperatur. Da der Auftrieb mit zunehmendem Dichteunterschied der inneren Luft zur Umgebungsluft wächst, hat ein Heißluftballon in tieferen Luftschichten mit höherem Luftdruck und bei kälteren Außentemperaturen eine größere maximale Tragkraft. Die Hülle gibt Wärme an die deshalb daran langsam hochstreichende Außenluft ab; zusätzlich strahlt sie Wärme rundum ab, während Sonnenstrahlung von einer Seite erwärmen kann. Berechnung der vom Ballon erreichten Höhe bei gegebenem Druck in Bodenhöhe und annähernd konstanter Temperatur: Die Auftriebskraft steht im Gleichgewicht mit der Summe von Gewichtskraft des Ballons und Gewicht der Luft im Ballon: I) Für den Verlauf des Außendrucks in Abhängigkeit von der Höhe gilt die barometrische Höhenformel: II) Aus I und II folgt folgende Formel für die Höhe des Ballons: III) Dabei ist g die Fallbeschleunigung von rund 9,81 m/s^2 und R_L die spezifische Gaskonstante von rund 287 J/kg/K. Ballonwetter Start und Landung eines Heißluftballons werden leicht durch Wind beeinträchtigt. Durch die große Angriffsfläche der Ballonhülle treten potentiell große Kräfte auf. Wenn der Auftrieb schon groß ist, aber noch nicht ausreicht, um den Ballon vollständig abheben zu lassen, wird die Gondel buchstäblich über den Boden geschleift. Dies kann bei Hindernissen die Insassen der Gondel gefährden. Ballonfahrten werden daher grundsätzlich nur bei Windstille oder schwachem Wind am Boden gestartet. Abgesehen von der Windgeschwindigkeit bei Start und Landung ist das Ballonfahren auch davon abhängig, dass sich in der Luft keine starke Thermik aufgebaut hat. Da die Ballonhülle nach unten offen ist, könnten thermische Böen diese zusammendrücken und die Heißluft nach unten heraus pressen. Der Ballon verliert damit einen Teil seines Auftriebs. Dadurch beginnt er schnell zu sinken. Dies erzeugt zusätzlichen Fahrtwind von unten, der die Hülle weiter komprimiert und mehr Heißluft heraus presst. Dies kann zu einem sich selbst beschleunigenden Absturz führen, der auch durch maximale Wärmezufuhr durch den Brenner nicht aufzuhalten ist. Seitliche Böen, wie sie beim Durchgang einer meteorologischen Front auftreten, können ebenfalls den Ballon verformen und Heißluft herausdrücken. Auch weniger starke Thermik geht grundsätzlich mit steigenden und sinkenden Luftmassen einher. Dies führt zu der Notwendigkeit, mehr zu heizen, um die gewünschte Höhe zu halten. Mit gleicher Gasmenge kann ein Heißluftballon sich daher ohne Thermik länger in der Luft halten. Haufenwolken sind ein sicheres Anzeichen für Thermik oder den Durchgang einer Kaltfront. Massive Nimbostratus-Wolken treten beim Durchgang einer Warmfront auf. Bei tiefliegenden Schichtwolken ist zwar in der Regel die Luft ruhig, aber es fehlt die Sicht. Hoch liegende Cirrus-Wolken sind dagegen kein Anzeichen für unruhige Luft. Deshalb finden Ballonfahrten bevorzugt bei ruhiger Wetterlage und weitgehend wolkenlosem Himmel statt. Im Sommer heizt die Sonne den Boden im Laufe des Tages auf. Die aufsteigende warme Bodenluft erzeugt Thermik, die sich bis zum frühen Nachmittag verstärkt und dann mit sinkendem Sonnenstand wieder nachlässt. Die Morgen- und Abendstunden sind daher häufig besonders geeignet für eine sichere Ballonfahrt. Steuerung Es ist nicht möglich, einen Ballon direkt zu steuern. Um auf die Fahrtrichtung und -geschwindigkeit Einfluss zu nehmen, werden die sich in unterschiedlichen Höhen voneinander unterscheidenden Windrichtungen und -geschwindigkeiten ausgenutzt. Durch gezieltes Steigen oder Sinken können Winde so ausgenutzt werden, um sich einem gewünschten Ziel zu nähern. Durch Betätigung des Brenners wird die Luft in der Hülle erwärmt, wodurch der Ballon steigt. Durch langsames Abkühlen der Luft beginnt der Ballon wieder zu sinken. Ein rasches Sinken des Ballons kann durch das Öffnen des sogenannten „Parachutes“ erfolgen. Der Parachute ist aus demselben Material wie die Hülle und befindet sich an der Spitze des Ballons. Während des Aufrüstens wird der Parachute durch Klettverschlüsse mit der umgebenden Hülle verbunden und geschlossen. Während der Fahrt bleibt der Parachute durch den Druck der aufsteigenden warmen Luft geschlossen. Durch Ziehen an einem Seil kann der Pilot den Parachute öffnen. Dadurch kann warme Luft schnell aus der Hülle entweichen. Durch Loslassen der Leine wird der Parachute wieder durch die warme Luft geschlossen. Mittels tangentialem Luftaustritt durch Luftschlitze nahe dem Ballonäquator, welche auch „Drehventile“ genannt werden und per Seilzug aus dem Ballonkorb bedient werden, kann ein Ballon um seine Hochachse gedreht werden, etwa um den Korb zur Landung günstig auszurichten oder dem Piloten freie Sicht in die Fahrtrichtung zu gewähren. Praxis Ballonfahren Ballonsport Ballonfahren ist nicht nur eine Freizeitaktivität, sondern es gibt auch Wettbewerbe bis hin zur Weltmeisterschaft. Bei den Wettbewerben werden mehrere Ballonfahrten durchgeführt, bei denen je Fahrt meist mehrere Aufgaben bestmöglich gelöst werden müssen. Ein bekannter Ballonwettbewerb ist die Montgolfiade. Bei den meisten Aufgabentypen kommt es darauf an, mit einem kleinen Markierungsbeutel (Beanbag, Marker) ein bestimmtes Ziel zu treffen. Das Ziel ist entweder bereits vor der Fahrt bekannt („Vorgegebenes Ziel“) oder wird vom Piloten vor der Fahrt („Selbstgewähltes Ziel“) oder währenddessen bestimmt und auf den Marker einer vorherigen Aufgabe geschrieben („Fly on“). Weitere Aufgabentypen sind beispielsweise die Weitfahrt innerhalb eines begrenzten Wertungsgebietes („Maximum Distance“) oder aber auch die „Minimum Distance“ mit „Zeitvorgabe“, bei der der Pilot gewinnt, der nach einer vorgegebenen Mindestfahrtzeit die kürzeste Strecke zurückgelegt hat. Bei der „Fuchsjagd“ startet ein Ballon, der in der Regel mit einer Flagge gekennzeichnet wird, mit einem gewissen Zeitvorsprung und legt am Landeort ein Zielkreuz für die nachfolgenden Ballons aus, an dem die nachfolgenden Ballonfahrer möglichst nah zu landen haben. Die Wettbewerbsleitung wird dabei von Schiedsrichtern („Observer“) unterstützt. Jedem Piloten und seinem Team wird pro Fahrt ein Observer zugeteilt. Die Observer messen die Marker ein und beobachten, ob während der Fahrt alles gemäß den FAI-Regeln abgelaufen ist. Wettbewerbsballons Als Wettbewerbsballons bzw. Racer werden Ballons von 1600–2600 m³ bezeichnet. Sie sind damit kleiner als übliche Ballons, mit denen man auch an Wettbewerben teilnehmen kann. Racer sind zudem sehr viel schlanker und können damit sehr viel schneller steigen oder sinken, ohne dass ein Fallschirmeffekt durch die Hülle entsteht. Unfälle Eine Liste hierzu findet sich im Artikel Liste von Ballonunglücken. Literatur Heinz Straub: Fliegen mit Feuer und Gas. AT Verlag Aarau (Schweiz) 1984, ISBN 3-85502-187-2 Lennart Ege: Ballons und Luftschiffe. Orell Füssli Verlag Zürich (Schweiz) 1973, ISBN 3-280-00647-3 Guido Petter, Beatrice Garau: Ballons und Zeppeline. Arena Verlag Georg Popp Würzburg 1980, ISBN 3-401-00506-5 Jean-Jacques Becker, Daniela Comi, Roberto Magni: Mongolfiere. Storia, evoluzione e grandi avventure. White Star, Vercelli & München 2009 ISBN 88-540-1364-1 (In Italienisch) Volker Löschhorn: Ballonfahren Motorbuch 2012, ISBN 978-3-613-03427-3 Angelika Fink, Thomas Fink: Ballonfahren basics. Technik, Ausbildung, Ausrüstung Motorbuch 2000, ISBN 978-3-613-50347-2 Thomas Oeding: Outdoor Ballonfahren. Basiswissen für Draussen Conrad Stein Verlag 2000, ISBN 978-3-89392-502-5 Weblinks Deutscher Freiballonsport-Verband e. V. Einzelnachweise Ballon ang:Ballōn (lyftcræft)#Hātlyftballōn
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https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%84gyptische%20Hieroglyphen
Ägyptische Hieroglyphen
Die ägyptischen Hieroglyphen (, ) sind die Zeichen des ältesten bekannten ägyptischen Schriftsystems, das von etwa 3200 v. Chr. bis 394 n. Chr. im Alten Ägypten und in Nubien für die früh-, alt-, mittel- und neuägyptische Sprache sowie für das sogenannte ptolemäische Ägyptisch benutzt wurde. Die ägyptischen Hieroglyphen hatten ursprünglich den Charakter einer reinen Bilderschrift. Im weiteren Verlauf kamen Konsonanten- und Sinnzeichen hinzu, so dass sich die Hieroglyphenschrift aus Lautzeichen (Phonogrammen), Bildzeichen (Ideogrammen) und Deutzeichen (Determinativen) zusammensetzt. Mit ursprünglich etwa 700 und in der griechisch-römischen Zeit etwa 7000 Zeichen gehören die ägyptischen Hieroglyphen zu den umfangreicheren Schriftsystemen. Von den vielen tausend Zeichen verwendet ein Schreiber der Ramessidenzeit nur höchstens um die 700. Eine Reihenfolge ähnlich einem Alphabet existierte ursprünglich nicht. Erst in der Spätzeit wurden Einkonsonantenzeichen vermutlich in einer alphabetischen Reihenfolge angeordnet, die große Ähnlichkeiten mit den südsemitischen Alphabeten zeigt. Name Die Bezeichnung „Hieroglyphen“ ist die eingedeutschte Form des altgriechischen oder ‚heilige Einkerbungen‘, das aus und , zusammengesetzt ist. Diese Bezeichnung ist die Übersetzung des ägyptischen zẖꜣ n.j mdw.w nṯr ‚Schrift der Gottesworte‘, das die göttliche Herkunft der Hieroglyphenschrift andeutet. Geschichte Frühzeit und Entstehung Nach der altägyptischen Überlieferung hat Thot, der Gott der Weisheit, die Hieroglyphen geschaffen. Die Ägypter nannten sie daher „Schrift der Gottesworte“. Die Anfänge dieser Schrift lassen sich bis in die prädynastische Zeit zurückverfolgen. Die früher gewöhnlich zugunsten der Keilschrift entschiedene Frage, ob die sumerische Keilschrift oder die ägyptischen Hieroglyphen die früheste menschliche Schrift darstellen, muss wieder als offen gelten, seit die möglicherweise bislang ältesten bekannten Hieroglyphenfunde aus der Zeit um 3200 v. Chr. (Naqada III) in Abydos aus dem prädynastischen Fürstengrab U‑j zum Vorschein gekommen sind. Die nach Meinung Günter Dreyers voll ausgebildeten Hieroglyphen befanden sich auf kleinen Täfelchen, die – an Gefäßen befestigt – vermutlich deren Herkunft bezeichneten. Einige der frühen Zeichen ähneln sumerischen Schriftzeichen. Daher ist eine Abhängigkeit nicht ganz auszuschließen, aber auch in umgekehrter Richtung möglich. Diese Fragen werden kontrovers diskutiert. Die Hieroglyphenschrift begann offenbar als Notationssystem für Abrechnungen und zur Überlieferung wichtiger Ereignisse. Sie wurde rasch mit den zu kommunizierenden Inhalten weiterentwickelt und tritt bereits in den ältesten Zeugnissen als fertiges System auf. Verbreitung Die ägyptischen Hieroglyphen wurden zunächst überwiegend in der Verwaltung, später für alle Belange in ganz Ägypten benutzt. Außerhalb Ägyptens wurde diese Schrift regelmäßig nur im nubischen Raum verwendet, zunächst zur Zeit der ägyptischen Herrschaft, später auch, als dieses Gebiet eigenständig war. Um 300 v. Chr. wurden die ägyptischen Hieroglyphen hier von einer eigenen Schrift der Nubier abgelöst, der meroitischen Schrift, deren einzelne Zeichen jedoch ihren Ursprung in den Hieroglyphen haben. Die althebräische Schrift des 9. bis 7. Jahrhunderts v. Chr. benutzte die hieratischen Zahlzeichen, war ansonsten aber ein von der phönizischen Schrift abgeleitetes Konsonantenalphabet. Mit den Staaten des Vorderen Orients wurde vorwiegend in akkadischer Keilschrift kommuniziert. Es ist anzunehmen, dass sich die Hieroglyphen wesentlich schlechter zur Wiedergabe fremder Begriffe oder Sprachen eigneten als die Keilschrift. Wie groß der Anteil der Schriftkundigen an der Bevölkerung Ägyptens war, ist unklar, es dürfte sich nur um wenige Prozent gehandelt haben: Die Bezeichnung „Schreiber“ war lange synonym mit „Beamter“. Außerdem gab es in griechischer Zeit in den Städten nachweislich viele hauptberufliche Schreiber, die Urkunden für Analphabeten ausstellten. Späte Tradition und Untergang Von 323 bis 30 v. Chr. beherrschten die Ptolemäer (makedonische Griechen) und nach ihnen das römische und byzantinische Reich Ägypten, die Verwaltungssprache war deshalb Altgriechisch. Das Ägyptische wurde nur noch als Umgangssprache der eingesessenen Bevölkerung benutzt. Trotzdem wurde die Hieroglyphenschrift für sakrale Texte und das Demotische im Alltag verwendet. Die Kenntnis der Hieroglyphen wurde auf einen immer enger werdenden Kreis beschränkt, dennoch wurden ptolemäische Dekrete oft in Hieroglyphen geschrieben. So enthalten ptolemäische Dekrete die Bestimmung, dass sie „in Hieroglyphen, der Schrift der Briefe (d. h.: Demotisch) und in griechischer Sprache“ veröffentlicht werden sollten. Gleichzeitig wurden die Zeichen auf mehrere Tausend vervielfacht, ohne dass das Schriftsystem als solches geändert wurde. In dieser Form begegneten interessierte Griechen und Römer dieser Schrift in der Spätantike. Sie übernahmen bruchstückhaft Anekdoten und Erklärungen für Lautwert und Bedeutung dieser geheimen Zeichen und gaben sie an ihre Landsleute weiter. Mit der Einführung des Christentums gerieten die Hieroglyphen endgültig in Vergessenheit. Die letzte datierte Inschrift, das Graffito des Esmet-Achom, stammt von 394 n. Chr. Aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. stammt die Hieroglyphica des spätantiken Philosophs Horapollon, die eine Mischung aus richtigen und falschen Informationen zur Bedeutung der Hieroglyphen enthält, indem sie auch phonetische Zeichen als Logogramme auffasst und durch sachliche Übereinstimmungen zwischen Bild und Wort erklärt. Entzifferung Altägyptische Schriftsysteme Je nach Schreibmaterialien und Verwendungszweck lassen sich verschiedene Schriften unterscheiden: zunächst die Hieroglyphen und eine kursive Variante, das Hieratische. Obwohl die Zeichen unterschiedliche Formen annahmen, blieb das Funktionsprinzip der Hieroglyphenschrift erhalten. Die viel jüngere demotische Schrift stammt wiederum von der hieratischen Schrift ab und hat nur noch wenig Ähnlichkeit mit den Hieroglyphen. Hieroglyphen Hieroglyphen sind eine auf die Verwendung an Tempel- und Grabwänden ausgerichtete Monumentalschrift. Das Schriftsystem enthält neben orthographischen Aspekten viele Eigenheiten, die sich ausschließlich mit der ornamentalen Wirkung, der Platzausnutzung oder magischen Sichtweisen erklären lassen. Wie einige besonders gut erhaltene Beispiele noch zeigen – so etwa die Inschriften in den Gräbern im Tal der Könige –, wurden die Hieroglyphen ursprünglich vielfach farbig geschrieben. Die Farbe entsprach teils der Naturfarbe des dargestellten Gegenstandes, teils war sie rein konventionell festgelegt. In Einzelfällen konnte allein die Farbe zwei ansonsten formgleiche Schriftzeichen unterscheiden. Dies gilt besonders für mehrere Hieroglyphen mit rundem Umriss. Ägyptische Wörter werden auch innerhalb eines Textes durchaus variabel geschrieben. Die Hieroglyphenschrift ist trotz der starken Bildhaftigkeit, derer sich die Ägypter bewusst waren, kaum eine Bilderschrift. Hieratische Schrift Die hieratische Schrift ist ebenso alt wie die Hieroglyphenschrift. Sie ist eine kursive Variante der Hieroglyphenschrift, die zum Schreiben mit einer Binse auf Papyrus oder ähnlich geeignetem Material (wie Ostraka aus Kalkstein oder Ton) konzipiert war. Zunächst wurde sie auch für allgemeine Texte verwendet, religiöse Texte wurden im Mittleren Reich teilweise auf Papyrus in Hieroglyphen geschrieben; erst mit der Einführung des Demotischen als Alltagsschrift wurde sie auf die Niederschrift religiöser Texte beschränkt. Daher rührt auch ihr von Herodot überlieferter griechischer Name. Das Hieratische bildet die gleichen Elemente wie die Hieroglyphen ab. Dadurch, dass sie schnell geschrieben wurden, flossen die Zeichen häufiger ineinander und abstrahierten im Laufe der Zeit immer stärker von den bildhaften Hieroglyphen; dennoch blieben die Prinzipien des Schriftsystems die gleichen. Die folgende Tabelle stellt einigen Hieroglyphen ihre hieratischen Entsprechungen gegenüber: Kursivhieroglyphen Am Ende des Alten Reiches spaltete sich aus dem frühen Hieratisch eine Schriftform ab, die auf Särge und Papyri geschrieben wurde und sich im Gegensatz zum Hieratischen zwar an das Schreibmaterial anpasste, aber den hieroglyphischen Formen nahe blieb. Bis zur 20. Dynastie wurden religiöse Texte in dieser Schrift geschrieben, danach wurde sie weitgehend vom Hieratischen abgelöst. Demotische Schrift Um 650 v. Chr. wurde eine noch flüssigere und stärker von den Hieroglyphen abstrahierende Kursivschrift entwickelt, die demotische Schrift, auch Volksschrift genannt. Sie entstand als Kanzleischrift und wurde zur Gebrauchsschrift in Ägypten, bis sie im 4./5. Jahrhundert n. Chr. von der koptischen Schrift, einer um einige demotische Zeichen ergänzten Form der griechischen Schrift, abgelöst wurde. Auch wenn die demotische Schrift ihre Grundprinzipien mit den Hieroglyphen teilt, kann sie aufgrund größerer Abweichungen kaum noch als Subsystem der Hieroglyphen verstanden werden. Die Hieroglyphenschrift Schriftrichtung Ursprünglich wurden die Hieroglyphen meist in Spalten (Kolumnen) von oben nach unten und von rechts nach links geschrieben, aus graphischen Gründen konnte die Schreibrichtung jedoch variieren. In seltenen Fällen wurden Hieroglyphen als Bustrophedon geschrieben. Die Schriftrichtung ist sehr leicht festzustellen, da die Zeichen immer in Richtung Textanfang gewandt sind, also dem Leser „entgegenblicken“. Am deutlichsten wird dies bei der Darstellung von Tierformen oder Menschen. In einzelnen Fällen wie beispielsweise auf den Innenseiten von Särgen liegt jedoch eine retrograde Schrift vor, in der also die Zeichen gerade dem Textende zugewandt sind; dies gilt etwa für viele Totenbuchmanuskripte und könnte spezielle religiöse Gründe haben (Totenbuch als Texte aus einer „Gegenwelt“ o. Ä.). Die Worttrennung wurde in der Regel nicht angegeben, jedoch lässt sich das Ende eines Wortes häufig an dem das Wort abschließenden Determinativ erkennen. Funktionen der Schriftzeichen Phonogramme Einkonsonantenzeichen Ein einfaches hieroglyphisches Alphabet wird in der modernen Wissenschaft mit gut zwei Dutzend Zeichen gebildet, die jeweils einen einzelnen Konsonanten wiedergeben, also eine Art „konsonantisches Alphabet“ darstellen. Obwohl schon mit den Einkonsonantenzeichen die Wiedergabe des Ägyptischen möglich gewesen wäre, waren die Hieroglyphen aber nie eine reine Alphabetschrift. Die Einkonsonantenzeichen werden heute gerne zum Lernen der altägyptischen Sprache und zur Wiedergabe moderner Eigennamen verwendet, wobei hier die moderne wissenschaftliche Behelfsaussprache der Zeichen zugrunde gelegt wird, die in vielen Fällen nicht mit der ursprünglichen ägyptischen Lautung identisch ist. Aus wissenschaftshistorischen Gründen werden nämlich in der ägyptologischen Behelfsaussprache fünf bzw. sechs Konsonanten als Vokale ausgesprochen, obwohl sie in der klassischen ägyptischen Sprache Konsonanten bezeichnet hatten. Mehrkonsonantenzeichen Logogramme und Ideogramme Determinative Da mit Hieroglyphen nur die Konsonanten, nicht die Vokale, bezeichnet wurden, ergaben sich viele Wörter unterschiedlicher Bedeutung, die gleich geschrieben wurden, da sie den gleichen Konsonantenbestand hatten. Das Determinativ verkörperte ursprünglich als ein bildhaft vereinigendes Schriftzeichen die ihm zugrunde liegenden Phonogramme. Erst später sollten die Determinative mit anderen allgemeinen Begriffen verbunden werden. So wurden den meisten Wörtern sogenannte Determinative (auch Klassifikatoren oder Deutzeichen) zugesetzt, die die Bedeutung näher erklären. So bedeutet die Hieroglyphe „Haus“ mit dem Konsonantenbestand pr ohne Determinativ das Wort „Haus“ (ägyptisch pr(w)), mit zwei laufenden Beinen als Determinativ bedeutet es „herausgehen“ (ägyptisch pr(j)). Auch Namen wurden determiniert, ebenso manche Pronomina. Königs- oder Götternamen wurden durch die Kartusche, einer Schleife um das Wort, hervorgehoben. Die folgende Tabelle nennt einige Wörter, die alle den Konsonantenbestand wn aufweisen und nur durch ihre Determinative unterschieden werden können: Dazu ist jedoch anzumerken, dass sich das System der Determinative im Verlauf der ägyptischen Sprachgeschichte erst im Mittleren Reich voll stabilisiert hatte, während das Ägyptische des Alten Reiches noch mehr spezielle oder ad hoc gebildete Determinative verwendete. Im Neuen Reich nahm der Gebrauch weniger, besonders generischer Determinative weiter zu; teilweise konnte ein Wort hier mit mehreren Determinativen gleichzeitig geschrieben werden. Weitere Beispiele für Determinative sind: Phonetische Determinative Kalligraphische Besonderheiten Anordnung In hieroglyphischen Inschriften wurden die Zeichen meist nicht einfach aneinandergereiht, sondern zu rechteckigen Gruppen zusammengefasst. So wurde das Wort sḥtp.n=f „er stellte zufrieden“ im Mittleren Reich folgendermaßen geschrieben: s-Htp:t*p-A2-n:f Dies wird von oben nach unten und von links nach rechts in folgender Reihenfolge gelesen: Unterdrückung und Verstümmelung von Zeichen Gruppenschrift Zahlzeichen Die historische Schreibpraxis Schriftmedien Die Ägypter verwendeten als Schriftmedien Stein, Ton und Rollen aus Papyrus, Leder und Leinen, die sie gelegentlich kunstvoll mit kolorierten Bildern versahen. Die Werkzeuge des Schreibers waren: ein meist hölzernes Etui mit mehreren Schreibröhren, die am Ende entweder flachgehämmert oder schräg geschnitten waren, eine Platte als Unterlage und zum Glätten des Papyrus, ein Vorrat an schwarzer Tinte (aus Rußpulver, als Bindemittel wird Gummi arabicum verwendet), und einer mit roter Tinte für Titel, Überschriften und Kapitelanfänge (siehe Rubrum), nicht jedoch für Götternamen (aus Zinnoberpulver, einer Quecksilber-Schwefel-Verbindung oder aus Bleioxid), ein Fässchen für Wasser, mit dem die Tinte angerührt wird sowie ein Messer zum Schneiden des Papyrus. Der längste erhaltene Papyrus misst 40 Meter. Leder wurde vorwiegend für Texte von großer Bedeutung verwendet. Der Beruf des Schreibers Die Kenntnis des Schreibens war mit Sicherheit eine der Grundvoraussetzungen für alle Arten einer Laufbahn im Staat. Es gab auch keine eigene Bezeichnung für den Beamten – „sesch“ heißt sowohl „Schreiber“ als auch „Beamter“. Über das Schulsystem ist überraschend wenig bekannt. Für das Alte Reich wird das Famulussystem angenommen: Schüler lernten das Schreiben bei den Eltern oder wurden einem anderen Schreibkundigen unterstellt, der die Schüler zunächst für Hilfsarbeiten benutzte und ihnen dabei auch das Schreiben beibrachte. Ab dem Mittleren Reich gibt es vereinzelte Belege für Schulen, die aus dem Neuen Reich gut bezeugt sind. Die Ausbildung zum Schreiber begann mit einer der Kursivschriften (Hieratisch, später Demotisch). Die Hieroglyphen wurden später gelernt und aufgrund ihrer Eigenschaft als Monumentalschrift nicht von jedem Schreiber beherrscht. Die Schrift wurde hauptsächlich durch Diktate und Abschreibübungen, die in einigen Fällen erhalten sind, gelehrt, faule Schüler wurden durch Züchtigungen und Gefängnisstrafen diszipliniert. Aus dem Mittleren Reich stammt das Buch Kemit, das anscheinend speziell für den Schulunterricht geschrieben wurde. Die Lehre des Cheti beschreibt die Vorzüge des Schreiberberufes und zählt die Nachteile anderer, meist handwerklicher und landwirtschaftlicher Berufe auf. Aussprache Da die Hieroglyphenschrift zu einer Sprache gehört, deren Abkömmling seit spätestens dem 17. Jahrhundert mit Verdrängung des Koptischen als Verkehrssprache durch das Arabische tot ist (die koptische Kirche verwendet allerdings nach wie vor teilweise die koptische Sprache zu kultischen Zwecken) und in der Hieroglyphenschrift keine Vokale notiert werden, ist die Rekonstruktion der ägyptischen Wörter und die Transkription hieroglyphischer Namen und Wörter in moderne Alphabete nicht eindeutig. So kommen die recht verschiedenen Schreibweisen des gleichen Namens zustande, wie zum Beispiel Nofretete im Deutschen und Nefertiti im Englischen für ägyptisch Nfr.t-jy.tj. Neben dem Koptischen und den hieroglyphischen Schreibungen selbst geben die strittigen afroasiatischen Lautkorrespondenzen und Nebenüberlieferungen wie griechische und keilschriftliche Umschreibungen Hinweise auf die Aussprache ägyptischer Namen und Wörter. Das aus diesen Überlieferungen resultierende Urkoptisch, eine Sprache mit hieroglyphischem Konsonantenbestand und rekonstruierten Vokalen, wurde in verschiedenen Filmen (meist mit zweifelhaften Ergebnissen) aufgegriffen, unter anderem für den Film Die Mumie oder die Serie Stargate. Ägyptologen behelfen sich bei der Aussprache des Ägyptischen dadurch, dass im transkribierten Text zwischen vielen Konsonanten ein e eingefügt wird und einige Konsonanten als Vokale gesprochen werden (ꜣ und ꜥ als a, w als w oder u, j und y als i). Das ist die Regel, aber nicht ohne Ausnahme; so werden zum Beispiel Königs- und Gottesnamen auch nach überlieferten griechischen oder koptischen Schreibungen ausgesprochen, wie etwa „Amun“ statt „Imenu“ für ägyptisch Jmn.w. Im Einzelnen haben sich an den einzelnen Universitäten unterschiedliche Konventionen ausgebildet, wie ägyptologische Transliteration hilfsweise auszusprechen ist. So findet sich das Wort nfrt (Femininum von nfr: „schön“) sowohl als neferet ausgesprochen (so vielfach in Deutschland) wie auch als nefret (andernorts in Deutschland) oder als nefert (so unter anderem an russischen Universitäten). Es gibt auch systematische Differenzen bezüglich der Länge oder Kürze der es und des Wortakzents. Darstellung von Hieroglyphen auf Computersystemen Hieroglyphen sind im Unicodeblock Ägyptische Hieroglyphen (U+13000–U+1342F) codiert, der beispielsweise durch den ab Windows 10 mitgelieferten Font Segoe UI Historic abgedeckt wird. Außerdem existiert eine ganze Reihe von hieroglyphischen Textverarbeitungsprogrammen, die ein System zur Kodierung der Hieroglyphen mittels einfacher ASCII-Zeichen benutzen, das gleichzeitig die komplizierte Anordnung der Hieroglyphen abbildet. Die einzelnen Hieroglyphen werden dabei entweder anhand der Nummern der Gardiner-Liste oder ihrer Lautwerte kodiert. Diese Methode wird nach ihrer Publikation Manuel-de-Codage-Format, kurz MdC, genannt. Ein Beispiel für die Codierung einer hieroglyphischen Inschrift bietet der folgende Auszug aus einer Stele aus dem Louvre (Paris): sw-di-Htp:t*p i-mn:n:ra*Z1 sw-t:Z1*Z1*Z1 nTr ir:st*A40 i-n:p*w nb:tA:Dsr O10 Hr:tp R19 t:O49 nTr-nTr Hr:Z1 R2 z:n:Z2 Szp:p:D40 z:n:nw*D19:N18 pr:r:t*D54 sw-di-Htp:t*p i-mn:n:ra*Z1 sw-t:Z1*Z1*Z1 nTr ir:st*A40 i-n:p*w nb:tA:Dsr O10 Hr:tp R19 t:O49 nTr-nTr Hr:Z1 R2 z:n:Z2 Szp:p:D40 z:n:nw*D19:N18 pr:r:t*D54 Um ein originalgetreues Abbild der Anordnung der Hieroglyphen zu erzeugen, müssen komplexe Hieroglyphensatzprogramme neben den überlappungsfreien Anordnungen auch eine Funktion anbieten, Hieroglyphen zu spiegeln, ihre Größe stufenlos zu verändern und einzelne Zeichen teilweise oder ganz übereinander anzuordnen (vgl. die Zeichenfolge unten rechts im Bild, die hier nicht umgesetzt werden konnte). Zur Wiedergabe und zum Satz von Hieroglyphen auf dem Computer wurde eine Reihe von Programmen entwickelt. Zu diesen zählen SignWriter, WinGlyph, MacScribe, InScribe, Glyphotext und WikiHiero. Transkription Neben den phonetischen Umschriftzeichen enthalten die meisten Transkriptionssysteme auch sogenannte Strukturzeichen, die Morpheme voneinander abgrenzen, um die morphologische Struktur der Wörter zu verdeutlichen. So wird von bestimmten Forschern die altägyptische Verbform jnsbtnsn „diejenigen, die sie verschlungen haben“ als j.nsb.t.n=sn transkribiert, um die verschiedenen Präfixe und Suffixe zu kennzeichnen. Die Verwendung der Strukturzeichen ist noch weniger einheitlich als die phonetischen Transkriptionen – neben völlig strukturzeichenlosen Systemen, wie dem, das unter anderem in Elmar Edels Altägyptischer Grammatik (Rom 1955/64) Verwendung fand, gibt es Systeme mit bis zu fünf Strukturzeichen (Wolfgang Schenkel). Auch einzelne Zeichen werden nicht einheitlich benutzt; so dient der einfache Punkt („.“) in der Umschrift der Berliner Schule zur Trennung der Suffixpronomina, in einigen jüngeren Systemen dagegen zur Markierung der nominalen Feminin-Endung. Während James P. Allen ein Präfix j bestimmter Verbformen mit einem einfachen Punkt abtrennt, hat Wolfgang Schenkel hierfür den Doppelpunkt („:“) vorgeschlagen. Hieratische Texte werden vor der Transkription in Umschrift häufig erst in Hieroglyphen überführt (Transliteration) und so veröffentlicht, damit die Identifizierung der Schriftzeichen mit entsprechenden Hieroglyphen verdeutlicht werden kann. Die Identifizierung der kursiven Schriftzeichen ist nur durch Spezialisten durchführbar und nicht von allen mit der Hieroglyphenschrift Vertrauten einfach nachzuvollziehen. Demotische Texte hingegen werden, weil der Abstand zu den Hieroglyphen zu groß ist, üblicherweise nicht erst transliteriert, sondern direkt in Umschrift transkribiert. Die Bedeutungen der Bezeichnungen „Transkription“ und „Transliteration“ sind nicht international konsistent; insbesondere werden im englischen Sprachgebrauch die Bezeichnungen „Transcription“ und „Transliteration“ andersherum verwendet. Darstellung von Transkriptionszeichen auf Computersystemen Sämtliche für die ägyptologischen Transkriptionen verwendete Zeichen sind im internationalen Zeichenkodierungs-Standard Unicode enthalten. Zuletzt wurde im März 2019 das ägyptologische Jod in den Unicode-Standard aufgenommen (Unicodeblock Lateinisch, erweitert-D). Es sind allerdings nicht alle Zeichen in allen Fonts vorhanden, sodass sich u. U. die Benutzung spezieller Fonts wie New Athena Unicode empfiehlt. In Transkriptionen sind nur die Kleinbuchstaben üblich; Unicode enthält jedoch für alle diese Buchstaben auch Großbuchstaben-Varianten, die beispielsweise in Überschriften verwendet werden können. Wegen der Bedeutung der Ägyptologie in der Populärwissenschaft wurden die üblichen Umschriftzeichen bei der 2018 erfolgten Überarbeitung der deutschen Tastaturbelegungs-Norm DIN 2137 berücksichtigt. Somit können diese Zeichen mit der deutschen Standard-Tastaturbelegung E1 eingegeben werden. Ersatzdarstellungen für das ägyptologische Jod Da das erst im März 2019 zu Unicode hinzugefügte ägyptologische Jod in vielen Fonts noch nicht umgesetzt ist, wurden und werden dafür verschiedene Workarounds genutzt: Darstellungen mit Nicht-Unicode-Fonts Da erst seit 2019 alle für ägyptologische Transliterationen erforderliche Zeichen in Unicode zur Verfügung stehen, sind für zahlreiche wissenschaftliche Projekte weiterhin Nicht-Unicode-Fonts in Verwendung, die die benötigten Zeichen auf anderen Codepunkten enthalten als durch Unicode standardisiert. Neben allerlei privaten Fonts sind in der Wissenschaft insbesondere die TrueType-Fonts „Transliteration“ des CCER und „Trlit_CG Times“ weit verbreitet, in denen das Transkriptionssystem des Wörterbuchs der Aegyptischen Sprache von Erman und Grapow und von Alan Gardiners Egyptian Grammar weitestgehend genau auf die Tastaturbelegung des Manuel de Codage (siehe oben) abgebildet wird. Einen Zeichensatz des Ägyptologen Friedrich Junge, mit dem alle gängigen Transkriptionssysteme wiedergegeben werden können, der aber hinsichtlich der Tastaturbelegung vom Manuel de Codage abweicht, stellt die Zeitschrift Lingua Aegyptia zur Verfügung (Umschrift_TTn). Literatur (chronologisch sortiert) Einführungen W. V. Davies: Egyptian Hieroglyphs. 5th Imprint. British Museum Press, London 1992, ISBN 0-7141-8063-7, (Reading the past). Karl-Theodor Zauzich: Hieroglyphen ohne Geheimnis. Eine Einführung in die altägyptische Schrift für Museumsbesucher und Ägyptentouristen (= Kulturgeschichte der Antiken Welt. Band 6). Herausgegeben vom Verein zur Förderung des Ägyptischen Museums in Berlin-Charlottenburg e. V. 11. Auflage. von Zabern, Mainz 2000, ISBN 3-8053-0470-6 (). Marc Collier, Bill Manley: Hieroglyphen. Entziffern, lesen, verstehen. Knaur, München 2001, ISBN 3-426-66425-9, (Originalausgabe: How to read Egyptian hieroglyphs. British Museum Press, London 1998, ISBN 0-7141-1910-5). Gabriele Wenzel: Hieroglyphen. Schreiben und Lesen wie die Pharaonen. 3. Auflage, Nymphenburger, München 2003, ISBN 3-485-00891-5. Bridget McDermott: Hieroglyphen entschlüsseln. Die Geheimsprache der Pharaonen lesen und verstehen. Area, Erftstadt 2006, ISBN 3-89996-714-3. Petra Vomberg, Orell Witthuh: Hieroglyphenschlüssel. Harrassowitz, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-447-05286-3. Hartwig Altenmüller: Einführung in die Hieroglyphenschrift (= Einführungen in fremde Schriften.) 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Buske, Hamburg 2010, ISBN 978-3-87548-535-6. Michael Höveler-Müller: Hieroglyphen lesen und schreiben. In 24 einfachen Schritten. Beck, München 2014. ISBN 978-3-406-66674-2. Entzifferung Lesley Adkins, Roy Adkins: Der Code der Pharaonen. Lübbe, Bergisch Gladbach 2002, ISBN 3-7857-2043-2. Markus Messling: Champollions Hieroglyphen, Philologie und Weltaneignung. Kadmos, Berlin 2012, ISBN 978-3-86599-161-4. Grammatiken mit Zeichenlisten Adolf Erman: Neuaegyptische Grammatik. 2. völlig umgestaltete Auflage. Engelmann, Leipzig 1933, (Umfassende Darstellung der Eigenheiten der neuägyptischen Schreibungen: §§ 8–42). Herbert W. Fairman: An Introduction to the Study of Ptolemaic Signs and their Values. In: Le Bulletin de l’Institut français d’archéologie orientale. Nr. 43, 1945, , S. 51–138. Alan Gardiner: Egyptian Grammar. Being an introduction to the study of hieroglyphs. Third edition, revised. Oxford University Press, London 1957, (Zuerst: Clarendon Press, Oxford 1927), (Enthält die ausführlichste Version der Gardiner-Liste, der Standard-Hieroglyphenliste, sowie eine umfangreiche Darstellung des Schriftsystems). Elmar Edel: Altägyptische Grammatik (= Analecta Orientalia, commentationes scientificae de rebus Orientis antiqui. Band 34/ 39). Pontificium Institutum Biblicum, Rom 1955–1964, (Bietet in §§ 24–102 eine sehr umfangreiche Darstellung der Schreibregeln und der Prinzipien der Hieroglyphen), (Dazu erschienen: Register der Zitate. Bearbeitet von Rolf Gundlach. Pontificium Institutum Biblicum, Rom 1967). Jochem Kahl: Das System der ägyptischen Hieroglyphenschrift in der 0.–3. Dynastie. Harrassowitz, Wiesbaden 1994, ISBN 3-447-03499-8, (= Göttinger Orientforschungen. Reihe 4: Ägypten. 29, ), (Zugleich: Dissertation, Universität Tübingen, 1992). James P. Allen: Middle Egyptian. An Introduction to the Language and Culture of Hieroglyphs. Cambridge University Press, Cambridge 2000, ISBN 0-521-77483-7, (Lehrgrammatik mit Übungstexten, geht auch ausführlich auf den kulturellen Kontext der Texte ein). Pierre Grandet, Bernard Mathieu: Cours d'égyptien hiéroglyphique. Nouvelle édition revue et augmentée, Khéops, Paris 2003, ISBN 2-9504368-2-X. Friedrich Junge: Einführung in die Grammatik des Neuägyptischen. 3. verbesserte Auflage. Harrassowitz, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-447-05718-9, (Zu den Schreibmaterialien, der Transkription und Transliteration §§ 0.3 + 0.4; zu den Eigenheiten der neuägyptischen Schreibungen § 1). Daniel A. Werning: Einführung in die hieroglyphisch-ägyptische Schrift und Sprache. Propädeutikum mit Zeichen- und Vokabellektionen, Übungen und Übungshinweisen. 3. verbindliche Ausgabe, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2015. doi:10.20386/HUB-42129 (online, Version 2018). Zeichenlisten Ferdinand Theinhardt: Liste der hieroglyphischen Typen aus der Schriftgiesserei des Herrn F. Theinhardt. Akademie der Wissenschaften, Berlin 1875. Rainer Hannig: Großes Handwörterbuch Ägyptisch-Deutsch. (2800 – 950 v. Chr.). Die Sprache der Pharaonen. Marburger Edition. 4. überarbeitete Auflage. von Zabern, Mainz 2006, ISBN 3-8053-1771-9, (= Hannig-Lexica. Band 1); (= Kulturgeschichte der Antiken Welt. Band 64, ), (Enthält die Gardinerliste sowie eine erweiterte Zeichenliste). Rainer Hannig, Petra Vomberg: Wortschatz der Pharaonen in Sachgruppen (= Hannig Lexica. Band 2). 2. Auflage, von Zabern, Mainz 2012, ISBN 978-3-8053-4473-9. Wolfgang Kosack: Ägyptische Zeichenliste I. Grundlagen der Hieroglyphenschrift. Definition, Gestaltung und Gebrauch ägyptischer Schriftzeichen. Vorarbeiten zu einer Schriftliste. Christoph Brunner, Basel 2013, ISBN 978-3-9524018-0-4. Wolfgang Kosack: Ägyptische Zeichenliste II. 8500 Hieroglyphen aller Epochen. Lesungen, Deutungen, Verwendungen gesammelt und bearbeitet. Christoph Brunner, Berlin 2013, ISBN 978-3-9524018-2-8. Sonstiges Christian Leitz: Die Tempelinschriften der griechisch-römischen Zeit. 3. verbesserte und aktualisierte Auflage. Lit, Münster 2009, ISBN 978-3-8258-7340-0, (= Quellentexte zur ägyptischen Religion. Band 1), (= Einführungen und Quellentexte zur Ägyptologie. Band 2). (Mit Verweisen auf ältere Verzeichnisse der ptolemäischen Hieroglyphen); (Volltext als PDF; 230 KB). Siegfried Schott: Hieroglyphen. Untersuchungen zum Ursprung der Schrift (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse. Jahrgang 1950, Band 24). Verlag der Wissenschaften und der Literatur in Mainz (in Kommission bei Franz Steiner Verlag, Wiesbaden), Mainz 1950. Dokumentationen Vom Schreiben und Denken – Die Saga der Schrift (1/3) Der Anfang. Originaltitel: L'odysée de l'écriture – Les origines. TV-Dokumentationsreihe von David Sington, F 2020; deutsche Synchronfassung: Arte 2020 (Auf: youtube.com); mitwirkend: Yasmin El Shazly (Ägyptologin), Lydia Wilson (Historikerin), Brody Neuenschwander (Kalligraph), Irving Finkel (Assyrologe), Günter Dreyer (Ägyptologe), Orly Goldwasser (Ägyptologin), Yongsheng Chen (Philologe), Pierre Tallet (Ägyptologe), Ahmad Al-Jaliad (Philologe) u. a. Weblinks Altägyptisches Wörterbuch und Textdatenbank der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Kurzfassung der Gardiner-Liste Beschreibung des Manuel-de-Codage-Formats Medu-Netscher – Die Schrift der alten Ägypter: Schriftzeichen/-System, Historie, Entzifferung, Bildergalerie, Literaturtipps Einzelnachweise 4. Jahrtausend v. Chr. Afrikanische Schrift
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hawaii
Hawaii
Hawaii ([], englisch [], hawaiisch Hawaiʻi bzw. auch Mokupuni o Hawaiʻi) ist eine Inselkette im Pazifischen Ozean. Sie ist benannt nach der größten Insel des Archipels, die inoffiziell auch Big Island heißt. Die Inselkette wurde am 7. Juli 1898 durch die Vereinigten Staaten annektiert und 1959 als State of Hawaii der 50. Bundesstaat der Vereinigten Staaten. Mittlerweile wird von Seiten des Bundesstaates meist die Schreibweise State of Hawaiʻi (hawaiisch Mokuʻāina o Hawaiʻi) verwendet. Die Inselgruppe gehört zum polynesischen Kulturraum, bildet die nördliche Spitze des sogenannten polynesischen Dreiecks und wird zu den Südseeinseln gezählt. Sie wurden früher auch Sandwich-Inseln genannt. Der Beiname des US-Bundesstaates Hawaii ist Aloha State („Aloha-Staat“). Hawaiis vielfältige Landschaften, ein ganzjährig warmes Klima und viele öffentliche Strände machen es zu einem beliebten Zielpunkt von Touristen, Surfern, Biologen und Geologen. Durch seine Lage mitten im Pazifik wirken auf Hawaii mit seiner eigenen polynesischen Kultur sowohl ostasiatische als auch nordamerikanische Einflüsse. Geografie Hawaii liegt 3682 km südwestlich der US-Westküste (Flumeville, Kalifornien). Insgesamt gehören 137 Inseln und Atolle mit einer Gesamtfläche von 16.625 km² zu Hawaii, die meisten davon sind jedoch nicht oder nicht mehr bewohnt. Inseln und Countys Die acht größten Inseln sind (von West nach Ost): Niʻihau, Kauaʻi, Oʻahu, Molokaʻi, Lānaʻi, Kahoʻolawe, Maui und Hawaii (Big Island). Geografisch wird Hawaii nicht dem amerikanischen Kontinent, sondern als Teil Polynesiens der den Kontinenten gleichgestellten Inselwelt Ozeaniens zugeordnet. Die größten Inseln werden fünf Countys zugeordnet: Hawaiʻi (Big Island) und Oʻahu stellen jeweils einen eigenen County dar; Kauaʻi und Niʻihau bilden gemeinsam einen County; ebenso zusammengefasst werden Maui, Molokaʻi, Lānaʻi und Kahoʻolawe. Eine Besonderheit ist der Kalawao County, der sich auf die Kalaupapa-Halbinsel auf Molokaʻi beschränkt. Gemessen an der Bevölkerung zählt dieser zu den kleinsten Countys der Vereinigten Staaten. Das Midway-Atoll (hawaiisch: Pihemanu) im nördlichen Hawaiirücken ist das einzige Gebiet, das zwar geographisch zu Hawaii gehört, jedoch nicht zum US-Bundesstaat Hawaii. Liste der größten Inseln von West nach Ost: Vulkane Die Inseln sind vulkanischen Ursprungs (vgl. Hawaii-Emperor-Kette). Die Schildvulkane der geologisch jüngsten und größten der Hawaii-Inseln, der Hauptinsel Hawaii („“), gehören zu den größten Vulkanen der Erde. Der Gipfel des inaktiven Mauna Kea befindet sich in 4205 Metern Höhe über dem Meer, wobei seine Basis, die zugleich Basis der Insel Hawaii ist, in 5400 Metern Meerestiefe liegt. Von seiner Basis bis zur Spitze misst er folglich rund 9600 Meter, weshalb er mitunter als „größter Berg der Erde“ bezeichnet wird. Der nur wenig niedrigere, aber aktive Mauna Loa gilt nach dem Pūhāhonu seinem Volumen nach als zweitgrößter Vulkan der Erde. Durch ihn ist das Gewicht der Insel Hawaii so groß, dass sie die gesamte pazifische Platte messbar deformiert. Auf der Insel Hawaii ist neben dem Mauna Loa der Kīlauea der zweite aktive Vulkan, dessen jüngste Eruption von 1983 bis 2018 anhielt. Immer wieder überflutet seine Lava Gebiete an der Nordostflanke des Mauna Loa, teilweise auch Straßen und Häuser. Zudem werden die Ausbrüche von teils starken Erdbeben begleitet, mit Magnituden um 7. Die in historischer Zeit ausgebrochenen Vulkane Hualālai (Hawaii) und Haleakalā (Maui) werden als noch nicht erloschen angesehen. 28 Kilometer südöstlich des Kīlauea befindet sich der unterseeische Vulkan Kama‘ehuakanaloa. Er ist der jüngste Vulkan der Hawaii-Vulkankette. Flüsse und Seen Das Trinkwasser auf den Inseln wird unter anderem über artesische Brunnen gewonnen. Der längste Fluss ist der Kaukonahua auf der Insel Oʻahu. Der größte natürliche See ist der Halulu-See auf Niʻihau mit einer Fläche von 3,48 km². Besonders die Inseln Maui und Kauaʻi besitzen zahlreiche Wasserfälle. Der ʻOloʻupena Falls (900 m) und Puʻukaʻōkū Falls (840 m) auf Molokaʻi sowie der Waihīlau Falls (792 m) auf Hawaii sind die höchsten Wasserfälle der Vereinigten Staaten. Klima Hawaii liegt in den äußeren nördlichen Tropen. Das Klima ist durch den vorherrschenden NO-Passat mild und ausgeglichen. Im Gegensatz zu den feuchten Luvseiten mit ihrer tropischen Vegetation bleiben die Leeseiten der Inseln relativ trocken. Ausgeprägte Jahreszeiten gibt es auf den Inseln Hawaiis nicht. In den Monaten Oktober bis März regnet es mehr als im Rest des Jahres. Auf der Insel Maui hat es im Februar 2019 erstmals bis in tiefere Lagen geschneit. Tier- und Pflanzenwelt Vor Ankunft der Menschen Da Hawaii eine abgelegene Inselgruppe ist, gab es dort, abgesehen von der auch in Amerika verbreiteten Weißgrauen Fledermaus (Lasiurus cinereus), vor Ankunft der Menschen keine weiteren Landsäugetiere. Ebenso fehlten Landreptilien und Amphibien. Viele Arten haben sich in diverse neue Arten aufgespalten (Adaptive Radiation), weil die Inseln so schwer zu erreichen sind und dadurch viele freie ökologische Nischen existierten. Das führte dazu, dass Hawaii einen hohen Anteil an endemischen Arten hatte. Pflanzen Dagegen gab es Pflanzen mit ursprünglich kleinen Samen, die durch Wind, Vögel oder Fluginsekten dorthin verschleppt wurden. Interessant ist beispielsweise, dass es dort wegen des Nichtvorhandenseins pflanzenfressender Säugetiere nichtbrennende Brennnesseln und Minze ohne Pfefferminzgeschmack gab. Weitere Pflanzen: Lichtnussbaum (Aleurites moluccana) Hibiscadelphus Vulkanpalme (Brighamia insignis) ʻŌhiʻa lehua (Gattung Eisenhölzer) (Metrosideros polymorpha) Hillebrandia sandwicensis, ein Schiefblattgewächs Nestegis (Ölbaumgewächse) 40 endemische Arten Zweizähne (Bidens); Acaena exigua zählt zu den Stachelnüsschen. Vögel Es gibt mehr als 70 Vogelarten. Interessant sind die Kleidervögel (Drepanididae), bei denen eine Gattung sich in mehr als sieben Arten aufgespalten hat. Moa-Nalos, Riesen-Hawaiigans (Geochen rhuax) und die Hawaiigans Nēnē-Nui (Branta hylobadistes) waren große flugunfähige Vögel, die sich von Gras und Kräutern ernährt haben. Die flugfähige Hawaiigans (Nēnē) (Branta sandvicensis) hat bis heute überlebt. Weitere Vogelarten: Stelzenläufer (Himantopus himantopus) Hawaiikrähe (Corvus hawaiiensis) Hawaiiente (Anas wyvilliana) Hawaii-Bussard (Buteo solitarius) Sumpfohreule (Asio flammeus) Laysanente (Anas laysanensis) Insekten und Spinnen Es gab Fluginsekten und Insekten, die durch den Wind verschleppt wurden. Auf der Inselgruppe Hawaii sind aus einer Fruchtfliegenart (gemeint sind Taufliegen (Drosophilidae)) rund 1000 Arten entstanden, die sich äußerlich erheblich unterscheiden. Einige galten lange als ausgestorben, so etwa Drosophila lanaiensis und Drosophila ochrobasis. Weitere Insekten: Hyposmocoma molluscivora unpigmentierte, oft blinde, permanent unterirdisch lebende Arten der Glasflügelzikaden Monarchfalter (Danaus plexippus) Daneben gibt es einige Arten der Riesenkrabbenspinnen (Sparassidae, ehemals Heteropodidae, Eusparassidae) (Cixiidae). Weichtiere lebendgebärende Baumschnecken der Gattung Achatinella Einfluss des Menschen Durch den Einfluss der ersten polynesischen Siedler starben mehr als die Hälfte der ursprünglich hier lebenden Vogelarten aus (vgl. Liste der neuzeitlich ausgestorbenen Vögel). Dazu gehören die Moa-Nalos (Chelychelynechen quassus, Thambetochen spp., Ptaiochen pau), die die größten Pflanzenfresser Hawaiis waren und eine ähnliche ökologische Nische wie die Riesenschildkröten von den Maskarenen, den Seychellen, Aldabra und den Galapagosinseln einnahmen. Außerdem brachten die Polynesier Nutzpflanzen und -tiere (sowie deren Schädlinge) mit, die sie auf See und nach ihrer Ankunft benötigten. Diese biologische Invasion verursachte das Aussterben weiterer einheimischer Arten. Besonders viel Schaden richteten Ratten und verwilderte Hunde an, die einheimische Tiere jagten. Die einheimischen Vögel wurden durch die eingeschleppte Vogelmalaria dezimiert, die durch ebenfalls eingeschleppte Mücken übertragen wird. Eingebürgerte Tiere und Pflanzen Als Neozoen und Neophyten sind zu nennen: Vögel: Schopfwachtel (Callipepla californica), Rotsteißbülbül (Pycnonotus cafer), Rotschopftangare (Paroaria coronata), Chukarhuhn (Alectoris chukar), Amerika-Schleiereule (Tyto furcata) Säugetiere als Haustiere: Hunde, Katzen und andere Säugetiere als Kulturfolger: Pazifische Ratte (Rattus exulans), Wanderratte (R. norvegicus) Säugetiere zur Jagd: Axishirsch oder Chital (Axis axis), Schweinshirsch (Axis porcinus) Säugetiere (Zoo): Bürstenschwanz-Felskängurus (P. pennicillata) Reptilien als Haustiere: Goldstaub-Taggecko (Phelsuma laticauda) Amphibien: Der Goldbaumsteiger (Dendrobates auratus) aus Costa Rica, Panama und Kolumbien und die Aga-Kröte (Bufo marinus) wurden in den frühen 1930er Jahren auf der Hawaii-Insel Oʻahu zur Mückenbekämpfung ausgewildert. Nutzpflanzen: Mammiapfel (Mammea americana), Brotfruchtbaum (Artocarpus altilis), Makulan (Maya-Sprache), auch Mexikanischer Blattpfeffer oder Ohrenpfeffer (Piper auritum); Hawaiische Holzrose (Argyreia nervosa), Zuckerrohr (Saccharum officinarum), Weinrebe (Vitis vinifera), Ananas, Kaffee, Bananen, Tabak, Reis, Baumwolle Zierpflanzen: Palisanderholzbaum (Jacaranda mimosifolia), Goldtüpfelfarn (Phlebodium aureum), Orchideen, Rhodomyrtus tomentosa Meerestiere Meerestiere können (im Gegensatz zu Landtieren) leicht zu abgelegenen Inseln gelangen. Um die Hawaii-Inseln herum leben viele für Korallenriffe typische Tiere: Hawaii-Anemone (Heteractis malu) – eine der Symbioseanemonen Gliederfüßer: Halocaridina (Hawaii-Garnelen) gehören zu den Süßwassergarnelen Fische: insgesamt über 1250 Arten, darunter Flammen-Zwergkaiserfisch (Centropyge loricula), Zigarren-Lippfisch (Cheilio inermis), Sandhöhlenfische (Creediidae), Hawaii-Feuerfische (Pterois sphex), Orangestreifen-Falterfisch (Chaetodon ornatissimus), Mondsichel-Falterfisch (Chaetodon lunula), Vierfleck-Falterfisch (Chaetodon quadrimaculatus), Grüne Vogel-Lippfische (Gomphosus varius), Augenstreifen-Doktorfisch (Acanthurus dussumieri), Dunkler Riesenzackenbarsch (Epinephelus lanceolatus), Fingerflosser (Cheilodactylidae), Drachenmuräne oder Panthermuräne (Enchelycore pardalis), Picasso-Drückerfisch (Rhinecanthus aculeatus), Weißband-Nashornfisch (Naso annulatus), Doktorfische (Acanthuridae). Reptilien: Suppenschildkröte (Chelonia mydas) Meeressäugetiere: Hawaii-Mönchsrobben, Zwerggrindwal (Feresa attenuata), Ostpazifischer Delfin oder Spinnerdelfin (Stenella longirostris) Bevölkerung Neben den polynesischen Ureinwohnern, die sich Kanaka Maoli nennen, siedelten sich nach der Entdeckung weiße Missionare, Händler und Walfänger auf Hawaii an. Für den Zuckerrohranbau und später auch für den Ananasanbau wurden chinesische und japanische Arbeitskräfte angeworben, die sich dort ansiedelten und teilweise ihre Kultur mitbrachten. Die Hawaii-Inseln zählen etwa 1,4 Millionen Einwohner. Die Hauptstadt und zugleich größte Stadt des Archipels ist Honolulu mit etwa 390.000 Einwohnern. Seit 2010 ist die Bevölkerungsentwicklung in Hawaii rückläufig; wegen der steigenden Lebenshaltungskosten ziehen mehr Menschen weg, als hinzukommen. Die größten Bevölkerungsgruppen bildeten im Jahr 2000 Asiaten (41,6 % der Einwohner einschließlich 16,7 % Menschen japanischer, 14,7 % philippinischer und 4,7 % chinesischer Herkunft) und Menschen europäischer Herkunft (24,3 %). 7,9 % der Bewohner Hawaiis sind Polynesier (einschließlich der 6,6 % „ursprünglicher“ Hawaiier, die vor allem an der mittleren Nordküste der Insel Molokaʻi leben) sowie 1,8 % Afroamerikaner. Bereits 1941 machten indigene Hawaiier kaum 6 % (22.000) der damals insgesamt 370.000 Einwohner aus – gegenüber 42.000 US-Militärangehörigen und etwa 150.000 japanischen Einwanderern. Außer Englisch sind Hawaii Creole English und Hawaiisch verbreitete Sprachen. Daneben werden weitere Minderheitensprachen gesprochen, etwa Japanisch und Chinesisch. Die größten Städte Geschichte Besiedlung Es waren vermutlich Polynesier von den Marquesas-Inseln, die zwischen dem zweiten und sechsten Jahrhundert (nach anderer Ansicht etwa seit 800 n. Chr.) nach Hawaii gelangten. Eine zweite Siedlerwelle von Polynesiern folgte etwa im 11. Jahrhundert von Tahiti aus. Die Seefahrer waren in der Lage, die ungeheure Entfernung von etwa 5500 Kilometern von den Marquesas mit großen Auslegerkanus dank einer ausgefeilten Navigationstechnik zu überwinden. Sie navigierten nach den Sternen, nach Strömungen und der Dünung, nach Wolkenbildung und -zug, aber auch nach Vogelschwärmen, Fischschwärmen, Treibholz und anderen Pflanzenteilen. All diese Informationsquellen und deren kollektive Bewahrung über mehrere Generationen ermöglichten es ihnen, über tausende von Kilometern bekannte Inseln wiederzufinden und gezielt neue Inseln zu suchen. Ihre Doppelrumpfboote bestanden aus ausgehöhlten und mit Harzen abgedichteten Baumstämmen als Schwimmkörpern. Diese wurden durch Balken zusammengehalten, die sich in der Mitte zwischen ihnen kreuzten. Auf dem den Schwimmkörpern entgegengesetzten Ende der Balken saß eine teilweise überdachte, leichtgebaute Plattform mit einer Tragfähigkeit für bis zu 100 Personen. Zusammengehalten wurde die ganze Konstruktion mit Seilen, die aus den Fasern der dicken Außenschale der Kokosnuss geflochten waren und über eine Haltbarkeit von bis zu fünf Jahren im Salzwasser verfügten. Auch das Segel des polynesischen Doppelrumpfbootes war eine Besonderheit. Mast und Segelfläche bildeten eine Einheit, ähnlich einem überdimensionalen Palmblattfächer mit zwei nach oben zeigenden Spitzen, zwischen denen eine halbkreisförmige Aussparung war, deren tiefsten Punkt die (eingebaute) Mastspitze bildete. Am jeweiligen Ende der beiden Schwimmkörper war zwischen ihnen eine Holzkonstruktion befestigt, in die sich, je nach Bedarf, das Segel stecken ließ. Daher besaß das polynesische Reiseboot im „westlichen Sinne“ weder Bug noch Heck, sondern Bug konnte auch Heck sein und umgekehrt, je nach Fahrtrichtung. Die Segelfläche selbst bestand aus geflochtenen Blättern des Schraubenbaumes (Lauhala). An der Spitze der neu-hawaiischen Gesellschaft standen die Adligen (Aliʻi), die ihre mythische Abstammung auf Götter zurückführten und ihre Macht auf das Prinzip des Kapu stützten. Das Kapu erlaubt und verbietet bestimmte Handlungen beziehungsweise den Zutritt zu bestimmten Orten (Tabu). Den Adligen folgten in der gesellschaftlichen Hierarchie die Priester, nach diesen kam das gemeine Volk. Zeitweise kam es zu Kriegen zwischen verschiedenen Stämmen; ein Clan wurde jeweils von einem Aliʻi angeführt, einem vermeintlich von den Göttern abstammenden Häuptling, oft eine Frau. Es wird vermutet, dass der Spanier Juan Gaetano im Jahr 1527 auf Hawaii landete. Überblick ab 1750 James Cook Am 20. Januar 1778 landete James Cook auf seiner dritten Pazifikreise an der Südwestküste der Insel Kauaʻi, die bereits am 18. Januar gesichtet worden war. Der eigentliche Zweck dieses Unternehmens bestand darin, die Nordwestpassage, einen Seeweg vom Nordostpazifik in den Nordwestatlantik um Nordamerika herum, zu finden. Er nannte die Inseln, auf denen noch immer mehrere Königreiche bestanden, zu Ehren von Lord Sandwich „Sandwich Islands“ (Sandwichinseln). Cook betrieb Tauschgeschäfte mit den Einheimischen und ließ neben Schweinen und Ziegen diverses Saatgut zurück. Allerdings schleppte Cooks Besatzung auch Geschlechtskrankheiten auf der Insel ein, welche die Bevölkerung innerhalb der folgenden 80 Jahre von 300.000 auf 60.000 schrumpfen ließen. Am 17. Januar 1779 ging Cook mit seinen Schiffen in der Kealakekua-Bucht auf der Insel Hawaii vor Anker, wo zu dieser Jahreszeit die einheimische Bevölkerung Makahiki feierte, ein Fest zu Ehren des Gottes Lono. Cook wurde sehr gut aufgenommen und wohl sogar als jene Gottheit verehrt. Im Februar 1779 verließ Cook die Inseln, kehrte aber für Reparaturarbeiten an einem seiner durch einen Sturm beschädigten Schiffe wenige Tage später in die Kealakekua-Bucht zurück. Diesmal war der Empfang nicht mehr so freundlich, und nach einigen Missverständnissen mit den Einheimischen wurden er und ein Teil seiner Mannschaft am 14. Februar 1779 getötet. Königreich Hawaiʻi Die wirtschaftlichen Beziehungen Hawaiis mit der Außenwelt begannen als Zwischenstation für Handelsschiffe zur Versorgung mit Proviant und Ersatzteilen. Der Export von Sandelholz von Hawaii nach China wurde am Anfang des 19. Jahrhunderts zu einem Handelsschwerpunkt, bevor in den 1820er bis 1860er Jahren Lāhainā und Honolulu zu wichtigen Häfen für die Walfänger im Nordpazifik wurden. Für den Zuckerrohranbau wurde ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Einwanderung von Vertragsarbeitern unter anderem aus China, verschiedenen Südseeinseln, Japan und Portugal gefördert, die im 20. Jahrhundert dann auch für den Ananasanbau stattfand. Kamehameha I. einigte gewaltsam die Inseln Hawaiis. Ab 1810 war er alleiniger Herrscher und damit der erste König von Hawaii. Seine Kamehameha-Dynastie regierte bis 1872, danach folgten noch drei gewählte Könige. Hawaii ist damit der einzige heutige Bundesstaat der USA, der früher einmal ein unabhängiges Land mit monarchischem Regierungssystem war. Die Unabhängigkeit Hawaiis war immer wieder bedroht. Nachdem 1815–1817 der in russischen Diensten stehende Deutsche Georg Anton Schäffer vergeblich versucht hatte, die Kontrolle über die nördlichen Inseln Kauaʻi und Niʻihau zu bekommen, scheiterten auch die fünfmonatige Annexion Hawaiis durch den Briten Lord George Paulet 1843 und die Besetzung Honolulus durch den Franzosen Louis Goarant de Tromelin 1849. Die Beziehungen Hawaiis zu den Vereinigten Staaten waren anfangs sehr gut. So ließen sich ab 1820 US-amerikanische Missionare (Kongregationalisten) in Honolulu nieder und die 1840 erklärte Souveränität des Königreichs wurde 1842 von den Vereinigten Staaten und 1843 vom Vereinigten Königreich und Frankreich formal anerkannt. Der Einfluss der Vereinigten Staaten wurde dennoch etwa seit 1850 immer größer, vor allem durch den Vertrag über zollfreien Zuckerexport in die USA von 1875 und seine Ergänzung 1887 mit der Übernahme des Marinestützpunkts Pearl Harbor. Unter dem äußeren Druck und auch zur Absicherung der Herrschaft gab es eine Reihe von wichtigen Reformen, wozu nach dem 1819 erfolgten symbolischen Bruch des Kapu-Systems und der Landverteilung von 1848 vor allem der Erlass von Verfassungen durch die Könige (1840, 1852, 1864) gehörten. Im Jahr 1887 kam es zu einem Umsturz von Geschäftsleuten und Plantagenbesitzern um Sanford Dole, der König Kalākaua zwang, die von Lorrin Thurston verfasste Bayonet Constitution als neue Verfassung Hawaiis anzuerkennen. Sie führte zum Verlust des Wahlrechts aller asiatischen Bewohner. Bei den Ureinwohnern Hawaiis war das Wahlrecht nun an ein bestimmtes Einkommen und Vermögen geknüpft, was den Kreis dieser Wähler einschränkte. Faktisch verlagerte sich hierdurch der politische Einfluss auf die eingewanderten Europäer und US-Amerikaner. Republik Hawaii Nach dem Sturz der Königin Liliʻuokalani durch einen Putsch eingewanderter Europäer und US-Amerikaner 1893 wurde am 15. Februar 1894 ein Komitee gebildet, das im März offiziell den Auftrag zur Ausarbeitung einer Verfassung für die zu gründende Republik Hawaii erhielt, da die Bemühungen um eine schnelle Annexion durch die USA keinen Erfolg hatten. Diese Verfassung wurde am 3. Juli 1894 durch einen Verfassungskonvent bestätigt und trat am folgenden Tag in Kraft. Als Präsident wurde der US-Amerikaner Sanford Dole eingesetzt. Die so begründete Republik wurde zwar kurz darauf durch die USA anerkannt; dies sollte aber vor allem dem Ziel der Annexion dienen. Annexion durch die Vereinigten Staaten Die Republik war nur von kurzer Dauer. Wegen der großen strategischen Bedeutung wurde Hawaii während des Spanisch-Amerikanischen Krieges durch einen gemeinsamen Entschluss (joint resolution) des Senates und des Repräsentantenhauses vom 7. Juli 1898 durch die Vereinigten Staaten annektiert. Der formelle Akt fand am 12. August 1898 statt. Das US-Territorium Hawaii erhielt mit dem Hawaiian Organic Act vom 30. April 1900 (in Kraft ab 14. Juni 1900) eine entsprechende Verwaltung. Die Machtübernahme stieß bei vielen Einheimischen auf Widerstand, da die hawaiische Sprache, Hula und andere Bereiche hawaiischer Kultur unter dem starken kulturellen Einfluss der USA zurückgedrängt wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Pearl Harbor zum wichtigsten Flottenstützpunkt der USA im Pazifik ausgebaut. Infolge des Angriffs der Japaner auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 traten die Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg ein. Sie setzten die zivile Regierung ab und verhängten acht Jahre lang das Kriegsrecht über Hawaii, was eine Außerkraftsetzung von Grundrechten bedeutete. Rund 500.000 US-Soldaten waren in dieser Zeit stationiert. Diese Zahl entsprach annähernd der damaligen Einwohnerzahl. 50. Staat der Vereinigten Staaten Die Einwanderung von Asiaten und US-Amerikanern hatte die Hawaiier zur Minderheit im eigenen Land gemacht. Der sprachliche und kulturelle Identitätsverlust begünstigte die Verbreitung des westlichen Lebensstils. Dies zeigte das Ergebnis eines Volksentscheids, in dem die Mehrheit für einen Beitritt zu den USA stimmte. Am 21. August 1959 wurde Hawaii zum 50. Gliedstaat und William F. Quinn zum ersten hawaiischen Gouverneur erklärt. Die USA verabschiedeten 1993 die Apology Resolution (formell United States Public Law 103–150), mit der sie den Putsch gegen die Monarchie von 1893 für unrechtmäßig erklärten und dafür um Entschuldigung baten. Das Gesetz, das am 23. November 1993 von beiden Häusern des Kongresses verabschiedet und am gleichen Tag von Präsident Bill Clinton unterzeichnet wurde, widerrief jedoch nicht die Annexion. Daher fordert die polynesische Urbevölkerung heute wieder mehr Unabhängigkeit, Rechte und Land für die Hawaiier sowie eine Sezession von den Vereinigten Staaten. 2019 lebten etwa 350.000 Nachkommen der Urbevölkerung in Hawaii. Die Unabhängigkeitsbewegung und Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen abzubauen, sind ein Schwerpunkt des Matsunaga Institute for Peace, das auf einen gewaltfreien Ausgleich der Konflikte hinarbeitet. Nach Ansicht von David Keanu Sai, Professor für Politikwissenschaft an der University of Hawaiʻi at Mānoa, ist Hawaii nie Teil der USA geworden, sondern lediglich militärisch besetzt worden. Die Anerkennung dieses Umstands müsse jeder Unabhängigkeitsbestrebung vorausgehen. Er vertritt auch die Meinung, dass bei der Frage nach der Souveränität die Rasse keine Rolle spielen dürfe, da das Königreich Hawaii auch vor der Annexion schon eine multi-ethnische Gesellschaft war. Unabhängigkeitsbestrebungen der Indigenen Seit der Annexion durch die USA gibt es nach wie vor eine aktive – wenn auch zersplitterte – Unabhängigkeitsbewegung auf Hawaii, die insbesondere von der Minderheit der Ureinwohner getragen wird. 2005 wehrten sie sich erfolgreich gegen die Vergabe des Status „Native Americans“, der sie mit den Indianern des Festlandes gleichgesetzt hätte, was der Aberkennung freiheitlicher Bestrebungen gleichgekommen wäre. Die Souveränitätsbewegung erhielt besonders 2008 öffentliche Aufmerksamkeit, als eine Gruppe von Aktivisten den ehemaligen Königspalast in Honolulu besetzte und die Unabhängigkeit ausrief. Im gleichen Jahr sprach sich der russische UN-Funktionär Alexei Avotomonow für die Entkolonialisierung von Hawaii aus. 2009 belegte der hawaiische Politikwissenschaftler Noenoe K. Silva mit seiner Aufarbeitung der Inselgeschichte (Aloha Betrayed: Native Hawaiian Resistance to American Colonialism) die völkerrechtliche Brisanz des Themas. US-Präsident Obama (selbst auf Hawaii geboren) zeigte sich den Bestrebungen für mehr Eigenständigkeit gegenüber prinzipiell offen. Am 11. Mai 2015 schlug Pakistan beim UN-Menschenrechtsrat in Genf vor, dem Vorschlag von Alfred de Zayas (UN-Experte zur Förderung einer demokratischen und gerechten Weltordnung) zu folgen, der 2013 vorschlug, Hawaii und Alaska wieder auf die Liste der nicht-selbst-regierten Territorien (Non-Self-Governing Territories) zu setzen, von der sie 1959 unrechtmäßig gestrichen wurden. Hawaiis Indigene werden vor dem Rat durch Leon Kaulahao Siu als Gesandter der Allianz für die Selbstbestimmung von Alaska und Hawai´i vertreten. Siu ist zudem „Schatten-Außenminister“ des Hawaiian Kingdom Government, einer Gruppe, die sich als „überlebende Nachfolger des hawaiischen Königreiches“ versteht. Er beruft sich auf die indigene Bevölkerung, die sich 2014 mehrheitlich für die Unabhängigkeitsbestrebungen ausgesprochen hätten. Allerdings lebt die Mehrheit der indigenen Hawaiier bereits auf dem amerikanischen Festland. Die hohen Lebenskosten in Hawaii führen zu einem kontinuierlichen Wegzug. Politik Präsidentschaftswahlen Am 8. November 1960 durfte Hawaii erstmals an einer US-Präsidentschaftswahl teilnehmen. Hawaii gilt traditionell als sicherer Staat für demokratische Präsidentschaftskandidaten. Nur zweimal, 1972 und zuletzt 1984, gingen die Wahlmännerstimmen Hawaiis an einen Republikaner – in beiden Fällen hatte dieser auch insgesamt mit überwältigender Mehrheit gewonnen. Hawaii stellt im Electoral College bei der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 2024, sowie schon seit 1964, vier Wahlleute. Obwohl der 44. Präsident der Vereinigten Staaten, Barack Obama, im Staat geboren wurde, konnte doch Lyndon B. Johnson 1964 mit rund 79 % der Stimmen ein wesentlich besseres Ergebnis erzielen im Vergleich zu Obama, bei dessen bestem Wahlergebnis, als er 2008 rund 72 % der Stimmen verbuchen konnte. Aus republikanischer Sicht war das Wahlergebnis von 1972 das erfolgreichste, als Richard Nixon 62 % Wählerstimmen erhielt. Das beste Wahlergebnis eines „dritten Kandidaten“ erzielte Ross Perot 1992, als er 53.003 Stimmen erhielt, was 14,22 Prozentpunkten entspricht. Vertreter von Hawaii in der US-Hauptstadt Liste der Senatoren der Vereinigten Staaten aus Hawaii Liste der Mitglieder des US-Repräsentantenhauses aus Hawaii Mitglieder im 118. Kongress Wirtschaft und Infrastruktur Das reale Bruttoinlandprodukt pro Kopf (englisch per capita real GDP) lag im Jahre 2016 bei USD 58.742 (nationaler Durchschnitt der 50 US-Staaten USD 57.118; nationaler Rangplatz: 16). Das mittlere jährliche Haushaltseinkommen liegt zwischen 133.165 US-Dollar in East Honolulu und 15.654 US-Dollar in Hawaiian Ocean View (nationaler Rangplatz: 2). Der mittlere Preis eines Einfamilienhauses lag im Juni 2021 auf Maui bei 1,12 Mio. US-Dollar, auf Kauaʻi bei 1,10 Mio. US-Dollar, auf Oʻahu bei 978.000 US-Dollar und auf Hawaiʻi (Big Island) bei 465.000 US-Dollar. Die Arbeitslosenquote lag im November 2017 bei 2,0 % (die der USA bei 4,1 %). Der Tourismus ist der Hauptwirtschaftszweig des Staates. Die Besucherzahl erreichte im Jahr 2019 mit 10,425 Millionen Touristen den historisch höchsten Stand. Sie gaben im letzten Jahr vor der COVID-19-Pandemie 17,8 Milliarden US-Dollar auf den Inseln aus und generierten Steuereinnahmen von 2,0 Milliarden US-Dollar, gefolgt von den wirtschaftlichen Aktivitäten und Einflussfaktoren der militärischen Anlagen und Truppen. Der Anbau und Export von Zuckerrohr und Ananas auf Plantagen war früher der bedeutendste Wirtschaftszweig und leistete bis zum Ende des 20. Jahrhunderts einen wichtigen Beitrag zum Einkommen. Der Walfang wurde bereits von Kamehameha V. (1863–1873) verboten, so dass der Anbau dieser Pflanzen immer wichtiger wurde. 1901 gründete James Dole auf Hawaii die Hawaiian Pineapple Company. Nach der Stilllegung der letzten Zuckerrohrplantage 2016 und der meisten Ananasplantagen, werden Blumen, Macadamia-Nüsse, Kaffee, Bananen, Tabak, Reis, Baumwolle, Papayas, Guave, Kokosnüsse und andere tropische Früchte geerntet. Des Weiteren werden Orchideen gezüchtet, Rinderweidewirtschaft und Fischfang (Thunfisch) betrieben. Bekannt ist auch der Anbau von Cannabis. 1990 führte die US-Regierung die Operation Wipeout aus. Es wurden über 90 % der hawaiischen Cannabispflanzen vernichtet, das entsprach etwa einem Wert von sechs Milliarden US-Dollar. Die Hollywood-Filmindustrie auf Hawaii ist ebenfalls ein wichtiger Zweig der Wirtschaft. Der Hafen Honolulus hat ausgedehnte Verladeanlagen und liegt im Mittelpunkt der transpazifischen Passagier- und Frachtschifffahrtslinien. Der Internationale Flughafen Honolulu ist Flugverkehrsknotenpunkt im Pazifik. Industriezweige sind Lebensmittelverarbeitung meist für den US-amerikanischen Markt (Dosenananas), Zuckerraffinade, Maschinenbau, Metallwaren, Baustoffe und Bekleidungsindustrie. Militäranlagen wie der Flottenstützpunkt Pearl Harbor, die Joint Base Pearl Harbor-Hickam und das Tripler Army Medical Center sind für die örtliche Wirtschaft von Bedeutung. Einzelne Inseln Oʻahu ist die drittgrößte Insel Hawaiis, auf der 75 % der 1,4 Millionen Einwohner der Inselkette leben. Die meisten japanischen Einwanderer leben hier. Honolulu, Hawaiis Hauptstadt, erstreckt sich auf einer Länge von über 42 km. Neben dem multikulturellen Stadtzentrum liegen auf Oʻahu der lebendige und weltberühmte Badeort Waikīkī sowie der erloschene Vulkan „Diamond Head“, das Wahrzeichen von Honolulu und Waikīkī. Waikīkī Beach ist ein vier Kilometer langer Strand. Die Strände an der North Shore sind berühmt für ihre bis zu 15 Meter hohen Wellen und gelten als Surferparadiese. Oʻahu zieht im Jahr (2016) 5,6 Millionen Touristen an. Auf der Militärbasis Pearl Harbor kann das USS Arizona Memorial – die Gedenkstätte des Schlachtschiffes USS Arizona – besichtigt werden. Beim Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 kamen 2346 US-Soldaten ums Leben und acht Schiffe wurden versenkt. Heute ist dieser große geschützte Hafen an der Südküste fast gänzlich militärisches Sperrgebiet. Er dient den USA als strategische Flottenbasis und U-Boot-Stützpunkt für den Pazifikraum. Maui ist die zweitgrößte Insel Hawaiis, die mit ihren zahlreichen weißen Sandstränden und dem historischen Städtchen Lāhainā 2,6 Millionen Touristen im Jahr (2016) anlockt und damit bei den Besucherzahlen der Inseln an zweiter Stelle steht. Hawaiʻi ist die größte und jüngste Insel des Archipels. Sie weist 11 der 13 Klimazonen der Erde auf. Die Gipfel des Mauna Kea – „weißer Berg“ – (4207 m) und Mauna Loa – „hoher Berg“ – (4169 m) sind im Winter von Schnee bedeckt. Hier gibt es nur wenige weiße Sandstrände, die meisten Strände bestehen aus schwarzen Lavafragmenten. Die Insel Hawaiʻi liegt bei der Anzahl der Touristen mit 1,55 Millionen (2016) an dritter Stelle nach Oʻahu und Maui. Kauaʻi ist Hawaiis älteste und grünste Insel, sie wird auch Garteninsel genannt. Die gezackten und üppig bewachsenen Klippen im Norden dieses Tropenparadieses stehen im starken Kontrast zu der trockeneren Westseite, die durch den Waimea Canyon geprägt ist. Der Großteil der Küste wird von ursprünglichen, feinen Sandstränden mit Korallenriffen umsäumt. Am eindrucksvollsten ist die entlegene „Nā Pali“ Küste und der dort verlaufende „Nā Pali Trail“ Wanderweg. Der Gipfel des Waiʻaleʻale (1569 m) ist als regenreichster Ort der Erde bekannt. Jurassic Park wurde auf dieser Insel verfilmt. Lānaʻi ist mit 364 km² die kleinste der öffentlich zugänglichen Inseln Hawaiis und befindet sich zu 98 % im Privatbesitz von Larry Ellison. Der Spitzname Ananasinsel trifft jedoch seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr zu, da dort bereits im Jahr 1992 der Ananasanbau eingestellt wurde. Verkehr Hawaii hat mit der in Honolulu beheimateten Hawaiian Airlines eine Fluggesellschaft, welche neben den Nachbarinseln auch Ziele in Nordamerika, Australien, Asien und im Pazifik anfliegt. Die aus Kailua-Kona operierende Mokulele Airlines bedient die Inseln Hawaiʻi, Oʻahu, Maui, Molokaʻi, Lānaʻi und einige Ziele in Kalifornien. Island Air verbindet Oʻahu mit Hawaiʻi, Maui und Kauaʻi. Eine direkte Flugverbindung von Hawaii nach Europa gibt es nicht. Fährverbindungen auf den Hawaii-Inseln bestehen nur zwischen Maui und Lānaʻi. Ein öffentliches Bussystem gibt es auf den Inseln Oʻahu unter der Bezeichnung TheBus, Maui unter der Bezeichnung Maui Bus, Kauaʻi unter der Bezeichnung The Kauai Bus und Hawaii unter der Bezeichnung Hele-On Bus. TheBus bedient 93 Linien mit einer Flotte von 525 Bussen und wurde in den Jahren 1995 und 2001 von der American Public Transportation Association als bestes öffentliches Personennahverkehrssystem Amerikas ausgezeichnet. Maui Bus bedient zwölf Linien, The Kauai Bus neun Linien und Hele-On Bus 22 Linien. Auf der Insel Maui gibt es im Westen die Lahaina, Kaanapali and Pacific Railroad, auch bekannt als Sugar Cane Train (Zuckerrohrbahn). Hierbei handelt es sich um eine circa zehn Kilometer lange, dampfbetriebene Touristenbahn. In Honolulu besteht mit Honolulu Rail Transit seit 2023 eine meist als Hochbahn ausgeführte Metrolinie. Kultur Hawaii gehört zum polynesischen Kulturraum. Die hawaiische Sprache (ʻōlelo Hawaiʻi) ist neben dem Englischen offizielle Sprache des US-Staates. Da eine Schriftsprache erst im 19. Jahrhundert eingeführt wurde, kommt der Überlieferung in Erzählungen, Gesängen und im Hula eine besondere Bedeutung zu. Auch die Namen von Personen und Orten spielen eine wichtige Rolle für die Bewahrung von Traditionen. Fischfang und Landwirtschaft waren in der hawaiischen Kultur hoch entwickelt. Die Nutzung der natürlichen Ressourcen war durch die Aufteilung der Inseln in einzelne Bereiche (ahupuaʻa) geregelt. Dabei ist die Verbindung zum Land (ʻāina) und der Respekt gegenüber der gesamten Natur besonders wichtig. Die Grundlage des Zusammenlebens und der verschiedenen kulturellen Aktivitäten war die erweiterte Familie (ʻOhana). Hierzu gehört auch die Ehrung der älteren Generation und der Vorfahren (kupuna, Mehrzahl: kūpuna) sowie der als ʻaumākua (Einzahl: ʻaumakua) verehrten Familiengottheiten. Bildung Im Jahre 1840 errichtete König Kamehameha III. das erste staatliche Schulsystem. Mehr als 60 Jahre später folgten nach und nach die Gründungen mehrerer Universitäten: 1907 wurde die University of Hawaiʻi gegründet, 1955 die Chaminade University of Honolulu und 1965 die Hawaiʻi Pacific University. Die bedeutendste staatliche Hochschule auf Hawaii ist mit rund 18.000 Studenten die University of Hawaiʻi at Mānoa. Außer dem Standort in Mānoa gehören zu dem University of Hawaiʻi System noch zwei andere Hochschulen sowie zahlreiche Community Colleges und Forschungsinstitute. Religion Die ethnische Religion der indigenen Bevölkerung – die Hawaiische Religion – gehörte zu den relativ einheitlichen traditionellen polynesischen Religionen, die vor allem durch einen Ahnenkult, eine polytheistische Götterwelt mit einer hierarchischen Rangordnung – die die sozio-politischen Strukturen des vorstaatlichen Häuptlingstums widerspiegelte – sowie durch die beiden zentralen und verbundenen Begriffe Mana (durch Leistungen und Taten übertragbare transzendente Macht) und Tapu (unantastbar Heiliges oder Geweihtes, auf Hawaii Kapu, siehe auch Tabu) gekennzeichnet sind. Die traditionelle Religion hat die Entdeckung des Hawaiʻi-Archipels durch Europäer im Jahre 1778 keine 50 Jahre überstanden. Bereits wenige Jahre nach den ersten Kontakten waren viele Tabus durch den Kontakt mit den Europäern erschüttert. Im Jahre 1819 wurde das wichtige Tabu, dass Frauen und Männer nicht gemeinsam essen dürfen, abgeschafft. Dies schwächte die traditionelle hawaiische Religion entscheidend. 1820 kamen christlich-evangelikale Missionare ins Land, die die Unterstützung eines Teils der Adelsklasse hatten. 1827 folgten katholische Missionare, danach Mormonen und Methodisten. 1862 lud König Kamehameha IV. auch die Anglikaner ein, auf Hawaii zu missionieren. Während der 1850er Jahre gelangten die drei chinesischen Religionen (Konfuzianismus, Daoismus, Buddhismus) auf die Inseln sowie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der Shintoismus und weitere buddhistische Schulen mit japanischen Einwanderern. In dieser Zeit traten die meisten indigenen Hawaiier zum Christentum über und es wurden Verbote der alten Religion durch die eigene Regierung erlassen. Als Gegenbewegung trat 1868 die sogenannte Kaoni-Bewegung auf den Plan, die versuchte, christliche und traditionelle Glaubenselemente synkretistisch zu verschmelzen. Nach den laufenden Erhebungen des evangelikal-fundamentalistisch ausgerichteten Bekehrungsnetzwerkes Joshua Project sind 74 Prozent der indigenen Hawaiier Christen, 16 Prozent sind nicht-religiös und 10 Prozent bekennen sich zum traditionellen Glauben. Dies deckt sich in etwa mit den Angaben des Pew Research Centers (amerikanisches Meinungsforschungsinstitut), die für Native american religions auf Hawaii unter 1 Prozent (bezogen auf die Gesamtbevölkerung) ansetzen. Die Web-Informationen der indigenen hawaiischen Unabhängigkeitsbewegung, das Wiedererstarken der spirituellen Ritualkultur Hoʻoponopono oder die Tatsache, dass sich Nachfahren der hawaiischen Herrscher- und Priesterklasse wieder öffentlich zu ihrer direkten Abstammung vom Kriegsgott Ku bekennen, zeigt, dass heute eine Revitalisierung der traditionellen Religion im Gange ist. (Dabei ist allerdings unklar, inwieweit es sich um überlieferte, synkretistische oder esoterisch veränderte Vorstellungen handelt.) Bezogen auf die Gesamtbevölkerung Hawaiis ermittelte das Pew Research Center: 63 % Christen (davon rund 60 % Protestanten und 32 % Katholiken) 20 % ohne Zuordnung oder Bedeutung 8 % Buddhisten 5 % Agnostiker 2 % Atheisten 2 % Moslems, Hindus, Juden, Spiritualisten und Traditionelle (jeweils unter 1 %) Hoʻoponopono Hoʻoponopono ist ein psycho-spirituelles Verfahren der alten Hawaiier zur Aussöhnung und gegenseitigen Vergebung, ein sanfter Weg zur Konfliktlösung einschließlich Lossprechung. Aber auch eine Philosophie und ein Lebensstil. Traditionelles hoʻoponopono wurde durch einen oder eine kahuna lapaʻau (Heilpriester) zur Heilung körperlicher und geistiger Krankheiten moderiert, vorwiegend mit Familiengruppen. Eine moderne, synkretistische Version wurde erstmals von Morrnah Simeona um 1976 vorgestellt, die der Einzelne allein durchführen kann. Hula Hula ist ein erzählender polynesischer Tanz. Kunsthandwerk Matten aus Tapa oder Lauhala Kunsthandwerk aus Holz Medizin Laʻau Lapaʻau Sport Wellenreiten (hawaiisch: heʻe nalu) Ironman Hawaii Auslegerkanu Molokai-Hoe-Regatta Essen Eine etwa 800 n. Chr. durch die Polynesier entdeckte Grundzutat war die Nutzpflanze Taro, welche auch heutzutage noch in einigen Nationalgerichten Hawaiis wie etwa dem Poi verwendet wird und gerne mit Lomi-Lomi-Lachs gegessen wird. Zu weiteren typisch hawaiischen Gerichten zählen Ahi Poke (eine spezielle rohe Thunfisch-Speise) und Kālua Pig (ein gegartes Schwein aus einem Erdboden-Ofen, dem Imu). Loco Moco ist ein Reisgericht hawaiischer Herkunft, das in zahlreichen Variationen vorkommt. Zur Erfrischung dient häufig Shave Ice. Hierfür wird Eis von einem großen Eisblock abgeschabt und mit verschiedenen Zuckersirups verfeinert und es wird auch manchmal mit einer Kugel Vanilleeis im Plastikbecher serviert. Trotz ihres Namens sind Pizza Hawaii und Toast Hawaii keine hawaiischen Gerichte, sondern kanadische bzw. deutsche Erfindungen. Lediglich die Verfügbarkeit von Ananaskonserven zur Zeit des Wirtschaftswunders und die Verbindung dieser exotischen Frucht mit der Inselgruppe im Pazifik führten zu diesen Bezeichnungen. Naturparks Auf Hawaii befinden sich drei National Monuments: Papahānaumokuākea Marine National Monument, das größte National Monument, wenn man die Meeresfläche voll anrechnet Teile des World War II Valor in the Pacific National Monuments, nämlich das USS Arizona Memorial und das USS Utah Memorial Honouliuli National Monument Das Papahānaumokuākea Marine National Monument und der Hawaiʻi-Volcanoes-Nationalpark zählen zum Welterbe in den Vereinigten Staaten von Amerika. Der National Park Service führt des Weiteren sieben National Natural Landmarks für den Bundesstaat sowie einen National Historic Trail, den Ala Kahakai National Historic Trail (Stand 30. September 2017). Kulturdenkmäler In Hawaii liegen drei National Historical Parks und eine National Historic Site: Kalaupapa National Historical Park Kaloko-Honokōhau National Historical Park Puʻuhonua o Hōnaunau National Historical Park Puʻukoholā Heiau National Historic Site Hinzu kommen 33 National Historic Landmarks sowie 356 Bauwerke und Stätten, die im National Register of Historic Places eingetragen sind (Stand 30. September 2017). Hawaii als literarischer Schauplatz Belletristik Literarisch wurde die Geschichte Hawaiʻis in dem bekannten Roman von James A. Michener Hawaii verarbeitet. Mehrere Episoden aus der Geschichte Hawaiis thematisierte Jack London in seinen Südseegeschichten. Im Werk Mark Twains und Robert Louis Stevensons finden sich ebenfalls Spuren ihrer Aufenthalte auf den Inseln. Die US-amerikanische Schriftstellerin Ruth Tabrah machte die Inseln häufig zum Schauplatz ihrer Erzählungen und schrieb eine Geschichte Hawaiis. Film und Fernsehen Hawaii ist beliebte Kulisse und war Drehort zahlreicher Filmproduktionen. Die Filmindustrie ist auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Im Jahr 2021 gab diese auf den Inseln über 500 Millionen US-Dollar aus. Hawaii verfügt als einziger US-Bundesstaat über ein staatliches Filmstudio, das Hawaii Film Studio. Zu den wichtigsten Produktionen in Hawaii gehören: 50 erste Dates > Komödie > gefilmt 2004 auf Oʻahu/Hawaii Aloha Summer > Komödie > gefilmt 1988 auf Kauaʻi/Hawaii Baywatch – Die Rettungsschwimmer von Malibu > US-Fernsehserie > Seasons 1999–2001 gefilmt auf Oʻahu/Hawaii BEACH BOYS: 25 Years together > Concert am 12. Dez. 1986 Waikīkī Beach, Honolulu, Oʻahu/Hawaii Big Jim McLain > mit John Wayne > gefilmt 1952 auf Oʻahu/Hawaii Blaues Hawaii (Blue Hawaii) > mit Elvis Presley > gefilmt 1961 auf Hawaii & Kauaʻi Blauwasserleben > Drama > gefilmt auf Maui Das Paradies in uns > Fernsehdrama > gefilmt 2013 auf Maui Deadly Honeymoon > Drama > gefilmt 2010 auf Oʻahu/Hawaii Der König von Hawaii (Diamond Heat) > mit Charlton Heston > gefilmt 1963 auf Kauaʻi/Hawaii Dog – Der Kopfgeldjäger (seit 2004), Reality-Fernsehshow über einen Bounty Hunter und dessen Familie Die Hafenkneipe von Tahiti (Donovan’s Reef) > mit John Wayne, Lee Marvin > gefilmt 1963 auf Kauaʻi/Hawaii ELVIS: Aloha from Hawaii – Rehearsal Concert > am 12. Jan. 1973 > Convention Center, Honolulu/Oʻahu/Hawaii Aloha from Hawaii > am 14. Jan. 1973 > Convention Center, Honolulu/Oʻahu/Hawaii Nie wieder Sex mit der Ex (Forgetting Sarah Marshall) > Komödie > gefilmt 2008 auf Hawaii Verdammt in alle Ewigkeit (From here to Eternity) > mit Montgomery Clift, Burt Lancaster > gefilmt 1952 auf Oʻahu/Hawaii April entdeckt Hawaii (Gidget goes Hawaiian) > Komödie > gefilmt 1961 u. a. auf Oʻahu/Hawaii Girls! Girls! Girls! > mit Elvis Presley > gefilmt 1962 u. a. auf Hawaii Hawaii > mit Julie Andrews, Richard Harris, Gene Hackman > gefilmt 1966 u. a. auf Hawaii > Regie: George Roy Hill (nach dem Roman von James A. Michener) Herrscher der Insel (The Hawaiians) > mit Charlton Heston > gefilmt 1970 auf Kauaʻi/Hawaii > Buch: James A. Michener > Fortsetzung von Hawaii/1966 Hawaii > US-Fernsehserie > gefilmt seit 2004 auf Hawaii Hawaii Fünf-Null > US-Fernsehserie mit Jack Lord > 1968–1980 auf Oʻahu/Hawaii Hawaii Five-0 > US-Fernsehserie > 2010–2020 auf Oʻahu/Hawaii, Neuauflage der Serie Hawaii Fünf-Null Hawaiʻi – Oʻahu – Maui – Kauaʻi > 5-teilige Doku a 45 Min. > 3-sat.de Hawaiian Heat > US-Fernsehserie > gefilmt 1984 u. a. auf Oʻahu/Hawaii Jurassic Park > Dir: Steven Spielberg > gefilmt 1993 auf Kauaʻi/Hawaii Meine erfundene Frau (Just go with it) > mit Jennifer Aniston und Nicole Kidman > gefilmt 2011 u. a. auf Kauaʻi & Maui/Hawaii Kona Coast > Drama > gefilmt 1968 auf Hawaii Lost > US-Fernsehserie > gefilmt 2004–2010 auf Oʻahu/Hawaii Magnum > US-Fernsehserie > gefilmt 1980–1988 auf Oʻahu/Hawaii Magnum P.I. (2018) > Ausstrahlung seit 2019, Drehort zu großen Teilen Honolulu North Shore > Spielfilm > gefilmt 1987 auf Oʻahu/Hawaii North Shore > US-Fernsehserie 2004–2005 gefilmt auf Hawaii One West Waikiki > US-Fernsehserie mit Cheryl Ladd > gefilmt 1994–1996 auf Oʻahu/Hawaii Unternehmen Seeadler (Operation Pacific) > mit John Wayne, Ward Bond > gefilmt 1951 auf Oʻahu/Hawaii Südsee-Paradies (Paradise Hawaiian Style) > mit Elvis Presley > gefilmt 1966 auf Hawaii & Kauaʻi Pearl > Fernseh-Mini-Serie mit Dennis Weaver, Robert Wagner > 1978 gefilmt auf Oʻahu/Hawaii Pearl Harbor > mit Ben Affleck > gefilmt 2001 u. a. auf Oʻahu/Hawaii Pearl Harbor > Dokumentation 2001, 225 Min., Revalation DVD Princess Kaiulani > Drama > gefilmt 2009 auf Hawaii Race the Sun – Im Wettlauf mit der Zeit > mit James Belushi, Halle Berry > gefilmt 1996 auf Oʻahu/Hawaii Ride the wild Surf > mit Fabian, Shelley Fabares, Barbara Eden (Jeannie) > gefilmt 1964 auf Hawaii Saved by the Bell: Hawaiian Style > Komödie > gefilmt 1992 auf Oʻahu/Hawaii Six Days in Paradise > mit David Carradine, George Kennedy > gefilmt 2010 auf Hawaii Soul Surfer > gefilmt 2011 u. a. auf Kauaʻi & Oʻahu/Hawaii > Drama über die Surferin Bethany Hamilton The Descendants – Familie und andere Angelegenheiten > Drama-Komödie > mit George Clooney > gefilmt 2011 auf Kauaʻi/Hawaii Hawaii Crime Story (The Big Bounce) > mit Morgan Freeman, Willie Nelson > gefilmt 2004 auf Hawaii Auf schrägem Kurs (The Wackiest Ship in the Army) > mit Jack Lemmon, Ricky Nelson > gefilmt 1960 auf Kauaʻi/Hawaii Tides of War > Drama > gefilmt 2005 auf Oʻahu/Hawaii Tora! Tora! Tora! (1970) > der Angriff auf Pearl Harbor Tropic Thunder > Actionkomödie > gefilmt 2008 u. a. auf Kauaʻi/Hawaii Tropical Passions > Drama > gefilmt 2002 auf Maui/Hawaii Wind on Water > US-Fernsehserie mit Bo Derek > gefilmt 1998 auf Hawaii Windtalkers > mit Nicolas Cage > gefilmt 2002 u. a. auf Oʻahu/Hawaii (Themen: Geologie Hawaiis, Entstehungsgeschichte, Pflanzen- und Tierwelt) Terrace House: Aloha State (2016–2017) Navy CIS: Hawaiʻi (NCIS: Hawaiʻi) US-Krimiserie > seit 2021 Die Reimanns – Ein außergewöhnliches Leben > seit 2013 an der North Shore (Oʻahu) > die einzige in Hawaii gefilmte deutsche TV-Serie Sonstiges Hawaii ist der gesündeste Staat der USA sowie der mit den glücklichsten Menschen und die Bevölkerung von Hawaii weist nach einer Studie der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC die höchste Lebenserwartung aller US-Bundesstaaten auf. Die traditionellen Blumenkränze, die Gästen um den Hals gelegt werden, heißen Leis. Hawaii ist der einzige Staat der USA, in dem Kaffee angebaut wird (Kona-Kaffee). Die Anbaugebiete befinden sich an den Hängen von Hualālai und Mauna Loa an der namensgebenden Kona-Küste der Insel Hawaiʻi, sowie im Süden der Insel Kauaʻi. Auch in der Nähe von Kāʻanapali auf Maui wird Kaffee angebaut. Hawaii ist der einzige Staat der USA, in dem Ananas und Bananen angebaut werden. Hawaii ist der einzige Staat der USA mit einem Königspalast (ʻIolani-Palast). In der Top-10-Liste aus dem Jahr 2015 der schönsten Sandstrände der USA des bekannten Strandtesters Stephen Leatherman alias Dr. Beach findet sich der Waimanalo Beach auf der Insel Oʻahu auf dem ersten Platz sowie Hamoa Beach auf der Insel Maui auf dem vierten Platz. Von den 22 Siegern der vorangegangenen Jahre waren es zwölfmal Strände in Hawaii. Auf der Insel Hawaii wird in 4200 Meter Höhe auf dem Gipfel des Mauna Kea mit dem Mauna-Kea-Observatorium eine der bedeutendsten Sternwarten betrieben. Auf Hawaii gibt es keine giftigen Schlangen. Hawaii hat die höchsten Hauspreise und die höchste Obdachlosenquote pro Kopf aller US-Bundesstaaten. Das größte Obdachlosencamp Hawaiis befindet sich in Waiʻanae auf Oʻahu. Der Asteroid des äußeren Hauptgürtels (48575) Hawaii ist nach Hawaii benannt. Hawaii war der erste US-Bundesstaat, der (2015) per Gesetz festlegte, 100 % seiner Elektrizität aus erneuerbaren Energien zu erzeugen. Das Ziel soll bis 2045 erreicht werden. Literatur Patrick Vinton Kirch: How Chiefs Became Kings: Divine Kingship and the Rise of Archaic States in Ancient Hawai’i. University of California Press, Berkeley 2010, ISBN 978-0-520-26725-1. Dieter Lohmann: Hawaii – tropisches Paradies auf heißem Untergrund. In: Nadja Podbregar; Dieter Lohmann: Im Fokus: Geowissen. Wie funktioniert unser Planet? Springer Verlag, Berlin, Heidelberg, 2013, ISBN 978-3-642-34791-7, S. 61–77 (zum Vulkanismus). Dieter Mueller-Dombois, Kent W. Bridges, Hampton L. Carson: Island Ecosystems. Biological Organization in Selected Hawaiian Communities. Hutchinson Ross Publishing Company, Stroudsburg, Pennsylvania + Woodshole, Massachusetts 1981, ISBN 0-87933-381-2. Michael D. Sorenson, Alan Cooper, Ellen Paxinos, Thomas W. Quinn, Helen F. James, Storrs L. Olson, Robert C. Fleischer: Relationships of the extinct moa-nalos, flightless Hawaiian waterfowl, based on ancient DNA. In: Proc. R. Soc. Lond. B. 1999, S. 2187–2193. Manfred Chobot: Aloha – Briefe aus Hawaii. Verlag Sonderzahl, Wien 2008. ISBN 978-3-85449-289-4. Manfred Chobot: Hawaiʻi. Mythen und Götter. Wieser Verlag, Klagenfurt/Celovec 2022. ISBN 978-3-99029-497-0 Weblinks | Seite des Staates Hawaii Deutschsprachige Seite des Fremdenverkehrsamts von Hawaii Zur Fauna: Liste landlebender Gliederfüßer auf Hawaii (Stand 2. Januar 2005) Zum Vulkanismus: Ken Hon u. a.: Field interpretation of active volcanoes. A handbook for viewing lava. Geology Dept., University of Hilo, Hawaii, 2008 (bezieht sich speziell auf Hawaii) (PDF; 8,0 MB; englisch) USGS, Hawaiian Volcano Observatory (HVO) (mit vielen Informationen zu den einzelnen Vulkanen) (englisch) Blog Hawaiian lava daily (hauptsächlich gute Photos) Einzelnachweise Bundesstaat der Vereinigten Staaten Inselgruppe (Australien und Ozeanien) Inselgruppe (Pazifischer Ozean) Inselgruppe (Polynesien) Ehemaliges Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung Inselgruppe als Namensgeber für einen Asteroiden Verwaltungseinheit als Namensgeber für einen Asteroiden
2206
https://de.wikipedia.org/wiki/Haar-Wavelet
Haar-Wavelet
Das Haar-Wavelet ist das erste in der Literatur bekannt gewordene Wavelet und wurde 1909 von Alfréd Haar eingeführt. Es ist außerdem das einfachste bekannte Wavelet und kann aus der Kombination zweier Rechteckfunktionen gebildet werden. Vorteilhaft am Haar-Wavelet ist die einfache Implementierbarkeit der zugehörigen Wavelet-Transformation als schnelle Wavelet-Transformation (FWT). Der Nachteil des Haar-Wavelets ist, dass es unstetig und daher auch nicht differenzierbar ist. Die Funktionen der Haar-Wavelet-Basis Skalierungsfunktion Die Skalierungsfunktion bzw. „Vater-Wavelet“-Funktion der Haar-Wavelet-Basis ist die Indikatorfunktion des Intervalls . Sie erfüllt die Funktionalgleichung mit . Waveletfunktion Die Waveletfunktion ist die „zusammengeschobene“ Differenz zweier aufeinanderfolgender Skalierungsfunktionen: , wobei . Die Schreibweise mit Vorfaktor sorgt dafür, dass die Matrix eine orthogonale Matrix ist. Dies ist Teil der Bedingungen, die orthogonale Wavelets erfordern. Multiskalenanalyse Diese Funktion erzeugt die Multiskalenanalyse der Stufenfunktionen. In dieser wird jeder Funktion mit „endlicher Energie“ auf jeder Skala die folgende Projektion zugewiesen: mit . Die Differenz zwischen zwei Skalen lässt sich dann durch das „Mutter-Wavelet“ bzw. die eigentliche Waveletfunktion ausdrücken: . Mit und als Funktionen im Hilbertraum gilt alle diese Funktionen haben -Norm 1, ist senkrecht zu falls , ist senkrecht zu falls oder , die bilden eine Hilbertbasis von . Schnelle Haar-Wavelet-Transformation Gegeben sei ein diskretes Signal f, welches durch eine endliche oder quadratsummierbare Folge dargestellt ist. Ihm ist als kontinuierliches Signal die Treppenfunktion zugeordnet. Vorwärtstransformation Aus dem diskreten Signal wird durch paarweises „Senkrechtstellen“ ein vektorwertiges Signal, die sogenannte Polyphasenzerlegung, erzeugt: . Dieser wird nun gliedweise mit der Haar-Transformationsmatrix multipliziert , dabei ist und . Rücktransformation Wir erhalten ein Mittelwertsignal und ein Differenzsignal , aus denen durch einfache Umkehr der vorgenommenen Schritte das Ausgangssignal zurückgewonnen werden kann: und Ist die Schwankung von Glied zu Glied im Ausgangssignal durch ein kleines beschränkt, so ist die Schwankung in durch beschränkt, also immer noch klein, die Größe der Glieder in jedoch durch . Ein glattes Signal wird also in ein immer noch glattes Signal halber Abtastfrequenz und in ein kleines Differenzsignal zerlegt. Dies ist der Ausgangspunkt für die Wavelet-Kompression. Rekursive Filterbank Wir können den Vorgang wiederholen, indem wir s zum Ausgangssignal erklären und mit obigem Vorgehen zerlegen, wir erhalten eine Folge von Zerlegungen , hat ein -tel der ursprünglichen Abtastfrequenz und eine durch beschränkte Schwankung, hat ebenfalls ein -tel der ursprünglichen Abtastfrequenz und durch beschränkte Glieder. Interpretation Als diskretes Signal wird meist eine reelle Folge über mit endlicher Energie betrachtet, . Unter diesen gibt es einige sehr einfache Folgen δn, Kronecker- oder Dirac-Delta genannt, eine für jedes . Für deren Folgenglieder gilt, dass das jeweils -te den Wert hat, , und alle anderen den Wert , falls . Jetzt können wir jedes Signal trivial als Reihe im Signalraum schreiben oder als Summe zweier Reihen . In vielen praktisch relevanten Signalklassen, z. B. bei überabgetasteten bandbeschränkten kontinuierlichen Signalen, sind Werte benachbarter Folgenglieder auch benachbart, d. h. im Allgemeinen liegen und dicht beisammen, relativ zu ihrem Absolutbetrag. Dies wird in der obigen Reihen aber überhaupt nicht berücksichtigt. In Mittelwert und Differenz von und käme deren Ähnlichkeit stärker zum Ausdruck, der Mittelwert ist beiden Werten ähnlich und die Differenz klein. Benutzen wir die Identität um benachbarte Glieder der ersten Reihe bzw. korrespondierende Glieder in der zweiten Zerlegung zusammenzufassen in (skalierten) Mittelwerten und Differenzen: Jetzt führen wir neue Bezeichnungen ein: die neuen Basisfolgen und mit den neuen transformierten Koeffizienten und . Wir erhalten somit die Zerlegung der Haar-Wavelet-Transformation . und mittels des unendlichen euklidischen Skalarproduktes können wir schreiben und . Die letzten drei Identitäten beschreiben eine „Conjugate Quadrature Filterbank (CQF)“, welche so auch für allgemeinere Basisfolgen und definiert werden kann. Die Basisfolgen entstehen alle durch Verschiebung um das jeweilige aus , die durch Verschiebung aus . Weiteres dazu im Artikel Daubechies-Wavelets. Nun enthält die Folge eine geglättete Version des Ausgangssignals bei halber Abtastrate, man kann also auch nach dieser Vorschrift zerlegen und dieses Vorgehen über eine bestimmte Tiefe rekursiv fortsetzen. Aus einem Ausgangssignal werden also nacheinander die Tupel , , , … Ist endlich, also fast überall Null, mit Länge , dann haben die Folgen in der Zerlegung im Wesentlichen, d. h. bis auf additive Konstanten, die Längen , , , … so dass die Gesamtzahl wesentlicher Koeffizienten erhalten bleibt. Die Folgen in der Zerlegung eignen sich meist besser zur Weiterverarbeitung wie Kompression oder Suche nach bestimmtem Merkmalen als das rohe Ausgangssignal. Modifikationen Die Polyphasenzerlegung des Ausgangssignals kann auch zu einer anderen Blockgröße s als 2 erfolgen, von der entsprechenden Haar-Matrix ist zu fordern, dass sie eine orthogonale Matrix ist und ihre erste Zeile nur aus Einträgen besteht. Diese Anforderung erfüllen die Matrizen der diskreten Kosinustransformation und die der Walsh-Hadamard-Transformation. Die Haar-Wavelet-Transformation entspricht einer diskreten Kosinustransformation zur Blockgröße , welche im Bild=Pixelrechteck nacheinander in horizontaler und vertikaler Richtung angewandt wird. Siehe auch Viola-Jones-Methode Literatur Alfréd Haar: Zur Theorie der orthogonalen Funktionensysteme, Mathematische Annalen 69, 331–371, 1910, doi:10.1007/BF01456927, insbesondere Kapitel 3 (ab S. 361). Weblinks Einzelnachweise Wavelet
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich%20VII.%20%28HRR%29
Heinrich VII. (HRR)
Heinrich VII. (* 1278/79 in Valenciennes; † 24. August 1313 in Buonconvento bei Siena) entstammte dem Haus Limburg-Luxemburg und war Graf von Luxemburg und Laroche sowie Markgraf von Arlon. Er war von 1308 bis 1313 römisch-deutscher König und ab dem 29. Juni 1312 römisch-deutscher Kaiser. Heinrich war der erste der insgesamt drei Kaiser des Heiligen Römischen Reiches aus dem Hause Luxemburg. In der Regierungszeit Heinrichs VII. gelangte das Haus Luxemburg in den Besitz des Königreichs Böhmen, was das Fundament für die später bedeutende Hausmacht der Luxemburger im Reich legte. Im deutschen Reichsteil betrieb Heinrich eine konsensorientierte und erfolgreiche Politik. Im Herbst 1310 unternahm er einen Italienzug, um sich die Kaiserkrone zu sichern. Heinrich VII. war der erste römisch-deutsche König nach dem Staufer Friedrich II., der auch zum Kaiser gekrönt wurde. Seine schon als König begonnene energische Arbeit zur Erneuerung der kaiserlichen Herrschaft führte bald zum Konflikt mit guelfischen Kräften in Italien und mit dem König von Neapel(-Sizilien) Robert von Anjou. In dieser Auseinandersetzung ergriff Papst Clemens V., der zunächst mit Heinrich kooperiert hatte, schließlich Partei für die Guelfen. Heinrichs auf Ausgleich zwischen den verfeindeten Gruppen in Reichsitalien zielende Politik scheiterte vor allem an den Widerständen der Beteiligten, die sich eine Politik jeweils zu ihren Gunsten erhofft hatten. Heinrich hatte bis zu seiner Königswahl gute Beziehungen zum Königshof von Paris unterhalten, doch verschlechterten sich diese aufgrund seiner Politik im westlichen Grenzraum, wo er verlorene Reichsrechte einforderte. Damit geriet Heinrich in Konflikt mit dem mächtigen französischen König Philipp IV. Das Kaisertum hatte während des Interregnums und auch in den Jahrzehnten danach kontinuierlich an Einfluss verloren. Heinrichs Politik zielte auf die Wiederherstellung kaiserlicher Rechte vor allem in Reichsitalien und im westlichen Grenzraum des Imperiums ab. Er betonte die besondere Rolle des Kaisertums im Sinne der traditionellen mittelalterlichen Reichsidee. Die von Heinrich betriebene Renovatio Imperii sorgte dafür, dass das Kaisertum wieder als europäischer Machtfaktor wahrgenommen wurde. Nach Heinrichs Tod verlor die universale Kaiseridee in der Folgezeit jedoch wieder zunehmend an Bedeutung. Während der Kaiser in der älteren Forschung oft eher als Träumer oder Phantast angesehen wurde, werden in der neueren Forschung seine Anknüpfung an geläufige kaiserlich-universale Vorstellungen sowie sein durchaus von realpolitischen Motiven geleitetes Handeln betont. Leben Heinrichs Grafenzeit Heinrich VII. wurde in Valenciennes als Sohn des Grafen Heinrich VI. von Luxemburg und der Beatrix von Avesnes geboren. Sein genaues Geburtsjahr ist unbekannt, in der neueren Forschung wird jedoch sehr oft für 1278/79 plädiert. Heinrich VII. hatte zwei jüngere Brüder, Balduin und Walram. Über die frühen Jahre ist wenig bekannt. Graf Heinrich VI. fiel bereits 1288 in der Schlacht von Worringen, so dass sich bis zu Heinrichs Volljährigkeit seine Mutter Beatrix um ihn und die Verwaltung Luxemburgs kümmerte. 1292 heiratete Heinrich Margarete von Brabant, womit die Feindschaft zwischen beiden Häusern, die noch aus der Schlacht von Worringen resultierte, beigelegt wurde. Heinrich und Margarete hatten drei Kinder: den Sohn Johann von Luxemburg (1296–1346) und zwei Töchter, Maria (1304–1324) und Beatrix (1305–1319). Die äußere Erscheinung Heinrichs beschrieb Albertino Mussato, der Heinrich verschiedentlich persönlich gesehen hatte, als mittelgroßen, eher mageren Mann, mit rötlichen Haaren und rötlicher Hautfarbe. Als Besonderheit erwähnte er ein Schielen des linken Auges. Heinrichs Muttersprache war, wie mehrfach in den Quellen belegt, das Französische, und er war nach dem französischen Ritterideal erzogen worden. Zudem unterhielt er als Graf gute Beziehungen zum Hof von Paris, wo er sich wohl auch einige Zeit aufhielt. Seit 1294 regierte Heinrich eigenständig. Im November 1294 leistete er dem französischen König Philipp IV. einen Lehnseid und erhielt zum Ausgleich eine „Lehnsrente“ ausgezahlt. Eine Doppelvasallität zwei Herren gegenüber, wie in diesem Fall gegenüber dem römisch-deutschen König und dem französischen König, war im westlichen Grenzraum des Reiches keineswegs ungewöhnlich. Heinrich betrieb als Graf in der Folgezeit stets eine unabhängige, auf den eigenen Vorteil bedachte Politik und konnte einige Erfolge verbuchen. Aus dem französisch-deutsch/englischen Krieg 1294–1297 hielt er sich, obwohl für Kriegsdienste auf Seiten Frankreichs bezahlt, weitgehend heraus. Er konnte sogar Gewinne erzielen, indem er gegen Heinrich von Bar vorging, einen in englischen Diensten stehenden Gegner der Luxemburger. Im Waffenstillstand von 1297 erscheint Heinrich als erster Verbündeter Frankreichs. Er genoss einiges Ansehen. Seine Grafschaft galt als gut verwaltet und er betrieb eine umsichtige Territorialpolitik. Konflikte mit dem Grafen von Bar und der Stadt Trier konnten schließlich beigelegt werden, die Bürger der Stadt Verdun hatten sich 1293/94 sogar dem Schutz des jungen Grafen von Luxemburg unterstellt. Sein Charakter wurde unter anderem vom eher guelfisch (anti-kaiserlich) gesinnten Chronisten Giovanni Villani sehr gelobt. Wiederholt wird in den Quellen auch die Frömmigkeit Heinrichs und seiner Ehefrau Margarete herausgestellt. Heinrich nahm im November 1305 an der Krönung Papst Clemens’ V. teil. Dank seiner guten Beziehungen wurde sein Bruder Balduin in jungen Jahren 1307/1308 Erzbischof von Trier. Aufgrund der maroden Finanzlage des Bistums Trier stellte Heinrich zudem einen Kredit in Höhe von 40.000 Turnosen zur Verfügung. Anfang Mai 1308 schloss Heinrich in Nivelles mit mehreren niederrheinischen Fürsten ein gegenseitiges Schutz- und Trutzbündnis. Königswahl von 1308 Nach der Ermordung König Albrechts am 1. Mai 1308, einer Tat mit rein persönlichen Motiven, mussten die Kurfürsten einen neuen König wählen. Die sieben Kurfürsten, die inzwischen ein exklusives Königswahlrecht hatten, waren zum damaligen Zeitpunkt: der Erzbischof von Köln, Heinrich II. von Virneburg; der Erzbischof von Mainz, Peter von Aspelt; der Erzbischof von Trier, Balduin von Luxemburg; der Pfalzgraf bei Rhein, Rudolf I. (der Stammler); der Herzog von Sachsen, Rudolf I. von Sachsen; der Markgraf von Brandenburg, Waldemar von Brandenburg; der König von Böhmen, Heinrich von Kärnten. An der Wahl Ende 1308 nahmen außer Heinrich von Kärnten, der in Böhmen nicht unangefochten herrschte, alle Kurfürsten teil. Zur Wahl standen mehrere Kandidaten. In Frage wären die Söhne Albrechts gekommen, doch das Verhältnis der Habsburger zu den Kurfürsten und speziell den vier rheinischen Kurfürsten war sehr angespannt. Eine dynastische Nachfolge war zudem kaum im Interesse der Wähler, die ein zu starkes Königtum, das ihre Vorrechte beschnitt, möglichst verhindern wollten. Mit Karl von Valois, dem jüngeren Bruder Philipps IV., bot sich sogar ein Thronkandidat aus dem französischen Königshaus an. Der französische Wahlvorstoß war keineswegs aussichtslos, da vor allem Heinrich von Virneburg eng an Frankreich gebunden war. Papst Clemens V. hingegen unterstützte dies nicht bedingungslos; vielmehr scheint er gehofft zu haben, dass ein neuer römisch-deutscher König den Papst von der zunehmenden französischen Einflussnahme entlasten könnte. Clemens V. stand aufgrund des Templerprozesses massiv unter Druck. Philipp IV. forderte zudem, dass auch ein Prozess gegen das Andenken von Papst Bonifatius VIII. eröffnet werden sollte, der nur wenige Jahre zuvor einen schweren Konflikt mit Paris ausgetragen hatte. Heinrich VII. hatte eventuell schon kurz nach dem Tod Albrechts mit dem Gedanken einer Kandidatur gespielt, doch bleibt dies unsicher. Im Spätherbst 1308 trat er jedenfalls als Bewerber auf und konnte sich schließlich durchsetzen. Der Kölner Erzbischof, der neben seiner eigenen Wahlstimme auch indirekt die Stimmabgabe Sachsens und Brandenburgs bestimmte, wurde durch große Zugeständnisse gewonnen. Die Wahl des Luxemburgers war wohl dem Wunsch der Kurfürsten geschuldet, einen fähigen, nicht allzu starken König zu wählen. Ein französischer Thronkandidat hätte den Kurfürsten wohl mehr Probleme bereiten können, zumal die französische Expansionspolitik im Westen des Reiches dann noch zugenommen hätte. Zuletzt gaben auch die geschickten Wahlverhandlungen und die üblichen begleitenden Wahlversprechen den Ausschlag für Heinrich. Eine große Bedeutung bei der Wahl von 1308 kam neben Peter von Aspelt, einem Unterstützer der Luxemburger, Heinrichs Bruder Balduin zu. Balduin sollte in der weiteren Politik der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts noch eine bedeutende Rolle spielen. Am 27. November 1308 wurde Heinrich in Frankfurt am Main von den sechs anwesenden Kurfürsten gewählt, am 6. Januar 1309 wurde er zusammen mit seiner Frau Margarete in der Kaiserstadt Aachen gekrönt. Die Wahl wurde ohne Bitte um Approbation Papst Clemens V. angezeigt. Heinrich führte als König die Ordnungszahl VII., womit der Staufer Heinrich (VII.) übergangen wurde. Vermutlich wurde der Staufer nicht gezählt, da er nicht völlig selbstständig regiert hatte und im Gedächtnis der Kurfürsten keine Rolle mehr spielte. Politisches Handeln in Deutschland Heinrich VII. sah sich beim Regierungsantritt mit einigen Problemen im Reich konfrontiert. Das Königtum hatte in der Regierungszeit seiner beiden Vorgänger, Adolf von Nassau und Albrecht I., im Konflikt mit mehreren Fürsten gelegen, denen die Hausmachtpolitik beider Könige speziell in Mitteldeutschland missfiel. Albrecht hatte sich im Gegensatz zu Adolf von Nassau gegenüber den Kurfürsten behaupten können, doch schadeten die anhaltenden Spannungen dem Ansehen des Königs und behinderten außerdem eine effektive Herrschaftsausübung. Heinrich wählte einen Neuanfang und verständigte sich frühzeitig vor allem mit den Habsburgern, die bei der Wahl 1308 unberücksichtigt geblieben waren. Heinrich bestätigte im Juni 1309 die Rechte der neuen Eidgenossenschaft (Uri, Schwyz und Unterwalden), welche ihre Mitglieder als direkte Untertanen des Königs auswiesen, was Heinrich eine gewisse Einflussmöglichkeit in diesem Raum verschaffte. Vergeblich war allerdings Heinrichs Versuch, den Gotthardpass als neues reichsunmittelbares Gebiet zu deklarieren, um die wichtige Südverbindung besser unter Kontrolle zu haben. Er sorgte aber in dieser Region für ruhige Verhältnisse, wobei er in einem Raum eingriff, in dem auch die Habsburger Interessen verfolgten. Das Verhältnis zwischen dem König und den Habsburgern blieb zunächst offen: Heinrich konnte sich nicht sicher sein, wie sich die Habsburger verhalten würden; umgekehrt fürchteten die Habsburger wohl um die Bestätigung ihrer Herrschaftsrechte durch den neuen König. Während des Hoftags in Speyer im August/September 1309, auf dem auch die Habsburger vertreten waren, ließ Heinrich die Leichname seiner beiden Vorgänger dort mit einigem Aufwand neu bestatten. Die folgenden Verhandlungen mit den Habsburgern verliefen zunächst angespannt, doch wurde recht bald eine Übereinkunft getroffen. Am 17. September 1309 bestätigte Heinrich die Rechte der Habsburger und verurteilte im Anschluss die Mörder Albrechts, denen „Ehre und Recht“ genommen wurde. Die Habsburger gaben ihre noch bestehenden Ansprüche auf das Königreich Böhmen auf und stellten Heinrich Truppen sowie ein Darlehen zur Verfügung; als Gegenleistung erhielten sie die Markgrafschaft Mähren als Pfand. Damit war eine für beide Seiten befriedigende Vereinbarung erzielt. Die Habsburger unterstützten in der folgenden Zeit die Politik Heinrichs, was einen Erfolg für den neuen König darstellte. Heinrich kooperierte auch mit den anderen Großen des Reiches, wie den Wittelsbachern, die sich später mit Truppen am Romzug beteiligten. Die Bedeutung des Konsenses zwischen dem König und den Großen im Rahmen mittelalterlicher Herrschaft wird in der neueren Forschung verstärkt betont; man spricht von „konsensualer Herrschaft“. Das verbliebene Reichsgut, das während des Interregnums reduziert worden war, wurde geordnet. Problematisch blieb die angespannte Finanzlage des Königtums, da die Einnahmen vergleichsweise gering waren. Im Sommer 1310 wurde ein Landfrieden für das Oberrheingebiet verkündet. Heinrichs effektive Königsherrschaft beschränkte sich, wie seine Reisewege im Reich (Itinerar) verdeutlichen, im Wesentlichen auf den Süden des Reiches; darauf bzw. auf die Oberrheinregion (die sogenannten „königsnahen“ Landschaften) beschränkte er auch den üblichen Königsumritt und seine folgenden Aufenthalte bis in den Herbst 1310. Der norddeutsche Raum hingegen stellte bereits seit der späten Stauferzeit ein Gebiet dar, in dem das Königtum nicht mehr effektiv eingreifen konnte („königsferne“ Gebiete). Heinrich hielt in Speyer (August/September 1309 und Anfang September 1310) und in Frankfurt am Main (im Juli 1310) Hoftage ab. Diese dienten neben der Vorbereitung des schon frühzeitig geplanten Romzugs auch der Ordnung der politischen Verhältnisse im deutschen Reichsteil, wo es zu keinen bedrohlichen Konflikten mehr kam. Heinrich VII. unterstützte den Niederschwäbischen Städtebund in dessen Auseinandersetzung mit dem Grafen Eberhard von Württemberg, der eine aggressive Territorialpolitik betrieb; gegen Eberhard wurde im Spätsommer 1310 der Reichskrieg erklärt, der sich noch bis ins Jahr 1316 hinzog. Ansonsten war die Königsherrschaft Heinrichs VII. unangefochten. Die Leitung der königlichen Kanzlei, in der vor allem während des Italienzugs einige rhetorisch recht beeindruckende Verlautbarungen angefertigt wurden, oblag Heinrich von Villers-Bettnach, Bischof von Trient. In der Kanzlei fungierten als Notare unter anderem Simon von Marville und Heinrich von Geldonia; im Verlauf des Romzugs kamen auch Italiener hinzu, darunter Bernhard von Mercato. Aufgrund der nur kurzen Regierungszeit Heinrichs und der problematischen Überlieferungslage lässt sich das Hofleben nur skizzenhaft rekonstruieren. Es war offenbar von der französischen Hofkultur geprägt, wie auch mehrere Personen aus dem romanischen Westen des Reiches zum engeren Umfeld Heinrichs gehörten, so z. B. Graf Heinrich von Flandern und dessen Bruder Guido von Namur, beide Verwandte des Königs, oder Bischof Theobald von Lüttich, der während der Straßenkämpfe in Rom 1312 getötet wurde. In die Streitigkeiten der Wettiner um die Markgrafschaft Meißen und die Landgrafschaft Thüringen mischte sich Heinrich im Unterschied zu seinen Vorgängern Adolf von Nassau und Albrecht zunächst nicht ein, hielt aber grundsätzlich an der Auffassung fest, dass beide Territorien nun der Verfügungsgewalt der Krone unterstanden. Das Verhältnis zwischen Friedrich dem Freidigen und Heinrich blieb bis Ende 1310 ungeklärt; vor allem gewährte Heinrich dem Wettiner längere Zeit nicht die gewünschten Ansprüche. Erst im Dezember 1310, als er sich bereits in Italien aufhielt, verzichtete der König auf seinen Anspruch hinsichtlich Thüringen und Meißen, mit denen nun Friedrich belehnt wurde. Als Gegenleistung erhielt Heinrich die Unterstützung der Wettiner hinsichtlich der luxemburgischen Ansprüche in Böhmen. In Böhmen herrschten seit dem Aussterben der Přemysliden in männlicher Linie im Jahr 1306 unruhige Verhältnisse. Heinrich von Kärnten, seit 1307 König von Böhmen, hatte sich durch seine Politik recht unbeliebt gemacht, sogar ein Bürgerkrieg schien zu drohen. Einflussreiche oppositionelle böhmische Kreise hatten daher bereits im August 1309 Kontakt zu Heinrich VII. aufgenommen, der sich zu diesem Zeitpunkt in Heilbronn aufhielt. Ob bereits damals ein luxemburgischer Thronkandidat erwogen wurde, bleibt aufgrund der Quellenlage letztendlich zwar offen, doch ist es angesichts der späteren Entwicklung wahrscheinlich. Im Juli 1310 wurden jedenfalls erneut Gespräche aufgenommen, um Heinrich zum Eingreifen zu bewegen. Heinrich ergriff nun diese Gelegenheit, da Böhmen zu den bedeutendsten Reichsterritorien zählte und eine machtpolitische Perspektive für das Haus Luxemburg bot. Zunächst erhoffte sich Heinrich die Krone Böhmens wohl für seinen zweiten Bruder Walram, dies stieß jedoch eher auf Ablehnung. Es kam bald darauf zu einer Einigung zwischen Heinrich und den böhmischen Gegnern Heinrichs von Kärnten; letzterer wurde für abgesetzt erklärt. Am 30. August 1310 belehnte Heinrich VII. seinen 14 Jahre alten Sohn Johann mit Böhmen. Am selben Tag heiratete Johann in Speyer Elisabeth, die Schwester des letzten anerkannten Böhmenkönigs, womit der luxemburgische Anspruch zusätzlich legitimiert wurde. Johann begab sich bald darauf nach Böhmen, wo er sich rasch durchsetzen konnte. Heinrich von Kärnten wurde bereits Ende 1310 aus Prag vertrieben. Er zog sich in seine Erbländer zurück und spielte in der Folgezeit keine entscheidende Rolle mehr, wenngleich er bei der Doppelwahl 1314 noch einmal die böhmische Stimme für sich beanspruchte und für den Habsburger Friedrich stimmte. Der Erwerb Böhmens war der größte Erfolg von Heinrichs Politik im deutschen Reichsteil. Damit waren die Grafen von Luxemburg, Territorialherren eher zweiten Ranges im Linksrheinischen, in den Besitz der erblichen Königskrone eines reichen Territoriums gelangt. Böhmen sollte zum Eckpfeiler der luxemburgischen Hausmacht werden, die in den folgenden Jahren noch erheblich ausgebaut wurde. Heinrich selbst unternahm diesbezüglich nichts, da der Italienzug unmittelbar bevorstand. Das weitere Vorgehen lag nun in der Hand Johanns, der während des Romzugs als königlicher Vikar im deutschen Reichsteil fungieren sollte. Frankreichpolitik Während Heinrich als Graf gute Beziehungen zum französischen Königshof unterhalten hatte, bemühte er sich als römisch-deutscher König, die bereits seit dem 13. Jahrhundert laufende Expansionspolitik Frankreichs zu stoppen. Heinrichs Vorgänger Albrecht hatte sich noch im Dezember 1299 bei einem Treffen in Quatrevaux mit Philipp IV. verständigt und dabei territoriale Zugeständnisse gemacht. Zu einem ähnlichen Schritt war der Luxemburger nicht bereit. Heinrich ernannte bereits 1309 königliche Vikare, beispielsweise Ende Mai 1309 für die Grafschaft Cambrai, und forderte mehrere geistliche und weltliche Landesherren in diesem Raum auf, die Regalien aus seiner Hand persönlich in Empfang zu nehmen. Insgesamt gelang es wenigstens, den französischen Druck auf die Grenzregionen zu mindern. Die Maßnahmen des Königs lagen auch im Interesse vieler linksrheinischer Territorialherren, die vom französischen König stark unter Druck gesetzt wurden. In Paris zeigte man sich denn auch besorgt über das Engagement des römisch-deutschen Königs. Auf Drängen des Papstes versuchte sich Heinrich dennoch mit Philipp IV. zu einigen. Ende Juni 1310 wurde der sogenannte Vertrag von Paris geschlossen. Strittige Fragen sollten demnach durch Schiedsgerichte entschieden werden. Nachdem jedoch französische Truppen im Juni 1310 überraschend in Lyon einmarschiert waren, das formal zum Imperium gehörte, brach Heinrich den Kontakt mit Philipp zunächst ab. Im April 1311 hatte sich Clemens V. mit Philipp IV. hinsichtlich des Templerprozesses und des Prozesses gegen das Andenken von Bonifatius VIII. weitgehend verständigt. Der Papst ermahnte Heinrich, der sich bereits in Italien befand, sich mit dem französischen König zu einigen. Die Spannungen zwischen Heinrich und Philipp blieben jedoch weiterhin bestehen. Heinrich war offenbar nicht bereit, dem französischen König größere Konzessionen zu machen, nachdem Philipp widerrechtlich Lyon besetzt hatte. Als zukünftiger Kaiser war Heinrich sehr auf sein Ansehen bedacht; dies implizierte unter anderem die Wahrung und Rückforderung von Reichsrechten. Auf der anderen Seite betrachtete Philipp die Kaiserkrönung und den damit verbundenen Ansehensgewinn seines ehemaligen Vasallen offenbar argwöhnisch. Durch die Neuaufnahme der alten kaiserlichen Italienpolitik, die mit dem Ende der Staufer beendet schien, wurden auch französische Interessen tangiert, etwa in Unteritalien, wo mit dem Hause Anjou eine Seitenlinie des französischen Königshauses regierte. Hinzu kamen die ungelösten Probleme im westlichen Grenzgebiet, nicht zuletzt im alten Königreich Arelat, wo Heinrich als Kaiser intervenieren konnte. Bis 1313 war Heinrich vor allem in Italien gebunden; doch schon kurz nach der Kaiserkrönung beklagte er, dass Philipp Länderraub begehe. Anfängliches Verhältnis zum Papsttum und Vorbereitung des Romzugs Heinrichs Pläne für eine Romfahrt und eine aktivere Italienpolitik waren bereits in der Wahlanzeige an den Papst deutlich geworden, in der man dem Wunsch nach einer baldigen Kaiserkrönung Ausdruck verliehen hatte. Im Frühsommer 1309 reiste eine Gesandtschaft Heinrichs zum Papst nach Avignon, wo dieser nun residierte (siehe Avignonesisches Papsttum). Die Verhandlungen, bei denen sich die königlichen Gesandten betont demütig gegenüber dem Papst verhielten, verliefen erfolgreich: Papst Clemens V. erklärte sich bereit, die Kaiserkrönung Heinrichs vornehmen zu lassen. Ursprünglich war dafür der 2. Februar 1312 vorgesehen, der 350. Jahrestag der Kaiserkrönung Ottos des Großen, doch sollte sich dieser Termin später verschieben. Heinrich war auf ein gutes Verhältnis zum Papst angewiesen, da dieser allein zur Kaiserkrönung befugt war. Umgekehrt erhoffte sich Clemens, der in Avignon verstärkt dem Druck Philipps IV. ausgesetzt war, vom zukünftigen Kaiser Unterstützung und wohl auch eine Stabilisierung der italienischen Verhältnisse. Allerdings zeigte sich, dass der Papst dem französischen Druck nicht immer gewachsen war; nach der Einigung mit Philipp IV. hinsichtlich Bonifatius VIII. im Frühjahr 1311 distanzierte er sich zunehmend von Heinrich. Vorläufig jedoch kooperierten Papst und zukünftiger Kaiser, was nach dem Ende der Staufer und den damit verbundenen Spannungen zwischen beiden Universalgewalten nicht selbstverständlich war. Die Wiederaufnahme der alten kaiserlichen Italienpolitik geschah nicht völlig überraschend, denn schon Rudolf von Habsburg hatte sich (allerdings vergeblich) um die Kaiserkrone bemüht. Die Kaiserkrone stellte die höchste weltliche Würde im katholischen Europa dar und ermöglichte die unumstrittene Herrschaftsausübung im Arelat sowie die Wahl eines römisch-deutschen Königs noch zu Lebzeiten des Kaisers. Die Finanzkraft der italienischen Kommunen war ausgesprochen hoch. Die Ausübung von Herrschaftsrechten in Reichsitalien ermöglichte daher ungleich höhere Geldeinnahmen als im deutschen Reichsteil, und auf diese Einnahmen war Heinrich VII. angewiesen. Heinrich VII. beabsichtigte offenbar frühzeitig, eine Erneuerung des Kaisertums zu betreiben und an die alten kaiserlich-universalen Konzeptionen anzuknüpfen. In seiner Umgebung befanden sich bereits in Deutschland einige kaiserlich gesinnte Italiener, die ihn darin bestärkt haben dürften. Heinrich schickte schon im Sommer 1309 Gesandtschaften nach Reichsitalien, um seinen Romzug anzukündigen, weitere Gesandtschaften folgten 1310. Ihre Berichte waren offenbar so positiv, dass Heinrich mit einem problemlosen Ablauf des Italienzugs rechnete. Der Italienzug war nicht nur diplomatisch gut vorbereitet worden. Auf den Hoftagen von Speyer und Frankfurt (siehe oben) stellte Heinrich die Weichen für den reibungslosen Beginn der Romfahrt. Allerdings kam es im Vorfeld des Italienzugs im Sommer/Herbst 1310 noch zu problematischen Verhandlungen mit der Kurie in Avignon. Clemens V. bestand darauf, dass der König auf gewisse Herrschaftsansprüche in Italien zugunsten der Kirche verzichten solle. Heinrich erklärte sich bereit, die üblichen Sicherheitseide römisch-deutscher Könige gegenüber dem Papst zu leisten, gegen die Aufgabe von Reichsrechten protestierte er jedoch. Der Papst hielt aber hartnäckig daran fest. Heinrich erklärte sich schließlich im Oktober 1310 in Lausanne dazu bereit, während er bereits auf dem Weg nach Italien war. Die Zeit drängte und einen Konflikt wollte der König anscheinend vermeiden. Die strittigen Punkte schienen damit geklärt zu sein, doch sollte es später in Italien noch einmal zur Auseinandersetzung kommen. Der Italienzug bis zur Kaiserkrönung Ausgangslage Heinrich VII. hatte im deutschen Reichsteil für sichere Verhältnisse gesorgt und damit eine wichtige Voraussetzung für seine weitgespannte Imperialpolitik geschaffen. Gesandtschaften überquerten vor Heinrich die Alpen, um seine Herrschaft diplomatisch zur Anerkennung zu bringen. Selbst gegenüber Venedig, das sich nie als Teil des Reiches angesehen hatte, beanspruchte Heinrich offenbar Herrschaftsrechte und betrachtete die Stadt als Reichsteil; ein Anspruch, der von Venedig nie akzeptiert wurde. Ende Oktober 1310 überschritt Heinrich die Alpen über den Mont Cenis nach Italien, während sein Sohn Johann als Reichsvikar zurückblieb. Das Heer umfasste im Kern 5.000 Mann; die Truppenstärke wurde in der Forschung oft als zu gering erachtet, doch schien sie im Hinblick auf die positiven Gesandtschaftsberichte und das primäre Ziel des Zugs, die Kaiserkrönung, ausreichend zu sein. In Heinrichs Gefolge befanden sich einige weltliche und geistliche Fürsten, die überwiegend aus dem romanischen Westen des Reiches stammten; seine Ehefrau Margarete sowie seine beiden Brüder Balduin und Walram begleiteten ihn ebenfalls. Über den Romzug Heinrichs berichten vor allem verschiedene italienische Quellen ausführlich, waren seit dem letzten Aufenthalt eines römisch-deutschen Königs südlich der Alpen doch mehr als 50 Jahre vergangen. In Reichsitalien erhofften sich weite Kreise, dass der zukünftige Kaiser regulierend in die instabilen politischen Verhältnisse eingriff. Diese waren von Konflikten innerhalb mehrerer Kommunen sowie zwischen verschiedenen Städten gekennzeichnet. Ghibellinen und Guelfen standen sich oft feindlich gegenüber. Allerdings verlief keine scharfe Trennung zwischen beiden Gruppen. In Italien wurde Heinrich VII. sowohl von den (zumindest formal) kaisertreuen Ghibellinen als auch von mehreren Guelfen begrüßt und zunächst freundlich empfangen. Vor allem die Guelfen erhofften sich von Heinrich eine Bestätigung ihrer Rechte, die sie in den letzten Jahrzehnten, in denen kein König einen Fuß nach Italien gesetzt hatte, usurpiert hatten. Die Kaiseranhänger hingegen wollten, dass Heinrich für ihre Seite Partei ergriff. Venedig wiederum lag mit dem Papst im Streit um Ferrara und hoffte auf Heinrichs Unterstützung in Avignon. Im Königreich Sizilien herrschte seit 1266 das Haus Anjou, eine Nebenlinie des französischen Königshauses. Seit der sizilianischen Vesper 1282 war die Herrschaft der Anjous jedoch auf das unteritalienische Festland begrenzt, weshalb ihr Reich für diesen Zeitraum oft als Königreich Neapel bezeichnet wird. Sizilien wurde seit 1296 von Friedrich aus dem Hause Aragon beherrscht, der alle Rückeroberungsversuche der Anjous abwehren konnte. In Neapel regierte seit 1309 Robert von Anjou, ein Lehnsmann sowohl des Papstes (für das Königreich Neapel) als auch des römisch-deutschen Königs (für die Provence und Forcalquier). Während sich Robert oberflächlich um gute Beziehungen zu Heinrich bemühte, unterstützte er teils verdeckt, teils offen dessen Gegner in Oberitalien. Ein von der Kurie angestoßenes Heiratsbündnis zwischen den Häusern Luxemburg und Anjou, wodurch ein Ausgleich erzielt werden sollte, wurde vom Herbst 1310 bis in den Sommer 1312 verhandelt. Das Vorhaben scheiterte jedoch, nicht zuletzt weil Robert seine Forderungen in die Höhe schraubte und an seiner Unterstützung für die Guelfen in Reichsitalien festhielt. Robert hatte sich ohnehin längst mit Florenz arrangiert, das der Italienpolitik Heinrichs feindlich gegenüberstand. Doch nicht nur gemeinsame politische Ziele verbanden Neapel und Florenz, Robert war zudem von der florentinischen Finanzkraft abhängig. Robert schickte wiederholt Söldner nach Norden, die gegen kaiserliche Truppen kämpften. Ganz offen geschah dies im Mai 1312 in Rom. Vom Alpenübergang bis zum Mailänder Aufstand Zu Beginn des Romzugs war Heinrich ernsthaft um einen Ausgleich mit den Guelfen bemüht und betrieb eine allgemeine Ausgleichs- und Friedenspolitik, wobei er auch eine Rückkehr der aus politischen Gründen Verbannten beider Seiten in ihre Heimatstädte anstrebte. Heinrich äußerte mehrfach seine Absicht, sich von keiner Seite vereinnahmen zu lassen. Er wurde jedoch schließlich zur Parteinahme zugunsten der Ghibellinen und kaisertreuen Guelfen (der sogenannten „weißen Guelfen“) gezwungen. Verantwortlich dafür war vor allem der Widerstand der guelfisch dominierten Kommunen, die der Friedenspolitik Heinrichs misstrauisch gegenüberstanden und an einer Rückkehr der politisch Verbannten nicht interessiert waren, da es sich dabei hauptsächlich um Ghibellinen und weiße Guelfen handelte. Heinrichs Bemühungen sind von manchen Forschern in Anbetracht der verworrenen Lage in Italien als weltfremd beurteilt worden, sie waren jedoch durchaus in seine allgemeinen politischen Zielsetzungen eingebettet. Wiederholt bemühte sich Heinrich, die verfeindeten Gruppen in den Kommunen zusammenzuführen, um so für stabilere Verhältnisse zu sorgen. Diese Vorgehensweise erprobte der König bereits zu Beginn des Romzugs in der Stadt Asti, wo er sich im November/Dezember 1310 aufhielt. Zunächst ließ er sich von der Stadtgemeinde deren Treue öffentlich bestätigen. Anschließend bemühte er sich, die verfeindeten örtlichen Familien Solari und de Castello miteinander zu versöhnen. Faktisch übernahm der König die direkte Regierungsgewalt über die Kommune und übte eine Schiedsrichterfunktion aus. Nach seiner Ankunft in Italien hielt sich Heinrich VII. zunächst im Raum Turin auf. Dort huldigte ihm eine erste Gesandtschaft der lombardischen Städte. Der König griff in Reichsitalien wiederholt in die inneren Verhältnisse der Kommunen ein und ließ sich deren Anerkennung der kaiserlichen Oberherrschaft urkundlich bestätigen, wie das bereits erwähnte Beispiel der Stadt Asti zeigt. Diese Vorgehensweise weist auf die im Spätmittelalter zunehmende Bedeutung schriftlich fixierter Herrschaftsausübung hin. Der König versuchte außerdem mit der Einsetzung königlicher Vikare eine Verwaltung in Oberitalien zu etablieren. Sein Schwager Amadeus V. von Savoyen, der dabei eine wesentliche Rolle spielte, wurde zum Generalstatthalter ernannt. Neuere Forschungen belegen außerdem, dass Heinrich nicht nur die Finanzkraft der Kommunen nutzte, sondern auch über eine relativ „moderne“ Finanzverwaltung verfügte, in der als Schatzmeister Simon Philippi und Gille de la Marcelle fungierten. In diesem Zusammenhang wurde die in Italien bereits verbreitete fortschrittliche Rechnungslegung als Herrschaftsinstrument intensiv genutzt. Durch die Maßnahmen Heinrichs, vor allem die Eingriffe in kommunale Rechte, entstand schließlich ein Konflikt zwischen dem König und den selbstbewussten Kommunen. Heinrichs Maßnahmen zur Wahrung kaiserlicher Rechte in Reichsitalien stießen daher bald auf den Widerstand kaiserfeindlicher Kräfte. Vor allem Guido della Torre, der guelfische Herr von Mailand, fühlte sich davon bedroht. Während einige andere Guelfen abwarten wollten, wie sich der König ihnen gegenüber verhielt, soll Guido dem Chronisten Giovanni da Cermenate zufolge während einer Versammlung der Guelfen zornig ausgerufen haben: „Was will denn dieser deutsche Heinrich von mir?“ Guido lenkte jedoch zunächst ein, als Heinrich Ende Dezember 1310 vor Mailand eintraf und im Rahmen des üblichen festlich inszenierten Herrschereinzugs (adventus regis) die Stadt betrat. Heinrich ließ sich die Anerkennung seiner Herrschaft zuerst durch einen Treueid der Mailänder bestätigen. Er war außerdem bestrebt, in Mailand im dortigen Konflikt zwischen Guido della Torre und dessen Rivalen Matteo I. Visconti zu vermitteln; zumindest oberflächlich und vorläufig versöhnten sich die verfeindeten Seiten. Am 6. Januar 1311 wurde Heinrich VII. in Mailand als erster römisch-deutscher König nach dem Staufer Heinrich VI. mit der eigens neu angefertigten eisernen Krone der Langobarden gekrönt. Die Stadt Mailand hatte dem König einen hohen Geldbetrag in Aussicht gestellt, den Guido jedoch weiter in die Höhe getrieben hatte, womit er eine plötzliche Spannung erzeugt hatte. Heinrich war nicht bereit, auf die versprochene Zahlung zu verzichten, und forderte außerdem von den Mailändern Geiseln für den weiteren Zug. Im Februar 1311 brach ein Aufstand in Mailand aus, der die Restaurationspolitik Heinrichs in ernste Gefahr brachte und an dem Guido della Torre wohl maßgeblich beteiligt war. In Mailand konnten die Unruhen durch die königlichen Truppen rasch beendet werden, doch in mehreren anderen Kommunen kam es bald darauf ebenfalls zu Aufständen. Nachdem Guido die Flucht ergriffen hatte, setzte Heinrich Matteo Visconti in Mailand ein. In der Folgezeit eröffnete er mehrere Prozesse gegen rebellische Städte und zwang einige auch mit Waffengewalt nieder. Wenngleich Heinrich weiterhin an der Idee eines Ausgleichs festhielt, zwang ihn die politische Lage zu einem anderen Kurs. Wiederholt musste er nun notgedrungen auf vor allem ghibellinische Vikare und Stadtherren zurückgreifen, was die Spannungen zu den Guelfen weiter verstärkte. Die komplexe politische Lage in Reichsitalien zwang Heinrich nun faktisch dazu, sich für ein Lager zu entscheiden; hinzu kam der Widerstand Frankreichs und des Königreichs Neapel(-Sizilien) gegen seine Italienpolitik. Cremona und Brescia Im Frühjahr/Sommer 1311 kam es zu schweren Kampfhandlungen in Oberitalien. Heinrich ging vor allem gegen die Städte Cremona und Brescia militärisch vor. Cremona unterwarf sich rasch, wurde aber dennoch recht hart bestraft; dabei spielte wohl eine Rolle, dass Heinrich ein Zeichen gegen die Aufständischen setzen wollte. Brescia leistete mehrere Monate erbitterten Widerstand. Im Verlauf der Belagerung starb Heinrichs Bruder Walram, während im Heer eine Seuche ausbrach und die Truppen dezimierte. Erst im September 1311 kapitulierte die Stadt. Heinrich ließ öffentlich verkünden, dass die Rebellen den Tod verdient hätten, er ihnen aber aus Milde das Leben schenke. Es folgten harte Strafmaßnahmen gegen Brescia, neben hohen Geldstrafen wurden die Mauern geschleift. Sowohl im Fall Cremonas als auch im Fall Brescias wurde die Unterwerfung (deditio) der Kommune in einem öffentlichen Rahmen inszeniert. Die historiographische Überlieferung dazu ist reichhaltig und die unterschiedlichen Berichte erlauben ein relativ klares Bild von diesen Vorgängen. In Cremona erschienen hochrangige Bürger der Kommune, die – Albertino Mussato zufolge demonstrativ Trauerkleidung tragend – den König in die Stadt führen wollten. Ihr Ziel war es, den König so gütig wie möglich zu stimmen, doch scheiterten sie letztendlich mit ihrem Vorhaben. Bemerkenswert ist der Bericht Dino Compagnis zur deditio Cremonas. Ihm zufolge warfen sich die Bürger vor dem König hin und beklagten sich bitterlich; sie seien bereit zu gehorchen, falls Heinrich in ihrer Stadt auf die Einsetzung eines Vikars verzichte. Der König ging darauf nicht ein, doch die Bürger wurden angeblich durch Briefe dazu ermuntert, einen neuen Versuch zu unternehmen. Hochrangige Bürger erschienen daraufhin erneut vor Heinrich, diesmal barfüßig und mit einfachen Hemden bekleidet. Sie hatten sich Stricke um den Hals gelegt, um ihre Unterwerfung zu verdeutlichen, und um Milde gebeten. Heinrich akzeptierte aber auch dies nicht. Nach Dinos Bericht zog er sein Schwert und zwang die Delegation, unter diesem hindurch in die Stadt zu gehen; dann ließ er sie festsetzen. Eine Rolle spielte hierbei wohl die Wahrung des königlichen Herrschaftsanspruchs; im Fall Brescias spiegeln die Strafmaßnahmen zusätzlich die Härte der Kämpfe wider. So war im Juni 1311 der in Gefangenschaft geratene Anführer der Guelfen Brescias, Tebaldo Brusati, auf besonders brutale Weise hingerichtet worden; in Brescia waren daraufhin Gefangene in Sichtweite des kaiserlichen Lagers getötet worden. Wenngleich die Aufstände Heinrich kaum eine Wahl ließen und seine Strafmaßnahmen für damalige Verhältnisse keineswegs ungewöhnlich waren, verspielte er damit einige Sympathien. Vor allem aber gab es seinen Gegnern die Gelegenheit, den König als angeblichen „Tyrannen“ zu brandmarken und an die Strafmaßnahmen früherer römisch-deutscher Herrscher zu erinnern. Diese negative Stilisierung des Königs durch die Guelfen und vor allem Florenz, wo man ihm schließlich seine rechtmäßige Titulatur als rex Romanorum („König der Römer“) verweigerte, dauerte noch nach dem Tod Heinrichs an. Im Laufe der Zeit wandten sich immer mehr Guelfen seines Gefolges von ihm ab; daher musste er verstärkt auf ghibellinische Unterstützer zurückgreifen. Aufenthalt in Genua und Pisa Heinrich zog von Brescia weiter nach Genua, wo er seine verbliebenen Kräfte sammelte und auch in die politischen Verhältnisse der Stadt eingriff. Dort verstarb am 14. Dezember 1311 Heinrichs Frau Margarete, die auch dort bestattet wurde. In Genua äußerte sich der König verärgert über die Politik Roberts von Anjou, der für seine Reichslehen Heinrich die Huldigung verweigert hatte. Die abwartende, bald offen feindselige Haltung von Florenz stellte ein weiteres ernsthaftes Problem dar. Florenz und mehrere andere guelfische Städte hatten bereits ein Bündnis geschlossen, das sich eindeutig gegen Heinrich und dessen Politik richtete, alte kaiserliche Herrschaftsrechte in Italien wieder wahrzunehmen. Gegen Florenz eröffnete Heinrich Ende 1311 einen Prozess und klagte den Abfall der Stadt von der imperialen Ordnung wortgewaltig an. Am 24. Dezember 1311 verhängte er den Reichsbann, dessen reale Auswirkung aber eher gering blieb. Aufgrund des Zeitplans der Kaiserkrönung zog Heinrich aber nicht gegen Florenz, sondern begab sich im Februar 1312 mit einem kleinen Heer auf dem Seeweg in das ghibellinische Pisa. Dort wurde er Anfang März 1312 sehr freundlich aufgenommen, zumal die Pisaner hofften, vom Vorgehen gegen Pisas Erzrivalin Florenz profitieren zu können. Die im Oktober 1311 in Pavia und im März/April 1312 in Pisa abgehaltenen Hoftage dienten der Stabilisierung der Reichsherrschaft in Italien. Diese war nach dem Mailänder Aufstand deutlich ins Wanken geraten. Parma, Reggio, Asti, Vercelli und Pavia sollten sich im Verlauf des Romzugs der Guelfenliga unter Führung von Florenz und Bologna anschließen, doch behaupteten sich kaisertreue Kräfte immer noch in größeren Teilen Reichsitaliens; auch die Verbindung nach Norden blieb weiterhin offen. Gescheitert war vorerst nur Heinrichs Ausgleichspolitik, nicht seine Italienpolitik im Ganzen. Ende April 1312 zog er zur geplanten Kaiserkrönung weiter nach Rom. Die Kaiserkrönung und ihre Folgen Als Heinrich Anfang Mai 1312 Rom erreichte, war der Widerstand gegen ihn längst aufgebaut. Dieser war inszeniert von Robert von Anjou, der Söldner nach Rom geschickt hatte, und ausgeführt von der guelfisch gesinnten Familie der Orsini. Bald darauf kam es zu schweren Kämpfen in der Stadt, da die guelfischen Truppen Heinrich den Zugang nach St. Peter versperrten, wo die römisch-deutschen Kaiser traditionell gekrönt wurden. An den Kämpfen waren auch neapolitanische Truppen unter dem Kommando von Roberts Bruder Johann von Gravina beteiligt. Wiederholt versuchten die kaiserlichen Truppen, den Zugang mit Gewalt zu erkämpfen; besonders verlustreich waren die erbitterten Gefechte am 26. Mai 1312. Ein Durchbruch gelang jedoch nicht. Dennoch fand die Kaiserkrönung Heinrichs durch die vom Papst entsandten Kardinäle am 29. Juni 1312 statt. Die drei in Rom anwesenden Kardinäle, zu denen auch der kaiserfreundlich eingestellte Nikolaus von Prato gehörte, wollten zunächst Nachricht aus Avignon abwarten. Als die Stimmung in der Stadt jedoch zunehmend gereizter wurde und es in der Umgebung der päpstlichen Delegation zu Unruhen kam, sahen sie sich zum Handeln gezwungen. Die Kaiserkrönung wurde statt in St. Peter in der Lateranbasilika vollzogen. Im Anschluss an die feierliche Krönung erließ Heinrich ein Ketzergesetz. Dies entsprach der normalen zeitgenössischen Erwartungshaltung, der zufolge der Kaiser weltlicher Schutzherr der Christenheit war. Anschließend erließ er eine Krönungsenzyklika und ließ diese mehreren weltlichen und geistlichen Fürsten Europas zukommen. Es ist ein regelrechtes, von Heinrichs gelehrten Beratern anspruchsvoll verfasstes Plädoyer für die kaiserliche Universalgewalt, in der himmlische und irdische Ordnung als wesensähnlich gedeutet werden. In der Arenga wird erklärt, dass so wie Gott über alles im Himmel gebietet, alle Menschen auf Erden dem Kaiser zu gehorchen haben; es sei dessen Aufgabe, die Zersplitterung der weltlichen Herrschaften zu überwinden. Diese Erklärungen, die in dieser Form ganz einmalig sind, wurden in der Forschung teilweise als realitätsferner Versuch gedeutet, die „kaiserliche Weltherrschaft“ zu formulieren, doch sind Heinrichs Aussagen als Ausdruck seiner Kaiseridee zu verstehen. Heinrich VII. war offenbar von der Würde des Kaiseramts durchdrungen und versuchte das Kaisertum politisch wieder zur Geltung zu bringen, nachdem es mehrere Jahrzehnte keine Rolle gespielt hatte. Dabei knüpfte er an bekannte kaiserlich-universale Ideen in der Art entsprechender Vorstellungen der Stauferzeit an. Zwar wurde die päpstliche Führungsrolle in geistlichen Fragen betont, doch in weltlichen Fragen beanspruchte der Kaiser den Vorrang. Kaiser und Papst sollten gemeinsam zum Wohle der Christenheit agieren und den Frieden sichern. Diese Zielsetzung legitimierte den keineswegs neuen kaiserlichen „Weltherrschaftsanspruch“. Dieser war in vieler Hinsicht nur formaler Art, wurde aber von kaiserlichen Parteigängern unter den Gelehrten vehement verteidigt, so im frühen 14. Jahrhundert von Engelbert von Admont und Dante Alighieri. Der französische König Philipp IV. zeigte sich jedoch empört und reagierte abschätzig auf die Ausführungen Heinrichs. Offenbar befürchtete Philipp einen kaiserlichen Vorranganspruch, dem der selbstbewusste französische König entgegentreten wollte. Außerdem spielte auch der konkrete Interessengegensatz eine Rolle, der wegen Heinrichs Bemühen um Wahrung von Reichsrechten im Grenzraum zu Frankreich bestand. Aus Neapel kamen später ebenfalls beißende Reaktionen. Ganz anders reagierte der englische König Eduard II., der die Erklärung nur zur Kenntnis nahm und dem Kaiser zur Krönung gratulierte. An der päpstlichen Kurie war man inzwischen von Heinrich abgerückt. Ende März 1312 intervenierten französische und angiovinische Gesandte beim Papst und erhoben schwere Vorwürfe gegen den römisch-deutschen König; man wies auf die Gefahr hin, die von diesem für Robert von Anjou ausgehe. Clemens V., dem die Erneuerungspolitik Heinrichs politisch immer mehr missfiel und der zudem dem Druck des französischen Königs nachgab, ließ sich davon beeinflussen und stellte sich ganz auf die Seite Roberts. Der Papst ordnete nur wenige Tage vor der Kaiserkrönung einen Waffenstillstand zwischen Heinrich und Robert an; außerdem sollte Heinrich nach seiner Kaiserkrönung Rom sofort verlassen. Noch im Sommer 1312 verbot Clemens dann dem Kaiser, das Königreich Neapel anzugreifen. Dagegen protestierte Heinrich vehement, denn die Waffenstillstandsverfügung implizierte einen päpstlichen Anspruch auf weltliche Überordnung über ihn. Einen solchen hatte Heinrich aber nie anerkannt. Er hatte vor seinem Aufbruch nach Italien im Oktober 1310 bloß einen Eid zum Schutz von Papst und Kirche sowie zum Kampf gegen die Ketzer geschworen. Heinrich verwahrte sich nun gegen jede Einmischung des Papstes, wobei er auch Juristen zu seiner Unterstützung heranzog. Hinsichtlich des Konflikts mit Robert wies der Kaiser außerdem darauf hin, dass es Robert gewesen war, der sich stets feindselig verhalten hatte und seine Lehnspflicht gegenüber Heinrich sträflich vernachlässigt hatte. Darauf beabsichtigte Heinrich nun zu reagieren. Es wurden sogar Traktate der kaiserlichen Seite angefertigt, in denen die kaiserliche Universalgewalt in weltlichen Angelegenheiten betont wurde, ganz so wie in staufischer Zeit. Von der Kaiserkrönung bis zum Tod Heinrichs VII. Heinrich VII. war mit seiner Politik einer Erneuerung der Reichsgewalt endgültig in Konflikt mit Robert von Anjou, dem Papst, den guelfischen Kommunen – insbesondere dem mächtigen Florenz – und dem König von Frankreich geraten. Wenngleich die Lage in Oberitalien für den Kaiser problematisch blieb und ein Teil seines Gefolges nach der Kaiserkrönung wieder nach Deutschland aufgebrochen war, verfügte er weiterhin über einige Verbündete, unter anderem Pisa und König Friedrich von Sizilien („Trinacria“). Heinrich stand mit Friedrich, einem erbitterten Feind Roberts, bereits seit einigen Monaten in Kontakt. Im Juli 1312 schlossen die beiden Herrscher entgegen dem ausdrücklichen Willen des Papstes ein Bündnis, das sich in erster Linie gegen Robert richtete. Friedrich bot nicht nur seine militärische Unterstützung an, sondern sicherte dem Kaiser außerdem hohe Geldzahlungen zu, auf die Heinrich angewiesen war. Das päpstliche Verbot eines Angriffs auf das Königreich Neapel sollte offenbar dazu dienen, Robert als den wichtigsten päpstlichen Verbündeten in Italien vor einem kaiserlich-sizilianischen Angriff zu schützen, doch die Kriegsvorbereitungen liefen weiter. Noch im Juli 1312 ergingen Weisungen Heinrichs an Genua und Pisa, militärische Kräfte bereitzustellen. Sogar Venedig erhielt eine entsprechende Weisung, die folgenlos blieb; Ende Mai/Anfang Juni 1313 kam es noch einmal zu letzten Verhandlungen zwischen kaiserlichen Gesandten und Venedig. Heinrich hatte Ende August 1312 Rom endgültig verlassen und sich auf Reichsterritorium nach Arezzo begeben. Dort leitete er den Prozess gegen Robert von Anjou ein und bereitete den Angriff auf Florenz vor, das Zentrum des guelfischen Widerstands in Reichsitalien. Mitte September besiegte er die Florentiner bei Incisa in offener Schlacht, anschließend begann er die Belagerung der Arnostadt. Das kaiserliche Heer war allerdings zu klein, um die Stadt vollkommen einzuschließen und zur Übergabe zu zwingen. In dieser Zeit erkrankte Heinrich an Malaria. Schließlich brach er die Belagerung von Florenz im Oktober 1312 ab. Er blieb die nächsten Monate jedoch noch in der Toskana und ließ die von den Florentinern zerstörte kaisertreue und strategisch nicht unwichtige Stadt Poggibonsi unter dem bezeichnenden Namen Monte Imperiale (Kaiserberg) wiederaufbauen. Der Kaiser begab sich im Anfang März 1313 nach Pisa, wo er Gesetze gegen Majestätsverbrechen (crimen laesae maiestatis) erließ. Jede Auflehnung gegen den Kaiser wurde als Versündigung gegen die gottgewollte weltliche Ordnung aufgefasst; Robert von Anjou wurde kurz darauf am 26. April 1313 vom Kaiser in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Die Gesetze wurden in das spätantike Corpus Iuris Civilis eingefügt und später noch von Bartolus de Saxoferrato kommentiert. Ohnehin hatte der Konflikt zwischen dem Kaiser und dem König von Neapel, hinter dem der König von Frankreich und der Papst standen, Einfluss auf die Rechtsgeschichte. Die Juristen Roberts und des Papstes, dessen Vasall Robert für das Königreich Neapel war, erhoben gegen die Verurteilung vehement Einspruch: Der Kaiser übe keine unbegrenzte Gerichtsbarkeit aus. In päpstlichen Gutachten wurde jede gerichtliche Verfügungsgewalt des Kaisers hinsichtlich Robert bestritten. Während der kaiserliche Universalanspruch mit Berufung auf den Souveränitätsanspruch anderer Herrscher geleugnet wurde, wurde aber am päpstlichen Universalanspruch festgehalten. Dagegen argumentierten kaiserliche Juristen, dass überall dort, wo das römische Recht herrsche, auf das sich Heinrich in weiten Teilen stützte, der Kaiser wenigstens formal ein Weltkaiseramt ausübe. Es folgte von angiovinischer Seite eine wahre Flut antikaiserlicher Traktate, in denen teils polemisch „den Deutschen“ die Schuld für Unruhe in Italien gegeben wurde und sogar die Institution des Kaisertums als obsolet dargestellt wurde. Der Kaiser war entschlossen, Robert von Anjou militärisch auszuschalten. Eine pisanisch-sizilianische Flotte unter dem Kommando Friedrichs, der zum Reichsadmiral ernannt worden war, sollte das Königreich Neapel von See her angreifen, während der Kaiser sich im August 1313 mit rund 4.000 Rittern auf dem Landweg nach Süden aufmachte und Verstärkungen aus Deutschland anforderte. Kurfürst Balduin war bereits im März 1313 nach Deutschland aufgebrochen, um im Sommer zusätzliche Truppen nach Süden zu führen. Der Papst war anscheinend über die bevorstehende Invasion besorgt; er drohte im Juni 1313 jedem, der das Königreich Neapel angreife, mit Exkommunikation. Heinrich zeigte sich davon jedoch unbeeindruckt und setzte die Vorbereitungen fort; dem Papst teilte er mit, der Angriff sei nicht gegen die Interessen der Kirche gerichtet, sondern diene nur der Aburteilung eines Majestätsverbrechers und Reichsfeindes. Vor Beginn der Invasion kam es noch zur Belagerung von Siena, wobei der Kaiser schwer erkrankte. Kurz darauf verstarb er am 24. August 1313 in dem kleinen Ort Buonconvento. Es kamen bald falsche Gerüchte auf, der Kaiser sei von seinem Beichtvater vergiftet worden, vielleicht sogar im päpstlichen Auftrag. Sein Tod war eine große Erleichterung für Robert von Neapel, der eine Invasion seines Reiches zu befürchten hatte; daher wurde Robert ebenfalls mit den Mordgerüchten in Verbindung gebracht. Hinzu kam, dass im Königreich Neapel durchaus Sympathien für den Kaiser vorhanden waren. Papst Clemens V. machte bald darauf noch einmal deutlich, dass er Heinrichs Vorgehen gegen Robert von Anjou offen missbilligte. Das kaiserliche Urteil gegen Robert wurde vom Papst für ungültig erklärt und das Verbot eines Angriffs auf das Königreich Neapel bekräftigt. Der Kaiser wurde in päpstlichen Gutachten sogar zu einem Vasallen des Papstes degradiert; bezeichnenderweise geschah dies aber erst nach dem Tod Heinrichs. Heinrichs Leichnam wurde feierlich nach Pisa überführt und dort im Dom in einem später errichteten prächtigen Grabmal beigesetzt, von dem heute aber nur Fragmente erhalten sind; die damit zusammenhängende Rekonstruktion ist in der Forschung umstritten. Das Grabmal Heinrichs in Pisa und das seiner Ehefrau Margarete in Genua, das ebenfalls nicht vollständig erhalten ist, spielen eine wichtige Rolle im Rahmen der memoria, der herrschaftlichen Erinnerungspflege. Dies war für das Haus Luxemburg von nicht zu unterschätzender Bedeutung, da man im Rahmen der mittelalterlichen Erinnerungskultur nun auf einen Kaiser und eine Königin verweisen konnte. Der damit verbundene Prestigegewinn der Luxemburger, aber auch der betreffenden Städte (vor allem im kaiserfreundlichen Pisa) sollte durch die repräsentativen Grabmäler der Öffentlichkeit dargestellt werden. Auch in der Lebensbeschreibung Balduins von Trier wurde auf die kaiserliche memoria hingewiesen. Die Lage in Reichsitalien und in Deutschland nach Heinrichs Tod Für die Anhänger des Kaisers in Italien war sein unerwarteter Tod eine Katastrophe, wenngleich die Ghibellinen am 29. August 1315 bei Montecatini noch einen großen Sieg über Florenz erringen sollten. Dieser Erfolg zeigt, dass die kaiserlich gesinnten Kräfte immer noch ein militärisch ernstzunehmender Faktor in Reichsitalien waren. Das kaiserliche Heer löste sich jedoch bereits Ende 1313 auf, wenngleich einige der Teilnehmer des Heerzuges als Söldner in Italien verblieben. Die kaiserliche Kanzlei blieb sogar in Italien zurück. Die politische Lage in Reichsitalien blieb verworren und die Kämpfe zwischen den Kommunen gingen weiter; einige betrieben in der Folgezeit weiterhin eine aggressive Expansionspolitik. Die von vielen erhoffte Stabilisierung der Lage in Italien wurde durch den frühen Tod des Kaisers, der den damaligen Geschichtsschreibern als ein menschlich sympathischer Charakter erschien, zunichtegemacht. Stattdessen gewann die Signorie als Herrschaftsform in den Kommunen Reichsitaliens weiter an Auftrieb (siehe etwa Castruccio Castracani), nachdem Heinrich wiederholt auf örtliche Machthaber hatte zurückgreifen müssen. Der Tod Heinrichs bedeutete das faktische Ende der traditionellen kaiserlichen Italienpolitik. Die nachfolgenden Kaiser sollten sich mit deutlich niedriger gesteckten Zielen begnügen und waren damit zufrieden, Gelder in Reichsitalien einzutreiben. Der kaiserliche Herrschaftsanspruch blieb aber bis weit in die Frühe Neuzeit zumindest formal bestehen. In Deutschland herrschte nach dem überraschenden Tod des Kaisers zunächst Verwirrung. Die Großen des Reiches hatten mit der Wahl des Luxemburgers keine schlechten Erfahrungen gemacht, ganz im Gegenteil: Heinrich hatte die Rechte der Fürsten geachtet und im Konsens regiert; umgekehrt hatten die Fürsten die kaiserliche Italienpolitik sowie die Erneuerung des Kaisertums aktiv unterstützt. Nun stellte sich die Frage, welcher Kandidat ähnlich handeln und nicht primär eigene Hausmachtsinteressen verfolgen würde. Die Wahl von Heinrichs Sohn Johann schien nicht ausgeschlossen zu sein, scheiterte aber an den unterschiedlichen Interessen der Kurfürsten. Einige, wie Erzbischof Heinrich von Köln, wollten eine luxemburgische Machtkonzentration verhindern. Ein erneuerter französischer Wahlvorstoß lief ins Leere. Der Habsburger Friedrich der Schöne bot sich aber ebenfalls als Kandidat an. Bald kam es zur Bildung von luxemburgischen und habsburgischen Wählergruppen; zu letzteren stieß Heinrich von Kärnten, der seinen Anspruch auf die böhmische Kurstimme erneuerte. Die Situation war kompliziert und die Verhandlungen verliefen fast ein Jahr ergebnislos. Johann wurde von Balduin von Trier und Erzbischof Peter von Mainz zum Verzicht auf seine Kandidatur überredet. Nun unterstützte die luxemburgische Partei den Wittelsbacher Ludwig, während die habsburgische Wählergruppe Friedrich wählte. Es kam im Oktober 1314 zur Doppelwahl, die in einen offenen Thronkampf mündete, der bis 1322 andauerte. Die unter Heinrich erzielte Einigkeit im Reich war für mehrere Jahre zerbrochen. Ideengeschichtlich hatte Heinrichs Kaiserpolitik bedeutende Auswirkungen, speziell auf die Debatte um die Rolle des Imperiums. Diese sollte noch die Regierungszeit Ludwigs des Bayern prägen. Nachwirkung Mittelalterliche Urteile Der Italienzug Heinrichs VII. fand bei den Zeitgenossen große Beachtung. Die zeitgenössischen Geschichtsschreiber lobten allgemein Heinrichs Persönlichkeit und wiesen ihm alle mittelalterlichen Topoi eines gerechten Herrschers zu. In Italien erhofften sich manche Kreise von seinem Eingreifen vor allem ein Ende der ständigen inneren und äußeren Kämpfe der Kommunen und verbanden daher mit dem Italienzug durchaus positive Erwartungen. Bischof Nikolaus von Butrinto begleitete den Kaiser auf dem Italienzug. Er schrieb als einziger Teilnehmer einen Bericht darüber, den er Papst Clemens V. vorlegte. Darin wird Heinrich sehr positiv beschrieben. Der kaiserfreundliche Florentiner Dino Compagni pries das Erscheinen des zukünftigen Kaisers panegyrisch im dritten und letzten Buch seiner Chronik, die jedoch im Jahr 1312 endet. Compagni setzte hohe Erwartungen in Heinrich, vor allem hinsichtlich der Befriedung Reichsitaliens und einer Eindämmung der guelfischen Politik von Florenz. Albertino Mussato aus Padua verfasste eine ausführliche Geschichte des Romzugs in 16 Büchern (De gestis Henrici VII Cesaris). Mussato sympathisierte durchaus mit dem Kaiser und charakterisierte ihn sehr positiv, warf ihm aber sein Vorgehen gegen die Guelfen vor. Auch Giovanni da Cermenate wurde durch das Erscheinen des Kaisers in Italien dazu inspiriert, eine Geschichte des Romzugs zu verfassen, die wichtiges Material enthält. Ferreto de Ferreti aus Vicenza war wie Mussato und da Cermenate ein frühhumanistischer Gelehrter. Er behandelte den Romzug im Rahmen seines 1250 beginnenden Geschichtswerks recht ausführlich und lobte Heinrichs Charakter, wenngleich er der Erneuerung des Kaisertums eher distanziert gegenüberstand. Giovanni Villani schildert Heinrichs Italienzug im 9. Buch seiner bedeutenden Chronik. Wenngleich selbst florentinischer Guelfe, beurteilt er den Kaiser nicht abwertend, sondern ebenfalls wohlwollend und weist auf die Bedrohung hin, die Heinrich für die Guelfen und Robert von Neapel darstellte. Der Notar Giovanni di Lemmo aus Comugnori berücksichtigte in seinem bis 1319 reichenden Tagebuch (Diario) neben persönlichen Ereignissen auch den Italienzug. Er bietet dazu wertvolle Schilderungen. Heinrichs Erscheinen hat Giovanni offenbar beeindruckt, da er eigens nach Pisa reiste, um den römisch-deutschen König zu sehen. Guglielmo Cortusi aus Padua schrieb ein von 1237 bis 1358 reichendes Geschichtswerk, dessen Schwerpunkt auf den Ereignisse in der Lombardei liegt. Heinrich wird darin nicht ohne Sympathie beschrieben, wenngleich seine Eingriffe in die lokalen Angelegenheiten eher ablehnend vermerkt sind. Die Chronisten aus dem deutschen Reichsteil (mit Ausnahme des Romzugteilnehmers Nikolaus von Butrinto) schildern Heinrichs Regierungszeit wesentlich knapper als die italienischen Geschichtsschreiber, wobei seine Tätigkeit nördlich der Alpen den Schwerpunkt bildet. Erwähnung findet er bei zahlreichen Chronisten, so bei Ottokar aus der Gaal (in dessen Reimchronik), Matthias von Neuenburg, Johann von Viktring, Peter von Zittau und Johannes von Winterthur. Anonym überliefert ist der sogenannte Imperator Heinricus, ein Tatenbericht zugunsten der Italienpolitik Heinrichs, den ein Mainzer Kleriker zeitnah zum Tod des Kaisers verfasste. Alle Darstellungen beschreiben Heinrich vorteilhaft und beurteilen seine Regierungszeit positiv. Auch in zahlreichen lokalen Werken wurde Heinrichs Regierungszeit rezipiert. Besonders positiv geschah dies in der spätmittelalterlichen maas-moselländischen Literatur, in der er einen recht hohen Stellenwert erhielt. Im Rahmen der Erinnerungspflege (memoria) des Hauses Luxemburg entstand im Auftrag Balduins von Trier um 1340 die berühmte Bilderchronik der Romfahrt, die das enge Zusammenwirken von Kaiser und Kurfürst betont, wenngleich die Bedeutung des Kaisers deutlich hervorgehoben wird. In dieser von vornherein tendenzgebundenen Darstellung erscheint Heinrich als gerechter Herrscher und guter Krieger. Einen beeindruckenden literarischen Nachhall fand das Wirken Heinrichs in Dantes De Monarchia und in der Göttlichen Komödie. In letzterer tritt Heinrich als alto Arrigo in Erscheinung und wird von Dante stark glorifiziert. In päpstlichen und angiovinischen Stellungnahmen und Gutachten, die im Rahmen des Prozesses Heinrichs gegen Robert von Anjou angefertigt wurden, wurde hingegen deutlich gegen die Universalpolitik Heinrichs Stellung bezogen. Besonders heftig polemisierten die Verfasser zweier Memoranden aus Neapel gegen den Kaiser und schließlich sogar gegen „die Deutschen“. Sie charakterisierten das Kaisertum als Faktor der Unruhe. Beurteilung in der Forschung Die deutsche Mittelaltergeschichtsschreibung des 19. und auch des frühen 20. Jahrhunderts war primär an den „großen Dynastien“ orientiert, den Ottonen, Saliern und Staufern. Unter ihnen habe das „deutsche Reich“ im Mittelalter seinen Höhepunkt erreicht. Der moderne deutsche Nationalstaat war spät geschaffen worden, die sehr oft glorifizierende Betrachtung vor allem der hochmittelalterlichen Kaiserzeit sollte daher der geschichtlichen Sinnstiftung dienen. Dagegen galt das Spätmittelalter als Verfallszeit des Reiches, in der die Macht des Königtums schwand und die der Fürsten zunahm. Anachronistisch wurden moderne Vorstellungen auf das mittelalterliche römisch-deutsche Reich projiziert und die hochmittelalterliche Sinnstiftung auf die Spitze getrieben. Der spätmittelalterliche Niedergang des Kaisertums und die Uneinigkeit im Reich seien auf den Eigennutz der Fürsten zurückzuführen. Die Uneinigkeit habe bis zum Ende des Alten Reiches angedauert; erst durch die „zweite Reichsgründung“ 1871 habe das Reich wieder zu alter Stärke gefunden. Das Spätmittelalter wurde als Verfallszeit aufgefasst, über die selbst angesehene deutsche Mittelalterhistoriker im frühen 20. Jahrhundert kaum etwas Gutes zu berichten hatten. Die neuere Forschung ist zu einer sehr viel differenzierteren und auch positiveren Bewertung des Spätmittelalters gekommen. Dieses stellt heute einen Schwerpunkt der deutschen Mediävistik dar, wenngleich das öffentliche Interesse immer noch vor allem dem Hochmittelalter gilt. Peter Moraw, der großen Anteil an der Neubewertung des deutschen Spätmittelalters hat, prägte dennoch 1985 den Begriff der „kleinen Könige“ für die Zeit von Rudolf von Habsburg bis Heinrich VII. Damit sollte aber nur verdeutlicht werden, dass diese Herrscher im Vergleich zu anderen Monarchen oft über nur geringe Ressourcen verfügten und ihren Aufstieg nicht alten, mächtigen Dynastien verdankten. Leopold von Ranke urteilte am Ende des 19. Jahrhunderts: „Heinrich VII war kein großer Mann, aber gut, standhaft, barmherzig, voll echter und glänzender Ideen.“ Wenngleich Heinrich VII. auch in der älteren Forschung positiv gewürdigt wurde, so z. B. von Robert Davidsohn in dessen monumentaler Geschichte von Florenz, überwog doch lange Zeit die Einschätzung Heinrichs als naiver Träumer, der anachronistischen Ideen wie dem universalen Kaisertum nachgejagt und die politische Realität nicht genügend beachtet habe. Während Friedrich Schneider den Kaiser in seiner bis heute nicht ersetzten Biographie ahistorisch zu einem „Vertreter höheren Menschentums“ stilisierte, charakterisierte ihn William Bowsky in seiner grundlegenden Darstellung des Italienzugs als eher blauäugigen Schwärmer. Bei der Beurteilung seiner Universalpolitik wurde oft ein angebliches Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit beklagt. Vor allem warf man ihm Fehler bei der Einschätzung der italienischen Verhältnisse vor. Diese Wertungen werden in der neueren Forschung in Frage gestellt. Bereits Heinz Thomas und Hartmut Boockmann hatten sich in ihren Überblicksdarstellungen zur Geschichte des deutschen Spätmittelalters recht vorteilhaft über Heinrichs Politik geäußert und seine Realpolitik betont. In neuerer Zeit haben Kurt-Ulrich Jäschke und Peter Thorau, die die grundlegende Neubearbeitung der betreffenden Regesta Imperii begonnen hatten (seit 2016 ist dafür Michel Margue zuständig), auf die Bedeutung der Politik Heinrichs VII. hingewiesen. Sie kommen zu einer wesentlich ausgewogeneren und recht positiven Gesamtbeurteilung. Nach dieser Einschätzung ist der Romzug nur durch den unerwartet frühen Tod Heinrichs gescheitert. Ob man allgemein von einem „italienischen Fiasko“ sprechen und dem Kaiser zudem irreale politische Ziele unterstellen kann, ist angesichts der durchaus erzielten Erfolge fraglich; aussichtslos war das Italienunternehmen keineswegs. Das wissenschaftliche Interesse an Heinrich VII. ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. 2006 erschien nach jahrelanger Verzögerung die erste Lieferung der von Kurt-Ulrich Jäschke und Peter Thorau vollständig neu bearbeiteten Regesten Heinrichs. Sie werden zukünftig die Grundlage jeder Beschäftigung mit Heinrichs Regierungszeit darstellen, da mit ihrer Erstellung die Auswertung bislang unerschlossenen Archivmaterials verbunden ist, das ausführlich berücksichtigt und kommentiert wird. Dies betrifft vor allem Material aus italienischen Archiven, zumal das kaiserliche Archiv in Italien verblieb und anderes Material bislang nicht systematisch registriert und bearbeitet wurde. Die sorgfältige Darstellung Malte Heidemanns untersucht die wichtigsten Dokumente und den primär diplomatischen Schriftverkehr Heinrichs sowie die politischen Traktate seiner Zeit, blendet jedoch die historiographischen Quellen fast vollständig aus. Der von Ellen Widder 2008 herausgegebene Sammelband bietet Einblicke in neuere Detailforschungen zu Heinrich. Des Weiteren beschäftigten sich zwei wissenschaftliche Tagungen (2008 in Luxemburg und 2012 in Rom) mit dem Kaiser. Beide Tagungen waren auf Jubiläen bezogen. In der Konferenz in Luxemburg stand zum 700. Jahrestag der Wahl Heinrichs VII. das Thema Governance im 14. Jahrhundert im Mittelpunkt, d. h. die Organisation politischer Herrschaft bzw. Regierungstätigkeit. Die Ergebnisse dieser Tagung liegen bereits in gedruckter Form vor. Die internationale Konferenz in Rom wurde zum 700. Jahrestag der Kaiserkrönung Heinrichs VII. veranstaltet. Sie stellte den Aufstieg und die Bedeutung der Luxemburger als Herrscherdynastie in den Blickpunkt. Diese Tagungsergebnisse wurden 2016 publiziert. Eine aktuelle fachwissenschaftliche Biographie des ersten Luxemburgers auf dem römisch-deutschen Königsthron fehlt bislang. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Heinrichs erfolgreiche Hausmachtpolitik, seine ausgleichende Haltung in Deutschland und sein vehementes Beharren auf Reichsrechten und der traditionellen Reichsidee seine Intelligenz und Tatkraft erkennen lassen. Durch seinen frühen Tod ist seine Politik zwar gescheitert, doch war er keineswegs der naive Träumer, als der er in Teilen der älteren Forschung dargestellt wurde. Als Herrscher erwies sich der erste König aus dem Hause Luxemburg als gute Wahl, was etwa in einer aktuellen deutschen Handbuchdarstellung hervorgehoben wird. Quellen Zentrale Urkunden sind in den Constitutiones et acta publica imperatorum et regum von Jakob Schwalm gesammelt, doch ist das urkundliche Material sehr verstreut; wichtig ist vor allem Material in italienischen Archiven. Eine Auswahl wichtiger historiographischer Quellen liegt in einer älteren Übersetzung von Walter Friedensburg vor. Nützlich für einen Überblick über die erzählenden Quellen ist das Werk von Maria Elisabeth Franke. Eine einzigartige Quelle ist die Bilderchronik der Romfahrt. Sie ist auch kulturhistorisch bedeutsam; unter anderem werden neben Kämpfen die Herrschereinzüge, Krönungen, Feste, Strafmaßnahmen und Hofaktivitäten plastisch dargestellt. Wilhelm von Dönniges: Acta Henrici VII. 2 Bände, Berlin 1839 (Band 1, Band 2). Acta Aragonensia. Herausgegeben von Heinrich Finke. Band 1, Berlin 1908 [Digitalisat]. MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. Bearbeitet von Jakob Schwalm. Band 4 (2 Teilbände), Hannover 1906–1911 (und Nachdrucke; Teilband 1, Teilband 2). Das Leben Kaiser Heinrichs des Siebenten. Berichte der Zeitgenossen über ihn. 2 Bde. (= Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit 79/80). Herausgegeben von Walter Friedensburg. Leipzig 1882/1883. (Band 1, Band 2 Scans der 2. Gesamtausgabe, beide Leipzig 1898). Michel Margue, Michel Pauly, Wolfgang Schmid (Hrsg.): Der Weg zur Kaiserkrone. Der Romzug Heinrichs VII. in der Darstellung Erzbischof Balduins von Trier (= Publications du CLUDEM. Band 24). Kliomedia, Trier 2009, ISBN 978-3-89890-129-1. (Edition der Bilderchronik mit Erläuterungen und begleitenden Fachaufsätzen.) Von zentraler Bedeutung sind die vollständig neu erstellten Regesta Imperii (hier in den Anmerkungen als Regest Imperii 6.4 abgekürzt), die sukzessiv seit 2006 erscheinen (Regesta Imperii Online). Sie präsentieren auch bislang nicht erschlossenes Material, das teilweise umfangreich kommentiert ist. Literatur Überblicksdarstellungen Jörg K. Hoensch: Die Luxemburger. Eine spätmittelalterliche Dynastie von gesamteuropäischer Bedeutung 1308–1437 (= Urban-Taschenbücher. Band 407). Kohlhammer, Stuttgart u. a. 2000, ISBN 3-17-015159-2, S. 25–50. Michael Menzel: Die Zeit der Entwürfe (1273–1347) (= Gebhardt Handbuch der Deutschen Geschichte. Band 7a). 10., völlig neu bearbeitete Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-608-60007-0, S. 138–153.(aktueller Überblick) Roland Pauler: Die deutschen Könige und Italien im 14. Jahrhundert. Von Heinrich VII. bis Karl IV. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997, ISBN 3-534-13148-7. Heinz Thomas: Deutsche Geschichte des Spätmittelalters. 1250–1500. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1983, ISBN 3-17-007908-5.(Gute Darstellung der politischen Geschichte des deutschen Spätmittelalters.) Biographien Friedrich Schneider: Kaiser Heinrich VII. 3 Hefte. Bredt, Greiz u. a. 1924–1928.(Nur mit Vorsicht zu lesen. Schneiders Werk gleicht einer Heldenverehrung des Kaisers und ist zudem auch sprachlich gewöhnungsbedürftig. Dennoch die bisher einzige ausführliche deutschsprachige Biographie.) Peter Thorau: Heinrich VII. In: Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hrsg.): Die deutschen Herrscher des Mittelalters. Historische Portraits von Heinrich I. bis Maximilian I. (919–1519). C. H. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50958-4, S. 381–392. Spezialstudien William M. Bowsky: Henry VII in Italy. The Conflict of Empire and City-State, 1310–1313. University of Nebraska Press, Lincoln, Nebraska 1960.(Beste Darstellung des Romzugs, in der Wertung allerdings teils überholt.) Maria Elisabeth Franke: Kaiser Heinrich VII. im Spiegel der Historiographie. Eine faktenkritische und quellenkundliche Untersuchung ausgewählter Geschichtsschreiber der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte. Band 9). Böhlau, Köln u. a. 1992, ISBN 3-412-10392-6. (Wichtiger Überblick zu den erzählenden Quellen.) Malte Heidemann: Heinrich VII. (1308–1313). Kaiseridee im Spannungsfeld von staufischer Universalherrschaft und frühneuzeitlicher Partikularautonomie (= Studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit. Band 11). Fahlbusch, Warendorf 2008, ISBN 978-3-925522-24-6 (zugleich Dissertation, München 2006/07). Marie-Luise Heckmann: Stellvertreter, Mit- und Ersatzherrscher. Regenten, Generalstatthalter, Kurfürsten und Reichsvikare in Regnum und Imperium vom 13. bis zum frühen 15. Jahrhundert (= Studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit. Band 9/1). Fahlbusch, Warendorf 2002, ISBN 3-925522-21-2, S. 373–432. Michel Pauly (Hrsg.): Europäische Governance im Spätmittelalter. Heinrich VII. von Luxemburg und die großen Dynastien Europas = Gouvernance européenne au bas moyen âge. Henri VII de Luxembourg et l’Europe des grandes dynasties (= Publications de la Section Historique de l’Institut G.-D. de Luxembourg. Band 124 = Publications du CLUDEM. Band 27). Actes des 15es Journées Lotharingiennes, 14–17 octobre 2008, Université du Luxembourg. Linden, Luxemburg 2010, ISBN 978-2-919979-22-6. Sabine Penth, Peter Thorau (Hrsg.): Rom 1312. Die Kaiserkrönung Heinrichs VII. und die Folgen. Die Luxemburger als Herrscherdynastie von gesamteuropäischer Bedeutung (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Bd. 40). Böhlau, Köln u. a. 2016, ISBN 978-3-412-50140-2. Volker Turnau: Zwischen Trier und Flandern – zu Itinerar und Politik Graf Heinrichs VII. von Luxemburg an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert. Trier 2013 Digitalisat. Ellen Widder (Hrsg.): Vom luxemburgischen Grafen zum europäischen Herrscher. Neue Forschungen zu Heinrich VII. (= Publications du CLUDEM. Band 23) Unter Mitarbeit von Wolfgang Krauth. Centre Luxembourgeois de Documentation et d'Etudes Médiévales, Luxemburg 2008, ISBN 2-919979-19-1 Weblinks Eintrag in der Residenzen-Kommission Öffnung des Sarkophags Heinrichs VII. in Pisa Anmerkungen Kaiser (HRR) Graf (Luxemburg) Familienmitglied des Hauses Luxemburg Balduin von Luxemburg Herrscher (13. Jahrhundert) Herrscher (14. Jahrhundert) Geboren im 13. Jahrhundert Gestorben 1313 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hugo%20Ch%C3%A1vez
Hugo Chávez
Hugo Rafael Chávez Frías [] (* 28. Juli 1954 in Sabaneta; † 5. März 2013 in Caracas) war ein venezolanischer Offizier und Politiker. Von 1999 bis zu seinem Tod 2013 war er der 62. Staatspräsident Venezuelas. Mit seiner Programmatik berief sich Chávez auf sein Vorbild Simón Bolívar und dessen Einsatz für ein vereintes Südamerika. Der frühere Oberstleutnant gründete Anfang der 1980er Jahre die Untergrundbewegung Movimiento Bolivariano Revolucionario 200. Nach einem misslungenen Putschversuch, der ihn landesweit bekannt machte, verbrachte Chávez zwei Jahre in Haft. Er gründete die Partei Movimiento Quinta República und gewann 1998 die Präsidentschaftswahlen. Bei den Wahlen 2000, 2006 und 2012 wurde er dreimal in Folge wiedergewählt. Chavez’ Bolivarische Revolution bezog sozialistische und marxistische Ideen ein und nutzte nach der Verstaatlichung der Schlüsselindustrien den Ölreichtum Venezuelas zur Finanzierung seiner Vorstellung vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in der Sozialpolitik sowie einer Klientelpolitik. Chávez’ Person, seine Politik, sein Führungsstil und seine Medienauftritte haben sowohl international beachtete Kontroversen wie auch bedeutende Aufmerksamkeit und Anerkennung unter linken und globalisierungskritischen Gruppierungen hervorgerufen. Kritiker warfen ihm insbesondere sein autoritäres Vorgehen und eine nicht nachhaltige Wirtschaftspolitik und Entwicklung Venezuelas vor. Umstritten war auch die Zusammenarbeit mit verschiedenen Diktatoren und militanten Bewegungen sowie sein Umgang mit Oppositionellen und Gegnern. Biografie Chávez wurde als Sohn des ehemaligen Dorfschullehrers Hugo de los Reyes Chávez und seiner Frau Elena Frías de Chávez im westvenezolanischen Bundesstaat Barinas geboren. Drei Brüder von Hugo Chávez sind ebenfalls in der Politik tätig, siehe Abschnitt Vorwurf des Nepotismus. Chávez wurde katholisch erzogen und war zweimal verheiratet. Mit seiner ersten Frau Nancy Colmenares war er 18 Jahre verheiratet und hatte drei Kinder (Rosa Virginia, María Gabriela, Hugo Rafael) und zwei Enkelkinder. Chávez hatte während dieser Zeit eine über neun Jahre andauernde Affäre mit der Historikerin Herma Marksman. Herma Marksman hat sich mittlerweile auch politisch von ihm distanziert. Die Ehe wie die Liebesaffäre gingen nach dem gescheiterten Putschversuch 1992 in die Brüche. Von seiner zweiten Frau, der Journalistin Marisabel Rodríguez de Chávez, wurde Chávez ebenfalls geschieden. Aus der zweiten Ehe hatte er eine weitere Tochter (Rosainés). Armeezeit Chávez trat mit 17 Jahren in die venezolanische Armee ein und besuchte die Militärakademie in Caracas, die er 1975 als Subteniente (entspricht einem deutschen Leutnant) abschloss. In der Folge hatte er eine Reihe von Einsätzen: zunächst in einem Infanterie-Bataillon und als Fallschirmjäger, ab 1978 in einer mit AMX-30-Panzern ausgerüsteten Einheit in Maracay. 1980 kehrte er als Lehroffizier an die Militärakademie in Caracas zurück und leitete dort nacheinander mehrere Abteilungen, darunter die für die Sportausbildung und die für kulturelle Aktivitäten. Ein postgraduales Studium der Politikwissenschaften von 1989 bis 1990 an der Universität Simón Bolívar in Caracas schloss er nicht ab. Chávez erreichte in der venezolanischen Armee schließlich den Rang eines Oberstleutnants. 1994 musste er die Armee verlassen. Politisierung In seiner Zeit an der Militärakademie gründete Chávez zusammen mit anderen Offizieren eine Diskussionsgruppe namens Ejército Revolucionario Bolivariano (ERB-200), die sich an den Werken von Simón Rodríguez, Simón Bolívar und Ezequiel Zamora orientierte und sich unter anderem mit der venezolanischen Militärgeschichte und der Entwicklung einer neuen Militärdoktrin für die Armee beschäftigte. Den Namen Simón Bolívar füllte Chávez dabei mit seinen eigenen Ideen und Absichten auf, unabhängig davon, ob diese zum historischen Bolívar „passten“ oder nicht. Bereits 1986 kam die Gruppe zu der Überzeugung, dass es notwendig sei, politisch zu handeln und eventuell auch militärisch gegen die Regierung vorzugehen. In der zweiten Amtszeit von Carlos Andrés Pérez (1989–1993) kam es 1989 zu Unruhen in den großen Städten des Landes, dem sogenannten Caracazo. Die Regierung Pérez ließ die Plünderungen gewaltsam niederschlagen; 276 Menschen kamen dabei ums Leben, laut unbestätigten Quellen sogar bis zu 3000. Diese Ereignisse sollen zur Wandlung vom ERB-200 zum MBR-200, dem Movimiento Bolivariano Revolucionario 200 (Revolutionäre Bolivarianische Bewegung 200), geführt haben. Der MBR-200 war eine klandestine Organisation, die sich als „zivil-militärische“ Struktur verstand. Sie wandte sich gegen militärischen Fundamentalismus sowie Sektierertum und öffnete sich für zivile Gruppen. Bereits im Juli 1992 veröffentlichte Chavez, mit der Gruppe MBR-200, aus dem Gefängnis Yare heraus, eine programmatische Schrift: Wege, um aus dem Labyrinth zu entkommen. Sie erschien als einseitige Zeitung unter dem Titel Die bolivarische Post. Als Symbol diente hier der in gelber, blauer und roter Farbe gezeichnete Schriftzug „MBR-200“. Der Marxismus war die „ideologische Grundierung“. Weitere Einflüsse kamen aus den Büchern von Oscar Varsavsky sowie aus Situationsbezogene Planung von Carlos Matus. Vom Putschisten zum Parteiführer Am 4. Februar 1992 führte Chávez einen Putsch des MBR-200 gegen die Regierung an. Nach nur wenigen Stunden wurde deutlich, dass der Aufstand gescheitert war. Chávez ergab sich mit seinen Truppen in Caracas und erhielt eine Minute Zeit für eine Ansprache, die ihm gewährt wurde, um seinen Kameraden die Kapitulation mitzuteilen. In der 72 Sekunden dauernden Ansprache übernahm er die Verantwortung für den Putsch und dessen Scheitern. Er erklärte, dass er die Waffen für jetzt („por ahora“) niederlege, sie ihre Ziele vorerst nicht erreicht hätten, es würden sich aber neue Möglichkeiten ergeben. Mit der Ansprache wurde aus einem unbekannten Soldaten ein bekanntes Gesicht. Er wurde für die regierungskritischen Nachbarschaften zu einem Hoffnungsträger. Jene Ansprache wird auch als der Beginn der politischen Kampagne interpretiert, die ihm 1999 die Präsidentschaft einbrachte. Die den wenige Monate danach folgenden Karneval dominierende Figur „Fallschirmjäger mit rotem Barett“ machte seine Popularität deutlich. Vier Monate nach dem gescheiterten Putsch lagen die Popularitätswerte von Chávez bei 67,4 % (in Caracas) und sanken danach bis Mitte 1993 auf rund 55 %. Nach zwei Jahren Haft wurde Chávez zusammen mit den anderen Offizieren des Putsches 1994 von Präsident Rafael Caldera begnadigt. Unmittelbar nach seiner Freilassung gab Chávez bekannt, dass er sich um das Amt des Präsidenten bewerben wolle und reiste nach Kuba, wo er von Fidel Castro wie ein Staatsgast mit allen protokollarischen Ehren empfangen wurde – der Besuch markierte den Beginn einer Freundschaft, welche Venezuela grundlegend verändern sollte. In den Jahren bis 1996 gelang es ihm dann, eine stabile Anhängerschaft aufzubauen. Der MBR-200 wandelte sich zu einem offenen Sammelbecken für ehemalige Militärs und linke Kräfte. Zahlreiche von Chávez’ frühen Anhängern hatten ein ambivalentes Verhältnis zur Demokratie. Politisches Ziel des MBR-200 war die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung. Eine Teilnahme an den landesweiten Wahlen 1993 und den Regionalwahlen 1995 lehnte er ab. 1996 beschloss er, an den nationalen Wahlen 1998 teilzunehmen. Zu diesem Zweck gründete Chávez die Partei Movimiento V [Quinta] Republica (MVR, „Bewegung Fünfte Republik“), welche die linke Koalition Polo Patriotico in die Wahl führte. Ein halbes Jahr vor der Wahl hatte er die in den Umfragen zuvor führende Präsidentschaftskandidatin Irene Sáez weit überholt. Erster Wahlsieg und neue Verfassung Chávez gewann die Präsidentschaftswahlen am 6. Dezember 1998 mit einem Stimmenanteil von 56 Prozent. Henrique Salas Römer erhielt 26,82 % der Stimmen. Die beiden etablierten Parteien Comité de Organización Política Electoral Independiente (COPEI) und Acción Democrática (AD) erhielten nur mehr neun Prozent Zustimmung. Zugleich war es ihm gelungen, in die politische Mitte vorzudringen. Chávez erklärte, er wolle den ehemaligen Diktator Marcos Pérez Jiménez zu seiner Amtseinführung einladen, was er dann aber nach Protesten nicht tat. Wie angekündigt, wurde im April 1999 ein Referendum zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung durchgeführt. Dem folgten im Juli die Wahlen der Delegierten, die unter Chávez’ Führung einen Verfassungsentwurf erarbeiteten, auf dem die neue „Fünfte Republik“ fußen sollte. Im Dezember 1999 stimmte die Bevölkerung Venezuelas per Referendum der neuen Bolivarischen Verfassung zu. Auf ihrer Basis wurden für Juli 2000 Neuwahlen zu allen Wahlämtern, einschließlich des Präsidentenamts, angesetzt, die sogenannte megaelección. Zweite Präsidentschaft In den Neuwahlen konnte Chávez mit 60,3 % der Stimmen sein Wahlergebnis noch einmal verbessern. Aus den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen ging Chávez’ MVR mit 99 von insgesamt 165 Mandaten als absolut stärkste Kraft hervor, und auch die Gouverneurswahlen erbrachten eine Mehrheit für den MVR. Im Dezember 2000 ließ Chávez ein Referendum über die Neuorganisation der Gewerkschaften durchführen. Zur Entscheidung stand sein Plan, innerhalb eines halben Jahres alle führenden Funktionäre der Gewerkschaften ihrer Ämter zu entheben und die Gewerkschaftsmitglieder ihre Führungspersonen neu wählen zu lassen. In diesem Referendum entfielen etwa zwei Drittel der Stimmen auf Chávez’ Antrag. Daraufhin beantragte die größte Oppositions- und ehemalige Regierungspartei des Landes, die Acción Democrática, ein Amtsenthebungsverfahren, das jedoch abgelehnt wurde. Streik und Putsch gegen Chávez im April 2002 Chávez tauschte im Februar 2002 die Führungsriege des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA durch neue, regierungstreue Manager aus. Ein Verbund aus dem CTV-Gewerkschaftsverband, Wirtschaftsverbänden, katholischer Kirche, der vorherigen Regierungspartei und privaten Fernsehsendern Venezuelas rief am 9. April 2002 einen Generalstreik aus. Ziel des Streiks war der Rücktritt von Chávez. Daraufhin wandte dieser sich zwischen dem 8. und 11. April mit insgesamt 31 landesweit übertragenen Ansprachen (cadenas, siehe Medienpolitik) an die Bevölkerung. Am dritten Streiktag, dem 11. April, bewegte sich eine Oppositionsdemonstration zur Zentrale der Petróleos de Venezuela (PDVSA). Nach Angaben lateinamerikanischer Journalisten nahmen an ihr 50.000 bis 200.000 Personen teil, während die Opposition von bis zu einer Million Teilnehmern ausging. Carlos Ortega, der Vorsitzende der Gewerkschaft CTV, und Pedro Carmona, der Vorsitzende des Unternehmerverbandes Fedecámaras, lenkten die Demonstration jedoch zum Präsidentenpalast Miraflores um, wo sich Chávez-Anhänger versammelt hatten. Der Generalstab des Militärs erklärte um 14:15 Uhr in einer landesweit übertragenen Ansprache Chávez seine volle Unterstützung. Als die Oppositionsdemonstration in die Nähe des Miraflores-Palastes kam, versuchten Anhänger der Palastgarde, die Unterstützer und Oppositionellen auseinanderzuhalten. Die Situation eskalierte, als Angehörige der Hauptstadtpolizei, die damals dem offen antichávistischen Bürgermeister Alfredo Peña unterstand, in die Menge der Chávez-Anhänger schossen. Insgesamt wurden 19 Personen getötet und über 300 verletzt. Die Opfer waren ungefähr zur Hälfte Anhänger von Chávez und der Opposition. Alle oppositionellen Fernsehsender berichteten, Chávez-Anhänger hätten in die Oppositionsdemonstration geschossen, was die Chávez-Anhänger bestritten. Sie suggerierten dies – den Chávez-Anhängern zufolge – auch durch geschickte Schnitte und eine chronologisch falsche Anordnung der Ereignisse in der Fernsehberichterstattung. Zahlreiche Beweise für die Verwicklung der Stadtpolizei in den Putsch legen laut Narco News die Vermutung nahe, dass der rücksichtslose Polizeieinsatz als Vorbereitung zum Staatsstreich diente. Die Opposition machte Hugo Chávez für die Toten der Scharfschützen verantwortlich und rechtfertigte mit ihnen den nachfolgenden Putsch. Am 12. April kam es zum Putsch. Der Generalstab des Militärs, der den Staatsstreich vorbereitet hatte, nahm die Toten zum Anlass, Chávez nicht mehr anzuerkennen, und ordnete am 12. April 2002 seine Verhaftung an. Noch am selben Tag ließ sich Pedro Carmona als Übergangspräsident vereidigen. Dieser löste als seine erste Amtshandlung das Parlament und das Oberste Gericht auf, was national wie international auf scharfe Kritik stieß. Nach dem Putsch kam es zu zahlreichen Feuergefechten, Straßenschlachten und Hausdurchsuchungen, bei denen weitere 50 bis 70 Menschen starben, hauptsächlich Aktivisten der sozialen Bewegungen in den Armenvierteln. Der Staatsstreich löste Massenproteste bei weiten Teilen der Bevölkerung aus, an denen sich im ganzen Land mehrere Millionen Menschen beteiligten. Noch während ihrer Siegesfeier setzte die Garde des Präsidentenpalastes die Putschisten fest. Am 13. April 2002 wurde Chávez aus der Militärhaft befreit und wieder ins Präsidentenamt eingesetzt. Der kommandierende General des Heeres, Efrain Vazquez Velasco, verlangte öffentlich die Wiederherstellung aller verfassungsmäßigen Institutionen und erklärte, das Militär habe keinen Staatsstreich verüben wollen. Über den Putschpräsidenten Pedro Carmona wurde Hausarrest verhängt. Später gelang es ihm, zu fliehen, und er setzte sich über Kolumbien in die USA ab. Eine von Angehörigen der Opfer und der Opposition verlangte Kommission zur Aufklärung der Ereignisse des 11. April stieß nach Angaben der Opposition bei der Regierung auf Desinteresse und sei deshalb nicht gebildet worden. Acht an dem Einsatz beteiligte Polizeioffiziere wurden in Untersuchungshaft gebracht, wo sie seitdem auf eine Anklage warten. Es ist der mittlerweile längste Prozess in der Geschichte Venezuelas mit einer Dauer von über sechs Jahren. Die an der Schießerei beteiligten Chávez-Anhänger wurden freigesprochen. Mindestens fünf der Generäle, denen eine Beteiligung am Staatsstreich zur Last gelegt wurde, wurden vom Obersten Gerichtshof Venezuelas freigesprochen. Staatsanwalt Danilo Anderson, der gegen die Putschisten und Angehörige der Hauptstadtpolizei in Zusammenhang mit den Ereignissen des 11. April 2002 ermittelte, wurde im Jahr 2004 von unbekannten Tätern ermordet. Rolle der USA und Spaniens Es gibt Hinweise darauf, dass die Putschisten zwei Monate vor den Ereignissen regelmäßig Kontakt mit der US-Botschaft gehabt hätten. Nach Angaben des Observers hatte der hochrangige US-Regierungsbeamte Otto Reich mehrere Monate vor dem Staatsstreich den späteren Putschpräsidenten Pedro Carmona im Weißen Haus empfangen und diesem während des Putsches diplomatische Rückendeckung gegeben. Auch sollen US-Regierungsbeamte wie John Negroponte und Elliot Abrams vorab über die Pläne der Putschisten informiert gewesen sein. Der Guardian zitierte einen Offizier der US Navy, dass Teile der Funkkommunikation der Putschisten über Schiffe der US Navy, die vor der venezolanischen Küste lagen, abgewickelt worden seien. Der frühere US-Präsident Jimmy Carter sagte, dass die US-Regierung unter George W. Bush zweifellos zumindest vollständig über den Putsch informiert war. Offizielle Stellen in den USA bestritten jedwede Verwicklung der US-Regierung. Eine Überprüfung durch das Office of Inspector General habe in den Aufzeichnungen des US-Außenministeriums und der US-Botschaft in Caracas keinerlei Hinweise auf eine Unterstützung durch Mitglieder der entsprechenden Behörden gefunden. Diplomaten berichteten, dass die in jener Zeit häufigen Besuche von Chávez-Gegnern in Washington oder der US-Botschaft in Caracas zumindest eine stillschweigende Duldung signalisiert haben könnten. Hinweise auf eine Verwicklung der spanischen Regierung unter José María Aznar wurden vom spanischen Außenminister Miguel Ángel Moratinos Ende November 2004 bei einem Besuch von Chávez bestätigt. Moratinos bedauerte, dass Spanien unter Aznar den Putschversuch unterstützt habe. Er bezeichnete dies als ein „Vorgehen […], das sich nicht wiederholen dürfe“, und versicherte, dass Spanien „künftig die Demokratie in Lateinamerika unterstützen“ wolle. Generalstreik Am 2. Dezember 2002 rief der Dachgewerkschaftsverband CTV – der eng an die alten Regierungen gebunden ist – gemeinsam mit Unternehmerverbänden einen Generalstreik aus. In der Ölindustrie nahm dieser den Charakter direkter Sabotage an: Das Unternehmen Intesa, ein Joint Venture der Petróleos de Venezuela und des US-amerikanischen Rüstungskonzerns SAIC, war für die Informatik und Computersteuerung der Ölförderung zuständig. Insbesondere Angestellten dieses Unternehmens gelang es, die Ölförderung Venezuelas weitgehend zum Erliegen zu bringen, indem sie die Fördereinrichtungen per Softwarebefehl herunterfuhren und anschließend das Steuerungssystem beschädigten. Die volkswirtschaftlichen Schäden, die durch Sabotage an der Ölförderung entstanden, beliefen sich auf acht bis zehn Milliarden Dollar. Das Bruttoinlandsprodukt sank dadurch im Jahr 2002 um 8,9 Prozent und im Jahr 2003 um 9,4 Prozent. Es dauerte noch bis zum April 2003, bis alle wichtigen Ölfördereinrichtungen wieder in Betrieb genommen werden konnten. Die zentrale Forderung der Streikenden war der Rücktritt des Präsidenten. Chávez lehnte jedoch seinen Rücktritt ab. Mehrere zehntausend Menschen verloren in Folge ihre Arbeit. Auf Initiative des neuen brasilianischen Präsidenten Lula da Silva bildete sich eine Gruppe der Freunde Venezuelas, bestehend aus Brasilien, Chile, Mexiko, den USA, Spanien und Portugal, daneben schaltete sich auch der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter in die Vermittlungen zwischen Chávez und der Opposition ein. Carter unterbreitete zwei Vorschläge: eine Verfassungsänderung, die Chávez’ Amtszeit von sechs auf vier Jahre verkürzt hätte, oder eine Volksabstimmung zur Halbzeit von Chávez’ Amtszeit über dessen Verbleib im Präsidentenamt, die am 19. August 2003 hätte stattfinden sollen. Die beiden Parteien konnten sich jedoch nicht auf einen Vorschlag einigen; die Opposition gab schließlich den kaum befolgten Streik am 3. Februar 2003 auf, nachdem Ende Januar nach offiziellen Angaben über zwei Millionen Menschen in Caracas gegen den Streik demonstriert hatten. Nach Angaben der Opposition lag die Teilnehmerzahl bei 108.000. Referendum Im Juli und August 2003 sammelte die Opposition Unterschriften, um ein Referendum über die vorzeitige Beendigung der Amtszeit von Präsident Chávez zu bewirken. Der Nationale Wahlrat (Consejo Nacional Electoral, CNE) weigerte sich jedoch, die gesammelten Unterschriften entgegenzunehmen. Nach anhaltenden Protesten gab der Präsident des CNE, Francisco Carrasquero, schließlich am 3. Juni 2004 bekannt, dass von 3,4 Millionen von der Opposition für ein Referendum gegen Chávez’ gesammelten Unterschriften 2,54 Millionen anerkannt würden und so das Referendum mit 15.738 Stimmen Überschuss zugelassen werde. Diesem musste sich Chávez am 15. August 2004, vier Tage vor Beendigung des vierten Jahres seiner Amtszeit, stellen. Um Chávez des Amtes zu entheben, benötigte die Opposition in einer Volksabstimmung allerdings mehr als die 3,7 Millionen Stimmen, die der Politiker im Jahr 2000 bei seiner Wiederwahl für eine zweite Amtszeit erhielt. Gemäß den Verlautbarungen der Wahlkommission führte das Referendum, das eine für venezolanische Verhältnisse außerordentlich hohe Wahlbeteiligung von etwa 70 Prozent aufwies (zweimal wurde die Schließung der Wahllokale am Wahltag verschoben), nicht zur Ablösung der Regierung. Es votierten 59,25 Prozent gegen Chávez’ Amtsenthebung und 40,74 Prozent dafür. Die EU entschied sich gegen die Entsendung von Wahlbeobachtern, da zur Endauszählung weder Oppositionsvertreter noch OAS-Beobachter zugelassen wurden. Trotzdem und entgegen bereits vorab geäußerten Befürchtungen der Opposition über einen möglichen Wahlbetrug bescheinigten internationale Wahlbeobachter der Wahl einen einwandfreien Verlauf. Der US-amerikanische Ex-Präsident Jimmy Carter nannte sie „eine Übung in Sachen Demokratie“. Als zentraler Faktor für Chávez’ Erfolg galt die wirtschaftliche Erholung des Landes. Insbesondere durch den Anstieg des Ölpreises war die venezolanische Wirtschaft im ersten Quartal 2004 nominal um 30 Prozent gewachsen, und auch für das zweite Quartal wurde ein Wachstum von 12 bis 14 Prozent erwartet. Ein weiterer Faktor für ihre Niederlage war auch die innere Gespaltenheit der Opposition. Unmittelbar nach der Bekanntgabe des Ergebnisses kam es in Caracas zu teilweise gewaltsamen Demonstrationen von Oppositionellen, die das Ergebnis inakzeptabel fanden und weiterhin von einem Wahlbetrug ausgingen. Die Demonstranten wurden von Chávez-Anhängern mit Waffen angegriffen, wobei eine 62-jährige Frau starb und neun weitere Personen verletzt wurden. Die Täter konnten identifiziert und verurteilt werden, allerdings wurden diese Urteile 2006 annulliert. Vor dem Referendum veröffentlichte Luis Tascón die Unterschriftenliste derjenigen, welche sich für die Abberufung von Chávez einsetzten, auf seiner Website, damit Chávez-Anhänger nachprüfen konnten, ob sie von Angehörigen der Opposition gegen ihren Willen dort eingetragen wurden. Außerdem wurden potenzielle Unterzeichner durch die Regierung Chávez mit Arbeitsplatzverlust bedroht im Fall, dass sie gegen den Präsidenten unterschreiben. So bezeichnete zum Beispiel der Minister für Gesundheit und soziale Entwicklung, Róger Capella, das Unterschreiben als einen Akt des Terrorismus und gab zu verstehen, dass dies einer Verschwörung gegen das Amt des Präsidenten gleichkomme. Die Liste soll später dafür genutzt worden sein, bei Neueinstellungen in den Staatsdienst die politische Einstellung der Bewerber zu überprüfen, und Personen, welche nicht auf dieser Liste stehen, sollen bevorzugt eingestellt worden sein. Allerdings ist laut Venezuela Analysis zu berücksichtigen, dass in der Verwaltung Venezuelas viele Anhänger der Opposition saßen, welche die Umsetzungen von Regierungsentscheidungen sabotiert hatten. Damit sich eine solche Veröffentlichung nicht wiederholt, wurde bei den Unterschriftensammlungen zur Abberufung verschiedener Bürgermeister und Gouverneure kein Name mehr gespeichert, sondern ein Fingerabdruck. Zur Parlamentswahl 2005 stand diese Methode, Fingerabdrücke der Wähler zu registrieren, im Zentrum der Kritik mehrerer Oppositionsbündnisse. Nach Ansicht dieser verletzten die Computer das Recht auf geheime Wahl. Obwohl die Wahlkommission ankündigte, die kritisierten Wahlcomputer nicht einzusetzen, erklärten fünf Parteien, die die Mehrheit der oppositionellen Kräfte in Venezuela darstellten, ihren Boykott der Wahlen. Auf Seiten der Regierungsparteien wurde eine gemeinsame Allianz des MVR und der anderen Chávez unterstützenden Parteien gebildet. Die Listenkandidaten wurden unter dem Namen MVP aufgestellt, während die Bewerber auf die Direktmandate unter dem Namen Unidad de Vencedores Electorales (UVE) antraten. Durch die Besetzung des Parlamentes ausschließlich mit eigenen Anhängern und damit dem Erreichen der Zweidrittelmehrheit erhielt Chávez die Möglichkeit eines weitreichenden Einflusses auf die Staatsgewalten, wie zum Beispiel die Kontrolle der Wahlbehörde Consejo Nacional Electoral (CNE, in Venezuela im Verfassungsrang einer Staatsgewalt), aber auch über die Judikative, ebenso wie die Möglichkeit des Parlamentes, den Präsidenten zu ermächtigen und per Dekret zu regieren, wozu eine Dreifünftelmehrheit notwendig ist. Präsidentenwahl 2006 Nach dem amtlichen Endergebnis entfielen auf den Kandidaten Hugo Chávez Frías 62,84 Prozent der abgegebenen Stimmen. In absoluten Stimmen entspricht das 7.308.080 Personen. Der führende Oppositionskandidat Manuel Rosales konnte 36,90 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen. Diese Quote entspricht 4.292.466 Stimmen. Weitere zwölf Kandidaten waren beinahe bedeutungslos. Die von der Europäischen Union entsandten Beobachter sprachen von einer weitgehend reibungslosen Wahl entsprechend den nationalen Gesetzen und internationalen Standards. Die hohe Teilnehmerzahl, die friedliche Atmosphäre sowie die allgemeine Akzeptanz der Ergebnisse stellten einen deutlichen Fortschritt gegenüber den Parlamentswahlen im Jahr 2005 dar. Im offiziellen Bericht zur Beobachtungsmission der EU wurden allerdings unter anderem die starke institutionelle Propaganda hauptsächlich für Präsident und Kandidat Chávez sowie die unausgeglichene Berichterstattung sowohl in den öffentlichen als auch in den privaten Medien kritisiert. Es sei auf Staatsangestellte Druck ausgeübt worden, für Chávez zu stimmen bzw. an Wahlkampagnen für seine Wiederwahl teilzunehmen. Dies könnte als ein Verstoß gegen die internationalen Prinzipien der freien Stimmabgabe gewertet werden, wie sie im Artikel 4 der Deklaration über freie und faire Wahlen der Interparlamentarischen Union festgelegt seien, deren Mitglied die venezolanische Nationalversammlung ist. Die Kommission konnte nur wenige der an sie herangetragenen Fälle auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen, sie erwähnte insbesondere eine Rede des Energieministers Rafael Ramírez vor den Beschäftigten der staatlichen Ölindustrie. Wegen dieser Rede wurde Rafael Ramírez vom CNE im Juli 2007 zu einer Strafe von 18.000.000 Bolívares (knapp 7000 Euro) verurteilt. Dritte Präsidentschaft Nach seiner Wiederwahl erklärte Hugo Chávez, er wolle die bolivarianische Revolution vertiefen. Sein Ziel sei die Transformation der Gesellschaft in Richtung eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Er ließ sich von dem damals noch befreundeten deutschen Sozialwissenschaftler Heinz Dieterich (Universität Mexiko-Stadt) beraten. Um dies zu erreichen, hatte er eine Fülle von Maßnahmen angekündigt und bei der venezolanischen Nationalversammlung Sondervollmachten beantragt. Gleichzeitig wurde im Eilverfahren maßgeblich durch Chávez persönlich ein neuer Verfassungsentwurf ausgearbeitet, der die „alte“ Verfassung von 1999 in wesentlichen Punkten verändern sollte. Neben einer Erweiterung der Macht des Präsidenten sah der Entwurf der Verfassungsreform die Ersetzung des Zweikammernparlaments durch eine Nationalversammlung vor. Sie wurde von der Nationalversammlung am 2. November 2007 mit großer Mehrheit angenommen, beim Referendum am 3. Dezember 2007 aber von 50,7 Prozent der Abstimmenden abgelehnt. Mentor Dieterich erklärte nach Chávez’ Tod, dass die Idee des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Venezuela nie in die Praxis umgesetzt wurde. Neben sozialen Aspekten, wie die Beschränkung der täglichen Arbeitszeit auf sechs statt bisher acht Stunden, sah der Verfassungsentwurf unter anderem die Schaffung zweier neuer Teilstreitkräfte unter dem Dach der bisherigen Armee vor: die „Bolivarische Territorialgarde“ sowie die „Volksmiliz“. Letztere sollte direkt dem Präsidenten unterstellt sein. Gleichzeitig sollte ein neues Angriffsziel der Streitkräfte in Form des „inneren Feindes“ definiert werden, was die Bekämpfung jeglicher Dissidenz ermöglicht hätte. Die Währungshoheit sollte von der Zentralbank auf den Präsidenten übertragen werden und der Präsident sollte unbegrenzt wiedergewählt werden können. Des Weiteren sollte eine Reform der Eigentumsverhältnisse angestrebt werden. Der Verfassungsentwurf nannte fünf Arten, die staatlicherseits anerkannt sein würden: Öffentliches, direktes gesellschaftliches, indirektes gesellschaftliches, kollektives und gemischtes Eigentum. Das noch in der Verfassung von 1999 garantierte Privateigentum kam nicht mehr vor. Eine weitere der geplanten Verfassungsänderungen, die Aufhebung der Beschränkung auf zwei Amtszeiten bei politischen Ämtern (nochmalige Wiederwahlmöglichkeit), wurde hingegen bei einem getrennten Referendum am 15. Februar 2009 von 54,4 Prozent der Abstimmenden angenommen. Trotz des verlorenen Verfassungsreferendum, und damit ausdrücklich entgegen dem Willen der Mehrheit des Volkes, nutzte Chávez in der Folgezeit seine Dekretvollmacht und die quasi unbeschränkte Mehrheit seiner Partei im Parlament, um zahlreiche abgelehnte Verfassungsartikel nun als Gesetze zu verabschieden. Kritiker warfen Chávez vor, dadurch eine diktatorische Machtfülle erlangt zu haben. Dabei wandten sich auch ehemalige Weggefährten wie Raúl Isaías Baduel von ihm ab. Am 22. Juni 2007 vereidigte Hugo Chávez die neu gegründete zentrale Plankommission. Sie sollte eine Bestandsaufnahme der venezolanischen Volkswirtschaft durchführen, die diversen staatlichen Entwicklungspläne zusammenführen und Vorschläge für die zukünftige Wirtschaftsentwicklung ausarbeiten. Hugo Chávez kündigte weiterhin an, den Consejos Comunales, Zusammenschlüssen von je ungefähr 200 Familien in den Stadtteilen, mehr Kompetenzen zu geben und ihnen mehr Gelder zur Verfügung zu stellen. Sie bildeten die Basis für eine neue Verwaltungsstruktur, die weniger korruptionsanfällig sein sollte. Auch schlossen sich verschiedene Parteien des Chávez-Lagers in einer Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) zusammen. Chávez erhoffte sich dadurch einen größeren Einfluss der Basis auf die Parteistrukturen. Bis zum 25. Juni 2007 schrieben sich 5,7 Mio. Menschen für die PSUV ein. Bei den Parlamentswahlen 2010 trat die PSUV in einer Allianz mit dem Partido Comunista de Venezuela (PCV) an. Im Gegensatz zur Wahl von 2005 nahmen jetzt auch wieder die oppositionellen Parteien teil. Aus mehreren verschiedenen politischen Lagern kommend, darunter auch die Partei Por la Democracia Social (PODEMOS), die bei den vorangegangenen Wahlen noch die Politik von Chávez unterstützt hatte, bildeten sie die Wahlallianz Mesa de la Unidad Democrática (MUD). Das Wahlsystem wurde im Vergleich zu den vorangegangenen Parlamentswahlen von einer Verhältnis- zu einer Mehrheitswahl entwickelt, in dem Direktmandate eine stärkere Rolle für die Zusammensetzung des Parlamentes spielen. Bereits im Vorfeld wurde Kritik an dieser Veränderung des Wahlrechtes laut, die den traditionellen Hochburgen von Chávez, bevölkerungsarmen, ländlichen Bundesstaaten, ein höheres Gewicht verleihe, sowie an der Neuordnung der jetzt wichtiger gewordenen Wahlbezirke zugunsten von Kandidaten aus dem Lager des PSUV-PCV. Neben den beiden Allianzen konnte noch Patria Para Todos (PPT) Abgeordnete gewinnen. Bei der Wahl bekamen PSUV-PCV 48,3 %, der MUD 47,2 % und der PPT 3,1 % der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 66,5 %. Aufgrund des ausgeprägten Mehrheitswahlrechtes ergab sich folgende Sitzverteilung im venezolanischen Parlament: PSUV-PCV 98 Sitze (59,4 %), Mesa 65 Sitze (39,4 %), PPT 2 Sitze (1,2 %). Damit gewannen PSUV-PCV die einfache Mehrheit deutlich, verpasste jedoch die wichtige Zweidrittel- sowie Dreifünftelmehrheit. Anfang März 2011 erklärte Chávez, er sei der Kandidat der PSUV für die Präsidentenwahlen von 2012. Er sagte, er sei sicher, dass es Zeitverschwendung wäre, wenn die PSUV interne Wahlen veranstalten würde, denn er würde auf jeden Fall gewinnen. Ende Juni 2011 erklärte Chávez von Kuba aus, er habe Krebs und habe sich deshalb einer Operation unterzogen. Schon zuvor hatte es Spekulationen über eine mögliche schwere Erkrankung gegeben. Die Opposition kritisierte den langen Aufenthalt in Kuba, da sie es für verfassungswidrig hielt, dass der Präsident das Land vom Ausland aus regiert. Chávez sagte dazu, er werde nicht zurücktreten. Er habe lediglich per Dekret einige seiner Aufgaben und Befugnisse an seinen Vizepräsidenten, Elías Jaua, und an den Minister für Planung und Finanzen, Jorge Giordani, „delegiert“. Mehrere Operationen und Chemotherapien wurden zwischen Juni 2011 und Juli 2012 durchgeführt. Präsidentschaftswahlen 2012 Vor der Präsidentschaftswahl am 7. Oktober 2012 hatte Chávez mitgeteilt, krebsfrei zu sein. Bei einer Wahlbeteiligung von 81 % wurde er mit 55 % der abgegebenen Stimmen wiedergewählt, sein Herausforderer Henrique Capriles, dem es zuvor gelungen war, die zerstrittene bürgerliche und rechte Opposition zu einigen, kam auf 44,3 %. Absolut erhielt Chávez damit 1,6 Millionen Stimmen mehr als sein Konkurrent und hätte damit bis 2019 weiterregieren können, andererseits gingen auch 2,2 Millionen Stimmen mehr an die Opposition. Slogans Chávez rief mit „Wir werden siegen und leben“ einen neuen Slogan aus. Seit 2007 hatte er den Spruch „Sozialismus, Vaterland oder Tod“ benutzt. Weitere Krankheit und Tod Am 8. Dezember 2012 gab Chávez bekannt, dass er erneut an Krebs erkrankt sei und sich umgehend in Kuba operieren lassen werde. Er bestimmte seinen Stellvertreter Nicolás Maduro als möglichen Nachfolger, sollte er in irgendeiner Form „arbeitsunfähig“ werden. Chávez rief seine Anhänger dazu auf, für den Vizepräsidenten Nicolás Maduro zu stimmen, falls er – Chávez – sein Amt nicht mehr ausüben könne. Am 3. Januar 2013 wurde bekannt, dass sich Chávez’ Zustand nach einer vierten Operation verschlechtert hatte. Er litt laut Venezuelas Informationsminister Ernesto Villegas infolge einer schweren Lungenentzündung unter Atemnot, die „strengster medizinischer Behandlung“ bedürfe. Aufgrund seiner Erkrankung konnte er am 10. Januar 2013 nicht im Parlament erscheinen, um nach seiner Wiederwahl, wie von der Verfassung vorgesehen, den Amtseid abzulegen. Eine Vereidigung war für die nächsten Wochen oder Monate geplant. Die Verzögerung der Vereidigung führte zu Neuwahlforderungen der Opposition. Mitte Februar 2013 kehrte Chávez von Kuba nach Venezuela zurück, wo er sich weiteren medizinischen Behandlungen unterzog. Er litt immer noch an einer Erkrankung der Atemwege. Nach bei Wikileaks bekanntgewordenen amerikanischen Unterlagen litt Chávez an Prostatakrebs mit Metastasen im Dickdarm. Das aus russischen und kubanischen Ärzten bestehende Ärzteteam sei zutiefst zerstritten gewesen, nachdem die Russen den unprofessionellen ersten chirurgischen Eingriff der Kubaner kritisiert hatten. Chávez habe darüber hinaus einen nach der traditionellen chinesischen Medizin arbeitenden Heiler bemüht. Die Russen hätten dies als Pferdemistbehandlung bezeichnet. Chávez habe sich nicht an die Anweisungen der Ärzte gehalten und mehrmals Behandlungen abgebrochen, darunter seine Chemotherapien, um öffentliche Auftritte zu absolvieren. Chávez erlag nach Angaben des Vizepräsidenten Nicolás Maduro am 5. März 2013 um 16:25 Uhr Ortszeit im Alter von 58 Jahren seinem Krebsleiden, nachdem sich sein Gesundheitszustand in den letzten Wochen vor seinem Tod immer weiter verschlechtert hatte. Posthumes In mehreren Ländern Lateinamerikas (unter anderem in Argentinien, Bolivien, Ecuador, Brasilien und Kuba), aber auch in Belarus, wurde eine mehrtägige Staatstrauer ausgerufen, in Venezuela betrug diese, nach einer Verlängerung, insgesamt zwei Wochen. Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff würdigte Chávez als „einen großartigen Führer und vor allem Freund Brasiliens“, als „einen großen Lateinamerikaner“ dessen Tod „ein unwiederbringlicher Verlust“ sei. Der Präsident El Salvadors Mauricio Funes bezeichnete Chávez als „einen Patrioten, einen Mann des umgestaltenden Denkens und Handelns, der für sein Volk regierte und die Realität der Ungleichheit und Ausgrenzung, unter der es litt, veränderte“. Der chilenische Präsident Sebastián Piñera würdigte die „Kraft und Verpflichtung, mit der Präsident Chávez für seine Ideen kämpfte“. An der Trauerfeier in Caracas am 8. März nahmen zahlreiche Staatschefs insbesondere lateinamerikanischer Staaten teil. Chávez wurde zunächst in der Militärakademie Fuerte Tiuna aufgebahrt, bevor er einbalsamiert in einem gläsernen Sarg im früheren Museum für Militärgeschichte zu sehen ist, das zum Museum der Bolivarischen Revolution umgestaltet werden soll. Zu Lebzeiten bezeichnete Chávez selbst im Zusammenhang mit der geplanten und später verbotenen Ausstellung „Bodies Revealed“ 2009 die Zurschaustellung von Leichen als „makaber und ein Zeichen des moralischen Verfalls“. Chávez hatte vor seinem Tod ein Mausoleum für Bolívar und etwa 100 Persönlichkeiten der venezolanischen Geschichte bauen lassen. Das Mausoleum ist so hoch wie ein 17-stöckiges Haus und soll über 100 Mio. US-Dollar gekostet haben; es könnte nach Fertigstellung seine letzte Ruhestätte werden. Politik Laut dem deutschen Politikwissenschaftler Friedrich Welsch, emeritierter Professor an der Universidad Simón Bolívar in Caracas, besteht das Ziel der von Chávez ins Leben gerufenen Bolivarischen Revolution im Wesentlichen aus der „Zerschlagung der bürgerlich-demokratischen Kultur, den Sieg über den Imperialismus durch eine neue Bündnisstruktur und den Aufbau des Bolivarischen Sozialismus durch Volkskommunen als Ausgangszellen der neuen Gesellschaft und des neuen sozialistischen Staates“. Dabei laufe erstere Absicht auf eine Abschaffung der Gewaltenteilung hinaus. Zwar steht diese ausdrücklich in der 1999 verabschiedeten Bolivarischen Verfassung, jedoch wurde sie nie politische Realität. Das Volk delegiert dabei die von ihm ausgehende Gewalt direkt an den Mandatsträger als „unvermittelter Ausdruck der Beteiligung des Volkes“. In demokratischen Gesellschaften übliche Kontroll- und Protestmöglichkeiten seien damit unnötig. Schon zuvor bestehende prochavistische Basisorganisationen, wie die Bolivarischen Kreise spielten fortan keine Rolle mehr und verschwanden in der Versenkung. Die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) erklärte, „unser Kommandant Hugo Chávez“ und das revolutionäre Volk seien identisch. Welsch zufolge entwickelte sich Venezuela unter Chávez zu einem militaristischen Führerstaat. Wahlen seien dabei nur ein notwendiges Übel, um den demokratischen Schein zu wahren, solange noch oppositionelle Organisationen existieren. Tatsächlich sind die Wahlen Welsch zufolge durch unfaire Verfahrensregeln so organisiert, dass dadurch ein Machtwechsel nahezu ausgeschlossen werden kann. In einem 2011 erschienenen Buch beschrieben Javier Corrales und Michael Penfold Chávez’ Politik als eine der durchgreifendsten und überraschendsten neuzeitlichen politischen Umwälzungen im heutigen Lateinamerika. Den Vorgängerregierungen, darunter mit Carlos Andrés Pérez ein prominentes Mitglied der Sozialistischen Internationale als Regierungschef, warfen die Autoren Elitenversagen, einen Mangel an Checks and Balances und eine zunehmend zentralistische Machtverteilung vor, die Chávez für seinen Aufstieg und eine klientilistische Politik genutzt habe. Ihm sei es damit gelungen, eine schwache, aber doch pluralistische Demokratie in ein auf ihn zugeschnittenes quasiautoritäres Regime zu verwandeln. Dieses stütze sich auf die nachmalig wieder zeitweise sprudelnden Öleinnahmen und eine breite öffentliche Zustimmung. Der Politikwissenschaftler Raul Zelik ist der Ansicht, dass Chávez – trotz anderslautender öffentlicher Stellungnahmen der venezolanischen Regierung – das kubanische Modell als Vorbild gewählt habe, und dies, obwohl Kuba auch nach Meinung wohlwollender Beobachter, abgesehen von der Bereitstellung elementarster Grundbedürfnisse, augenscheinlich nicht in der Lage sei, die Wünsche der Bevölkerung zu befriedigen, der Produktionssektor leidlich bis gar nicht funktioniere und sein politisches System komplett autoritär organisiert sei. Verhältnis zur Opposition Chávez, der seit 1998 Staatspräsident war, hatte mit einer sehr starken Opposition zu kämpfen, die gesellschaftliche Machtgruppen wie Unternehmerverbände, einige Gewerkschaften, linke Parteien wie Causa R und Bandera Roja sowie fast alle Massenmedien und die Kirchen einschloss. Hinter Chávez hingegen standen wesentliche Teile des Militärs sowie die Mehrheit der Bevölkerung. Raul Zelik verglich Chávez’ Situation mit der Regierung von Salvador Allende 1972 und zitierte zur damaligen Situation die italienische Publizistin Rossana Rossanda, nach der „ihr größtes Problem sei, dass sie zwar an der Regierung, aber nicht an der Macht sei“. Spätestens seit dem Referendum 2004 aber galt Chávez’ Position als gefestigt. Dazu trug insbesondere die fortgesetzte innere Schwäche der Opposition bei. Chávez’ Parteineugründungen lösten die sozialdemokratische Acción Democrática und das christlich-demokratische Comité de Organización Política Electoral Independiente (COPEI) ab, die über Jahrzehnte die Politik Venezuelas bestimmt hatten. Der Wahlsieg von Chávez’ Bewegung 1998 bedeutete somit ihre Vertreibung aus der Regierung, wobei die Eigentumsverhältnisse aber bisher weitgehend unangetastet blieben. Insbesondere bei den staatlich dominierten Unternehmen und innerhalb der Verwaltung setzte Chávez einen weitgehenden Personalwechsel durch. Die Opposition hatte jedoch breiten Einfluss bei den Medien, was sich besonders im Jahr 2002 zeigte. Chávez nannte seine Oppositionellen seit langem escuálidos, die „Abgemagerten“. Diese Bezeichnung hat sich schon unter den Chávez-Anhängern eingebürgert. Seit Chávez’ Amtsantritt versuchte die oppositionelle Allianz auf verschiedensten Wegen, Chávez zu stürzen, per Amtsenthebungsverfahren 2000, durch einen Putsch 2002, zwei Generalstreiks 2002 und 2003 sowie durch ein Referendum zur Amtsenthebung 2004. Chávez wiederum versuchte im Gegenzug vielfach, die Allianz zu schwächen und schreckte dabei auch nicht vor drastischen Mitteln zurück. So ließ er ein Referendum über eine personelle Reorganisation der Gewerkschaften durchführen oder wehrte sich gegen eine Anti-Chávez-Kampagne der privaten, in konservativer Hand befindlichen Fernsehsender mit einem Gesetz, das Medien zur „Wahrheitsgemäßheit“ verpflichtete. Der Regierung und Basisorganisationen werden zudem Mindestsendezeiten eingeräumt. Chávez nannte den oppositionellen Gouverneur Henrique Capriles „Spielkarte des [US-]Imperiums“ und „Faschist“. Mehrere führende Oppositionelle wurden, vor allem unter dem Vorwurf der Korruption, juristisch verfolgt. Manuel Rosales, Bürgermeister von Maracaibo und Gegenkandidat von Chávez bei den Präsidentschaftswahlen 2006, tauchte nach einem Haftbefehl Ende März 2009 unter und erhielt in Peru politisches Asyl. Raúl Baduel, ein Armeegeneral, der während des Putsches 2002 die Einheiten befehligte, die die Rückkehr Chávez’ ins Präsidentenamt ermöglichte, und späterer Verteidigungsminister wurde am 2. April 2009 von Angehörigen des militärischen Geheimdienstes festgenommen. Baduel war ein scharfer Kritiker der geplanten Verfassungsänderungen, die dann auch 2007 in einem Referendum knapp abgelehnt wurden. Leopoldo López, ebenfalls als Herausforderer für die Präsidentschaftswahlen 2012 gehandelt, ist mehrfach angeklagt. Umgekehrt bekleideten Verwandte des Präsidenten hochrangige Positionen in Staat und Wirtschaft. Adán Chávez war von Januar 2007 bis April 2008 Bildungsminister, und sein Cousin Asdrubal Chávez wurde 2007 zum Vizepräsidenten der Abteilung für Raffinerie, Handel und Vertrieb des staatlichen Ölunternehmens Petróleos de Venezuela befördert. Insbesondere in seiner Heimatprovinz Barinas, wo sein Vater Hugo Chávez sr. zum Gouverneur gewählt wurde, wurden weitere Familienmitglieder in Ämter gewählt bzw. in solche berufen. Chávez kam dabei in Konflikt mit Mitgliedern seiner Familie. Allgemein beklagten Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch, dass Oppositionspolitiker, Journalisten und Menschenrechtsverteidiger unter Hugo Chávez regelmäßig „schikaniert, bedroht, eingeschüchtert und mit fadenscheinigen Begründungen unter Anklage gestellt“ wurden. Chávez und Wahlkampfdebatten Hugo Chávez weigerte sich seit Amtsantritt, Debatten in Form von Fernsehduellen zu akzeptieren. So lehnte er es ab, eine Debatte mit dem Kandidaten der Opposition im Jahr 2006 zu führen. Er lehnte es auch ab, eine Debatte gegen Henrique Capriles zu führen, denn Capriles sei seiner Meinung nach „ein Nichts“. Bildungs- und Sozialpolitik Nach dem Wahlsieg von Hugo Chávez initiierte die Regierung zahlreiche Bolivarianische Missionen: Sozialprogramme, die sich insbesondere an die ärmsten Schichten der Bevölkerung richteten. Diese sind meistens im informellen Sektor tätig und machen weit mehr als 50 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die Sozialprogramme werden in Venezuela als Misiones bezeichnet. Plan Bolívar 2000 für die Verteilung von Lebensmitteln an die Bevölkerung, wurde im Jahr 2000 gestartet. Im Rahmen der Misión Barrio Adentro wurde mit Hilfe kubanischer Ärzte in den Slumvierteln eine kostenlose Gesundheitsversorgung aufgebaut. Die Misión Robinson begann im Jahr 2003 und ermöglichte es Erwachsenen, die bisher Analphabeten waren, kostenlos lesen und schreiben zu lernen. Anschließend können sie – ebenfalls kostenlos – die Grundschulbildung sowie die höhere Schulbildung nachholen und ein Universitätsstudium aufnehmen. Die Misión Sucre sieht den Aufbau eines neuen dezentralen bolivarianischen Universitätssystems vor. Die hier eingerichteten, stark praxisorientierten Studiengänge sind für alle Personen mit Hochschulzugangsberechtigung zugänglich und kostenlos. Studierende erhalten Stipendien. Im Rahmen der Misión Alma Mater sollen in Venezuela insgesamt 50 neue Universitäten eingerichtet werden, in einer ersten Phase bis 2012 allein 28. Durch die Misión Mercal wird ein Netz von Supermärkten aufgebaut, wo verbilligte Grundnahrungsmittel für die Bevölkerung bereitgestellt werden. Nach verschiedenen Vorläufern wurden die Misiones in der heutigen Form nach dem zweimonatigen Unternehmerstreik von 2002 bis 2003 ins Leben gerufen. Sie sollten innerhalb von sehr kurzer Zeit einen möglichst großen Effekt erzielen und sich auf eine bestehende soziale Organisierung in den Armutsvierteln stützen. Zu diesem Zweck wurden die damals eher ineffektiven und von Anhängern der Opposition dominierten Ministerien umgangen und die Mittel aus Einnahmen der PDVSA bereitgestellt. In den folgenden Jahren erfolgte die Mittelvergabe stärker über den Staatshaushalt. Nach Auffassung des in Caracas lehrenden Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaftler Michael Penfold-Becerra dienten die Misiones, die mit Budgets zwischen ein und zwei Milliarden Euro das größte Sozialprogramm in der Region darstellen, nur dem Zweck, durch Verteilung der Öleinnahmen an die Bevölkerungsschichten mit den geringsten Einkommen im Sinne einer klassischen Klientelpolitik Stimmen zu kaufen. Zu einem ähnlichen Urteil kam auch die Neue Zürcher Zeitung in ihrem Nachruf auf Chávez: „In erster Linie hat Chávez die traditionelle Klientelwirtschaft in Venezuela von der Mittelklasse auf die Unterschicht ausgeweitet. Seine Misiones brachten Almosen für die breite Bevölkerung – aber kaum etwas darüber hinaus.“ Wirtschaftspolitik Die Wirtschaftspolitik war zu Beginn stark an Vorstellungen der Importsubstitution angelehnt, die in den 1950er und 1960er Jahren auch von der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) befürwortet worden war. Die Wirtschaft sollte diversifiziert werden. Diese Strategie bedeutete einen Bruch mit einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, die unter den Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) nach dem Staatsbankrott in den 1980er und 1990er Jahren angewandt wurde. Nach den Wahlen von 2006 stand bei Chávez jedoch das Öl wieder im Zentrum seines Wirtschaftsmodells, welches seinen übrigen Ausdruck grundsätzlich in Verstaatlichungen fand. Im Jahr 2003 führte die venezolanische Zentralbank feste Wechselkurse und Devisenkontrollen ein, um die nach Chávez’ Antritt erheblich ausgeweitete Kapitalflucht einzudämmen. Die Regierung Chávez stoppte die vorgesehene Privatisierung des staatlichen Erdölkonzerns Petróleos de Venezuela. Präsident Chávez setzte sich auch für eine Revitalisierung der OPEC ein. Von 1999 bis 2012 wurden insgesamt 1440 Unternehmen aus einer breiten Reihe von Wirtschaftszweigen (Energie, Finanzwirtschaft, Groß- und Außenhandel, Nahrungsmittel, Tourismus oder Bauwirtschaft) verstaatlicht. Die an die bisherigen Eigentümer der Unternehmen dabei bisher gezahlten Entschädigungen wurden von Beobachtern teilweise als „fair“ bzw. „marktgerecht“ bewertet, wenngleich in einigen Fällen eine Einigung über Entschädigungszahlungen schwierig zu erreichen war und nicht selten vor Gericht endete. Dadurch verlorene Kapazitäten wollte die Regierung offenbar durch Importe ausgleichen. Die Regierung förderte auch die Gründung von Kooperativen und sonstigen Zusammenschlüssen bei stillgelegten oder Konkurs gegangenen Unternehmen. Diese Kooperativen werden mit Mikrokrediten versorgt, die Regierung kaufte ihre Produkte wie Schul- oder Militäruniformen auf oder vertrieb sie über die Misión Mercal. Die Kooperativen waren damit auf staatliche Abnehmer angewiesen. Die Mitglieder von landwirtschaftlichen Kooperativen konnten im Rahmen der Misión Che Guevara im ökologischen Landbau ausgebildet werden. Im August 2011 kündigte Chávez an, die in verschiedenen Banken in Europa und den USA gelagerten Goldreserven Venezuelas in der Höhe von 11 Milliarden US$ zurück ins Land zu holen. „Wie können wir das venezolanische Gold in London halten, wenn die NATO jederzeit sagen kann, das Gold sei ihres“, begründete Chávez seinen Entscheid. Es sei zudem derzeit sehr unverlässlich, das Gold in den vom Bankrott bedrohten europäischen und amerikanischen Banken aufzubewahren. Im September des gleichen Jahres verstaatlichte er auch die Goldindustrie des Landes. Das Gesetz schreibt vor, „dass alles Gold, das auf nationalem Territorium als Folge von Bergbautätigkeiten erlangt wird, […] der Republik von Venezuela verkauft und geliefert werden [muss]“. 2006 meinte Chávez: "Der Sozialismus, den wir zu bauen beginnen, ist anders, er basiert auf Solidarität, deshalb ist es Sozialismus (…) Wir müssen den Tauschhandel fördern: Der Markt kann durch Tauschhandel reaktiviert werden und nicht durch Währung", wozu der Korrespondent der BBC im 2019 meinte, dieses eine Ziel der Revolution sei ja mit der Selbstauflösung der venezolanischen Währung erreicht worden. Vorübergehende Auswirkungen Der Gini-Koeffizient, der die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums misst, sank von 0,5 im Jahr 2002 auf 0,39 im Jahr 2009, was eine gleichmäßigere Verteilung auf alle Bewohner bedeutet. (Zum Vergleich: Die Gini-Koeffizienten der Einkommensverteilung belaufen sich für die meisten lateinamerikanischen Länder auf mehr als 0,5, während sie sich in den westeuropäischen Ländern um 0,3 bewegen.). In den folgenden Jahren der Präsidentschaft Maduros wurde oft kommentiert, dass die Gleichheit tatsächlich zugenommen hätte; es seien nun alle gleich arm. Die Konrad-Adenauer-Stiftung sprach 2018 von einer "Spaltung der Gesellschaft in eine kleine sehr wohlhabende Oberschicht, eine Mischung der neuen und alten Eliten, und eine bitterarme Unterschicht". In den Jahren 2002 und 2003 gab es Einbrüche aufgrund des Unternehmerstreiks sowie Sabotage der Ölförderanlagen, von denen sich die venezolanische Wirtschaft im Jahr 2004 erholte. Von 2004 bis 2008 war ein hohes, sich aber abschwächendes Wirtschaftswachstum zu verzeichnen, das auf den gestiegenen Ölpreis zurückzuführen war, nach Meinung der Regierung aber auch das Resultat der neuen Wirtschaftspolitik sei. Dafür hätte gesprochen, dass in den Jahren ab 2004 das Wachstum im privaten Sektor stärker war als im staatlichen Sektor. Dies wurde auf hohe Binnennachfrage und die Zunahme öffentlicher Investitionen zurückgeführt. Andere Ökonomen wie Hans-Jürgen Burchardt führen das Wirtschaftswachstum nahezu ausschließlich auf den gestiegenen Ölpreis zurück. 2009 schrumpfte das Bruttosozialprodukt um 2,9 Prozent, 2010 um weitere 1,9 Prozent bei einer Inflationsrate von 27 Prozent. Als Ursache wurde zunächst vor allem der Einbruch des Ölpreises Ende 2008 infolge der Finanzkrise ab 2007 verantwortlich gemacht. Im Jahr 2009 kam es aber trotz des immer noch hohen Ölpreises und gar mit einem Durchbruch der 100-Dollar-Marke zu notorischen Engpässen in der Versorgung. Nach Anfang 2010 wurde auch 2011 die venezolanische Währung, der Bolívar, abgewertet. Zum starken Rückgang der Wirtschaftstätigkeit in der ersten Hälfte des Jahres 2010 trug eine Elektrizitätskrise bei, die Produktionsunterbrechungen in der Schwerindustrie notwendig machte. Schon damals wurde auf Chávez’ Verantwortung für den Niedergang der Infrastruktur verwiesen. Beim Gaskraftwerk Planta Centro im Bundesstaat Carabobo dauerte die Reparatur der Turbinen länger als der Bau des Kraftwerks an sich, das früher vorbildliche Stromnetz sei unter Chávez auf den Stand eines Entwicklungslandes heruntergekommen, regelmäßige Stromausfälle waren schon im Jahr 2010 ein gravierendes Problem. Die offiziell investierten 35 Milliarden Euro seien nicht sachgemäß verwendet worden. Trotz der Wirtschaftskrise wurden die Sozialausgaben beibehalten, so dass die Armut und die absolute Armut in Venezuela weiter zurückgingen. Die Arbeitslosigkeit nahm von 6,8 % Ende 2008 auf 8,4 % Mitte 2010 zu. Die Gesamtverschuldung Venezuelas betrug 18,4 % des BSPs und war damit weitaus geringer als die von Deutschland (über 60 %) und den USA (über 100 %). Von 1999 (Machtantritt von Chávez) bis 2011 stiegen die Auslandsverbindlichkeiten um 70 %, die Binnenverschuldung um 1000 %. Auch Anhänger von Chávez kritisieren gelegentlich, dass die Maßnahmen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu zögerlich seien und im Symbolischen haften blieben. Auch käme es zu Korruption und Vetternwirtschaft insbesondere im System der Devisenkontrolle, welches ungeheure Bereicherungsmöglichkeiten bot. In den Jahren 2007–2009 kam es in Venezuela zeitweise zu Engpässen in der Versorgung mit Nahrungsmitteln, auch in den staatlichen Mercal-Geschäften. Die Inflation stieg, vor allem Nahrungsmittel hatten sich verteuert. Die Opposition, unter anderem der Unternehmerverband Fedecámaras beklagte, dass die wirtschaftlichen Probleme durch die Devisenverkehrskontrollen, Preiskontrollen für Lebensmittel und den chavistischen Ausbau des Sozialstaates verursacht worden seien und zudem eine Schattenwirtschaft hervorgerufen hätten. Die Abhängigkeit vom Erdöl konnte trotz den Beteuerungen von Chávez keineswegs beseitigt werden, im Gegenteil. In vielen Bereichen sank die Produktion. Chávez’ Politik wurde auch für eine erhebliche Verschlechterung der Produktivität und einen Mangel an Neuinvestitionen und technischen Innovationen bei der staatlichen Ölgesellschaft PDVSA verantwortlich gemacht. Selbst Chávez-freundliche Ökonomen wie Mark Weisbrot werfen ihm Versagen in der Wirtschaftspolitik und mangelnde Diversifizierung der Wirtschaft vom Ölgeschäft vor. Medienpolitik Mediengesetzgebung Nach dem Mediengesetz von 2005 muss jeder Kanal 70 Minuten Sendezeit wöchentlich (maximal 15 Minuten täglich) zur Verfügung stellen, in welcher der Staat über seine Projekte und Ziele informieren kann. Diese Übertragungen dürfen in keiner Weise verändert werden, weder in der Qualität des Audio/Video-Signals noch in der Nachricht selbst. Neben der Schließung von 34 Medienanstalten am 1. August 2009 geraten Medien durch gleichzeitige Pläne, die eine drastische Verschärfung des Mediengesetzes vorsehen, zusätzlich unter Druck. Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz legte der Nationalversammlung einen entsprechenden Gesetzesentwurf vor, durch dessen Umsetzung Journalisten und Verlegern Haftstrafen zwischen zwei und vier Jahren drohen, falls sie „öffentliche Panik“ verbreiten oder „die Sicherheit der Nation“ gefährden. Nach der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen nimmt Venezuela den 117. von 179 Plätzen ein. Private Medien In Venezuela sind die meisten Massenmedien nach wie vor in Privathand. Bis zum Jahr 2004 unterstützten die vier Fernsehsender Venevisión, RCTV, Televen und Globovisión, welche zusammen eine Reichweite von über 90 Prozent hatten, ausschließlich die bürgerliche Opposition gegen Präsident Chávez. Von Chávez-Anhängern werden sie daher auch Golpevision (Putschfernsehen) genannt. Venevisión gehört dem venezolanischen Multimilliardär Gustavo Cisneros, RCTV Marcel Granier. Beide Unternehmer haben eine entschieden konservative politische Einstellung, die sich auch in ihren jeweiligen Fernsehkanälen ausdrückte. Seit Jahren werden die privaten, regierungskritischen Fernsehsender in Venezuela von der Regierung in ihrer Pressefreiheit beschränkt. Zum einen machte der Präsident, besonders in Zeiten des Wahlkampfes, häufig von den so genannten cadenas Gebrauch, mittels derer er mehrstündige Ansprachen halten konnte, die von allen terrestrischen Rundfunksendern übertragen werden mussten. Zum anderen wurden RCTV, Globovisión und andere private Fernsehsender zum Ziel rigiden politischen und finanziellen Drucks, welcher zur Einschüchterung, beziehungsweise zum Bankrott dieser Sender geführt hat. Venevisión ist daher seit 2004 weniger kritisch geworden, und RCTV ist nicht mehr im terrestrischen VHF-Band erreichbar. Globovisión kann außerhalb von Caracas und Valencia nur per Kabel oder Internet gesehen werden. Weniger als ein Drittel der Bevölkerung hat diese Möglichkeit. Mit Ausnahme der auflagenstärksten Zeitung Últimas Noticias sind die meisten größeren Zeitungen des Landes wie El Impulso, El Mundo, El Nacional, El Nuevo Pais, El Universal und Tal Cual oppositionell geprägt. Diese Medien übernahmen beim Putsch gegen Chávez im Jahr 2002 eine wichtige Rolle. Wahrheitswidrig behaupteten sie, Regierungsanhänger hätten auf Teilnehmer einer Oppositionsdemonstration geschossen, strahlten den Putschaufruf des oppositionellen Generals Nestor Gonzalez Gonzalez aus und rechtfertigten den Staatsstreich. Die oppositionellen Medien berichteten nicht über die starken Gegendemonstrationen, die den Putsch schließlich zum Scheitern brachten. Dies war umso gravierender, als die wenigen regierungstreuen Medien von den Putschisten geschlossen worden waren. Während des Generalstreiks im Dezember 2002 erweckten die oppositionellen Medien den Eindruck, der Streik werde weitgehend befolgt. Der Sender Globovisión versuchte dies mit Bildern einer leeren Stadtautobahn zu belegen. Diese Bilder waren aber am frühen Morgen aufgenommen worden. Zu anderen Tageszeiten waren die Straßen voll wie üblich. Öffentliche Medien Die Regierung versuchte zunächst, die teilweise schon vorher entstandenen Basismedien zu fördern. Inzwischen senden mehr als 500 Basisradios und mehr als zwölf lokale Fernsehstationen. Diese waren noch von der Vorgängerregierung als Piratensender bekämpft worden. Inzwischen besteht für sie die Möglichkeit, sich zu registrieren und legal zu senden. Die meisten Inhalte dieser Sender werden von Laien produziert, die in Workshops das Filmemachen und den Schnitt lernten. Sie berichten über den Alltag und die sozialen Kämpfe in den Slums der Großstädte – Themen, die in den Privatsendern nicht vorkommen. Diese Medien unterstützen Präsident Chávez grundsätzlich, wahren allerdings ihre Unabhängigkeit und scheuen sich nicht, bestimmte Maßnahmen oder Funktionsträger der Regierung zu kritisieren. Neben dem schon bestehenden Staatskanal Venezolana de Televisión (VTV), der nur eine geringe Reichweite hat und von den Vorgängerregierungen nur sehr spärlich finanziert worden war, investierte die Regierung erhebliche Mittel in den 2003 gegründeten Kulturkanal ViVe und initiierte darüber hinaus die Gründung des multistaatlichen, südamerikanischen Informationssenders teleSUR sowie des in Zusammenarbeit mit zahlreichen sozialen Organisationen Südamerikas entstandenen Senders Alba TV. VTV, ViVe, Globovisión und teleSUR werden seit geraumer Zeit für Südamerika über den Satelliten NSS 806 auf 40,5° West im C-Band verbreitet und können auch in Deutschland mit 180-cm-Schüsseln empfangen werden. Seit 1999 (also dem ersten Jahr seiner Präsidentschaft) hatte Chávez eine eigene Fernsehsendung Aló Presidente. Sie wurde meist sonntags von wechselnden Orten wie z. B. Kooperativen im Landesinnern durch staatliche Sender ausgestrahlt. Aló Presidente dauert mehrere Stunden, die Sendedauer variiert stark. Hugo Chávez hielt Reden, machte Ankündigungen und ermunterte die Zuschauer zu Anrufen während der Sendung, um ihm Probleme vorzutragen, die er zur Bearbeitung weitergab oder noch während der Sendung löste. Hugo Chávez wendete sich häufig mit Fernsehansprachen direkt an die venezolanische Öffentlichkeit. Alle Fernsehsender waren dann verpflichtet, eine Cadena („Kette“) zu bilden und die Ansprache landesweit gleichzeitig und in voller Länge auszustrahlen. Im Jahr 2001 wurden 7018 Minuten lang cadenas mit Ansprachen Chávez’ gesendet, im Jahr 2002 4407 Minuten. Konflikte seit 2007 Nichtverlängerung der Lizenz von RCTV 2007 Im Dezember 2006 kündigte Präsident Chávez an, die terrestrische Sendelizenz für den Sender RCTV, die am 27. Mai 2007 auslief, nicht zu verlängern. Vertreter der Regierung begründeten diese Entscheidung mit der Verwicklung des Senders in den Putsch gegen Chávez im Jahr 2002 und der Tatsache, dass sich dieser Sender nicht an Gesetze gehalten habe. Am 29. März 2007 sagte Kommunikationsminister Jesse Chacón, dass der neue öffentlich-rechtliche Fernsehkanal TVes die in Frage stehenden terrestrischen Sendefrequenzen übernehmen werde. RCTV beendete am 28. Mai 2007 um 00:03 Uhr mit der Nationalhymne seinen terrestrischen Sendebetrieb, TVes nahm unmittelbar im Anschluss mit der Nationalhymne seinen Betrieb auf. Am 26. April 2007 brachte die interamerikanische Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) den Fall vor das Menschenrechtsgericht der OAS, da sie die minimalen Arbeitsbedingungen für Arbeiter und Journalisten des Senders durch den venezolanischen Staat nicht gewährleistet sah. Chávez erklärte, aus der OAS austreten zu wollen, falls das Gericht Venezuela in dieser Sache schuldig spricht. In einer gemeinsamen Erklärung unterstützten sämtliche Mitglieder der ALBA, darunter Bolivien, Ecuador, Honduras und Nicaragua, das Vorgehen der venezolanischen Regierung in diesem Fall. Der Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Miguel Vivanco, verurteilte die Nichtverlängerung der Lizenz als „Fall von Zensur“. Reporter ohne Grenzen bezeichnete die Nichtverlängerung der Lizenz von RCTV als Schließung des Senders und die teilweise Enteignung des Sendeequipments als nicht den venezolanischen Gesetzen entsprechend, in einer Stellungnahme im Sender teleSUR wurde dem energisch widersprochen und dem ROG-Bericht in 39 Punkten unlautere Berichterstattung vorgeworfen. Amnesty International sah das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung in Venezuela in Gefahr. Die Vorgänge um RCTV seien nur die bisher letzten einer Reihe von Ereignissen gewesen, die das Recht auf freie Meinungsäußerung unterminieren würden. Schließung von über 30 Sendern 2009 Am 1. August 2009 gab Diosdado Cabello, Chef der nationalen Telekommunikationsbehörde Conatel, die Schließung von 32 privaten Rundfunk- und zwei Fernsehsendern bekannt, da sie im Rahmen einer Überprüfung ihrer Lizenzen einer Aufforderung vom Juni nicht nachgekommen seien, ihre Sendegenehmigung vorzulegen. Daher würden sie als Konsequenz eines fortgesetzt illegalen Betriebs in Form fehlender oder falsch gebrauchter Lizenzen geschlossen. Im Anschluss stellte Cabello die Überprüfung der weiteren 206 Rundfunksender in Aussicht. Nelson Belfort, Präsident der venezolanischen Kammer der Radiosender, beschrieb das Vorgehen als Angriff auf die Meinungsfreiheit. Chávez erklärte dazu: „Wir haben eine Reihe von Stationen zurückgewonnen, die sich außerhalb des Gesetzes bewegten und die jetzt dem Volk gehören und nicht mehr der Bourgeoisie.“ Geistiges Eigentum Die Regierung Chávez steht der Ausweitung des geistigen Eigentums kritisch gegenüber: Ein vorgeschlagenes neues Urheberrechtsgesetz würde die Rechte der Verwerter deutlich einschränken und die Verbraucherrechte stärken. Die Patentierung von Software, von Lebewesen und von genetischen Strukturen ist in Venezuela nicht möglich. Die von Behörden und Staatsunternehmen genutzten Computer sollen auf Linux umgestellt werden. Die Entwicklung und Anpassung von freier Software wird vom Staat gefördert. Verhältnis zu verschiedenen Religionsgemeinschaften Christentum Chávez hat neben dem Rückgriff auf Bolívar auch Aspekte der katholischen Volksfrömmigkeit wie den María-Lionza-Kult und die Santería für seine politischen Aktivitäten vereinnahmt. Er betonte auch Aspekte der katholischen Soziallehre und hielt sich bei strittigeren Themen betont zurück. So wurde das sehr restriktive venezolanische Abtreibungsrecht bis dato (2011) nicht modifiziert. Auseinandersetzungen gab es mit einigen führenden Amtsträgern des katholischen Klerus und einigen evangelikalen Gruppierungen, die auch in Venezuela Zulauf haben. So sorgte der emeritierte Kurienkardinal Rosalio Lara gemeinsam mit der Bischofskonferenz Venezuelas Anfang 2006 für erhebliche Verstimmungen zwischen der venezolanischen Kirche und der Regierung. Anlässlich einer Wallfahrt kritisierte er, dass man in Venezuela Andersdenkende verfolge und Chávez’ Führungsstil undemokratisch sei. Außerdem beklagte der Kardinal „Anzeichen einer Diktatur“ und eine inakzeptable Situation der Menschenrechte. Chávez sprach darauf von einer „Mitverschwörung“ der Kirche und forderte eine Entschuldigung. Den Kardinal beschimpfte er als „Heuchler, Banditen und Teufel in Soutane“. Für Verstimmung sorgte auch die Parteinahme des Kardinals Antonio Ignacio Velasco García und anderer hoher Würdenträger während des Putsches gegen Chávez 2002. Chávez hat 2005 die evangelikale Missionsgesellschaft New Tribes Mission, welche in den indigenen Gemeinden im Süden des Landes aktiv war, aus dem Land verwiesen. Er warf ihr „Kolonialismus“ und „imperialistische Infiltration“ (Verbindungen zur CIA) vor. Unter anderem in Parlamentsberichten wurden der New Tribes Mission zuvor Spionage und Zwangsbekehrungen vorgeworfen. Zur selben Zeit übergab er 6800 Quadratkilometer Land an die Ureinwohner Venezuelas. Chávez sagte hierzu, er führe eine Revolution für die Armen, und die Verteidigung der Rechte der Ureinwohner des Landes sei eine der Prioritäten hierfür. Judentum Chávez war dem peronistischen Politikwissenschaftler, Antisemiten und Holocaustleugner Norberto Ceresole eng verbunden, der ihn bereits während der Haft beraten hatte und deswegen 1995 ausgewiesen wurde. Das zeitweise Wiedererscheinen Ceresoles nach der Wahl 1998 und ein zeitgleich erschienenes Buch Ceresoles zu Ehren Chávez’ mit dem Titel Caudillo, Ejército, Pueblo: la Venezuela del Comandante Chávez (Führer, Heer, Volk: Das Venezuela des Kommandanten Chávez) stieß bereits 1999 auf großes öffentliches Interesse und Unbehagen in Venezuela. Chávez’ Regierung distanzierte sich darauf von Ceresole, dieser verließ das Land kurz darauf. Die jüdische Gemeinde in Venezuela schrumpfte seit dem Amtsantritt Chávez’ 1998 bis Ende 2007 von 16.000 auf 12.000 und führt dies ganz wesentlich auf die Verschlechterung der Beziehungen im Zusammenhang mit dem gescheiterten Referendum 2007 zurück. In seiner Weihnachtsansprache von 2005 äußerte sich Chávez wie folgt: Daraufhin kam es zu einem Schlagabtausch zwischen dem Simon-Wiesenthal-Zentrum in Los Angeles, das die Äußerungen als antisemitisch verurteilte und eine Entschuldigung verlangte, Chávez, der darauf entgegnete, er sei antiliberal und antiimperialistisch, aber niemals antisemitisch, und der CAIV, dem Verband der israelitischen Gemeinden Venezuelas. Die CAIV versuchte anfangs noch zu vermitteln und wurde dabei vom American Jewish Committee und dem American Jewish Congress unterstützt. Allerdings hatte die CAIV nach der Inhaftierung Raúl Baduels keinen Ansprechpartner mehr, im Gegenteil kursierten diverse Theorien über eine amerikanisch-zionistische Verschwörung im Lande. Simon Sultan, der Vorstand des Hebraicazentrums in Caracas, sprach 2007 von der ersten antijüdischen Regierung des Landes. Die 2008 erfolgte Ernennung des 38-jährigen Tareck El Aissami, eines ehemaligen linksextremen Studentenführers und Sohns eines Repräsentanten der Baʿth-Partei Iraks in Venezuela, zum Innenminister trug nicht zur Vertrauensbildung bei. Im September 2010 fand ein Treffen einer CAIV-Delegation unter Leitung von Salomón Cohen Botbol mit Präsident Chávez statt. Botbol übergab Chávez ein Dossier mit Beispielen für antisemitische Äußerungen in den staatlichen Medien und gab die möglichen Folgen zu bedenken. Chávez versprach, die Sicherheitsmaßnahmen für jüdische Einrichtungen zu verbessern. Um das Treffen war nach der Plünderung einer Synagoge und der Zündung eines Sprengsatzes am jüdischen Gemeindezentrum in Caracas im Frühjahr 2009 gebeten worden. Unter den in diesem Zusammenhang verhafteten elf Personen waren acht Polizeibeamte. Am 22. Juli 2011 wurden drei ehemalige Beamte der Hauptstadtpolizei (Policia Metropolitana) und drei Zivilisten wegen des Überfalls auf die Synagoge verurteilt. Das Gericht schloss einen politischen Hintergrund aus und stellte fest, dass mindestens ein Wachmann die Einbrecher in das Gotteshaus eingelassen hatte. Die Bande habe durch die Schändung der Synagoge versucht, den Raub als politische Tat zu tarnen. Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) Die Politik war in Venezuela traditionell klientelistisch geprägt. Nach Meinung vieler bolivarianischer Basisaktivisten hat sich daran auch bei den Parteien, die Chávez unterstützen, nicht viel geändert. So wurden die Kandidaten des Chávez-Lagers bei den Regionalwahlen 2004, den Wahlen zur Nationalversammlung und den Kommunalwahlen 2005 nach Verhandlungen zwischen den Parteien aufgestellt und nicht von der Basis, wie dies Chávez versprochen hatte. Viele der Kandidaten genossen wenig Vertrauen bei der Bevölkerung, was dazu führte, dass die Wahlbeteiligung gering war. Mit der Gründung der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) soll die Partizipation der Basis erweitert werden. Außenpolitik Lateinamerika Chávez hat seit 2004 verstärkt den Schulterschluss mit gleichgesinnten lateinamerikanischen Führern gesucht. Dem Projekt ALBA als Alternative zur US-dominierten Amerikanischen Freihandelszone gehören im Jahr 2012 Antigua und Barbuda, Bolivien, Dominica, Ecuador, Kuba, Nicaragua, St. Vincent und die Grenadinen und Venezuela an. Chávez’ Einmischung im Wahlkampf Perus im Jahr 2006 – er hatte Alan García als „schamlosen Dieb“ beschimpft und dessen Herausforderer Ollanta Humala unterstützt –  führten zu diplomatischen Verstimmungen. Vor den Präsidentschaftswahlen 2006 in Nicaragua unterstützte er öffentlich die Sandinistas und deren Kandidaten Daniel Ortega. Chávez’ Parteinahme für die FARC-EP führte zu diplomatischen Spannungen, sowohl zwischen Venezuela und Peru als auch Venezuela und Kolumbien. Im Jahr 2010 gab es Berichte, wonach für Venezuela bestimmte Raketenwerfer eines schwedischen Waffenherstellers in die Hände von FARC-Kämpfern gelangt seien. Schweden verlangte eine Erklärung für den Verstoß gegen den Kaufvertrag. Venezuelas Innenminister bestritt eine Beteiligung der Regierung. Durch die Finanzkrise ab 2007 und den dadurch ausgelösten zeitweise starken Fall der Ölpreise schlitterte Venezuela in eine schwere Rezession, aus der das Land bis Ende 2010 als einzige große lateinamerikanische Volkswirtschaft nicht herauskam. Das chavistische Politik- und Wirtschaftsmodell hat dadurch bei den lateinamerikanischen Ländern deutlich an Vorbildfunktion verloren. Auch fehlten Chávez danach zunehmend die Ressourcen zur Fortführung seiner Scheckbuchdiplomatie. Europa Im Februar 2010 wurde die venezolanische Regierung von einem spanischen Richter der Zusammenarbeit mit der baskischen Separatistenorganisation ETA verdächtigt. Chávez wies die Vorwürfe zurück. Chávez hat die Regierung Lukaschenkos mehr als einmal verteidigt. Der venezolanische Präsident zeichnete Lukaschenko selbst mit dem Orden de Libertador aus, der höchsten Auszeichnung Venezuelas. Die venezolanische Regierung beauftragte 2007 die belarussische Firma Belzarubezhstroi mit dem Bau von 5.000 Wohneinheiten samt der dazugehörigen Infrastruktur in Venezuela. Dafür gab es zunächst eine Abschlagszahlung in Höhe von 90 Millionen Dollar. Venezuela versucht seit einigen Jahren, Erdöl an Belarus zu verkaufen. Wegen der Schwierigkeiten eines Transports von Venezuela nach Belarus handelt es sich vor allem um Swap-Geschäfte, bei denen eine Firma venezolanisches Erdöl an die USA liefert und Belarus Erdöl aus Aserbaidschan bekommt. Chávez hat Lukaschenko versprochen, 200 Jahre Erdöl an Belarus zu liefern. USA Die USA beziehen aktuell rund 15 Prozent ihres Öls aus Venezuela. Chávez hatte wiederholt damit gedroht, dass er im Fall einer Invasion oder Blockade die Öllieferungen an die USA einstellen werde. Einige Beobachter sehen die von Chávez postulierte Bedrohung Venezuelas durch die USA als Instrument der innenpolitischen Meinungsmache. Außerdem hatten Äußerungen wie die durch den rechten Fernsehprediger Pat Robertson, der die Ermordung Chávez’ gefordert hatte, erhebliche diplomatische Verwicklungen zur Folge. Die USA unterstützen die Oppositionsparteien seitdem sowohl materiell als auch organisatorisch, weisen aber weitergehende Unterstellungen deutlich zurück. Allerdings wurden Rüstungslieferungen an Venezuela storniert beziehungsweise unterbunden. Beleidigende Äußerungen mit Bezug auf George W. Bush vor der UNO und die Ausweisung des US-Botschafters 2008 wegen der Media-Luna-Provinzen in Bolivien hatten auf die Öllieferungen keinen Einfluss. Beim Gipfeltreffen der Organisation amerikanischer Staaten im April 2009 ergab sich erstmals ein Treffen von Chávez mit Bushs Nachfolger Barack Obama, bei dem sich beide zu mehreren Anlässen demonstrativ die Hand gaben. Von beiden Seiten wurde betont, dass man eine Verbesserung der Beziehungen anstrebe. Im September 2009 verkündete Chávez hingegen eine Aufrüstung der venezolanischen Streitkräfte in Form von 92 russischen Panzern sowie Raketenabwehrsystemen und Raketenwerfern, das mithilfe eines russischen Darlehens in Höhe von 1,5 Milliarden Euro finanziert wurde. Chávez begründete dies mit der Entscheidung Kolumbiens, US-Truppen Zugang zu sieben Militärbasen zu gewähren. Iran Die Chávez-Regierung knüpfte enge Verbindungen mit dem Iran. Die beiden Länder, die in der Rangliste der Öl exportierenden Länder auf Rang vier und acht standen und beide Mitglied der OPEC sind, hatten nach Aussagen Chávez’ das gemeinsame Ziel, den Preis ihres gemeinsamen, wichtigsten Produktes gegen die Einflussnahme der USA zu schützen, die den Einfluss des Öl-Kartells OPEC untergraben habe. Auch kamen im September 2006 29 Kooperationsabkommen zwischen Venezuela und dem Iran zustande, insbesondere in den Sektoren Wirtschaft und Energie. Chávez äußerte sich 2006 positiv zum umstrittenen iranischen Atomprogramm und betonte das Recht des Irans auf friedliche Nutzung von Kernenergie. Schon im Jahr 2005 hatte sich Venezuela als einziges Land einer Resolution der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA widersetzt, die dem Iran die Verletzung des Abkommens zur Nichtverbreitung von Atomwaffen vorwarf. Die umstrittenen iranischen Präsidentschaftswahlen 2009 bezeichnete Chávez als einen Triumph seines iranischen Amtskollegen Mahmud Ahmadineschad und forderte Respekt für diesen ein. „Ahmadinedschads Triumph war ein Triumph auf ganzer Linie. Sie versuchen, Ahmadinedschads Sieg zu beflecken, und dadurch schwächen sie die Regierung und die Islamische Revolution. Ich bin gewiss, dass sie nicht gewinnen werden.“ Dass sich Chávez vor dem Hintergrund des Streits mit der US-Regierung mehrfach solidarisch mit dem iranischen Präsidenten Ahmadineschad erklärte und ihn lobte, wurde von mehreren Medien wegen Ahmadineschads antisemitischen Äußerungen und seiner Holocaustleugnung kritisiert. Nahostkonflikt Während des Libanonkriegs im Juli 2006 sagte Hugo Chávez bei einem Besuch im Emirat Katar zu den israelischen Militäroperationen im Süden des Libanon: „Israel verübt an den Libanesen dieselben Handlungen, wie sie Hitler an den Juden verübt hat – die Ermordung von Kindern und Hunderten unschuldigen Zivilisten.“ Gleichzeitig verurteilte er auch die Entführung von zwei israelischen Soldaten durch die Hisbollah, die als Auslöser der Offensive galt. Anlässlich des israelischen Militärangriffs 2008/2009 im Gazastreifen („Operation Gegossenes Blei“) verwies Chávez den israelischen Botschafter des Landes. Die Operation bezeichnete er als „Holocaust am palästinensischen Volk“. Auf der anderen Seite bezeichnete er in einer Fernsehansprache im November 2009 den in Frankreich inhaftierten Terroristen Ilich Ramírez Sánchez als revolutionären Kämpfer für die palästinensische Sache. Weitere Staaten Im Zuge seiner „Allianz gegen den US-amerikanischen Imperialismus“ hat Chávez auch Kontakte zu Vietnam, Syrien und bis zum Jahr 2011 auch zu Libyen geknüpft. Al-Gaddafi verlieh Chávez den Internationalen Gaddafi-Preis für Menschenrechte von 2004. Chávez übergab al-Gaddafi wiederum das Libertador-Schwert als Auszeichnung und erklärte, al-Gaddafi sei der Simón Bolívar Afrikas. Der Venezolaner hatte mehrmals seine Unterstützung für den libyschen Präsidenten geäußert. Am 5. März 2009 eröffnete Mohammed Gaddafi, Sohn von Muammar al-Gaddafi, in Bengasi das „Hugo-Chávez-Stadion“. Im März 2011 wurde es von den Aufständischen umbenannt. Nachdem al-Gaddafi im Oktober 2011 getötet worden war, erklärte Chávez, der libysche Diktator sei wie ein Märtyrer gestorben. Chávez verteidigte auch wiederholt die Regierung Syriens. Er erklärte, die Unruhen in Syrien seien von den USA organisiert worden. Im April 2011 erklärte er, Terroristen seien für die Proteste in der syrischen Stadt Darʿā verantwortlich. Symbolfigur Chávez war eine stark polarisierende Persönlichkeit. In Lateinamerika galt er vielen als undogmatischer Modernisierer linker Ideen. Er wurde von seinen Gegnern ebenso heftig abgelehnt, wie von seinen Anhängern gefeiert. Chávez wurde unter anderem in Filmen wie South of the Border als politischer Neuerer dargestellt. Auch international fand sich diese gegensätzliche Wahrnehmung: Michael Lingenthal zum Beispiel, Landesbeauftragter der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Venezuela, betitelte im Mai 2003 einen Bericht „Ein Land am Abgrund – Venezuela im Würgegriff seines Präsidenten“. Der peruanische Schriftsteller und ehemalige Präsidentschaftskandidat eines Mitte-rechts-Bündnisses Mario Vargas Llosa sagte über Chávez, dass er mit einem Strom von Öldollars antidemokratische, populistische und autoritäre Tendenzen in Lateinamerika fördere. Dagegen erfreut sich Chávez’ Politik bei Teilen der westlichen Linken, als Gegenkonzept zum Neoliberalismus verstanden, einiger Unterstützung. Der Twitteraccount des Präsidenten wurde von 200 Mitarbeitern betreut und von Chávez systematisch zur Interaktion mit seinen Anhängern und Landsleuten benutzt. Einen Erklärungsversuch für das Phänomen Chávez unternahm der Politikwissenschaftler und Schriftsteller Raul Zelik: Als Folge der neoliberalen Politik in den 1980er und 1990er Jahren und des Caracazo kam es zu einem massiven Verlust des Vertrauens in die traditionellen christ- bzw. sozialdemokratisch orientierten Staatsparteien, die weitgehend kollabierten. Hiervon konnten aber weder linke Avantgardeparteien noch reformistisch linke Kräfte oder Nichtregierungsorganisationen profitieren. Stattdessen kam es zu einer Vielzahl von singulären, unverbundenen Revolten gegen die herrschende Ordnung: Militärputsche, Gründung von Selbsthilfegruppen und Piratensender in den Armenvierteln. Sie waren aber nicht in eine Partei oder ein Projekt zur gesellschaftlichen Transformation integriert. Diese vielfältigen gesellschaftlichen Risse ermöglichten dann den Wahlsieg von Hugo Chávez 1998. „Weil parteipolitische Vermittlungsinstanzen bis heute von der Bevölkerung nicht ernst genommen werden, besitzt der Präsident als Symbol und Projektionsfläche, aber auch als Stichwortgeber und politischer Führer eine zentrale Funktion. Auf eigenartige Weise verknüpfen sich damit radikaldemokratische und caudillistische Elemente.“ Personenkult Um Hugo Chávez herrschte schon zu Lebzeiten ein regelrechter Personenkult. So wurde Chávez beispielsweise von seinen Anhängern und von den staatlichen Medien in Venezuela oft als comandante presidente bezeichnet. Nach seinem Tod nahm dies fast religiöse Züge an. Zunächst wollte man ihn nach dem Vorbild von Lenin, Mao Tse-tung oder Hồ Chí Minh einbalsamieren und für die Ewigkeit ausstellen, was jedoch aus praktischen Gründen nicht möglich war, da der Leichnam dafür schon zu alt war. Später zeigte der venezolanische Staatssender ViVe ein Video, welches Chávez zeigte, wie er im Himmel ankam und dort unter anderem von Che Guevara, Evita Peron, Simón Bolívar und anderen venezolanischen Volkshelden erwartet wurde. Dem Interimspräsidenten und Wunschnachfolger im Präsidentenamt, Nicolás Maduro, sei er während des Wahlkampfes zu den Präsidentschaftswahlen als kleines Vögelchen erschienen. Seit dem 1. September 2014 ist ein dem Vaterunser angelehntes Gebet an Hugo Chávez von der regierenden Sozialistischen Partei offiziell anerkannt. Es wurde auf einem Parteitag in Caracas offiziell bekannt gemacht. Ideologie Chávez’ ideologische Grundlage sind die Ideen von Simón Bolívar, Simón Rodríguez und Ezequiel Zamora. Zudem war er nach eigenem Bekunden schon in jungen Jahren mit marxistischer Literatur in Kontakt gekommen. Bis zu seinem ersten Bekenntnis zum Marxismus im Dezember 2009 hatte er mehr als ein Jahrzehnt lang über sich ausgesagt, er sei „weder Marxist noch Antimarxist“. Noch im Wahlkampf 1998 hatte er Sympathien für den von Tony Blair und Bill Clinton proklamierten „Dritten Weg“ (siehe auch: Der dritte Weg und Schröder-Blair-Papier) geäußert. Er sei für den Kapitalismus in einer „humanistischen“ Form. Über die kommunistische Ideologie, den „puren Marxismus“, sagte er: „Wir sagen nicht, dass er zu nichts taugt. Aber wir sind davon überzeugt, dass er nicht die Ideologie ist, über die die venezolanische Zukunft gelenkt werden kann.“ Ebenfalls 1998 sagte er in einem Fernseh-Interview kurz vor dem Wahltermin, dass Kuba eine Diktatur sei und behauptete, er würde "weder Wirtschaftsbetriebe noch Medienunternehmen" verstaatlichen. Erst im Mai 2004 proklamierte er den „antiimperialistischen Charakter der Revolution“ und im Januar 2005 beim Weltsozialforum in Porto Alegre rief er dazu auf, über den Sozialismus zu diskutieren, „einen neuen Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Im Dezember 2007 erklärte Chávez, er sei Trotzkist. Während eines Besuchs in China im folgenden Jahr sagte er, er sei Maoist. Seit Dezember 2009 bezeichnete sich Chávez jedoch als Marxist und bekräftigte diese Positionierung 2010 vor der Nationalversammlung. Hugo Chávez war ein großer Bewunderer der kubanischen Revolution und bereit, die Insel „seines Vorbildes Fidel Castro zu einem nicht geringen Teil zu finanzieren“. Venezuela geriet auch durch diese großen Hilfen an Kuba seinerseits in die Krise. Über die demokratische Legitimation von Chávez’ Amtszeit wird bis heute kontrovers diskutiert. Vorwurf des Nepotismus Die Opposition beklagte oft, unter Chávez herrsche Nepotismus. Chávez’ Vater war von 1998 bis 2004 Gouverneur des Bundesstaates Barinas. Seit 2008 ist sein ältester Bruder Adán Chávez dort Gouverneur. Der Bruder Argenis ist seit 2011 Vizeminister für Entwicklung im Ministerium für Elektrizität. Der Bruder Aníbal José ist Bürgermeister der Gemeinde Alberto Arvelo Torrealba. Jorge Arriaza, Minister der Volksmacht für Wissenschaft, Technologie und Innovation, ist Chávez’ Schwiegersohn. Als seine kleinste Tochter Rosa Inés im Jahr 2006 sagte, dass das Pferd im Staatswappen Venezuelas nach links und nicht nach rechts rennen sollte, gab Chávez ihr recht, und kurz danach stimmte die von seiner Partei dominierte Nationalversammlung der Änderung zu. Ehrungen Chávez wurden mehrere Ehrendoktorwürden verliehen, unter anderem von der Peking-Universität, der Universidade Federal do Rio de Janeiro, der Universidad Autónoma de Santo Domingo und der südkoreanischen Kyung-Hee-Universität. Daneben war er einer der vier Preisträger des Internationalen José-Martí-Preises der UNESCO, den er 2005 für seine Tätigkeit als „einer der aktivsten Unterstützer der regionalen Integration der lateinamerikanischen Länder“ erhielt. Des Weiteren erhielt er 2004 den Internationalen Gaddafi-Preis für Menschenrechte aus den Händen des ehemaligen algerischen Staatschefs Ben Bella für „seinen Kampf für die Armen und seinen Feldzug gegen Hunger und Elend“ sowie den ausschließlich Staatsoberhäuptern vorbehaltenen höchsten Verdienstorden Irans „für seinen Beitrag zur Verbesserung der bilateralen Beziehungen“ und „seine Bemühungen um einen gerechten Frieden, seine kompromisslose Haltung gegen ein herrschendes System und die Unterstützung aller Anstrengungen um die Freiheit und Unabhängigkeit der venezolanischen Nation“. 2011 wurde er mit dem Rodolfo-Walsh-Preis der Fakultät für Journalismus der Universität La Plata (Argentinien) ausgezeichnet. Die Auszeichnung wird an Persönlichkeiten verliehen, die im nationalen und lateinamerikanischen Rahmen „zur Kommunikation des Volkes, zur Demokratie und zur Freiheit der Völker beitragen“. Oppositionelle Gruppen und Medienorganisationen in Venezuela und in Argentinien kritisierten die Verleihung des Preises an Hugo Chávez scharf. Es könne nicht sein, dass jemand, der in seinem Land oppositionelle Radio- und Fernsehsender schließen lässt, einen Preis erhält, der nach einem Journalisten benannt ist, der Opfer der argentinischen Militärdiktatur wurde. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) hat 2014 ihr neues Programm zur Bekämpfung des Hungers nach Hugo Chávez benannt. In mehreren Ländern wurde Hugo Chavez auf vielfältige Weise geehrt. Die Stadt Al-Bireh im Westjordanland benannte im Juni 2013 eine Straße nach ihm. Auch in Moskau wurde eine nach Hugo Chavez benannte Straße am 2. Juli 2013 eingeweiht. In der belarussischen Hauptstadt Minsk wurde am 18. Oktober 2014 ein Hugo-Chavez-Park eröffnet. Seit 2017 wird in Venezuela der Hugo-Chavez-Friedenspreis verliehen. Erster Preisträger war Wladimir Putin für seine Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die kommunistische Partei Chinas würdigte ihn als Alten Freund des chinesischen Volkes. Literatur Bücher Dario Azzellini: Venezuela Bolivariana. Revolution des 21. Jahrhunderts? Neuer ISP Verlag, 2006, ISBN 3-89900-120-6. Dario Azzellini: Partizipation, Arbeiterkontrolle und die Commune. VSA, Hamburg 2010, ISBN 978-3-89965-422-6. Andreas Boeckh, Patricia Graf: El comandante en su laberinto: el ideario bolivariano de Chávez. In: Günther Maihold (Hrsg.): Venezuela en retrospectiva. Los pasos hacia el régimen chavista. Vervuert, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-86527-356-7, S. 151–178. Hugo Chávez, David Deutschmann, Javier Salado (Hrsg.): Chávez: Venezuela and the New Latin America. 2004, ISBN 1-920888-00-4. Rory Carroll: Comandante: Hugo Chávez’s Venezuela. Penguin Books, 2014, ISBN 978-0-14-312488-7. Javier Corrales, Michael Penfold: Dragon In The Tropics: Hugo Chávez And The Political Economy Of Revolution In Venezuela. Brookings Institution Press, 2011. Richard Gott: In The Shadow of The Liberator: Hugo Chávez and the Transformation of Venezuela. London 2000, ISBN 1-85984-775-7. Karin Priester: Hugo Chávez, Führer, Armee, Volk – Linker Populismus an der Macht, in Rechter und linker Populismus: Annäherung an ein Chamäleon. Campus, Frankfurt am Main 2012. Christoph Twickel: Hugo Chávez. Eine Biografie. Hamburg 2006, ISBN 3-89401-493-8. Friedrich Welsch: Hugo Chávez Frías. In: Nikolaus Werz (Hrsg.): Populisten, Revolutionäre, Staatsmänner. Politiker in Lateinamerika. Frankfurt am Main 2010, S. 546–570. Michael Zeuske: Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas. Rotpunktverlag, Zürich 2008, ISBN 978-3-85869-313-6. Belletristik Alberto Barrera Tyszka: Die letzten Tage des Comandante: Roman. Übersetzung aus dem Spanischen Matthias Strobel. Nagel & Kimche, München 2017. Zeitungsartikel Die vielen Gesichter des Hugo Chávez. Schwerpunkt- und Titelthema der Lateinamerika Nachrichten, Heft 318, Dezember 2000 Arturo Uslar Pietri: Venezuela für Chávez und gegen Korruption. In: Le Monde diplomatique, 11. Dezember 1998 (online) Pablo Aiquel: Was meint Hugo Chávez mit Bolivarismus? In: Le Monde diplomatique, 10. November 2000 (online) Maurice Lemoine: Der Herbst des Populisten Hugo Chávez. In: Le Monde diplomatique, 17. Mai 2002 (online) Filmdokumente Oliver Stone: South of the border – Dokumentarfilm von Oliver Stone (2009), besteht hauptsächlich aus Interviews mit den Staatsoberhäuptern mehrerer südamerikanischer Länder, so z. B. mit Hugo Chávez, Evo Morales und Cristina Fernández de Kirchner Kim Bartley, Donnacha O’Briain: Chávez – Ein Staatsstreich von innen (). (Der vielprämierte Film entstand während des Putsches gegen Chávez im Präsidentenpalast.) Online The Hugo Chávez Show – Frontline-Dokumentation (PBS) über Hugo Chávez (Video, englisch, 84 Min.) Wolfgang Schalk, Thaelman Urgelles: X-ray of a Lie Weblinks Literatur über Hugo Chavez im Katalog der Bibliothek des GIGA German Institute of Global and Area Studies – Lebenslauf im venezolanischen Regierungsportal (spanisch) Günther Maihold: Außenpolitik als Provokation – Rhetorik und Realität in der Außenpolitik Venezuelas unter Hugo Chávez (PDF; 320 kB). Stiftung Wissenschaft und Politik, Juli 2008 Anja Dargatz: Wohin steuert Venezuela? Zur Politik des Präsidenten Hugo Chávez (PDF; 215 kB). Friedrich-Ebert-Stiftung, Oktober 2005 Dario Azzellini: Steter Tropfen höhlt den Stein. In Telepolis, 12. November 2003 Audi Zeitblende - 20 Jahre Venezuela mit Hugo Chavez In: Zeitblende von Schweizer Radio und Fernsehen vom 4. Februar 2012 (Audi) Einzelnachweise Präsident (Venezuela) Politiker (20. Jahrhundert) Politiker (21. Jahrhundert) Putschist Mitglied des Partido Socialista Unido de Venezuela Militärperson (Venezuela) Fallschirmjäger Träger des José-Martí-Ordens Träger des Ordens des Infanten Dom Henrique (Collane) Ehrendoktor einer Universität in China Ehrendoktor einer Universität in Brasilien Ehrendoktor einer Universität in der Dominikanischen Republik Ehrendoktor einer Universität in Südkorea Venezolaner Geboren 1954 Gestorben 2013 Mann
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Hallein
Hallein [] ist eine österreichische Stadt mit Einwohnern (Stand ) im Tennengau im Bundesland Salzburg. Sie ist die Bezirkshauptstadt des Tennengaues und die zweitgrößte Stadt im Bundesland Salzburg. Hallein wird als Salinenstadt, Keltenstadt, Industriestadt, Schulstadt und als Kulturstadt bezeichnet. Das Salzbergwerk Hallein ist eines der ältesten Bergwerke der Welt, das 1986 von der Republik Österreich als Eigentümerin der staatlichen Salinen AG geschlossen wurde und der Abbau eingestellt wurde. Für Hallein, am Fuße des Dürrnberges, des Halleiner Salzbergs gelegen, war schon immer das Salz von größter Bedeutung. Die Besiedelung Halleins und vor allem des Dürrnberges durch die Kelten ist damit begründet. Besonderheiten eines der ältesten Bergwerke der Welt – Salzbergwerk Hallein seit 1986 geschlossen, heute ein touristisches Schaubergwerk eines der bedeutendsten Keltenmuseen Europas – Keltenmuseum Hallein eine Insel, die Pernerinsel in der Salzach über Jahrhunderte die größte Holztriftanlage Europas für die Saline und später die Zellulosefabrik einst Europas größtes Strandbad älteste Brauerei des Landes Salzburg – Hofbräu Kaltenhausen erste berufsbildende Schule Österreichs (der k. u. k. Monarchie) – Bildhauerschule Hallein Zementofen Gamp, eines der ältesten Zementwerke Europas letzte erhaltene Sudpfanne Europas Stille Nacht Museum und Grab von Franz Xaver Gruber, dem Komponisten des berühmtesten Weihnachtsliedes der Welt – Stille Nacht, heilige Nacht. Geografie Hallein liegt an der Salzach im Halleiner Becken, circa 15 Kilometer südlich der Landeshauptstadt Salzburg. Die Salzach durchfließt das Stadtgebiet von Süden nach Norden, rechtsseitige Zuflüsse sind im Süden die Taugl, im Bereich der Altstadt der Almbach, linksseitige Zuflüsse sind im Bereich der Altstadt der Kotbach und im Norden die Königsseeache. Im Westen befindet sich das Göllmassiv der Berchtesgadener Alpen, im Osten der Adneter Riedl, ein Vorberg des Schlenkens der Osterhorngruppe, im Süden das Tennengebirge, aus dem durch den Pass Lueg die Salzach Hallein zufließt. Gemeindegliederung Katastralgemeinden sind Adnet II, Au, Burgfried, Dürnberg, Gamp, Gries, Hallein, Oberalm II und Taxach. Das Gemeindegebiet umfasst folgende neun Stadtteile (in Klammern Einwohnerzahl Stand ): Adneter Riedl () Au () Bad Dürrnberg () Burgfried () Gamp () Gries () Hallein () Neualm () Taxach () Nachbargemeinden Klima Die Region um Hallein ist gekennzeichnet durch ein subalpines Klima mit kurzem, eher kühlem Sommer und langem, kaltem Winter. Niederschläge sind durch häufige Nord- und Nordweststaulagen bei Westwetter begünstigt. Die Niederschläge sind über das Jahr gleichmäßig verteilt und die Jahresniederschlagsmenge liegt bei circa 1500 Millimeter. Neben vorherrschendem West- und Nordwind kommt es im Fall von Süd- und Südostwind zu Föhn. Geschichte Namensherkunft Der Ort ist erstmals 1198 urkundlich nachweisbar, der Salzabbau bereits 1191. Die Stadterhebung erfolgte zwischen 1218 und 1232. Im Jahre 1198 wurde erstmals eine Salzpfanne in „muelpach“, einem Ort im Bereich der aufgegebenen keltischen Talsiedlung urkundlich erwähnt. Der Ortsname der auf einen Mühlbach hinweist ist bis 1246 belegt. Diese Bezeichnung wird im Laufe des 13. Jahrhunderts durch die Namen Salina und schließlich Hallein (= kleine Sudpfanne) abgelöst. Die Stadtteile Gamp (von „campus“ für Feld) und Rif („ripa“, Ufer) sind römische Bezeichnungen. Der Name Hallein ist seit der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts belegt, ein typischer Hall-Name der Salzgewinnung: Bekannt ist Hallein vor allem durch die historische Salzgewinnung (siehe Salinenvertrag) und die historischen Funde aus der Zeit der Kelten. Im Unterschied zu anderen Hall-Orten ist die Siedlungskontinuität der Kelten- über Römerzeit bis hin zur bajuwarischen Landnahme nachgewiesen. Geschichte des Salzbergbaus in Hallein Jungsteinzeit und Bronzezeit Aufgrund besonderer geologischer Verhältnisse im sog. Haselgebirge, reicht auf dem Dürrnberg bei Hallein das salzhaltige Gestein teilweise bis an die Oberfläche empor. Vereinzelt treten salzhaltige Quellen zutage, die schon von steinzeitlichen Jägern um 2500 bis 2000 v. Chr. genutzt wurden. Kelten Die Ambisonten, ein keltischer Stamm im Königreich Noricum besiedelten die Westseite des Salzachtals, den Georgsberg und den Bereich des jetzigen Kirchenbezirks, den Schotterkegel des Kothbaches. Vor allem aber siedelten sie in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Salzvorkommen auf den Hochebenen des heutigen Dürrnbergs. Um 600 v. Chr. begann der Abbau von Kernsalz im Untertagebau. Der Salzhandel verschaffte den Kelten einen heute noch in überaus reichen Grabausstattungen nachweisbaren beachtlichen Wohlstand. Er machte den Dürrnberg zusammen mit der am linken Salzachufer situierten Talsiedlung in prähistorischer Zeit zu einem wirtschaftspolitischen Zentrum ersten Ranges. In der Kombination Salzbergwerk, Siedlungsareale und Gräbergruppen bietet der Dürrnberg ein einzigartiges archäologisches Ensemble zur Erforschung der Eisenzeit in Mitteleuropa. Der Fundort wird der Latène-Kultur zugerechnet. Die Ergebnisse der archäologischen Aufarbeitung der Ausgrabungen am Halleiner Salzberg sind in den mittelalterlichen Gemäuer des Keltenmuseums der Stadt Hallein ausgestellt. Römerzeit Mit der Einverleibung des keltischen Königreiches Norikum um 15 v. Chr. in das römische Weltreich wurde die Salzgewinnung auf dem Dürrnberg vermutlich als Folge der Einfuhr von Meersalz eingestellt. Mittelalter Die Grundherrschaft in der Gegend der späteren Stadt Hallein wurde von Herzog Tassilo III. um die Mitte des 8. Jahrhunderts an die Kirche von Salzburg geschenkt und befand sich seit 987 im Besitz des Klosters St. Peter. In einer Fluss-Schlinge der Salzach hatte es vom 7. Jahrhundert vor Christus bis ins 5. Jahrhundert nach Christus Besiedlung gegeben. Die Entstehung des mittelalterlichen Ortes Hallein stellt einen Neuansatz dar. Eine Siedlungskontinuität gab es nur in den Orten Rif und Gamp. Die Sudpfanne zu Gamp wurde über eine Soleleitung vom Salzbergwerk Dürrnberg herunter mit Sole versorgt. Somit war das Dorf Gamp der Ausgangspunkt für die Besiedelung, die später zur Stadt Hallein wurde. 1198 wurde erstmals eine Salzpfanne in „muelpach“, einem Ort im Bereich der aufgegebenen keltischen Talsiedlung urkundlich erwähnt. Im Laufe des 13. Jahrhunderts durch die auf Salz bezogenen Namen Salina und schließlich Hallein (= kleine Sudpfanne) abgelöst. Im Spätmittelalter wurde in Hallein die Sole in neun, um 1600 nur noch in sieben, dafür leistungsstärkeren Pfannhäusern versotten, der das breiige Salz konnte dann in Salzkufen gefüllt werden. Barockzeit Durch Einlösung oder den Rückkauf von Salzrechten wurde die Salzproduktion nach rund 1.000 Jahren Stillstand mit einem Sinkwerk, dem Verfahren des Nassabbaus im Salzbergwerk, von den Salzburger Erzbischöfen wieder aufgenommen. Ihre gezielte Wirtschafts- und Preispolitik sicherte dem Dürrnberg und der Salinenstadt Hallein alsbald eine Vormachtstellung im gesamten Ostalpenraum, Hallein mit seinen zahlreichen Sudhäusern war im 16. Jahrhundert die leistungsfähigste Saline. Aus dem Salzhandel, der vorwiegend über den Transportweg Salzach erfolgte, erwirtschafteten die Erzbischöfe über Jahrhunderte mehr als die Hälfte ihrer gesamten Einkünfte, die auch die Grundlage für den Reichtum und die Schönheit der Residenzstadt Salzburg bildeten. Von diesem Salzertrag verspürten aber die Bergknappen und Salinenarbeiter ebenso wenig wie die Stadt Hallein insgesamt. Mit dem Verlust der Absatzmärkte in den böhmischen Landen an das habsburgische Österreich und einem verlorenen Salzkrieg gegen Bayern kam es zu starken wirtschaftlichen Einbußen und folglich zur Verarmung der Bergknappen und Salinenarbeiter. Mann im Salz 1573 wurde im Bergwerk ein „seltsamer Fund“ gemacht, der Körper eines im Salz eingeschlossenen Mannes kam zum Vorschein. Er war unverwest, aber „am Fleisch ganz geselcht und hart und gelb wie ein Stockfisch“. Ludwig Ganghofer verfasste zu diesem Fund seinen Roman „Der Mann im Salz“. Protestantenvertreibung Im Verlauf der Protestantenausweisungen in den Jahren 1731/32 verließen auch 780 Dürrnberger Bergknappen mit ihren Familien das Land. Ab dem 19. Jahrhundert Das Erzbistum Salzburg verlor während der Napoleonischen Kriege im frühen 19. Jahrhundert seine Eigenständigkeit an mehrere Landesherren und wurde schließlich 1816 endgültig dem Habsburgerreich zugesprochen. Als damals der Großteil des Landes Salzburg durch den Vertrag von München zu Österreich kam, wurde Hallein zudem zum Grenzort. Im Verbund mit dem österreichischen Salinenwesen war die Saline Hallein fortan von untergeordneter Bedeutung. Eine Rationalisierung wurde 1854/62 mit dem Bau einer leistungsfähigen Salinenanlage auf der Pernerinsel mit Sudpfannen zur Sudsalzproduktion eingeleitet. Ab 1870 produzierte die Saline vermehrt Industriesalz. So erreichte die die Salinenproduktion um 1889 mit ca. 14.000 Tonnen Salz einen Produktionshöhepunkt vor dem Ersten Weltkrieg (1914).Erst nach dem Zweiten Weltkrieg (1945) stieg durch die Nachfrage nach Industriesalz durch die chemische Industrie (Chlorchemie) die Salzproduktion weiter an. 1954/55 erhielt der Salinenstandort Hallein mit der Errichtung einer Thermokompressionsanlage die letzte große Investition in eine Anlage. Im Jahr 1971 erreichte die Produktion von Industriesalz mit 71.000 Tonnen seinen Höchstwert. Am 31. Juli 1989 erlosch mit der Schließung durch die Republik Österreich als Eigentümerin der Salinen AG und der Einstellung der Solegewinnung im Bergbau auf dem Dürrnberg eine über 2.500 Jahre alte Wirtschaftstradition. Kunst und Kultur erfüllen nun die zurückgelassenen Industriestätten mit Leben. Besonders die aufgelassene Saline mit Sudhaus, Werkstätten und Verwaltungsgebäuden auf der Pernerinsel als Standort für außergewöhnliche Produktionen der Salzburger Festspiele hat sich als Faktor für Wirtschaft, Tourismus und Kultur etabliert. 1869 wurde die k.k. Tabak- und Zigarrenfabrik Hallein errichtet und bestand bis 1940. 1890 – die Holztrift funktionierte noch – wurde die Zellulose- und Papierfabrik in Betrieb genommen. Die Papierproduktion endete 2009, heute läuft die Produktion von hochreiner Zellulose etwa für Viskosefasern. Die Bio-Raffinerie erzeugt aus Holz Chemierohstoffe, Heizgas, Ethanol, Fernwärme für Hallein und Strom. Burg Hallein Die Veste Sulzeneck kann als die Burg von Hallein bezeichnet werden. Die Inneren Grenzbefestigungen im Mittelalter waren die Vesten Schoßrisen (Thürndl), Sulzeneck (Reckturm, Fuchsturm) und die Hallburg (Georgsberg 1262). Die Bauwerke befanden sich im Bereich des Riesengutes unmittelbar über der Stadt, westlich des ehemaligen „Eisinger’s Gasthaus zur Gemse“. Der Reckturm, im 14. Jahrhundert als Bürgerturm bezeichnet, und der Fuchsturm, als „großes Eisentor“ bezeichnet, waren Teil der mittelalterlichen Befestigungsanlage, die am Anfang des 19. Jahrhunderts dem Verfall preisgegeben wurde. Der Reckturm (bzw. Röckturm) wurde wieder errichtet und ist von der Stadt aus zu sehen. Salzachschifffahrt Aus Urkunden über die Mautrechnung geht hervor, dass im Jahr 1515 21 Tonnen Salz, das entsprach 2/3 der Salzproduktion, mit Schiffen auf der Salzach hinunter nach Laufen transportiert wurden. Laufen an der Salzach und Oberndorf bei Salzburgbildeten die Schlüsselstelle für die Salzachschiffahrt, hier wurden die Salzfässer umgeladen und die Schiffe mit Getreide aus Bayern und Böhmen und mit Wein für Hallein beladen. Erst ab 1450 erfolgte der Rücktransport der Lastkähne mit Pferden auf Treppelwegen. Davor zogen Menschen die Schiffe und Nachen die 40 km flussaufwärts nach Hallein. Über 2200 Schiffe verließen im Jahr 1590 die Stadt Hallein, beladen mit Salzfässern, den sogenannten Kufen. Auf einem der 72 Ölgemälden in den Fürstenzimmern des Pflegegebäudes, dem heutigen Keltenmuseum Hallein, ist das Beladen der Schiffe dargestellt, es ist beschriftet mit dem Titel: „Saltz Antragen an die schiff“. In drei Werften, der langgestreckte „Schopperstadel“ existierte noch bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts, wurden jährlich bis zu 350 größere und kleinere Schiffe gebaut. Holztriftanlage – Grießrechen Der Grießrechen war über Jahrhunderte die größte Holztriftanlage Europas. In der Salzach wurde aus den Hochwäldern der Gebirgsgaue Gruben-, Brenn- und Nutzholz für den Bergwerksbetrieb und die Befeuerung der Sudpfannen getriftet. Die Geschichte dieser Anlage ist gleichsam eine Geschichte des Wasserbaus. 1207 ist der Rechen erstmals urkundlich erwähnt, auf die „Entfremdung“ des Salinenholzes wird Strafe gesetzt. 1276 wird das „Edtwerk“ als „canales“ erstmals erwähnt. Um 1500 wurden durchgreifende Regulierungsbauten errichtet, das neue große Wehr über die ganze Strombreite war ein technisches Wunder seiner Zeit. Die Holzbringung erfolgte durch die sogenannte Klaustechnik, Baumstämme aus den Seitentälern der Salzach bis hinein in den Oberpinzgau, meist Fichten oder Tannen, wurden in maximal 120 cm lange Teile abgelängt und in den Bergtälern in die Bäche gezogen. In Klausen staute man das Wasser auf und beim Öffnen wurden die Holzsegmente mit dem Wasserschwall in die Salzach mitgerissen. Beim Grießrechen in Hallein konnten auf 23 sogenannte „Läder“ die kurzen Stämme an Land gezogen, gekloben und als Scheiter zum Trocknen aufgeschlichtet werden. Fuhrwerke brachten das trockene Holz zu den Pfannhäusern. 1590 benötigte man für die ca. 36 Tonnen Salz, die in diesem Jahr erzeugt wurden, Holz, das einem Stapel von 1,8 m Höhe, 1,2 m Breite und einer Länge von 100 Kilometern entsprochen hätte. Nach drei Jahrhunderten, 1861, zerstörte ein Hochwasser diese Anlage. Zwar wurde der Rechen mit einem neuen Schleusenhaus, dieses hatte 14 bewegliche Tore, wieder aufgebaut, doch durch die Errichtung der Salzburg-Tiroler-Bahn (früher Erzherzogin-Giselabahn) verlor die Holztrift auf der Salzach an Bedeutung. Auch die Sudpfannen wurden durch den neuen Transportweg auf den Brennstoff Kohle umgestellt. Die Holztrift war bedeutsam für die Errichtung der Zellulose und Papierfabrik Hallein im Jahr 1890 durch die Fa. Kellner und Partington. Die Papierfabrik wurde 2009 geschlossen. Von AustroCel wird Zellstoff, Viskosefaser, Brenngas, Ethanol sowie Strom und Fernwärme aus Holz erzeugt. Der Niedergang des Rechens wurde 1920 durch ein weiteres großes Hochwasser besiegelt, das Wehr wurde zur Gänze weggerissen und mit ihm sämtliche Holzbrücken abwärts bis zur Stadt Salzburg. Zwischenkriegszeit – Flussregulierung Mit dem Verschwinden der Salzachwehr oberhalb der Stadt Hallein wurde eine dauerhafte Flussregulierung unumgänglich. Unter Bürgermeister Anton Neumayr wurde die Regulierung der Salzach 1930 abgeschlossen. Kernstück der Salzachregulierung bildete die Dachwehranlage der Zellulose- und Papierfabrik „The Kellner Partington“. Flussabwärts sicherte ein 6 Meter breiter Uferwall die Stadt Hallein, die dem Fluss abgerungenen Flächen der ehemaligen Rechenanlage wurden als Bebauungsflächen zur Stadterweiterung genutzt, dabei mussten Erdbewegungen in der Größe von 200.000 Raummetern durchgeführt werden. Europas größtes Strandbad Auf Höhe der neuen Wehranlage errichtete die Stadt ein großzügiges Strandbad, der alte Sigmundkanal der Holztriftanlage wurde zum größten „Binnenbecken Europas“ ausgebaut. Hauptattraktion des Halleiner Strandbades war der Toboggan, von einem Holzturm konnte man mit einem Schlitten hinunter ins Wasser des großen Strandbadbassins gleiten. Ein Gasthaus, Liegewiesen, der Eichenhain und ein „Sandstrand“ machten das Strandbad zu einem überregionalen touristischen Anziehungspunkt. Jüdische Geschichte der Stadt Hallein wuchs auf Grund seines Salzbergwerkes beginnend in der vorrömischen Zeit zu einem bedeutenden und wichtigen Handelszentrum heran, das erst im Mittelalter als solches von der Stadt Salzburg langsam abgelöst wurde. Die in Hallein lebende Jüdische Gemeinde war bis zu ihrer ersten Auslöschung im Jahr 1349 größer und bedeutender als jene in Salzburg. Als Erzbischof Pilgrim in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wiederum jüdische Händler ermunterte, sich im Erzbistum niederzulassen, kam es zur Wiedergründung einer Jüdischen Gemeinde, deren Mitglieder (auch Frauen und Kinder) allerdings bereits im Jahr 1404 – ebenso wie jene in Salzburg – auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Dieser Verbrennung ging ein Einbruchsdiebstahl in der Müllner Kirche voran, der fälschlicherweise Juden angelastet wurde. Danach kam es im 15. Jahrhundert nochmals zur Gründung einer jüdischen Gemeinde in der Salinenstadt, die jedoch mit der Ausweisung der mittlerweile sehr wenigen Juden aus dem Erzbistum Salzburg durch Erzbischof Leonhard von Keutschach im Jahr 1498 ihr Ende fand. Rüstung und KZ in der NS-Zeit Die Eugen Grill Werke in Hallein wurden der größte Rüstungsbetrieb im Land. Unter den Decknamen „Kiesel“ wurden Teile des Werks zum Schutz vor Fliegerangriffen in der Nähe unter Tage verlagert. Ende Februar 1945 lief dort die Produktion an, noch Mitte März wurde die unterirdische Fabrik offiziell eröffnet. Nachfolger wurden 1948 die Halleiner Motorenwerke, Produktionsgegenstand waren dann zunächst Mopeds. 1943 errichtete die SS ein Barackenlager als Konzentrationslager für 1.500 bis 2.000 Menschen. Es war formal Außenlager des KZ Dachau. Die dorthin Deportierten waren zumeist politische Gefangene und mussten in einem Steinbruch/Stollen in der Nähe von Hallein Zwangsarbeit verrichten, wodurch viele der Gefangenen an Folgen der körperlich schweren Arbeit und ihrer darauf zielenden Mangelernährung oder bei Erschießungen ums Leben kamen (in der NS-Ideologie: Vernichtung durch Arbeit). Der Widerstandskämpferin Agnes Primocic (1905–2007) gelang es gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, als die amerikanische Armee bereits kurz vor Salzburg stand, 17 KZ-Häftlinge vor der bereits angeordneten Erschießung zu bewahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt Hallein Teil der amerikanischen Besatzungszone im besetzten Nachkriegsösterreich. In Hallein-Puch richtete die amerikanische Militärverwaltung ein Auffanglager für Displaced Persons, wie Flüchtlinge und Überlebende des Holocausts in der Nachkriegszeit genannt wurden, ein. Das Halleiner DP-Lager bekam von den vorwiegend jüdischen Lagerinsassen den Namen Beth Israel (auch: Bejt Israel, Bejß Jissroel) und blieb bis Mitte der 1950er Jahre bestehen. Von 1950 bis 1954 bestand der Fußballklub Hakoah Hallein, dessen Mannschaft sich ausschließlich aus jüdischen Spielern des Lagers Beth Israel zusammensetzte. Trainiert wurde die Mannschaft von Heinrich Schönfeld, einem ehemaligen Erstligakicker von Hakoah Wien, der 1926 in die Vereinigten Staaten auswanderte und nach dem Krieg für wenige Jahre wieder nach Österreich zurückkehrte. Im Halleiner Gemeinderat warf Gerhard Cirlea im Jahr 2001, als damaliger Abgeordneter der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), mit seiner Aussage „in Hallein hat es kein Konzentrationslager gegeben“ der Ehrenbürgerin Agnes Primocic Geschichtsfälschung vor. Im spitzfindig engen Wortsinn hatte er damit insofern Recht, als es sich in Hallein um ein Außenlager des Konzentrationslagers Dachau handelte. Geläufig ist jedoch die kurze Bezeichnung als KZ-Außenlager Hallein. Brauereiwesen Im Jahre 1475 wurde nahe Hallein vom Salzburger Bürgermeister und Stadtrichter Hans Elsenheimer (auch: Johann Elsenhaimer) das sogenannte Kalte Bräuhaus errichtet, das nach dessen Tod 1498 in den Besitz der fürsterzbischöflichen Hofkammer überging. Etwa 300 Jahre später erwarb die bayerische Kurfürstin und österreichische Erzherzogin Maria Leopoldine von Österreich-Este (1776–1848) die Brauerei in Kaltenhausen. Sie hatte einen angeborenen Geschäftssinn und wirtschaftliches Feingefühl und konzentrierte sich im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit unter anderem auf die Modernisierung der Brauereien, die sich als rentable Investitionen erwiesen. So wurde die Brauerei Kaltenhausen in einen Brauerei-Großbetrieb umgewandelt. Im Jahre 1898 wurde die Deutsche Bank Besitzer des prosperierenden Brauhauses, 1901 entstand auf Betreiben der Bank die „Aktiengesellschaft Brauerei Kaltenhausen“. 1921 gehörte das Hofbräu Kaltenhausen zu den Gründungsbetrieben der ehem. Österreichischen Brau AG, aus der nach 1945 die Brau Union Österreich AG entstand. Heute gehört Kaltenhausen zur niederländischen Heinekengruppe. 2011 wurde der großtechnische Brauereibetrieb eingestellt. In der Stadt Hallein existierten 10 Brauhäuser, als letzte Kleinbrauerei stellte 1920 der Stampflbräu am Pfannhauserplatz die Biererzeugung ein. Handwerkskunst Einige Handwerkszweige haben überregionale Bedeutung erlangt. Hafner Innerhalb des Erzstiftes der Residenzstadt Salzburg hatte Hallein eine besondere Stellung. Der Halleiner Zunft unterstanden die Hafner aus Radstadt, Mauterndorf, Tamsweg, Grödig und Maxglan sowie Berchtesgaden. Bereits im Mittelalter ist eine große Bedeutung der Hafnerzunft in Hallein nachweisbar, 1501 ist Hafnermeister Gruber dokumentiert. Ob der Prunkofen auf der Festung Hohensalzburg aus Hallein stammt wird vermutet, ist aber nicht nachweisbar. Mitte des 17. Jahrhunderts waren alle Hafner in Laufen, Tittmoning, Waging, Teisendorf, Radstadt, Mauterndorf, St. Johann, Taxenbach und Straßwalchen der Zunft Hallein angegliedert. Geigenbauer Hallein war über einen längeren Zeitraum Zentrum des Geigenbaus in Salzburg. Zu einem Höhepunkt gelangte 1673 Marzell Pichler auch Clemens Wöginger ist zu erwähnen. Im 18. Jahrhundert folgten auf den Geigenbauer Johann Strobl die Brüder Bernhard, Michael und Antoni Wasslberger, wobei Antoni Geigen mit gewölbtem Boden schuf. Baumwollwarenstickerei, Zinnguss und Silberfiligranarbeiten Hausindustien und industrieähnliche Gewerbezweige sind im 17. und 18. Jahrhundert beurkundet. Die Halleiner "Blaustrümpfe" der Baumwollwarenstickerei lieferte die beliebten Waren nach München, Leipzig, Nürnberg und Frankfurt. Auch entferntere Gebiete wie Preußen, Holland, Polen, Russland und die gesamte Levante wurde beliefert. 1582 arbeitete Thomas Handschüch als Zinngießer in Hallein. Peter Geißler ist erst 1787 als Meister in Hallein erwähnt, 1806 erhielt der Mailänder Carl Anton Peretti die Gerechtsame und über zwei Jahrhunderte, bis ins 20. Jahrhundert, schien der Name dieser Zinngießerfamilie in der Stadt auf. Als Punze wurde anfänglich das Motiv des Halleiner Salzträgers verwendet, später waren es steigende Löwen oder die Namen der Perettis. 1826 gründete Jakob Reitsamer aus dem Schmuckzentrum Schwäbisch Gmünd in Hallein eine Werkstatt für Gürtler-, Gold- und Silberarbeiten. Das Reitsamer-Haus war am Molnarplatz, dort entstand vor allem der "Röserlschmuck", eine Silber-Filigranarbeit. In dieser Schmuckwerkstätte wurden Kropfketten, Schwartennadeln, Haar- und Haubennadeln sowie Filigran-Knöpfe, Miederhaken und Broschen hergestellt. Jakob Reitsamer ist es zu danken, dass im Jahre 1840 der bedeutende Fund aus der späten Bronzezeit, der "Helm von Pass Lueg" als Schenkung an das Salzburg Museum ging. Holzwarenerzeugung Ein wichtiger Nebenerwerb für die Salinenarbeiter und Schiffsleute war die Erzeugung von Holzwaren aus Ahorn, Fichte und Linde. Schon seit dem 17. Jahrhundert mussten Verordnungen zum Schutz der umliegenden Wälder erlassen werden, weil der Materialbedarf überhand nahm. Hergestellt wurden Spanschachteln, Besen und Holzspielzeug. Wandernde Hausierer und Schnitzwarenhersteller brachten ihre Waren bis nach München und Nürnberg. Schon früh übernahmen Verlegerfirmen den Vertrieb der Waren, Franz Oedl steht als Synonym für den Begriff "Halleiner Spielzeug". Durch den Zusammenschluss mit der ältesten Spielwarenfabrik in Wien, mit Johann Haller, entstand am Beginn des 19. Jahrhunderts die "kaiserl. königl. privilegierte Holzwarenfabrik in Wien und Hallein". Über Salzach, Inn und Donau wurden die Holzwaren nach Wien geliefert, von dort weiter nach Ungarn, Böhmen und Mähren bis in die Levanteländer und auch auf Schlitten nach Bayern. Mit Wagen gelangte die Ware nach Venetien, Südtirol und in die Lombardei. Um 1920 endete nach ca. 500 Jahren die Holzwarenproduktion in Hallein, im Oedlschen Kundenverzeichnis von 1900 gab es 390 Kundenadressen an 122 Orten auch in Deutschland, Frankreich, Polen und der UdSSR. Hochwasser und Hochwasserschutz 2021 wird die Altstadt von Hallein überschwemmt, dabei entsteht ein Sachschaden 6 Mio. €. Schon seit etwa 2020 wurde an Hochwasserschutzbauten gearbeitet. Ende 2021 wurde das Rückhaltebecken mit 80.000 m³ Fassungsvermögen am Oberlauf des Kotbachs fertig gestellt. Seit etwa Mai 2023 ist die Anlage am Raingraben einsatzbereit, diese kann Wasser durch einen alten Bergbaustollen ableiten. Ein Rückhaltebecken für 40.000 m³ am Unterlauf des Kotbachs wurde Mitte August 2023 funktionsfähig. Mit Vollendung der Maßnahmen im Kleinkirchental auf dem Dürrnberg wurden 7 Mio. € verbaut. Bauten, etwa in Gamp und am Dürrnberg um weitere 3 Mio. € sollen in den nächsten Jahren folgen, ebenfalls drittelfinanziert durch Stadt, Land und Bund. Bevölkerungsentwicklung Die Bevölkerung von Hallein stieg von 1961 bis 2001 von 13.329 auf 18.399 Einwohner. Damit liegt Hallein über dem wachsenden Durchschnitt des Bezirks. Ein Grund dafür war die Zuwanderung von Arbeitskräften aus der Türkei und aus Jugoslawien in den 1970er Jahren, die überwiegend für die Industrie benötigt wurden. Durch diesen starken Zuzug entwickelte sich Hallein in den letzten Jahrzehnten vermehrt zu einer multikulturellen Kleinstadt. Kultur und Sehenswürdigkeiten Bauwerke Altstadt: 1978 ist die gesamte Altstadt von Hallein unter Denkmalschutz gestellt worden. In den 1970er Jahren wurde mit dem Abriss historischer Gebäude, die zum Teil in der Inn-Salzach-Bauweise errichtet wurden, mitten in der Altstadt begonnen, Bauspekulanten entdeckten damals ein neues Geschäftsfeld. Mit dieser rigorosen Rettungsaktion des Staates konnte das einzigartige Ensemble dieser gut erhaltenen mittelalterlichen Stadt gerettet werden. Stadtbefestigung, nur Teile erhalten. Stadtmauer, vor 1300 errichtet, von den Stadttoren nur das Griestor erhalten, Veste Sulzeneck und Ruine Thürndl, vermutlich ein Eckpunkt der ehemaligen Stadtbefestigung Saline auf der Pernerinsel Ziegelstadl Klosterstiege auf den Georgsberg. Eine der schönsten Freitreppen Österreichs, abgebrochen 1964. Colloredo-Sudhaus, letztes erhaltenes Sudhaus der Stadt Salinen-Pflege Amtsgebäude, heute das Keltenmuseum Hallein Burgruine Gutrat Ruine Alt-Gutrat Schloss Gartenau Schloss Wiespach Benediktschlössl Egglauer Schlössel Schloss Altdorf (Hallein) (Schloss Paur, Schlossbauer) Hofbräu Kaltenhausen Kirchen Katholische Pfarrkirche Hallein hl. Antonius Eremit: Die Dechantkirche, östlich davon Dechanthof, an den Pfarrhof angebaut die Peterskapelle, südlich der Dechantkirche die Totenkapelle Katholische Pfarrkirche Hallein-Neualm hl. Josef der Arbeiter Katholische Pfarrkirche Hallein-Rehhof Unserer Lieben Frau Königin des Weltalls Katholische Pfarr- und Wallfahrtskirche Dürrnberg Mariä Himmelfahrt Evangelische Schaitbergerkirche Bürgerspitalskapelle Hl. Kreuz Salinen-Kapelle Ursulakapelle, Andachtsstätte der Salinenarbeiter. Erste Erwähnung 1553, 1893 abgebrochen. Pankrazkapelle, lag über dem Pankrazbogen, 1780 abgebrannt. Friedhofskapelle in Burgfried Ehemaliges Augustinerkloster Leprosenhauskapelle hl. Martin in Kaltenhausen Sonstiges Fresken im Lebzelterschlössl, um 1850 von Anton Eggl ausgeführt. Rathaus, Ausstattung des Sitzungssaals durch Franz Oppelt, Direktor der Bildhauerschule Hallein von 1882–1906, mit Rundgemälde des Halleiner Malers Anton Eggl. Stolpersteine Veranstaltungen Sonderveranstaltungen des Keltenmuseums Hallein Kulturforum Hallein: Veranstalter kultureller Aktivitäten SUDHAUS hallein.kultur: Vernetzung regionaler Kulturschaffender & Veranstalter SalzSpiele Kulturverein: Kulturspiele in der Salzregion – ist Mitglied des Dachverband Salzburger Kulturstätten und der IG Kultur Österreich. Schmiede Hallein: Multimedia Festival auf der Pernerinsel in der Alten Saline Theater bodi end sole: Davisstraße Tennengauer Kunstkreis – Galerie „KUNSTRAUM pro arte“: Schöndorferplatz 1Blick. Kunst im Vorhaus: monatliche Kunstausstellungen am Bayrhamerplatz 8 – ist Mitglied des Dachverband Salzburger Kulturstätten und der IG Kultur Österreich. Kunstgemeinschaft FreiRäume Internationale Sommerakademie für Bildende Kunst Salzburg: Kurse der Sommerakademie fanden einige Jahre in der Alten Saline auf der Pernerinsel in Hallein statt Salzburger Festspiele: in der Alten Saline auf der Pernerinsel ist seit vielen Jahren Veranstaltungsort der Salzburger Festspiele Museen Stille-Nacht-Museum Hallein: Museum und Grab von Franz Xaver Gruber, Komponist des Weihnachtslieds Stille Nacht, befinden sich in Hallein, seinem langjährigen Wohnort Salzbergwerk – Salzwelten Hallein bei Salzburg: die Salzwelten bieten zwei lange Bergmannsrutschen, eine Fahrt mit der Grubenbahn, eine unterirdische Floßfahrt auf einem Salzsee und ein Keltendorf über Tage Keltenmuseum Hallein: Das Keltenmuseum zählt zu den bedeutendsten Sammlungen mit Zeugnissen keltischer Kunst in Europa Bindereimuseum Kaltenhausen: In den Räumen, in denen bis 1965 die Fassbinderwerkstätte des Hofbräus Kaltenhausen untergebracht war, wurde 1986 das Binderreimuseum eingerichtet. Sport Universitäts- und Landessportzentrum Salzburg Rif Sportzentrum und universitäre Ausbildungsstätte, zertifiziertes Olympiazentrum und Heeresleistungssportzentrum. Trainingszentrum für Spitzen- und Breitensport. Fußball Der 1. Halleiner Sportklub (HSK) existierte von 1920 bis 2004, in der Zeit des Austrofaschismus wurden Arbeitersportvereine verboten, deshalb schloss sich der HSK unter dem Namen Halleiner Athletik-Club (HAC) dem Allgemeinen Salzburger Fußballverband an (Salzburger Landesmeister und Landespokalsieger). Nach dem Zweiten Weltkrieg feierte der 1. Halleiner Sportklub Erfolge als Landesmeister und Landespokalsieger. Von 1950 bis 1954 gab es den Fußballklub Hakoah Hallein, dessen Mannschaft sich ausschließlich aus jüdischen Spielern des Lagers Beth Israel zusammensetzte. Der Verein SK Olympia 1948 Hallein bestand von 1948 bis 2004 und der jüngste Fußballverein war Union Hallein gegründet 1963. 2004 entstand durch eine Fusion des 1. Halleiner Sportklubs mit Olympia Hallein der FC Hallein 04. 2020 entstand aus dem FC Hallein 04 und der Union Hallein der Fußballverein UFC Hallein. Wintersport Skiclub Hallein gegründet 1933. Erfolgreiche Schirennläufer waren Anna Veith und Thomas Stangassinger Turnvereine ATSV Hallein TV Hallein Sonstige Sportvereine 1. KBC Hallein (Kickboxen) 1. Halleiner Schachklub 1. Halleiner Tennisclub RC ARBÖ Hallein (Radsport) ABC Luckypool Tennengau (Pool Billard) Golfclub Salzburg Anlage Rif Bogenclub Celtic Ravens Bad Dürrnberg Abada Capoeira 1. EV Hallein (Eisschützen) HV-Hallein (Hundeverein) Fischereiverein Hallein Crosslauf Der Wyndham Grand CrossAttack, ausgetragen am Universitäts- und Landessportzentrum Salzburg/Rif, zählt zu den wichtigsten Crossläufen Österreichs. Wandersteige Von Hallein auf den Dürrnberg führt der Knappensteig Über ein weiterer Wanderweg gelangt man aus der Stadt über die „Riesen“, vorbei am „Kirchentalerl“ oder vorbei an der Ruine „Thürndl“, hinauf auf den „Kleinen Barmstein“ oder weiter nördlich auf den "Großen Barmsstein. Wirtschaft und Infrastruktur Der einseitig auf das Salzwesen ausgerichteten Ökonomie der Stadt Hallein versuchte man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend mit neuen Betriebsansiedlungen entgegenzuwirken. Es entstanden z. B. ein Zementwerk, eine Zigarren- und eine Papierfabrik. Mit 53 % landwirtschaftlichen Biobetrieben liegt Hallein an erster Stelle bei der Verteilung der Biobetriebe nach politischen Bezirken (2011). Ansässige Unternehmen AustroCel (1890–2009 Papierfabrik) verarbeitet Holz zu Zellstoff, Viskosefaser, Ethanol, Biogas, Strom und Fernwärme Robert Bosch GmbH (Autoelektrik, durch Übernahme von: Friedmann & Maier) Erdal (Schuhpflege) Halleiner Motorenwerke: 1948 bis 1958 Emco (Maschinenbau) Hofbräu Kaltenhausen Trilety Straßenreinigungsmaschinen Landesklinik Hallein Verkehr Straße: Hallein hat einen Anschluss an die A10 Tauernautobahn in Gries (Exit 16 Hallein). Durch die Stadt verläuft die B159 Salzachtal Straße. Bahn: Hallein liegt an der Salzburg-Tiroler-Bahn und verfügt neben dem Bahnhof über eine im Herbst 2005 neu erbaute S-Bahn-Haltestelle im Stadtteil Burgfried. Die Landeshauptstadt Salzburg ist von Hallein aus mit dem Regionalexpress der ÖBB und der Linie S3 (S-Bahn Salzburg) innerhalb von 15 bis 20 Minuten erreichbar. Eine weitere Verbindung mit der Landeshauptstadt ist langfristig durch die in Bau befindliche Regionalstadtbahn Salzburg S-Link in Vorbereitung. Radrouten: Der Tauernradweg führt durch die Stadt, in Rif zweigt der Salzhandelsweg nach Bad Reichenhall ab. Medien Bezirksblatt Tennengau, Gratiszeitung (wöchentlich), Kleinformat. Tennengauer Nachrichten, Kleinformat, 3× monatlich wöchentliche Beilage in den Salzburger Nachrichten, 1× monatlich gratis. Halleiner Stadtzeitung 1999–2019, Gratiszeitung (5× jährlich), Broadsheet-Format. Halleiner Zeitung 1952–1996, Kauf- und Abo-Zeitung (wöchentlich), Berliner Format, monatlich mit 5. Ausgabe als Gratiszeitung im Kleinformat, 3 bis 4× jährlich mit HZ-Farbmagazin auf Kunstdruckpapier (Format DIN A4). Regional Zeitung Hallo, Gratiszeitung, Kleinformat (monatlich). HSZ-Radiomagazin für Hallein. Wöchentliche Radiosendung der Halleiner Stadtzeitung im Rahmen der Radiofabrik Salzburg jeden Donnerstagmittag. Kultur- und Festspielmagazin Hallein 1999 bis 2009 (jährlich), Farbmagazin auf Kunstdruckpapier, Format DIN A4. Salzachtaler, Gratiszeitung (10 × jährlich), Kleinformat. Salzschreiber, Onlinemagazin, Motto: Die Stadt Hallein im Visier. Publikation der Stadtgemeinde Hallein, Gratismedium, 4× jährlich, Format DIN A4. Bildung Aus Holzschnitzkursen der Saline entstand 1871 die erste Fachschule der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Durch diese Holzschnitzerei Schule, aus der sich die HTBL Hallein entwickelt hat, kann die Stadt als Bildhauerzentrum gesehen werden. Mit 5 städtischen und 5 privaten Kindergärten, 18 Schulen mit mehr als 6.000 Schülern und der Universität Salzburg in Rif gilt Hallein allgemein als Schulstadt. 10 Kindergärten 5 Volksschulen 3 Neue Mittelschulen Sonderpädagogisches Zentrum Polytechnische Schule Landesberufsschule Hallein Höhere Lehranstalt und Fachschule für wirtschaftliche Berufe mit dem Schwerpunkt Wellness (bis 2019) Höhere technische Bundeslehranstalt Hallein: 1871 gegründet, somit die älteste berufsbildende Schule Österreichs. HTL für Betriebsinformatik, Betriebsmanagement, Innenraumgestaltung & Möbelbau, Hochbau, Produkt- und Systemdesign (Ecodesign), Holzbautechnik & Zimmerei. Fachschulen für Maschinenbau, Tischlerei, Steinmetz, Bildhauerei Höhere Lehranstalt für Mode und Bekleidungstechnik (Modeschule Hallein) Höhere Lehranstalt für Hairstyling, Visagistik und Maskenbildnerei Kolleg für Mode und Bekleidungstechnik Bundeshandelsakademie und Bundeshandelsschule Bundesgymnasium und Bundesrealgymnasium Hallein Universitäts- und Landessportzentrum Salzburg Rif (ULSZ Rif), seit 1986 ist Hallein damit auch ein Universitätsstandort. Politik Gemeinderat Die Gemeindevertretung hat insgesamt 25 Mitglieder. Mit den Gemeindevertretungs- und Bürgermeisterwahlen in Salzburg 2004 hatte die Gemeindevertretung folgende Verteilung: 11 ÖVP, 10 SPÖ, 3 Bündnis für Hallein, und 1 FPÖ. Mit den Gemeindevertretungs- und Bürgermeisterwahlen in Salzburg 2009 hatte die Gemeindevertretung folgende Verteilung: 15 ÖVP, 6 SPÖ, 2 FPÖ, und 2 Grüne. Mit den Gemeindevertretungs- und Bürgermeisterwahlen in Salzburg 2014 hatte die Gemeindevertretung folgende Verteilung: 13 ÖVP, 6 SPÖ, 2 FPÖ, 2 Grüne, und 2 Neos. Mit den Gemeindevertretungs- und Bürgermeisterwahlen in Salzburg 2019 hat die Gemeindevertretung folgende Verteilung: 9 SPÖ, 8 ÖVP, 3 Grüne, 3 BASIS (ehemals FPÖ), 1 Neos, 1 Parteifrei (ehemals ÖVP). Bürgermeister Die Bürgermeister seit 1919 waren: 1919–1934: Anton Neumayr (SPÖ) 1934–1936: Rudolf Dworzak (kommissarisch) 1936–1938: Anton Stütz (kommissarisch) 1938–1939: Alexander Gruber (NSDAP) 1939–1945: Franz Moldan (NSDAP) 1945–1946: Karl Nedomlel (KPÖ) 1946–1951: Rudolf Winkler (SPÖ) 1951–1958: Johannes Döttl (SPÖ) 1958–1976: Josef Brandauer (SPÖ) 1976–1987: Rudolf Müller (SPÖ) 1987–1995: Franz Kurz (SPÖ) 1995–1998: Franz Zambelli (SPÖ) 1998–1999: Ernst Scheichl (ÖVP) 1999–2013: Christian Stöckl (ÖVP) 2013–2018: Gerhard Anzengruber (ÖVP) 2018–2019: Maximilian Klappacher (ÖVP) seit 2019: Alexander Stangassinger (SPÖ) Wappen Blasonierung: „In Rot innerhalb eines silbernen Bordes ein schwarzhaariger schreitender hersehender silberner Mann mit langärmligem Wams, Kniehosen, Gürtel und Schuhen, auf der linken Schulter mit der linken Hand in einer Holzmulde einen Salzstock haltend, in der Rechten einen schrägrechten silbernen Stock, beidseitig begleitet von je einem silbernen konischen Holzgefäß (Perkufe).“ Das aktuelle Wappen hat einen oben dreibergförmigen Schildrand, darauf ein silbernes, von zwei zeltbedachten Türmen mit übereinanderliegenden roten Fenstern flankiertes, mittig abgeknicktes Gebäude mit sieben roten Bogenöffnungen, die mittlere höher. Ältere Darstellungen zeigen die Perkufen in natürlichen Farben. Wappenerklärung: Der Mann stellt einen Salzträger dar, der den Jahrtausende alten Salzabbau der Stadt symbolisiert, nach der diese ihren Namen hat, ebenso die beiden Holzgefäße. Diese Perkufen waren unten offene, oben mit einem Ablaufloch versehene, kegelstumpfförmige Holzgefäße aus geraden Holzdauben und Eisenbändern, vom Küfer gefertigt, die wie ein Trichter mit dem feuchten Salzbrei durch die nun oben befindliche große Öffnung auf der Perstatt befüllt, nach Ablauf der Sole und Trocknen des Inhalts gestürzt und abgehoben wurden. Der Salzinhalt blieb als Kegelstumpf zur Weiterverarbeitung stehen. Diese Salzkegel (Salzstöcke) waren über Jahrhunderte das allgemein übliche Transportgebinde weitgehend normierter Größe und wurden per Karren, und per Floß auf der Salzach weitertransportiert. Persönlichkeiten Virgil Pingitzer (1541 Hallein – 1619 Jena), Rechtswissenschaftler Johann Georg Mohr (um 1656 Radstadt – 1726 Hallein), Barock-Bildhauer, „Halleiner Meister“ Joseph Schaitberger (1658 Dürrnberg bei Hallein – 1733 Nürnberg), evangelischer Glaubenskämpfer Theresia Zechner (1697 Hallein – 1763 ebenda), Ordensgründerin der Halleiner Schulschwestern Johann Andreas Seethaler (1762 Hallein – 1844 Salzburg), Jurist und Geschichtsschreiber Gotthard Guggenmoos (1775 Bachtal – 1838 Hallein), Sonderpädagoge und einer der Begründer der Heilpädagogik Conrad Franz Xaver Gruber (1787 Unterweitzberg – 1863 Hallein), Komponist „Stille Nacht, heilige Nacht“ Johann Baptist Wichtlhuber (1793 Palling – 1872 Hallein), Dechant, Pfarrer und Ehrenbürger von Hallein August Joseph Schenk (1815 Hallein – 1891 München), Botaniker Franz Albert Eder (1818 Hallein – 1890 Salzburg), Erzbischof von Salzburg Adolf Ritter von Steinhauser (1825 Hallein – 1888 Salzburg), Regierungsrat und Ehrenbürger Salzburgs Franz Xaver Gruber (1826 Lamprechtshausen – 1871 Hallein), gründete 1849 die Halleiner Liedertafel Felix Gruber (1840 Hallein – 1884 ebenda), Lehrer und Organist, ab 1863 Chorregent in Hallein Franz Jobst (1840 Hallein – 1890 Speising), Maler August Lohr (1842 Hallein – 1920 Mexiko-Stadt, Mexiko), Landschafts- und Panoramenmaler der Münchner Schule, ab 1885/90 in USA und Mexiko Sebastian Wimmer (1843 Hallein – 1905 Hallein), Heimatforscher Karl Kellner (1850 Wien - 1905 Wien), Grab in Hallein. Mitgründer der Papierfabrik Hallein Jakob Gruber (1864 Hallein – 1915 Wien), Bildhauer Jakob Adlhart d. Ä. (1871 Achdorf – 1956 Hallein), Holzschnitzer, Vergolder und Faßmaler Max Domenig (1886 Obervellach – 1952 Hallein), Bildhauer Clemens Holzmeister (1886 Fulpmes – 1983 Hallein), Architekt und Ehrenbürger Salzburgs Moriz Gelinek (1887 Hallein – 1979 Salzburg), Eisenbahn-Pionier und Unternehmer Anton Neumayr (1887 Salzburg – 1954 ebenda), Bürgermeister von Hallein und Salzburg Jakob Adlhart d. J. (1898 München – 1985 Hallein), Bildhauer Otto Strohmayr (1900 Hallein – 1945 Hallein-Kaltenhausen), Architekt Agnes Primocic (1905 Hallein – 2007 ebenda), Politikerin und Widerstandskämpferin Franz Budig (1907 Hallein – 1989 Puch bei Hallein), Bildhauer Walter Königsdorfer (1907–2006), Landrat in Hallein von 1941 bis 1945 Wolfgang Mittermayer (1911 Hallein – 1969 ebenda), Maler und Zeichner Edmund Stierschneider (1911 Wien – 1996 Hallein), Professor, akad. Maler, Gründer der Halleiner Zeitung, Initiator zur Gründung des Halleiner Gymnasiums Sepp Plieseis (1913 Bad Ischl – 1966 ebenda), Bergsteiger, Widerstandskämpfer, geflüchtet aus dem KZ-Außenlager in Vigaun bei Hallein Ernst Penninger (1919 Hallein – 1995 ebenda), Heimatforscher und Archäologe Bernhard Prähauser (1921 Hallein – 2016 Hallein), Bildhauer Emilie Stahl (1921 in Hallein – 2003 in Bremen), Hochschullehrerin und Rektorin der Hochschule für Sozialpädagogik und Sozialökonomie Bremen Edmund Molnar (1923 Hallein – 1944 Berlin-Tegel), Schlosser, Gefreiter der Wehrmacht, hingerichtet wegen angeblicher „Wehrkraftzersetzung“ Siegfried Waslberger (1925 in Hallein – 1978 Salzburg) Zirkusartist, Handstandartist Herbert Fux (1927 Hallein – 2007 Salzburg), Volksschauspieler und Politiker Anton Karl (1935 Hallein – 2015 Salzburg), Politiker (ÖVP) und Fleischhauermeister Jakob Adlhart (1936 Hallein – 2021), Architekt Karl Moik (1938 Linz – 2015 Salzburg), Fernsehmoderator und Entertainer; wuchs in Hallein auf Johann Sallaberger (1938 Hallein – 2016), römisch-katholischer Kirchenhistoriker Odo Stierschneider (* 1939 Leoben), Herausgeber der Halleiner Zeitung (1970–1996), Herausgeber des Festspielmagazin Hallein (1999–2009), Herausgeber des Halleiner Internet-Magazins Salzschreiber seit 2009 Hermann Göllner (* 1943 Hallein), Skirennläufer, Freestyle-Skier und Alpinskitrainer Bruno Becker (* 1945 Hallein), emeritierter Erzabt des Stiftes St. Peter in Salzburg Kurt Zeller (1945 Hallein – 2009 ebenda), Direktor des Halleiner Keltenmuseums und Leiter des Forschungszentrums Dürrnberg. Manfred Riederer (* 1946 Hallein), Maler und Zeichner Otto Kruse (* 1948), Psychologe, Schreibforscher und Hochschullehrer Gottfried Bär (* 1952 Hallein), ehem. Tischtennisspieler Manfred Baumann (* 1956 Hallein), Journalist, Autor, Kabarettist und ORF-Redakteur Gerhard Anzengruber (* 1958 Hallein), Bürgermeister von Hallein Erhard Riedlsperger (* 1960 Hallein), Drehbuchautor und Regisseur Konrad König (* 1961 Hallein), Boxer Lukas Essl (1965 Hallein – 2019), Karosseriebauer und Politiker Thomas Stangassinger (* 1965 Hallein), ehem. Skirennläufer Thomas Schuller-Götzburg (* 1966), Diplomat Judith Wiesner (* 1966 Hallein), ehemalige Tennisspielerin Herbert Ilsanker (* 1967 Hallein), ehem. Fußballspieler Alarich Lenz (* 1967 Hallein), Filmeditor Eva Eckkrammer (* 1968 Hallein), Romanistin und Hochschullehrerin Ingo Vogl (* 1970 Hallein), Kabarettist Michael Wildner (* 1970 Hallein), ehem. Leichtathlet Harald Schwaiger (* 1973 Hallein), Schauspieler, Theatergründer und -intendant Michael Steiner (* 1974 in Hallein), Fußballspieler und -trainer Sanel Kuljic (* 1977 Salzburg), Kindheit in Hallein, Fußball-Nationalspieler Bettina Brandauer (* 1980), Politikerin (SPÖ), Landtagsabgeordnete Daniel Kastner (* 1981 Hallein), Fußballspieler Andrina Mračnikar (* 1981 Hallein), Regisseurin und Drehbuchautorin Mareike Fallwickl (* 1983 Hallein), Autorin Georg Oberauer (* 1984 Hallein), Kirchenmusiker Stefan Ilsanker (* 1989 Hallein), Fußballspieler Anna Veith (* 1989 Hallein), ehem. Skirennläuferin Marcel Hirscher (* 1989 Hallein), ehem. Skirennläufer Telat Ünal (* 1994 Hallein), Fußballspieler Sebastian Voglmaier (* 2003 Hallein), Fußballspieler Dominik Lechner (* 2005 Hallein), Fußballspieler Siehe auch Deferegger und Dürrnberger Exulanten Augustinerkloster Hallein Literatur Bergland. Illustrierte Alpenländische Monatsschrift. 12. Jahrgang, Nummer 8. Verlag der Wagner´schen Universitäts-Buchdruckerei, Innsbruck 1930. Fritz Moosleitner: Hallein. Portrait einer Kleinstadt. Bilddokumente zur Bau- und Kulturgeschichte der Salinenstadt. Hrsg. Ortsbildschutzkommission der Stadt Hallein in Zusammenarbeit mit dem Keltenmuseum Hallein. Mitarbeit von Fritz Koller, Linde Moldan, Anton Puttinger, Christa Svoboda, Friederike Zaisberger, Kurt Zeller. Hallein 1989. Fritz Koller: Die Salzachschiffahrt bis zum 16. Jahrhundert. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde. Band 123, Salzburg 1983, S. 1–126 (). Franz Andreas Kurz: Hallein - Bad Dürrnberg in alten Ansichten. Die Damals Reihe. Europäische Bibliothek. Zaltbommel / Niederlande 2001. A ISBN 90 288 6659 0. Inge Resch-Rauter: Unser Keltisches Erbe. TELETOOL EDITION: 6th edition 2020 ISBN/EAN 978-3-9500-1670-3 Weblinks Website der Gemeinde Bezirkshauptmannschaft Hallein Stille-Nacht-Ort Hallein Einzelnachweise Bezirkshauptstadt in Österreich Berchtesgadener Alpen Ersterwähnung 1198
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Hyperreelle Zahl
In der Mathematik sind hyperreelle Zahlen ein zentraler Untersuchungsgegenstand der Nichtstandardanalysis. Die Menge der hyperreellen Zahlen wird meist als geschrieben; sie erweitert die reellen Zahlen um infinitesimal benachbarte Zahlen sowie um unendlich große (infinite) Zahlen. Als Newton und Leibniz ihre Differentialrechnung mit „Fluxionen“ bzw. „Monaden“ durchführten, benutzten sie infinitesimale Zahlen, und auch Euler und Cauchy fanden sie nützlich. Trotzdem wurden diese Zahlen von Anfang an skeptisch betrachtet, und im 19. Jahrhundert wurde die Analysis durch die Einführung der Epsilon-delta-Definition des Grenzwertes und die Definition der reellen Zahlen durch Cauchy, Weierstraß und andere auf eine strenge Grundlage gestellt, die ohne infinitesimale Größen auskommt. Abraham Robinson zeigte dann in den 1960er Jahren, auf welche Weise unendlich große und kleine Zahlen streng formal definiert werden können, und eröffnete so das Gebiet der Nichtstandardanalysis. Die hier gegebene Konstruktion ist eine vereinfachte, aber nicht minder strenge Version, die zuerst von Lindstrom gegeben wurde. Durch die hyperreellen Zahlen ist eine Formulierung der Differential- und Integralrechnung ohne den Grenzwertbegriff möglich. Elementare Eigenschaften Die hyperreellen Zahlen bilden einen geordneten Körper, der als Teilkörper enthält. Beide sind reell abgeschlossen. Der Körper wird so konstruiert, dass er elementar äquivalent zu ist. Das bedeutet, dass jede Aussage, die in gilt, auch in gilt, falls die Aussage sich in der Prädikatenlogik erster Stufe über der Signatur formulieren lässt. Die Signatur bestimmt, welche Symbole man in den Aussagen gebrauchen darf. Die Einschränkung auf die Prädikatenlogik erster Stufe bedeutet, dass man nur über Elemente des Körpers quantifizieren kann, nicht jedoch über Teilmengen. Folgende Aussagen gelten z. B. sowohl in als auch in : Jede Zahl, die größer oder gleich Null ist, hat eine Quadratwurzel. In Formeln: . Das heißt nun nicht, dass und sich genau gleich verhalten; sie sind nicht isomorph. Zum Beispiel gibt es in ein Element , das größer als alle natürlichen Zahlen ist. Dies lässt sich jedoch nicht durch eine Aussage der obigen Form ausdrücken, man braucht dazu unendlich viele: Eine solche Zahl gibt es in nicht. Eine hyperreelle Zahl wie nennt man infinit oder unendlich, der Kehrwert einer unendlich großen Zahl ist eine infinitesimale Zahl. Ein weiterer Unterschied: Die reellen Zahlen sind ordnungsvollständig, d. h., jede nichtleere, nach oben beschränkte Teilmenge von besitzt ein Supremum in . Diese Forderung charakterisiert die reellen Zahlen als geordneten Körper eindeutig, d. h. bis auf eindeutige Isomorphie. ist hingegen nicht ordnungsvollständig: Die Menge aller endlichen Zahlen in besitzt kein Supremum, ist aber z. B. durch obiges beschränkt. Das liegt daran, dass man zur Formulierung der Ordnungsvollständigkeit über alle Teilmengen quantifizieren muss; sie kann daher nicht in der Prädikatenlogik erster Stufe formalisiert werden. Die hyperreellen Zahlen sind gleichmächtig zu den reellen Zahlen: . Konstruktion Die Menge aller Folgen reeller Zahlen () bilden eine Erweiterung der reellen Zahlen, wenn man die reellen Zahlen mit den konstanten Folgen identifiziert. wird also mit der Folge , wird also mit der Folge identifiziert. Die Prototypen für „unendliche große“ Zahlen sind in dieser Menge Folgen, die irgendwann größer als jede reelle Zahl werden, z. B. die Folge: . Auf kann man nun die Addition und Multiplikation gliedweise definieren: Dadurch wird zu einem kommutativen unitären Ring, allerdings besitzt dieser Nullteiler und ist daher kein Körper. Es gilt z. B. für und die Gleichung , obwohl sowohl als auch ungleich null sind. Es müssen daher noch Folgen über eine Äquivalenzrelation identifiziert werden. Die Idee ist, dass Folgen äquivalent sind, wenn die Menge aller Stellen, wo sich die Folgen unterscheiden, eine unwesentliche ist. Was ist nun die Menge aller unwesentlichen Mengen? Insbesondere sollen ja Folgen äquivalent sein, wenn sie sich im Unendlichen gleich verhalten, wenn sie also nur an endlich vielen Stellen verschieden sind. Alle endlichen Mengen sind daher unwesentlich. Und das Beispiel mit und zeigt, dass für jede Teilmenge entweder die Teilmenge oder ihr Komplement unwesentlich ist. Unter anderem wird dann noch gebraucht, dass die Vereinigung zweier unwesentlicher Mengen unwesentlich ist, da die Äquivalenzrelation transitiv sein muss. Das führt zu einem Ultrafilter: Ein Filter auf den natürlichen Zahlen ist eine Menge von Teilmengen der natürlichen Zahlen, für die gilt: Die leere Menge liegt nicht in . Wenn sie zwei Mengen enthält, dann auch deren Schnittmenge. Wenn sie eine Menge enthält, dann auch deren Obermengen. Ein Filter ist frei, wenn gilt: enthält keine endlichen Mengen. Er ist ein Ultrafilter, falls gilt: Wenn eine bestimmte Teilmenge nicht enthält, enthält deren Komplement. Die Existenz eines freien Ultrafilters folgt aus dem Lemma von Zorn. Mit Hilfe dieses Ultrafilters lässt sich eine Äquivalenzrelation definieren: genau dann, wenn . Auf der Menge der Äquivalenzklassen, die mit bezeichnet wird, kann nun die Addition und Multiplikation der Äquivalenzklassen über Repräsentanten definiert werden. Dies ist wohldefiniert, da ein Filter ist. Da sogar ein Ultrafilter ist, hat jedes Element außer 0 in ein Inverses. Z. B. ist eine der beiden Folgen und äquivalent zu null, die andere zu eins. Nun müssen wir auf noch eine Ordnung definieren. Dies geschieht durch genau dann, wenn . Leicht wird klar, dass dies eine totale Ordnung auf definiert (für die Totalität ist wichtig, dass ein Ultrafilter ist). Die Äquivalenzklasse der Folge ist größer als jede reelle Zahl, denn für eine reelle Zahl gilt . Anschließend ist noch zu zeigen, dass der konstruierte Körper tatsächlich elementar äquivalent zu ist. Dies geschieht durch einen Induktionsbeweis über den Aufbau der Formeln, wobei von den Ultrafilter-Eigenschaften Gebrauch gemacht wird. Bemerkungen Jedem Filter auf den natürlichen Zahlen entspricht ein Ideal des Ringes (aber nicht umgekehrt). Einem Ultrafilter entspricht dabei ein maximales Ideal, daher ist der Quotient ein Körper. Die Wahl eines nicht-freien Ultrafilters hätte zur Folge, dass der Körper der Äquivalenzklassen isomorph zum Ausgangskörper ist. Diese Konstruktion ist ein Spezialfall der Ultrapotenz. Unter anderem heißt das, dass die Einbettung von in eine elementare Einbettung ist und dass -saturiert ist. Aus den Axiomen der Mengenlehre (ZFC) plus der Kontinuumshypothese folgt, dass diese Konstruktion nicht von der Wahl des Ultrafilters abhängt. (Das bedeutet, dass unterschiedliche Ultrafilter zu isomorphen Ultraprodukten führen.) Infinitesimale und unendlich große Zahlen Eine hyperreelle Zahl heißt infinitesimal, wenn sie kleiner als jede positive reelle Zahl und größer als jede negative reelle Zahl ist. Die Zahl Null ist die einzige infinitesimale reelle Zahl, aber es gibt andere hyperreelle infinitesimale Zahlen, beispielsweise . Sie ist größer als null, aber kleiner als jede positive reelle Zahl, denn der Ultrafilter enthält alle Komplemente endlicher Mengen. Eine negativ infinitesimale Zahl ist größer als jede negative reelle Zahl und kleiner als jede positive reelle Zahl, z. B.. Eine hyperreelle Zahl heißt endlich, wenn es eine natürliche Zahl gibt mit , anderenfalls heißt unendlich. Die Zahl ist eine infinite Zahl. Beachte: Die Bezeichnung „unendlich groß“ bezeichnet meist eine Zahl, die größer ist als jede natürliche Zahl, „unendlich“ schließt aber auch Zahlen ein, die kleiner sind als jede ganze Zahl, wie . Eine von 0 verschiedene Zahl ist genau dann unendlich, wenn infinitesimal ist. Zum Beispiel ist . Es lässt sich zeigen, dass jede endliche hyperreelle Zahl „sehr nah“ an genau einer reellen Zahl liegt. Genauer: Ist eine endliche hyperreelle Zahl, dann gibt es genau eine reelle Zahl , so dass infinitesimal ist. Die Zahl nennt man den Standardteil von , die Differenz zu ist der Nichtstandardteil. Die Abbildung hat einige angenehme Eigenschaften: Für alle endlichen hyperreellen Zahlen , gilt: genau dann, wenn reell ist. Daraus folgt, dass der Term auf der linken Seite definiert ist, dass also z. B. endlich ist, falls sowohl als auch endlich sind. Die Menge der endlichen Zahlen bilden also einen Unterring in den hyperreellen Zahlen. Außerdem ist , falls nicht infinitesimal ist. Ferner gilt: Die Abbildung ist stetig bzgl. der Ordnungstopologie auf der Menge der endlichen hyperreellen Zahlen, sie ist sogar lokal konstant. Die ersten zwei Eigenschaften (und die Folgerungen , aus der dritten Eigenschaft) besagen, dass ein Ring-Homomorphismus ist. Zum Beispiel ist die hyperreelle Zahl gliedweise kleiner als , also ist . Sie ist aber größer als jede reelle Zahl kleiner 1. Sie ist daher zu 1 infinitesimal benachbart und 1 ist ihr Standardteil. Ihr Nichtstandardteil (die Differenz zu 1) ist . Beachte aber, dass die reelle Zahl als Grenzwert der Folge gleich 1 ist. Weitere Eigenschaften Die hyperreellen Zahlen sind gleichmächtig zu den reellen Zahlen, denn die Mächtigkeit muss mindestens so groß wie die der reellen Zahlen sein, da sie die reellen Zahlen enthalten, und kann höchstens so groß sein, da die Menge gleichmächtig zu den reellen Zahlen ist. Die Ordnungsstruktur der hyperreellen Zahlen hat überabzählbare Konfinalität, d. h., es existiert keine unbeschränkte abzählbare Menge, also keine unbeschränkte Folge von hyperreellen Zahlen: Sei eine Folge von hyperreellen Zahlen durch Repräsentanten gegeben. Dann ist die hyperreelle Zahl mit dem Repräsentanten , eine obere Schranke. Es lassen sich also mit keiner Folge beliebig große hyperreelle Zahlen erreichen. Die hyperreellen Zahlen sind nicht archimedisch angeordnet. Die Ordnung der hyperreellen Zahlen induziert eine Ordnungstopologie. Mittels dieser lassen sich die üblichen topologischen Begriffe von Grenzwerten und Stetigkeit auf die hyperreellen Zahlen übertragen. Als geordneter Körper weisen sie mit der Addition eine mit der Topologie verträgliche Gruppenstruktur auf, es handelt sich also um eine topologische Gruppe. Diese induziert eine uniforme Struktur, sodass man auf den hyperreellen Zahlen auch von gleichmäßiger Stetigkeit, Cauchyfiltern etc. sprechen kann. Aus der überabzählbaren Konfinalität folgt durch Betrachtung von Kehrwerten, dass es auch keine Folge bestehend aus von 0 (oder entsprechend einer beliebigen anderen hyperreellen Zahl) verschiedenen hyperreellen Zahlen gibt, die beliebig nah an die 0 gelangt. Daher erfüllt die Topologie der hyperreellen Zahlen nicht die beiden Abzählbarkeitsaxiome, sie ist also insbesondere nicht metrisierbar. Aus der überabzählbaren Konfinalität folgt auch, dass sie nicht separabel sind. Aus dem Nichtvorhandensein von Suprema zahlreicher Mengen folgt, dass der Raum total unzusammenhängend und nicht lokalkompakt ist. Siehe auch Erweiterte reelle Zahl Surreale Zahl Hypernatürliche Zahlen *ℕ Hyperganze Zahl *ℤ Literatur Heinz-Dieter Ebbinghaus et al.: Zahlen. 3. Auflage. Springer, Berlin/Heidelberg 1992, ISBN 3-540-55654-0. Weblinks Jordi Gutierrez Hermoso: Nonstandard Analysis and the Hyperreals (englisch) Zahl
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Hermann Hesse
Hermann Karl Hesse, Pseudonym: Emil Sinclair (* 2. Juli 1877 in Calw; † 9. August 1962 in Montagnola, Schweiz; heimatberechtigt in Basel und Bern), war ein deutsch-schweizerischer Schriftsteller, Dichter und Maler. Bekanntheit erlangte er mit Prosawerken wie Siddhartha, Der Steppenwolf, Demian, Das Glasperlenspiel sowie Narziß und Goldmund und mit seinen Gedichten (z. B. Stufen). 1946 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen, 1954 wurde er in den Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste aufgenommen. Die meisten seiner Werke haben die Suche eines Menschen nach Authentizität, Selbsterkenntnis und Spiritualität zum Thema. Leben Kindheit und Jugend (1877–1895) Elternhaus Hermann Hesse stammte aus einer evangelischen Missionarsfamilie und wuchs in einer behüteten und intellektuellen Familienatmosphäre auf. Beide Eltern waren im Auftrag der Basler Mission in Indien tätig, wo Hesses Mutter, die Württembergerin Marie Gundert, auch geboren worden war. Sein Vater Johannes Hesse, Sohn des Kreisarztes und Staatsrates Carl Hermann Hesse sowie Enkel eines von Lübeck nach Estland ausgewanderten Kaufmanns, lebte in Weißenstein, Gouvernement Estland, im damaligen Russischen Kaiserreich; damit war auch Hermann von Geburt an russischer Staatsangehöriger. In Calw war Johannes Hesse ab 1873 Mitarbeiter des Calwer Verlagsvereins. Dessen Vorstand war sein Schwiegervater Hermann Gundert, dem er 1893 als Vorstand und Verlagsleiter folgte (bis 1905). Hermann Hesse hatte acht Geschwister, von denen drei im Kleinkindalter starben. Er wuchs mit den beiden mehrere Jahre älteren Halbbrüdern Theodore und Karl Isenberg auf, Kinder seiner Mutter mit ihrem verstorbenen ersten Ehemann Charles Isenberg. Die weiteren drei Vollgeschwister waren Adele, Marie „Marulla“ und Johannes „Hans“. Hermann Hesse war ein fantasievolles Kind mit ausdrucksstarkem Temperament. Schon früh machte sich sein Talent bemerkbar: Ihm mangelte es nicht an Gedicht-Ideen, und er zeichnete wunderbare Bilder. So schrieb seine Mutter am 2. August 1881 in einem Brief an seinen Vater Johannes Hesse: Die Welt, in der Hermann Hesse seine ersten Lebensjahre verbrachte, war einerseits vom Geist des schwäbischen Pietismus geprägt. Andererseits wurde seine Kindheit und Jugend begleitet durch das Baltentum seines Vaters, was Hermann Hesse als „eine wichtige und wirksame Tatsache“ bezeichnete. So war der Vater sowohl in Württemberg als auch in der Schweiz ein unangepasster Fremder, der nirgendwo Wurzeln schlug und „immer wie ein sehr höflicher, sehr fremder und einsamer, wenig verstandener Gast“ wirkte. Hinzu kam, dass die Familie auch mütterlicherseits der weitgehend internationalen Gemeinschaft der Missionsleute angehörte und dass seine aus dieser Linie stammende Großmutter Julie Gundert, geb. Dubois (1809–1885) als französischsprachige Schweizerin ebenfalls zeitlebens eine Fremde in der schwäbisch-kleinbürgerlichen Welt blieb. Erlebnisse und Begebenheiten aus seiner Kindheit und Jugend in Calw, die Atmosphäre und Abenteuer am Fluss, die Brücke, die Kapelle, die eng aneinander liegenden Häuser, versteckte Winkel und Ecken sowie die Bewohner mit all ihren liebenswerten Eigenarten oder Schrullen hat Hesse in seinen frühen Gerbersau-Erzählungen beschrieben und zum Leben erweckt. In Hesses Jugendzeit wurde diese Atmosphäre unter anderem noch stark von der alteingesessenen Zunft der Gerber geprägt. Auf der Nikolausbrücke, seinem Lieblingsort in Calw, hielt Hesse sich oft und gern auf. Daher ist 2002 dort die oben abgebildete, von Tassotti geschaffene lebensgroße Hesse-Skulptur aufgestellt worden. Ein mehr von innen her wirkendes Gegengewicht zum Pietismus war die immer wieder in den Erzählungen des Vaters Johannes Hesse aufleuchtende Welt Estlands. „Eine überaus heitere, bei aller Christlichkeit sehr lebensfrohe Welt […] nichts wünschten wir sehnlicher, als auch einmal dieses Estland […] zu sehen, wo das Leben so paradiesisch, so bunt und lustig war.“ Zudem stand Hermann Hesse die umfassende Bibliothek seines gelehrten Großvaters Hermann Gundert mit Werken der Weltliteratur zur Verfügung, die er sich intensiv erschloss. All diese Komponenten eines Weltbürgertums „waren die Grundlagen für eine Isolierung und für ein Gefeitsein gegen jeden Nationalismus, die in meinem Leben bestimmend gewesen sind“. Schulische Ausbildung 1881 zog die Familie für fünf Jahre nach Basel. Der Vater Johannes erwarb 1882 das Basler Bürgerrecht, wodurch die gesamte Familie zu Schweizer Staatsbürgern wurde. Wohnhaft waren sie in der Nähe der Schützenmatte; Hesse sprach später von den „Herrlichkeiten jener Wiese“ in seiner Kindheit. Ab 1885 war Hesse Schüler in der Internatsschule der Mission, genannt Knabenhaus. In der „Basler Mission“ unterrichtete Hermann Hesses Vater. Im Juli 1886 zog die Familie wieder nach Calw, wo Hesse zunächst in die zweite Klasse der Calwer Lateinschule (Reallyzeum) eintrat. Er wechselte 1890 auf die Lateinschule in Göppingen zur Vorbereitung auf das württembergische Landexamen, das Württembergern eine kostenlose Ausbildung zum Landesbeamten oder Pfarrer erlaubte. Deshalb erwarb der Vater im November 1890 für ihn als einziges Mitglied der Familie die württembergische Staatsangehörigkeit, wodurch er das Schweizer Bürgerrecht verlor. Nachdem er 1891 in Stuttgart das Landexamen bestanden hatte, besuchte er, für die Theologenlaufbahn bestimmt, das evangelisch-theologische Seminar im Kloster Maulbronn. In Maulbronn zeigte sich im März 1892 der „rebellische“ Charakter des Schülers: Er entwich aus dem Seminar, weil er „entweder ein Dichter oder gar nichts“ werden wollte, und wurde erst einen Tag später auf freiem Feld aufgegriffen. Nun begann, begleitet von heftigen Konflikten mit den Eltern, eine Odyssee durch verschiedene Anstalten und Schulen. Im Alter von 14 Jahren befand sich Hermann Hesse vermutlich in einer depressiven Phase und äußerte in einem Brief vom 20. März 1892 Suizidgedanken („Ich möchte hingehen wie das Abendrot“). Im Mai 1892 versuchte der Jugendliche einen Suizid mit einem Revolver in der vom Theologen und Seelsorger Christoph Friedrich Blumhardt geleiteten Anstalt Bad Boll. Im Anschluss daran wurde Hesse von seinen Eltern in die Nervenheilanstalt im damaligen Stetten im Remstal (der heutigen Diakonie Stetten e. V. in Kernen im Remstal) bei Stuttgart gebracht, wo er im Garten arbeiten und beim Unterrichten geistig behinderter Kinder helfen musste. Hier kulminierten pubertärer Trotz, Einsamkeit und das Gefühl, von seiner Familie unverstanden verstoßen zu sein. In dem berühmten anklagenden Brief vom 14. September 1892 an seinen Vater titulierte er diesen, nunmehr deutlich Abstand einnehmend, mit „Sehr geehrter Herr!“ – dies im Gegensatz zu früheren, zum Teil offenen, sehr mitteilsamen Briefen. Zudem versah er den Brieftext mit aggressiv-ironisierenden und sarkastischen Formulierungen. So wies er (zusätzlich zur eigenen Person) auch seinem Vater bereits im Vorfeld die Schuld an möglichen zukünftigen „Verbrechen“ zu, die er, Hermann, infolge seines Aufenthaltes in Stetten als „Welthasser“ begehen könnte. Schließlich unterzeichnete er als „H. Hesse, Gefangener im Zuchthaus zu Stetten“. Im Nachsatz fügte er hinzu: „Ich beginne mir Gedanken zu machen, wer in dieser Affaire schwachsinnig ist.“ Er fühlte sich von Gott, den Eltern und der Welt verlassen und sah hinter den starren pietistisch-religiösen Traditionen der Familie nur noch Scheinheiligkeit. Ab Ende 1892 konnte er das Gymnasium in Cannstatt besuchen. 1893 bestand er dort zwar das Einjährigen-Examen, brach aber die Schule ab. Lehre Nachdem er seiner ersten Buchhändlerlehre in Esslingen am Neckar nach drei Tagen entlaufen war, begann Hesse im Frühsommer 1894 für 14 Monate eine Mechanikerlehre in der Turmuhrenfabrik Perrot in Calw. Die monotone Arbeit des Lötens und Feilens bestärkte in ihm alsbald den Wunsch, sich wieder der Literatur und geistiger Auseinandersetzung zuzuwenden. Im Oktober 1895 war er bereit, eine neue Buchhändlerlehre in Tübingen zu beginnen und ernsthaft zu betreiben. Die Erfahrungen seiner Jugend hat er später in seinem Roman Unterm Rad verarbeitet. Der Weg zum Schriftsteller (1895–1904) Bereits als Zehnjähriger hatte sich Hesse mit einem Märchen versucht: Die beiden Brüder. Es wurde 1951 publiziert. Tübingen Hesse arbeitete ab dem 17. Oktober 1895 in der Buchhandlung und dem Antiquariat Heckenhauer in Tübingen. Der Schwerpunkt des Sortiments bestand aus Theologie, Philologie und Rechtswissenschaften. Seine Aufgaben als Lehrling umfassten das Überprüfen (Kollationieren), Verpacken, Sortieren und Archivieren der Bücher. Nach Ende der jeweils 12-stündigen Arbeitstage bildete Hesse sich privat weiter, Bücher kompensierten auch mangelnde soziale Kontakte an den langen, arbeitsfreien Sonntagen. Neben theologischen Schriften las Hesse insbesondere Goethe, später Lessing, Schiller und Texte zur griechischen Mythologie. 1896 wurde sein Gedicht Madonna in einer in Wien erschienenen Zeitschrift gedruckt, in späteren Ausgaben des Deutschen Dichterheims (Organ für Dichtkunst und Kritik) folgten weitere. Der Buchhändlerlehrling Hesse befreundete sich 1897 mit dem damaligen Jurastudenten und späteren Arzt und Schriftsteller Ludwig Finckh aus Reutlingen, der nach seinem Doktorexamen 1905 Hesse nach Gaienhofen folgen sollte. Nach Abschluss seiner Lehrzeit im Oktober 1898 blieb Hesse zunächst als Sortimentsgehilfe in der Buchhandlung Heckenhauer mit einem Einkommen, das ihm finanzielle Unabhängigkeit von den Eltern sicherte. Zu dieser Zeit las er insbesondere Werke der deutschen Romantik, allen voran Novalis, Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff und Ludwig Tieck. In Briefen an die Eltern bekundete er seine Überzeugung, dass „die Moral für Künstler durch die Ästhetik ersetzt wird“. Noch als Buchhändler veröffentlichte Hesse im Herbst 1898 sein erstes Buch, den kleinen Gedichtband Romantische Lieder, und im Sommer 1899 die Prosasammlung Eine Stunde hinter Mitternacht. Beide Werke wurden ein geschäftlicher Misserfolg. Von den Romantischen Liedern wurden innerhalb von zwei Jahren nur 54 Exemplare der Gesamtauflage von 600 verkauft, auch Eine Stunde hinter Mitternacht wurde nur in einer Auflage von 600 Exemplaren gedruckt und verkaufte sich schleppend. Der Leipziger Verleger Eugen Diederichs war jedoch von der literarischen Qualität der Werke überzeugt und sah die Veröffentlichung schon von Anbeginn mehr als Förderung des jungen Autors denn als lohnendes Geschäft. Basel Ab Herbst 1899 arbeitete Hesse in der Reich’schen Buchhandlung, einem angesehenen Antiquariat in Basel. Da seine Eltern engen Kontakt zu Basler Gelehrtenfamilien pflegten, öffnete sich ihm hier ein geistig-künstlerischer Kosmos mit den reichsten Anregungen. Gleichzeitig bot Basel dem Einzelgänger auch viele Rückzugsmöglichkeiten in privates Erleben bei größeren Fahrten und Wanderungen, die der künstlerischen Selbsterforschung dienten und auf denen er die Fähigkeit, sinnliches Erleben schriftlich niederzulegen, stets neu erprobte. 1900 wurde Hesse wegen seiner Sehschwäche vom Militärdienst befreit. Das Augenleiden hielt zeitlebens an, ebenso wie Nerven- und Kopfschmerzen. Im selben Jahr erschien sein Buch Hermann Lauscher – zunächst unter einem Pseudonym. Hesse verband eine herzliche Beziehung zu dem in Riehen wohnenden Rudolf Wackernagel und dessen Frau. Nachdem Hesse Ende Januar 1901 seine Stellung in der Buchhandlung R. Reich gekündigt hatte, konnte er sich einen großen Traum erfüllen und erstmals nach Italien reisen, wo er sich vom März bis Mai in den Städten Mailand, Genua, Florenz, Bologna, Ravenna, Padua und Venedig aufhielt. Im August desselben Jahres wechselte er zu einem neuen Arbeitgeber, dem Antiquar Wattenwyl in Basel. Zugleich boten sich ihm immer mehr Gelegenheiten, Gedichte und kleine literarische Texte in Zeitschriften zu veröffentlichen. Nun trugen auch Honorare aus diesen Veröffentlichungen zu seinem Einkommen bei. Richard von Schaukal machte 1902 Hesse als Autor des Lauscher publik. 1902 lernte Hesse die neun Jahre ältere Basler Fotografin Maria Bernoulli, genannt „Mia“, kennen. Gemeinsam reisten sie nach Italien (zweite Italienreise) und heirateten 1904. Zu den ersten Veröffentlichungen gehören die Romane Peter Camenzind (1904) und Unterm Rad (1906), in denen Hesse jenen Konflikt von Geist und Natur thematisierte, der später sein gesamtes Werk durchziehen sollte. Mit dem zivilisationskritischen Entwicklungsroman Peter Camenzind, der erstmals 1903 als Vorabdruck und 1904 regulär beim Verlag S. Fischer erschien, gelang ihm der literarische Durchbruch. Dieser Erfolg erlaubte es ihm zu heiraten und sich als freier Schriftsteller am Bodensee niederzulassen. 1930 hielt sich Hesse zum letzten Mal in Basel auf. Zwischen Bodensee, Indien und Bern (1904–1914) Im August 1904 heiratete Hesse die selbstständige Basler Fotografin Maria Bernoulli (1868–1963), die aus der weitverzweigten Familie der Bernoulli stammte. Aus dieser Ehe gingen die drei Söhne Bruno (1905–1999, Kunstmaler, Grafiker), Hans Heinrich (genannt Heiner, 1909–2003, Dekorateur) und Martin (1911–1968, Fotograf) hervor. Ganz im Sinne der Lebensreform zogen er und Maria in das damals sehr abgelegene badische Dörfchen Gaienhofen am Bodensee und mieteten ein einfaches Bauernhaus ohne fließendes Wasser und Strom, in dem sie drei Jahre lebten. 1907 ließen sie sich von dem befreundeten Basler Architekten Hans Hindermann im Ort ein Landhaus im Reformstil bauen, das noch im selben Jahr bezogen werden konnte. Dort legten sie einen großen Garten zur Selbstversorgung an. Hesse ging häufig allein auf Reisen, derweil Maria mit den Kindern weiter das große Haus mit Garten bewohnte. In Gaienhofen lernte Hesse durch den Konstanzer Zahnarzt und Komponisten Alfred Schlenker (1876–1950) dessen Freunde Othmar Schoeck, Volkmar Andreae und Fritz Brun kennen. 1906 schuf Eduard Zimmermann für Hesse eine Büste. 1906 wurde er zum Mitherausgeber der bei Albert Langen erscheinenden Zeitschrift März, bei der er bis 1912 blieb. Ebenfalls 1906 erschien Hesses zweiter Roman Unterm Rad. Hesse verarbeitete darin seine Erfahrungen aus der Schul- und Ausbildungszeit. Im April 1907 hielt Hesse sich zur Kur in Locarno und als Gast in der Lebensreform-Kolonie auf dem Monte Verità bei Ascona auf. Von seinem Einsiedlerdasein in der Felsgrotte seines Freundes Gusto Gräser im Wald von Arcegno berichten die Erzählungen In den Felsen, Freunde und die Legenden aus der Thebais. Nach seiner Rückkehr aus Ascona versuchte er sich dem bürgerlichen Leben wieder anzupassen. Sein nächster Roman Gertrud von 1910 zeigte Hesse jedoch in einer Schaffenskrise – er hatte schwer mit diesem Werk zu kämpfen, in späteren Jahren hat er es als misslungen betrachtet. Mit Fritz Brun und einigen anderen Schweizer Freunden unternahm Hesse im April/Mai 1911 eine Umbrienreise. Hesse war auch mit Ernst Morgenthaler befreundet, der ihn porträtierte, sowie mit Wilhelm Schäfer, der ihm 1912 das Buch Karl Stauffers Lebensgang – Eine Chronik der Leidenschaft widmete. In Hesses Ehe hatten sich seit 1910 die Dissonanzen vermehrt. Um in seiner Schaffenskrise Abstand zu gewinnen, brach Hesse mit Hans Sturzenegger 1911 zu einer großen Reise nach Ceylon und Indien auf. Die erhoffte spirituell-religiöse Inspiration fand er dort nicht, dennoch beeinflusste die Reise sein weiteres literarisches Werk stark und schlug sich 1913 zunächst in der Veröffentlichung Aus Indien nieder. Dabei war er auf seiner Reise nie in Indien. Er besuchte im von Großbritannien kolonialisierten Ceylon Colombo, Kandy, naheliegende Tempel sowie den Berg Pidurutalagala und Indonesien, das von den Niederlanden kolonialisiert war. Nach Hesses Rückkehr aus Asien verkaufte er 1912 sein Haus in Gaienhofen. Die Familie zog im Spätsommer in ein altes Landhaus am Stadtrand von Bern um; vor Hesse hatte sein Freund Albert Welti es gemietet. Doch auch dieser Ortswechsel konnte die Eheprobleme nicht lösen, wie Hesse 1914 in seinem Roman Roßhalde schilderte. Psychische Krisen bei beiden – Maria Bernoulli wurde 1919 im Sanatorium von Theodor Brunner in Küsnacht behandelt – führten später zu einem endgültigen Auseinanderleben und 1923 zur Scheidung. Nach der Trennung der Eltern (1919) wurden die Kinder verteilt. Bruno wurde, als 15-Jähriger, von seinem Vater bei der Malerfamilie Cuno Amiet in Pflege gegeben. Heiner blieb bei seiner Mutter, während Martin als Pflegekind zur Familie Ringier in Kirchdorf kam. Als seinen „besten und treuesten Freund“ während seiner Berner Jahre bezeichnete Hesse den Forstwissenschaftler Walter Schädelin. Umbruch durch den Ersten Weltkrieg (1914–1919) Kriegsgefangenenfürsorge Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 meldete sich Hesse, zu diesem Zeitpunkt noch ein Verfechter der sogenannten „Ideen von 1914“, als Kriegsfreiwilliger bei der deutschen Botschaft. Er wurde jedoch für untauglich befunden und der deutschen Botschaft in Bern zugeteilt, wo er die „Bücherzentrale für deutsche Kriegsgefangene“ aufbaute, welche in ausländischen Lagern internierte Soldaten über die deutsche Kriegsgefangenenfürsorge bis 1919 mit Lektüre versorgte. In diesem Rahmen war Hesse fortan damit beschäftigt, für deutsche Kriegsgefangene Bücher zu sammeln und zu verschicken. In dieser Zeit war er Mitherausgeber der Deutschen Interniertenzeitung (1916/17), Herausgeber des Sonntagsboten für die deutschen Kriegsgefangenen (1916–1919) und zuständig für die „Bücherei für deutsche Kriegsgefangene“. Politische Auseinandersetzungen Am 3. November 1914 veröffentlichte er in der Neuen Zürcher Zeitung den Aufsatz O Freunde, nicht diese Töne, in dem er an die deutschen Intellektuellen appellierte, nicht in nationalistische Polemik zu verfallen. Was darauf folgte, bezeichnete Hesse später als eine große Wende in seinem Leben: Erstmals fand er sich inmitten einer heftigen politischen Auseinandersetzung wieder, die deutsche Presse attackierte ihn, Hassbriefe gingen bei ihm ein, und alte Freunde sagten sich von ihm los. Zustimmung erhielt er weiterhin von seinem Freund Theodor Heuss, dem späteren ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, aber auch von dem französischen Schriftsteller Romain Rolland, der Hesse im August 1915 besuchte. Familiäre Schicksalsschläge Diese Konflikte mit der deutschen Öffentlichkeit waren noch nicht abgeklungen, als Hesse durch eine Folge von Schicksalsschlägen in eine noch tiefere Lebenskrise gestürzt wurde: Tod seines Vaters am 8. März 1916, die schwere Erkrankung (Hirnhautentzündung) seines zu jener Zeit dreijährigen Sohnes Martin und die zerbrechende Ehe mit Maria Bernoulli. Hesse musste seinen Dienst bei der Gefangenenfürsorge unterbrechen und sich in psychiatrische Behandlung begeben, während derer er auch erste Erfahrungen mit der Psychoanalyse machte. Er erwog ernsthaft, den „Bruch mit Heimat, Stellung, Familie“ zu riskieren und nach Ascona zu ziehen, wo er sich von Gustav Gamper ein Häuschen besorgen ließ. Kriegsgegner und Aussteiger Durch die Erfahrung des Weltkriegs war Hesse zum entschiedenen Kriegsgegner und Befürworter der Verweigerung geworden. Im September/Oktober 1917 verfasste Hesse in einem dreiwöchigen Arbeitsrausch seinen Roman Demian, im zweiten Teil ein Niederschlag seiner Zeit auf dem Monte Verità. Das Buch wurde nach Kriegsende 1919 unter dem Pseudonym Emil Sinclair veröffentlicht, „um die Jugend nicht durch den bekannten Namen eines alten Onkels abzuschrecken“. Aber auch, wie Hesse in einem Brief an Eduard Korrodi schrieb, weil „der diese Dichtung schrieb, […] nicht Hesse“ war, „der Autor soundsovieler Bücher, sondern ein anderer Mensch, der Neues erlebt hatte und Neuem entgegenging“. Als Zeitzeuge äußerte sich Thomas Mann: „Unvergesslich ist die elektrisierende Wirkung“ des Demian, „eine Dichtung, die mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit traf und eine Jugend, die wähnte, aus ihrer Mitte sei ihr ein Künder ihres tiefsten Lebens entstanden (während es ein schon Zweiundvierzigjähriger war, der ihnen gab, was sie brauchte), zu dankbarem Entzücken hinriß“. 1918 wurde Hermann Hesses Vetter, der Pastor Carl Immanuel Philipp Hesse, als ziviles Opfer des Estnischen Freiheitskrieges getötet. Hesse engagierte sich für die Emigranten, die er großzügig unterstützte. Durch seine und Albert Ehrensteins Interventionen wurde während des Zweiten Weltkrieges die Ausweisung von Eduard Claudius verhindert. Neue Heimat im Tessin (1919–1962) Casa Camuzzi Als Hesse 1919 sein ziviles Leben wieder aufnehmen konnte, war seine Ehe zerrüttet. Seine Frau Mia (Maria) war im Herbst 1918 nach Ascona geflüchtet, wo ihre Depression voll zum Ausbruch kam. Aber auch nach ihrer Heilung sah Hesse keine gemeinsame Zukunft mit ihr. Die Wohnung in Bern wurde aufgelöst, und die drei Jungen wurden zwischenzeitlich bei Freunden untergebracht, der älteste Sohn Bruno bei seinem Malerfreund Cuno Amiet. Die Erfahrung und bedrückende Last, seine Familie verlassen zu haben, verarbeitete Hesse in seiner 1919 erschienenen Erzählung Klein und Wagner über den Beamten Klein, der aus Furcht, wahnsinnig zu werden und ebenso wie der Lehrer Wagner seine Familie umzubringen, aus seinem bürgerlichen Leben ausbricht und nach Italien flieht. Hesse siedelte Mitte April 1919 allein ins Tessin um. Er bewohnte zunächst ein kleines Bauernhaus am Ortseingang von Minusio bei Locarno und zog dann am 25. April nach Sorengo oberhalb des Muzzaner Sees in eine einfache Unterkunft weiter, die ihm von seinem Musikerfreund Volkmar Andreae, mit dem er seit etwa 1905 befreundet war, vermittelt worden war. Doch anschließend mietete er am 11. Mai 1919 in Montagnola, einem höher gelegenen Dorf südwestlich und nur unweit von Lugano, vier kleine Räume in einem schlossartigen Gebäude, der „Casa Camuzzi“, die sich im 19. Jahrhundert einer der Tessiner Baumeister in Gestalt eines neobarocken Palazzos errichtet hatte. Von dieser Hanglage aus („Klingsors Balkon“) und oberhalb des dichtbewachsenen Waldgrundstückes überblickte Hesse nach Osten den Luganersee mit den gegenüberliegenden Hängen und Bergen auf italienischer Seite. Die neue Lebenssituation und die Lage des Gebäudes inspirierten Hesse nicht nur zu neuer schriftstellerischer Tätigkeit, sondern als Ausgleich und Ergänzung auch zu weiteren Zeichenskizzen und Aquarellen, was sich in seiner nächsten großen Erzählung Klingsors letzter Sommer von 1920 deutlich niederschlug. Im Dezember 1920 lernte Hesse, ebenfalls im Tessin, Hugo Ball und dessen Gattin Emmy Hennings kennen. 1922 erschien Hesses Indien-Roman Siddhartha. Hierin kam seine Liebe zur indischen Kultur und zu asiatischen Weisheitslehren zum Ausdruck, die er schon in seinem Elternhaus kennengelernt hatte. Hesse gab der Hauptfigur seiner „indischen Dichtung“ den Vornamen des historischen Buddhas, Siddhartha. Seine damalige Geliebte Ruth Wenger (1897–1994) inspirierte ihn zu der Romanfigur der Kamala, die in dieser indischen Dichtung den Siddhartha die Liebe lehrt. Henry Miller urteilte: „Ein Buch, dessen Tiefe in der kunstvoll einfachen und klaren Sprache verborgen liegt, einer Klarheit, die vermutlich die geistige Erstarrung jener literarischen Philister aus dem Konzept bringt, die immer so genau wissen, was gute und was schlechte Literatur ist. Einen Buddha zu schaffen, der den allgemein anerkannten Buddha übertrifft, das ist eine unerhörte Tat, gerade für einen Deutschen. Siddhartha ist für mich eine wirksamere Medizin als das Neue Testament.“ Hesse erhielt im Mai 1924 das Bürgerrecht der Stadt Bern und damit zum zweiten Mal die Schweizer Staatsbürgerschaft. Dabei gab er die württembergische Staatsbürgerschaft wieder ab, die er 1890 im Hinblick auf das bevorstehende Landexamen in Göppingen erworben hatte. Nach der Scheidung von seiner ersten Frau Maria heiratete Hesse am 11. Januar 1924 schließlich Ruth Wenger, die Tochter der Schweizer Schriftstellerin Lisa Wenger. Diese zweite Ehe Hesses war jedoch trotz erotischer Anziehung und ähnlicher kultureller Interessen von Anfang an aufgrund vollständig unterschiedlicher Lebensbedürfnisse und Zielrichtungen zum Scheitern verurteilt und wurde auf Wunsch seiner Frau, die im Sommer 1926 ein kurzes Liebesverhältnis mit dem Maler Karl Hofer eingegangen war, am 24. April 1927 geschieden. Ruth Wengers Enkel, der Regisseur Leander Haußmann, äußert sich in einem Interview 2022 dazu folgendermaßen: „Die Ehe blieb kinderlos - falls sie überhaupt je vollzogen wurde. Meine Oma ließ sich jedenfalls scheiden, weil Hesse nie mit ihr schlief.“ Seine nächsten größeren Werke, Kurgast von 1925 und Die Nürnberger Reise von 1927, sind autobiografische Erzählungen mit ironischem Unterton. In ihnen kündigt sich bereits der erfolgreichste Roman Hesses an, Der Steppenwolf von 1927, der sich für ihn als „ein angstvoller Warnruf“ vor dem kommenden Weltkrieg darstellte und in der damaligen deutschen Öffentlichkeit entsprechend geschulmeistert oder belächelt wurde. Zu seinem 50. Geburtstag, den er in demselben Jahr feierte, wurde auch die erste Hesse-Biografie von seinem Freund Hugo Ball veröffentlicht. Schon kurz nach dem neuen Erfolgsroman erlebte Hesse eine Wende durch die Beziehung zu Ninon Dolbin geb. Ausländer (1895–1966), seiner späteren – dritten – Ehefrau, die aus Czernowitz in der Bukowina stammte. Sie war Kunsthistorikerin und hatte bereits als 14-jährige Schülerin eine konstante briefliche Verbindung mit ihm aufgenommen. Mit Dolbin verbrachte er 1928 und 1929 ausgedehnte Winterferien in Arosa, wo er auch Hans Roelli kennenlernte. 1928 unternahm Hesse Reisen nach Ulm, Heilbronn, Würzburg (22. März), Darmstadt und Berlin. 1930 erschien die Erzählung Narziß und Goldmund. Hermann Hesse hat zudem jeder seiner drei Ehefrauen ein Märchen gewidmet: seiner ersten Frau Mia das Märchen Iris (1916), Piktors Verwandlungen (1922) Ruth Wenger, und kurz nach der Heirat mit Ninon Dolbin entstand im März 1933 sein letztes und sehr autobiografisches Märchen Vogel, gleichlautend mit dem Namen, mit dem er private Zettel und Briefe an Ninon unterschrieb und mit dem sie ihn oft anredete. Casa Hesse (Casa Rossa) Im Jahre 1931 verließ Hesse die Mietwohnung in der Casa Camuzzi und zog mit seiner neuen Lebensgefährtin, mit der er am 14. November seine dritte Ehe einging, in ein größeres Haus, die Casa Hesse, wegen des rötlichen Außenanstrichs auch Casa Rossa genannt. Das Gebäude war nach Hesses Wünschen erbaut worden, finanziert von seinem Freund Hans Conrad Bodmer. Das Grundstück lag oberhalb und am Südende von Montagnola, in Sichtweite der Casa Camuzzi und nur zehn Fußminuten von dieser entfernt. Das Grundstück und das Gebäude wurden Hesse dauerhaft von Bodmer zur Verfügung gestellt, nach seinem Tod auch Ninon auf Lebenszeit. Vom Schulzentrum am zentralen Ortsparkplatz von Montagnola führt der Weg vorbei am hinter der Schule gelegenen Spielplatz zu dem darüber liegenden schmiedeeisernen Gartenportal des Hauses an der Via Hermann Hesse. Der Weg führt in leichtem Anstieg parallel zum Hang ins Grundstück, auf dessen exponiertester Stelle eine Art Doppelhaus zweigeschossig errichtet wurde. Jeder der beiden Teile verfügt über einen separaten Zugang mit eigenem Treppenhaus; im Erd- und Obergeschoss sind beide Teile sowohl über die Flure als auch über aneinanderliegende Räume miteinander verbunden. Aus Gründen des Tagesrhythmus, aber auch aus arbeitsorganisatorischen Gründen und Gründen der unterschiedlichen Nutzung legten Hesse und seine Frau Wert auf eine gewisse Trennung der Räume: Den größeren, südwestlichen Teil mit Küche, Essraum, Bibliothek, Gastraum, Schlafraum (N.), Bad (N.) und Nebenräumen nutzte vorwiegend Ninon; der nordöstliche Abschnitt war Hermann Hesses Wirkungsbereich mit Atelier, Arbeitsraum, Schlafraum (H.), Bad (H.) und Nebenbereichen. Die Bibliothek im Erdgeschoss diente beiden als Empfangsraum für eine Vielzahl von Gästen, zugleich als Wohn-, Lesungs- und Musikraum mit weitem Ausblick auf den südöstlich gelegenen Monte Generoso, und hatte eine direkte Verbindung zum Atelier. Das nordöstlich an die Bibliothek anschließende Atelier war der Multifunktionsraum des Hauses, in dem Hesse seine umfangreiche Korrespondenz mit Schreibmaschine führte, sodann fungierte es als Lager für Verpackungsmaterial für zahlreichen Post- und Büchersendungen, die Hesse selbst versandfertig machte. In diesem Raum ging er aber auch seinem Hobby nach, der Aquarellmalerei, wenn er nicht vor der Natur malte, was meist geschah. Er bewahrte dort Mal- und Kunstutensilien wie auch weitere Buchbestände auf. Seinen Arbeitsbereich im Obergeschoss mit besonderen Büchern hielt Hesse allerdings im Allgemeinen vor Gästen verborgen und wollte dort auch nicht durch Familienangehörige gestört werden. Ähnlich wie in der Casa Camuzzi hatte Hesse von hier den nach Nordosten gerichteten, weiten Blick über den Luganersee in das östliche Seetal bis auf italienische Hänge und Gebirgszüge. Viele seiner Aquarelle legen Zeugnis ab von diesem Haus, seinem Garten, der näheren und weiteren Umgebung und den umfassenden Ausblicken in die Tessiner und lombardische Landschaft. Hesse empfing hier zahlreiche Gäste, so seine Verleger Samuel Fischer, Gottfried Bermann Fischer, Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld. Nicht nur Thomas Mann, sondern auch die Familie Mann war mehrfach zu Besuch. Freundschaften wie die mit Romain Rolland wurden hier vertieft, und Schriftstellerkollegen wie Bertolt Brecht, Max Brod, Martin Buber, Hans Carossa, André Gide, Annette Kolb, Jakob Wassermann und Stefan Zweig fanden ihren Weg nach Montagnola. Darüber hinaus hatte Hermann Hesse zeitweise einen intensiveren Bezug zu Musikern wie Adolf Busch, Edwin Fischer, Eugen d’Albert, zu dem mit ihm befreundeten Theodor W. Adorno und besonders freundschaftlich zu dem von ihm verehrten Komponisten Othmar Schoeck, von dem (als einzigem) Hesse das Gefühl hatte, dass dieser seine Gedichte wirklich adäquat vertonte. Hesse selbst hatte ein intensives Verhältnis zur Musik, das unter anderem in seinen Gedichten ersichtlich ist, aber auch in Prosawerken wie Das Glasperlenspiel, Steppenwolf und Gertrud thematisiert ist. Zwei Jahre später, nachdem Hesse aus der Casa Camuzzi in die Casa Rossa gezogen war, besuchte im April 1933 der junge Gunter Böhmer Hermann Hesse und richtete sich in der Casa Camuzzi ein. Zehn Jahre später, 1943, siedelte der Maler Hans Purrmann, Schüler von Henri Matisse, nach Montagnola über und zog einige Zeit später ebenfalls in die Casa Camuzzi. Mit beiden Malern und Zeichnern verband Hesse eine ihn beglückende Künstlerfreundschaft. Böhmer unterstützte Hesse bei dessen Bemühungen, sich künstlerische Techniken und die Gesetze unterschiedlicher Perspektivdarstellungen anzueignen. Die ehemalige Casa Hesse fiel nach Hesses und Ninons Tod an die Bodmer-Familie zurück. Sie wurde veräußert, farblich und auf der rückwärtigen Terrassenseite durch den neuen Eigner auch baulich umgestaltet. Sie befindet sich heute (Stand 2006) in Privatbesitz und kann nicht besichtigt werden. Ein Weg, in Verlängerung der Via Hermann Hesse unterhalb des Grundstückes, gestattet einen Blick auf die Südseite des Wohnhauses und des Hanges, der Hesse zu einer Reihe von Schilderungen über seine gärtnerischen Tätigkeiten anregte. Der Glasperlenspieler Im Jahr 1931 begann er mit den Entwürfen zu seinem letzten großen Werk, welches den Titel Das Glasperlenspiel tragen sollte. 1932 veröffentlichte er als Vorstufe dazu die Erzählung Die Morgenlandfahrt. Beider Grundthema ist die Jüngerschaft zu einem Freund und Meister – genannt Leo oder Musikmeister, Regenmacher, Yogin oder Beichtvater –, den der Ich-Erzähler verlässt und zu dem er reumütig, als „Knecht“, zurückkehren möchte. Hesses politische Haltung in dieser Zeit war stark von einem zivilisationskritischen Kulturpessimismus geprägt: Die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland beobachtete Hesse mit großer Sorge. Bertolt Brecht und Thomas Mann machten 1933 auf ihren Reisen ins Exil jeweils bei Hesse Station. In der Ablehnung des Nationalsozialismus waren Mann und Hesse geeint und fühlten sich trotz sehr unterschiedlicher Ausprägung ihrer Persönlichkeiten in bestimmten Grundlinien ihrer freundschaftlichen Beziehung bis zum Schluss verbunden. Zwischen Hesse und Brecht, die über die Bücherverbrennungen jenes Jahres in Deutschland sprachen, bestand diese Art der Verbindung nicht. Hesse versuchte auf seine Weise, der Entwicklung in Deutschland gegenzusteuern: Er hatte schon seit Jahrzehnten in der deutschen Presse Buchrezensionen publiziert – nun sprach er sich darin verstärkt für jüdische und andere von den Nationalsozialisten verfolgte Autoren aus. Ab Mitte der 1930er Jahre wagte keine deutsche Zeitung mehr, Artikel von Hesse zu veröffentlichen. Hesse trat nicht offen gegen das NS-Regime auf, sein Werk wurde auch nicht offiziell verboten oder „verbrannt“, dennoch war es seit 1936 „unerwünscht“. Trotz Einschränkungen gab es aber immer wieder Neuauflagen. Die Suhrkamp Verlag KG Berlin konnte noch 1943 den Knulp neu auflegen. Hesses geistige Zuflucht vor den politischen Auseinandersetzungen und später vor den Schreckensmeldungen des Zweiten Weltkriegs war die Arbeit an seinem Roman Das Glasperlenspiel, der 1943 in der Schweiz gedruckt wurde. Nicht zuletzt für dieses Spätwerk wurde ihm 1946 der Nobelpreis für Literatur verliehen: „für seine inspirierten Werke, die mit zunehmender Kühnheit und Tiefe die klassischen Ideale des Humanismus und hohe Stilkunst verkörpern“ (Begründung der Schwedischen Akademie, Stockholm). Korrespondenz Nach dem Zweiten Weltkrieg ging Hesses literarische Produktivität zurück: Er schrieb noch Erzählungen und Gedichte, aber keinen Roman mehr. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit verlagerte sich zunehmend auf seine immer umfangreicher werdende Korrespondenz. Schon seit den 1920er Jahren pflegte Hesse in seiner Korrespondenz ein sich ständig vergrößerndes Netzwerk aus Freunden, Briefpartnern und Gönnern, die ihn und seine Kriegsgefangenenfürsorge während der schwierigen Kriegsjahre immer wieder durch finanzielle und materielle Zuwendungen im Tausch gegen handgeschriebene und illustrierte Gedichte, Aquarelle oder Sonderdrucke materiell unterstützten. Dazu kamen außerdem noch die Briefe seiner Bewunderer. Nach Untersuchungen seiner Söhne Bruno und Heiner Hesse sowie des Hesse-Editionsarchives in Offenbach hat Hesse ca. 35.000 Briefe erhalten. Da er absichtlich ohne Sekretariat arbeitete, beantwortete er einen sehr großen Teil dieser Post persönlich; 17.000 dieser Antwortbriefe sind ermittelt. Als ausgeprägter Individualist empfand er diese Vorgehensweise als moralische Verpflichtung. Diese tägliche Inanspruchnahme durch einen stetigen Strom von Briefen war der Preis dafür, dass er seinen wiedererwachten Ruhm bei einer neuen Generation deutscher Leser miterleben konnte, die sich von dem „weisen Alten“ in Montagnola Lebenshilfe und Orientierung, aber auch finanzielle Unterstützung erhofften. Zu ähnlichen Anfragen nach seinem Befinden, seinem Tagesablauf oder seinen Beobachtungen bei Ereignissen, die von allgemeinerem Interesse waren, arbeitete er allerdings längere Betrachtungen aus, die er als Rundbriefe versandte (s. u. Literaturübersicht). Tod Im Dezember 1961 erkrankte Hermann Hesse an einer Grippe, von der er sich nur schwer erholte. Er hatte schon seit Längerem, ohne es zu wissen, Leukämie; im Spital von Bellinzona wurde er mit Bluttransfusionen behandelt. Hesse verstarb in der Nacht zum 9. August 1962 im Schlaf an einem Schlaganfall. Seine Frau, die erst wartete, dass er zum Frühstück komme, fand ihn schließlich leblos in seiner üblichen Schlafstellung. Der alarmierte Hausarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Zwei Tage später wurde er im Kreis seiner Familie und Freunde auf dem Friedhof Sant’Abbondio in Gentilino beigesetzt, auf dem sich auch die Gräber von Emmy und Hugo Ball befinden. Den Grabstein hat Hans Jakob Meyer gestaltet. In seinem letzten Gedicht Knarren eines geknickten Astes, niedergeschrieben in der letzten Lebenswoche in drei Fassungen, schuf er ein Sinnbild für den nahenden Tod. Staatsbürgerschaft Als Sohn einer württembergischen Missionarstochter und eines deutsch-baltischen Missionars war Hesse durch Geburt Staatsbürger des Russischen Kaiserreichs. Von 1883 bis 1890 und erneut ab 1924 besaß er das Bürgerrecht der Schweiz, dazwischen war er württembergischer Staatsbürger. Weitere Darstellungen Hesses in der bildenden Kunst Hanfried Schulz: Porträt Hermann Hesse (Holzschnitt, 1960, 56 × 35 cm) Literarische Bedeutung Hesses frühe Werke standen noch in der Tradition des 19. Jahrhunderts: Seine Lyrik ist ganz der Romantik verpflichtet, ebenso Sprache und Stil des Peter Camenzind, eines Buches, das vom Autor als Bildungsroman in der Nachfolge des Kellerschen Grünen Heinrich verstanden wurde. Inhaltlich wandte sich Hesse gegen die wachsende Industrialisierung und Verstädterung, womit er eine Tendenz der Lebensreform und der Jugendbewegung aufgriff. Diese neoromantische Haltung in Form und Inhalt wurde von Hesse später aufgegeben. Die antithetische Struktur des Peter Camenzind, die sich an der Gegenüberstellung von Stadt und Land und an dem Gegensatz männlich–weiblich zeigt, ist hingegen auch in den späteren Hauptwerken Hesses (z. B. im Demian und im Steppenwolf) noch zu finden. Die Bekanntschaft mit der Archetypenlehre des Psychologen Carl Gustav Jung hatte einen entscheidenden Einfluss auf Hesses Werk, der sich zuerst in der Erzählung Demian zeigte. Der ältere Freund oder Meister, der einem jungen Menschen den Weg zu sich selbst öffnet, wurde eines seiner zentralen Themen. Die Tradition des Bildungsromans ist auch im Demian noch zu finden, aber in diesem Werk (wie auch im Steppenwolf) spielt sich die Handlung nicht mehr auf der realen Ebene ab, sondern in einer inneren „Seelen-Landschaft“. Ein weiterer wesentlicher Aspekt in Hesses Werk ist die Spiritualität, die sich vor allem (aber nicht nur) in der Erzählung Siddhartha finden lässt. Indische Weisheitslehren, der Taoismus und christliche Mystik bilden seinen Hintergrund. Die Haupttendenz, wonach der Weg zur Weisheit über das Individuum führt, ist jedoch ein typisch westlicher Ansatz, der keiner asiatischen Lehre direkt entspricht, auch wenn durchaus Parallelen im Theravada-Buddhismus zu finden sind. Hesse hat sich auch kritisch mit dem eigenen Werk auseinandergesetzt. So meinte er im Zusammenhang mit dem Siddhartha mit Blick auf seine esoterischen Perspektiven: „Ich machte damals – nicht zum ersten Mal natürlich, aber härter als jemals – die Erfahrung, dass es unsinnig ist, etwas schreiben zu wollen, was man nicht gelebt hat [...].“ Alle Werke Hesses enthalten eine stark autobiografische Komponente. Besonders offensichtlich ist sie im Demian, in der Morgenlandfahrt, aber auch in Klein und Wagner und nicht zuletzt im Steppenwolf, der geradezu exemplarisch für den „Roman der Lebenskrise“ stehen kann. Im Spätwerk tritt diese Komponente noch deutlicher hervor – in den zusammengehörigen Werken Die Morgenlandfahrt und Das Glasperlenspiel verdichtete Hesse in mehrfachen Variationen sein Grundthema: die Beziehung zwischen einem Jüngeren und seinem älteren Freund oder Meister. Vor dem historischen Hintergrund der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland zeichnete Hesse im Glasperlenspiel eine Utopie der Humanität und des Geistes, zugleich schrieb er aber auch wieder einen Bildungsroman. Beide Elemente halten sich in einem dialektischen Wechselspiel die Waage. Nicht zuletzt setzte Hesse mit etwa 3000 Buchrezensionen, die er im Laufe seines Lebens für 60 verschiedene Zeitungen und Zeitschriften verfasste, in jener Zeit Qualitätsmaßstäbe, die im Bereich der Vermittlung, Förderung und behutsamer Kritik ihresgleichen suchten. Grundsätzlich rezensierte er keine Literatur, die ihm nach seinen Maßstäben als schlecht erschien. Wie Thomas Mann, so hat sich auch Hesse intensiv mit dem Werk Goethes auseinandergesetzt. Die Bandbreite seiner Rezensionen erstreckte sich von kleineren Erzählbänden bislang unbekannter Autoren bis hin zu philosophischen Kernwerken aus dem asiatischen Kulturraum. Diese asiatischen Zentralwerke haben in der Gegenwart immer noch Bestand, doch wurden sie bereits von Hesse etliche Jahrzehnte früher entdeckt und erschlossen, bevor sie in den 1970er Jahren zum literarisch-philosophischen und geistigen Allgemeingut auch der westlichen Hemisphäre wurden. Homoerotische Elemente in seinem Werk wurden in der Literaturwissenschaft verschiedentlich thematisiert. Rezeption Hesses Frühwerk wurde von der zeitgenössischen Literaturkritik überwiegend positiv beurteilt. Die Hesse-Rezeption im Deutschland der beiden Weltkriege war infolge seiner Antikriegs- und antinationalistischen Äußerungen stark durch die Pressekampagnen gegen den Autor geprägt. Nach beiden Weltkriegen deckte Hesse bei einem Teil der Bevölkerung, insbesondere der jeweils herangewachsenen jüngeren Generation, das Bedürfnis nach geistiger und zum Teil moralischer Neuorientierung ab. „Wiederentdeckt“ wurde er zu einem überwiegenden Teil daher erst weit nach 1945. Gut zehn Jahre nachdem Hesse der Nobelpreis für Literatur verliehen worden war, schrieb Karlheinz Deschner 1957 in seiner Streitschrift Kitsch, Konvention und Kunst: „Daß Hesse so vernichtend viele völlig niveaulose Verse veröffentlicht hat, ist eine bedauerliche Disziplinlosigkeit, eine literarische Barbarei“; auch in Bezug auf Hesses Prosa kam Deschner zu keinem günstigeren Urteil. In den folgenden Jahrzehnten schlossen sich Teile der deutschen Literaturkritik dieser Beurteilung an, Hesse wurde von manchen als Produzent epigonaler und kitschiger Literatur qualifiziert. So ähnelt die Hesse-Rezeption einer Pendelbewegung: Kaum war sie in den 1960er Jahren in Deutschland auf einem Tiefpunkt angelangt, brach unter den Jugendlichen in den USA ein „Hesse-Boom“ ohnegleichen aus, der dann auch wieder nach Deutschland übergriff; insbesondere Der Steppenwolf (nach dem sich die gleichnamige Rockband benannte) wurde international zum Bestseller und Hesse zu einem der meistübersetzten und -gelesenen deutschen Autoren. Weltweit wurden über 120 Millionen seiner Bücher verkauft (Stand Anfang 2007). In den 1970er Jahren veröffentlichte der Suhrkamp-Verlag einige Tonbänder mit dem am Ende seines Lebens aus seinen Werken rezitierenden Hesse als Sprechplatten. Schon zu Beginn seiner Laufbahn widmete sich Hesse der Autorenlesung und verarbeitete seine eigentümlichen Erlebnisse in diesem Zusammenhang in dem ungewöhnlich heiteren Text „Autorenabend“. Rezeption der Hippies Der Schriftsteller Ken Kesey hatte Hesses mystische Erzählung Die Morgenlandfahrt, in der ein Geheimbund von Träumern, Dichtern und Fantasten nicht der Vernunft, sondern dem Herzen folgt, mit Begeisterung gelesen. In Anlehnung an die Erzählung betrachtete er sich und die Merry Pranksters als dem Geheimbund Zugehörige und den großen Bustrip von 1964 quer durch die USA als seine Variante der „Morgenlandfahrt“. Der deutschstämmige Musiker Joachim Fritz Krauledat alias John Kay hatte 1968, nach der Lektüre eines Hesse-Romans, seine damalige Bluesband Sparrow neu formiert und in Kalifornien in Steppenwolf umbenannt. Santana, eine andere Rockband aus San Francisco, benannte ihr zweites und höchst erfolgreiches Album von 1970 nach einem Begriff aus dem Hesse-Roman Demian, der damals in der Band zirkulierte. Carlos Santana: „Der Titel Abraxas stammt aus einem Buch von Hermann Hesse, das Gregg, Stan und Carabello lasen.“ Die betreffende Stelle aus dem Buch ist auch auf dem Plattencover wiedergegeben, allerdings in der englischen Übersetzung. In Kathmandu, der am sogenannten Hippie trail gelegenen Hauptstadt Nepals, hat sich eine Hermann Hesse Gesellschaft gegründet. Hermann Hesse und die Gegenwart Calw, Hesses Geburtsstadt im Schwarzwald, bezeichnet sich selbst als die Hermann-Hesse-Stadt und nutzt dieses Attribut zugleich als Claim zur Eigenwerbung. In Calw informiert das Hermann-Hesse-Museum über Leben und Werk des berühmtesten Sohnes der Stadt. Die Schwarzwaldbahn aus Stuttgart soll 2023 als Hermann-Hesse-Bahn über den derzeitigen Endpunkt Weil der Stadt hinaus bis Calw verkehren. Seit 1977 findet in unregelmäßigen, mehrjährigen Abständen jeweils unter wechselndem Hauptthema das Internationale Hermann-Hesse-Kolloquium in Calw statt. Hierzu referieren renommierte Hesse-Fachleute aus dem In- und Ausland aus ihrem Fachgebiet über zwei bis drei Tage. Die Tagungsteilnahme steht jedem Bürger nach Anmeldung offen. Das Programm wird meist wechselnd durch Vertonungen von Gedichten Hesses, weitere musikalische Darbietungen, Tanz und Schauspiel mit Themen zu oder aus Hesses Literatur und/oder durch eine Dokumentar- oder Literaturverfilmung begleitet. Vergleichbar den Calwer Kolloquien finden seit 2000 in Sils-Maria im Schweizer Engadin in jährlichem Rhythmus die Silser Hesse-Tage statt, drei bis vier Tage im Sommerhalbjahr. Die Vorträge und Diskussionen stehen jeweils unter einem Schwerpunktthema. Im Gedenken an Hesse wurden drei Literaturpreise nach ihm benannt: der seit 1957 verliehene Karlsruher Hermann-Hesse-Literaturpreis, der von der Calwer Hermann-Hesse-Stiftung seit 1990 verliehene Calwer Hermann-Hesse-Preis und der seit 2017 von der Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft in Calw verliehene Preis der Internationalen Hermann Hesse Gesellschaft. Nachlass, Archivalien und Editionsarchiv Hermann Hesses Nachlass wird in folgenden Bibliotheken und Archiven aufbewahrt: Deutschland Berlin: Stiftung Archiv der Akademie der Künste Darmstadt: Hessisches Staatsarchiv Düsseldorf: Heinrich-Heine-Institut Frankfurt am Main: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Marbach: Deutsches Literaturarchiv Marbach (archiviert den Großteil des Hesse-Nachlasses) Schweiz Basel: Öffentliche Bibliothek der Universität Bern: Schweizerisches Literaturarchiv (im Wesentlichen Briefe von und an Hesse) St. Gallen: Kantonsbibliothek St. Gallen (Vadiana) Solothurn: Zentralbibliothek Solothurn: Hermann-Hesse-Sammlung Rosa Muggli-Isler, Kilchberg (enthält Widmungsexemplare von Büchern, Privatdrucke, Bildmaterial und Korrespondenz) Zürich: ETH-Bibliothek Zürich (Hauptbibliothek der ETHZ) Österreich Wien: Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Hermann-Hesse-Sammlung Eleonore Vondenhoff Das Hermann-Hesse-Editionsarchiv in Offenbach am Main wurde von dem Lektor und international renommierten Hesse-Herausgeber Volker Michels über mehrere Jahrzehnte aufgebaut, unter anderem mit Unterstützung des Sohnes Heiner Hesse. Wenngleich die Hesse-Bestände in den Literaturarchiven in Bern und Marbach größer sind, verfügt das Hermann-Hesse-Editionsarchiv über die am weitesten erschlossene und funktionell umfassendste Dokumentation zu Leben und Werk Hermann Hesses. Im Deutschen Literaturarchiv Marbach sind zudem Teile des Hesse Nachlasses im Literaturmuseum der Moderne in einer Dauerausstellung zu sehen. Zum Beispiel liegen dort die Manuskripte bzw. Typoskripte zu Demian, Der Steppenwolf, Narziß und Goldmund und Gertrud. Im Nachlass Hesses findet sich auch das unveröffentlichte, von ihm 1915 geschriebene Opernlibretto Romeo für seinen Freund Volkmar Andreae, das auf der Übertragung des Shakespeare-Dramas Romeo und Julia durch Schlegel beruht. Auszeichnungen und Ehrungen Hermann Hesse literarisches Werk wurde mit einer Reihe von literarischen Auszeichnungen, internationalen Preisen und einem Ehrendoktortitel gewürdigt. 1904: Bauernfeld-Preis 1928: Mejstrik-Preis der Wiener Schiller-Stiftung 1936: Gottfried-Keller-Preis 1946: Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main 1946: Nobelpreis für Literatur für sein Gesamtwerk 1947: Ehrendoktor der Universität Bern 1947: Ernennung zum Ehrenbürger seiner Heimatstadt Calw 1950: Wilhelm-Raabe-Preis 1954: Pour le mérite für Wissenschaften und Künste 1955: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für seine Werke und Rezensionen während der NS-Zeit 1962: Ehrenbürgerrecht der Gemeinde Collina d’Oro, in der Hesses langjähriger Wohnort Montagnola liegt, am 1. Juli 1962, wenige Wochen vor seinem Tod Die Stadt Calw, in der sich auch das Hermann-Hesse-Museum befindet, benannte ihr Gymnasium und einen Platz in der Fußgängerzone nach ihm. Auch die Bahnstrecke nach Weil der Stadt soll nach ihrer geplanten Reaktivierung Hermann-Hesse-Bahn heißen. In Hermann Hesses Roman Unterm Rad gibt es mehrere Textstellen mit Bezug auf die alte Bahnstrecke. Zudem gibt es einen Hermann-Hesse-Platz in Bad Mingolsheim sowie viele nach ihm benannte Straßen im ganzen Bundesgebiet. Auch mehrere Schulen wurden nach ihm benannt. 2021 benannte die Stadt Basel einen bislang namenlosen Platz in „Hermann Hesse-Platz“ um; er befindet sich in unmittelbarer Nähe des Kleinbasler Hotels Krafft, wo Hesse den Roman „Der Steppenwolf“ schrieb. Am 8. Dezember 1998 wurde der Asteroid (9762) Hermannhesse nach ihm benannt. Anlässlich seines 125. Geburtstages gab die Deutsche Post im Jahre 2002 eine Sonder-Briefmarke heraus. Hesse-Museen Hesse Museum Gaienhofen (Landkreis Konstanz), Deutschland Mia- und Hermann-Hesse-Haus, Gaienhofen, Deutschland Museo Hermann Hesse, Montagnola, Torre Camuzzi, Schweiz Hermann-Hesse-Museum im historischen Stadtpalais „Haus Schüz“ in Hesses Geburtsstadt Calw Hermann-Hesse-Kabinett in Tübingen Werke (Auswahl) Schriften In Kandy. 1912. Robert Aghion Teil 1. Teil 2.Teil 3. 1913. Der Inseltraum. 1917. Der Schlossergeselle. 1918. Wanderung übers Gebirg. 1919. Eine Sonate. 1919. Die Nacht. 1920. Gedanken zu Dostojewskis “Idiot”. 1920. Einzelausgaben Romantische Lieder. Pierson, Dresden 1899. Eine Stunde hinter Mitternacht. Neun Prosastudien. Diederichs, Leipzig 1899, München 2019, ISBN 978-3-424-35097-5 Hinterlassene Schriften und Gedichte von Hermann Lauscher. Reich, Basel 1900. Gedichte. Hrsg. und eingeleitet von Carl Busse. Grote, Berlin 1902; Neuausgabe als Jugendgedichte: Grote, Halle 1950. Boccaccio. Schuster & Loeffler, Berlin 1904. Franz von Assisi. Schuster & Loeffler, Berlin 1904. Peter Camenzind. Roman. Fischer, Berlin 1904. Unterm Rad. Roman. Fischer, Berlin 1906. Diesseits. Erzählungen (Aus Kinderzeiten, Die Marmorsäge, Heumond, Der Lateinschüler, Eine Fußreise im Herbst). Fischer, Berlin 1907; umgearbeitete und ergänzte Neuausgabe ebd. 1930. Nachbarn. Erzählungen (Die Verlobung, Karl Eugen Eiselein, Garibaldi, Walter Kömpff, In der alten Sonne). Fischer, Berlin 1908. Gertrud. Roman. Langen, München 1910; Neudruck: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1955. Umwege. Erzählungen (Ladidel, Die Heimkehr, Der Weltverbesserer, Emil Kolb, Pater Matthias). Fischer, Berlin 1912; ergänzte Neuausgabe als Kleine Welt: ebd. 1933. Aus Indien. Aufzeichnungen von einer indischen Reise. Fischer, Berlin 1913. Roßhalde. Roman. Fischer, Berlin 1914. Am Weg. Erzählungen (Juninacht, Der Wolf, Märchen, Der Brunnen im Maulbronner Kreuzgang, Eine Gestalt aus der Kinderzeit, Hinrichtung, Vor einer Sennhütte). Reuß & Itta, Konstanz 1915; Neuausgabe, illustriert von Louis Moilliet: Büchergilde Gutenberg, Zürich 1943. Knulp. Drei Geschichten aus dem Leben Knulps. Erzählung. Fischer, Berlin 1915. Musik des Einsamen. Neue Gedichte. Salzer, Heilbronn 1915. Schön ist die Jugend. Zwei Erzählungen. Fischer, Berlin 1916. Demian. Fischer, Berlin 1919. Märchen. Fischer, Berlin 1919. Klingsors letzter Sommer. Erzählungen. Fischer, Berlin 1920 (enthält: Kinderseele, Klein und Wagner und Klingsors letzter Sommer). Wanderung. Aufzeichnungen. Mit farbigen Bildern vom Verfasser. Fischer, Berlin 1920. Ausgewählte Gedichte S.Fischer, Berlin 1921. Siddhartha. Eine indische Dichtung. Fischer, Berlin 1922. Kurgast. Aufzeichnungen von einer Badener Kur. Fischer, Berlin 1925. Bilderbuch. Schilderungen. Fischer, Berlin 1926. Der Steppenwolf. Roman. Fischer, Berlin 1927. Die Nürnberger Reise. Fischer, Berlin 1927. Betrachtungen. Fischer, Berlin 1928 (enthält u. a. Wenn der Krieg noch zwei Jahre dauert). Trost der Nacht. Neue Gedichte. Fischer, Berlin 1929. Narziß und Goldmund. Erzählung. Fischer, Berlin 1930. Die Morgenlandfahrt. Erzählung. Fischer, Berlin 1932. Fabulierbuch. Erzählungen. Fischer, Berlin 1935. Stunden im Garten. Eine Idylle. Bermann-Fischer, Wien 1936. Gedenkblätter. Fischer, Berlin 1937. Neue Gedichte. Fischer, Berlin 1937. Die Gedichte. Fretz & Wasmuth, Zürich 1942; ergänzte Neuausgabe: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1953. Das Glasperlenspiel. Roman. 2 Bände. Fretz & Wasmuth, Zürich 1943 (darin: Stufen). Berthold. Ein Romanfragment. Fretz & Wasmuth, Zürich 1945. Traumfährte. Neue Erzählungen und Märchen. Fretz & Wasmuth, Zürich 1945. Traumfährte: Erzählungen und Märchen., 2. Auflage, Manesse Verlag, Zürich 1994, ISBN 3-7175-8152-X. Spaziergang in Würzburg. Hrsg. von Franz Xaver Münzel, Privatdruck (Tschudy & Co), St. Gallen (1945). Krieg und Frieden. Betrachtungen zu Krieg und Politik seit dem Jahr 1914. Fretz & Wasmuth, Zürich 1946. Späte Prosa. Suhrkamp, Berlin 1951, darin: Der gestohlene Koffer; Der Pfirsichbaum; Rigi-Tagebuch; Traumgeschenk; Beschreibung einer Landschaft; Der Bettler; Unterbrochene Schulstunde; Glück; Schulkamerad Martin; Aufzeichnung bei einer Kur in Baden; Weihnacht mit zwei Kindergeschichten. Briefe. Suhrkamp, Berlin 1951; v. Ninon Hesse erweiterte Ausgabe ebd. 1964. Beschwörungen. Späte Prosa – Neue Folge. Suhrkamp Verlag Berlin, 1955, darin: Erzählungen (Bericht aus Normalien, Die Dohle, Kaminfegerchen und Ein Maulbronner Seminarist), Rundbriefe (Geheimnisse, Nächtliche Spiele, Allerlei Post, Aprilbrief, Grossväterliches, Herbstliche Erlebnisse, Engadiner Erlebnisse, Begegnungen mit Vergangenem, Über das Alter, Beschwörungen, Notizblätter um Ostern, Rundbrief aus Sils-Maria) und Tagebuchblätter (Erlebnis auf einer Alp, Für Marulla, Tagebuchblätter 1955, 13. März, 14. Mai, 15. Mai, 1. Juli) Die späten Gedichte. Insel, Frankfurt am Main 1963 (Insel-Bücherei, Band 803). Prosa aus dem Nachlass. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1965 (darin: Freunde). Der Vierte Lebenslauf Josef Knechts. Zwei Fassungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1966 (Bibliothek Suhrkamp, Band 181). Die Kunst des Müßiggangs. Kurze Prosa aus dem Nachlass. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973, ISBN 3-518-36600-9. Sammelausgaben Gesammelte Schriften in sieben Bänden. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1957; Neuausgabe ebd. 1978, ISBN 3-518-03108-2. Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Zusammengestellt von Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1970 (= Werkausgabe edition suhrkamp); ebd. 1987, ISBN 3-518-38100-8. Gesammelte Briefe in vier Bänden. In: Zusammenarbeit mit Heiner Hesse hrsg. v. Ursula und Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973–1986; ebd. 1990, ISBN 3-518-09813-6. Die Kunst des Müßiggangs. Kurze Prosa aus dem Nachlaß. Hrsg. von Volker Michels, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973. Die Märchen. Zusammengestellt von Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975; ebd. 2006, ISBN 3-518-45812-4. Volker Michels (Hrsg.): Hermann Hesse: Bäume. Betrachtungen und Gedichte. Mit Fotografien von Imme Techentin. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1952; Taschenbuchausgabe: Insel, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-458-32155-1. Volker Michels (Hrsg.): Hermann Hesse: Musik. Betrachtungen, Gedichte, Rezensionen und Briefe. Mit einem Essay von Hermann Kasack (Hermann Hesses Verhältnis zur Musik). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976. (erweiterte Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-518-37717-5) Die Gedichte 1892–1962. 2 Bände. Neu eingerichtet und um Gedichte aus dem Nachlass erweitert von Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-518-36881-8 (= st 381). Neuausgabe in einem Band: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-518-40455-5. Auch als: Die Gedichte. Insel, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-458-34462-4 (= it 2762). Gesammelte Erzählungen. 4 Bände. Zusammengestellt von Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt 1977. (Suhrkamp, Frankfurt 1982, ISBN 3-518-03134-1) Sämtliche Werke. 20 Bände und 1 Registerband. Hrsg. v. Volker Michels. Suhrkamp, Frankfurt 2001–2007, ISBN 978-3-518-41100-1. Chris Walton, Martin Germann (Hrsg.): Hermann Hesse und Othmar Schoeck, der Briefwechsel. (= Schwyzer Hefte. Band 105). Kulturkommission Kanton Schwyz, Schwyz 2016, ISBN 978-3-909102-67-9. Die Briefe. 10 Bände (geplant). Hrsg. v. Volker Michels. Suhrkamp, Berlin 2012 ff. Band 1: 1881–1904. ISBN 978-3-518-42309-7. Band 2: 1905–1915. ISBN 978-3-518-42408-7. Band 3: 1916–1923. ISBN 978-3-518-42458-2. Band 4: 1924–1932. ISBN 978-3-518-42566-4. Band 5: 1933–1939. ISBN 978-3-518-42810-8. Band 6: 1940–1946. ISBN 978-3-518-42953-2. Band 7: 1947–1950. ISBN 978-3-518-43001-9. Band 8: 1951–1957. ISBN 978-3-518-43113-9. „Mit dem Vertrauen, daß wir einander nicht verloren gehen können“. Briefwechsel mit seinen Söhnen Bruno und Heiner. Hrsg. v. Michael Limberg. Suhrkamp, Berlin 2019, ISBN 978-3-518-42905-1. Justus Hermann Wetzel, Briefe und Schriften, hrsg. von Klaus Martin Kopitz und Nancy Tanneberger, Würzburg 2019 (S. 79–143 Korrespondenz mit Hermann Hesse); ISBN 978-3-8260-7013-6 Tondokumente Hermann Hesse: Über das Glück, gelesen von Hermann Hesse, 1949. Hörprobe, in: Schweizerische Nationalphonothek Lugano, Der Hörverlag (CD46721) Übergabe des Nobelpreises in Stockholm an Hermann Hesse, Radio DRS 20.12.1946, Tondokument in: Schweizerische Nationalphonothek Lugano (DAT2614) Adaptionen Literarische Verfilmungen Der Steppenwolf (1974), Spielfilm USA/Frankreich/Schweiz, basierend auf dem gleichnamigen Roman. Kinderseele (1977), deutscher Fernsehfilm, basierend auf der gleichnamigen Erzählung. Die Heimkehr (2012), deutsch-österreichischer Fernsehfilm, basierend auf der gleichnamigen Erzählung. Narziss und Goldmund (2020), deutscher Kinofilm, basierend auf dem gleichnamigen Roman. Siddhartha (1972), Spielfilm USA, basierend auf der gleichnamigen Erzählung. Textvertonungen nach Gedichten (Auswahl) Walther Aeschbacher: Die Nacht. Kantate für Sopran und Alt-Solo, Frauenchor und Streichorchester, unter teilweiser Benutzung eines Gedichtes von HH. Selbstverlag, Basel 1953. Volkmar Andreae: Vier Gedichte von HH. für eine (m.) St. mit Kl.begleitung. Op. 23. Hug, Zürich 1912 (Uraufgeführt 1913 von Ilona Durigo in Zürich). Lydia Barblan-Opieńska: Bitte. Für männliche Stimme und Klavier. E. Barblan, Lausanne o. J. Waldemar von Baußnern: Der Pilger. Für vierstimmigen Männerchor und Orgel. Westdeutscher Chorverlag, Heidelberg 1927. Alfred Böckmann: Mondaufgang. Für vierstg. Männerchor. Thüringer Volksverlag, Weimar 1953 (= Neues Chorlied. 35 M.). Gerhard Bohner: Herbst. Für vierstimmigen (gem.) Chor. Möseler, Wolffenbüttel 1958 (= Chorblatt-Reihe. Lose Blätter. Nr. 602). Matthias Bonitz: Stufen (2016) Cesar Bresgen: Wanderschaft für 3-stimmigen Chor (1959). Gottfried von Einem: Liederzyklus op. 43. Jürg Hanselmann: Liederkreis für Tenor und Klavier (2011), In Sand geschrieben, Kantate für Soli, Chor und Orchester (2011). Bertold Hummel: 6 Lieder nach Gedichten von Hermann Hesse für mittlere Stimme und Klavier op. 71a (1978) bertoldhummel.de. Kopflos Ein Liederzyklus nach skurrilen Gedichten von Hermann Hesse für mittlere Stimme und Klavier, op. 108 (2002) bertoldhummel.de. Theophil Laitenberger: Sechs Lieder zu Gedichten von Hermann Hesse für Tenor/Bariton und Klavier (1922–1924): Frühlingstag / Enzianblüte / Wie der stöhnende Wind / Weiße Rose in der Dämmerung / Elegie im September / Assistono diversi santi. Jan-Martin Mächler: Neues Erleben. Hermann-Hesse-Vertonungen (2006). Casimir von Pászthory: 6 Lieder nach Hesse für hohe oder mittlere Stimme und Klavier. Günter Raphael: 8 Gedichte op. 72 für hohe Stimme und Orchester. Philippine Schick: Der Einsame an Gott. Op. 17. Kantate für dramatischen Sopran, lyrischen Bariton, dreistimmigen Frauenchor, Streichorchester und Klavier. Kahut, Leipzig 1929. Othmar Schoeck: Vertonung von 2 Dutzend Gedichten, darunter Vier Gedichte op. 8 und Zehn Lieder op. 44. Richard Strauss: Vier letzte Lieder (davon drei Lieder nach Gedichten von Hesse) (1948) Sándor Veress: Das Glasklängespiel für gemischten Chor und Kammerorchester (1978) Werner Wehrli: Fünf Gesänge op. 23 Justus Hermann Wetzel: Fünfzehn Gedichte op. 11 Literatur Nachschlagewerke Ursula Apel (Hrsg.): Hermann Hesse: Personen und Schlüsselfiguren in seinem Leben. Ein alphabetisches annotiertes Namensverzeichnis mit sämtlichen Fundstellen in seinen Werken und Briefen. 3 Bände. Saur, München 1989/93, ISBN 3-598-10841-9. Gunnar Decker: Der Zauber des Anfangs. Das kleine Hesse-Lexikon. Aufbau, Berlin 2007, ISBN 978-3-7466-2346-7. Zu Leben und Werk Fritz Böttger: Hermann Hesse. Leben, Werk, Zeit. Verlag der Nation, Berlin 1990, ISBN 3-373-00349-0. Albert M. Debrunner: Hermann Hesse in Basel. Literarische Spaziergänge durch Basel. Orell Füssli Verlag 2011, ISBN 978-3-7193-1571-9 Gunnar Decker: Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten. Biographie. Carl Hanser, München 2012, ISBN 978-3-446-23879-4. Eva Eberwein, Ferdinand Graf von Luckner (Fotografien): Der Garten von Hermann Hesse. Von der Wiederentdeckung einer verlorenen Welt. DVA, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-421-04034-3. Helga Esselborn-Krumbiegel: Hermann Hesse. Reihe: Literaturwissen für Schule und Studium, Reclam Universalbibliothek Nr. 15208, Stuttgart 1996, ISBN 3-15-015208-9. Ralph Freedman: Hermann Hesse – Autor der Krisis. Eine Biographie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982 bzw. 1991, ISBN 3-518-38327-2. Detlef Haberland, Géza Horváth (Hrsg.): Hermann Hesse und die Moderne. Diskurse zwischen Ästhetik, Ethik und Politik. Praesens, Wien 2013, ISBN 978-3-7069-0760-6. Silver Hesse/Jürgen Wertheimer (Hrsg.): Erlebte Orte. Volker Michels zum 80. Geburtstag. Suhrkamp, Berlin 2023, ISBN 978-3-518-00177-6. Reso Karalaschwili: Hermann Hesse – Charakter und Weltbild. Studien. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-518-38656-5. Thomas Lang: Immer nach Hause. Roman [über Hesses Ehe mit Mia Bernoulli]. Berlin Verlag, München/Berlin 2016, ISBN 978-3-8270-1333-0. Michael Limberg: Hermann Hesse. Leben, Werk, Wirkung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-518-18201-3. Volker Michels (Hrsg.): Über Hermann Hesse. 2 Bände. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976/77, ISBN 3-518-06831-8 und ISBN 3-518-06832-6. Eike Middell: Hermann Hesse. Die Bilderwelt seines Lebens. Reclam, Leipzig 1972; 5. A. ebd. 1990, ISBN 3-379-00603-3. Joseph Mileck: Hermann Hesse – Dichter, Sucher, Bekenner. Eine Biographie. Bertelsmann, München 1979; Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-518-37857-0. Jürgen Nelles: Kunst und Künstler im Erzählwerk Hermann Hesses. In: Hermann-Hesse-Jahrbuch. Bd. 6. Königshausen & Neumann, Würzburg 2014, S. 79–99, ISBN 978-3-8260-5460-0. Helmut Oberst: Hermann Hesse kennen lernen. Leben und Werk. Schulwerkstatt-Verlag, Karlsruhe 2019, ISBN 978-3-940257-26-0. Martin Pfeifer: Hermann Hesse. In: Hartmut Steinecke (Hrsg.): Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Erich Schmidt Verlag, 1994, ISBN 3-503-03073-5, S. 175 ff. (books.google.de) Alois Prinz: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Die Lebensgeschichte des Hermann Hesse. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-518-45742-X. Bärbel Reetz: Hesses Frauen. Insel, Berlin 2012, ISBN 978-3-458-35824-4. Hans-Jürgen Schmelzer: Auf der Fährte des Steppenwolfs. Hermann Hesses Herkunft, Leben und Werk. Hohenheim, Stuttgart 2002, ISBN 3-89850-070-5. Johann-Karl Schmidt: Hermann Hesse malt. Villingen-Schwenningen 2020, ISBN 978-3-939423-81-2. Christian Immo Schneider: Hermann Hesse. Beck, München 1991, ISBN 3-406-33167-X. Herbert Schnierle-Lutz: Auf den Spuren von Hermann Hesse. Calw, Maulbronn, Tübingen, Basel, Gaienhofen, Bern und Montagnola. Insel, Berlin 2017, ISBN 978-3-458-36154-1. Heimo Schwilk: Hermann Hesse. Das Leben des Glasperlenspielers. Piper, München 2012, ISBN 978-3-492-05302-0. Sikander Singh: Hermann Hesse. Reclam, Stuttgart 2006, ISBN 3-15-017661-1. Andreas Solbach: Hermann Hesse. Ein Schriftsteller auf der Suche nach sich selbst. wbg Theiss, Darmstadt 2022. ISBN 978-3-8062-4417-5. Siegfried Unseld: Hermann Hesse. Werk und Wirkungsgeschichte. Insel, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-458-32812-2. Klaus Walther: Hermann Hesse. DTV, München 2002, ISBN 3-423-31062-6. Volker Wehdeking: Hermann Hesse. Tectum Verlag, Marburg 2014, ISBN 978-3-8288-3119-3. Carlo Zanda: Hermann Hesse, seine Welt im Tessin. Freunde, Zeitgenossen und Weggefährten. Originaltitel: Un bel posticino; aus dem Italienischen übersetzt von Gabriela Zehnder. – Limmat Verlag, Zürich 2014. Bernhard Zeller: Hermann Hesse. Neuausgabe. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2005, ISBN 3-499-50676-9. Filmdokumentation Hermann Hesse – Sein erstes Paradies. Filmdokumentation von Hardy Seer. Seerose Filmproduktion, Füssen 2012, ISBN 978-3-929371-24-6.Eine Dokumentation über Hesses erstes eigenes Haus in Gaienhofen am Bodensee und seine Zeit von 1904 bis 1912. Mitwirkende und Interviewpartner: Simon Hesse (Enkel des Schriftstellers), Alois Prinz (Schriftsteller und Hesse-Biograph), Eva Eberwein (Dipl.-Biologin und Eigentümerin des Hermann-Hesse-Hauses), Ruediger Dahlke (Psychotherapeut, Arzt und Autor), Ute Hübner (Leiterin des Hermann-Hesse-Höri-Museums Gaienhofen), Volker Michels (Leiter des Hesse-Editionsarchivs). Hermann Hesse – Der Weg nach innen. Filmdokumentation von Andreas Christoph Schmidt. Schmidt und Paetzel, Berlin 2012. Filmporträt zum 50. Todestag. Interviewpartner sind in diesem Film Volker Michels (Herausgeber des Hesse-Editionsarchivs), Schriftsteller Adolf Muschg, Silver Hesse (Enkel von Hermann Hesse), Heimo Schwilk (Hesse-Biograf) und der amerikanische Literaturprofessor Theodore Ziolkowski. Hermann Hesse Superstar – Dokumentation. Filmdokumentation, Andreas Ammer, ARD, 3. Mai 2012 Hermann Hesse. Brennender Sommer, Filmessay von Heinz Bütler, Zürich, 2020. Mit Daniel Behle, Silver Hesse, Sibylle Lewitscharoff, Michael Limberg, Oliver Schnyder, Peter Simonischek und Alain Claude Sulzer. Hermann Hesse – Die Reise in den Süden. Filmdokumentation von Werner Weick. 3sat Weblinks Werke von Hermann Hesse im Suhrkamp und Insel Verlag Hesse-Archiv in der Datenbank Helveticarchives bzw. als Online-Inventar (EAD) des Schweizerischen Literaturarchivs der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin Internationale Hermann-Hesse-Gesellschaft e. V. Hermann-Hesse-Page (HHP), University of California, Santa Barbara, Prof. Gunther Gottschalk (englisch und deutsch) Hermann-Hesse-Sammlung im Archiv der Akademie der Künste, Berlin Fondazione Hermann Hesse Montagnola Mia- und Hermann-Hesse-Haus in Gaienhofen Schwerpunkt: 50. Todestag von Hermann Hesse. literaturkritik.de 8/2012 (13 Artikel) Hermann Hesse im Auszug Stamm Bernoulli auf stroux.org Familienbilder von Adele Gundert-Hesse (Hermann Hesse Editionsarchiv, Offenbach am Main) Einzelnachweise Autor Literatur der Neuromantik Literatur (20. Jahrhundert) Literatur (Deutsch) Literatur (Schweiz) Erzählung Essay Lyrik Roman, Epik Brief (Literatur) Nobelpreisträger für Literatur Träger des Pour le Mérite (Friedensklasse) Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Bauernfeld-Preisträger Maler (Deutschland) Maler (Schweiz) Hermann Ehrenbürger im Landkreis Calw Ehrenbürger im Kanton Tessin Ehrendoktor der Universität Bern Schriftsteller (Basel) Person (Calw) Deutsch-Balte Deutscher Emigrant in der Schweiz Person als Namensgeber für einen Asteroiden Schweizer Württemberger Deutscher Russe Geboren 1877 Gestorben 1962 Mann Person (Gaienhofen)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hans%20Bemmann
Hans Bemmann
Hans Bemmann (* 27. April 1922 in Groitzsch; † 1. April 2003 in Bonn) war ein deutscher Schriftsteller. Leben Hans Bemmann wurde am 27. April 1922 in der Stadt Groitzsch bei Leipzig geboren. Seine Jugend verbrachte der Sohn eines evangelischen Pfarrers in Grimma/Sachsen, Leipzig, Wiesbaden und Wien. Hans Bemmann begann 1940 zuerst mit einem Medizinstudium in Wien, unterbrochen von Arbeitsdienst, Wehrmacht und dem Kriegseinsatz in Russland, wo er als Operationsgehilfe auf Hauptverbandplätzen eingesetzt war. Das Studium setzte er nach Kriegsende bis zum Physikum fort. Unmittelbar danach wechselte er aber zu Germanistik und Musikwissenschaft, dessen Studium er 1949 an der Universität Innsbruck mit einer musikwissenschaftlichen Doktorarbeit abschloss. Seit 1954 war er Lektor beim Österreichischen Borromäuswerk (Österreichischen Bibliothekswerk) und setzte diese Tätigkeit 1956 in Bonn fort. Bis 1987 war er dort Lektor, bis 1993 Dozent am Bonner Bibliothekar-Lehrinstitut und von 1971 bis 1983 Dozent für das Fach „Deutsch“ an der Pädagogischen Hochschule Bonn. In den 1960er-Jahren hat er unter dem Pseudonym Hans Martinsen (häufig falsch Martinson) veröffentlicht. Zum Werk Sein literarischer Durchbruch gelang ihm 1983 mit dem der Fantasyliteratur nahestehenden Märchenroman Stein und Flöte, und das ist noch nicht alles, der die Abenteuer eines jungen Mannes namens Lauscher in einer idyllischen Märchenwelt verfolgt. Ein magischer Stein und eine magische Flöte sollten ihm eigentlich den Weg zum Glück öffnen, doch seine mangelnde Menschenkenntnis und Naivität lassen ihn seine Macht missbrauchen und verhängnisvolle Entscheidungen treffen. Lauschers Lebensgeschichte ist von seiner Liebesgeschichte durchflochten. Der Nachfolgeroman Erwins Badezimmer, in Form einer Reihe von Briefen geschrieben, führt den Leser in eine Diktatur, welche die Bevölkerung durch eine systematische Vereinfachung der Sprache kontrolliert. Der gutmütige Sprachwissenschaftler Albert S. stolpert zufällig in eine Untergrundbewegung, die Erwin von seiner illegalen Microfiche-Bibliothek aus seinem Badezimmer heraus leitet. Albert findet gleichzeitig die Liebe seines Lebens und lernt, die Welt mittels mehrdeutiger Sprache neu zu sehen. Die Idee der Manipulation durch gezielten Gebrauch der Sprache findet sich auch in George Orwells Dystopie 1984. Der Stern der Brüder ist ebenfalls in der modernen Welt angesiedelt und zeichnet den Lebensweg zweier Brüder in einer Gesellschaft, die sich auf dem Wege zur Diktatur bewegt, nach. Ein Musiker und ein Geologe wählen sich im politischen Spektrum entgegengesetzte Seiten, nur um sich zum Schluss wieder zu begegnen. Die beschädigte Göttin führt einen Märchenforscher auf eine Reise aus der Wirklichkeit in die Märchenwelt. Die Begegnung mit einer ihn bezaubernden Frau wirft ihn in eine Märchenwelt, in der er sie sucht, umwirbt und letztendlich auch findet. Der Roman vermischt unsere Welt mit der der Märchen und lässt den Helden unsere Welt weniger kalt und mechanisch sehen. Die Gärten der Löwin, obwohl auch als eigenständiger Roman zu lesen, ist eine Fortsetzung der beschädigten Göttin, in der die Frau ihre Geschichte darstellt. Dieses Buch unterscheidet sich durch die Wortwahl und den Satzbau vom Vorgängerroman, so dass dem Autor damit die Darstellung einer anderen Empfindungswelt eindrucksvoll gelang. Dritter Teil dieser Serie ist Massimo Battisti. Hier findet sich die Auflösung vieler Unklarheiten in der Person des Magiers Massimo Battisti. Werke Jäger im Park. Erzählung. (1961) – unter dem Pseudonym Hans Martinsen, NA 1984 bei dtv unter Hans Bemmann Lästiger Besuch. Roman. (1963) – unter dem Pseudonym Hans Martinsen Der klerikale Witz (1970) – Herausgeber Stein und Flöte, und das ist noch nicht alles. Ein Märchenroman. (1983) Erwins Badezimmer, oder die Gefährlichkeit der Sprache. (1984) Stern der Brüder. (1986) Trilogie „Die Verzauberten“ Die beschädigte Göttin. (1990) Die Gärten der Löwin. (1993) Massimo Battisti. (1998) Auszeichnungen Im Jahre 1987 erhielt er den Evangelischen Buchpreis und 2002 den Rheinischen Literaturpreis Siegburg. Literatur Helmut W. Pesch: Stein und Flöte, in: Inklings. Jahrbuch für Literatur und Ästhetik, Bd. 3, 1985, S. 238–239. Josef Schreier: Jäger im Park/Stern der Brüder, in: Inklings. Jahrbuch für Literatur und Ästhetik, Bd. 4, 1986, S. 204–206. Jörg Weigand: Stern der Brüder, in: Das Science Fiction Jahr 1987 (Bd. 2), herausgegeben von Wolfgang Jeschke, Wilhelm Heyne Verlag, München 1987, ISBN 3-453-31365-8, S. 626–628. Weblinks AVA-Autorenrubrik Hans Bemmann Autor Literatur (20. Jahrhundert) Literatur (Deutsch) Fantasyliteratur Person (Märchen) Verlagslektor Deutscher Geboren 1922 Gestorben 2003 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hutton%20%28Familienname%29
Hutton (Familienname)
Hutton ist ein englischer Familienname. Namensträger Alan Hutton (* 1984), schottischer Fußballspieler Alexander Watson Hutton (1853–1936), schottisch-argentinischer Fußballfunktionär Allister Hutton (* 1954), britischer Leichtathlet Ashley Hutton (* 1987), nordirische Fußballspielerin Barbara Hutton (1912–1979), US-amerikanische Erbin Beatrice Hutton (1893–1990), australische Architektin Ben Hutton (* 1993), kanadischer Eishockeyspieler Betty Hutton (1921–2007), US-amerikanische Schauspielerin, Sängerin und Entertainerin Carter Hutton (* 1985), kanadischer Eishockeytorwart Charles Hutton (1737–1823), britischer Mathematiker Dick Hutton (Richard Heron Avis Hutton; 1923–2003), US-amerikanischer Ringer und Wrestler Frederick Wollaston Hutton (1836–1905), britischer Geologe und Botaniker Ina Ray Hutton (1916–1984), US-amerikanische Bigbandleaderin Isabel Emslie Hutton (1887–1960), schottische Ärztin und Autorin James Hutton (1726–1797), schottischer Geowissenschaftler Jasmine Hutton (* 1999), englische Squashspielerin Jeremy Michael Hutton (* 1976), US-amerikanischer Hebraist Jim Hutton (1934–1979), US-amerikanischer Schauspieler Jonathan Hutton (* 1956), britischer Zoologe und Biogeograph June Hutton (1920–1973), US-amerikanische Sängerin Kurt Hutton (Kurt Hübschmann; 1893–1960), deutsch-britischer Fotograf Kyle Hutton (* 1991), schottischer Fußballspieler Lana Hutton Bowen-Judd (1922–1985), britische Schriftstellerin Lauren Hutton (* 1943), US-amerikanische Schauspielerin und Fotomodell Louisa Hutton (* 1957), britische Architektin Marion Hutton (1919–1987), US-amerikanische Sängerin und Schauspielerin Mick Hutton (* 1956), britischer Jazzmusiker und Komponist Pascale Hutton (* 1979), kanadische Schauspielerin Ralph Hutton (* 1948), kanadischer Schwimmer Ronald Hutton (* 1953), britischer Historiker Sarah Hutton (* 1948), britische Philosophie- und Wissenschaftshistorikerin Timothy Hutton (* 1960), US-amerikanischer Schauspieler Will Hutton (* 1950), britischer Autor und Publizist William E. Hutton, US-amerikanischer Börsenmakler Weblinks Hutton bei forebears.io Familienname Englischer Personenname
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hartweizen
Hartweizen
Der Hartweizen (Triticum durum ), auch Durum, Durumweizen oder Glasweizen genannt, ist nach Weichweizen (Triticum aestivum) die wirtschaftlich bedeutendste Weizen-Art. Der Anbau erfolgt in der Regel als Sommergetreide. Er wird heute meist als Unterart Triticum turgidum subsp. durum eingestuft. Beschreibung Vegetative Merkmale Hartweizen wächst als krautige Pflanze und erreicht Wuchshöhen von 80 bis 150 Zentimetern. Der Halm ist dickwandig und im oberen Bereich mit Mark erfüllt. Die Knoten sind kahl. Die Blattspreiten sind 8 bis 16 Millimeter breit und kahl oder die unteren sehr kurz behaart. Generative Merkmale Der ährige Blütenstand misst ohne Grannen 4 bis 6 Zentimeter, bei einer Breite von 12 bis 18 Millimetern. Er ist seitlich zusammengedrückt und im Querschnitt annähernd ein Quadrat. Die Ährenachse ist zur Reife nicht brüchig, der Hartweizen ist also ein Nacktweizen. An der Ansatzstelle der Ährchen sitzen Haarbüschel. Die Ährchen enthalten vier bis sieben Blüten, von denen zwei bis vier fertil sind. Das Ährchen ist 10 bis 15 Millimeter lang, dabei länger als breit. Die Hüllspelzen sind 9 bis 12 mm lang und damit fast so lang wie das unterste Blütchen. Sie sind häutig und scharf bis flügelig gekielt. Der Kiel läuft in einen aufrechten Zahn aus. Der Nebenkiel läuft in einen seitlichen Zahn aus. Die Deckspelzen haben neun bis 15 Nerven, sind höchstens 12 Millimeter lang und tragen eine bis zu 20 Zentimeter lange Granne. Die Karyopse ist länglich-spitz. Sie ist von der Deck- und Vorspelze locker umhüllt und fällt zur Reife aus der Ähre aus. Das Endosperm ist glasig. Der Chromosomensatz ist allopolyploid mit 2n = 28. Charakteristisch für Hartweizen sind sein hoher Glutengehalt, die gelbe Färbung und eine hohe Kochfestigkeit. Er weist einen höheren Proteingehalt und gleichzeitig niedrigere Stärkegehalte auf als Winterweichweizen. Durchschnittliche Zusammensetzung Die Zusammensetzung von Hartweizen schwankt naturgemäß, sowohl in Abhängigkeit von den Umweltbedingungen (Boden, Klima) als auch von der Anbautechnik (Düngung, Pflanzenschutz). Angaben je 100 g essbarem Anteil: 1 mg = 1000 µg Der physiologische Brennwert beträgt 1424 kJ (339 kcal) je 100 g essbarem Anteil. Verbreitung Hartweizen ist nur als Kultur bekannt. Entstanden ist er vermutlich aus dem Emmer (Triticum dicoccon). Er ist wärmeliebend und benötigt weniger als 500 mm Jahresniederschlag. Wichtige Anbaugebiete sind der Mittelmeerraum und Vorderasien. Die ökologischen Zeigerwerte nach Landolt et al. 2010 sind in der Schweiz: Feuchtezahl F = 2 (mäßig trocken), Lichtzahl L = 4 (hell), Reaktionszahl R = 4 (neutral bis basisch), Temperaturzahl T = 4+ (warm-kollin), Nährstoffzahl N = 3 (mäßig nährstoffarm bis mäßig nährstoffreich), Kontinentalitätszahl K = 4 (subkontinental). Hartweizen stellt etwa 10 % der Weltweizenmenge. Die wichtigsten Anbauländer in Europa für Hartweizen waren 2007 Italien (4 Mio. t), Frankreich (1,9 Mio. t), Spanien (1,2 Mio. t) und Griechenland (0,9 Mio. t). In Deutschland wurden im selben Jahr 38.000 t und in Österreich 53.000 t geerntet. Die in Deutschland aktuell (2014) zugelassenen Hartweizensorten (6 Winter- und 10 Sommerhartweizensorten) werden in der Beschreibenden Sortenliste des Bundessortenamtes aufgeführt. Taxonomie Der Hartweizen wurde 1798 durch René Louiche Desfontaines in Flora Atlantica: sive historia plantarum quae in Atlante, agro tunetano et algeriensi crescunt Band 1(1), S. 114 als Triticum durum erstbeschrieben. Die Art wurde 1899 von Husnot in Graminees. Descriptions, Figures et Usages ... France, Belgique, Isles Britanniques . . ., Band 4, S. 80 als Unterart Triticum turgidum subsp. durum zu Triticum turgidum gestellt. Synonyme von Triticum turgidum subsp. durum sind Triticum sativum subsp. durum , Triticum aestivum subsp. durum , Triticum siculum Nutzung Der Hartweizen ist besonders proteinreich (Durchschnittsgehalt etwa 16 %). Aus dem Grieß oder Dunst des Hartweizens lassen sich elastische Teige gewinnen, die sich besonders zur Herstellung von Teigwaren, insbesondere zur klassischen italienischen Pasta eignen. Auch Couscous und Bulgur werden aus Hartweizen hergestellt. Sonstiges In der Europäischen Union übersteigt der Verbrauch die Produktion. Um den Preis dennoch niedrig zu halten, besteht auf Hartweizen Ausfuhrzoll – derzeit (Stand Mai 2016) der einzige der EU. Weblinks Thomas Meyer: Datenblatt mit Bestimmungsschlüssel und Fotos bei Flora-de: Flora von Deutschland (alter Name der Webseite: Blumen in Schwaben). Belege Siegmund Seybold (Hrsg.): Schmeil-Fitschen interaktiv (CD-Rom), Quelle & Meyer, Wiebelsheim 2001/2002, ISBN 3-494-01327-6. Einzelnachweise Weizen Getreideart
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https://de.wikipedia.org/wiki/Saat-Hafer
Saat-Hafer
Saat-Hafer oder Echter Hafer (Avena sativa) ist eine Pflanzenart aus der Gattung Hafer (Avena) innerhalb der Familie der Süßgräser (Poaceae). Sie wird als Getreide genutzt. Beschreibung Vegetative Merkmale Saat-Hafer ist eine einjährige krautige Pflanze, die Wuchshöhen von 0,6 bis 1,5 Meter erreicht. Die Halme sind aufrecht oder gekniet-aufsteigend, glatt und kahl und haben 4 bis 8 Knoten. Die Ligula ist eine 3 bis 5 Millimeter langer häutiger Saum. Die Blattspreiten sind 5 bis 15 (bis 20) Millimeter breit und werden bis 45 Zentimeter lang. Generative Merkmale Dieses Rispengras hat einen 15 bis 30 Zentimeter lange, allseitswendige rispigen Blütenstand, der zum Teil wiederum verzweigte Rispen trägt, die sich sanft nach unten neigen. Am oberen Ende tragen die Rispen Ährchen mit zwei bis drei Blüten, von denen meist nur zwei fruchtbar sind. Die Ährchenachse zerfällt bei der Reife nicht. Die Ährchen sind anfangs aufrecht, später überhängend. Die Hüllspelzen sind bei einer Länge von 20 bis 30 Millimetern untereinander fast gleich, sieben- bis neunnervig, lanzettlich, dünnhäutig mit breiten weißlich durchsichtigen Rändern. Die Deckspelzen sind siebennervig, 12 bis 24 Millimeter lang, am oberen Ende eingekerbt mit zwei kurzen, spitzen Seitenlappen und auf dem Rücken in der Mitte begrannt oder unbegrannt. Die Vorspelzen sind 10 bis 20 Millimeter lang und auf den Kielen kurz und dicht bewimpert. Die Staubblätter sind 2,5 bis 4 Millimeter lang. Die spindelförmigen Körner sind bei der Reife mit der kurzbegrannten Deckspelze und der Vorspelze fest verwachsen. Die Spelzen umgeben das eigentliche Korn. Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 42. Ökologie Der Saat-Hafer ist überwiegend einjährig und meist eine Sommerfrucht (wird also im Frühjahr gesät – Winterhafer wird selten angebaut). Wie bei allen Getreide-Arten richten sich aufgrund von Sturm usw. niederliegende Halme durch ihr unterseits stärkeres Wachstum wieder auf. Der Wachstumsvorgang wird negativ gravitrop eingeleitet, also durch die Erdanziehung ausgelöst. Blütenbiologisch handelt es sich um den „Langstaubfädigen Typ“ mit Windbestäubung. Die homogamen, selbstfertilen Blüten öffnen sich erst nachmittags, bei Trockenheit in Anpassung an das Steppenklima sogar erst ab 18 Uhr. Bei nasser Witterung bleiben die Blüten geschlossen, also kleistogam und es erfolgt Selbstbestäubung. Beim Saat-Hafer zerfallen die meist zwei- bis dreiblütigen Ährchen zur Reife nicht. Bei den oberen Blüten oder evtl. auch bei allen Blüten fehlen die Grannen. Bei den Wildhafer-Arten ist die Ausbreitungseinheit (Diaspore) die von den haften bleibenden Spelzen umgebene Karyopse. Wegen der Luft zwischen den Spelzen sind diese spindelförmigen Gebilde von geringerer Dichte. Es gibt für sie viele Ausbreitungsmöglichkeiten: Die Früchte können durch den Wind (beispielsweise als Bodenroller) ausgebreitet werden, oder als Regenschwemmlinge, oder mittels der hygroskopischen Grannen als Klettfrüchte. Die Haare der Grannen bewirken, dass die Körner sogar hüpfende Bewegungen ausführen können, was eine Selbstausbreitung als Bodenkriecher ermöglicht. Die Früchte können sich außerdem im Tierfell oder im Boden einbohren; solche Bohrfrüchte sind gleichzeitig ausbreitungshemmende Gebilde, wie sie für Trockengebiete typisch sind. Daneben sind eine Bearbeitungsausbreitung und eine solche als Wasserhafter möglich. Fruchtreife ist von August bis Oktober. Vorkommen und Anbau Der Hafer soll ursprünglich im Irak und Iran vorkommen. Sonst wird er weltweit angebaut. Hafer gedeiht am besten bei gemäßigtes Klima mit hohen Niederschlägen. Er wird in den Mittelgebirgen, im Alpenvorland und in den Küstenregionen angebaut. In den Alpen wird er bis zu einer Höhenlage von 1700 Metern angebaut. Seine Ansprüche an den Boden sind gering. Hafer wird als Sommergetreide angebaut und ab Mitte August geerntet. Unter den Getreidearten gilt Hafer als „Gesundungsfrucht“, da sich viele Getreideschädlinge in ihm nicht vermehren. Die ökologischen Zeigerwerte nach Landolt et al. 2010 sind in der Schweiz: Feuchtezahl F = 2+ (frisch), Lichtzahl L = 4 (hell), Reaktionszahl R = 3 (schwach sauer bis neutral), Temperaturzahl T = 4 (kollin), Nährstoffzahl N = 4 (nährstoffreich), Kontinentalitätszahl K = 2 (subozeanisch). Systematik Die Erstveröffentlichung von Avena sativa erfolgte durch Carl von Linné. Bei Avena sativa gibt es je nach Autor mehrere Unterarten: Chinesischer Nackthafer (Avena sativa subsp. chinensis ): Er wird in Asien, in Mitteleuropa nur selten angebaut. Avena sativa subsp. macrantha : Sie kommt beispielsweise in der Türkei und in Aserbaidschan vor. Avena sativa subsp. orientalis Avena sativa subsp. sativa: Die meist kultivierte Unterart. In Haferfeldern können immer wieder Hafer-Exemplare gefunden werden, die wie der Saat-Hafer aussehen, deren Ährchenachse aber wie beim Flug-Hafer (Avena fatua) zerfällt und nicht erhalten bleibt wie beim Saat-Hafer. Solche Exemplare nennt man Fatuoide. Sie entstehen durch spontane Mutationen oder auch durch Hybridisierung. Nutzung In Deutschland wird heute der Großteil der Ernte als Tierfutter verwendet. Hafer wird aufgrund von veränderten Konsumgewohnheiten auch wieder vermehrt in der menschlichen Ernährung verwendet. Die veränderten Konsumgewohnheiten mit der Ausrichtung auf menschliche Ernährung rückt den Fokus wieder auf Mykotoxinbelastungen im Ernteprodukt. Beispielsweise Mutterkorn mit seinen hochgradig giftigen und schwangerschaftsgefährdenden Toxinen muss wieder vermehrt beachtet werden, ist jedoch keine typische Erscheinung bei Hafer. Produkte des Hafers sind Stroh, Hafergrütze, Haferflocken, Haferkleie, Hafermilch, Hafermehl (regional und älter auch „Habermehl“ genannt), „Cerealien“ mit Hafer, verschiedene Extrakte für die Medizin und Furfural, eine Chemikalie, die aus den Spelzen gewonnen wird. Ernährungsphysiologisch ist Hafer die hochwertigste Getreideart, die in Mitteleuropa angebaut wird. Die Haferkörner werden lediglich entspelzt, d. h. die äußere für den Menschen unverdauliche Hülle wird entfernt. Der übrigbleibende Haferkern wird nicht geschält, d. h. die äußeren Randschichten, Frucht- und Samenschale, sowie der Keimling bleiben erhalten. Es handelt sich also um ein Vollkornprodukt. In diesen Bestandteilen des Haferkerns stecken Vitamine, Mineralstoffe und Ballaststoffe. Es gibt eine Vielfalt an Erzeugnissen aus Hafer für die menschliche Ernährung: von Hafergrütze über Haferflocken und Haferspeisekleie bis hin zu Hafermehl, Cerealien und Getränken. Hafermehl kann infolge des geringen Kleberanteils (Gluten) nur eingeschränkt zur Herstellung von Brot verwendet werden, ist jedoch für die glutenfreie Ernährung bei Zöliakie bedingt geeignet. Ein Haferanteil von 20 bis 30 Prozent im Brot ist möglich. In einigen Regionen wird aus Hafer Whiskey hergestellt. Im Mittelalter war Haferbier ein beliebtes Getränk. Als Futtermittel wird Hafer an Pferde, Rinder oder Geflügel verfüttert. Der hohe Rohfaseranteil macht die Körner als Schweinefutter ungeeignet. Wirtschaftliche Bedeutung Die größten Haferproduzenten 2021 wurden laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO weltweit 22.571.619 t Hafer geerntet. Folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die zehn größten Produzenten von Hafer weltweit, die insgesamt 69,5 % der Erntemenge produzierten. Siehe auch: Liste der größten Getreideproduzenten Die größten Weizenproduzenten Die größten Gersteproduzenten Die größten Reisproduzenten Die größten Maisproduzenten Die größten Roggenproduzenten Anbaufläche Die gesamte Anbaufläche für Hafer weltweit betrug 2020 etwa 9,4 Mio. Hektar, davon in Deutschland 126.300, in Österreich 20.600 und in der Schweiz 1.713 Hektar. Im Jahre 2020 lag der durchschnittliche Hektar-Ertrag weltweit bei 24,5 dt/ha, in Deutschland bei 41,1 dt/ha. Handel Im Jahr 2020 war Kanada der größte Exporteur von Hafer. Die Menge betrug 1.778.853 t, was etwa 55 % der Gesamtexportmenge weltweit ausmachte. An zweiter Stelle folgte Finnland mit 365.827 t und an dritter Stelle Schweden mit 135.097 t. Weitere wichtige europäische Exporteure sind Frankreich, Großbritannien und Polen. Durchschnittliche Zusammensetzung Die Zusammensetzung von Hafer schwankt naturgemäß, sowohl in Abhängigkeit von der Hafersorte und den Umweltbedingungen (Boden, Klima) als auch von der Anbautechnik (Düngung, Pflanzenschutz). Angaben je 100 g essbarem Anteil, entspelzt, ganzes Korn (1 mg = 1000 µg): Der physiologische Brennwert beträgt 1409 kJ (= 336 kcal) je 100 g essbarem Anteil. Weiterhin enthalten sind Phytosterine, Alkaloide, Avenanthramide (sekundäre Pflanzenstoffe), Kieselsäure und Linolsäure. Von allen gängigen Getreidearten enthält er den höchsten Mineralstoff- und Fettgehalt. Der hohe Eisengehalt ist vergleichbar mit vielen Fleischsorten. Zu erwähnen ist auch der mit rund 4,5 Prozent hohe Gehalt an β-Glucan, einem löslichen Ballaststoff, mit dem eine Senkung des Cholesterinspiegels erzielt werden kann. Verarbeitung Die Haferkörner sind fest von den Spelzen umschlossen. Durch den Drusch lassen sie sich nicht voneinander trennen. Soll Hafer zur menschlichen Ernährung verwendet werden, so werden nach dem Reinigen und Sieben der Haferkörner zunächst die Spelzen in einer Schälmühle mit einem „Prallschäler“ entfernt und mit einem „Steigsichter“ abgetrennt. Anschließend werden die verbleibenden Haferkerne gedarrt, wodurch die fettspaltenden Enzyme im Hafer deaktiviert werden. Dies verhindert das Ranzigwerden von Haferprodukten aufgrund des relativ hohen Fettgehaltes von etwa sieben Prozent und verlängert so die Haltbarkeit. Während der Darre wird die Haferstärke teilweise aufgeschlossen und die Haferprodukte werden dadurch bekömmlicher und besser verdaubar. In der Darre bildet sich auch ein typisches nussartiges Aroma heraus. Anschließend werden die Haferkerne durch Dämpfen und Trocknen auf die weitere Verarbeitung vorbereitet. Es existieren unterschiedliche Hafererzeugnisse. Haferflocken gibt es in drei Varianten: Die kernigen Haferflocken oder Großblattflocken werden aus den ganzen Kernen gewalzt. Für zarte Haferflocken oder Kleinblattflocken werden die Haferkerne zunächst in kleine Stücke – die sogenannte Grütze – geschnitten. Die kleinen Stücke werden dann zu zarten Flocken gewalzt. Aber auch die Grütze wird als eigenständiges Produkt verkauft. Haferflocken werden in nahezu jeder verzehrfertigen Müslimischung, in Knuspermüslis sowie in Hafermüslis eingesetzt. Darüber hinaus gibt es lösliche Haferflocken, die über ein besonderes Verfahren aus Hafermehl hergestellt werden. Hafermehl entsteht, wenn die Grütze wie bei einer klassischen Getreidemühle fein gemahlen wird. Haferkleie besteht größtenteils aus den Randschichten und dem Keimling des Haferkorns und wird als Grieß oder als lösliche Flocken angeboten. Haferkleie-Grieß sind die gröberen Teile, die bleiben, wenn Randschichten und Keimling des Korns grob gemahlen und gesiebt werden. Lösliche Haferkleie-Flocken werden in einem speziellen Prozess aus gemahlenem Haferkleie-Grieß hergestellt. Hafercerealien sind weiterverarbeitete Produkte aus Hafer, die in unterschiedlichen Herstellungsverfahren entstehen: Für extrudierte Cerealienprodukte wird ein wasserhaltiger Teig aus Hafervollkornmehl und weiteren Zutaten unter Druck in eine Verdichtungsschnecke („Extruder“, vergleichbar mit einem Fleischwolf) gepresst. Beim Pressen kann der Teig durch Einsatz von Matrizen unterschiedlich geformt werden. Beim Austritt verdampft das Wasser, das Produkt verfestigt sich. So erhält man haltbare, knusprige Produkte in verschiedenen Formen. Für gepuffte Cerealienprodukte werden ganze Haferkörner Dampf und Druck ausgesetzt. Durch plötzlichen Druckabfall verdampft das enthaltene Wasser und die Stärke wandelt sich um. Die Körner blähen sich auf und erstarren. „Hafermilch“ wird aus gereinigtem und entspelztem Hafer hergestellt. Da pflanzliche Milch in der EU nicht mit der Bezeichnung Milch in Verkehr gebracht werden darf, sind Umschreibungen wie Hafergetränk oder Haferdrink gängig. Bei der Verwendung als Futtergetreide können die Spelzen am Korn bleiben. Neben den bespelzten Hafersorten gibt es auch „Nackthafer“, er verliert beim Dreschen seine Spelzen. Seine Erträge sind jedoch geringer. Gesundheitliche Bedeutung Aufgrund der vielfältigen Anwendungen und Wirkung wurde der Saat-Hafer von einer Arbeitsgruppe der Universität Würzburg zur Arzneipflanze des Jahres 2017 gewählt. Hervorzuheben sind folgende Nährstoffe: der zehnprozentige Ballaststoffanteil, u. a. mit Beta-Glucanen die Qualität der Kohlenhydrate die Eiweißzusammensetzung die ungesättigten Fettsäuren (75 Prozent des Gesamtfettanteiles) bestimmte Vitamine und Mineralstoffe Verdauung Beta-Glucane (z. B. Cellulose und Lichenin, spezifische Polysaccharide der Zellwand aller Süßgräser und Getreide) sind die Schlüsselsubstanzen der ernährungsphysiologischen Wirkungen des Hafers. Diese Ballaststoffe kommen im Haferkorn überwiegend in der äußeren Schicht des Mehlkörpers, der Subaleuronschicht, vor. Beta-Glucane machen knapp die Hälfte des Gesamtballaststoffgehaltes im Hafer aus. 100 Gramm Haferflocken enthalten etwa 4,5 Gramm Beta-Glucane. Aufgrund des höheren Gesamtballaststoffanteils liegt der Beta-Glucan-Gehalt in Haferkleie mit 8,1 Gramm pro 100 Gramm höher. Die chemisch-physikalischen Eigenschaften der Hafer-Beta-Glucane führen zu einer Reihe von physiologischen Wirkungen auf den Verdauungstrakt sowie den Stoffwechsel. Im Vordergrund stehen positive Effekte auf den Cholesterin- und den Blutzuckerspiegel. Die Fähigkeit der Hafer-Beta-Glucane, Gallensäuren zu binden, führt zur Ausscheidung von Cholesterin, was zur Senkung des Gesamt- sowie LDL-Cholesterinspiegels führt. Damit können die Blutgefäße vor schädlichen Ablagerungen geschützt werden. Hafer-Beta-Glucane bilden im Magen und Dünndarm eine zähflüssige Konsistenz, die eine verlangsamte Resorption der Nährstoffe aus der gelartigen Masse zur Folge hat. Dies führt zu einem weniger starken und zeitverzögerten Anstieg des Blutglucosespiegels. Wissenschaftliche Studien lassen den Schluss zu, dass ein hoher Verzehr an Ballaststoffen u. a. das Risiko für Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und die koronare Herzkrankheit reduzieren kann. Weitere Wirkungen des Beta-Glucans sind die positiven Effekte auf die Verdauungsfunktion. Die viskose Substanz aus den löslichen Ballaststoffen schützt die Darmwand vor äußeren Reizen und beruhigt den empfindlichen Magen. Die unlöslichen Ballaststoffe wirken regulierend auf die Verdauungstätigkeit. Hafer ist ein beliebtes Lebensmittel in der Säuglings- und Kleinkindernährung. Auch bei gastrointestinalen Beschwerden wird Hafer eingesetzt. Die besondere Bekömmlichkeit und leichte Verdaulichkeit von Hafereiweiß und -fett spielen hierbei eine große Rolle. Diabetes Im Rahmen der Diabetestherapie und Diabetikerernährung spielen der verzögerte Anstieg des Blutzuckerspiegels und die damit geringere Insulinausschüttung eine wichtige Rolle. Daher sollten bei kohlenhydrathaltigen Lebensmitteln Produkte mit einem niedrigen glykämischen Index und vor allem Vollkornprodukte, wie z. B. Haferflocken oder Haferspeisekleie, ausgewählt werden. Mediziner, Diabetologen und Diabetesberater wenden zum Teil die sogenannten „Hafertage“ an. Dabei handelt es sich um eine spezielle haferbetonte Kost, die über zwei bis maximal drei Tage eingenommen wird. Sie stellt eine besondere und sehr intensive Form der diätetischen Intervention in der Behandlung der Insulinresistenz bei Diabetes mellitus Typ 2 dar. Ziel ist es, mit einer einfachen Methode Blutzuckerwerte zu verbessern, die Insulinresistenz zu verringern und somit die Insulinsensitivität zu erhöhen. Dadurch wird weniger Insulin für die Verarbeitung der Glucose benötigt. Wissenschaftliche Studien und Erfahrungen aus der Praxis bestätigen die Reduzierung der Insulinzufuhr nach dieser Anwendung. Allergie und Zöliakie Für viele Allergiker und Betroffene von Zöliakie sowie chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Reizdarmsyndrom, Kurzdarmsyndrom) ist nur Gliadin, nicht aber zugleich auch jedes andere Gluten unverträglich. Die in dieser Weise Betroffenen müssen deshalb zwar die klassischen Getreide (Weizen, Triticale, Roggen und ihre botanischen Vorläufer) meiden, können aber Hafer und Haferprodukte je nach Empfindlichkeit gegebenenfalls vertragen. Es muss hier aber sichergestellt sein, dass der Hafer beim lebensmitteltechnologischen Behandlungsprozess nicht mit Weizenmehl usw. vermischt wurde. Im Jahre 2004 wurden Ergebnisse einer klinischen Studie an Kindern, die an Zöliakie litten, veröffentlicht. Diese hatten über ein Jahr entweder eine glutenfreie Diät oder eine glutenfreie Diät mit täglich 25–50 g Hafer erhalten. Hierbei wurde festgestellt, dass kleine Mengen Hafer in der glutenfreien Diät weder die Heilung der Dünndarmschleimhaut noch die Regulation des Abwehrsystems verhindern. Einige Länder (z. B. Kanada, Schweden) haben den Konsum von glutenfreiem Hafer bis zu einer täglichen Menge von 50 g freigegeben. Andere Studien wiederum ergaben, dass eine geringe Zahl an Zöliakiebetroffenen auf glutenfreien Hafer negativ reagiert. Daher rät die Deutsche Zöliakie-Gesellschaft Betroffenen vom Verzehr von Hafer ab. Die Verwendung des Haferkrautes und des Haferstrohs in der Naturheilkunde In der mittelalterlichen Medizin wurden und in Naturheilkunde werden das grüne Haferkraut (Herba avenae) und das Haferstroh (Stramentum avenae, auch „Haberstroh“) verwendet. Stramentum avenae wird vor allem für Haferstrohbäder verwendet. Diese sollen bei Hautverletzungen helfen und Juckreiz stillen. Das Haferkraut wird als Tee verwendet. Zu den volkstümlichen Anwendungsgebieten zählen nervöse Einschlafstörungen, Harngrieß und rheumatische Erkrankungen. Manche Medikamente gegen nervöse Unruhe enthalten Haferextrakte. Für die in Avena sativa enthaltenen Avenanthramide konnten im Versuch reizmildernde, entzündungshemmende und juckreizstillende Effekte beschrieben werden. Einige Kosmetikartikel enthalten Hafer zur Beruhigung trockener und gereizter Haut, auch Haarpflegeprodukte zur Stärkung der Haarstruktur sind auf dem Markt. Rechtliche Bestimmungen Die EU-Verordnung zu nährwert- und gesundheitsbezogenen Angaben sieht vor, dass verzehrsfertige Lebensmittel, die mindestens ein Gramm Hafer-Beta-Glucan pro Verzehrportion enthalten, mit dem cholesterinsenkenden Effekt ausgelobt werden dürfen. Dazu müssen sie den Hinweis tragen, dass insgesamt drei Gramm Hafer-Beta-Glucan pro Tag erforderlich sind. Mit vier Esslöffeln Haferkleie (40 Gramm) sind 3,2 Gramm Beta-Glucan erreicht. Mit Health-Claims-Verordnung (zu Deutsch etwa „Gesundheitsbehauptungen-Verordnung“) wird die Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel bezeichnet. Hierin und in der Liste für nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben sind 222 davon in der „Artikel-13-Liste“ festgelegt und veröffentlicht worden. Es ist festgelegt, welche Gesundheitsbehauptungen in der Werbung und auf Fertigpackungen verwendet werden dürfen. Mögliche Health-claims könnten sein: Trivialnamen Als weitere deutschsprachige Trivialnamen für den Hafer als Pflanze bzw. für deren Same werden bzw. wurden, zum Teil nur regional, auch die nachfolgenden Bezeichnungen verwandt: In Kärnten ist für die Unterart Avena sativa var. orientalis der Name Fahnenhafer überliefert. Für die Unterart Avena sativa var. vulgaris sind die Trivialnamen Biven/Biwen (Ostfriesland), Evena/Evina (mittelhochdeutsch), Flöder (Graubünden), Habaro/Haberr/Habir (althochdeutsch), Habbern/Haberen/Hafern/Haffern (mittelhochdeutsch), Haber (mittelhochdeutsch; Schweiz, Österreich, Süddeutschland), Haffer (Frankfurt), Haowr´r (Altmark), Havern (mittelniederdeutsch), Hawer/Hawerkorn (Mecklenburg, Waldeck, Unterweser), Heberin/Hebrein Brod (mittelhochdeutsch), Huever (Siebenbürgen), Hyllmann (Schwaben), Koorn (Münsterland) und Rispenhafer. Geschichte Wild-Hafer wurde als Ackerunkraut nach Mitteleuropa eingeschleppt. Besonders bei frühen Funden ist die Trennung von wildem und domestizierten Hafer nicht immer einfach. Werden nur einzelne Körner gefunden, kann es sich um eine spätere Verunreinig handeln. Um etwa 5000 v. Chr. sind die ältesten Nutzungsnachweise von Hafer in Polen und der nördlichen Schwarzmeerregion zu finden. In den vorgeschichtlichen Getreidefunden taucht Hafer nie in Reinform, sondern immer als Beimengung auf. Dies lässt den Schluss zu, dass Hafer zunächst als Beigras auf Gersten- und Weizenfeldern wuchs. Er wird daher zu den sekundären Kulturpflanzen gezählt. Die ersten Nutzungsbelege in Mitteleuropa stammen von 2400 v. Chr. Der früheste Nachweis für Haferanbau stammt aus bronzezeitlichen Pfahlbausiedlungen in der Schweiz. Im nördlichen Mitteleuropa war Hafer zu Beginn der Eisenzeit noch seltener als Gerste und Weizen. Auch die Germanen schätzten den Hafer. Bis ins Mittelalter war der Haferanbau auf das Gebiet nördlich des Mains beschränkt. Ab dem Hochmittelalter ist Hafer in Mittelgebirgslagen eine bedeutende Feldfrucht, die erst durch die Einführung der Kartoffel ihre Stellung verlor. Die Bedeutung des Hafers wird auch darin deutlich, dass er in deutschen Familiennamen vorkommt, z. B. Haferkamp (= Hafer-Feld). Bis in die Neuzeit wurde Hafer in klimatisch wenig günstigen Gegenden Deutschlands häufig angebaut, da er bei ungünstigen Witterungsbedingungen (Staunässe, Trockenheit, mangelnde Bodenqualität) und schlechter Nährstoffversorgung stabilere Erträge liefert als zum Beispiel Sommergerste. Noch 1939 rangierte Hafer in der weltweiten Bedeutung nach Weizen und Mais an dritter Stelle der Getreidearten. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Anbau zurückgegangen, zum Teil wegen der Motorisierung, die Zugpferde (als Haferkonsumenten) mehr und mehr überflüssig machte und damit die Nachfrage senkte. In Deutschland war Hafer bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Roggen die wichtigste Getreideart. Heute ist der Haferanbau in Deutschland gegenüber den anderen Getreidearten von untergeordneter Bedeutung. In den letzten Jahrzehnten nahm die Produktion wieder zu, da der Pferdesport an Popularität gewonnen hat. Quellen Antike – Spätantike: Theophrast 4. Jh. v. Chr. --- Dioskurides 1. Jh. --- Plinius 1. Jh. --- Galen 2. Jh. Arabisches Mittelalter: Ibn al-Baitar 13. Jh. Lateinisches Mittelalter: Hildegard von Bingen 12. Jh. --- Guy de Chauliac 1363 --- Cpg 226 1456–1469 --- Cpg 666 1478 --- Gart der Gesundheit 1485 --- Hortus sanitatis 1491 Neuzeit: Otto Brunfels 1537 --- Hieronymus Bock 1539 --- Leonhart Fuchs 1543 --- Mattioli / Handsch / Camerarius 1586 --- Nicolas Lémery 1699/1721 --- William Cullen 1789/90 --- Jean-Louis Alibert 1805/05 --- Hecker 1814/15 --- Philipp Lorenz Geiger 1830 --- Pereira / Buchheim 1846/48 --- Bentley / Henry Trimen 1880 --- Berta Brupbacher-Bircher 1927/32 --- Wolfgang Schneider 1974 Historische Abbildungen Literatur Weblinks Thomas Meyer: Datenblatt mit Bestimmungsschlüssel und Fotos bei Flora-de: Flora von Deutschland (alter Name der Webseite: Blumen in Schwaben). Arzneipflanze des Jahres 2017: Echter Hafer – Avena sativa. in Welterbe Klostermedizin, 25. Oktober 2016. Einzelnachweise Hafer Hafer Getreideart
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Hirse
Hirse ist eine Sammelbezeichnung für kleinfrüchtiges Spelzgetreide mit 10–12 Gattungen. Sie gehören zur Familie der Süßgräser (Poaceae). Der früher auch männlich gebrauchte Name Hirse stammt aus dem Altgermanischen (ahd. hirsa neben hirsi und hirso) und ist von einem indogermanischen Wort für „Sättigung, Nährung, Nahrhaftigkeit“ abgeleitet (vgl. die römische Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit Ceres). Hirse diente bereits vor 8000 Jahren dazu, ungesäuertes Fladenbrot herzustellen. In China wird Rispenhirse seit mindestens 4000 Jahren landwirtschaftlich genutzt. Die Rispenhirse oder Echte Hirse (Panicum miliaceum) wurde früher auch in Europa als Nahrungsmittel angebaut. Hirsen sind, wie Mais, wärme- und lichtliebende C4-Pflanzen. Alle Hirsearten können nach der Beschaffenheit der Körner in zwei Hauptgruppen eingeteilt werden: Sorghumhirsen (Sorghum) mit deutlich größeren Körnern und damit auch höheren Hektarerträgen (14–17 dt/ha). Millethirsen (Paniceae, auch Echte Hirsen oder Kleine Hirsen genannt). Zu diesen gehören die meisten Gattungen, z. B. Rispenhirse (Panicum), Kolbenhirse (Setaria), Perlhirse (Pennisetum), Fingerhirse (Eleusine) und Teff (Eragrostis). Die Körner dieser Gattungen sind recht klein, die Erträge entsprechend gering (ca. 7–9 dt/ha). Der Begriff „Millet“ wird überwiegend in der englischen und französischen Sprache verwendet. In Afrika spricht man häufig auch von Milo oder Milocorn. Genutzte Arten Zu den kultivierten und genutzten Hirsen zählen folgende Arten: Unterfamilie Panicoideae: Tribus Andropogoneae: Sorghum Sorghumhirse, Milocorn, Milo (Sorghum bicolor (L.) Moench) einschließlich Zuckerhirse Sudangras (Sorghum × drummondii (Steud.) Millsp. & Chase) Coix Hiobsträne (Coix lacryma-jobi L.) ebenfalls Unterfamilie Panicoideae: Tribus Paniceae: Panicum Rispenhirse, Braunhirse (Panicum miliaceum L.) Sowihirse (auch sauwi, Panicum hirticaule J.Presl, syn.Panicum sonorum Beal). Wild gesammelt und zur Subsistenzlandwirtschaft kultiviert im südwestlichen Nordamerika, bis Mexiko. Kutkihirse (Panicum sumatrense Roth) Rutenhirse (Panicum virgatum L.) Afezu, Merkba (Panicum turgidum Forssk.), (Panicum laetum Kunth), (Panicum anabaptistum Steud.), afrikanische Wildsorten, welche auch als Getreide genutzt werden. Australische Hirse (Panicum decompositum R.Br.), die Wildsorte wurde früher von den Aborigines in Australien häufig genutzt. Setaria Kolbenhirse (Setaria italica (L.) P.Beauv.) (Setaria sphacelata (Schumach.) Stapf & C.E.Hubb. ex Moss), (Setaria pumila (Poir.) Roem. & Schult.), (Setaria verticillata (L.) P.Beauv.), (Setaria finita Launert), (Setaria parviflora (Poir.) M.Kerguelen), wilde und wenig kultivierte Sorten die in Afrika und Indien als Viehfutter und in Notzeiten genutzt werden. Pennisetum Perlhirse (Pennisetum glaucum (L.) R.Br.) Paspalum Kodohirse (Paspalum scrobiculatum L.), ist ein sehr trockenheitsresitentes Getreide, das auch auf nährstoffarmen Böden wächst. Es wird in Indien, aber auch auf den Philippinen, in Indonesien, Vietnam, Thailand und in Westafrika angebaut. Echinochloa Japanhirse, Sawahirse (Echinochloa frumentacea Link), wird in Ägypten, Indien, Kaschmir und Sikkim angebaut und als Nahrungsmittel verwendet. In den USA, Afrika und Kanada wird es größtenteils als Futtermittel für Vieh und als Vogelfutter genutzt. Japan-Hühnerhirse, auch Japanhirse (Echinochloa esculenta (A.Braun) H.Scholz), wird in kleinem Maßstab in Japan, China und Korea sowohl als Nahrung als auch als Tierfutter angebaut, als Grünfutter auch in Australien und den USA. Hühnerhirse (Echinochloa crus-galli (L.) P. Beauv.), die wilde Stammform von Echinochloa esculenta. Wurde im Neolithikum besammelt, heute gefürchtetes Unkraut im Reis (nach FAO drittwichtigste Unkrautpflanze weltweit), nicht angebaut oder kultiviert. Burgu, Bourgou, Banti (Echinochloa stagnina (Retz.) P. Beauv.). Früher im Nigerdelta als Wildgetreide geerntet, nicht kultiviert. Heute nur noch als Viehfutter. Schamahirse, Chindumba (Echinochloa colona (L.) Link), in Indien und Ostafrika, wird aber selten genutzt. Die wilde Stammform von Echinochloa frumentacea. Antilopengras (Echinochloa pyramidalis (Lam.) Hitchc. & Chase.), selten genutztes Wildgetreide in Teilen Afrikas, wird nicht kultiviert. Digitaria Foniohirse; Weißer Fonio (Digitaria exilis (Kippist) Stapf), Schwarzer Fonio (Digitaria iburua Stapf), Grundnahrungsmittel in einigen Regionen Westafrikas mit armen Böden, wie Ost-Senegal, West-Burkina Faso, Süd-Mali, Süd-Niger, Nordost-Nigeria und Kamerun. Raishan (Digitaria compacta), (Digitaria cruciata), nur in Nordost-Indien genutzt. Blutrote Fingerhirse (Digitaria sanguinalis) Urochloa (Urochloa panicoides P.Beauv.), nur in Gujarat, Indien. (Urochloa mosambicensis (Hack.) Dandy), (Urochloa trichopus (Hochst.) Stapf ), (Urochloa brizantha (Hochst. ex A.Rich.) R.Webster) Syn.: Brachiaria brizantha (A.Rich.) Stapf, werden als Wildgetreide in Teilen Afrikas genutzt, nicht kultiviert. Brachiaria Guinea-Hirse, Kolo (Brachiaria deflexa (Schumach.) C.E.Hubb. ex Robyns), nur lokal in Guinea. Braune Hirse, Anda Cora (Brachiaria ramosa (L.) Stapf), nur in Südindien kultivierte Sorte. Unterfamilie Chloridoideae: Tribus Eragrostideae: Eleusine Fingerhirse (Eleusine coracana (L.) Gaertn.) Eragrostis Teff (Eragrostis tef (Zucc.) Trotter) Eragrostis pilosa (L.) P.Beauv. Vermutlich die wilde Stammart von Teff, gelegentlich als Wildgetreide in Ostafrika genutzt, nicht kultiviert. Nutzung Die wirtschaftlich wichtigsten Hirsen sind die Perlhirse, die Sorghumhirse (auch Zuckerhirse), die Fingerhirse, die Rispenhirse, die Kolbenhirse und der Teff, auch Zwerghirse genannt. Nahrungs- und Futtermittel Die Hirse ist ein sehr mineralstoffreiches Getreide. In Hirse sind Fluor, Schwefel, Phosphor, Magnesium, Kalium und im Vergleich zu anderen Getreiden besonders viel Silizium (Kieselsäure), Eisen und Vitamin B6 enthalten. Hirse und Sorghum können mit einem Gesamtphenolgehalt von ca. 35 bis 50 mg/100 g (Ferulasäureäquivalente in der Trockenmasse) sehr hohe Mengen an phenolischen Substanzen enthalten, denen überwiegend eine gesundheitsförderliche Wirkung zugesprochen wird. Sie verringern den glykämischen Index und führen häufig zu einer Senkung des Blutcholesterinspiegels. Unter Umständen verringert sich bei regelmäßigem Konsum das Risiko des Auftretens von Speiseröhrenkrebs (im Vergleich zur Aufnahme von Weizen und Mais). In Hirse enthaltene Flavonoide (Polyphenole) können allerdings, ähnlich wie Sojabohnen oder Maniok, die Aufnahme von Jod aus der Nahrung behindern und so die krankhafte Vergrößerung der Schilddrüse (Struma) fördern. Im Handel üblich ist die von Schalen befreite Hirse („Goldhirse“). Es gibt daneben die ungeschälte Hirse, in der die meisten an den Schalen haftenden Mineralstoffe und Spurenelemente erhalten sind, sowie die dunkelschalige Braunhirse. Möglicherweise ist jedoch der Blausäuregehalt besonders bei roher Hirse nicht ganz unbedenklich. Hirse kann zur Herstellung glutenfreier Backwaren verwendet werden. In vielen Gebieten Afrikas und Asiens sind die unterschiedlichen Hirsearten Hauptnahrungsmittel, werden allerdings zunehmend durch Mais verdrängt. Kolbenhirse dient als Nahrung und in Osteuropa als Viehfutter, in Europa und Nordamerika zudem als Vogelfutter für die Ziervogelhaltung. Hirse ist darüber hinaus die Grundlage einiger traditioneller Biere, zum Beispiel Dolo in Westafrika, Pombe in Ostafrika und Merisa im Sudan. In Äthiopien und Eritrea ist die Hirseart Teff (Eragrostis tef) die wichtigste Nahrungspflanze der Menschen. Industriell wird Hirse von einigen spezialisierten Brauereien zur Herstellung von glutenfreiem Bier für Menschen mit Zöliakie oder anderen Formen der Glutenunverträglichkeit genutzt. In China werden aus Hirse eine Reihe von Spirituosen gebrannt, die Baijiu genannt werden; der bekannteste chinesische Hirseschnaps ist Maotai. Industrielle Nutzung Für die industrielle Nutzung ist vor allem die Sorghumhirse von Interesse. Neben den Samen wird bei ihr auch der Halm zur Herstellung von Naturfasern genutzt (Faserhirse). In den USA werden große Hoffnungen in die Rutenhirse als Lieferant von Cellulose-Ethanol gesetzt. Die Sorghumhirse gilt aufgrund der großen und kohlenhydratreichen Biomasse als aussichtsreiche Energiepflanze zur Biogaserzeugung, vor allem in trockenen Lagen. Nutzungsgeschichte Die beiden ältesten Funde von Rispenhirse in Deutschland (Nähe Leipzig und Kreis Hadersleben) stammen aus der Zeit der Linienbandkeramik (Altneolithikum 5500–4900 v. Chr.). Im Altertum und Mittelalter zählten die unterschiedlichen Hirsearten zum meistangebauten Getreide. Durch Ausgrabungen in Mittel- und Norddeutschland ist ebenso der Hirseanbau in der vorrömischen Eisenzeit (Hallstatt- und Latènezeit) sowie der römischen Zeit (1.–3. Jahrhundert n. Chr.) belegt. In der frühen Neuzeit wurden sie in Europa durch die Einfuhr und folgenden Anbau von Kartoffel und Mais fast völlig verdrängt. Hinweise auf Hirseanbau und -verarbeitung finden sich allerdings noch aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Im Himalayagebiet wird aus verschiedenen Sorten ein schwachalkoholisches Bier gebraut. Auf dem Balkan, in der Türkei und in Zentralasien trinkt man ein schwachalkoholisches Getränk namens Boza, welches (ursprünglich) auf Hirsemalz basiert. Gästen des Hunnenkönigs Attila wurde ausschließlich Hirse gereicht. Um die Gesundheit und Kraft zu stärken, empfahl der griechische Philosoph Pythagoras die Hirse. Hirsen spielen in Mitteleuropa für die Ernährung des Menschen keine große Rolle mehr, obwohl sie bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts weit verbreitet waren. Da sie auch auf trockeneren und nährstoffärmeren Boden wuchsen, galten sie als „Hungergetreide“. Durchschnittliche Zusammensetzung Die Zusammensetzung von Hirse schwankt naturgemäß, sowohl in Abhängigkeit von den Umweltbedingungen (Boden, Klima) als auch von der Anbautechnik (Düngung, Pflanzenschutz). Angaben je 100 g essbarem Anteil der Rispenhirse, Panicum miliaceum: Der physiologische Brennwert beträgt 1484 kJ (355 kcal) je 100 g essbarem Anteil. Wirtschaftliche Bedeutung Weltweit wurden im Jahr 2020 laut FAO insgesamt etwa 89,2 Mio. t Hirse produziert. Davon entfielen 58,7 Mio. t auf Sorghumhirsen und 30,5 Mio. t auf Millethirsen. Der Hektarertrag ist mit durchschnittlich 12,0 dt/ha (Sorghum: 14,6 dt/ha, Millet: 9,5 dt/ha) von allen Getreidearten der geringste. Dies ist einer der Gründe, weshalb der wesentlich ertragreichere Mais in den traditionellen Hirseanbaugebieten immer populärer wird. Allerdings hat Hirse gegenüber Mais den großen Vorteil, dass die Ernte selbst bei sehr schlechtem Wetter fast nie komplett ausfällt. Die produzierte Hirse wurde hauptsächlich zu Breinahrung, Süßspeisen und Futtermittel verarbeitet. Die größten Hirseproduzenten 2021 wurden laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO weltweit insgesamt etwa 91,5 Mio. t Hirse (davon: 61,4 Millionen Tonnen Sorghumhirsen und 30,1 Millionen Tonnen Millethirsen) geerntet. Folgende Tabellen geben eine Übersicht über die 10 jeweils größten Produzenten von Sorghum- und Millethirsen weltweit. Handel Im Jahr 2021 wurden weltweit etwa 10,9 Millionen Tonnen Sorghum exportiert. Die größten Exporteure waren die USA (6,6 Mio. t), Argentinien (2,11 Mio. t) und Australien (1,59 Mio. t). Siehe auch Hirsebreifahrt Der süße Brei Schlaraffenland Weblinks Einzelnachweise Getreideart
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https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%BClsenfr%C3%BCchte
Hülsenfrüchte
Hülsenfrüchte steht für: den Plural einer botanischen Fruchtform, siehe Hülsenfrucht Pflanzen und Gemüse, siehe Hülsengemüse Hülsenfrüchtler
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hansestadt
Hansestadt
Eine Hansestadt hatte sich dem mittelalterlichen Kaufmanns- und Städtebund der Hanse angeschlossen. Darunter waren vor allem Hafenstädte in den Küstenregionen, aber auch Städte im Binnenland, vor allem an bedeutenden Flüssen. Durch Freihandel und ein geschäftstüchtiges Bürgertum gelangten viele Hansestädte zu hohem Wohlstand, wovon noch heute wertvolle Kultur- und Baudenkmäler zeugen. Bedeutung Insgesamt gab es rund 200 Orte, die zu einem Bestandszeitpunkt des Bundes direkt oder indirekt der Hanse angehörten. Ihren Ausgangspunkt nahm die Hanse Mitte des 12. Jahrhunderts in Lübeck, das als „Königin“ und „Mutter der Hanse“ betitelt wird. Der Verbund der Städte in der Hanse war sehr lose und wurde mit keinem Vertrag schriftlich beschlossen. Deswegen ist es mitunter schwer zu sagen, welche Städte zu welchem Zeitpunkt zur Hanse gehörten. Die Hanse selbst wollte Anzahl und Namen ihrer Städte nie festlegen. So weigerte sie sich gegenüber dem König von England, eine detaillierte Liste mit Städtenamen vorzulegen – es gab wohl eine solche Liste auch nie. Der Zeitpunkt der Betrachtung ist entscheidend, denn Aus- und Eintritte, Zusammenschlüsse und Verfeindungen waren an der Tagesordnung. Viele kleine Hansestädte waren ihrer größeren Nachbarstadt zugeordnet, die wiederum in der Hanse vertreten war. Beim letzten Hansetag 1669 in Lübeck waren nur noch neun Städte vertreten: Lübeck, Hamburg, Bremen, Braunschweig, Danzig, Hildesheim, Köln, Osnabrück und Rostock. Lübeck, Hamburg und Bremen waren bereits auf den Hansetagen 1629 und 1641 damit beauftragt worden, das Beste zum Wohle der Hanse zu wahren; sie wurden 1669 Sachwalter des Erbes der Hanse, einschließlich der Hansekontore. Diese drei reichsunmittelbaren Städte blieben durch vertragliche Beziehungen verbunden. Sie betrieben gemeinsame konsularische Vertretungen und beschlossen schließlich gemeinsam den Verkauf des Stalhofs in London (1853). Neben dem Titel „Freie Stadt“ führten sie den Beinamen „Hansestadt“ – seit Beginn des 18. Jahrhunderts offiziell und seitdem durchgehend als amtlicher Bestandteil des Landes- bzw. Stadtnamens, wobei Lübeck den Status als „Freie Stadt“ durch das Groß-Hamburg-Gesetz 1937 verlor und auch 1956 durch das Lübeck-Urteil nicht zurück erhalten konnte. 1803 behielten durch den Reichsdeputationshauptschluss nur die Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg ihre Selbstständigkeit, neben den Reichsstädten Frankfurt am Main, Nürnberg und Augsburg (beide 1805/1806 von Bayern annektiert). 1815 beim Wiener Kongress blieben Lübeck, Bremen, Hamburg sowie Frankfurt als Stadtstaaten selbstständig, bis Frankfurt im Jahr 1866 als Folge des preußisch-österreichischen Krieges durch Preußen annektiert wurde. Da die drei norddeutschen Hansestädte ihre Eigenständigkeit im Deutschen Bund nach dem Wiener Kongress, im Norddeutschen Bund nach dem preußisch-österreichischen Krieg 1866 und im Deutschen Kaiserreich fortlaufend bewahren konnten, bekamen sie 1906 bei der Einführung von Autokennzeichen ein H für „Hansestadt“ vor den Anfangsbuchstaben ihres Namens gestellt: HL, HH, HB. Dieses Prinzip wurde nach der deutschen Wiedervereinigung auch bei Rostock, Wismar, Stralsund und Greifswald angewandt. 1980 wurde in Zwolle die „Neue Hanse“ als größte internationale Städtepartnerschaft gegründet. Der 1983 in Herford ins Leben gerufene Westfälische Hansebund strebt ebenfalls an, hansische Traditionen wiederzubeleben. Seit 1990 führen in Deutschland einige Hansestädte diesen touristisch bedeutsamen Beinamen wieder offiziell zum Stadtnamen (Stand April 2016: 22 neu hinzugekommene Städte), sofern die Voraussetzungen des jeweiligen Landes hierfür gegeben sind. Die Farben der Hanseflaggen sind Weiß und Rot. Städtegruppen innerhalb der Hanse Wie die Zugehörigkeit zur Hanse waren auch die Städtegruppen ständig Änderungen unterworfen. Meist wurden Städte nach Regionen zusammengefasst, wie die Drittel oder Quartiere des Kontors in Brügge verdeutlichen. 1347–1494 lübisch-sächsische Städte unter der Führung von Lübeck westfälisch-rheinische Städte unter Führung von Dortmund (später Köln), siehe auch Städtebünde und Hanse in der Geschichte Westfalens schwedisch-livländische Städte unter Führung von Visby (später auch Riga) ab 1494 wendische Städte unter der Führung von Lübeck, siehe Wendischer Städtebund (weitere wendische Städte nach Dollinger: Lüneburg, Hamburg, Wismar, Rostock, Stralsund) sächsische Städte unter der Führung von Braunschweig und Magdeburg preußisch-livländische Städte unter der Führung von Danzig westfälische Städte unter der Führung von Köln. Ähnlich wie Lübeck eine Vormachtstellung innerhalb der Hansestädte führte, so nahmen die wendischen Städte innerhalb dieser Städtegruppen häufig eine Vorreiterrolle ein. Eine weitere mögliche regionale Aufteilung ist die in See- und Binnenlandstädte. Eine Aufteilung nach den vorherrschend gehandelten Waren oder nach der jeweiligen Einwohnerzahl ist ebenfalls möglich. Alle diese Aufteilungen haben den Makel, dass sie sich auf eine dünne Datenlage stützen. Diese Aussage gilt im Grunde auch für die Zugehörigkeit der Städte zu einem Drittel oder Viertel, denn aus der Lage einer Stadt in einer bestimmten Region kann nicht mehr automatisch die Zugehörigkeit zur entsprechenden Gruppe abgeleitet werden. Eine Klassifizierung von zwölf Hansestädten (vermutlich aus dem 15. Jahrhundert) ist in einem Merkvers überliefert: Gebrauch des Beinamens Hansestadt Lübeck, Bremen und Hamburg Bis 1990 trugen lediglich die drei 1669 als Erben der Hanse eingesetzten Städte Lübeck, Bremen und Hamburg offiziell den Beinamen „Hansestadt“. Er wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Teil des Staatstitels dieser ursprünglich reichsunmittelbaren freien Reichsstädte dem Titel der Freien Stadt, Ausdruck für die Souveränität dieser eigenständigen Stadtstaaten, beigestellt. Zudem war historisch ein Hanseat Mitglied der Oberschicht der drei Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Zusatz „Freie“, einhergehend mit dem Wegfall jeglicher Eigenstaatlichkeit, abgeschafft. Mit Gründung der Bundesrepublik nahmen Bremen (Freie Hansestadt) und Hamburg (Freie und Hansestadt) wieder beide Titel als Bezeichnung in ihren Landesnamen auf. Lübeck war durch das Groß-Hamburg-Gesetz seit 1937 nur noch kreisfreie Stadt in Schleswig-Holstein und konnte außer dem Titel „Hansestadt“ den Zusatz „Freie“ nach dem Krieg nicht wiedererlangen (Lübeck-Urteil 1956). Weitere Hansestädte seit der Wiedervereinigung Deutschlands Nach der Wiedervereinigung (1990) benannten sich in historischer Rückbesinnung sechs Städte in Mecklenburg-Vorpommern als Hansestädte und über die Jahre folgten weitere. Damit führen offiziell mindestens 27 deutsche Städte die Bezeichnung Hansestadt als Namenszusatz. Festgelegt ist dies in den jeweiligen Hauptsatzungen. Der Titel gilt nicht für andere ehemalige Hansestädte, unabhängig von ihrer Bedeutung für die historische Hanse. Kfz-Kennzeichen Bei den in einigen Hansestädten vergebenen Kfz-Kennzeichen steht das „H“ vor dem Namenskürzel der jeweiligen Stadt für Hansestadt. 1906 wurde erstmals ein einheitliches System von Kennzeichen für die 25 Bundesstaaten und Elsaß-Lothringen im Deutschen Reich beschlossen. Die drei Bundesstaaten der freien Hansestädte Bremen (HB), Hamburg (HH) und Lübeck (HL) erhielten Buchstabenkürzel, die in dieser Form (mit Unterbrechung) als einzige noch bestehen geblieben sind. Mit der Änderung der Kennzeichen nach der Wiedervereinigung erhielten 1991 Greifswald (HGW), Rostock (HRO), Stralsund (HST) und Wismar (HWI) ein „H“ im Namenskürzel vorangestellt. Liste der historischen Hansestädte Hier eine regional gegliederte Liste nach Dollinger von Städten, aus denen Kaufleute zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert hansische Privilegien in Anspruch nahmen (teilweise nur kurzzeitig). Von den rund 200 hier nachgewiesenen Städten wurde aktiv hansische Politik von etwa 70 betrieben. Die Mehrzahl der Hansestädte ließ sich (etwa bei den Hansetagen) von einer größeren Nachbarstadt vertreten. Nordseeküste (Hinterland) Bremen, Freie Reichsstadt; eine der letzten neun Hansestädte 1669 Buxtehude, Erzstift Bremen Groningen, Freie Reichsstadt Hamburg, Freie Reichsstadt; der Vertrag zwischen Hamburg und Lübeck 1241 gilt als Geburtsstunde der Hanse, eine der letzten neun Hansestädte 1669 Stade, Erzstift Bremen Ostseeküste westlich der Oder Anklam, Herzogtum Pommern Demmin, Herzogtum Pommern Greifswald, Herzogtum Pommern Kiel, Grafschaft Holstein, später Herzogtum Holstein Lübeck, Freie Reichsstadt; der Vertrag zwischen Hamburg und Lübeck 1241 gilt als Geburtsstunde der Hanse, eine der letzten neun Hansestädte 1669 Rostock, Fürstentum Rostock, später Herzogtum Mecklenburg; eine der letzten neun Hansestädte 1669 Stettin, Herzogtum Pommern Stralsund, Fürstentum Rügen, später Herzogtum Pommern Wismar, Herzogtum Mecklenburg Wolgast, Herzogtum Pommern Hinterpommern In Hinterpommern gehörten die folgenden Städte zur Hanse: Belgard, Herzogtum Pommern Dramburg, Herzogtum Pommern Gollnow, Herzogtum Pommern Greifenberg, Herzogtum Pommern Kammin, Herzogtum Pommern Kolberg, Herzogtum Pommern Köslin, Herzogtum Pommern Schlawe, Herzogtum Pommern Stargard, Herzogtum Pommern Stolp, Herzogtum Pommern Treptow, Herzogtum Pommern Wollin, Herzogtum Pommern Preußen, Schlesien und Polen Einige Hansestädte gehören zum Bereich von Preußen, Schlesien und Polen. Vorort: Danzig, Deutschordensland; seit 1457 Stadtstaat unter der Krone Polens, als solcher seit 1466 im Preußen königlichen Anteils, damit ab 1569 freie Stadt in der Republik Polen-Litauen; eine der letzten neun Hansestädte 1669 Braunsberg, Deutschordensland; seit 1466 Fürstbistum Ermland mit Sonderstatus im Preußen königlichen Anteils, damit ab 1569 unter dem Dach der Republik Polen-Litauen Brandenburg an der Havel, Mitglied der Hanse ab etwa 1310 bis 1512 Breslau, Stadtstaat (formell im Fürstentum Breslau), Lehen des böhmischen Königs Elbing, Deutschordensland; seit 1457 Stadtstaat unter der Krone Polens, als solcher seit 1466 im Preußen königlichen Anteils, damit ab 1569 freie Stadt in der Republik Polen-Litauen Königsberg, Deutschordensland, seit 1525 Herzogtum Preußen Kulm, Deutschordensland; seit 1466 im Preußen königlichen Anteils, damit ab 1569 Republik Polen-Litauen Thorn, Deutschordensland; seit 1457 Stadtstaat unter der Krone Polens, als solcher seit 1466 im Preußen königlichen Anteils, damit ab 1569 freie Stadt in der Republik Polen-Litauen Krakau, Königreich Polen Livländische und schwedische Städte Die folgenden Hansestädte gehören zum Territorium von Livland und Schweden. Dorpat (heute Tartu), Bistum Dorpat, später Fürstentum Livland (Republik Polen-Litauen), später Königreich Schweden Fellin (heute Viljandi), Ordensstaat, später Fürstentum Livland (Republik Polen-Litauen), später Königreich Schweden Goldingen (heute Kuldīga), Ordensstaat, später Herzogtum Kurland (Lehen der Republik Polen-Litauen) Groß Roop (heute Straupe), Ordensstaat, später Fürstentum Livland (Republik Polen-Litauen), später Königreich Schweden Kokenhusen (heute Koknese), Erzbistum Riga, später Fürstentum Livland (Republik Polen-Litauen), später Königreich Schweden Lemsal (heute Limbaži), Erzbistum Riga, später Fürstentum Livland (Republik Polen-Litauen), später Königreich Schweden Pernau (heute Pärnu), Ordensstaat, später Fürstentum Livland (Republik Polen-Litauen), später Königreich Schweden Riga, Ordensstaat, später Fürstentum Livland (Republik Polen-Litauen), später Königreich Schweden Reval (heute Tallinn), Estland (Königreich Dänemark), später Ordensstaat, später Königreich Schweden Stockholm, Königreich Schweden Visby, Gotland (zu Königreich Schweden, 1409–1645 Königreich Dänemark) Wenden (heute Cēsis), Ordensstaat, später Fürstentum Livland (Republik Polen-Litauen), später Königreich Schweden Windau (heute Ventspils), Ordensstaat, später Herzogtum Kurland (Lehen der Republik Polen-Litauen) Wolmar (heute Valmiera), Ordensstaat, später Fürstentum Livland (Republik Polen-Litauen), später Königreich Schweden Niederrheingebiet Köln, Freie Reichsstadt; eine der letzten neun Hansestädte 1669 Dinant, Bistum Lüttich Dinslaken, Herzogtum Kleve Duisburg, Herzogtum Kleve Emmerich am Rhein, Herzogtum Kleve Grieth, Herzogtum Kleve Sonderfall: Neuss erhielt 1475 von Kaiser Friedrich III. die Rechte einer (eigenständigen) Hansestadt Nimwegen, Grafschaft Geldern, später Vereinigte Provinzen (Niederlande) Roermond, Grafschaft Obergeldern Tiel, Grafschaft Geldern, später Vereinigte Provinzen (Niederlande) Venlo, Grafschaft Obergeldern Wesel, Herzogtum Kleve Zaltbommel, Grafschaft Geldern, später Vereinigte Provinzen (Niederlande) IJssel- und Zuiderzeegebiet Arnhem, Herzogtum Geldern, später Vereinigte Provinzen (Niederlande) Deventer, Overijssel, später Vereinigte Provinzen (Niederlande) Doesburg, Grafschaft Zutphen, später Vereinigte Provinzen (Niederlande) Elburg, Herzogtum Geldern, später Vereinigte Provinzen (Niederlande) Harderwijk, Herzogtum Geldern, später Vereinigte Provinzen (Niederlande) Hasselt, Overijssel, später Vereinigte Provinzen (Niederlande) Hattem, Grafschaft Geldern, später Vereinigte Provinzen (Niederlande) Kampen, Overijssel, später Vereinigte Provinzen (Niederlande) Oldenzaal, Overijssel – Twente, später Vereinigte Provinzen (Niederlande) Ommen, Overijssel, später Vereinigte Provinzen (Niederlande) Stavoren, Friesland, später Vereinigte Provinzen (Niederlande) Zutphen, Grafschaft Zutphen, später Vereinigte Provinzen (Niederlande) Zwolle, Overijssel, später Vereinigte Provinzen (Niederlande) Zwischen Rhein und Weser (Westfälische Städte) Hauptstadt des Drittels/Viertels, Vorort: Dortmund, Freie Reichsstadt Vorort: Münster, Bistum Münster Vorort: Osnabrück, Bistum Osnabrück; eine der letzten neun Hansestädte 1669 Vorort: Soest, Herzogtum Westfalen, später eigenständiges Gebiet unter klevischer Landesherrschaft Ahlen, Bistum Münster Allendorf (Sundern), Grafschaft Mark Altena, Grafschaft Mark Arnsberg, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Attendorn, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Balve, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Beckum, Bistum Münster Belecke, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Bielefeld, Grafschaft Ravensberg Billerbeck, Bistum Münster Blankenstein, Grafschaft Mark Bocholt, Bistum Münster Bochum, Grafschaft Mark Bödefeld, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Borgentreich, Borken, Bistum Münster Brakel, Bistum Paderborn Breckerfeld, Grafschaft Mark Brilon, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Coesfeld, Bistum Münster Dorsten, Vest Recklinghausen (zu Kurköln) Dortmund, freie Reichs- und Hansestadt Drolshagen, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Dülmen, Bistum Münster Essen, Stift Essen Eversberg, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Freienohl, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Friesoythe, Niederstift Münster Fürstenau, Hochstift Osnabrück Geseke, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Grevenstein, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Hachen, Hagen, Grafschaft Mark Haltern (jetzt Haltern am See), Bistum Münster Hamm, Grafschaft Mark Haselünne, Bistum Münster Hattingen, Grafschaft Mark Herford, Stift Herford Höxter, Hirschberg im Sauerland, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Hörde, Grafschaft Mark Hüsten, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Iburg, Bistum Osnabrück Iserlohn, Grafschaft Mark Kallenhardt, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Kamen, Grafschaft Mark Korbach, Fürstentum Waldeck Langscheid (Sundern), Lemgo, Grafschaft Lippe Lennep, Grafschaft Berg Lippstadt, Freiherrschaft Lippe später Grafschaft Lippe Lüdenscheid, Grafschaft Mark Lünen, Grafschaft Mark Medebach, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Melle, Bistum Osnabrück Menden (Sauerland), Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Meppen, Niederstift Münster Minden, Bistum Minden Neuenrade, Grafschaft Mark Nieheim, Olpe, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Paderborn, Bistum Paderborn Peckelsheim, Plettenberg, Grafschaft Mark Quakenbrück, Hochstift Osnabrück Ratingen, Grafschaft Berg Recklinghausen, Vest Recklinghausen (zu Kurköln) Rheine, Bistum Münster Rinteln, Grafschaft Schaumburg Rüthen, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Schmallenberg, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Schüttorf, Grafschaft Bentheim Schwerte, Grafschaft Mark Solingen, Grafschaft Berg Sundern, Telgte, Bistum Münster Unna, Grafschaft Mark Vörden, Vreden, Bistum Münster Warburg, Bistum Paderborn Warendorf, Bistum Münster Warstein, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Wattenscheid, Grafschaft Mark Werl, Herzogtum Westfalen (zu Kurköln) Werne, Bistum Münster Westhofen, Grafschaft Mark Wetter (Ruhr), Grafschaft Mark Wiedenbrück, Hochstift Osnabrück Wipperfürth, Grafschaft Berg Mark Brandenburg Berlin-Kölln Brandenburg Frankfurt (Oder) Havelberg Kyritz Perleberg Pritzwalk Mittleres Deutschland (zwischen Oberweser und Saale) Duderstadt, Erzbistum Mainz Erfurt, Erzbistum Mainz Göttingen, Fürstentum Braunschweig Halle, Erzbistum Magdeburg Merseburg, Bistum Merseburg, später Herzogtum Sachsen-Merseburg Mühlhausen, freie Reichsstadt Naumburg (Saale), Bistum Naumburg, später Herzogtum Sachsen-Zeitz Nordhausen, freie Reichsstadt Northeim, Fürstentum Braunschweig Osterode am Harz, Fürstentum Braunschweig Uslar, Fürstentum Braunschweig Ostfälische Städte Die folgend genannten ostfälischen Städte liegen im Raum zwischen Weser und Elbe. Vorort: Braunschweig, Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel; eine der letzten neun Hansestädte 1669 Vorort: Magdeburg, Erzbistum Magdeburg Alfeld, Bistum Hildesheim Aschersleben, Bistum Halberstadt Bockenem, Bistum Hildesheim Einbeck, Fürstentum Grubenhagen Gardelegen, Mark Brandenburg, später Kurfürstentum Brandenburg Goslar, freie Reichsstadt Göttingen, Fürstentum Göttingen Gronau, Bistum Hildesheim Halberstadt, Bistum Halberstadt, später Kurfürstentum Brandenburg Hameln, Fürstentum Calenberg Hannover, Fürstentum Calenberg Helmstedt, Fürstentum Braunschweig Hildesheim, Bistum Hildesheim; eine der letzten neun Hansestädte 1669 Lüneburg, Fürstentum Lüneburg Osterburg, Mark Brandenburg, später Kurfürstentum Brandenburg Quedlinburg, Reichsstift Quedlinburg, später Kurfürstentum Brandenburg Salzwedel, Mark Brandenburg, später Kurfürstentum Brandenburg Seehausen, Mark Brandenburg, später Kurfürstentum Brandenburg Stendal, Mark Brandenburg, später Kurfürstentum Brandenburg Tangermünde, Mark Brandenburg, später Kurfürstentum Brandenburg Uelzen, Fürstentum Lüneburg Werben, Mark Brandenburg, später Kurfürstentum Brandenburg Städte mit hansischem Einfluss Hansekontore Bryggen, inzwischen ein Stadtteil von Bergen, Königreich Norwegen Brügge, Grafschaft Flandern London (Stalhof), Königreich England Nowgorod (Peterhof, Naugarden), Reuß – Fürstentum Nowgorod Hansische Niederlassungen und Handelshöfe Bordeaux, Königreich Frankreich Boston, Königreich England Bourgneuf-en-Retz, Königreich Frankreich Bristol, Königreich England Helsingborg, Königreich Dänemark, nach 1658 Königreich Schweden Hull, Königreich England Ipswich, Königreich England Kalmar, Königreich Schweden Kaunas, Großherzogtum Litauen King’s Lynn, Königreich England Kopenhagen, Königreich Dänemark La Rochelle, Königreich Frankreich Lissabon, Königreich Portugal Lödöse (Göteborg), Königreich Schweden Malmö, Königreich Dänemark, nach 1658 Königreich Schweden Nantes, Königreich Frankreich Narwa Norwich, Königreich England Nyköping, Königreich Schweden Oslo, Königreich Norwegen Pleskau, Republik Pskow, ab 1510 Großfürstentum Moskau Polozk Porto, Königreich Portugal Ribe, Königreich Dänemark Smolensk Tönsberg, Königreich Norwegen Turku, Königreich Schweden Venedig, Republik Venedig Vilnius, damals Wilna Wizebsk, Großfürstentum Kiew, ab 1320 Großfürstentum Litauen Yarmouth, Königreich England York, Königreich England Literatur Philippe Dollinger: Die Hanse. 6. Auflage, Kröner, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-520-37106-5. Rolf Hammel-Kiesow: Die Hanse. 4., aktualisierte Auflage, Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-58352-0. Weblinks Hansekarte (historisch) auf Hanse.org (vergrößerbar, auch Hanse-TV) Westfälischer Hansebund Westfalen regional – Die Rolle Westfalens zur Zeit der Hanse Einzelnachweise Stadttitel
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https://de.wikipedia.org/wiki/Halma
Halma
Halma ist ein Brettspiel für bis zu sechs Personen. Es wird heute auf zwei verschiedenen Spielfeldern gespielt, einem sternförmigen (Sternhalma, international als „Chinese Checkers“ bekannt) oder einem quadratischen Spielfeld (das ursprüngliche Halma). Geschichte Halma wurde 1883 vom amerikanischen Chirurgen George Howard Monks erfunden; der Name Halma stammt aus dem altgriechischen „Sprung“ (vgl. Salta); bei den Olympischen Spielen der Antike war Halma der Weitsprung mit Sprunggewichten. Sternhalma ist eine deutsche Weiterentwicklung des Halmas, die 1892 erschien. Sternhalma ist im Englischen auch als Chinese Checkers und im Französischen als Dames chinoises (beides bedeutet „Chinesisches Damespiel“) bekannt, was auf einen chinesischen Ursprung hindeuten soll, wahrscheinlich aber ist dieser Name der Idee eines amerikanischen Spieleherstellers zu verdanken, der annahm, dass ein exotischer Hintergrund dem Verkauf zuträglich sein könnte. Wegen der vielen im Spielfeld sichtbaren Dreiecke wird es auch als Trilma bezeichnet. Regeln Spielfelder Quadratisches Halma Das Spielbrett für quadratisches Halma hat 16×16 quadratische Felder und ist für zwei bis vier Spieler gedacht. Bei drei Spielern ergibt sich ein asymmetrisches Spiel (s. u.). In jeder Ecke befindet sich ein „Haus“ oder „Hof“ genannter, farblich markierter Bereich. Das Haus umfasst bei zwei Spielern 19 und bei drei oder vier Spielern 13 Felder. Auch eine Variante mit 10×10 quadratischen Feldern und einem Haus von 15 Feldern ist möglich. Sternhalma Das Spielbrett für Sternhalma kann mit zwei bis sechs Spielern bespielt werden. Bei fünf Spielern ergibt sich aber auch hier ein asymmetrisches Spiel (s. u.). Das Sternhalma hat 121 in einem Dreieckgitter angeordnete Felder, die zusammen die Form eines sechszackigen Sterns bilden. Jedes Feld grenzt an bis zu sechs andere Felder. Die Felder an den Spitzen des Sterns bilden hier ein Haus und umfassen bei zwei oder drei Spielern 15 und bei mehr als drei Spielern zehn Felder. Weil die Felder im Unterschied zum quadratischen Halma rein geometrisch keine Flächen, sondern Punkte auf einem Gitter sind, gibt es 24 Felder, welche den Rand zu einem Haus bilden. Startaufstellung und Spielziel In der Ausgangsposition stehen die Spielsteine (Halmakegel oder Pöppel) einer Partei je in einem „Haus“. Beim quadratischen Halma sind es 19 oder 13 Steine, beim sternförmigen Feld 15 (drei Spieler) oder zehn (sechs Spieler), wobei bei zehn Steinen die Felder am Rand zum mittleren Sechseck frei bleiben. Ziel ist es, sämtliche eigenen Spielsteine in das gegenüber liegende „Haus“ zu bringen. Sieger ist, wem dies zuerst gelingt. Daraus ergibt sich, dass beim Sternhalma zu zweit oder zu dritt das Zielhaus leer ist, während bei einer Spieleranzahl ab vier das Ziel zu Beginn mit den Steinen des gegenüberliegenden Spielers zu tauschen ist. Zugregeln Die Regeln beim quadratischen Spielfeld sind die gleichen wie beim sternförmigen Halma. Bei Halma werden keine Figuren geschlagen. Reihum hat jeder einen Spielzug. Bei jedem Spielzug darf eine Spielfigur bewegt werden. Entweder kann sie auf ein angrenzendes freies Feld gezogen werden oder sie kann eigene oder gegnerische Spielfiguren in gleicher Richtung überspringen, vorausgesetzt, dahinter ist ein leeres Feld. Falls von diesem Feld aus weitere Spielfiguren übersprungen werden können, darf dies ebenfalls ausgeführt werden. Auf diese Weise können lange Sprungfolgen entstehen, mit denen man mit einem einzigen Spielzug unter Umständen das ganze Spielfeld überqueren kann. Beim quadratischen Halma muss vor dem Spiel geklärt werden, ob Züge und/oder Sprünge auch diagonal ausgeführt werden dürfen. Strategie Halmaspieler versuchen, Bahnen für möglichst lange Sprungfolgen zu erkennen und zu entwickeln. Gleichzeitig verbaut man dem Gegner solche Bahnen. Da solche Bahnen von allen Spielern genutzt werden können, bekommt mit der Errichtung einer Bahn auch der Gegner einen Vorteil. Das gilt besonders für Spiele mit jeweils zwei in Gegenrichtung spielenden Personen. Zusätzliche strategische Betrachtung Ferner ist darauf zu achten, dass kein Stein nur durch Springen alle Felder des Ziel-„Hauses“ erreichen kann, da die Sprung-erreichbaren Felder sich in einem Zweier-Gitter befinden; dadurch hat jeder Spieler Steine verschiedener „Sorten“, die auf verschiedene Felder-„Sorten“ im Ziel-„Haus“ gehören. Dabei sind im Ziel-Haus jeweils die Feldersorten in derselben Anzahl vorhanden wie im gegenüberliegenden Ausgangs-Haus. Wer also einen Stein zieht, anstatt zu springen, verwandelt ihn in einen Stein einer anderen „Sorte“ und muss ihn (oder einen anderen Stein) mindestens noch einmal ziehen, damit er seine alte „Sorte“ wieder erhält. Vieles Ziehen (anstatt Springens) hält eine Partei also stärker auf, als nur während dieses einen Spielzugs; auch muss man stets im Auge behalten, wie viele Steine welcher „Sorte“ man im Augenblick hat, obwohl sie alle gleich aussehen. Während beim Sternhalma die Anzahl der Felder je Sorte im Start- und Zielhaus gleich sind, ist das beim quadratischen Halma nicht so. Die vier Felder-Sorten sind im folgenden Diagramm zu sehen: Asymmetrische Spielerzahlen Will man Halma zu dritt auf dem quadratischen Feld spielen (mit je 13 Steinen), so ergeben sich unterschiedliche Bedingungen zwischen dem Spieler, welcher dem leeren Haus gegenüber anfängt, und den beiden anderen, welche gegeneinander laufen. Dieser Spieler ist bei den meisten Strategien benachteiligt, da die beiden anderen viel häufiger die gleichen Steine für Sprungfolgen nutzen können. Hier empfiehlt sich entweder das Sternhalma zu nutzen oder das Spiel dreimal zu spielen, wobei jeder einmal diese „Mittelposition“ einnimmt. Ähnliches gilt für Sternhalma mit fünf Spielern (mit je zehn Steinen). Fortentwicklungen Mit einer einzigen Zusatzregel und leicht geändertem Brett (vorgeschlagen von Eric Solomon) entsteht aus dem quadratischen Halma ein ähnlich anspruchsvolles Spiel, Billabong. Weitere Fortentwicklungen sind die Brettspiele Salta und Überläufer von Selecta. Literatur Erwin Glonnegger: Das Spiele-Buch: Brett- und Legespiele aus aller Welt; Herkunft, Regeln und Geschichte. Drei-Magier-Verlag, Uehlfeld 1999, ISBN 3-9806792-0-9. Weblinks Chinese Checkers strategy guide Einzelnachweise Brettspiel Strategiespiel Spiel (19. Jahrhundert)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich%20IV.%20%28Schlesien%29
Heinrich IV. (Schlesien)
Heinrich IV. (auch Heinrich der Gerechte, Henricus Probus, ; * um 1256; † 23. Juni 1290) war ab 1270 Herzog von Breslau. Ab 1288 Herzog in Krakau und somit (als Heinrich III.) Seniorherzog (Princeps) von Polen. Herkunft und Familie Heinrich entstammte der Linie der Dynastie der schlesischen Piasten. Seine Eltern waren Herzog Heinrich III. von Schlesien († 1266) und Jutta von Masowien († nach 1257). Heinrichs einzige Schwester war Hedwig (* 1252/56; † vor 14. Dezember 1300). Sie heiratete 1271/1272 Heinrich, den ältesten Sohn Markgraf Albrechts des Entarteten, und nach dessen Tod 1283 Otto von Anhalt. Heinrich war in erster Ehe seit 1278 mit Konstanze († 1351), einer Tochter des Herzogs Wladislaus I. von Oppeln verheiratet, die er um 1286 aus nicht bekannten Gründen verstieß. 1287 vermählte er sich mit Mechthild († ~ 1290/98), Tochter des Markgrafen Otto V. von Brandenburg, ein Sohn Ottos III. von Brandenburg und Haupt des ottonischen Zweigs Brandenburgs. Die Ehe blieb kinderlos. Leben Heinrichs Großmutter war Anna von Böhmen. Wohl deshalb wurde er in Prag erzogen, wo er unter dem Einfluss des Königs Ottokar II. Přemysl stand. Sein Herzogtum beschränkte sich auf den östlichen Teil des später als Niederschlesien bezeichneten Gebietes mit Breslau. Nach dem Tod seines Vaters 1266 übernahm dessen Bruder Wladislaw von Schlesien die vormundschaftliche Regierung über Heinrich und dessen Herzogtum. Dieser starb 1270 und bestimmte testamentarisch Heinrich zu seinem Alleinerben. Neuer Vormund Heinrichs, der bis 1273 meist am Prager Hof weilte, wurde König Ottokar. 1271 beteiligte sich Heinrich an einem Feldzug Ottokars nach Ungarn. 1272 bestimmte er Breslau zur Hauptstadt Schlesiens und verlieh ihr große Privilegien. Seit 1274 führte er den Titelzusatz „Herr von Breslau“. Nach Erlangung der Volljährigkeit kämpften Heinrichs Hilfstruppen 1276 gegen Rudolf von Habsburg. Die Schwäche Ottokars nach der Niederlage ausnutzend, wurde Heinrich am 18. Februar 1277 von seinem Onkel Boleslaw II. in Jeltsch gefangen genommen, auf die Burg Lehnhaus verschleppt und erst am 22. Juli 1277 nach Abtretung der Gebiete Neumarkt und Striegau freigelassen. Nach dem Tod des Königs Ottokar 1278 machte sich Heinrich Hoffnungen auf die Regentschaft in Böhmen. 1280 leistete er als erster schlesischer Herzog für sein Land den Lehnseid und erhielt dieses als Reichsfürst von Rudolf von Habsburg als Lehen zurück. Vermutlich aus Dankbarkeit wies ihm Rudolf zudem das Glatzer Land zu lebenslangem Genuss an. Mit dem Breslauer Bischof Thomas II. führte er einen Immunitätsstreit, bei dem es auch um die Zehntzahlungen der deutschsprachigen Dörfer ging. 1274 nahm Heinrich am Zweiten Konzil von Lyon teil, wo er sich über Bischof Thomas beschwerte. Da der Klerus auf seiner Seite stand, konnte er seine Stellung behaupten, obwohl er zeitweise gebannt war. Auf Anraten des Meißner Propstes und späteren Bischofs Bernhard von Kamenz, der seit 1279 als Heinrichs Kanzler fungierte, verpfändete Heinrich als Wiedergutmachung dem Bischof am 6. September 1281 Zuckmantel und die Burg Edelstein, von der aus Nikolaus I. von Troppau vorher das Neisser Bistumsland verwüstet hatte. Doch schon ein Jahr später führten Heinrich und Thomas einen neuen Streit um den Zehnten, der dazu führte, dass Heinrich aufgrund eines Schiedsspruchs dem Bischof 65 namentlich aufgeführte Dörfer im Grenzwaldgebiet abtreten sollte. 1284 besetzte Heinrich diese Dörfer und beanspruchte deren Steuern und Einkünfte für sich und zog damit den bischöflichen Bann auf sich. Auch die Synode von Łęczyca 1285 sprach über Heinrich das Interdikt aus. Der polnische Episkopat war gegen ihn, weil sich die deutschen Ansiedler gegen die Erhebung des Peterspfennigs wandten. Auch nationale Antipathien gegen die schlesisch-deutschen Minoriten sollen eine Rolle gespielt haben. Nach dem Tode des Krakauer Herzogs Leszek II. 1288 erlangte Heinrich mit dem Einfluss der deutschen Bürgerschaft von Krakau die Krakauer Herzogswürde, die er gegen Władysław I. Ellenlang von Kujawien und Bolesław von Płock verteidigen musste. Nachdem ihm die Burg übergeben worden war, kehrte er nach Breslau zurück. Am 11. Januar 1288 versöhnten sich Heinrich und Bischof Thomas in Breslau. Heinrich stiftete die reich ausgestattete Kollegiatkirche zum Hl. Kreuz auf der Dominsel. Zur Ausstattung gehörten auch 17 Kanonikerstellen. Im selben Jahr beendete er den Streit um das Lebuser Land mit Brandenburg, um für den Erbkrieg um die polnische Seniorwürde gegen seine Verwandten, die Piasten Władysław I. Ellenlang von Kujawien und Przemysław II. von Großpolen frei zu sein. 1289 nahm er das Herzogtum Kleinpolen-Krakau endgültig in Besitz. Dadurch wurde er Senior von Polen und markierte so einen letzten Höhepunkt der Herrschaft der schlesischen Piasten in Polen. Kurz vor seinem Tod erteilte Heinrich der Kirche jenes Privileg, mit dem er dem Bistum dessen Güter und Besitzungen bestätigte und für das Neisser-Ottmachauer Gebiet die Landeshoheit gewährte. Die damit verbundene Machtposition der schlesischen Kirche führte in den folgenden Jahrhunderten immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den Herzögen und der Kirche. Da Heinrich keine leiblichen Nachkommen hatte, erbte das Herzogtum Breslau testamentarisch Heinrich III. von Glogau. Infolge des Widerstands der Breslauer Bürger fiel es jedoch an Heinrich von Liegnitz. Erbe von Krakau und Sandomir wurde Przemysław II. Die Vermutung, Heinrich sei vergiftet worden, ist nicht belegt. Sein Leichnam wurde in der Kreuzkirche von Breslau beigesetzt. Codex Manesse Wenige Jahre nach seinem Tod wurde Heinrich in der Heidelberger Liederhandschrift verewigt. Unter seinem Namen Heinrich von Pressela wurden dort zwei deutsche Minnelieder und eine Turnierszene überliefert. Literatur Historische Kommission für Schlesien (Hrsg.): Geschichte Schlesiens. Band 1: Ludwig Petry, Josef Joachim Menzel, Winfried Irgang (Hrsg.): Von der Urzeit bis zum Jahre 1526. 5., durchgesehene Auflage. Thorbecke, Sigmaringen 1988, ISBN 3-7995-6341-5. Weblinks Codex Manesse: Heinrich von Breslau Einzelnachweise Herzog (Polen) Herzog (Breslau) Herzog (Krakau) Familienmitglied der Piasten (Schlesische Linie) Autor Literatur (Mittelhochdeutsch) Literatur des Mittelalters Literatur (13. Jahrhundert) Minnesang Geboren im 13. Jahrhundert Gestorben 1290 Mann
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Heinrich der Seefahrer
Heinrich der Seefahrer (* 4. März 1394 in Porto; † 13. November 1460 in Sagres; portugiesisch Infante Dom Henrique de Avis, genannt O Navegador) war Initiator, Schirmherr und Auftraggeber der portugiesischen Entdeckungsreisen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Die von ihm initiierten Entdeckungsfahrten entlang der westafrikanischen Küste begründeten die portugiesische See- und Kolonialmacht und stellen den Beginn der europäischen Expansion dar. Leben Heinrich war der vierte Sohn des portugiesischen Königs Johann I. und seiner Frau Philippa of Lancaster. Zu seinen Brüdern zählten u. a. Eduard I. und Ferdinand der Heilige. 1415 eroberte eine Flotte unter seiner Führung die nordafrikanische Stadt und Festung Ceuta. Dafür wurde er zum Herzog von Viseu ernannt. Ab 1420 war er weltlicher Administrator des Christusordens. Königliche Abstammung und seine Ämter verhalfen ihm zu beträchtlichen finanziellen Mitteln, die er zur Förderung der Seefahrt verwendete. 1433 starb Johann I., Heinrichs Bruder Eduard folgte ihm auf dem Thron nach. Während dessen Herrschaft bemühte sich Heinrich darum, die Kanarischen Inseln in portugiesischen Besitz zu bringen. Dazu ging er zunächst den diplomatischen Weg, indem er an Kastilien die Forderung stellte, Portugal das Recht zur Besetzung dieser Inselgruppe einzuräumen. Als dies nicht fruchtete – Kastilien beharrte auf seiner Oberhoheit über die Inseln – wandte sich Eduard an den Papst und dieser entsprach, offensichtlich in Unkenntnis der kastilischen Ansprüche, dem Ersuchen. Johann II. von Kastilien ließ durch seinen Botschafter unverzüglich Widerspruch einlegen. Daraufhin stellte der Papst klar, dass er den Portugiesen die Genehmigung zur Eroberung der Kanarischen Inseln nur unter dem Vorbehalt gegeben habe, dass kein anderer christlicher Fürst Ansprüche darauf erhebe. 1437 kommandierte Heinrich noch einmal einen Kriegszug, um den Mauren Tanger zu entreißen, diesmal allerdings erfolglos. Im Jahr darauf starb König Eduard an der Pest, für seinen minderjährigen Sohn führte Peter von Coimbra die Regentschaft. Heinrich selbst unternahm keine Entdeckungsreisen. Seinen Beinamen verdankt er seinem Einsatz als Förderer der Seefahrt. Er war sehr belesen und kannte die Berichte früher Entdeckungsreisender nach Asien wie Marco Polo, Wilhelm von Rubruk oder des arabischen Weltreisenden Ibn Battuta. Dass er eine Seefahrtsakademie (escola náutica) gegründet habe, ist eine Erfindung späterer Jahrhunderte, die portugiesische Historiker seit längerem nicht mehr vertreten. Heinrichs Grabstätte befindet sich im Komplex der Königlichen Grabkapellen im Kloster von Batalha. Die Entdeckungsfahrten Heinrich veranlasste zahlreiche Entdeckungsfahrten entlang der afrikanischen Küste, die hauptsächlich mit Schiffen vom Typ der Karavelle unternommen wurden. Die dabei gewonnenen Kenntnisse in Navigation, Kartografie und Schiffbau waren grundlegend für alle folgenden portugiesischen Entdeckungsfahrten. Von Beginn an waren die portugiesischen Piloten und Kapitäne verpflichtet, alle auf ihren Reisen gesammelten und für die Navigation bedeutsamen Erfahrungen und Erkenntnisse in geheimen Logbüchern, den Roteiros, festzuhalten. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verwendeten die Portugiesen bereits den Quadranten. Durch Bestimmung der Höhe des Polarsterns konnte die geografische Breite berechnet werden. Bis zum Tode Heinrichs wurden mehr als 2000 Seemeilen westafrikanischer Küstengewässer befahren und kartografiert. Die Beweggründe Heinrichs des Seefahrers waren vielfältiger Natur. Zum einen erhoffte man sich, die Araber im Handel mit Pfeffer, Gold, Elfenbein und Sklaven zu umgehen oder auszuschalten, zum anderen ging es dem Prinzen um die Förderung und Ausbreitung des christlichen Glaubens. Dabei suchte man nach dem sagenhaften christlichen Priesterkönig Johannes, der noch vor der Zeit Heinrich des Seefahrers mal in Asien, mal in Afrika vermutet wurde. Mit dessen Hilfe wollte man den Islam zurückdrängen. Diese Vorstellungen wichen aber schon zu seinen Lebzeiten kommerziellen Gesichtspunkten. 38 Jahre nach Heinrichs Tod führten seine Vorleistungen zur Entdeckung des Seewegs nach Indien durch Vasco da Gama und der Stärkung Portugals im Indienhandel, zur Erschließung des Seeweges um Afrika nach Hinterindien und damit zur Weltmachtstellung Portugals. Casa da Índia Die Casa da Índia war sowohl die Zentralbehörde für die Verwaltung aller Territorien in Übersee des portugiesischen Königreiches als auch der zentrale Warenumschlagplatz und die Verrechnungsstelle für alle Bereiche des Überseehandels. Als Wirtschaftseinrichtung funktionierte sie dabei wie eine Faktorei bzw. eine Handelsniederlassung. Die Vorläufer der Casa da Índia entstanden im Gefolge der portugiesischen Entdeckungsfahrten entlang der afrikanischen Küsten und den damit verbundenen Handelsmöglichkeiten. Bereits 1434 wurde die Casa de Ceuta in Lissabon gegründet. Sie war jedoch wenig erfolgreich, da die Muslime nach der portugiesischen Eroberung von Ceuta im Jahre 1415 die mit der Stadt verbundenen Handelswege und Warenströme in andere Orte verlegten. Um 1445 folgten in Lagos an der Algarve die Gründungen der Casa de Arguim beziehungsweise de Guiné, die beide, auch als Companhia de Lagos bezeichnet, der Entwicklung des portugiesischen Handels mit Westafrika dienten. Nach dem Tode Heinrich des Seefahrers wurde in den sechziger Jahren des 15. Jahrhunderts beide Häuser nach Lissabon verlegt und später in der Casa da Guiné e da Mina zusammengeführt. Wichtige Entdeckerleistungen unter Heinrich dem Seefahrer Bei Landnahmen auf ihren Entdeckungsreisen waren die Kapitäne verpflichtet, einen an Bord mitgebrachten, so genannten Padrão – eine steinerne Säule mit dem Wappen des portugiesischen Königs und Inschriften – aufzustellen. An markanten neuentdeckten Punkten wie Kaps oder Flussmündungen mussten die Kapitäne unter das Christuskreuz und das portugiesische Wappen noch Namen und Datum in den Stein meißeln. 1418 entdecken João Gonçalves Zarco, Bartolomeu Perestrelo und Tristão Vaz Teixeira die zu Madeira gehörende Insel Porto Santo wieder. 1420 landen die Portugiesen auf der eigentlichen Hauptinsel Madeira und beschließen ca. 1425, die Inselgruppe zu besiedeln. 1422 stoßen portugiesische Seefahrer über Cabo Nao, den Grenzbereich der arabischen Seefahrt im Atlantik, nach Süden vor. 1427 soll Diogo de Silves die Azoren wiederentdeckt haben. Er ging wahrscheinlich auf der Rückreise von einer Erkundungsfahrt in den Atlantik auf der Insel Santa Maria an Land. 1431 beginnt die Besiedlung und Kolonisierung der Azoren unter Gonçalo Velho Cabral. 1434 umsegelt Kapitän Gil Eanes das für unpassierbar gehaltene Kap Bojador. 1436 entdecken die Kapitäne Gil Eanes und Afonso Gonçalves Baldaia Angra dos Ruivos und erreichen Río de Oro. 1441 wird in Lagos auf Heinrichs Anweisung die erste Karavelle gebaut. 1441 erreichen Nuno Tristão und Antão Gonçalves das Kap Blanc (port.: Cabo Branco). 1444 befährt Nuno Tristão den Senegal-Fluss; im gleichen Jahr passiert Dinis Dias den westlichsten Punkt Kontinentalafrikas, das im heutigen Senegal gelegene Kap Vert (port.: Cabo Verde), und entdeckt die Terra dos Guineus, Gebiete des heutigen Guinea und Senegal. Um 1445 wird die Companhia de Lagos gegründet, die das Handelsmonopol mit Afrika erhält. In Arguim in Afrika wird ein Handelsposten eröffnet, durch den Portugal in den Handel mit afrikanischen Sklaven einsteigt. 1446 wird der Gambia-Fluss entdeckt. 1446 wird eine Karte von Andrea Bianco erstellt, die eine portugiesische Erkundungsfahrt in den westlichen Atlantik als möglich erscheinen lässt. 1455/1456 stößt der im Dienste Heinrichs stehende Venezianer Alvise Cadamosto zur Guinea-Küste vor und entdeckt zwei der Kapverdischen Inseln. 1460 erfolgt durch die Brüder Bartolomeo und Antonio da Noli, die aus der Republik Genua stammen, die Erkundung und Besiedlung der Kapverden. Zum Zeitpunkt von Heinrichs Tod hatten die Portugiesen die afrikanische Küste bis etwa dem heutigen Sierra Leone (ca. 8° N) sowie den Atlantik bis zur Sargassosee (ca. 40° W) befahren und kartiert. Denkmäler Eine Statue ist auf dem Padrão dos Descobrimentos bei Lissabon zu sehen; dieser wurde 500 Jahre nach seinem Tode gebaut. Ein großes Denkmal steht in seiner Geburtsstadt Porto. In der portugiesischen Stadt Lagos steht seit 1960 ein Denkmal für Heinrich auf der Praça da República (Platz der Republik; auch Praça do Infante Henrique genannt). Die Hauptstadt von Osttimor, Dili, ehrt Heinrich mit einem Denkmal vor dem Regierungspalast. Eine weitere Statue steht im Stadtpark von Sagres. Die 1958 bis 1961 publizierte Buchreihe Colecção Henriquina befasst sich mit seinem Wirken. Siehe auch Seefahrt, Seefahrer Portugiesische Kolonialgeschichte Orden des Infanten Dom Henrique Entwicklungsgeschichte der Seekarte Geschichte Portugals, Zeittafel Portugal, Portugal unter dem Hause Avis Literatur Luís de Albuquerque: Os ‘Sábios’ Henriquinos e a ‘Escola de Sagres’. In: Luís de Albuquerque: Dúvidas e Certezas na História dos Descobrimentos Portugueses. Band 1. Vega, Lissabon 1990, S. 15–28. Rudolf Kroboth (Hrsg.): Heinrich der Seefahrer. Edition Erdmann, Stuttgart 1989, ISBN 3-522-61180-2. Duarte Leite: O infante D. Henrique. In: Duarte Leite: História dos Descobrimentos. Band 1, Lissabon 1959, S. 67–265. José António Madeira: Estudo Histórico-Científico, sob o Aspecto Gnómico, da Figura Radiada de Pedra Tosca Suposta Coeva do Infante D.Henrique Existente em Sagres. In: Actas do Congresso Internacional de História dos Descobrimentos. Band 2. Lissabon 1961, S. 451–474. Alfredo Pinheiro Marques: Portugal e o descobrimento do Atlântico. Imprensa Nacional, Casa da Moeda, Lissabon 1990, ISBN 972-27-0426-5. W. G. L. Randles: The Alleged Nautical School Founded in the Fifteenth Century at Sagres by Prince Henry of Portugal, Called the ‘Navigator’. In: Imago Mundi, 45, 1993, S. 20–28. Peter E. Russell: Prince Henry ‘the Navigator’. A Life. Yale University Press, New Haven 2000, ISBN 0-300-08233-9. Weblinks Literatur über Heinrich den Seefahrer in: Katalog Ibero-Amerikanisches Institut in Berlin Portugal und die Entdeckung der Neuen Welt. TravelWorldOnline.de Jörg Beuthner: 04.03.1394 – Geburtstag von Heinrich, dem Seefahrer WDR ZeitZeichen vom 4. März 2014 (Podcast) Einzelnachweise Prinz (Portugal) Ritter des Hosenbandordens Person (portugiesische Geschichte) Schifffahrtsgeschichte (Portugal) Geschichte der Seefahrt Familienmitglied des Hauses Avis Geboren 1394 Gestorben 1460 Mann
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Hochkultur
Hochkultur steht für: Hochkultur (Geschichtswissenschaft), eine Gesellschaftsordnung Hochkultur (Soziologie), Gegenbegriff zur Alltagskultur, Volkskultur oder Populärkultur Hochkultur (Weinbau), ein Reberziehungssystem, das in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg die Stockkultur ablöste Siehe auch:
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Kogge
Die Kogge war ein Segelschiffstyp der Hanse, der vor allem dem Handel diente, in Zeiten militärischer Auseinandersetzungen der Hansestädte mit Piraten aber auch als Kriegsschiff ausgestattet werden konnte. Sie hat einen Mast und ein Rahsegel. Knapp unterhalb der Mastspitze war manchmal ein Krähennest genannter Ausguck angebracht. Achtern (hinten) besaßen Koggen das Achterkastell und im Verlauf des 14. Jahrhunderts kam am Bug (Schiffsspitze) häufig ein Bugkastell hinzu. Ursprung und Eigenschaften Der Schiffstyp der frühen Kogge ist ein Produkt des Verschmelzens zweier verschiedener frühmittelalterlicher Schiffbautraditionen. Ein Entwicklungszweig lässt sich über die koggetypischen Kalfatklammern, auch Sinteln genannt, in den friesischen Raum zurückverfolgen. Als Bestandteil der Kalfaterung, bei der die Zwischenräume zwischen den hölzernen Bauteilen des Schiffes, vor allem der Planken, mit Pech und Werg verschlossen wurden, dienten sie dem Abdichten des Schiffes. Älteste Funde von Sinteln stammen aus der Zeit um 900 n. Chr. aus dem Niederrheingebiet. Erste historische Quellen über einen Schiffstyp „cog“ finden sich aus dieser Zeit ebenfalls am Niederrhein. Damit dürften flachbodige und kiellose, also wattenmeertaugliche Handelsschiffe gemeint sein, mit denen Waren beispielsweise bis nach Hollingstedt und Stade an der Unterelbe transportiert wurden. Auch dort konnten bei Ausgrabungen zahlreiche wikingerzeitliche Sinteln geborgen werden. Von Hollingstedt aus gelangte spätestens Anfang des 12. Jahrhunderts diese friesische Schiffbautradition der wichtigsten Handelsroute Nordeuropas folgend über das nur 16 km östlich gelegene Schleswig in den Ostseeraum. Hier am Ende der Schlei, einst Drehscheibe des nordeuropäischen Handels, baute man traditionell seit Jahrhunderten Hochseeschiffe nach skandinavischer Bautradition. Der dadurch bedingte Raubbau an den umliegenden Wäldern und das stetig steigende Warenaufkommen verlangten nach einem Schiffstyp, der sehr viel merkantilere Züge trug als die traditionellen skandinavischen Handelsschiffe, die zwar hervorragende Segeleigenschaften auch auf hoher See besaßen, aber mit ihren radial aus Eichenstämmen gespaltenen Planken einen enormen Holzbedarf aufwiesen und außerdem durch das Bitensystem (querlaufende Verstrebungen, vgl. Wikingerschiffbau) des Rumpfes zunächst einen vergleichsweise stark eingeschränkten Laderaum besaßen. Die frühen Koggen des 12. Jahrhunderts, wie zum Beispiel der Fund bei Kollerup an der Jammerbucht in Dänemark, besaßen bereits Planken, die tangential aus dem Stamm gespalten wurden. Der Rumpf war sehr bauchig mit einem durchgängigen großen Laderaum. Die Planken der Bordwände waren geklinkert (Klinkerbauweise), die des Bodens auf Stoß (Kraweelbauweise) gesetzt. Die Plankenverbindungen wurden koggentypisch mit doppelt umgeschlagenen Nägeln, den so genannten Spiekern geschaffen. Die Kalfaterungsnaht wird mit Hilfe von Sinteln geschlossen. Auch sonst trägt das Schiff mit gerade aufragenden Steven und einem Mast mit Rahsegel andere typische Merkmale einer Kogge. Die im Vergleich zum skandinavischen Frachtschiff geringeren Bauzeiten und Baukosten wie auch die Nutzlast dieses neuen Schifftyps waren ganz den wachsenden wirtschaftlichen Bedürfnissen angepasst. Nach Ansicht führender Schiffsarchäologen zeigt sich bei dieser frühen Kogge erstmals der Entwicklungsschritt vom wattenmeertauglichen Küstenschiff zum hochseetüchtigen Handelsschiff. Es trägt zusätzlich eindeutige skandinavische Züge. Damit wird deutlich, dass dieser neue Schiffstyp in einer Kontaktzone friesischer und skandinavischer Schiffsbautradition, wie es in Schleswig gut belegt der Fall war, entwickelt worden sein muss. Nach den dendrochronologischen Untersuchungen ist das Holz in Südjütland etwa im Gebiet zwischen Schleswig und Hadersleben (DK) geschlagen worden. Da unter anderem auch aus Schleswig die bislang ältesten Funde von Sinteln des gesamten Ostseeraumes vorliegen, verdichten sich die Hinweise, dass der Entwicklungsschritt zur hochseetauglichen „Proto“-Kogge in Schleswig vollzogen worden sein kann. Damit wurde der Grundstein für den bedeutendsten Schiffstyp des Spätmittelalters gelegt, der als Lastesel der Hanse wesentlich zum Erfolg der Handelsmacht beigetragen hat. Die Länge der spätmittelalterlichen Koggen betrug etwa 20–30 m, die Breite 5–8 m. Die Segelfläche lag bei circa 200 m². Die Geschwindigkeit betrug nach Versuchen mit nachgebauten Koggen etwa 3,5 Knoten bei Windstärke 3 und 6 Knoten bei Windstärke 6. Koggen konnten also auch bei mäßigem Wind schneller fahren als Fuhrwerke auf dem Land. Probleme gab es jedoch bei Gegenwind. Kreuzen war wohl nur bei schwachem Wind möglich, da die Schiffe für ihre Länge relativ breit waren. Dafür konnte eine Kogge mit vergleichsweise kleiner Besatzung große Mengen Fracht transportieren. Die Tragfähigkeit lag – je nach Größe – bei 40 bis 100 Lasten, entsprechend 80 bis 200 Tonnen Gewicht. Damit waren Koggen bis zum Ende des 14. Jahrhunderts der wichtigste größere Schiffstyp der Hanse. Deren Handelsflotte umfasste zu dieser Zeit insgesamt ca. 100.000 Tonnen Tragfähigkeit. Im Vergleich dazu liegt die Tragfähigkeit nur eines modernen Containerschiffs bei bis zu 200.000 Tonnen. Im ausgehenden 14. Jahrhundert wurden die Koggen mehr und mehr vom ähnlichen Holk oder anderen kraweelen Fahrzeugen abgelöst. Funde von Koggen 1962 wurde mit der Bremer Kogge eine Kogge in der Weser bei Bremen gefunden. Anhand dieses Fundes konnte erstmals der Riß einer Kogge, insbesondere der Längsschnitt von Kiel und Steven authentisch belegt werden. Überreste einer Kogge im Kolding-Fjord an der Ostküste Jütlands (DK) wurden erstmals 1943 entdeckt. Einzelne Teile wurden im selben Jahr geborgen, vermessen und wieder an Ort und Stelle deponiert. Das Wissen um die Position der Wrackstelle und der Teile ging verloren. 1999/2000 konnte die Stelle wiederentdeckt werden. 2001 erfolgte eine Bergung des Schiffes. Die Planken wurden dendrodatiert auf den Winter 1188/89. Das Schiff dürfte ca. 16 m lang gewesen sein. Zurzeit findet eine Konservierung im Koldinghus Museum statt. 1978 entdeckte man in den Dünen beim dänischen Kollerup an der nordwestjütischen Jammerbucht die gut erhaltenen Überreste einer frühen Kogge. Das verwendete Eichenholz wurde nach dendrochronologischen Untersuchungen um 1150 in Südjütland, etwa im Raum zwischen Schleswig und Hadersleben geschlagen. Dieser Schiffsfund ist der bisher älteste vom Typ einer Kogge. Offensichtlich hatte man eine der frühen Umlandsfahrten um Kap Skagen gewagt und war hierbei gescheitert (Länge: ca. 20,9 m; Breite: ca. 4,92 m; Tiefgang: ca. 1,35 m). 1983 konnten im Polder beim Niederländischen Ort Nijkerk die Überreste einer Kogge aus dem Jahre 1336 freigelegt werden. Der Boden, in dem sich das Holz erhalten hatte, war der vormalige Grund der an dieser Stelle trockengelegten Zuiderzee. Der Fund diente als Vorlage für den 1997 angefertigten, heute im Niederländischen Kampen liegenden Koggennachbau Kamper Kogge. 2004 hat das Schiff seine Seetauglichkeit bei einer Fahrt bis in die Ostsee unter Beweis gestellt. 1990 wurden am Pärnu in Estland Überreste einer kleinen Kogge von etwa 8,5 m Länge und 3,5 m Breite geborgen. Mit Hilfe der C14-Methode wurde das Wrack in den Zeitraum zwischen 1250 und 1330 n. Chr. datiert. Scherben von importierter Keramik aus dem Rheinland als Teil der Ladung stammen aus dem 14. Jahrhundert. 1991/92 wurde in einer Tiefe von 14 Metern unter der Schlachte, dem alten Hafengelände Bremens, ein koggeähnliches Schiff gefunden und teilweise geborgen, das auf Basis eines flach ausgehöhlten Eichenstamms mit vielen Halbspanten errichtet war und ein Heckruder trug. Diese „Proto-Kogge“ ist das weltweit erste Schiff dieses Typs. Die dendrochronologische Untersuchung ergab das Jahr 1100 als Bauzeit, was die Ergebnisse der C14-Datierung bestätigte. Im Jahr 1997 wurde vor der Insel Poel in Mecklenburg das Wrack eines Schiffs entdeckt, das zunächst auf das Jahr 1354 datiert wurde (Poeler Kogge). Nach einer neueren Untersuchung soll dieses wohl in Finnland gebaute Schiff aber wesentlich jünger sein und aus dem Jahr 1773 stammen, somit handelt es sich sehr wahrscheinlich nicht um eine Kogge. Ein Rekonstruktionsversuch auf Grundlage der Koggendeutung ist inzwischen in Wismar fertiggestellt worden und wurde auf den Namen Wissemara getauft. Eine große und gut erhaltene Kogge wurde 2000 in Doel, einem Ortsteil der belgischen Gemeinde Beveren, gefunden: ca. 20 Meter lang und 7 Meter breit. Das für den Bau des Schiffs verwendete Eichenholz wurde nach dendrochronologischen Untersuchungen im Winter 1325/26 in Westfalen geschlagen. Der Rumpf dieser frühen Kogge ist in Klinkerbauweise ausgeführt. Die Doeler Kogge versank aus unbekannten Gründen um 1404 in einem Scheldearm. Das Wrack kam während der Bauarbeiten am Deurganck-Containerterminal des Antwerpener Hafens ans Tageslicht. Nach Abschluss von Konservierungsarbeiten wird es im Schifffahrtsmuseum in Baasrode, einem Ortsteil der belgischen Stadt Dendermonde, ausgestellt werden. Im Jahr 2015 wurde vor Kampen vom Grund der IJssel das Wrack einer ca. 20 Meter langen Kogge geborgen. Bedeutung des Wortes Kogge Die Forschung ist sich über die Herkunft (bzw. Bedeutung) des Wortes Kogge (früher auch der Koggen) noch nicht einig. Einige Sprachforscher stellen ihn zu lat.-frz. cocca (‚Muschel‘), andere wegen der gedrungenen Form im Hochmittelalter zu dem Wortstamm für Kugel oder rundliches, gewölbtes Gefäß (Kog, Kuggon). Beachtenswert ist hierbei, dass kaggi im Altnorwegischen und Altisländischen für Fass steht (schwedisch: kagge), während kag / kaag im Niederdeutschen und Holländischen Wasserfahrzeug bedeutet (siehe auch engl. keg). Eine weitere Erklärung wird in der Ableitung von einem Wort für einen Pfahl oder Kegel (Kag, Kaak) gesucht, was auf den Einbaum als Ursprung zurückführen würde. Eine ganze Reihe von weiteren Schiffsbezeichnungen ist von Wörtern abzuleiten, die etwas Gespaltenes bezeichnen. Dieses Gespaltene bezeichnet entweder den der Länge nach gespaltenen Einbaum, der mit Planken bzw. Bohlen verbreitert wurde, oder die Bohlen selbst, die auch zur Erhöhung der Bordwand dienten. In dieser Hinsicht erscheint die Herleitung von lateinisch cōdicāria ‚gespaltenes Holz‘ einleuchtend. Trivia Im Vereinsemblem des Fußballvereins Hansa Rostock ist als zentrales Element eine Kogge abgebildet, woraus sich auch der Spitzname Hansa-Kogge des Vereins ableitet. Literatur Siehe auch Bremer Kogge Lübecker Kogge, Nachbau von 1926 Poeler Kogge Weblinks Informationen Funde und Nachbauten von Koggen Bremer Kogge im Deutschen Schiffahrtsmuseum Kamper Kogge Kogge Tvekamp af Elbogen aus Malmö Kieler Hansekogge Ubena von Bremen Einzelnachweise Schifffahrt (Hanse) Segelschiffstyp
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Hansa
Hansa (Latinisierung von Hanse) steht für: (480) Hansa, einen Asteroiden des Hauptgürtels Hansa – International Maritime Journal, Fachzeitschrift, siehe Hansa (Zeitschrift) Hansa Bucht (auch Hansa Bay), Bucht in Papua-Neuguinea Personen: Hansa Czypionka (* 1958), deutscher Schauspieler Philipp Hansa (* 1990), österreichischer Radiomoderator Orte: Hansa, Ortsteil von Bad Gleichenberg, Österreich Unternehmen: Schiffahrts-Verlag Hansa C. Schroedter & Co Hansa-Brandenburg, ein Flugzeugbauunternehmen Hansa-Flex AG, ein Unternehmen im Fluidtechnik-Bereich und der Hydraulik Hansa Group, ein ehemaliges Chemieunternehmen mit Sitz in Genthin Hansa Armaturen GmbH, einen Hersteller von Bad- und Küchenarmaturen Hansa Musik Produktion, eine Schallplattenfirma Deutsche Film Hansa GmbH & Co., eine Filmproduktionsgesellschaft Hansa-Heemann AG, einen Getränkeproduzenten Hansa (Darknet-Markt), einem früheren illegalen Online-Markt im Darknet ehemalige Unternehmen(steile): Hansa AG, eine ehemalige Kaufhauskette Deutsche Dampfschifffahrts-Gesellschaft „Hansa“ (DDG Hansa), die ehemalige weltgrößte Schwergut-Reederei Hansa Waggonbau, ein ehemaliges Schienenfahrzeugbauunternehmen, siehe Waggonbau Bremen#Hansa Waggonbau eine ehemalige Automobilfabrik in Varel, siehe Hansa-Lloyd Hansa Motors, ehemaliges irisches Montagewerk für Automobile Zeche Hansa, eine ehemalige Zeche in Dortmund-Huckarde Kokerei Hansa, eine ehemalige Kokerei in Dortmund-Huckarde Markennamen: Hansa-Automobil, eine Marke des ehemaligen Automobilherstellers Borgward Goliath Hansa Argentina, ehemaliger argentinischer Automobilhersteller Dortmunder Hansa, eine Biermarke Hansa-Keks, eine Keksmarke Hansa (Kartoffel), eine festkochende Speisekartoffelsorte Hansa (Øl), eine norwegische Biermarke Schiffe: Hansa (Schiff, 1864), Schiff der Zweiten Deutschen Nordpolar-Expedition Hansa (Schiff, 1848), Radfregatte und Flaggschiff der Reichsflotte des Deutschen Bundes Hansa (Schiff, 1940), im Zweiten Weltkrieg eingesetzt Hansa (Schiff, 1899), Passagierschiff unter schwedischer Flagge LZ 13 „Hansa“, ein Zeppelin der DELAG Deutschland (Schiff, 1900), ehemals Hansa Albert Ballin (Schiff) 1935–1945 unter dem Namen Hansa eingesetzt Die Schiffe des Hansa-Bauprogramms wurden unter dem Begriff zusammengefasst Fußballvereine: F.C. Hansa Rostock Hansa Berlin Lüneburger SK Hansa FK Hansa Wittstock Sonstiges: Hansa, flacher Gong im Norden der Philippinen, siehe Gangsa (Gong) HANSA steht für: HANSA, Kurzbezeichnung für Hansa – International Maritime Journal, Fachzeitschrift, siehe Hansa (Zeitschrift) Löschfahrzeugtyp LF 16 HANSA (Abkürzung für Hamburger Automatikgetriebenes Normgerechtes Standardlöschfahrzeug der Achtziger Jahre), siehe Löschgruppenfahrzeug 16 Deutscher Hochseesportverband HANSA Siehe auch: Hansaviertel (Begriffsklärung) Gebäude: Hansahochhaus (Köln), eines der ersten Hochhäuser Deutschlands und Bürogebäude Hansa-Haus (Nürnberg), ein 1893 bis 1895 errichtetes Wohn- und Geschäftshaus Hansahaus (Düsseldorf), ein Geschäftshaus Wirtschaft: Hansabank, das größte Kreditinstitut im Baltikum Lufthansa, ein großer, weltweit agierenden Konzern in der zivilen Luftfahrt Hansaplast, eine Heftpflastermarke der Beiersdorf AG Bildung: Hansa-Kolleg, ein Staatliches Institut zur Erlangung der Allgemeinen Hochschulreife; siehe Bildung und Forschung in Hamburg#Hansa-Kolleg Hansa-Gymnasium Bergedorf Hansa-Gymnasium Hansestadt Stralsund Hansa-Realschule Soest Hanse (Begriffsklärung) HANSA
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Hanse
Hanse (auch Deutsche Hanse oder Düdesche Hanse, Dudesche Hense, ) ist die Bezeichnung für die zwischen Mitte des 12. Jahrhunderts und Mitte des 17. Jahrhunderts bestehenden Vereinigungen hauptsächlich norddeutscher Kaufleute, deren Ziel die Sicherheit der Überfahrt und die Vertretung gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen besonders im Ausland war. Die Hanse war nicht nur auf wirtschaftlichem, sondern auch auf politischem und kulturellem Gebiet ein wichtiger Faktor. Eine Entwicklung von der „Kaufmannshanse“ zu einer „Städtehanse“ lässt sich spätestens Mitte des 14. Jahrhunderts mit erstmaligen nahezu gesamthansischen Tagfahrten (Hansetagen) festmachen, in denen sich die Hansestädte zusammenschlossen und die Interessen der norddeutschen Kaufleute vertraten. Die genaue Abgrenzung zwischen „Kaufmannshanse“ und „Städtehanse“ ist jedoch umstritten. Die Farben der Hanse (weiß und rot) finden sich noch in den Stadtwappen vieler Hansestädte. In den Zeiten ihrer größten Ausdehnung waren beinahe 300 See- und Binnenstädte des nördlichen Europas in der Städtehanse zusammengeschlossen. Eine wichtige Grundlage dieser Verbindungen war die Entwicklung des Transportwesens, insbesondere zur See, weshalb die Kogge zum Symbol für die Hanse wurde. Durch Freihandel gelangten viele Hansestädte zu großem Reichtum, was sich an zahlreichen bedeutenden Bauwerken ablesen lässt. „Hanse“ oder „Hänse“ nannten sich auch andere Kaufmannsverbünde bis nach Österreich, unabhängig von der „großen“ norddeutschen Hanse. Bei ihnen handelte es sich in der Regel nicht um politische Bünde zwischen Städten und Territorien, sondern um Bruderschaften, denen einzelne Händler beitraten. Oft waren solche Bünde auf einen bestimmten Jahrmarkt ausgerichtet und übernahmen während dessen Dauer wirtschaftliche Kontrollfunktionen, wie sie in größeren Städten von den Zünften durchgeführt wurden. Wortherkunft Die Benennung Hanse leitet sich vom althochdeutschen Wort hansa ab, das im Hochmittelalter zur Übersetzung des lateinischen cohors („Gefolge, Schar, Gruppe“) wurde, der frühestbelegten Eigenbezeichnung der Hanse. Das vorherige gemeingermanische *hanso bezog sich wahrscheinlich auf „eine Gemeinschaft mit einer gesamtlichten Kasse und wobei gemeinsam Mahlzeiten verzehrt wurden“. Vergleiche gotisch hunsl („Opfermahlzeit“) und schweizerdeutsch hans („Trinkgelage“). Auch die finno-ugrischen Sprachen entnahmen *hanso aus den frühgermanischen Sprachen, vergleiche finnisch kansa („Volk“), karelisch kanža („Sammlung“) und estnisch kāz(a) („Genosse, Gemahl“). Politische Geschichte Die Hanse war über lange Zeit eine politische Macht ersten Ranges. Obwohl ihre Mitglieder nicht souverän waren – sie verblieben jeweils unter der Herrschaft unterschiedlicher weltlicher und kirchlicher Gewalten –, war sie wirtschaftlich und militärisch erfolgreich. Anfang und Ende der Hanse sind schwer zu bestimmen. Entstehung der Kaufmannshanse (bis etwa 1250) Die Deutsche Hanse entwickelte sich im 12. Jahrhundert aus den Gemeinschaften der Ost- und Nordseehändler. Allgemein wird die Gründung Lübecks, der ersten deutschen Ostseestadt, im Jahr 1143 als entscheidend für die Entwicklung der Hanse angesehen. Der Ostseezugang ermöglichte einen Handel zwischen den rohstoffreichen Gebieten Nordrusslands (z. B. Getreide, Holz, Wachs, Felle, Pelze) und den Ländern Westeuropas mit seinen Fertigprodukten (z. B. Tuche, Wein). Verschiedene Vorschläge für das Gründungsjahr Es gibt kein Gründungsdatum der Hanse. Sie ist aus kleinen, lokalen Strukturen heraus entstanden und zu einer großen Organisation angewachsen. Nicht einmal die Zeitgenossen scheinen klare Vorstellungen darüber gehabt zu haben. 1418 wandte sich der Rat der Hansestadt Bremen in einem Streit mit Hamburg an Köln mit der Bitte um eine Abschrift der Gründungsurkunde der Hanse. Die Antwort aus Köln lautete, dass sie vergeblich nach der geforderten Schrift van der fundatacien der Duytzschen hensze gesucht hätten, aber weitersuchen und den Bremern die gewünschte Abschrift schicken würden, sobald sie fündig geworden seien. Bei der frühen Hanse handelte es sich um den freien Zusammenschluss von Kaufleuten, die den Schutz der Gruppe für die gefahrvolle Reise suchten und ihre Interessen gemeinsam an den Zielorten besser vertreten konnten. Dazu fanden sich die Kaufleute einer Stadt oder einer Region zusammen, die in einer Fahrgemeinschaft reisten. Die frühesten Belege für solche organisierten deutschen Handelsgruppen liegen für das Auftreten Kölner Kaufleute in London vor. Neben den Deutschen waren bereits flandrische Kaufleutegruppen in London vorhanden. Diese Organisationsform bedeutet unter anderem, dass man zunächst nicht von „der“ Hanse oder von einer „Gründung“ der Hanse sprechen kann, da es lediglich einzelne Gruppen waren, die ihre jeweiligen Partikularinteressen verfolgten (und auch in späterer Zeit verfolgen sollten). In der älteren Forschung wird als Gründungsjahr der Hanse häufig neben der Neugründung 1143 bzw. dem Wiederaufbau Lübecks im Jahre 1159 auch die erste überlieferte Erwähnung eines deutschen Kaufmannsbundes 1157 in einer Londoner Urkunde genannt. Der Historiker Philippe Dollinger argumentiert für 1159 mit der führenden Stellung der Lübecker Kaufleute während der ganzen Hansezeit. Für 1157 spricht die Tatsache, dass die Hanse anfangs eine Schutzgemeinschaft deutscher Kaufleute im Ausland war und der Erwerb eines Grundstücks bei London zur Errichtung des Stalhofes durch Kölner Kaufleute den ersten uns bekannten Beleg für die Existenz der Gemeinschaft bildet. 1160 erhielt Lübeck das Soester Stadtrecht. Dieser Zeitpunkt wird von Historikern als der Beginn der Kaufmannshanse (im Gegensatz zur späteren Städtehanse) angesehen. Wichtigstes Argument für diese Position stellt dabei das Artlenburger Privileg von 1161 dar, in dem die Lübecker Kaufleute den bisher im Ostseehandel dominierenden gotländischen Kaufleuten rechtlich gleichgestellt werden sollten. Die Genossenschaft der nach Gotland fahrenden deutschen Kaufleute (universi mercatores Imperii Romani Gotlandiam frequentantes), der nicht nur lübische Kaufleute angehörten, kann nach Dollinger wohl als Keimzelle der Kaufmannshanse angesehen werden. Die Gründung Lübecks 1143 kann deshalb als einschneidender Faktor für die Entwicklung der Hanse gewertet werden, weil sie die erste deutsche Stadt an der Ostsee mit sicheren Verbindungen zum Hinterland war und damit gleichsam zum „Einfallstor“ norddeutscher Kaufleute für den Osthandel wurde. Hintergrund für die große Bedeutung des Ostseezugangs war, dass Westeuropa auf diese Weise mit Russland und über Dnepr und Wolga Handel bis in den Orient (Kaspisches Meer, Persien) führen konnte. Zur Zeit der Goldenen Horde wurde der Handel mit Mittelasien und China verstärkt. Umgekehrt orientierte sich der nordrussische Handel über die Ostsee nach Westen, was die Entwicklung einer Ost-West-Handelsverbindung zwischen den rohstoffreichen Gebieten Nordrusslands (Getreide, Wachs, Holz, Pelze, vor allem über Nowgorod) und den Fertigprodukten Westeuropas (u. a. Tuche aus Flandern und England) ermöglichte. Nebenbei wird die Christianisierung der Skandinavier, die noch im frühen 12. Jahrhundert den Ostseehandel dominierten, zur Einbindung der Ostsee in den europäischen Handel beigetragen haben. Mit dem Zugang deutscher Kaufleute zur Ostsee konnten diese eine Handelsroute etablieren, welche die wichtigen Handelszentren Nowgorod und Brügge nahezu vollständig unter ihrem Einfluss miteinander verband. Ungefähr zur selben Zeit wie die Hanse entstand im Übrigen auch die Knudsgilde, die sich im dänisch-skandinavischen Raum ausbreitete und in der Folgezeit in Konkurrenz mit der Hanse stand. Unabhängig vom genauen Gründungsjahr fand am 13. und 14. Mai 2023 in der Hansestadt Zwolle das 800-jährige Hansejubiläum statt. Gotländische Genossenschaft Ab dem 12. Jahrhundert wurde der Ostseeraum im Rahmen der Ostsiedlung zunehmend für den deutschen Handel erschlossen. In Lübeck entstand nach dem Vorbild kaufmännischer Schutzgemeinschaften die Gemeinschaft der deutschen Gotlandfahrer, auch Gotländische Genossenschaft genannt. Sie war ein Zusammenschluss einzelner Kaufleute norddeutscher Herkunft, sächsischer Rechtsgewohnheiten und ähnlicher Handelsinteressen u. a. aus dem Nordwesten Deutschlands, von Lübeckern und aus neuen Stadtgründungen an der Ostsee. Der Handel in der Ostsee wurde zunächst von Skandinaviern dominiert, wobei die Insel Gotland als Zentrum und „Drehscheibe“ fungierte. Mit der gegenseitigen Versicherung von Handelsprivilegien deutscher und gotländischer Kaufleute unter Lothar III. begannen deutsche Kaufleute den Handel mit Gotland (daher „Gotlandfahrer“). Bald folgten die deutschen Händler den gotländischen Kaufleuten in deren angestammte Handelsziele an der Ostseeküste und vor allem nach Russland, was zu blutigen Auseinandersetzungen in Visby, durch den stetigen deutschen Zuzug mittlerweile mit großer deutscher Gemeinde, zwischen deutschen und gotländischen Händlern führte. Dieser Streit wurde 1161 durch die Vermittlung Heinrichs des Löwen beigelegt und die gegenseitigen Handelsprivilegien im Artlenburger Privileg neu beschworen, was in der älteren Forschung als die „Geburt“ der Gotländischen Genossenschaft angesehen wurde. Hier von einer „Geburt“ zu sprechen, verkennt jedoch die bereits existierenden Strukturen. Visby blieb zunächst die Drehscheibe des Ostseehandels mit einer Hauptverbindung nach Lübeck, geriet aber, die Rolle als Schutzmacht der deutschen Russland-Kaufleute betreffend, mit Lübeck zunehmend in Konflikt. Visby gründete um 1200 in Nowgorod den Peterhof, nachdem die Bedingungen im skandinavischen Gotenhof, in dem die Gotländer zunächst die deutschen Händler aufnahmen, für die Deutschen nicht mehr ausreichten. Deren rasanter Aufstieg, die Sicherung zahlreicher Privilegien und die Verbreitung der nahezu omnipräsenten Kaufleute der Gotländischen Genossenschaft in der Ostsee, in der Nordsee, in England und Flandern galt in der historischen Forschung als Kern der frühen Hanse. In Flandern stand sie in Konkurrenz zu den alten Handelsbeziehungen der rheinischen Hansekaufleute. Dollinger sieht im Jahr 1161 sogar die eigentliche Geburtsstunde der Hanse überhaupt. Eine Identifizierung der Gotländischen Genossenschaft als „die“ frühe Hanse widerspräche jedoch allen niederdeutschen Handelsbeziehungen (v. a. nach Flandern und London), die nicht unter dem Siegel der Genossenschaft stattfanden. Entstehung der Städtehanse, Blütezeit (etwa 1250 bis 1400) Strukturelle Entwicklungen Veränderungen in Europa führten für die Hanse zu Entwicklungen, die in der Städtehanse mündeten. Dazu gehören die Befriedung der Handelswege, das Ende der traditionellen Fahrgemeinschaften, die „kommerzielle Revolution“, die Entwicklung der Städte und das Ende der kaiserlichen Schutzmacht im Interregnum. Der Stand des Kaufmannes hatte sich verhältnismäßig gut in der europäischen Gesellschaft etabliert und die Handelswege wurden zunehmend sicherer, vor allem im strukturell dicht vernetzten Westeuropa. So verloren die Sicherheit versprechenden Fahrgemeinschaften an Bedeutung. Es wurde möglich, auf eigene Faust Handel zu betreiben und darüber hinaus Vertreter zu entsenden, anstatt persönlich zu reisen. Dies war ein wichtiger Faktor für eine kommerzielle Entwicklung, die bisweilen auch „kommerzielle Revolution“ genannt wird. Zusammen mit der Entwicklung der Städte, in denen ein ständiger Markt möglich war, wurden die erfolgreicheren Kaufleute ansässig. Sie regelten von einer Stadt aus ihr Handelsgeschäft über die Entsendung eines Vertreters und waren somit in der Lage, mehrere Handelsgeschäfte gleichzeitig von einem zentralen Punkt aus zu organisieren. Eine Vervielfachung der Handelstätigkeiten wurde möglich. Die Bezahlung von Handelsgütern über Schuldscheine, Wechsel (im Hanseraum nicht so verbreitet wie in Oberitalien) oder andere Kreditformen befreiten den Kaufmann aus einem reinen Tauschhandel und ermöglichte wiederum eine Ausweitung des Handels. Das Messesystem (also die regelmäßigen Großmärkte in einer Region, wie in der Champagne oder Schonen) verlor an Bedeutung durch die Entwicklung der Städte zu neuen Handelszentren. Städte hatten auch praktische Vorteile: Die schweren, bauchigen Transportschiffe (v. a. Koggen), mit denen besonders viel Ladung mit nur wenigen Schiffen gehandelt werden konnte, benötigten tiefe Häfen, um anzulegen. Ein Anlanden an seichtem Ufer und An-Land-Ziehen des Schiffes, wie bei den älteren, flachen Handelsbooten zuvor üblich, war nun nicht mehr möglich. Es bleibt jedoch zu bedenken, dass bei diesen Entwicklungen eine Art West-Ost-Gefälle herrschte. Während sich im Westen Handelsvertreter und Kreditwesen rasch ausbreiteten, waren im Osten, besonders im Handel mit Nowgorod und entlang der Düna, noch Fahrgemeinschaften und Tauschhandel üblich. Hier waren die Fahrten noch unsicher und die Neuerungen setzten sich nur langsam durch. Die Sesshaftwerdung der Kaufleute in den Städten führte dazu, dass diese wirtschaftlich potenten Stadtbewohner in den Rat und in die höchsten Positionen der Stadt aufstiegen. Möglicherweise muss auch gar nicht von einem „Aufstieg“ innerhalb der Stadt die Rede sein, da es sich bei vielen Kaufleuten ursprünglich ohnehin um Personen der gesellschaftlichen Oberschicht handelte. Das Ergebnis war, dass die Städte in erster Linie von Kaufleuten beherrscht wurden. Kaufleute standen im Reich traditionell unter königlich-kaiserlichem Schutz, sie waren die mercatores imperii. Mit dem Ende der staufischen Herrschaft im Reich und den darauf folgenden unsicheren Zeiten des sog. Interregnums ging dieser kaiserliche Schutz faktisch verloren und die fürstlichen Territorialherrschaften konnten (oder wollten) diese Funktion nicht ersetzen. Die Kaufleute fanden eine neue, lokal organisierte Schutzmacht in den Städten. Städte begannen (ohnehin zumeist unter starken kaufmännischem Einfluss), für die Sicherung der Handelswege zu sorgen und die Einhaltung der Handelsprivilegien ihrer Kaufleute in den Handelszielen zu überwachen. Zu diesem Zweck sprachen sie sich mit anderen Städten ab, schlossen Bündnisse und begannen, ihr Vorgehen bei größeren Zusammentreffen, den Tagfahrten, abzusprechen, zu denen jede Stadt einladen konnte, die eine bestimmte Angelegenheit zusammen mit anderen Städten regeln wollte. Zu diesem Zweck lud sie die betroffenen Städte zu sich ein, welche Ratssendeboten als Vertreter entsenden konnten, um eine Übereinkunft zu erzielen. Letztlich entspricht dies im Kern dem Organisationswesen der Hanse. Von einer ersten gesamthansischen Tagfahrt, also einem ersten „Hansetag“ kann man 1356 sprechen, als die Verhältnisse in Flandern eine Tagfahrt erforderten, die letztlich alle Hansestädte betraf. 1358 führte die Hanse einen Boykott gegen Flandern durch. Bremen war damals zwischenzeitlich nicht Mitglied der Hanse. Bremer Kaufleute witterten gute Geschäfte mit Flandern und durchbrachen den Boykott. Die Hanse protestierte, verlangte eine Rechtfertigung und drohte mit Sanktionen gegen Bremen. Die Bremer Kaufleute forderten nun vom Rat der Stadt Bremen ein Einlenken. Das durch andere Ereignisse (Pest, Bremer Erzbischofsfehde, Hoyaer Fehde) finanziell geschwächte Bremen musste deshalb durch Bernhard von Dettenhusen und Albert Doneldey, zwei Vertreter der Wittheit (Vertreter der Kaufmannschaft), in Lübeck sehr demütig um Wiederaufnahme in die Hanse bitten und sodann den Flandern-Boykott und Hamburg bei der Bekämpfung der Seeräuber in der Elbe unterstützen. Regionale Bündnisse zwischen Städten entstehen Die Hanse entwickelte sich von der ursprünglichen Kaufmannshanse zur Städtehanse, bei der Städte einen gegenseitigen Bund bildeten. Als Gründungsjahr wird häufig 1241 angegeben, als Lübeck und Hamburg ihre schon seit elf Jahren bestehende enge Zusammenarbeit auf eine vertragliche Basis stellten, aus der später der Wendische Städtebund hervorging. Fünf Jahre darauf begannen sich Bünde westfälischer und (nieder)sächsischer Städte zu bilden (Beispiel: Ladbergener Städtebund). Etwa 100 Jahre später bildeten sich die Bünde der preußischen und livländischen Städte (zur Zugehörigkeit einzelner Städte zu den Bünden siehe Hansestadt). Mitglied der Hanse konnte eine Stadt auf dreierlei Weise sein oder werden. Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts wuchsen die Städte durch die Teilnahme ihrer Kaufleute am hansischen Handel in die Gemeinschaft hinein. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts stellten die Städte förmliche Aufnahme- oder Wiederaufnahmeanträge. Einen dritten Weg in die Hanse beschritten vielfach die kleineren Städte, indem sie sich ohne besondere Formalitäten von einer der größeren Städte aufnehmen ließen. Ein Sonderfall blieb das rheinische Neuss, das 1475 durch kaiserliches Privileg in den Rang einer Hansestadt erhoben wurde. Die Hanseeigenschaft ging verloren durch Nichtbenutzung der Privilegien, durch freiwilligen Austritt aus der Gemeinschaft oder durch den förmlichen Ausschluss einer Stadt (Verhansung), der bei gravierenden Verstößen gegen die Prinzipien und Interessen der Gemeinschaft von der Städteversammlung vorgenommen werden konnte. Vormachtstellung im Ostseeraum Zwischen etwa 1350 und 1400 stand die Hanse als nordeuropäische Großmacht da, was u. a. mit der erfolgreichen Durchsetzung hansischer Interessen bei wirtschaftlichen Auseinandersetzungen in Flandern zusammenhing. Zu diesem Zweck trat 1356 der erste Hansetag zusammen (also die erste Tagfahrt, an der nahezu alle Hansestädte teilnahmen). Dies war keine offizielle Gründung der Hanse, aber das erste Mal, dass sich nahezu alle Städte im Interesse ihrer Vorteile und Handelsprivilegien zu einem gemeinsamen Vorgehen koordinierten und als Bund van der düdeschen hanse auftraten. Die deutsche Hanse war vor und auch nach diesem „Zusammenrücken“ eher frei organisiert, hatte keine Verfassung und keine Mitgliederlisten, keine dauerhafte eigenständige Finanzgebarung oder Beamte. Die Beschlüsse der Hanse auf den Tagfahrten und ab 1356 auch auf Hansetagen wurden in den Hanserezessen protokolliert. Die Beschlussfindung fand nicht nach Mehrheiten statt, sondern unterlag dem Prinzip der Einigkeit (Konsens). Es wurde diskutiert und verhandelt, bis „man sich einig“ war, wobei Enthaltungen als Zustimmung gewertet wurden. Die entsandten Vertreter der Städte, die Tagfahrer, hatten jedoch nicht die Vollmacht, im Namen ihrer Stadt eine Entscheidung zu treffen, sondern kehrten mit dem Ergebnis des Hansetages in ihre Stadt zurück, wo es beim Rat der Stadt lag, ob der Beschluss angenommen wurde, oder nicht. Dies führte dazu, dass es kaum einen Beschluss eines Hansetages gab, der tatsächlich von allen Städten der Hanse mitgetragen wurde. Vielmehr hing die Zustimmung und die Beteiligung einer Stadt davon ab, ob die Angelegenheit ihren wirtschaftlichen Interessen entsprach, oder nicht. Ein Handelsembargo gegen England konnte z. B. durchaus den Interessen Lübecks entsprechen, jedoch von Köln wegen seiner alten Handelsbeziehungen zu London strikt abgelehnt werden. Gerade diese Freiheit der Städte, Beschlüsse von Hansetagen für sich anzunehmen oder abzulehnen, machte das Prinzip der Einigkeit auf den Hansetagen erforderlich. Um eine Zustimmung möglichst vieler Städte zu erreichen, wurde so lange verhandelt, bis die meisten von ihnen mit dem Ergebnis zufrieden sein konnten. Den Kern der Hanse bildeten etwa 72 Städte, weitere 130 waren locker assoziiert. So dehnte sich der Einflussbereich der Hanse über ein Gebiet aus, das von Flandern bis Reval reichte und dabei den gesamten Ostseeraum bis zum Finnischen Meerbusen umfasste. Einziges nichtstädtisches Mitglied war der Deutschordensstaat – ein von Ordensrittern geführter Flächenstaat. Die so erreichte Vormachtstellung der Hanse in Nord- und Ostsee erregte vor allem den Widerstand Dänemarks: 1361 kam es im Ersten Waldemarkrieg zum Kampf gegen den dänischen König Waldemar IV. Atterdag, der die Rechte der Hanse einschränken wollte. Der Bund, der ursprünglich nur wirtschaftlichen Interessen diente, erhielt politische Bedeutung durch die Kölner Konföderation, die gegen die Bedrohung durch den Dänenkönig geschlossen wurde und die Städte zum Kriegsbündnis mit Schweden und Norwegen gegen Dänemark zusammenschloss. Der siegreiche Ausgang dieses Zweiten Waldemarkrieg brachte der Hanse mit dem Frieden von Stralsund 1370 eine ungewöhnliche Machtstellung. Die Königswahl in Dänemark wurde abhängig gemacht von der Zustimmung der Hanse – die Option wurde allerdings von der Hanse nicht wahrgenommen. Die Hanse bewährte sich auch im Kampf gegen den Seeräuberbund der Vitalienbrüder, der 1401 oder 1402 mit der Hinrichtung (durch Enthauptung) ihres Anführers Gödeke Michels in Hamburg endete. Im 14. und 15. Jahrhundert geriet die Stadt Emden in stetige Konflikte mit der Hanse, da von Emden (und anderen Orten in Ostfriesland wie Marienhafe) aus die Seeräuber um Klaus Störtebeker unterstützt wurden. Folge dieses Konfliktes war die mehrfache Besetzung Emdens durch hansische (vor allem hamburgische) Kräfte. Die Hamburger zogen erst 1447 endgültig wieder aus Emden ab. Der Versuch des dänischen Königs Erich VII., Skandinavien aus der Abhängigkeit zu lösen und die Einführung des Sundzolls, führte 1426 bis 1435 zu einem neuen Krieg, in dem Dänemark wieder unterlag und der 1435 mit dem (nach 1365 zweiten) Frieden von Vordingborg beendet wurde. Krisen und Niedergang (etwa 1400 bis 1669) Die wesentlichen Gründe für den Niedergang der Hanse liegen in der Festigung der Territorialstaaten, der teilweisen Verlagerung der Ost-West-Handelswege der Nürnberger und Augsburger Kaufleute auf den Landweg (Frankfurt-Leipzig-Krakau) und der zunehmenden Konkurrenz im Handel und der Produktion. An dem aus der Entdeckung Amerikas folgenden Atlantikhandel, der den bisher dominierenden Ostsee-Westsee (heute Nordsee)-Handel ablöste, war die Hanse mit Ausnahme Hamburgs und Bremens kaum beteiligt. Dabei ging das absolute Handelsvolumen der Hanse in der Nord- und Ostsee zwar nicht zurück, sondern stieg vermutlich sogar, aber der Verlust der vorherigen Monopolstellung und der Zutritt von starken Konkurrenten für viele wichtige Produkte drückte die Margen der meisten hansischen Kaufleute. Interessensgegensätze innerhalb der Hanse nahmen zu und verhinderten ein geschlosseneres Vorgehen. Ein innovatorischer Rückstand in kaufmännischen und technischen Belangen trug zum weiteren Bedeutungsverlust bei. So glaubte Walter Eucken, dass der Niedergang der deutschen Hanse seine Ursache in dem Versäumnis der Seehandels-Genossenschaften fand, eine doppelte Buchführung einzuführen. Festigung der Macht der Territorialstaaten Der Machtverlust der Hanse begann mit dem Erstarken der landesherrlichen Territorialgewalten auch im Ostseeraum. Es erfolgte eine Durchdringung und Verdichtung der fürstlichen Gewalt in ihren jeweiligen Herrschaftsgebieten. England festigte seine Position nach dem Ende der Rosenkriege (1455–85) und dem Sieg über die Spanische Armada 1588 durch den Aufbau einer Marine und eines starken Fernhandels. Das Großfürstentum Moskau dehnte sein Machtgebiet bei der „Sammlung der russischen Erde“ nach dem Ende der Tartarenherrschaft bis Nowgorod aus. Das unter der Herrschaft der Habsburger stehende Spanien brachte Flandern in stärkere Abhängigkeit. Durch die Kalmarer Union (1397–1523) wuchsen die politischen Möglichkeiten Skandinaviens. Für Dänemark war die Durchsetzung des Sundzolls nun attraktiver als die Gegenleistungen der Hanse für die Privilegien bei den Schonischen Messen. Diese Entwicklungen trugen erheblich zum Bedeutungsverlust, zum Teil sogar der Schließung der Hansekontore in London, Nowgorod, Brügge und Bergen bei. Mit der neuen nun auch in der Fläche präsenten Staatsgewalt konnten der Landfrieden durchgesetzt und die Landwege gesichert werden. Zudem wuchsen in den Territorialstaaten eigene selbstbewusster werdende Kaufmannstände, so dass sich Alternativen zum hansischen Handel ergaben. Es nahm die militärische Potenz der Hanse im Verhältnis zu den Territorialmächten ab, so dass die Hanse die Fortschreibung ihrer Privilegien auf diesem Wege nicht mehr erpressen konnte. Die einzige Territorialmacht mit der die Hanse über längere Zeit verbündet war, der Deutsche Ritterorden, verlor mit seiner Niederlage bei Tannenberg seine militärische Bedeutung. Die Festigung der landesherrschaftlichen Gewalt bedrohte die politische Handlungsfreiheit gerade der kleineren und nicht reichsfreien Hansestädte auch direkt. Berlin und Kölln wurden 1442 durch die Herrschaft der Hohenzollern zum Austritt aus der Hanse gezwungen. Wismar und Rostock gerieten immer mehr unter den Einfluss der mecklenburgischen Herzöge. Durch den Dreißigjährigen Krieg litt Wismar besonders unter hohen Kontributionsforderungen und darunter, von seinem Hinterland abgeschnitten zu sein. Das Wendische Quartier verlor mit Ausnahme von Lübeck seine zentrale Bedeutung innerhalb der Hanse. In ihrer Schlussphase bestand die Hanse effektiv nur noch aus den freien Städten Hamburg, Lübeck und Bremen. 1441 musste die Hanse im Frieden von Kopenhagen – dem Ende des Hansisch-Niederländischen Kriegs (1438–1441) – die wirtschaftliche Gleichberechtigung der Niederländer anerkennen, nachdem Brügge als wichtigstem Kontor der Hanse mit Antwerpen ein mächtiger Konkurrent erwachsen war und sich die Niederlande zusätzlich mit den Dänen als den „Herren des Sunds“ verbündet hatten. Zudem entstand Uneinigkeit zwischen den Städten über den Umgang mit den Niederländern: Während die wendischen Städte durch das Erstarken des holländischen Handels stärker bedroht waren und zu einer unversöhnlichen Politik drängten, konnten der Deutsche Orden, Köln und die livländischen Städte ihren eigenen Interessen entsprechend mit einer konzilianteren Politik besser leben. Der Frieden von Utrecht (1474) beendete den 1470 begonnenen Hansisch-Englischen Krieg der Städte des Wendischen und Preußischen Viertels gegen England und sicherte die Privilegien des Londoner Stalhofs und den hansischen Tuchhandel. Als Wendepunkt zum endgültigen Niedergang der Hanse gilt das Jahr 1494 mit der Schließung des Kontors in Nowgorod: Der Peterhof in Nowgorod wurde bei der Eroberung Nowgorods durch Iwan III. zerstört. Der Russlandhandel verlagerte sich zunehmend auf die Städte an der Küste des Baltikums. Ab dem 16. Jahrhundert begann sich die Hanse unter der Führung Lübecks in zahlreiche Kriege in Nordeuropa zu verstricken, welche die militärische Kraft der Hanse verringerten und die innere Schlagkraft unterminierten. Viele Städte des Bundes waren es mit der Zeit leid, Geld und Soldaten für die zahlreichen politischen Abenteuer und Kriege des Zentrums Lübeck aufzubringen, da viele Mitglieder den Bund in erster Linie als Handelsbund denn als politische Union sahen. Einen ersten Rückschlag erlitt die Hanse im Dänisch-Hanseatischen Krieg, der 1512 endete. Dieser Rückschlag konnte durch die Unterstützung Schwedens während des Schwedischen Befreiungskrieges wett gemacht werden, welcher zur Folge hatte, dass 1524 Gustav I. Wasa den Thron Schwedens besteigen konnte. Im selben Jahr eroberte die Flotte der Hanse auch Seeland und Kopenhagen und setzte Friedrich I. als neuen König von Dänemark ein. Dies bedeutete den letzten großen außenpolitischen Erfolg der Hanse. Aber die Eroberung Schwedens durch Christian II. 1520, finanziert von Jakob Fugger, der versuchte, Bergslagen im Wettbewerb um die Position der Hanse unfreundlich zu übernehmen, war eine große Herausforderung. Der starke Anstieg der Finanzierung und der finanziellen Abhängigkeit führte dazu, dass die Parteien zeitweise mit größeren Mengen teurer angeheuerter Söldner Schritt halten konnten, was das Schwinden der Macht und schnelle Änderungen der Situation im Verlauf des Verfahrens erklärt. Fugger zog sich später 1521 aus dem Projekt zurück, nachdem er in der Schlacht von Västerås (und der Kontrolle über die Schifffahrt von Bergslagen) gegen Gustav Vasas Rebellion den Schwedischen Befreiungskrieg verloren hatte. Die Hanse finanzierte den schwedischen Befreiungskrieg weitgehend und stellte bis 1523 ihre Privilegien in Schweden vollständig wieder her und machte den neuen König sehr abhängig. Aber die Kosten waren beträchtlich und nach dem Sieg von Christian III. mit Gustav Vasas Schweden als Verbündeten 1536 in der Grafenfehde in Skåne und Dänemark war das Geld weg, und der Einfluss der Hanse in den nordischen Ländern war vorbei. Die Hanse wurde als unerwünschter Konkurrent angesehen. Nach Friedrich I. Tod brach 1534 die sogenannte Grafenfehde um die Thronfolge von Dänemark aus. Nun unterstützte Lübeck unter dem Lübecker Bürgermeister Jürgen Wullenwever den einst abgesetzten König Christian II. gegenüber dem neuen König Christian III. und machte sich damit auch Schweden zum Feind. Nach der Kapitulation der in Kopenhagen eingeschlossenen lübischen Streitkräfte verlor die Hanse ihren dominierenden Einfluss auf Dänemark. 1563–1570 fand schließlich der nordische Dreikronenkrieg statt, in dem Schweden gegen Dänemark und die Hanse um die Vorherrschaft in der Ostsee kämpfte. Zwar konnte die Hanse teilweise die angestrebten Kriegsziele erreichen, doch der mehrjährige Krieg brachte den Handel in der Ostsee zum Erliegen. Konkurrenz im Handel: Landwege und Direkthandel Mit der teilweisen Verlagerung des Außenhandels auf Landwege und nach Übersee verlor die Hanse bereits einen zunehmenden Teil des Handelsvolumens. Die Festigung der Macht der Territorialstaaten in die Fläche hinein, ermöglichte den Ausbau und besseren Schutz des Handels über Land. Vor allem der Pelzhandel mit Russland wurde statt durch Hanseschiffe über die Ostsee über eine Landroute mit Leipzig als wichtigstem Handelsknotenpunkt geführt. An der Entwicklung Leipzigs zum zentralen Umschlagplatz für Pelze in Europa konnte die Hanse somit kaum partizipieren. Auch im verbliebenen Seehandel kam es zu tiefgreifenden Veränderungen. Größere Schiffe (die dreimastige Kraweel) mit besserer Takelung und Steuerung (mittschiffs) die höher am Wind segeln konnten als die frühere einmastige Kogge mit Seitenruder, erforderten geringere Hafenliegezeiten und erreichten schnellere Reisezeiten. Auch Erfindungen wie der Kompass trugen dazu bei, direktere Routen wählen zu können und die Küste nicht mehr im Blick behalten zu müssen. Die von der Hanse kontrollierten Zwischenstationen mussten nicht mehr angelaufen werden. Als erstes wurde das Kontor in Visby auf Gotland überflüssig, da nicht nur hansische, sondern zunehmend auch holländische und englische Kaufleute von ihren Heimathäfen aus ohne Zwischenstopp die Handelsplätze in Livland und Russland anlaufen konnten. Auch das Kontor in Bergen wurde seit dem Ende des 15. Jahrhunderts immer häufiger von englischen Kaufleuten umfahren, die den Stockfisch auf Island einkauften. Damit war das hansische Stockfischmonopol beendet. Mit den schnelleren und längeren direkten Handelswegen war der hansische Zwischenhandel obsolet geworden. Die Hanse hatte immer weniger Druckmittel ihre Handelsprivilegien bestätigen zu lassen. Hinzu kamen die zunehmenden Direktkontakte großer Hansestädte zu ausländischen Kaufleuten und dieser untereinander, wodurch die Stapelplätze der Hanse ihre Monopolstellung verloren. Hamburg unterlief das hansische Gästehandelsverbot und erlaubte englischen Kaufleuten direkt in Hamburg ihre Waren anzubieten. Die Danziger Sundfahrt unterlief das Lübecker Stapelrecht. Während die größeren Seestädte der Hanse sich mit größeren Schiffen und dem Ausbau ihrer Häfen dem neuen Wettbewerb zumindest teilweise stellen konnten, gelang dies den kleineren Seestädten der Hanse nicht mehr. So war zum Beispiel Stralsund nicht mehr in der Lage die erforderlichen Investitionen zum Ausbau des Hafens für die größeren Schiffe zu erbringen. Die traditionellen korporatistischen, konkurrenz- und „fremdenfeindlichen“ (so Dollinger insbesondere über Köln) Strukturen und Regulative, die beispielsweise forderten, dass Hansekaufleute keine Ausländerinnen heiraten durften, waren der internationalen, vor allem der holländischen und englischen Konkurrenz nicht mehr gewachsen. Mit der zunehmenden Rechtssicherheit auch für fremde Kaufleute in den Handelsstädten bedurfte der Kaufmann nicht mehr dem Schutz des Kontors. Es wurde bequemer sich privat einzumieten und intime Beziehungen einzugehen, als sich dem strengen Reglement des Kontors in einer reinen Männergesellschaft zu unterwerfen. Konkurrenz in der Produktion Konkurrenz erwuchs der Hanse neben dem Handel auch durch neue Produktionsräume. Wechselnde hydrologische Verhältnisse in der Ostsee änderten ihren Salzgehalt, was zu einem Rückgang der Heringsschwärme in der Ostsee führte. Die Bedeutung der von der Hanse kontrollierten Schonischen Messen nahm daher ab, während durch den Aufbau des englischen, flämischen und holländischen Heringsfangs starke Konkurrenz erwuchs. Die Konkurrenz durch westeuropäische Heringsproduktion wurde möglich, nachdem das an den Atlantikküsten gewonnene Salz (Baiensalz) besser als zuvor aufbereitet werden konnte und das Lüneburger Salzmonopol in Frage stellte. Insbesondere die Holländer erzielten große Fortschritte in der Herauslösung der Beistoffe aus dem Seesalz, wodurch die westeuropäische Heringsproduktion ihren qualitativen Rückstand verkürzen konnte. Zugleich litt die Lüneburger Saline an zunehmender Brennholzknappheit. Mit der Ende des 14. Jahrhunderts in England beginnenden Tuchproduktion trug ganz wesentlich zur Ausbildung eines eigenen englischen Kaufmannsstandes bei und schadete dem hansischen Tuchhandel zwischen Flandern und England. Innovativer Rückstand Ihre führende Position im Schiffbau verloren die Seestädte der Hanse an die Holländer. Durch starke Rationalisierung (genormte Bauteile, Einsatz windgetriebener Sägen) erfuhr der holländische Schiffbau eine Spitzenstellung. Die Verpachtung der Stockholmer Werft im Jahr 1600 an einen holländischen Schiffbauer unterstreicht dies. In der Folge war es auch dieser technologische Rückstand, der verhinderte, dass die Hansen am sich entwickelnden globalen Seehandel teilhaben konnten. Auch im kaufmännischen Bereich geriet die Hanse in den Rückstand. Zwar gab es die doppelte Buchführung schon in der Spätzeit der Hanse (in Lübeck seit 1340, Stuart Jenks), sie setzte sich aber später durch als in Oberitalien und Süddeutschland. Zuvor erfolgte die Abrechnung von Gesellschaften mehrerer Hansekaufleute erst bei der Abwicklung der Gesellschaft (durchschnittlich nach 20 Jahren). Ein regelmäßiger Überblick über das vorhandene Eigenkapital war den Hansen deshalb nicht möglich. Die Buchführung erfolgte nach den gesamten Einkaufspreisen und Erlösen, nicht nach Einzelgeschäften (Carsten Jahnke). In dieser Zeit hatte sich in Augsburg und Nürnberg die doppelte Buchführung nach Soll und Haben bei den großen Handelskonzernen schon etabliert, was eine bessere Kalkulation und Buchgeldschöpfung ermöglichte. Die Fugger bilanzierten dagegen schon seit 1511 nach den Grundsätzen ihres Hauptbuchhalters Matthäus Schwarz. Bankgeschäfte waren für die süddeutschen Konkurrenten der Hanse damit deutlich leichter. Große Banken, Börsen und Handelsunternehmen in der Größe der Fugger in Augsburg, der Niederländischen Ostindien-Kompanie und der Großbanken in den norditalienischen Städten konnten sich im Hanseraum deshalb nicht oder erst deutlich später und schwächer entwickeln. Die Hamburger Börse wurde 1558, die Bremer Börse 1620 gegründet. In Flandern (Brügge, 1409, Antwerpen, 1460) und Süddeutschland (Augsburg und Nürnberg 1540) hatten sich die Börsen bereits etabliert. Während die Hamburger Bank 1619 gegründet wurde, bestand die Bank der Medici in Brügge schon fast 150 Jahre (1472). Auch die Liquidität der Hansekaufleute war nicht hoch. Beispielhaft sind die Schwierigkeiten Veckinchusens im 15. Jahrhundert für eine Hochzeit 500 Mark aufzubringen, während die Fugger 1519 mit über 500'000 Gulden die Kaiserwahl beeinflussen konnten und davon nur ein Drittel über Unterbeteiligungen refinanziert werden musste. Nach dem Scheitern von Veckinghusens Venediggesellschaft gab es deshalb kaum noch hansischen Handel in Süddeutschland. Auch eine Verlängerung der Wertschöpfungskette nach dem Beispiel der Fugger mit dem Erwerb von Bergwerken gelang den Hansekaufleuten nicht. In Antwerpen, der großen Konkurrenz in Flandern zu Brügge, etablierten sich die Fugger gegen die Hansen. Unzureichende innere Reformen Gleichwohl versuchte die Hanse, sich zu reorganisieren, bestellte 1556 den Kölner Heinrich Sudermann zum Syndikus und gab sich damit erstmals einen eigenen Sprecher und Repräsentanten. Nachfolger Sudermanns wurde in der Zeit von 1605 bis 1618 der in Osnabrück gebürtige Stralsunder Syndikus Johann Domann. Es gelang aber nicht, die inneren Interessensgegensätze der Mitgliedsstädte zu überwinden. Das galt nicht nur für die Konkurrenz der großen Seestädte der Hanse untereinander, sondern auch für die grundlegenden Differenzen zwischen den reichen Seestädten und den vergleichsweise armen Binnenstädten der Hanse. Da die zu Lasten der Binnenstädte vorhandene Ungleichheit im Stapelrecht nie nachhaltig austariert wurde, sahen die Binnenstädte die Hanse auch nicht als ihr zentrales Bündnissystem, sondern nur als eine Option, derer man sich nur von Fall zu Fall bediente, wenn es der Stadt direkt nützte. Nach einer kurzen Zwischenblüte während des spanisch-niederländischen Krieges war seit Beginn des 17. Jahrhunderts der stolze und mächtige Städtebund der Hanse nur noch dem Namen nach ein Bündnis, das sich allerdings mit einigen Städten des engeren Kerns gegen diese Entwicklung wehrte. So kam es nicht nur zu gemeinsamen Verteidigungsbündnissen dieser Städte, sondern neben der Beschäftigung des Syndikus Domann auch zur Anstellung eines gemeinsamen Militärführers in der Person des Obersten Friedrich zu Solms-Rödelheim, der auch den gemeinsam beschäftigten Festungsbauer Johan van Valckenburgh aus den Niederlanden zu beaufsichtigen hatte. Der Dreißigjährige Krieg brachte die völlige Auflösung. Ein Vorschlag Spaniens, eine „Hanseatisch-Spanische Compagnie“, die den Handel nach den neuen spanischen Kolonien in Mittelamerika betreiben sollte, scheiterte an den politischen Gegensätzen zwischen den „katholischen“ und „protestantischen“ Machtblöcken. Auf den Hansetagen 1629 und 1641 wurden Hamburg, Bremen und Lübeck beauftragt, das Beste zum Wohle der Hanse zu wahren. 1669 hielten die letzten in der Hanse verbliebenen Städte, Lübeck, Hamburg, Bremen, Danzig, Rostock, Braunschweig, Hildesheim, Osnabrück und Köln den letzten Hansetag in Lübeck ab, wobei die drei erstgenannten den Schutz der im Ausland befindlichen Kontore übernahmen. 1684 forderte Kaiser Leopold die Lübecker Hanse zur Geldhilfe für den Krieg gegen die Türken auf. Das Kontor in Bergen wurde 1775, der Stalhof (Steelyard) in London 1858 verkauft. Das 1540 nach Antwerpen verlegte Brügger Hansekontor ging 1863 in die Hände der belgischen Regierung über. Die drei Städte Bremen, Hamburg und Lübeck hielten später noch weiterhin eng zusammen und hatten schon aus Kostengründen gemeinsame diplomatische Vertretungen an Europas Höfen und gemeinsame Konsulate in wichtigen Häfen. Die Ministerresidenten Vincent Rumpff in Paris und James Colquhoun in London schlossen namens der norddeutschen Stadtrepubliken moderne Handels- und Schifffahrtsverträge, aufbauend auf Reziprozität und Meistbegünstigung, ab, die vom Norddeutschen Bund 1867 übernommen und auch vom neuen Kaiserreich noch fortgeführt wurden. Organisation Lübeck galt seit 1294 unangefochten als caput et principium omnium (Deutsch: Haupt und Ursprung aller) und wurde als hovestad der Hanse im 14. und 15. Jahrhundert mehrfach bestätigt. Besondere Rechte gegenüber den anderen Städten der Hanse konnte Lübeck aus dieser Funktion jedoch nicht herleiten. Lübeck lud gewöhnlich zu den Hansetagen ein und war gemäß einem Edikt von Kaiser Karl IV. Appellationsgericht für alle Hansestädte, die nach eigenem Lübischen Recht zu richten hatten. Drittel und Viertel Die Hanse war in Städtegruppen organisiert. Zunächst gab es drei Gruppen, sogenannte Drittel, ab 1554 vier Gruppen, sogenannte Viertel. 1347 wurde in den Statuten des Hansekontores in Brügge zum ersten Mal die Existenz der Drittel erwähnt. Auch im Londoner Kontor gab es eine solche Verwaltung nach Dritteln, in anderen Kontoren hingegen nicht. Das Kontor wurde zu je einem Drittel von den lübisch-sächsischen, westfälisch-preußischen und den gotländisch-livländischen Städten verwaltet. Es wird vermutet, dass diese Aufteilung der damaligen Machtverteilung innerhalb der Hanse entsprach, denn eine rein an regionalen Gesichtspunkten orientierte Aufteilung hätte sicher nicht die weit voneinander entfernten Städte aus Westfalen und Preußen gemeinsam organisiert. Jedes Drittel wurde von einer Vorort genannten Stadt geführt. Offensichtlich war es vorteilhaft, die führende Stadt innerhalb eines Drittels zu sein, denn schon bald gab es innerhansische Auseinandersetzungen um die Aufteilung und Führung der Drittel. Zu Beginn waren die Hauptorte Lübeck, Dortmund und Visby. Außerdem hielten die Drittel Drittelstage zur Erörterung besonders von flandrischen Fragen ab und ergänzten die Hansetage. Köln löste Dortmund in der Führung des westfälisch-preußischen Drittels ab. Zwischen Visby und Riga wechselte die Führungsrolle im gotländisch-livländischen Drittel mehrfach. Die damalige Bedeutung Lübecks wird auch daran deutlich, dass die Führungsrolle der Stadt im mächtigsten lübisch-wendischen Drittel niemals angegriffen wurde. Auf dem Hansetag 1554 wurden aus den Dritteln Quartiere gemacht. Lübeck führte fortan das wendische Quartier, Braunschweig und Magdeburg das sächsische, Danzig das preußisch-livländische und Köln das Kölner Quartier an. Hansetag Der allgemeine Hansetag war das höchste Leitungs- und Beschlussgremium der Hanse. Der erste Hansetag fand 1356, der letzte 1669 statt. Hansetage fanden je nach Bedarf statt, gewöhnlich auf Einladung Lübecks. Zwischen 1356 und 1480 fanden dort 54 Hansetage statt, zehn weitere in Stralsund, drei in Hamburg, zwei in Bremen und jeweils einer in Köln, Lüneburg, Greifswald, Braunschweig (1427) und Uelzen (1470). Die Tagesordnungspunkte wurden jeweils Monate voraus bekannt gegeben, um den einzelnen Städten bzw. Städtegruppen ausreichend Zeit zur Beratung zu bieten. Lübeck konnte letztlich keine festgelegte Ordnung durchsetzen, welche Städte einzuladen seien, und lud dementsprechend auch unterschiedliche Städte – wohl der jeweiligen Problemstellung folgend – zu den Tagen ein. Behandelt wurden auf dem Hansetag alle Fragen, welche das Verhältnis der Kaufleute und Städte untereinander oder die Beziehungen zu den Handelspartnern im Ausland betrafen. Beispiele beinhalten: Ratifizierung von Verträgen Handelsprivilegien Wirtschaftssanktionen wirtschaftliche Vorschriften aller Art diplomatische Aktivitäten der Hanse Krieg und Frieden finanzielle oder militärische Maßnahmen Neuaufnahme oder Ausschluss von Mitgliedern Schlichtung von Konflikten zwischen Hansestädten Beratung Der Idee nach sollten die Beschlüsse für alle Mitglieder verbindlich sein. Aber der Hansetag besaß keine den Städten übergeordnete Gewalt. Die Verwirklichung der Beschlüsse hing vom Willen der Städte ab; allein in ihrem Ermessen lag es, Beschlüsse des Hansetages mitzutragen oder eigene Wege zu gehen. Sie fühlten sich deshalb auch nur gebunden, wenn sich die Beschlüsse mit den eigenen lokalen Interessen deckten, andernfalls verweigerten sie ihre Mitwirkung. Ein Beispiel ist die Weigerung Dortmunds, sich dem 1367 in Köln geschlossenen, für die Geschichte der Hanse so folgenreichen Kriegsbündnis der wendischen, preußischen und einiger niederländischer Städte gegen den dänischen König Waldemar IV. anzuschließen. In einem Schreiben an die in Lübeck versammelten Ratsendboten stellte die Stadt fest, sie habe die Kriege der Seestädte noch nie unterstützt und wolle das auch jetzt nicht tun. Umgekehrt ließen 1388 die übrigen Hansestädte, selbst die westfälischen, Dortmund allein, als dessen Souveränität in der Großen Fehde auf dem Spiel stand und es von den versammelten Heeren des Kölner Erzbischofs und des Grafen von der Mark bedroht war. Ähnliche Beispiele gibt es zuhauf. Die Reise- und Aufenthaltskosten hatten die Städte im Großen und Ganzen selbst zu tragen. Um die Ausgaben zu minimieren, versuchten sie Syndici zu bestimmen, die ihre Interessen vertreten sollten. Auf dem Hansetag des Jahres 1418 wurde allerdings festgelegt, dass alleine die Ratsherren einer Stadt zur Interessenvertretung berechtigt seien. Im Juli 1669 fand der letzte Hansetag in Lübeck statt, nachdem die Wiederbelebung der Hanse durch den Dreißigjährigen Krieg und die Unfähigkeit des Städtebundes, tragfähige Machtstrukturen zu entwickeln, gescheitert war. Es kamen nur noch neun Delegierte, und sie gingen wieder auseinander, ohne irgendwelche Beschlüsse zu fassen. Die Hanse wurde also niemals formell aufgelöst, sondern ist „sanft“ beendet worden. (Zu weiteren Hansetagen: siehe Hansetage der Neuzeit.) Regionaltag Neben den Hanse- und Drittelstagen wurden auch sogenannte Regionaltage abgehalten, auf denen sich die Vertreter benachbarter Städte trafen und auch über außerhansische Angelegenheiten berieten. Diese Regionaltage wurden von den Räten der beteiligten Städte organisiert. Sie waren auch für die Umsetzung der Beschlüsse der Versammlungen in den jeweiligen Städten zuständig. Wirtschaft Handelsgüter Wirtschaftsgüter mit einem hohen hansischen Handelsvolumen waren vor allem Wachs aus Russland, Stockfisch aus Norwegen, Hering aus Schonen, Salz aus Lüneburg, Getreide aus Preußen und Livland, Bier vor allem aus Wismar. Besonders lukrativ war der Dreieckshandel der vor allem von Lübecker Hansekaufleuten bis 1467 in der Nordsee betrieben wurde: Bier, Getreide, Wein und Tuche wurde nach Bergen exportiert. Dort wurde Stockfisch und Holz gekauft und in England verkauft. Von England nahmen die Lübecker Wolle mit, die in Flandern verkauft wurde. Das in Flandern gekaufte Tuch wurde auch in Lübeck veräußert. Schifffahrt Vorteile durch Verbindung von Land- und Seeverkehr Die Verbindung von Land- und Seeverkehr in einer Organisation war neben der Gewährung von Privilegien einer der entscheidenden Schritte in die Zukunft, die der Hanse schließlich die monopolartige Vorherrschaft in Handel und Transport auf Nord- und Ostsee bringen sollte. Neue Verkehrswege auf dem Wasser wurden allerdings bis weit ins 14. Jahrhundert von der Hanse nicht erschlossen; man übernahm vielmehr die von Friesen, Sachsen, Engländern und Skandinaviern erschlossenen Verkehrswege. Die Handelspartner und Schiffer wurden verdrängt, oft unter dem Anschein fairer Verträge unter gleichberechtigten Partnern. Beispielhaft dafür ist das Privileg Heinrichs des Löwen an die Gotländer von 1161. Als diese sich weigerten, die Kaufleute aus dem gerade wieder gegründeten Lübeck (1159) als Handelspartner zu akzeptieren, vermittelte Heinrich und gestand den Gotländern in seinem Gebiet die gleichen Rechte zu, wie sie die Gotländer den Deutschen auf ihrer Insel einräumen sollten. Nun konnten die Kaufleute aus Visby, die bis dahin den Zwischenhandel auf der Ostsee beherrschten, ihre Waren allenfalls bis Lübeck bringen, der direkte Weg weiter ins Binnenland blieb ihnen versperrt. Einheitlicher Schiffsbetrieb und einheitliches Seerecht Ein weiterer Vorteil der Hanseschifffahrt war eine gewisse Rechtssicherheit gegenüber Konkurrenten, ein entwickeltes Seerecht, das Fragen der Befrachtung, der Bemannung, der Verhältnisse an Bord, des Verhaltens im Seenotfall usw. regelte. Die Rechtssicherheit für Hanseschiffe, vor allem im Ausland, war grundlegend für das reibungslose Funktionieren der Verkehrsorganisation. Auch Fragen der technischen Schiffssicherheit und der Seefähigkeit der Schiffe wurden sehr ernst genommen, ebenso wie der Schutz der Handelsschiffe vor Piraterie. Die Schiffe fuhren deshalb meist im Verband in Fahrtgemeinschaften von zwei und drei Schiffen, und ab 1477 mussten größere Hanseschiffe je 20 Bewaffnete an Bord haben. Gegen Kaperungen schützten diese Maßnahmen jedoch nicht immer. In lokalen Legenden erlangten die folgenden Hanseschiffe Berühmtheit: Peter von Danzig (Danzig), Bunte Kuh (Hamburg), Adler von Lübeck, Jesus von Lübeck, Löwe von Lübeck. Verkehrswege und Warenflüsse In der Hansezeit stieg das Handelsvolumen über die alten Verkehrswege in ganz Europa und neue Handelsrouten entstanden. Von größter Bedeutung für die Hanse waren der Süd-Nord-Weg über Rhein und Weser nach London sowie der West-Ost-Weg von London durch Nord- und Ostsee bis Nowgorod. Eine weitere wichtige Verbindung war der Weg von Magdeburg über Lüneburg, Bremen oder Lübeck nach Bergen. Hamburg und Lübeck arbeiteten eng zusammen: Während Hamburg insbesondere den Nordseeraum und Westeuropa abdeckte, orientierte sich der Seeverkehr Lübecks nach Skandinavien und in den Ostseeraum vom Bergener Kontor Bryggen bis nach Nowgorod (Peterhof). Politisch ist der Einfluss Lübecks auch im Hansekontor in Brügge und im Londoner Stalhof von herausragender Bedeutung für die Entwicklung des hansischen Handels gewesen. Der Handelsverkehr zwischen den beiden Hansestädten wurde vorwiegend über Land, beispielsweise über die Alte Salzstraße, durchgeführt, aber auch per Binnenschiff durch den Stecknitz-Kanal, über den auch das Salz aus Lüneburg, eines der wichtigsten Exportgüter Lübecks in Richtung Norden und Osten, transportiert wurde. Das Salz wurde im Ostseeraum benötigt, um Fisch zu konservieren. Der Hering war im Mittelalter für alle Bevölkerungsschichten eine schmackhafte und erschwingliche Alternative zum teureren Fleisch. Darüber hinaus aß man an christlichen Fastentagen und an jedem Freitag Fisch als Fastenspeise. Die rheinische Verkehrslinie Entlang der alten rheinischen Verkehrslinie wurde seit der Römerzeit vor allem Wein aus der Kölner Gegend gehandelt und Wolle aus England. In beide Richtungen wurden Metallwaren gehandelt, aber auch Produkte aus Italien und Frankreich gelangten auf diesem Weg in den Nordwesten Europas. Mit der Entstehung der Hanse brachten die deutschen Kaufleute immer öfter ihre Waren auf eigenen Schiffen auf die britische Insel und nahmen immer weniger die Dienste der Friesen dafür in Anspruch. An dieser Verkehrslinie lagen die Städte des rheinischen und westfälischen Städtebundes unter Führung von Köln bzw. Dortmund. Die hansische (Ost-West) Linie Dieser Handelsweg ging von London und Brügge aus in den Ostseeraum, zunächst vor allem nach Skandinavien. Der Handel wurde belebt durch die Christianisierung Skandinaviens und des südlichen Ostseeraumes und wurde zunächst von den Gotländern dominiert. Diese handelten die Ostwaren, Pelze und Wachs aus dem nordöstlichen Ostseeraum sowie Lebensmittel aus Nordwesteuropa (Butter, Getreide, Vieh und Fisch) auf dieser Route unter Umfahrung von Jütland. Auch friesische Händler waren aktiv und brachten die Ware häufig über Eider und Schlei aus dem Nord- in den Ostseeraum und umgekehrt. Nach der (Wieder-)Gründung Lübecks intensivierten deutsche Händler den Warenaustausch über Elbe, Alster und Trave. In der Ostsee setzte mit dem Gotländer Frieden 1160 die Verdrängung der Gotländer durch Deutsche ein. Die steigende Nachfrage nach Waren durch die im Rahmen der Ostkolonisation neu gegründeten und schnell wachsenden deutschen Städte bzw. Staaten (Preußen und Livland) im Ostseeraum belebte den Handel auf diesem Weg zusätzlich. Neben der starken Ostkolonisation fand im kleineren Rahmen eine deutsche Kolonisation in Skandinavien statt: Deutsche Handwerker und Kaufleute ließen sich z. B. in Visby und Bergen nieder und nahmen später über Jahrzehnte paritätisch an der Stadtverwaltung teil. Anders als im südlichen Ostseeraum wurde die einheimische Bevölkerung dabei aber nicht dominiert. Zusätzliche Bedeutung erhielt dieser Seeweg, weil es entlang der Ostseeküste keine befestigten (Römer-)straßen gab und das Gebiet abseits der Städte nur sehr dünn besiedelt war. Entlang dieser Linie lagen die wendischen, preußischen und livländischen Städte. Die Führung der gleichnamigen Städtebünde hatten Lübeck, Danzig und Riga inne. Der Süd-Nord-Weg von Magdeburg nach Bergen Dieser Weg war ebenfalls sehr alt und verband die Harzer Bergwerke und die Salinen Lüneburgs mit den Fischvorkommen in Südschweden und Norwegen. Auch von den Gävlefischern in Nordschweden gefangener Hering wurde mit dem Lüneburger Salz haltbar gemacht und an die Hanse verkauft. Die Städte am Süd-Nord-Weg gehörten dem sächsischen Städtebund mit den Vororten Braunschweig und Magdeburg sowie dem wendischen Bund an. Kontore Innerhalb ihres Machtbereiches gründete die Hanse unzählige Niederlassungen. Von noch größerer Bedeutung aber waren ihre Außenposten an den wichtigsten Handelsplätzen im Ausland, die Kontore. Kontore der Hanse waren in Nowgorod der Peterhof, in Bergen die Tyske Bryggen, in London der Stalhof und das Hansekontor in Brügge; an ihrer Spitze standen gewählte Oldermänner und Beisitzer. Ihre Aufgabe war es, den Schutz der kaufmännischen Interessen gegenüber den auswärtigen Mächten wahrzunehmen, zugleich aber auch, die Einhaltung der den Kaufleuten zugestandenen Freiheiten durch die Kaufleute selbst zu überwachen, zu deren Befolgung diese sich bei der Aufnahme in die Kontorgemeinschaft eidlich verpflichten mussten. Ferner gab es Statuten, die das Zusammenleben der Kaufleute und Fragen des örtlichen Handels regelten. Sie hatten eine eigene Kasse und führten ein eigenes Siegel, sie galten jedoch nicht als eigenständige Mitglieder der Hanse. Die sogenannte Nowgoroder Schra ist die einzige vollständig erhaltene Sammlung von Vorschriften eines der vier Hansekontore. Hansekaufleute Der auf sich allein gestellte, das volle Risiko tragende, nur auf eigene Rechnung Handel treibende Kaufmann war in der Hanse des 14. und 15. Jahrhundert der Ausnahmefall. Der typische Hansekaufmann des späten Mittelalters war Mitglied einer oder mehrerer Handelsgesellschaften. Seit dem 12. Jahrhundert sind die einfache Selschop, eine kurzfristige Gelegenheitsgesellschaft, bei der ein Kaufmann auf die Handelsreise Kapital oder Ware eingibt, Risiko und Gewinn geteilt wurden, und die Sendeve, das Kommissionsgeschäft, bei dem der Gewinn des beauftragten Kaufmanns durch festen Lohn oder eine Provision ersetzt wurde und der Auftraggeber das alleinige Risiko trug, überliefert. Bei dem am häufigsten vorkommenden Typ der freien Gesellschaft brachten zwei oder mehr Partner Kapital in gleicher oder unterschiedlicher Höhe ein; Gewinnausschüttung und Verlustzuweisung erfolgten je nach Anteil. Es gab neben den aktiven Gesellschaftern häufig auch mehrere stille Teilhaber. Gewöhnlich blieb die Dauer der Gesellschaft auf wenige Jahre befristet. Gerade die größeren Hansekaufleute mit Handelsbeziehungen zwischen Ost und West waren in mehreren solcher Gesellschaften vertreten, um das Risiko besser zu verteilen. Bei der Wahl der Gesellschaftspartner spielten verwandtschaftliche Beziehungen immer eine große Rolle. Philippe Dollinger stellt einige dieser Kaufleute schlaglichthaft heraus: den Hamburger Kaufmann Winand Miles; Johann Wittenborg aus Lübeck ob der Tragik seiner Biographie; den Dortmunder Tidemann Lemberg ob seiner Skrupellosigkeit; den deutschstämmigen Stockholmer Johann Nagel ob seiner Assimilationskraft; die europaweit agierenden Brüder um Hildebrand Veckinchusen für die unterschiedlichen Erfolgsvarianten einer interfamiliären kaufmännischen Zusammenarbeit; den Lübecker Hinrich Castorp als Beispiel für den nahezu klassischen Hansekaufmann seiner Zeit und die Gebrüder Mulich als Beispiel des Einbruchs der Hansekaufleute im oberdeutschen Handel. In der zeitgenössischen Kunstszene stachen die Porträts der Hansekaufleute im Londoner Stalhof hervor, die Hans Holbein der Jüngere abbildete. Jacob van Utrecht porträtierte den erfolgreichen Kaufmann des beginnenden 16. Jahrhunderts in seiner Arbeitsumgebung und mit den notwendigen Utensilien. König Ludwig I. von Bayern nahm den Lübecker Bürgermeister Bruno von Warendorp stellvertretend für die Hansekaufleute und ihre Führungskraft in seine Walhalla auf. Ein Beispiel für den erfolgreichen Hansekaufmann des 17. Jahrhunderts ist sicher der Lübecker Thomas Fredenhagen, der trotz veränderter Handelsströme noch von Lübeck aus sehr erfolgreich weltweit im Wettbewerb mit Bremern und Hamburgern agierte. Nachwirkungen Treuhänder und Erben Wo immer die Hanse als Bezugspunkt städtischer Traditionen beschworen wird, gelten die Hanseaten als weltoffen, urban, nüchtern und zuverlässig, aristokratisch-reserviert und steif. Lübeck, Hamburg und Bremen werden mit solchen Klischees gern verbunden. Die Städte nahmen den Begriff „Hansestadt“ allerdings erst im 19. Jahrhundert in ihren Staatstitel auf – über eineinhalb Jahrhunderte, nachdem die Hanse bereits erloschen war. Nach der Wiedervereinigung stellten auch Rostock, Wismar, Stralsund und Greifswald den Begriff „Hansestadt“ ihrem Stadtnamen voran. Noch heute ist die Hanse in den Autokennzeichen all dieser Städte zu erkennen. Seit 1994 hat Demmin den Zusatznamen Hansestadt und seit 2012 darf auch Warburg in Nordrhein-Westfalen den Zusatz Hansestadt führen. Hansaplatz und Hansaport Die Hanse wird den positiven Erscheinungen der Geschichte zugerechnet. Wo immer eine Stadt einst der Hanse angehört hat, scheint dies ihr Ansehen zu heben, und es lässt sich damit werben. Plätze, Straßen und Bauten erinnern daran: Hansaplatz, Hansastraße, Hanseatenweg, Hansahof, Hanse-Viertel, Hansaport sind Beispiele aus Hamburg und Lübeck. Zahlreiche öffentliche und private Bauten und Firmen beschwören vermeintliche Hansetradition und führen Bezeichnungen wie Hanse, Hansa, hanseatisch oder hansisch als Bestandteil ihres Namens. Das weist oft auf ihren Sitz oder ihre Zuständigkeit hin, etwa im Fall eines Hanseatischen Oberlandesgerichts, einer Hanseatischen Versicherungsanstalt von 1891, des Hansa-Parks, der Deutschen Lufthansa oder des Fußballvereins Hansa Rostock. Zumeist dient es jedoch als eine Art Gütesiegel, das markenrechtlich nur sehr eingeschränkt, zumeist nur als Bildmarke, schutzfähig ist, wobei das Hansa-Pils aus Dortmund eine Ausnahme darstellt. Hansebund der Neuzeit 1980 wurde in Zwolle die Neue Hanse als Lebens- und Kulturgemeinschaft der Städte über die Grenzen hinweg gegründet. Ihr Ziel ist neben der Förderung des Handels auch die Förderung des Tourismus. Seitdem wird in jedem Jahr ein Hansetag der Neuzeit in einer ehemaligen Hansestadt abgehalten. Europäisches Hansemuseum In der Altstadt Lübecks wurde 2015 das Europäische Hansemuseum eröffnet. Während des Abrisses der vorherigen Gebäude am zukünftigen Standort des Museums kam es zu umfangreichen archäologischen Funden. Diese Funde wurden in die Ausstellung des Museums integriert. Neben der Geschichte der Hanse werden auch stadtgeschichtliche Ereignisse und die Geschichte der Verbreitung des Lübischen Rechts gezeigt. Hanseatisches Museum und Schötstuben In Bergen auf Bryggen, Norwegen, befinden sich das Hanseatische Museum und die Schötstuben. UNESCO-Weltdokumentenerbe Am 18. Mai 2023 hat die UNESCO 21 Dokumente zur Geschichte der Hanse in ihre Liste des Weltdokumentenerbes aufgenommen. Diese Dokumente wurden zuvor auf einem vom Archiv der Hansestadt Lübeck initiierten internationalen Kongress ausgewählt und bei der UNESCO eingereicht. Hierbei handelt es sich um Zollbücher, Sitzungsprotokolle, Privilegien und Urkunden aus den Jahren 1192 bis 1547 aus sechs europäischen Staaten. Linguistische Bedeutung Die mittelniederdeutsche Sprache der Hanse, welche die Lingua franca des Mittelalters in Nordeuropa war, beeinflusste die Entwicklung der skandinavischen Sprachen deutlich. Geschichte einzelner Hansestädte Die Geschichte der Hanse als loser Städtebund ist untrennbar mit den Einzelgeschichtsschreibungen der wesentlichen Mitgliedsstädte verbunden, die, da sie nicht immer einig waren und durchaus eigene Interessen verfolgten, die Hanse im Licht ihrer Geschichte durchaus unterschiedlich bewerten: Geschichte Anklams Geschichte Braunschweigs Geschichte Bremens Geschichte Danzigs Geschichte Demmins Geschichte Dortmunds Geschichte Duisburgs Geschichte Greifswalds Geschichte Hamburgs Geschichte Kölns Geschichte Lübecks Geschichte Lüneburgs Geschichte Münsters Geschichte Revals Geschichte Rigas Geschichte Rostocks Geschichte Soests Geschichte Stades Geschichte Stralsunds Geschichte von Visby Geschichte Wismars Literatur Jörgen Bracker, Volker Henn, Rainer Postel (Hrsg.): Die Hanse – Lebenswirklichkeit und Mythos. Katalog der Ausstellung des Museums für Hamburgische Geschichte in Hamburg 24. August – 24. November 1989. 2 Bde., 4. Auflage. Schmidt-Römhild, Lübeck 2006 (Erstausgabe: Hamburg 1989), ISBN 978-3-7950-1275-5. Philippe Dollinger: Die Hanse (Originaltitel: La Hanse übersetzt von Marga und Hans Krabusch). Neu bearbeitet von Volker Henn und Nils Jörn, 6., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage, Kröner, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-520-37106-5. Gabriele Dummschat: Klaus Störtebeker und die Hanse – Seefahrt und Piratenleben. Hinstorff, Rostock 2016, ISBN 978-3-356-02044-1. Gisela Graichen, Rolf Hammel-Kiesow, Alexander Hesse: Die deutsche Hanse: Eine heimliche Supermacht. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2013, ISBN 978-3-499-62786-6. Rolf Hammel-Kiesow: Hanse. 5. aktualisierte Auflage, Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-58352-0. Thomas Hill: Hansestadt Kiel. Wachholtz, Kiel/Hamburg 2019, ISBN 978-3-529-05040-4. Carsten Jahnke: Die Hanse. Reclam, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-15-019206-1. Jürgen Kiefer, Ingrid Kästner, Klaus Manger (Hrsg.): Der Ostseeraum aus wissenschafts- und kulturhistorischer Sicht. Aachen 2018 (= Europäische Wissenschaftsbeziehungen. Band 15), passim. Hiram Kümper: Der Traum vom Ehrbaren Kaufmann. Die Deutschen und die Hanse, Propyläen Verlag, Berlin 2020, ISBN 978-3-549-07649-1. Karl-Friedrich Olechnowitz: Handel- und Seeschiffahrt der späten Hanse. Verlag Hermann Böhlaus Nachf., Weimar 1965. Karl Pagel: Die Hanse. Neu bearbeitet von Friedrich Naab. Westermann, Braunschweig 1983, ISBN 3-14-508879-3. Ernst Pitz: Bürgereinung und Städteeinung. Studien zur Verfassungsgeschichte der Hansestädte und der deutschen Hanse (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, Neue Folge Band 52), Böhlau, Köln/Wien/Weimar 2001, ISBN 978-3-412-11500-5. Steffen Raßloff: Kleine Geschichte der Hanse. Rhino, Ilmenau 2019, ISBN 978-3-95560-071-6. Margrit Schulte Beerbühl: Das Netzwerk der Hanse. In: Europäische Geschichte Online. Hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (Mainz), 2011, Zugriff am 18. Januar 2020. Stephan Selzer: Die Hanse. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Heino
Heino
Heinz Georg Kramm (* 13. Dezember 1938 in Düsseldorf) ist ein deutscher Musiker, der unter dem Künstlernamen Heino bekannt ist. Hauptsächlich als Schlagersänger und Interpret deutscher Volkslieder erfolgreich, wandte er sich im Verlauf seiner Karriere auch anderen Genres zu. Er hat nach eigenen Angaben bis zum Jahre 2013 über 50 Millionen Tonträger verkauft. Er ist auch unter verschiedenen Pseudonymen aktiv wie etwa Gio Bilk, Bilk Gio, G. Bilk, H. Bilk. Werdegang und Privates Heino wurde als Sohn des Zahnarztes Heinrich Fritz Kramm (1911–1941) und dessen Ehefrau Franziska, geborene Wenskowski (1911–1986), im Düsseldorfer Stadtteil Oberbilk geboren. Sein Vater war römisch-katholisch, seine Mutter evangelisch. Sein Großvater, Bartholomäus Kramm, war Kantor in Köln-Dellbrück. Seine beiden Cousins waren Pfarrer. Heinos Vater, der eine Zahnarztpraxis in Köln-Kalk hatte, fiel am 2. August 1941 im Zweiten Weltkrieg. Eingeschult wurde Heino 1944 im sächsischen Großenhain. Als Halbwaise lebte er mit seiner Mutter und seiner fünf Jahre älteren Schwester Hannelore bis 1945 in Pommern, wohin sie evakuiert worden waren. Nach Kriegsende kehrte die Familie nach Düsseldorf zurück. Ab August 1952 absolvierte er in Düsseldorf eine Handwerkslehre zum Bäcker und Konditor. Die Berufsausbildung beendete er mit der Gesellenprüfung vor der Handwerkskammer Düsseldorf im Juni 1955. Als junger Mann spielte er beim SC Schwarz-Weiß 06 in Düsseldorf-Oberbilk auch Fußball. Er hat weiterhin Kontakt zum Verein. Seine erste Ehe schloss er im Juni 1959 mit der damals 18-jährigen Henriette Heppner. Aus dieser Ehe ging 1960 der Sohn Uwe hervor, 1962 erfolgte die Scheidung. 1968 wurde er Vater einer unehelichen Tochter, die sich Ende November 2003 das Leben nahm – wie 1988 schon ihre Mutter, Heinos Jugendliebe. 1965 heiratete er seine zweite Ehefrau Lilo, von der er sich 1978 scheiden ließ. Lilo Kramm starb am 28. Januar 2010 an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Wegen seiner hervortretenden Augen, verursacht durch eine Erkrankung an Morbus Basedow, trägt Heino seit den 1970er Jahren in der Öffentlichkeit immer eine sehr dunkle Sonnenbrille, die als eine Art Markenzeichen seine Erscheinung unverwechselbar macht. Auf früheren Plattenhüllen ist Heino noch ohne Brille mit blauen Augen abgebildet. Von der Stadt Bad Münstereifel wurde ihm ein Personalausweis mit Sonnenbrille auf dem Passbild ausgestellt, das Bundesinnenministerium stellte nach einem Pressebericht darüber klar, dass dies nicht gestattet sei, jedoch war der Personalausweis 2009 immer noch in Verwendung, und es wurde seinerzeit kein neuer ausgestellt. Aus der Tatsache, dass er Träger eines Toupets ist, hat Heino nie ein Geheimnis gemacht. Im April 1979 heiratete er seine dritte Ehefrau Hannelore Auersperg, die er 1972 bei der Miss-Austria-Wahl in Kitzbühel kennengelernt hatte. Das Paar lebt seit 2009 im historischen Kurhaus von Bad Münstereifel und betrieb von 1996 bis 2012 Heinos Rathaus-Café am Marktplatz. Seit 2012 existiert im historischen Kurhaus ein fremdbetriebenes Café mit dem Namen HEINOS Café. Karriere 1960er- und 1970er-Jahre 1961 trat Heino erstmals mit dem Trio OK Singers (Dino Engelhardt, Heino, Dieter Wolf) auf, mit mäßigem Erfolg. Trotzdem nahmen die OK Singers in den 1960er Jahren eine Schallplatte auf. Der große Durchbruch gelang Heino, nachdem er 1965 bei einem Auftritt mit seiner Gruppe „Comedien Terzett“ in Quakenbrück auf einer Modenschau vom Schlagerstar Ralf Bendix entdeckt wurde, der ihn anschließend 20 Jahre produzierte. Gleich seine erste Platte, Jenseits des Tales (eigentlich die B-Seite der Single; die A-Seite hieß 13 Mann und ein Kapitän – die Coverversion eines Titels von Freddy Quinn), wurde mehr als 100.000-mal verkauft. 1967 erschien seine erste Langspielplatte. Es folgten zahlreiche weitere Hits – unter Mitwirkung des Songschreibers Erich Becht und des Texters Wolfgang Neukirchner („Adolf von Kleebsattel“) – und viele Fernsehauftritte, unter anderem in der ZDF-Hitparade und in der Starparade. Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte er Mitte der 1970er Jahre mit den Hits Blau blüht der Enzian, mit dem er auch im Film Blau blüht der Enzian zu sehen und zu hören war, und Die schwarze Barbara. Von 1977 bis 1979 war er auch in der 14-teiligen Serie Sing mit Heino im ZDF zu sehen. Bei seinen Liedern handelt es sich überwiegend um Volkslieder, die im Stil der Schlagermusik interpretiert werden, so ist zum Beispiel Blau blüht der Enzian eine Bearbeitung des Volksliedes Wenn des Sonntags früh um viere die Sonne aufgeht (Das Schweizermadel). Er hat auch klassische Melodien aufgenommen, wie zum Beispiel das Ave Maria von Bach/Gounod oder Ave verum von Wolfgang Amadeus Mozart. 1980er-Jahre bis 2013 In den 1980er Jahren wurde es künstlerisch etwas ruhiger um Heino. Im Jahr 1983 sang er das Lied der ARD-Fernsehlotterie Sonnenschein – Glücklichsein. Anfang der 1990er Jahre erzielte er wieder Erfolge durch eigene Fernsehserien bei dem Privatsender Sat.1 (Hallo Heino und Heino – die Show). Eine erfolgreiche Wiederkehr brachten ihm auch die Rap-Versionen seiner Hits Enzian und Schwarzbraun ist die Haselnuss im Jahr 1989, mit denen er auch bei Jugendlichen Anklang finden wollte. Heino war in der ganzen Welt, vor allem aber in Deutschland, auf Tourneen. Zu seinem 50-jährigen Bühnenjubiläum und seinem 40-jährigen Schallplattenjubiläum im Jahr 2005 moderierte Heino mit den beiden Co-Moderatoren Stefan Mross und Maxi Arland die Musiksendung Heino – die Show in der ARD. 5,8 Millionen Zuschauer sahen die Jubiläumsshow, zu der auch ein Livealbum und eine DVD erschienen. Im August 2006 trat er zum ersten Mal beim chinesischen Wetten dass..? (Xiang tiaozhan ma?) bei dem Sender CCTV-3 auf. Am 22. Oktober 2005 begann Heino in Trier seine Abschiedstournee durch fünfundzwanzig Städte Deutschlands. 2009 startete zu seinem zweiteiligen Albumprojekt „Die Himmel rühmen“ – Festliche Lieder mit Heino eine Tournee mit klassischer Musik durch klassische Gebäude, unter anderem Kirchen. 2011 erschien eine DVD mit Live-Mitschnitten dieser Tournee. Ab 2013 Am 1. Februar 2013 veröffentlichte er das Studioalbum Mit freundlichen Grüßen. Das Album beinhaltet zwölf Coverversionen bekannter deutschsprachiger Pop-, Hip-Hop- und Rocklieder. Begleitet von umfangreichen Werbemaßnahmen, sorgte das Album bereits vor dem Veröffentlichungstermin für Kontroversen. In den ersten Tagen nach Erscheinen wurde das Album so oft aus dem Internet heruntergeladen wie kein Werk eines deutschen Interpreten zuvor und stieg auf Platz 1 in die deutschen Album-Charts ein. Am 1. August trat Heino als Überraschungsgast auf dem Metalfestival Wacken Open Air auf und spielte gemeinsam mit Rammstein den Song Sonne, den er auf dem Album Mit freundlichen Grüßen gecovert hatte. Am 12. Dezember 2014 veröffentlichte Heino das Album Schwarz blüht der Enzian, auf dem er seine Hits in Metal-Stil neu interpretierte. Die Musik und Inszenierung nahmen bewusste Anleihen an Rammstein. Für die von Januar bis Mai 2015 bei RTL ausgestrahlte zwölfte Staffel von Deutschland sucht den Superstar wurde Heino als Juror eingesetzt. In der ARD-Produktion Willkommen bei den Honeckers, die am 3. Oktober 2017 erstausgestrahlt wurde, hatte Heino einen Cameo-Auftritt. Im Frühjahr 2019 absolvierte der inzwischen 80-jährige Heino eine Abschiedstournee zu seinem Album und Tschüss. Nachdem er zunächst angekündigt hatte, nach dieser Tournee keine Konzerte mehr zu geben, nahm er aufgrund der positiven Resonanz anschließend von diesen Plänen Abstand. Kontroversen Kritisiert wurde Heino, als er 1983 und 1986 Tourneen durch das damals wegen seines Apartheidsystems international geächtete Südafrika unternahm – trotz des UNO-Embargos und trotz eines Kulturboykotts vieler internationaler Künstler. Auch die Tatsache, dass Heino 1977 auf Bitten des damaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Hans Filbinger eine für Unterrichtszwecke produzierte Schallplatte mit allen drei Strophen des Deutschlandliedes einsang, brachte ihm Kritik ein. Er selbst betrachtet die durch kritische Berichterstattung in der Fernsehsendung Kennzeichen D ausgelösten negativen Reaktionen als Teil einer „Kettenreaktion, die mich am Ende in einen widerwärtigen ›Skandal‹ verwickelte, an dem ich mich unschuldig fühle.“ Er habe sich zuvor bei Anwälten und der Politik abgesichert, sei sich also der Brisanz des Themas bewusst gewesen. In einem Interview mit der österreichischen Zeitung Die Presse bezeichnete Jan Delay im April 2014 Heino, der auf Mit freundlichen Grüßen 2013 unter anderem ein Lied seiner Band Beginner gecovert hatte, als „Nazi“. Heino ließ daraufhin über seinen Rechtsanwalt Anzeige gegen Delay stellen. Der Rechtsstreit wurde außergerichtlich beigelegt, wobei Delay sich zu einem Schadensersatz in Höhe von 20.000 Euro verpflichtete. Im Jahr 2018 schenkte Heino der nordrhein-westfälischen Heimat- und Kommunalministerin Ina Scharrenbach (CDU) zum ersten NRW-Heimatkongress das von ihm selber eingesungene Musikalbum Die schönsten deutschen Heimat- und Vaterlandslieder. Zwar hatte keines dieser Lieder seinen Ursprung in der Zeit des Nationalsozialismus, jedoch waren mehrere Stücke enthalten, die auch im Liederbuch der SS standen, etwa Der Gott, der Eisen wachsen ließ oder Wenn alle untreu werden. Dieser Umstand wurde in Medienberichten kritisiert. Heino erwiderte: „Die Lieder können doch nichts dafür, wenn sie instrumentalisiert worden sind.“ Auch Scharrenbach äußerte ihr Unverständnis über die Kritik: „Hier hat ein Künstler einer Ministerin ein Geschenk mitgebracht, und das ist es.“ Im Stern hieß es, die Kritik an Heino gehe am Ziel vorbei: „Kritik daran hätte man aber 1981 äußern sollen, als die Platte erschien. Dass diese Musik Jahrzehnte später für Aufregung sorgt, hat vermutlich andere Ursachen, die mit Heino wenig zu tun haben.“ Sonstiges Aufgrund seiner markanten Erscheinung war Heino Objekt vieler Parodien, unter anderem von Otto Waalkes in Otto – Der Film, wo dieser sowohl ihn als auch Michael Jacksons Thriller mit einer eigenwilligen Version von Schwarzbraun ist die Haselnuss zum Beat von Thriller parodierte. Eine Unterlassungsklage im Jahr 1985 gegen Norbert Hähnel (Gastsänger der Gruppe Die Toten Hosen), der als sein Doppelgänger und „Der wahre Heino“ auftrat, hatte vor Gericht Erfolg. Engagement Heino war Pate eines Cafés im Freizeitpark Phantasialand, das den Namen „Heinos Kaffeehaus“ trug, sowie seit Januar 2010 offizieller Pate des Kinderhospizes Bethel für sterbende Kinder. Nach Gründung der Deutschen Krebshilfe im Jahr 1974 durch Mildred Scheel unterstützte Heino die Hilfsorganisation bei Veranstaltungen. Zuletzt trat er 2018 in der ZDF-Gala Willkommen bei Carmen Nebel zum zehnjährigen Jubiläum der Benefiz-Gala auf. 2015 unterstützte Heino bei der Wahl des Bürgermeisters von Bad Münstereifel den SPD-Kandidaten Werner Esser. Filmografie 1973: Das Wandern ist Herrn Müllers Lust 1973: Blau blüht der Enzian 1975: Großes Glück zu kleinen Preisen Diskografie (Auswahl) Autobiografien Heino: Und sie lieben mich doch. Die Autobiografie. Verlag Bastei-Lübbe, Bergisch Gladbach 1996, ISBN 3-404-12588-6. Mein Weg: Autobiografie. Heino. Verlag Bastei-Lübbe, Köln 2015, ISBN 978-3-7857-2532-0. Filmdokumentationen Heino – Made in Germany. Film von Oliver Schwabe (Arte 2013) Auszeichnungen Heino erhielt für seine Musik zahlreiche Gold- und die Platinschallplatten. Zudem die folgenden Ehrungen: 1970: Goldener Electrola Hund für eine Million verkaufte Singles 1972, 1973, 1974, 1977, 1980, 1989: Goldene Europa 1977: Löwe von Radio Luxemburg 1980: Hermann-Löns-Medaille 1984: Goldene Liederharfe 1984: Golden Star USA von den deutschen Radiostationen in den USA 1987: Robert-Stolz-Büste 1989: Edelweiß-Preis 1990: Bambi Sonderbambi Unknockable Stars 1990: RSH-Gold 1991, 1998: Goldene Stimmgabel 1995: Ehrenlöwe von Radio Luxemburg 1997: Schlager-Diamant 2000: Krone der Volksmusik für sein musikalisches Gesamtwerk 2003: Bronzener Stier der Hohensalzburg 2006: Krone der Volksmusik für sein Lebenswerk 2006: Brisant Brillant für sein Lebenswerk 2010: Düsseldorfer des Jahres 2012: Stier der Hohensalzburg 2014, 2015, 2019: Die Eins der Besten 2015: Karl-Valentin-Orden 2016, 2019: smago! Award 2016: Ehrenmedaille für besondere Verdienste um Ägypten 2018: MA Lifetime Achievement Award 2018 (Heino ist Träger des schwarzen Gürtels in Ju-Jutsu) 2019: Ehrenbürger von Bad Münstereifel 2019: Steiger-Award Lebenswerk 2019: Goldene Eins 2023: Dürener Papiermacherorden Weblinks Website von Heino Einzelnachweise Schlagersänger Volkstümliche Musik Person (Bad Münstereifel) Träger der Krone der Volksmusik Träger des Karl-Valentin-Ordens Juror bei Deutschland sucht den Superstar Kultur (Kreis Euskirchen) Pseudonym Deutscher Geboren 1938 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Harappa
Harappa
Harappa ist ein Dorf in Pakistan. Nach diesem Ort wird eine neben dem Dorf liegende historische Stadt am Oberlauf des Indus benannt. Diese war neben Mohenjo-Daro dominierendes Zentrum der bronzezeitlichen Harappa- oder Indus-Kultur. Die Städte hatten um 2500 v. Chr. je etwa 40.000 Einwohner. Nach 1800 v. Chr. geriet die Stadt in Vergessenheit, bis der Indologe Sir Alexander Cunningham 1872/1873 erste Ausgrabungen durchführte. Doch erst seit weiteren Arbeiten nach 1920 sind Alter und Bedeutung Harappas erkannt worden. Weitere Grabungen fanden von 1995 bis 2001 statt. Allerdings wurden die Ziegel der Stadt in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Material zum Bau einer Eisenbahnstrecke benutzt. Dadurch wurde ein großer Teil dieser frühzeitlichen Stadt vollkommen zerstört. Die Stadt Aus den erhaltenen Resten ist ersichtlich, dass die Stadt aus zwei Teilen bestand. Im Osten lag die eigentliche Wohnstadt und im Westen die sogenannte Zitadelle, die von einer stark befestigten Mauer umgeben war. Nördlich davon konnten noch Speicheranlagen und Arbeiterquartiere untersucht werden. Die wenigen erhaltenen Reste der eigentlichen Stadtbebauung deuten auf einen schachbrettartigen Stadtplan hin. Luftgetrocknete und gebrannte Lehmziegel wurden als Baumaterial verwendet. Die Straßen hatten gemauerte, verputzte Abwasserkanäle. Südlich der Stadt konnte ein Friedhof ausgegraben werden. Es handelt sich um einen der wenigen bekannten Friedhöfe der Indus-Kultur. Wirtschaft und Fernhandel In Sumer gefundene harappische Werkstücke und aus entfernten Gegenden stammende Werkstoffe deuten darauf hin, dass Harappa ein Handelszentrum war. Über den Indus bzw. den Hafen von Lothal auf der Halbinsel Gujarat, Oman und Bahrain existierte bis etwa 2000 v. Chr. eine intensive Handelsverbindung nach Sumer. Die Erzeugung von Kupfer, Bronze und Edelmetallen und deren Verarbeitung mit Techniken wie Gießen, Treiben, Schmieden und Ziselieren war in Harappa bekannt. Die Qualität der gefundenen Schmuckstücke weist auf eine hoch entwickelte Handwerkskunst hin. Die ältesten der auf den Fundstücken mittels Siegel eingeprägten über 400 Symbole, die man als Korpus einer Schrift deuten kann, gehen etwa bis auf das Jahr 3500 v. Chr. zurück. Die Indusschrift konnte bislang nicht entziffert werden. Verschiedene Hypothesen zu ihrer Herkunft vermuten eine Beziehung zu ägyptischen Hieroglyphen, zur Keilschrift der Sumerer oder zu alten dravidischen Schriftsystemen. Literatur Michael Jansen: Die Indus-Zivilisation. Wiederentdeckung einer frühen Hochkultur. DuMont Verlag, Köln 1986, ISBN 3-7701-1435-3, S. 23–44. Sing C. Chew: Ecological Relations and the Decline of Civilizations in the Bronze Age World-System: Mesopotamia & Harappa 2500 B.C.–1700 B.C. In: Walter L. Goldfrank, David Goodman, Andrew Szasz (Hrsg.): Ecology and the World-system. Greenwood, 1999, ISBN 0-313-30725-3, . Mustafa A. Halim: Die Friedhöfe von Harappa. In: Alexandra Ardeleanu-Jansen (Hrsg.): Vergessene Städte am Indus. Frühe Kulturen in Pakistan vom 8.–2. Jahrtausend v. Chr. Zabern Verlag, Mainz 1987, ISBN 3-8053-0957-0, S. 206–214 (Begleitbd. zur gleichnamigen Ausstellung in Aachen, 27. Juni 1987 – 6. Juli 1987). Weblinks Website harappa.com Einzelnachweise Ort in Punjab (Pakistan) Historische Stadt Indus-Kultur Archäologischer Fundplatz in Pakistan Archäologischer Fundplatz in Asien Welterbekandidat in Pakistan Welterbekandidat in Asien Südasiatische Geschichte 3. Jahrtausend v. Chr.
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hiram%20Maxim
Hiram Maxim
Sir Hiram Stevens Maxim (* 5. Februar 1840 in Sangerville, Maine, Vereinigte Staaten; † 24. November 1916 in London) war ein britischer Erfinder amerikanischer Herkunft. Leben Hiram Maxim begann als Kutschenbauer und Instrumentenbauer im US-Staat Maine und wechselte 1864 zur Werkstatt seines Onkels Levi Stevens nach Fitchburg (Massachusetts). Dieser hatte eine Gaslampe erfunden. Maxim wechselte 1868 als Zeichner zur Novelty Iron Works and Shipbuilding Company in New York City. In dieser Zeit arbeitete er an der Verbesserung der Gasbeleuchtung. Später wurde er Chefingenieur der First Electric Lighting Company. Seit 1877 beschäftigte er sich unter anderem mit der Verbesserung der von Thomas Alva Edison erfundenen elektrischen Glühlampe, die er effizienter und langlebiger machen wollte. In dieser Zeit erhielt er mehrere Patente. 1880 reiste er nach Europa und besuchte 1881 eine Ausstellung zum Thema Elektrizität in Paris. Dort erzählte ihm angeblich jemand, wenn man richtig Geld verdienen möchte, müsse man etwas erfinden, mit dem sich die Europäer gegenseitig einfacher töten könnten. Maxim zog kurz darauf nach London und richtete sich eine Werkstatt in Hatton Garden, einer Straße im Stadtteil Holborn, London Borough of Camden, ein. 1894 konstruierte Maxim ein von zwei Dampfmaschinen angetriebenes Fluggerät, das sich bei einem Test in Bexley Heath (Kent) sogar kurz in die Luft erheben konnte, allerdings mangels praktikabler Steuerung zur Sicherheit von Führungsschienen gehalten wurde. Es war mit 3,6 Tonnen Gewicht, 31,5 Metern Spannweite und einer Länge von 21 Metern für längere Zeit das größte Fluggerät. 1899 wurde Maxim als britischer Untertan naturalisiert. 1901 wurde er von Königin Viktoria zum Knight Bachelor erhoben. Maxim erhielt 271 Patente auf seine Erfindungen. Unter anderem erfand er eine Mausefalle, ein Haarwellen-Eisen und rauchfreies Schießpulver. Sein Sohn Hiram Percy Maxim erfand den Schalldämpfer, zunächst für Waffen, später wurde er auch für Autos angepasst. Das Maxim-Maschinengewehr Hiram Maxim konstruierte das erste Maschinengewehr, das 1884 in Hatton Garden erfolgreich getestet und 1885 vorgestellt wurde. Dieses Maxim-Maschinengewehr nutzte den Rückstoß eines Schusses, um die nächste Patrone zu laden, respektive Dauerfeuer abzugeben. In den nächsten beiden Jahrzehnten wurden die Streitkräfte von mehr als 20 Nationen mit seinen Maschinengewehren ausgerüstet, obwohl die Generäle den wahren militärischen Wert des Maschinengewehrs oft unterschätzten. Die Waffe konnte rund 500 Schuss pro Minute feuern, was die Feuerkraft von 100 Repetiergewehren bedeutete. Erstmals wurde es 1893 von britischen Truppen bei der Eroberung des Matabelelandes in Rhodesien (heute Simbabwe) eingesetzt. Für die Produktion des Maxim-Maschinengewehrs gründete Maxim die Maxim Gun Company, die sich 1888 mit dem schwedischen Konkurrenten Nordenfelt zusammenschloss. Weblinks Marc von Lüpke: „Der Vater des Gemetzels“. In: einestages vom 23. September 2013 Einzelnachweise Erfinder Knight Bachelor Militärgeschichte (19. Jahrhundert) Waffenhersteller Mitglied der Ehrenlegion (Ritter) Brite US-Amerikaner Geboren 1840 Gestorben 1916 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Havanna
Havanna
Havanna (), vollständige Bezeichnung Villa de San Cristóbal de la Habana, ist die Hauptstadt der Republik Kuba und zugleich eigenständige Provinz. Mit rund 2,10 Millionen Einwohnern und einer Fläche von 728,26 km² ist sie die zweitgrößte Metropole der Karibik nach Santo Domingo. Die Stadt grenzt im Norden an den Atlantischen Ozean bzw. die Straße von Florida und erstreckt sich südlich und westlich der Bucht von Havanna („Bahía de La Habana“). Der Fluss Río Almendares durchquert die Stadt von Süden nach Norden und mündet schließlich westlich der Bucht in die Floridastraße. Die östlich des Zentrums gelegene Bucht beheimatet die drei großen Häfen der Stadt: Marimelena, Guanabacoa und Atarés. Havanna wurde im Jahr 1519 aufgrund der strategisch günstigen Lage von den Spaniern gegründet. Die Stadt diente als Angelpunkt, von dem aus die weitere Eroberung des karibisch-mittelamerikanischen Raums bis nach Nordamerika durch die Spanier erfolgte. Philipp II. von Spanien erteilte Havanna im Jahr 1592 das Stadtrecht, doch war Havanna bereits seit dem Jahr 1552 die Hauptstadt Kubas. Nach der Explosion der USS Maine im Hafen von Havanna am 15. Februar 1898 begannen die USA den Spanisch-Amerikanischen Krieg. Die Stadt ist das politische Zentrum des Landes und Sitz der Regierung, zahlreicher Ministerien und Unternehmen sowie von über 90 Botschaften. 2011 bis Januar 2020 war Marta Hernández Romero (PCC) Bürgermeisterin Havannas; Reinaldo García Zapata ist (Stand Februar 2023) ihr Nachfolger. Die Stadt ist ein touristisches Zentrum Kubas; im Jahr 2010 besuchten 1,17 Millionen Touristen die Stadt, 46 % aller Besucher des Landes. Seit dem Jahr 1982 ist die Altstadt, La Habana Vieja, UNESCO-Welterbe. Name Die Stadt La Villa de San Cristóbal de La Habana wurde am 16. November 1519 auf Geheiß des spanischen Königs und römisch-deutschen Kaisers Karl V. gegründet. Der Name setzt sich zusammen aus dem Namen des Stadtpatrons, San Cristóbal, und dem Namen, unter dem die Siedlung früher bekannt war: Habana. Die Einwohner Havannas werden Habaneros genannt. Es gibt verschiedene Hypothesen zur Herkunft des Namens Habana. Die verbreitetste unter ihnen besagt, er geht auf einen lokalen Taíno-Häuptling namens Habaguanex zurück, der die Gebiete der ersten Siedlung an der Südküste der heutigen Provinz Mayabeque kontrollierte. Geographie Lage Havanna liegt an der nordwestlichen Küste Kubas, südlich der Florida Keys, wo der Golf von Mexiko in die Karibik mündet. Die Stadt dehnt sich vor allem südlich und westlich der Bucht aus, die die Stadt in ihre drei Haupthäfen teilt: Marimelena, Guanabacoa, und Atarés. Der Fluss Almendares fließt von Süden durch die Stadt und mündet einige Kilometer westlich der Bucht in die Floridastraße. Die Stadt liegt auf niedrigen Hügeln, die sich leicht über die Meerenge erheben. Einer der höchsten Punkte ist ein 60 Meter hoher Kalksteinhügel, der sich vom Osten der Stadt bis zu den kolonialen Festungen La Cabaña und El Morro erstreckt. Des Weiteren gibt es im Westteil der Stadt eine leichte Erhebung auf dem Gebiet der Universität von Havanna. Außerhalb des Stadtgebiets wird Havanna von höheren Hügeln im Westen und Osten gesäumt. Stadtgliederung Havanna ist eine eigenständige kubanische Provinz. Grob lässt sich Havanna in die innerstädtischen Stadtteile Alt-Havanna (Habana Vieja), Centro Habana und Vedado sowie die Bezirke der Vorstadt unterteilen. Havannas Altstadt ist UNESCO-Weltkulturerbe, hier befinden sich auch viele touristische Attraktionen wie der Plaza Vieja oder die Uferpromenade Malecón. Im neueren Stadtteil Vedado, der sich im Nordwesten der Stadt befindet, entstanden vor allem im 20. Jahrhundert zahlreiche Einrichtungen des Nachtlebens sowie Einkaufsmöglichkeiten, die heute mit denen der Altstadt konkurrieren. Die Stadt ist in 15 Stadtbezirke (Municipios) aufgeteilt, die sich selbst wiederum in 105 Viertel (Consejos populares) untergliedern: Playa: Santa Fe, Siboney, Cubanacán, Ampliación Almendares, Miramar, Sierra, Ceiba, Buena Vista. Plaza de la Revolución: El Carmelo, Vedado-Malecón, Rampa, Príncipe, Plaza, Nuevo Vedado-Puentes Grandes, Colón-Nuevo Vedado, Vedado. Centro Habana: Cayo Hueso, Pueblo Nuevo, Los Sitios, Dragones, Colón. La Habana Vieja : Prado, Catedral, Plaza Vieja, Belén, San Isidro, Jesús Maria, Tallapiedra. Regla : Guaicanimar, Loma Modelo, Casablanca. La Habana del Este : Camilo Cienfuegos, Cojimar, Guiteras, Alturas de Alamar, Alamar-Este, Guanabo, Campo Florido, Alamar-Playa. Guanabacoa : Mañana-Habana Nueva, Villa I, Villa II, Chivas-Roble, Debeche-Nalon, Hata-Naranjo, Peñalver-Bacuranao, Minas-Barreras. San Miguel del Padrón: Rocafort, Luyanó Moderno, Diezmero, San Francisco de Paula, Dolores-Veracruz, Jacomino. Diez de Octubre : Luyanó, Jesús del Monte, Lawton, Vista Alegre, Acosta, Sevillano, La Víbora, Santos Suárez, Tamarindo. Cerro: Latinoamericano, Pilar-Atares, Cerro, Las Cañas, El Canal, Palatino, Armada. Marianao : CAI-Los Ángeles, Pocito-Palmas, Zamora-Cocosolo, Libertad, Pogoloti-Belén-Finlay, Santa Felicia. La Lisa : Alturas de La Lisa, Balcón Arimao, Cano-Bello26-Valle Grande, Punta Brava, Arroyo Arenas, San Agustín, Versalles Coronela. Boyeros: Santiago de Las Vegas, Nuevo Santiago, Boyeros, Wajay, Calabazar, Altahabana-Capdevila, Armada-Aldabo. Arroyo Naranjo: Los Pinos, Poey, Víbora Park, Mantilla, Párraga, Calvario-Fraternidad, Guinera, Eléctrico, Managua, Callejas. Cotorro: San Pedro-Centro Cotorro, Santa Maria del Rosario, Lotería, Cuatro Caminos, Magdalena-Torriente, Alberro. Klima In Havanna herrscht, wie auch in den meisten anderen Gebieten Kubas, tropisches Klima, das vom Nordostpassat geprägt wird. Der effektiven Klimaklassifikation nach Köppen zufolge herrscht in Havanna tropisches Savannenklima. Bedingt durch den Golfstrom besteht zudem der Einfluss ozeanischen Seeklimas. Die Durchschnittstemperaturen reichen von 22 Grad Celsius im Januar und Februar bis zu 28 Grad Celsius im August. In Havanna wird es selten kälter als 10 Grad Celsius, die tiefste je gemessene Temperatur war 4,5 Grad Celsius in Santiago de Las Vegas am 11. Januar 1970. Die höchste je gemessene Temperatur war 36,6 Grad Celsius in Casablanca am 10. September 2009. Zwischen Juni und Oktober herrscht der stärkste Niederschlag, am wenigsten Regentage gibt es von Dezember bis April. Durchschnittlich fallen in Havanna knapp 1.200 mm Niederschlag bei etwa 80 Niederschlagstagen pro Jahr. Obwohl im September in Kuba alljährlich die Hurrikansaison beginnt, wurde die Stadt bisher selten von den Stürmen getroffen, da diese verstärkt im Südosten der Insel auftreten. Geschichte Die Gründung der Stadt Ursprünglich wurde Havanna im Jahr 1514 oder 1515 von dem Konquistador Diego Velázquez de Cuéllar in der Nähe der heutigen Stadt Batabanó, an den Ufern des Flusses Mayabeque an der Südküste der Insel gegründet. Zwischen 1514 und 1519 gehörten zu der Stadt mindestens zwei verschiedene Gründungen an der Nordküste, eine von ihnen in La Chrorrera, in der heutigen Wohngegend Puentes Grandes im Stadtbezirk Playa. Schließlich wurde Havanna am 16. November 1519 aufgrund der überaus günstigen Lage in die Bucht Puerto de Carenas verlegt, die heute den Hafen Havannas beherbergt. Infolgedessen entwickelte sie sich zu einem wichtigen Handels- und Militärhafen. Havanna war eine von sechs Städten, die von den Spaniern auf der Insel gegründet wurden und wurde von Pánfilo de Narváez San Cristóbal de la Habana genannt, einer Kombination des Stadtpatrons San Cristóbal mit der ursprünglichen Bezeichnung der Siedlung nach dem Taíno-Häuptling Habaguanex. Kurz nach ihrer Gründung war Havanna bereits die Ausgangsbasis für weitere Eroberungen der Spanier. Spanische Kolonialherrschaft Die Stadt war ursprünglich ein Handelshafen und litt daher unter regelmäßigen Angriffen von Piraten, Bukanieren und französischen Korsaren, die von den wertvoll beladenen spanischen Schiffen angezogen wurden. 1538 wurde sie niedergebrannt und 1553/1555 vom französischen Korsar Jacques de Sores geplündert. Infolgedessen finanzierte das spanische Königshaus die Errichtung der ersten Festungen in der Stadt, die nicht nur die Stadt schützen, sondern auch den durch das spanische Handelsmonopol entstandenen Schwarzmarkt in der Karibik einschränken sollten. Im Jahr 1552 wurde Santiago de Cuba durch Havanna als Hauptstadt abgelöst, dennoch erhielt die Stadt erst am 20. Dezember 1592 durch Philipp II. von Spanien das Stadtrecht. Ab 1561 begannen die Spanier, den Großteil ihrer Flotte in Havanna zu stationieren, um die Stadt besser zu schützen. Schiffe aus süd- und mittelamerikanischen Häfen brachten ihre Fracht nun zuerst nach Havanna, um dann von der spanischen Flotte ins Heimatland transportiert zu werden, darunter Gold, Silber und Alpakawolle aus den Anden, Smaragde aus Kolumbien und Tropenhölzer sowie Nahrungsmittel aus Kuba. Dieser rege Schiffsverkehr trug mit zum rasanten wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt bei. Gleichzeitig wurden Festungsanlagen wie das Castillo de la Real Fuerza (1558–1577) oder das Castillo de los Tres Reyes del Morro (1559–1630) fertiggestellt. Im 17. Jahrhundert erlebte Havanna einen großen Aufschwung, die Spanier gaben ihr den Beinamen „Schlüssel zur Neuen Welt und Bollwerk der westindischen Inseln“. In diese Zeit fällt die Errichtung vieler wichtiger Gebäude wie Festungen und Kirchen, die zumeist mit einheimischen Materialien wie Holz in einer Abwandlung der iberischen Architektur errichtet wurden. Auch Elemente der kanarischen Bauweise wurden großzügig eingesetzt. 1649 starb ein Drittel der Bevölkerung an den Folgen einer aus Cartagena (Kolumbien) eingeschleppten Epidemie. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts hatte Havanna mehr als 70.000 Einwohner und war damit die drittgrößte Stadt Amerikas, hinter Lima und Mexiko-Stadt, aber noch vor Boston und New York City. Britische Besetzung Großbritannien nahm 1762 während des Siebenjährigen Krieges die Stadt mit mehr als 50 Schiffen und über 14.000 Mann der Royal Navy durch die Belagerung von Havanna ein. Während der Besatzungszeit forcierten sie den Handel mit Nordamerika und ihren karibischen Kolonien, was große Auswirkungen auf die kubanische Gesellschaft hatte. Im Pariser Frieden tauschte Großbritannien auf Vermittlung Frankreichs die Stadt nach weniger als einem Jahr Besetzung gegen Florida ein. Nachdem sie wieder in spanischem Besitz war, wurde sie zur am stärksten befestigten Stadt Amerikas ausgebaut. 1763 begann der elf Jahre andauernde Bau der Fortaleza de San Carlos de la Cabaña, der größten spanischen Festungsanlage in Amerika. Im Jahr 1774 wurde die erste offizielle Bevölkerungszählung in Kuba durchgeführt. In Havanna lebten damals 171.670 Menschen, von denen 44.333 Sklaven waren. Am 15. Januar 1796 wurden die sterblichen Überreste von Christoph Kolumbus aus Santo Domingo nach Havanna überführt. Dort blieben sie bis zu ihrer Umbettung in die Kathedrale von Sevilla 1898. 19. Jahrhundert Durch den stetig wachsenden Handel zwischen der Karibik und Nordamerika im frühen 19. Jahrhundert entwickelte sich Havanna rasch zu einer blühenden und eleganten Stadt, in deren Theatern die besten Schauspieler ihrer Zeit auftraten. Havanna trug zu dieser Zeit auch den Beinamen „Paris der Antillen“. Der Wohlstand der kubanischen Mittelschicht führte zur Errichtung vieler repräsentativer Villen und zur Entstehung eines kubanischen Nationalbewusstseins. 1837 eröffnete die erste Eisenbahn der Stadt und zugleich ganz Lateinamerikas: Eine 51 Kilometer lange Bahnlinie zwischen Havanna und Bejucal, die vor allem zum Transport von Zuckerrohr zum Hafen eingesetzt wurde. Damit war Kuba das weltweit fünfte Land, das eine Eisenbahn hatte. Im 19. Jahrhundert eröffneten in Havanna viele Kultureinrichtungen, z. B. das Gran Teatro de La Habana, eines der luxuriösesten Theater der Welt. Da in Kuba die Sklaverei erst 1886 abgeschafft wurde, ließen sich einige ehemalige Plantagenbesitzer aus dem amerikanischen Süden nach Ende des Bürgerkrieges in Havanna nieder. Der steigende Wohlstand in Kuba ab den 1850er Jahren, bedingt durch die Zuckerrohr- und Tabakexporte, schlug sich architektonisch am deutlichsten in Havanna nieder. Havannas Stadtmauern wurden 1863 abgerissen, um Platz für die weitere Entwicklung der Metropole zu schaffen. Der Untergang der USS Maine 1898 im Hafen der Stadt führte zum Beginn des Spanisch-Amerikanischen Krieges. US-amerikanischer Einfluss Als Folge des Kriegs begann das 20. Jahrhundert in Havanna unter US-amerikanischer Besetzung. Dies änderte sich am 20. Mai 1902, als mit Tomás Estrada Palma der erste Präsident Kubas sein Amt antrat. Zwischen 1902 und 1959 erlebte die Stadt eine neue Etappe ihrer Entwicklung. In Havanna entstanden neue Appartementblocks für die immer schneller wachsende Mittelschicht, die drittgrößte der Hemisphäre. 1929 wurde das kubanische Kapitol, errichtet nach amerikanischem Vorbild, in Havanna eröffnet. Während der 1930er Jahre wurden zahllose Luxushotels, Kasinos und Nachtklubs gebaut, die dem wachsenden Tourismus vor allem aus Nordamerika Rechnung tragen sollten. Auch zahlreiche Personen der organisierten Kriminalität waren in Havanna aktiv, z. B. der Mafiaboss Santo Trafficante, Jr. oder Meyer Lansky, der zu jener Zeit das Hotel Habana Riviera führte. Havanna glänzte damals durch seine Extravaganz, von Autorennen bis zu allerlei musikalischen Veranstaltungen war in der Stadt ein breites Vergnügungsangebot vorhanden. Während der 1950er Jahre war Havanna vor allem für seine große Mittelschicht bekannt, die Stadt produzierte damals größere Einnahmen als Las Vegas. Der Stadtteil Vedado erlebte in dieser Zeit seine Blüte. 1958 besuchten mehr als 300.000 US-amerikanische Touristen Havanna. Havanna nach dem Sieg der Revolution Nach dem Sieg der Revolution 1959 versprach die Regierung, die soziale Situation der Bevölkerung zu verbessern sowie öffentlichen Wohnungsbau zu betreiben. Während der 1970er und 1980er Jahre wurden zahlreiche Appartementblocks in den äußeren Stadtbezirken wie Regla oder Miramar errichtet, der historische Bestand an Altbauten verfiel jedoch zusehends. Im Hafen der Stadt ereignete sich am 4. März 1960 durch zwei Explosionen die Zerstörung des belgischen Frachtschiffs La Coubre. Das Schiff hatte für Kuba bestimmte Waffen geladen. Gegen 15:15 Uhr erfolgte die erste Detonation. Als sich bereits Rettungskräfte an Bord aufhielten, kam es etwa 30 Minuten später zu einer zweiten Explosion. Insgesamt starben 101 Menschen, weitere etwa 200 wurden durch Trümmerteile und sonstige Auswirkungen der beiden Detonationen verletzt. Es besteht der Verdacht, dass der US-Geheimdienst CIA in die Angelegenheit verstrickt ist, was jedoch bestritten wurde. Seit 1982 ist die Altstadt Havannas UNESCO-Weltkulturerbe. Dadurch wurde eine bis heute andauernde Sanierung durch das Team des Stadthistorikers Eusebio Leal in Angriff genommen, die durch den Tourismus refinanziert wird. Dieser nahm seit den 1990er Jahren rasch an Bedeutung zu und ist heute einer der wichtigsten Wirtschaftszweige der Stadt. Große Teile auch der Innenstadt waren im Jahr 2016 nach europäischen Maßstäben in desolatem Zustand. Im Jahr 2016 kam es bei Diplomaten der US-Botschaft und der Kanadas zu mysteriösen Vorfällen, die zu neurologischen Erkrankungen führten. Später wurden ähnliche Vorfälle in Wien und Berlin beobachtet. Nach dem Ort seines ersten Auftretens bekam das Krankheitsbild den Namen Havanna-Syndrom. Politik Die aktuelle Bürgermeisterin von Havanna ist Marta Hernández Romero (PCC). Romero wurde in Santiago de Cuba geboren, hat einen Hochschulabschluss und begann ihre Karriere als Grundschullehrerin. Sie war zunächst zuständig für das Bildungswesen in Santiago, ab 2003 dann in Havanna. Sie wurde am 5. März 2011 für eine fünfjährige Amtszeit gewählt. Ihr Stellvertreter ist Abel Camejo Peñalver. Die Stadt wird von der Provinzversammlung der Volksmacht (Asamblea Provincial del Poder Popular) als eigenständige Provinz verwaltet, deren Vorsitzender in Havanna gleichzeitig die Bürgermeisterfunktion übernimmt. Der Provinzrat Havannas ist wiederum untergliedert in 105 Räte auf kommunaler Ebene (Consejos Populares). Havanna ist das politische Zentrum Kubas. Zahlreiche Ministerien, Botschaften und Regierungsinstitutionen haben hier ihren Sitz. Ausländische Staatsgäste sind oft Gast des Revolutionsplatzes, der als wichtigste politische Tribüne des Landes fungiert, auf der auch Paraden und Massenkundgebungen abgehalten werden. Direkt neben dem Revolutionsplatz befindet sich das Gebäude des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas (PCC). Das kubanische Parlament tagt ebenfalls in Havanna, im Palacio de Convenciones, in dem auch die Parteitage der PCC stattfinden. Des Weiteren befinden sich in Havanna das Kapitol sowie die antiimperialistische Tribüne (Tribuna Antiimperialista José Martí). Städtepartnerschaften Havanna unterhält mit folgenden Städten Partnerschaften: Kultur und Sehenswürdigkeiten Havanna lässt sich als wichtigstes kulturelles Zentrum Kubas beschreiben, das über eine breite Palette an Kultur und Sehenswürdigkeiten verfügt: Von Museen, Palästen, öffentlichen Plätzen im kolonialen Stil, Alleen, Kirchen, Festungen (darunter die größte Befestigungsanlage der Spanier in Amerika), Ballett, Kino, Theater, der historischen Altstadt bis hin zu allerlei internationalen Veranstaltungen und Technologiemessen hat Havanna mehr zu bieten als die meisten anderen kubanischen Städte. Mit der Restaurierung der Altstadt sind viele neue Einrichtungen entstanden, in vielen kolonialen Bauten befinden sich heute Museen. Die kubanische Regierung legt ein besonderes Augenmerk auf guten Zugang zu kulturellen Veranstaltungen, weshalb die Eintrittspreise in den Museen und Festivals meist sehr niedrig sind. La Habana Vieja Besonders sehenswert ist die Altstadt Havannas (spanisch: La Habana Vieja), sie gehört zu einer der ältesten spanischen Kolonialsiedlungen und glänzt auf einer Fläche von 4,37 km² mit ihren barocken und neoklassischen Monumenten. Aufgrund ihrer wechselvollen Geschichte sind auch viele andere Baustile der Neuen Welt in Havannas Altstadt vertreten, darunter auch Art déco. Sie wurde bereits 1982 unter das UNESCO-Weltkulturerbe gestellt und wird seitdem stückweise restauriert. La Habana Vieja ist das Kernstück der 1519 gegründeten Stadt, in dem sich auch der Hafen befindet von dem aus die Spanier ihren Handel mit Amerika abwickelten. Hier befinden sich über 900 Bauwerke von historischer Relevanz, darunter auch die vier historischen Plätze, um die sich Havanna entwickelt hat: Plaza Vieja, Plaza de la Catedral, Plaza de San Francisco und der Plaza de Armas. Den vier Plätzen kamen dabei jeweils unterschiedliche Funktionen zu: Auf dem Plaza Vieja wurde meistens der Markt abgehalten, während der Plaza de la Catedral der religiöse Mittelpunkt der Stadt war. Auf dem Plaza de Armas wurden meist Militärparaden abgehalten, während sich auf dem Plaza de San Francisco die bedeutendste Werft der Spanier befand. Die Plätze sind alle durch Kopfsteinpflaster miteinander verbunden und dienen als Austragungsort verschiedener kultureller Veranstaltungen, auf dem Plaza de Armas befindet sich meist ein Büchermarkt. Die Plätze sind mittlerweile vollständig restauriert. Eines der schönsten Gebäude der Altstadt ist der Palacio de los Capitanes Generales, der ehemalige Gouverneurspalast. Außerdem sehenswert ist das Castillo de la Real Fuerza, die älteste von Europäern gebaute Festung Amerikas. Der Parque histórico militar Morro-Cabaña (kurz: La Cabaña) liegt auf der gegenüberliegenden Uferseite der Bucht und ist die größte Befestigungsanlage der Spanier in Amerika. An ihn schließt sich das Castillo de los Tres Reyes del Morro an, das berühmte Fort aus dem 18. Jahrhundert, auf dem sich seit 1844 der markante Leuchtturm Havannas befindet. Die Kathedrale des Erzbistums Havanna, die Catedral de San Cristóbal de la Habana, befindet sich ebenfalls in der Altstadt. In dem barocken Bau des 18. Jahrhunderts ruhten bis zum Jahr 1898 die Gebeine Christopher Kolumbus. Als ein Paradebeispiel für die Architektur des Art déco in Havanna gilt das 1929 fertiggestellte Edificio Bacardí, des ehemaligen Besitzers der gleichnamigen Rummarke. In La Habana Vieja befinden sich zahlreiche bedeutende Museen der Stadt, beispielsweise das Museo de del ron zur Geschichte der kubanischen Rumherstellung oder ein Museum über Alexander von Humboldt. Als besonders herausragend ist das Marinemuseum Museo de Navegacion sowie das Stadtmuseum Museo de la Ciudad zu nennen. Die autofreie Straße Calle Obispo ist die Hauptader von Havannas Altstadt und beherbergt zahlreiche Kunstgalerien, Kneipen und touristische Angebote. Centro Habana Das Zentrum Havannas (spanisch: Centro Habana) umfasst eine Fläche von 3,42 km² und erstreckt sich westlich des Prado, am Malecón entlang bis nach Vedado. Mit Beginn der Kolonisierung ab dem 16. Jahrhundert gab es bereits einige Ansiedlungen auf dem Gebiet des heutigen Zentrums, größere Bedeutung erlangte es jedoch erst Mitte des 18. Jahrhunderts mit der wirtschaftlichen Liberalisierung während der britischen Besatzung. Zum Ausgang des 19. Jahrhunderts siedelten chinesische Einwanderer in der Gegend um der Calle Zanja und Calle de los Dragones (Straße der Drachen). Sie gründeten diverse Geschäfte und entwickelten sich zu einer der bedeutendsten chinesischen Exilgemeinden Amerikas. Dort entstand das heute bekannte Chinatown Havannas (spanisch: Barrio Chino). Obwohl touristisch von eher geringer Bedeutung, ist Centro Habana ein kommerzieller Schwerpunkt Havannas. Entlang der traditionellen Geschäftsstraße Neptuno sind in den letzten Jahren verstärkt kleinere Privatbetriebe und Einkaufsmöglichkeiten entstanden, die die Attraktivität des Zentrums aufwerten. Zu den wichtigsten Bauwerken im Zentrum zählen das nach seinem Vorbild in Washington, D.C. gestaltete Capitolio sowie der ehemalige Präsidentenpalast, der heute das Revolutionsmuseum beherbergt und das Gran Teatro de La Habana. Letzteres ist das älteste aktive Theater Lateinamerikas und eines der prachtvollsten seiner Art in dieser Hemisphäre. Es ist Sitz des bekannten kubanischen Nationalballetts. Es bietet eine Vielzahl kultureller Veranstaltungen wie z. B. Ballettauftritte des nationalen Ensembles an. Auch das erste Hotel Havannas, das 1856 eröffnete Hotel Inglaterra befindet sich im Zentrum. Es ist für seine neoklassizistische Architektur bekannt ist und hier hielt bereits José Martí 1879 eine Rede. Das nationale Kunstmuseum (spanisch: Museo Nacional de Bellas Artes) gilt als eines der besten Kunstmuseen der Karibik und zeigt auf mehreren Etagen verteilt internationale und kubanische Kunst, darunter auch römische Mosaike oder Werke europäischer Künstler wie Thomas Gainsborough. Die markanteste Straße im Zentrum ist der Paseo de Martí, auch Prado genannt. Der Bau dieses breiten Boulevards wurde Ende des 18. Jahrhunderts begonnen und Mitte der 1830er Jahre abgeschlossen. Hier befindet sich auch Kubas bedeutendste Ballettakademie, die Escuela Nacional de Ballet und eine große Statue von Máximo Gómez. Die Bausubstanz im Centro ist schlechter als in der sanierten Altstadt, in letzter Zeit werden allerdings auch verstärkt Gebäude des Zentrums saniert, dessen Gebäude mehrheitlich aus dem 19. Jahrhundert stammen. Vedado Der Stadtteil Vedado ist das moderne Zentrum Havannas. Er wird heute unter der Verwaltungseinheit Plaza de la Revolucion zusammengefasst und schließt eine Fläche von 12,26 km² ein. Es ist jünger als Centro Habana, die ersten Häuser wurden hier ab 1860 errichtet. Die Blütezeit von Vedado begann in den 1920er Jahren und dauerte bis in die 1950er Jahre an. Der Baustil wird stärker als in anderen Teilen von Art-déco-Elementen bestimmt, einige Wolkenkratzer zeugen zudem vom US-amerikanischen Einfluss während der Blütezeit Vedados. Viele Casinos und Nachtclubs jener Jahre, in denen sich Schauspieler und reiche Amerikaner aufhielten, befinden sich in diesem Gebiet. Zu den wichtigsten Gebäuden Vedados gehört das 1930 errichtete Hotel Nacional, das im neoklassizistischen Stil errichtet wurde. Es gilt heute aufgrund seiner wechselvollen Geschichte, in der es Persönlichkeiten wie Ernest Hemingway zu Gast hatte, als nationales Monument. Ebenfalls berühmt ist das Hotel Habana libre, das ehemalige Hilton Hotel der Stadt von dem aus Fidel Castro die ersten Monate nach dem Sieg der Revolution regierte. Ein weiterer Anziehungspunkt ist der Platz der Revolution (Plaza de la Revolución), der unter der Schirmherrschaft Batistas errichtet wurde. Geprägt ist der Platz durch einen 142 Meter hoher Obelisken, der zusammen mit einer Sitzstatue José Martís an den Dichter und Freiheitshelden erinnert. Um den riesigen Platz herum gruppieren sich Regierungsgebäude, die wie das Monument aus den Jahren vor der kubanischen Revolution stammen. Darunter das Innenministerium mit einem Wandbild Che Guevaras aus Stahl und dem monumentalen Gebäude des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas (PCC). Außerdem ist die Bibliothek Havannas direkt am Platz gelegen. Am Ersten Mai füllt sich der Platz mit Millionen von Menschen, die aus dem ganzen Land anreisen um den Feiertag zu begehen.1995 wurde durch Peter und Irene Ludwig im Vedado die Stiftung Fundacion Ludwig de Cuba gegrúndet, eine gemeinnützigen Organisation zur Verbreitung und Schutz kubanischer Kunst, mit Ausstellungen internationaler Künstler. Unweit des Platzes der Revolution befindet sich der größte Friedhof Lateinamerikas, der Cementerio Cristóbal Colón. Auch die Universität von Havanna hat in Vedado ihren Sitz, sie ist die älteste Universität Kubas und eine der ersten auf dem gesamten Kontinent. Die belebteste Straße in Vedado ist mit Abstand die Calle 23, auch La Rampa genannt. Sie ist ein beliebter Treffpunkt, an dem sich auch wichtige Gebäude wie das Kino Yara, diverse Parks und eine Filiale der Eisdielenkette Coppelia befinden. Auch die Interessenvertretung der Vereinigten Staaten in Kuba befindet sich dort, direkt angrenzend liegt die antiimperialistische Tribüne. Außenbezirke von Havanna Übersicht Havannas Zentrum ist sowohl westlich, südlich und östlich von Vororten umgeben, die eine eigene historische Entwicklung vorweisen können und trotz ihrer geringeren touristischen Attraktivität viele interessante Orte bieten. Neben den klassischen Außenbezirken wie Playa, Mariano und Regla sind auch die „Hausstrände“ Havannas, die Playas del Este erwähnenswert, die von tausenden Kubanern jedes Jahr im Sommer zur Erholung genutzt werden. Der Parque Lenin im Süden der Stadt bietet Platz für Feste und Veranstaltungen und dient vor allem der Naherholung. Playa Im Stadtteil Playa befindet sich die russische Botschaft sowie das Museum des Innenministeriums, das auf die Geschichte der Institution eingeht. Auch das nationale Aquarium (spanisch: Acuario Nacional), das eindrucksvollste in ganz Kuba, lockt mit seinen regelmäßigen Delfinshows Kubaner und Touristen an. Die 1948 errichtete Iglesia Jusús de Miramar, Kubas zweitgrößte Kirche, befindet sich ebenfalls in Playa. Das 1961 gegründete Instituto Superior de Arte gilt als Kubas bedeutendste Kunstakademie, etwa 800 Studenten durchlaufen hier ihre Ausbildung. Der Palacio de las Convenciones wurde 1979 in Playa errichtet und ist Kubas bedeutendste Veranstaltungshalle mit Platz für über 2.000 Menschen. Hier werden unter anderem die Sitzungen des Parlaments und die Parteitage der PCC abgehalten, jedoch ist das Gebäude jedes Jahr auch Tagungsort zahlreicher internationaler Konferenzen. Im Municipio Miramar befindet sich das 5.500 Personen fassende Karl-Marx-Theater (spanisch: Teatro Carlos Marx), in dem große Events wie Jazz- oder Filmfestivals stattfinden. Wirtschaft Trotz der Bemühungen der Regierung die Industrialisierung auch in anderen Orten Kubas voranzutreiben, ist Havanna unverändert der bedeutendste Industriestandort in Kuba und verfügt über eine diversifizierte Wirtschaftsstruktur. Historisch profitierte Havanna vor allem von der Zuckerindustrie in der Umgebung, heute sind vor allem die Leichtindustrie, Metallurgie und Hersteller chemischer Erzeugnisse sowie die Nahrungsmittelindustrie in der Stadt vorhanden. Viele wichtige kubanische Unternehmen haben ihren Hauptsitz in Havanna, darunter das größte kubanische Unternehmen, die Handelsgesellschaft CIMEX und der Telekommunikationsanbieter ETECSA. Insgesamt haben 714 staatliche Firmen in Havanna ihren Sitz, das sind 32 % aller Unternehmen des Landes. Zahlreiche Pilotprojekte der aktuellen Wirtschaftsreformen haben ebenfalls ihren Schwerpunkt in der Hauptstadt. Über 60 Prozent der im Jahr 2013 eingeführten Kooperativen außerhalb der Landwirtschaft haben hier ihren Sitz. Von großer Bedeutung ist neben dem Tourismus ebenfalls das Bau- und Kommunikationsgewerbe. Auch die neuen Technologiezweige wie Biotechnologie oder Informationstechnologie sowie Pharmazeutische Unternehmen haben ihren Sitz vor Ort. Andere wichtige Wirtschaftszweige sind der Schiffsbau, Fahrzeugbau, Alkoholherstellung (darunter Rum), Textilienproduktion und Tabakverarbeitung. Zigarren, die in Havanna selbst gedreht werden, heißen nach der Stadt Havannas. Alle anderen Zigarren dürfen diesen Namen nicht verwenden. Havannas Hafen ist auch heute noch von wirtschaftlicher Bedeutung, ein großer Teil der kubanischen Im- und Exporte werden über ihn abgewickelt. Der Hafen ist auch Stütze der lokalen Fischindustrie. Seit 2014 wird er jedoch schrittweise vom Hafen des nahegelegenen Mariel abgelöst, der mittlerweile zum größten Containerhafen der Karibik ausgebaut wurde. Die Uferpromenade samt Hafenviertel soll in den kommenden Jahren für die touristische Nutzung ausgebaut werden. Eine neue Zuglinie verbindet die Hauptstadt mit dem Hafen von Mariel. Darüber hinaus sind in Havanna viele ausländische Firmen vertreten, z. B. der ägyptische Omnibushersteller Manufacturing Commercial Vehicles in einem Joint-Venture mit dem Transportministerium, der auch als lokaler Generalimporteur für die Marken des Mutterkonzerns Daimler tätig ist. Produziert werden allerdings auch Modelle der hauseigenen Marke MCV. In einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität weltweit belegte Havana im Jahre 2018 den 192. Platz von 231 untersuchten Städten. Tourismus Durch die Auflösung der Sowjetunion und der darauffolgenden schweren Wirtschaftskrise, begann 1991 in Kuba die Sonderperiode die von täglichen Stromabschaltungen und Versorgungskrisen auch in Havanna gekennzeichnet war. Um dringend benötigte Devisen zu erhalten, baute Kuba in den 1990er Jahren eine Tourismusindustrie auf, deren Schwerpunkt unter anderem in Havanna liegt. Heute ist der Tourismus der größte Wirtschaftszweig Havannas. Im Jahr 2010 besuchten 1,17 Millionen Touristen die Stadt, 46 % aller Besucher des Landes. Die Stadt bot im Jahr 2011 12.459 Zimmer für Touristen an. Das sind 21 % aller Zimmer der kubanischen Tourismusbranche (mit insgesamt 58.188 Räumen). Der Tourismus brachte Havanna in diesem Jahr Einnahmen von 30,3 Millionen US-Dollar. Im Jahr 2016 erreichte erstmals wieder ein Kreuzfahrtschiff aus den USA die Stadt, doch nur drei Jahre später untersagte US-Präsident Donald Trump Kreuzfahrtschiffen aus den USA wieder, in kubanischen Häfen anzulegen. Statistik Im Jahr 2011 waren in Havanna 907.016 Menschen am Erwerbsleben beteiligt, davon 82,6 % im Staatssektor. 1.180 kleine Privatunternehmen machten bis Mai 2013 von der Möglichkeit gebrauch, leerstehende Immobilien vom Staat zu pachten. 2011 wurden 4.361 neue Wohngebäude in der Stadt errichtet, davon zwei Drittel auf staatlicher Initiative. Die Stadt Havanna verbrauchte im Jahr 2011 2,04 GWh elektrischer Energie, 11,5 Prozent des gesamten Energiebedarfs Kubas. Knapp 52 Prozent des Energiebedarfs der Stadt wurden allein in den drei stromhungrigsten Stadtteilen Playa, Plaza de la Revolucion und La Habana Vieja konsumiert. 2012 wurden 79,6 Millionen US$ in Havanna investiert, 2,4 Millionen US$ weniger als noch 2011. Dabei verteilten sich 2011 die Investitionen vor allem in folgende Wirtschaftszweige: Hotels und Restaurants: 22,94 Prozent (22,09 Mio. US$). Unternehmensdienstleistungen und Immobilien: 15,91 Prozent (15,92 Mio. US$). Herstellende Industrie (ohne Zuckerindustrie): 12,68 Prozent (10,39 Mio. US$). Verwaltung und öffentliche Sicherheit: 8,44 Prozent (6,92 Mio. US$). Transport, Logistik und Kommunikation: 8,30 Prozent (6,80 Mio. US$). Geographisch verteilten sich die Investitionen 2011 vor allem auf folgende Stadtbezirke: La Habana Vieja: 35,25 Prozent (28,9 Mio. US$). Plaza de la Revolucion: 23,13 Prozent (18,97 Mio. US$). Playa: 20,92 Prozent (17,15 Mio. US$). Boyeros: 8,6 Prozent (7,05 Mio. US$). 2011 hatte die Stadt Gesamteinnahmen in Höhe von 136,25 Millionen US$ bei Ausgaben von 93,7 Millionen US$. Die größten Ausgaben der Stadt erfolgten in folgenden Bereichen: Gesundheit: 33,03 Prozent (30,9 Mio. US$). Bildung: 23,38 Prozent (26,6 Mio. US$). Wohnungsbau und kommunale Dienste: 11,71 Prozent (11 Mio. US$). Infrastruktur Verkehr Die Stadt ist zugleich das wichtigste Verkehrszentrum des Landes. Havanna verfügt über ein ausgebautes Bussystem, das in den letzten Jahren stark erweitert und modernisiert wurde. Dennoch sind die Fahrpreise der öffentlichen Verkehrsmittel wie überall in Kuba extrem niedrig, Touristen zahlen allerdings meist einen höheren Preis in Konvertiblen Pesos (CUC). Am 1. Juli 2013 gab die Regierung bekannt, das Verkehrssystem Havannas künftig reorganisieren und komplett überholen zu wollen. Havanna MetroBus Havannas MetroBus-System bedient das urbane Gebiet innerhalb eines Radius von 20 km. Insgesamt sind in Havanna 1.344 Busse im Einsatz die jährlich über 350 Millionen Passagiere befördern (2011). Der Zentrale Busbahnhof ist das Terminal de Ómnibus in Vedado. Die Busse verkehren in 17 Linien durch das gesamte Stadtgebiet. Die Haltestellen befinden sich in einem durchschnittlichen Abstand von 800 bis 1000 Metern, in den Stoßzeiten fahren viele Linien im 10-Minuten-Takt. Zum Einsatz kommen heute meist Fahrzeuge der Marken Yutong, Busscar und MAZ. Jede Linienbezeichnung beginnt mit der Zahl „P“: P-1: La Rosita – Playa P-2: Alberro – Vedado P-3: Alamar – Túnel de Línea P-4: San Agustín – Playa – Terminal de Trenes P-5: San Agustín – Centro Habana – Terminal de Trenes P-6: Reparto Eléctrico – Vedado P-7: Alberro – Parque de la Fraternidad P-8: Reparto Eléctrico – Villa Panamericana P-9: La Palma – CUJAE P-10: Víbora – Playa P-11: Alamar – El Capitolio – Vedado P-12: Santiago de Las Vegas – Aeropuerto – Parque de la Fraternidad P-13: Santiago de Las Vegas – La Palma – Parque de la Fraternidad P-14: San Agustín – Parque de la Fraternidad P-15: Alamar – Guanabacoa – Vedado P-16: Santiago de Las Vegas – Vedado – Hospital Ameijeiras P-C: Hospital Naval – Playa Omnibus Metropolitanos Die Busse der Omnibus Metropolitanos (OM) verbinden das Stadtzentrum von Havanna mit seinen suburbanen Vororten im Umkreis von 40 km. Sie ist die am häufigsten frequentierte und größte urbane Busflotte des Landes, die meisten Fahrzeuge sind moderne chinesische Busse der Marke Yutong, die seit 2008 in großer Zahl erworben wurden. Astro und Víazul Die Busgesellschaft Astro bietet Überlandfahrten für Kubaner an, seit 2010 werden allerdings keine Tickets mehr an Touristen verkauft. In ganz Kuba existiert jedoch ein spezielles Busnetz für Touristen, Víazul genannt. Die Flotte besteht aus modernen chinesischen Bussen und verbindet alle größeren Städte der Insel miteinander. Von Havanna aus gibt es Verbindungen in alle Provinzhauptstädte, die Fahrpreise liegen je nach Entfernung zwischen 10 (Varadero) und 44 CUC (Bayamo). Flugverkehr Der Flugverkehr der Stadt Havanna und ihres Umlands wird vom Flughafen Havannas „José Martí“ bedient (spanisch: Aeropuerto Internacional José Martí). Er befindet sich etwa 11 km südlich des Stadtzentrums, im Municipio Boyeros und ist der Haupthafen der kubanischen Fluggesellschaft Cubana. Der Flughafen ist einer der wichtigsten des Landes, sowohl für nationale als auch für internationale Flüge. Er wurde 1930 errichtet und seitdem mehrmals erweitert. Er verfügt heute über drei Terminals und eine 4000 Meter lange Landebahn. Die angebotenen Fluglinien verbinden Havanna mit der Karibik, Südamerika, Nordamerika, Europa und Afrika. Des Weiteren existiert ein kleinerer Flughafen namens Playa Baracoa westlich von Havanna, der zumeist für Inlandsflüge eingesetzt wird. Bahnverkehr Havanna ist an das kubanische Netzwerk von regionalen, interregionalen und Fernzügen angeschlossen, welches die Stadt mit allen anderen kubanischen Provinzen verbindet. Der Hauptbahnhof ist die Estación Central de Ferrocarriles in La Habana Vieja. Von Havannas Bahnhöfen ab werden jährlich zwischen acht und neun Millionen Passagiere befördert. Alle drei Tage fährt ein Nachtzug nach Santiago de Cuba und Guantánamo, mit Zwischenstopps in Santa Clara und Camagüey. Ein Ticket für die gesamte Strecke kostet 50 CUC. Neben dem Hauptbahnhof existiert in Havanna ein kleiner Bahnhof im Municipio Casablanca von dem aus die berühmte Hershey-Bahn nach Matanzas fährt. Diese ist zugleich die einzige elektrifizierte Bahnstrecke der Karibik. Ein Ticket kostet etwa 1,50 CUC. Schifffahrt Die Bucht von Havanna ist einer der sichersten Häfen der Welt. Der Zugang zum offenen Meer wird durch die Beschaffenheit der Küstenlinie auf einen sehr schmalen Zugang begrenzt, was auch der entscheidende Grund für die Stadtgründung an dieser Stelle gewesen war. Heute wird der Hafen sowohl für Güter wie Personenverkehr genutzt. Der größte Teil des Container-Verkehrs wurde jedoch in jüngster Zeit an den neuen Tiefseehafen von Mariel 45 Kilometer westlich von Havanna verlegt. Eine Fähre verbindet die Altstadt von Havanna mit den Stadtbezirken Regla und Casablanca, die etwa alle 10–15 Minuten von Muelle Luz abfährt. Die Fahrt kostet für Touristen etwa 1 CUC. Des Weiteren fährt täglich ein Tragflügelboot zur Isla de la Juventud. Shuttlebusse zum Boot fahren jeden Morgen um 9 Uhr am zentralen Busbahnhof ab. Straßennetz Havannas Straßennetz wurde großzügig angelegt, befindet sich jedoch teilweise in schlechtem Zustand aufgrund fehlender Wartung. Die wichtigsten Straßenverbindungen sind: A1 – Autopista Nacional, von Havanna nach Santa Clara und Sancti Spíritus, mit zusätzlichem Weg nach Santiago und Guantánamo A4 – Autopista Este-Oeste, von Havanna nach Pinar del Río Via Blanca, nach Matanzas und Varadero Havannas Stadtring der am Tunnel von Havanna unter dem Eingang des Hafens beginnt. Autopista del Mediodia, von Havanna San Antonio de los Baños eine Autobahn von Havanna nach Melena del Sur eine Autobahn von Havanna nach Mariel In Havanna gibt es zahlreiche Taxis, darunter staatliche der Marken Cubataxi, Panataxi und Taxi OK in denen ausschließlich mit CUC bezahlt werden kann. Zudem gibt es auch eine Vielzahl privater und genossenschaftlicher Taxis, vom Oldtimer bis zum modernen Kleinwagen kommen alle Fahrzeuge zum Einsatz. Eine Besonderheit sind die Kollektivtaxis (spanisch: Colectivos) die meistens länger entfernte Destinationen mit mehreren Fahrgästen ansteuern. Eine günstige Alternative für kurze Strecken sind die Bicitaxis genannten Fahrradtaxis, die überall in der Stadt verkehren. Berühmt ist Havanna zudem für seine alten Autos. Neben US-amerikanischen Oldtimern, überwiegend aus den fünfziger Jahren, prägen Fahrzeuge der russischen Automobilhersteller Lada, GAZ und UAZ das Stadtbild. Bildung Havanna verfügt über eine breite Bildungslandschaft. Es stehen 416 Kinderkrippen mit 51.543 Plätzen zu Verfügung, von denen aber nur knapp 70 Prozent beansprucht werden. Des Weiteren gibt es in Havanna 518 Grundschulen, 182 weiterführende Schulen sowie 32 Preuniversitario genannte Schulen zur Erlangung der Hochschulreife. Für die technische Ausbildung stehen 51 Schulen zu Verfügung, ebenso gibt es 65 spezielle Bildungseinrichtungen z. B. für Autisten. Die Abschlussquote der Grundschule liegt in Havanna bei 100 Prozent, in den weiterführenden Schulen bei 97,5 Prozent. Die Universität von Havanna befindet sich im Stadtteil Vedado und wurde 1728 gegründet. Sie ist eine der ältesten auf dem Kontinent und war während des 18. Jahrhunderts eine der führenden Bildungseinrichtungen Amerikas. Heute studieren hier rund 60.000 Kubaner. Weitere wichtige Bildungseinrichtungen in Havanna sind: Instituto Superior de Arte Instituto Superior Politécnico, bekannter unter dem Kürzel CUJAE Escuela Nacional Cubana de Ballet Escuela Latinoamericana de Medicina, (1999) Für den Sport stehen in Havanna 647 Einrichtungen zu Verfügung, darunter 352 Sportplätze, 286 Sporthallen und 9 Schwimmbäder. Gesundheit Alle Kubaner haben Zugang zum landesweit kostenlosen Gesundheitssystem, das auch in Havanna mit zahlreichen lokalen Familienärzten in den einzelnen Municipios sowie zentralen Krankenhäusern, Polikliniken und Spezialeinrichtungen aufwarten kann. 2011 existierten in Havanna 2.775 medizinische Einrichtungen, darunter 40 Krankenhäuser mit über 16.000 Betten. Insgesamt arbeiteten in diesem Jahr 16.224 Krankenschwestern sowie 2355 Familienärzte in der Stadt. Die Müttersterblichkeit lag 2011 bei 59,2 von 100.000 und damit über dem kubanischen Durchschnitt (40,6). Bei der Kindersterblichkeit liegt Havanna mit 4,3 pro 1000 unter dem Landesdurchschnitt (4,9). Persönlichkeiten Havanna ist der Geburtsort zahlreicher bekannter Persönlichkeiten, darunter: José Martí (1853–1895), Poet und Schriftsteller Alicia Alonso (1920–2019), Primaballerina, Ballettdirektorin und Choreografin Andy García (* 1956), US-amerikanischer Schauspieler, Filmproduzent und Regisseur José Raúl Capablanca (1888–1942), Schachspieler und Diplomat Tomás Gutiérrez Alea (1928–1996), Filmregisseur und Drehbuchautor Miguel Barnet (* 1940), Schriftsteller und Ethnologe Literatur Sven Creutzmann (Fotos) / Bert Hoffmann (Text): Havanna. Im Herzen Kubas. Verlag Frederking und Thaler, München 2019, 320 S. ISBN 978-3-95416-286-4 Gerhard Drekonja-Kornat (Hg.): Havanna. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. LIT Verlag, Münster-Wien 2007. ISBN 978-3-7000-0648-0. Barbara Dröscher: Havanna Lektionen. Kuba zwischen Alltag, Kultur und Politik. ed. tranvía, Berlin 2011, ISBN 978-3-938944-51-6. Michael Eastman: Havanna. Prestel Verlag, München 2011, ISBN 978-3-7913-4623-6. Reinhard Kleist: Havanna. Eine kubanische Reise. Carlsen, 1. Auflage 2008, ISBN 978-3-551-73434-1. Eduardo Luis Rodriguez: The Havana Guide – Modern Architecture 1925–1965. Princeton Architectural Press, ISBN 1-56898-210-0. Jens Sobisch: City Guide Havanna und Umgebung. Reise Know-How Verlag Rump, 335 Seiten, 2. Auflage, Bielefeld 2008, ISBN 3-8317-1394-4. Filmische Rezeption Suite Havanna / Suite Habana, Regie: Fernando Pérez, Kuba, 2003, 80 min Unser Mann in Havanna, nach dem gleichnamigen Roman von Graham Greene, Regie: Carol Reed, GB, 1959, 111 min Erdbeer und Schokolade / Fresa y Chocolate, Regie: Tomás Gutiérrez Alea, Juan Carlos Tabío, Kuba, 1994, 106 min Dirty Dancing 2: Havana Nights, 2004 Habana Blues, 2005 Havanna, Regie: Sydney Pollack, USA, 1990, 140 min Buena Vista Social Club, Regie: Wim Wenders, USA/Frankreich, 1999, 105 min Havanna – Die neue Kunst, Ruinen zu bauen, Deutschland, 2006 Rincón, Deutschland/Kuba, 2005 Weblinks Havanna Panorama vom „Castillo del Morro“ an der Hafeneinfahrt von Havanna zum Hotel Nacional (460 kB Flash) Einzelnachweise Hauptstadt in Mittelamerika Provinz in Kuba Hauptstadt einer kubanischen Provinz Ort mit Seehafen Millionenstadt Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden Hochschul- oder Universitätsstadt Gegründet 1519
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hormon
Hormon
Ein Hormon ist ein biochemischer Botenstoff, der von speziellen Zellen (in endokrinen Drüsen oder Zellgeweben) produziert und als körpereigener Wirkstoff in den Körperkreislauf abgegeben wird. Dieser Signalstoff setzt dann an bestimmten Zellen der Erfolgsorgane spezifische Wirkungen oder Regulationsfunktionen in Gang, vor allem bei bestimmten Stoffwechselvorgängen. Der dadurch ausgelöste biologische Prozess stellt einen Spezialfall der Signaltransduktion dar. Chemisch sind Hormone niedermolekulare Verbindungen oder gelegentlich auch Peptide (sogenannte Peptidhormone). Die Wissenschaft zur Erforschung der Hormone bezeichnet man als Endokrinologie. Entsprechend ist ein Endokrinologe ein Wissenschaftler oder Arzt, der sich mit der Erforschung der Hormone, ihrer Wirkungsweisen und mit Erkrankungen des hormonalen Geschehens beschäftigt. Das 1905/1906 erstmals von Ernest Starling für die Wirkstoffe innersekretorischer Drüsen benutzte Wort Hormon leitet sich ab von hormān ‚antreiben, erregen‘. Geschichte Bereits in der Gentilgesellschaft wurden verschiedene Organe von Tieren zur Heilung von Krankheiten verzehrt. Im Papyrus Ebers, im Corpus Hippocraticum und in weiteren Werken römischer und mittelalterlicher Ärzte gab es Abschnitte, die die Verwendung von Tierorganen zur Behandlung von Krankheiten darstellten (z. B. Tierhoden zur Steigerung der Potenz). Théophile de Bordeu stellte im 18. Jahrhundert seine Theorie von in bestimmten Organen (etwa den Keimdrüsen) gebildeten Substanzen auf, die über den Blutstrom Wirkung an entfernten Körperregionen ausüben. In den Apotheken gab es bis ins 18. Jahrhundert vielfältige aus Organen, Organsäften und Ausscheidungen von Tieren hergestellte Arzneimittel, die bereits im Sinne einer Organtherapie (oder Organotherapie) verwendet wurden. Die Entdeckung des Blutkreislaufes erzeugte anschließend die Vorstellung, dass diese Organe spezifische Stoffe produzieren, die im Blut durch den Körper zirkulieren. Dabei unterschied 1830 Johannes Müller zwischen Drüsen mit innerer und äußerer Sekretion. Dies konnte Arnold Adolf Berthold bestätigen, indem er durch eine Hodentransplantation bei Kapaunen eine endokrine Drüse entdeckte. Charles-Édouard Brown-Séquard wies die Notwendigkeit dieser Drüsen für das Überleben durch eine Nebennieren-Ektomie an Versuchstieren nach. Er empfahl 1889 auch die Injektion von Hodenextrakten beim Menschen zur Verbesserung des körperlichen und geistigen Wohlbefindens. Diese Extrakte zeigten keinerlei Wirkung. Brown-Séquard gilt als der Begründer der Organtherapie. Später wurden weitere Extrakte aus Nebennieren, Schilddrüsen, Eierstöcken und Stierhoden in die Therapie eingeführt. 1901 wurde das erste Hormon (Adrenalin) entdeckt; es wurde 1904 erstmals synthetisiert. Definition Der Begriff Hormon (von , gebildet aus „in Bewegung setzen, antreiben, anregen“) wurde, einem 1905 gemachten Vorschlag eines ihrer Mitarbeiter folgend, 1906 von Ernest Starling und William Maddock Bayliss geprägt. Aus dieser Zeit stammt der klassische Hormonbegriff, nach dem Hormone körpereigene Stoffe sind, die aus einer Drüse (glandulär) in den Blutkreislauf (endokrin) abgegeben werden, um als „chemischer Bote“ in anderen Organen eine spezifische Wirkung zu erzielen (Beispiele: Schilddrüse, Nebennieren, Bauchspeicheldrüse). In Analogie dazu werden bei Gliederfüßern und Weichtieren Botenstoffe als Hormone angesehen, die über die Hämolymphe an ihren Wirkort gelangen. Diese klassische Definition findet bis heute Anwendung, wurde aber vielfach modifiziert und erweitert. So wurde der Hormonbegriff um aglanduläre Hormone erweitert, die wie klassische Hormone endokrin, aber nicht aus Drüsen freigesetzt werden. Beispiele hierfür sind Calcitriol, Erythropoietin und das atriale natriuretische Peptid sowie Substanzen, die von Nervenzellen produziert und ins Blut abgegeben werden (Neurohormone). Auch körpereigene Stoffe aus spezialisierten Zellen, die nach Abgabe unter Umgehung des Blutwegs direkt im unmittelbar benachbarten Gewebe (parakrin) ihre Wirkung erzielen (Gewebshormone) werden gelegentlich als Hormone bezeichnet. Anhand ihrer Wirkungsschwerpunkte werden von den Hormonen die Zytokine abgegrenzt, die Wachstum, Proliferation und Differenzierung von Zellen regulieren. Zytokine werden aglandulär von Zellen sezerniert, deren Aufgabe nicht allein in der Sekretion dieses Stoffes besteht, und wirken typischerweise autokrin oder parakrin. Auch Neurotransmitter, die von Nervenzellen über den synaptischen Spalt abgegeben werden um ebenfalls an Nervenzellen ihre Wirkung zu entfalten, werden in der Regel nicht als Hormone bezeichnet. Allgemeines Hormone wurden in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entdeckt; der Begriff Hormon wurde 1905 von Ernest Starling geprägt. Er entdeckte, dass bei der Stimulation durch Salzsäure aus der Darmwand ein Stoff freigesetzt wurde, der die Pankreas-Sekretion anregte (ein Augenzeugenbericht). Diesen Stoff nannte er Sekretin. Hormone wirken nur auf bestimmte Zielorgane. Nur dort finden sich spezielle Hormonrezeptoren, an welche die Hormonmoleküle binden. Häufig sind diese Rezeptoren Membranproteine, die auf der Zelloberfläche das Hormon binden und auf der Innenseite der Membran nach Hormonbindung Signale auslösen. Einige Hormone (Schilddrüsenhormon, Vitamin D3 und die Steroidhormone, s. u.) erreichen ihre Rezeptoren erst, wenn sie die Zellmembran durch Diffusion durchdrungen haben. Ihre Rezeptoren liegen im Zytoplasma vor oder im Zellkern. Nach der Bindung von Hormon und Rezeptor aggregieren die Rezeptor/Hormon-Komplexe zu Rezeptordimeren, dringen in den Zellkern und steuern dort die Genaktivierung. Hormonbildende Zellen Hormone werden von speziellen hormonproduzierenden Zellen gebildet: Diese befinden sich in Drüsen in der Hirnanhangdrüse (Hypophyse), der Zirbeldrüse, der Schilddrüse, der Nebenniere und in den Langerhans’schen Inselzellen der Bauchspeicheldrüse. Einige Hormone werden auch von Nervenzellen gebildet, diese nennt man Neurohormone oder Neuropeptide. Hormone des Magen/Darm-Traktes finden sich verteilt in den Lieberkühn-Krypten. Zudem werden in der Leber Vorstufen des Angiotensins gebildet. Geschlechtshormone werden von spezialisierten Zellen der weiblichen oder männlichen Geschlechtsorgane gebildet: Theca- und Granulosazellen bei der Frau und Leydig-Zellen beim Mann. Charakteristisch für die hormonproduzierenden Zellen sind Enzyme, die nur in diesen Zellen vorkommen. Die Freisetzung der Hormone ist individuell für jedes Hormon geregelt. Häufig werden Hormone in der Zelle gespeichert und nach Stimulation durch einen Freisetzungsstimulus freigesetzt. Die Freisetzungsstimuli können z. B. Releasing-Hormone sein (Freisetzungshormone, auch Liberine genannt, siehe unten). Hormon-Kaskaden Häufig finden sich hormonelle Achsen: die hypothalamisch-hypophysär-gonadotrope Achse: Das Gonadotropin-Releasing Hormon (GnRH) aus Nervenzellen des Hypothalamus setzt in der Hypophyse die Gonadotropine frei, die wiederum in den Geschlechtsorganen die Bildung von Sexualsteroiden anregen. die hypothalamisch-hypophysär-adrenotrophe Achse: Das Corticotropin-Releasing Hormon (CRH) aus Nervenzellen des Hypothalamus setzt in der Hypophyse das ACTH frei, das in der Nebenniere die Cortisol-Bildung anregt. die hypothalamisch-hypophysär-thyreotrophe Achse: Thyreotropin-Releasing Hormon (TRH) aus Nervenzellen des Hypothalamus setzt in der Hypophyse das Thyrotropin frei, das in der Schilddrüse die Freisetzung des Thyroxin und des Trijodthyronin anregt. Hormonfreisetzung Die Hormonfreisetzung (mit Ausnahme der parakrinen Stimulatoren) erfolgt in der Nähe von Blutgefäßen, die viele kleine Fenster haben, durch die Hormone direkt ins Blut übergehen können. Bei auf die Sekretion von Neuropeptiden spezialisierten Stellen spricht man von Neurohämalorganen. Durch die Bindung eines Stimulus für die Hormonfreisetzung kommt es häufig in der Zelle zu einem Anstieg der intrazellulären Calciumkonzentration. Dieser Calcium-Anstieg erlaubt die Fusion der Zellorganellen, in denen sich die vorgefertigten Hormone befinden, mit der Zellmembran. Sobald die Organellenmembran mit der Zellmembran fusioniert ist, haben die Hormone freien Zugang zum Raum außerhalb der Zelle und können in die dort benachbarten Blutgefäße durch die gefensterte Blutgefäßwand wandern. Hormonähnliche Stoffe Die bei Pflanzen vorkommenden Hormone werden als Phytohormone bezeichnet. Sie teilen mit den tierischen Hormonen die Eigenschaft, Signalwirkung über eine größere Distanz zu entfalten und in geringen Konzentrationen wirksam zu sein. Die bei Tieren vorkommenden Pheromone sind Botenstoffe zwischen Individuen. Sie sind nicht an den Organismus gebunden, in dem sie gebildet wurden und können über große Distanzen signalisieren. Beispiele für hormonelle Regulation Stoffwechsel (Zuckerstoffwechsel, Fettstoffwechsel), Nahrungsaufnahme Aufrechterhaltung der Homöostase Sexualentwicklung und Sexualtrieb Menstruationszyklus der Frau Knochenwachstum Muskelaufbau Geistige Aktivität, Anpassung an Angst und Stress Thyreotroper Regelkreis Hormone werden selber: durch Regelkreise (Rückkopplung, feedback system; in der hypothalamisch-hypophysären-thyreotrophen Achse zum Beispiel unterdrückt das Endprodukt Schilddrüsenhormon (Trijodthyronin) die Bildung des TRH im Hypothalamus und des Thyreotropins aus der Hypophyse.), Die Freisetzung der meisten Hormone wird durch negative Rückkopplungen gesteuert, wie beispielsweise die der Glukokortikoide der Nebennierenrinde. Der Hypothalamus setzt das Corticotropin-releasing-Hormon (CRH) frei, das in der Hypophyse die Freisetzung des Adrenocorticotropen Hormons (ACTH) stimuliert (blauer Pfeil +). Dieses stimuliert in der Nebennierenrinde die Bildung und Freisetzung von Kortisol und anderen Glukokortikoiden (blauer Pfeil +). Über das Blut in das Gehirn und die Hypophyse gebracht unterdrückt Kortisol andererseits die Bildung und Freisetzung von CRH und ACTH (rote Pfeile −), wodurch die Kortisolbildung wieder aussetzt. durch das autonome Nervensystem sowie durch nichthormonelle chemische Botenstoffe wie zum Beispiel die Kalziumkonzentration oder die Glukosekonzentration im Blut reguliert. Einteilung Nach chemischer Klassifikation Protein- und Peptidhormone mit charakteristischer Aminosäuresequenz Neuropeptide des Hypothalamus: Freisetzungshormone für LH/FSH, TSH, ACTH, GH Somatostatin Agouti-ähnliches Peptid (AgRP) Neuropeptid Y (NPY) Leptin Ghrelin Glykoproteinhormone der Adenohypophyse: Follikelstimulierendes Hormon (Follitropin, FSH) Luteinisierendes Hormon (Luteotropin, LH) Thyreoidea-stimulierendes Hormon (Thyreotropin, TSH) Adrenocorticotropes Hormon (Adrenocorticotropin, ACTH) weitere adenohypophysäre Hormone: Somatropin (GH) Prolaktin Melanozyten-stimulierendes Hormon (MSH) Galanin Kisspeptin Neuropeptide der Neurohypophyse: Antidiuretisches Hormon (Adiuretin, Vasopressin, ADH) Oxytocin Hormone der Schilddrüsen Calcitonin Hormone der Nebenschilddrüsen Parathormon (PTH) Hormon des Herzen Atriales natriuretisches Peptid (ANP) Hormone der pankreatischen Inselzellen: Insulin Glucagon Somatostatin Pankreatisches Hormon (PP) Peptidhormone des Magen- und Darmtraktes Cholecystokinin (CCK) Sekretin Gastrin Ghrelin Vasoaktives intestinales Peptid (VIP) Glukoseabhängiges insulinotropes Peptid (GIP) Peptid YY (PYY) Peptidhormon der Leber Insulinähnliche Wachstumsfaktoren (Somatomedine, IGF) Proteinhormone der Gonaden Inhibin und Activin Protein/Peptid-Hormone bei Vertebraten, nicht beim Menschen gefunden bei Lurchen Caerulein bei Fischen Stanniokalzin; jetzt auch beim Menschen (und weiteren Vertebraten) zwei Stanniokalzine mit noch unbekannter Funktion gefunden Aminosäurederivate Katecholamine Adrenalin Noradrenalin Dopamin Thyroxin (T4) und Triiodthyronin (T3) Serotonin Melatonin Histamin Isoprenderivate – wie Juvenilhormon und Neotenin bei Insekten Steroidhormone – wie die Nebennierenrinden- und Geschlechtshormone Mineralocorticoide – wie Aldosteron Glucocorticoide – wie Cortisol Estrogene – wie Estradiol Gestagene – wie Progesteron Androgene – wie Testosteron Dehydroepiandrosteron (DHEA) Arachidonsäurederivate (Eicosanoide) Prostaglandine Leukotriene Thromboxane Nach Herkunft Es gibt spezielle Hormondrüsen, in denen hormonbildende Zellen im engen Verbund zusammenhängen. Viele Hormone werden aber von Zellen gebildet, die nicht ausschließlich mit hormonbildenden Zellen im Verbund stehen. So liegen die G-Zellen, die Gastrin bilden, vereinzelt im pylorischen Antrum des Magens vor. Ähnlich ist es mit den Zellen für die Hormone Cholezystokinin, Sekretin oder Somatostatin in der Darmwand. Entscheidend für die Hormonproduktion ist nicht die äußere Umgebung einer Zelle, sondern die Ausrüstung innerhalb mit den charakteristischen Enzymen. Spezialisierte Hormondrüsen Hypophyse Hypophysen-Vorderlappen, die Adenohypophyse: Hier werden LH/FSH, ACTH, Prolaktin, GH und TSH gebildet. Hypophysen-Hinterlappen, Neurohypophyse: Diese ist keine Hormondrüse im eigentlichen Sinne, da hier die Hormone Oxytozin und Vasopressin (Adiuretin) an Nervenenden ausgeschüttet werden, wobei die Nervenzellkerne sich im Hypothalamus befinden und deren Nervenbahnen durch den Hypophysenstiel laufen. Zirbeldrüse: Bildung des Hormons Melatonin Schilddrüse: Bildung des Schilddrüsenhormons (T3, T4, Calzitonin) Nebenschilddrüse (Parathyroidea): Bildung von Parathormon (Gegenspieler von Calzitonin) Nebenniere: Bildung von Aldosteron (Mineralokortikoid), Androgenen (Androstendion) und Adrenalin (Epinephrin). Inselzellen in der Bauchspeicheldrüse: Bildung von Insulin, Glukagon, Somatostatin und Pankreatischem Polypeptid Neurohormone, die von Neuronen im ZNS produziert werden. Hypothalamische Neuropeptide: Bildung von GnRH, CRH, TRH oder GHRH: Speicherung an den Nervenenden in der Eminentia mediana; Bildung von Oxytozin und Vasopressin (Adiuretin), Speicherung an den Nervenenden in der Neurohypophyse; Bildung von NPY, GHrelin, Agouti-ähnlichem Peptid Gewebe mit Hormonbildenden Zellen: Haut: Bildung von Vitamin D3 durch Bestrahlung von 7-Dehydrocholesterin mit UV-Licht Herz: Bildung des Atrial-Natriuretischen Peptides durch Muskelzellen (Myozyten) des rechten Herzvorhofes Leber: Bildung des Angiotensinogen, des Vorläufers des Angiotensin, Bildung von Insulin-ähnlichen Wachstumsfaktoren (IGF) Magen- und Darmtrakt: Bildung von Cholezystokinin, Gastrin, Sekretin, Ghrelin aus einzeln in die Magen- oder Darmwand verteilten endokrinen Zellen. Gonaden Hoden: Bildung von Testosteron (und Estradiol) durch die Leydig-Zellen, von Inhibin und Aktivin Ovarien: Bildung von Testosteron durch Theka-Zellen und von Estradiol durch Granulosa-Zellen, Bildung von Inhibin und Aktivin Weitere Organe mit Steuerungsfunktion bestimmter endokriner Regelkreise Niere: Die Zellen des juxtaglomerulären Apparates setzen bei erniedrigtem Blutdruck das Enzym Renin frei, das das Angiotensinogen aus der Leber zum Angiotensin I spaltet. Lunge: Hier wird das Angiotensin I durch das Angiotensin-konvertierende Enzym (ACE) zum wirksamen Angiotensin II verkürzt. Biochemische Eigenschaften Man unterscheidet zwischen zwei Arten von Hormonen: Wasserlösliche Hormone:Diese Substanzen können wegen ihrer Lipidunlöslichkeit die Zellmembran nicht passieren. Stattdessen binden sie sich an spezifische membrangebundene Rezeptoren der Zielzellen. Zusammen mit dem Rezeptor wird ein Hormon-Rezeptor-Komplex gebildet. Dieser aktivierte Rezeptor fungiert im Zellinneren dann wie ein Enzym, das indirekt verschiedenste biochemische Mechanismen in Gang setzen kann (Signaltransduktion). Ein sehr verbreitetes Prinzip der Signaltransduktion ist G-Protein-gekoppelte 7-Transmembranhelixrezeptor. Hier wird dadurch, dass ein Ligand außen an der Zelle an den Rezeptor bindet (welcher die Zellmembran überspannt), im Rezeptor eine Konformationsänderung ausgelöst, wodurch dann in der Zelle ein heterotrimeres G-Protein an den Rezeptor binden kann. Dadurch wird das Protein (z. B. Gs) aktiviert und bildet wie ein Enzym den second messenger cAMP. Dieser wiederum kann dann via PKA glatte Muskulatur relaxieren oder beispielsweise auch die Expression bestimmter Gene via CREB fördern. Lipidlösliche Hormone:Diese Substanzen können aufgrund ihrer Lipidlöslichkeit durch die Zellmembran in die Zelle eindringen. Der Stoff bindet im Cytoplasma an intrazelluläre Rezeptoren und bildet einen Hormon-Protein-Komplex. Dieser Komplex hat die Fähigkeit, durch die Kernmembran zur DNA zu gelangen, oder ist wie im Falle der Schilddrüsenhormone bereits an die DNA gebunden, um die Expression bestimmter Gene zu fördern. Eine wichtige Klasse innerhalb der fettlöslichen Hormone sind, neben den Schilddrüsen-Hormonen, die Steroidhormone. Steroidhormone stammen alle vom Cholesterin ab. Die beiden wichtigsten Orte der Steroidhormonproduktion sind die Nebennierenrinden und die Gonaden (Hoden und Eierstöcke) für die Sexualhormone. Das sehr kleine hormonell wirksame Stickstoffmonoxid (NO) wird wegen dessen hoher Membranpermeabilität ebenfalls zu den lipophilen Hormonen gezählt. Pflanzenhormone Liste von pflanzlichen Hormonen: Auxin Cytokinin Ethylen Abszisinsäure Gibberellinsäure Brassinosteroid Jasmonsäure Salicylsäure Strigolacton Hormone in der Umwelt Besondere Aufmerksamkeit verdient die Tatsache, dass Hormone zunehmend in die Umwelt eingetragen werden und später über die pflanzliche und tierische Nahrungskette in ungünstiger und unkontrollierter Dosierung vom Menschen wieder aufgenommen werden. Ein Beispiel sind die Hormone der Anti-Baby-Pille, die von Kläranlagen nicht abgebaut werden. Sie werden mit dem gereinigten Wasser in die Flüsse eingeleitet. Da die Kläranlagen auf den Medikamenteneintrag nicht ausgelegt sind, gelangen Medikamente und ihre Rückstände fast ungehindert über die Oberflächengewässer auch wieder ins Trinkwasser. Mehr als 180 der 3000 in Deutschland zugelassenen Wirkstoffe lassen sich in deutschen Gewässern nachweisen: Von Hormonen und Lipidsenkern über Schmerzmittel und Antibiotika bis hin zum Röntgenkontrastmittel. Auch bestimmte Schadstoffe wie beispielsweise DDT, PCB, PBDE oder Phthalate wirken wie Hormone und beeinflussen etwa die immer früher einsetzende erste Monatsperiode bei Mädchen. Siehe auch Endokrines System Doping Literatur Elisabeth Buchner: Wenn Körper und Gefühle Achterbahn spielen. ISBN 3-934246-00-1. Hermann Giersberg: Hormone. (= Verständliche Wissenschaft, Band 32). Springer, Berlin u. a. Bernhard Kleine: Hormone und Hormonsystem. Springer 2007, ISBN 3-540-37702-6. P. Reed Larsen: Williams Textbook of Endocrinology. 10. Auflage. Saunders, Philadelphia/PA 2003 Lois Jovanovic, Genell J. Subak-Sharpe: Hormone. Das medizinische Handbuch für Frauen. (Originalausgabe: Hormones. The Woman’s Answerbook. Atheneum, New York 1987) Aus dem Amerikanischen von Margaret Auer, Kabel, Hamburg 1989, ISBN 3-8225-0100-X. Ulrich Meyer: Die Geschichte der Östrogene. In: Pharmazie in unserer Zeit, Band 33, Nr. 5, 2004, S. 352–356. Katharina Munk: Grundstudium Biologie – Zoologie. Spektrum Akademischer Verlag 2002, ISBN 3-8274-0908-X. Heinz Penzlin: Lehrbuch der Tierphysiologie. 7. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag 2009, ISBN 3-8274-2114-4. Otto Westphal, Theodor Wieland, Heinrich Huebschmann: Lebensregler. Von Hormonen, Vitaminen, Fermenten und anderen Wirkstoffen. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 1941 (= Frankfurter Bücher. Forschung und Leben, Band 1), insbesondere S. 9–35 (Geschichte der Hormonforschung). Weblinks Hans Trachsel: Uni Bern Hormone im Wasser: Was bewirken sie bei Mensch und Tier? – Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), Schweiz Einzelnachweise Stoffgruppe Physiologie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heidekrautgew%C3%A4chse
Heidekrautgewächse
Die Heidekrautgewächse (Ericaceae) bilden eine Familie in der Ordnung der Heidekrautartigen (Ericales) innerhalb der Bedecktsamigen Pflanzen (Magnoliopsida). Mit etwa 126 Gattungen und etwa 4000 Arten besitzen sie eine weltweite Verbreitung. Arten aus dieser Familie werden als Zierpflanzen, Nahrung und Arzneimittel verwendet. Beschreibung In dem heute weit gefassten, auf molekulargenetischen Untersuchungen basierenden Umfang der Familie der Ericaceae s. l. gibt es nur wenige morphologische Merkmale, die allen Unterfamilien gemeinsam sind. Besonders die Monotropoideae weichen von den allgemeineren Kennzeichen der Familie ab. Vegetative Merkmale Es sind meist verholzende Pflanzen: oft immergrüne oder seltener laubabwerfende, kleine Bäume, (oft heidekrautartige = ericoide) Sträucher, selten Lianen oder Epiphyten. Seltener sind es krautige Pflanzen. Die Arten der Unterfamilie Monotropoideae sind fleischige, chlorophylllose, mykotrophe Pflanzen. Einige Arten bilden Rhizome, Stolonen oder aus dem Hypocotyl verholzende Knollen, die bis zu 1 Meter Durchmesser aufweisen können. Pflanzenteile sind oft behaart mit ein- bis mehrzelligen Trichomen oder Schuppen, die manchmal auch drüsig sein können. Die Sprossachsen sind mehr oder weniger bleistiftförmig oder manchmal deutlich geflügelt. Die Laubblätter sind wechselständig und spiralig oder zweizeilig, selten gegenständig oder wirtelig angeordnet. Blattstiele sind unterschiedlich oder fehlen. Die einfache Blattspreite ist winzig bis sehr groß, ledrig oder krautig. Der Blattrand ist meist glatt oder eingerollt, seltener gezähnt oder gekerbt. Junge Blätter besitzen oft eine rote Färbung. Nebenblätter fehlen. Generative Merkmale Die Blüten stehen selten einzeln, meist zu mehreren in achsel- oder endständigen, traubigen, ährigen, kopfigen, schirmtraubigen oder rispigen Blütenständen, die oft lang herabhängend sind. Es sind haltbare oder vergängliche Tragblätter und oft zwei Deckblätter je Blüte vorhanden. Es sind nur selten extraflorale Nektarien vorhanden. Es ist meist ein Blütenstiel vorhanden. Die meist duftlosen Blüten sind meist zwittrig oder seltener funktional eingeschlechtig. Nur die Gattung Epigaea ist zweihäusig getrenntgeschlechtig (diözisch). Die kleinen bis großen Blüten sind meist fünfzählig (drei- bis siebenzählig) und radiärsymmetrisch oder seltener etwas zygomorph meist mit doppelter Blütenhülle (Perianth). Beim Tribus Rhodoreae sind die Blüten zygomorph (beispielsweise einige Arten der Gattung Rhododendron). Es kann ein Blütenbecher vorhanden sein. Es sind meist fünf (vier bis sieben), freie oder meist verwachsene Kelchblätter vorhanden. Die meist fünf (drei bis sieben) Kronblätter sind meist verwachsen. Oft ist ein prominenter, nektarbildender Diskus vorhanden. Es sind meist zwei Kreise mit je vier bis fünf freien, fertilen Staubblättern vorhanden. Beispielsweise ist bei Loiseleuria nur ein Kreis mit fünf haplostemonen Staubblättern vorhanden; bei den Styphelioideae sind fünf, vier oder nur zwei Staubblätter vorhanden. Die gleichen bis ungleichen Staubfäden sind meist gerade oder selten S-förmig, untereinander frei oder verwachsen und es können Sporne ausgebildet sein. Die Staubbeutel besitzen Poren. Die Pollenkörner sind meist in tetraedrischen Tetraden zusammengefasst, selten einzeln. Meist vier oder fünf (zwei bis zehn) Fruchtblätter sind zu einem synkarpen, ober- bis unterständigen Fruchtknoten verwachsen. Es sind meist viele, selten nur eine anatrope bis campylotrope Samenanlagen je Fruchtknotenfach vorhanden. Der Griffel endet meist in einer kopfigen, selten schwach gelappten Narbe. Es werden lokulizidale oder septizidale Kapselfrüchte, Beeren, Steinfrüchte oder selten Nussfrüchte gebildet. Manchmal sind auf der Frucht noch fleischige Kelchblätter vorhanden. Meist sind in jeder Frucht viele, bei Gaylussacia nur einer je Fruchtfach, Samen vorhanden. Die kleinen, etwa 1 bis 1,5 mm langen Samen besitzen Flügel oder bei Bejaria Anhängsel. Das Endosperm ist fleischig und der gerade Embryo meist weiß oder manchmal grün. Die Chromosomengrundzahlen betragen n = 6, 8, 11, 13, 19 oder 23. Inhaltsstoffe Bei vielen Taxa sind Polyphenole: Gerbstoffe (Tannine), Flavonoide und phenolische Heteroside (Phenolglykosiden, Iridoiden), beispielsweise Arbutin, Pyrosid, Rhododendrin vorhanden. Oft kommen giftige Diterpene vor, beispielsweise Acetylandromedol, durch das der „Rhododendronhonig“ giftig ist. Ökologie Man findet Pflanzenarten dieser Familie oft auf mineralstoffarmem, saurem Boden, auf dem sie mit Hilfe von Endomykorrhiza (Symbiose mit Bodenpilzen) notwendige Nährstoffe erhalten. Die Bestäubung erfolgt mit wenigen Ausnahmen bei Taxa mit oberständigen Fruchtknoten durch Insekten, oft durch Bienen (Entomophilie), und bei den Taxa mit unterständigen Fruchtknoten durch Kolibris (Ornithophilie). Viele Ericaceen sind gut an Brände angepasst. So keimen etwa die Samen der Besenheide besonders gut nach Hitzestress, um danach als konkurrenzempfindliche Art auf dem abgebrannten Boden ideale Keimbedingungen vorzufinden. Systematik und Verbreitung Pflanzenarten dieser Familie kommen fast weltweit vor. Es werden alle Klimazonen und Höhenlagen außer der Dauerfrostzone besiedelt, damit fehlt sie nur auf dem Antarktischen Kontinent. Nur wenige Arten gedeihen im tropischen Tiefland. Die Familie Ericaceae wurde 1789 als „Ericae“ von Antoine Laurent de Jussieu in Genera Plantarum. S. 159–160 erstveröffentlicht. Typusgattung ist Erica Nur noch Synonyme für Ericaceae sind: Vacciniaceae , Monotropaceae , Pyrolaceae , Siphonandraceae . Schon lange werden die Ericaceae in die Ordnung der Ericales gestellt, die im letzten Jahrzehnt um einige Familien erweitert wurde. Innerhalb der Ericales bilden die Ericaceae mit den Clethraceae und Cyrillaceae eine Klade. Man unterteilt die Familie der Ericaceae in acht Unterfamilien und insgesamt 24 Tribus. In der Familie gibt es etwa 126 Gattungen mit etwa 4000 Arten. Hier die vollständige Gliederung der Familie in Unterfamilien und Tribus: Unterfamilie Arbutoideae : Von den anderen Unterfamilien unterscheidet sie sich vor allem durch die reduzierte Anzahl von Samenanlagen, hier sind es nur wenige bis eine je Fruchtknotenkammer. Die wechselständigen Laubblätter sind nicht nadelartig (nicht „erikoid“) reduziert. Es werden Beeren oder Steinfrüchte gebildet. Sie enthält nur eine Tribus: Tribus Arbuteae : Sie enthält etwa sechs Gattungen (Arbutus , Arctostaphylos , Arctous , Comarostaphylis , Ornithostaphylos , Xylococcus ) Unterfamilie Cassiopoideae : Tribus Cassiopeae : Sie enthält nur eine Gattung: Schuppenheiden (Cassiope ) Unterfamilie Enkianthoideae : Die wechselständigen oder pseudowirteligen Laubblätter sind nicht nadelartig (nicht „erikoid“) reduziert. Sie enthält nur eine Tribus: Tribus Enkiantheae : Sie enthält nur eine Gattung: Prachtglocken (Enkianthus ) Unterfamilie Ericoideae (inklusive Rhododendroideae : Mit fünf Tribus: Tribus Bejarieae : Die Kronblätter sind frei. Die Staubbeutel besitzen keine Hörner (Anhängsel). Sie enthält etwa drei Gattungen (Bejaria , Bryanthus , Ledothamnus ). Tribus Empetreae : Es sind nur zwei oder drei Staubblätter und nur zwei Fruchtblätter vorhanden. Die Staubbeutel besitzen keine Hörner (Anhängsel). Es werden Steinfrüchte gebildet. Mit drei bis vier Gattungen (Ceratiola , Corema , Diplarche , Empetrum ) Tribus Ericeae : Staubbeutel mit oder ohne zwei Hörner (Anhängsel). Sie enthält etwa drei Gattungen (Calluna , Daboecia , Erica ) Tribus Phyllodoceae : Es sind fünf bis zehn Staubblätter vorhanden. Die Staubbeutel besitzen keine Hörner (Anhängsel). Es werden Kapselfrüchte gebildet. Sie enthält etwa sieben Gattungen (Elliottia , Epigaea , Kalmia , Kalmiopsis , Loiseleuria , Phyllodoce , Rhodothamnus ) Tribus Rhodoreae : Es sind 5 bis 15 Staubblätter vorhanden. Die Staubbeutel besitzen keine Hörner (Anhängsel). Es werden Kapselfrüchte gebildet. Sie enthält – wenn man Diplarche und Menziesia zu Rhododendron stellt – nur zwei Gattungen (Rhododendron , Therorhodion ). Unterfamilie Harrimanelloideae : Sie enthält nur eine Gattung: Harrimanella : Sie umfasst nur zwei Arten: Moosheide (Harrimanella hypnoides ): Sie kommt in Sibirien, Finnland, Island, Spitzbergen, Jan Mayen, Grönland, im östlichen Kanada und in den nordöstlichen Vereinigten Staaten vor. Harrimanella stelleriana : Sie kommt in Sibirien, Japan und Alaska vor. Unterfamilie Monotropoideae (inklusive Pyroloideae): Es sind mykotrophe Pflanzen. Sie enthält drei Tribus: Tribus Monotropeae : Chlorophyll fehlt. Sie enthält etwa acht Gattungen (Allotropa , Cheilotheca , Hemitomes , Monotropa , Monotropastrum , Monotropsis , Pityopus , Pleuricospora ). Tribus Pterosporeae : Chlorophyll fehlt. Sie enthält etwa zwei Gattungen (Pterospora , Sarcodes ) Tribus Pyroleae : Es ist Chlorophyll vorhanden. Sie enthält etwa vier Gattungen (Chimaphila , Moneses , Orthilia , Pyrola ) Unterfamilie Styphelioideae (Syn.: Epacridoideae ): Die wechselständigen Laubblätter sind nicht nadelartig (nicht „erikoid“) reduziert. Sie enthält etwa sieben Tribus mit etwa 35 Gattungen und etwa 420 Arten: Tribus Archerieae : Es sind nur fünf Staubblätter vorhanden mit kurzen, geraden Staubfäden. Sie enthält nur eine Gattung (Archeria Tribus Cosmelieae : Es sind nur fünf Staubblätter vorhanden. Es werden Kapselfrüchte gebildet. Sie enthält etwa drei Gattungen (Andersonia , Cosmelia , Sprengelia ) Tribus Epacrideae : Es sind nur fünf Staubblätter vorhanden. Es werden Kapselfrüchte gebildet. Sie enthält etwa fünf Gattungen (Budawangia , Epacris , Lysinema , Rupicola , Woollsia ) Tribus Oligarrheneae : Es sind nur zwei oder vier Staubblätter vorhanden. Der Griffel ist sehr kurz. Es werden Steinfrüchte gebildet. Sie enthält etwa zwei Gattungen (Needhamiella , Oligarrhena ) Tribus Prionoteae : Es sind nur fünf Staubblätter vorhanden mit langen Staubfäden. Sie enthält etwa zwei Gattungen (Lebetanthus , Prionotes ) Tribus Richeeae : Es sind nur fünf Staubblätter vorhanden. Die kopfige Narbe ist klein. Es werden Kapselfrüchte gebildet. Sie enthält etwa drei Gattungen (Dracophyllum , Richea , Sphenotoma ). Tribus Styphelieae : Es sind nur fünf Staubblätter vorhanden. Es werden leuchtend gefärbte Steinfrüchte gebildet. Sie enthält etwa 19 Gattungen (Acrotriche , Androstoma , Astroloma , Brachyloma , Coleanthera , Conostephium , Croninia , Cyathodes , Cyathopsis , Decatoca , Leptecophylla , Leucopogon , Lissanthe , Melichrus , Monotoca , Pentachondra , Planocarpa , Styphelia , Trochocarpa ) Unterfamilie Vaccinioideae : Sie sind epigyn und es sind Staubblattanhängsel vorhanden. Mit fünf Tribus: Tribus Andromedeae : Es werden Kapselfrüchte gebildet. Sie enthält etwa zwei Gattungen (Andromeda , Zenobia ). Tribus Gaultherieae : Es werden Kapselfrüchte oder Beeren gebildet. Sie enthält etwa zehn Gattungen (Chamaedaphne , Diplycosia , Eubotryoides , Eubotrys , ×Gaulnettya , Gaultheria , Leucothoe , Pernettya , Pernettyopsis , Tepuia ). Tribus Lyonieae : Es werden Kapselfrüchte gebildet. Sie enthält etwa vier Gattungen (Agarista , Craibiodendron , Lyonia , Pieris ). Tribus Oxydendreae : Sie enthält nur eine Gattung: Oxydendrum : Mit der einzigen Art Sauerbaum (Oxydendrum arboreum ). Es ist ein laubabwerfender Baum, der Kapselfrüchte bildet. Tribus Vaccinieae : Es werden Beeren oder Steinfrüchte gebildet. Gattungsreichste Tribus mit etwa 32 Gattungen (Agapetes , Anthopteropsis , Anthopterus , Cavendishia , Ceratostema , Costera , Demosthenesia , Didonica , Dimorphanthera , Diogenesia , Disterigma , Gaylussacia , Gonocalyx , Macleania , Mycerinus , Notopora , Oreanthes , Orthaea , Pellegrinia , Plutarchia , Polyclita , Psammisia , Rusbya , Satyria , Semiramisia , Siphonandra , Sphyrospermum , Symphysia , Themistoclesia , Thibaudia , Utleya , Vaccinium ). Die folgende Tabelle stellt die komplette Gattungsliste gemäß GRIN mit Angabe der Zugehörigkeit zu Unterfamilie und Tribus dar, außerdem die ungefähre Artenzahl und ihr Verbreitungsgebiet: Nutzung Viele Arten und ihre Sorten werden als Zierpflanzen in Parks, Gärten und Gebäuden genutzt. Die Früchte einiger Arten werden gegessen. Von vielen Arten wurden die medizinischen Wirkungen untersucht. Es werden beispielsweise Drogen von Arctostaphylos uva-ursi (Uvae-ursi folium – Bärentraubenblätter), Vaccinium myrtillus (Myrtilli fructus – Heidelbeerenfrüchte) und Vaccinium vitis-idaea (Vitis ideae folium – Preiselbeerenblätter) verwendet. Quellen Beschreibung, Systematik und Verbreitungskarten der Familie der Ericaceae und sämtlicher Unterfamilien bei der APWebsite. (Abschnitte Systematik und Beschreibung) Mingyuan Fang, Ruizheng Fang, Mingyou He, Linzheng Hu, Hanbi Yang, Haining Qin, Tianlu Min, David F. Chamberlain, Peter F. Stevens, Gary D. Wallace, Arne A. Anderberg: Ericaceae., ab S. 242 - textgleich online wie gedrucktes Werk, In: Wu Zheng-yi, Peter H. Raven, Deyuan Hong (Hrsg.): Flora of China. Volume 14: Apiaceae through Ericaceae. Science Press und Missouri Botanical Garden Press, Beijing und St. Louis. 2005, ISBN 1-930723-41-5. (Abschnitte Beschreibung, Verbreitung und Systematik) Gordon C. Tucker: Ericaceae., ab S. 370 - textgleich online wie gedrucktes Werk, In: Flora of North America Editorial Committee (Hrsg.): Flora of North America North of Mexico. Volume 8: Magnoliophyta: Paeoniaceae to Ericaceae. Oxford University Press, New York und Oxford, 2009, ISBN 978-0-19-534026-6. (Abschnitte Beschreibung, Verbreitung und Systematik) Die Familie der Ericaceae ohne die Monotropoideae bei DELTA von L. Watson & M. J. Dallwitz. (engl.) James L. Luteyn, Paola Pedraza-Peñalosa: Neotropical Blueberries – The Plant Family Ericaceae: Webseite des New York Botanical Garden. Kathleen A. Kron, James L. Luteyn: Origins and biogeographic patterns in Ericaceae: New insights from recent phylogenetic analyses. In: Biologiske Skrifter. Band 55, 2005, S. 479–500. James L. Luteyn, Robert L. Wilbur: Flora Costaricensis: Family #172 Ericaceae. In: Fieldiana Botany. Volume 45, 2005, S. 1–104: Kathleen A. Kron, W. S. Judd, Peter F. Stevens, D. M. Crayn, Arne A. Anderberg, P. A. Gadek, C. J. Quinn, James L. Luteyn: A phylogenetic classification of Ericaceae: Molecular and morphological evidence. In: Botanical Review. Volume 68, 2002, S. 335–423. Ericaceae-Homepage von Kathleen A. Kron. (englischsprachig) Einzelnachweise Weblinks
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heidekr%C3%A4uter
Heidekräuter
Die Heidekräuter (Erica), auch Heiden oder Eriken genannt, sind eine Pflanzengattung innerhalb der Familie der Heidekrautgewächse (Ericaceae). Von den 830 bis 860 Arten sind die Mehrheit in Südafrika beheimatet, nur wenige Arten strahlen aus bis nach Europa und Vorderasien. Umgangssprachlich werden viele Zwergsträucher der Heidelandschaft „Heidekraut“ genannt, ohne dass sie im strengen Sinne zu den Heidekräutern (Erica) gehören. Dies gilt auch für die eng verwandte Besenheide (Calluna vulgaris), die in Europa oft die bestandsprägende Pflanzenart einer Heidelandschaft ist. Beschreibung Vegetative Merkmale Heidekraut-Arten sind immergrüne Halbsträucher, Sträucher oder seltener Bäume, die Wuchshöhen von bis zu 10 Metern erreichen. Die Zweige sind selbständig aufrecht, ausgebreitet oder kriechend. Die Rinde ist kahl oder behaart. Das Mark ist gleichmäßig. Knospenschuppen können fehlen. Die Blätter stehen in Wirteln, selten gegenständig oder verstreut. Sie sind in Blattstiel und Blattspreite gegliedert. Die ledrigen Blattspreiten besitzen einen bewimperten, stacheligen oder glatten Rand. Generative Merkmale 10 bis 30 Blüten sind in end- oder seitenständigen doldigen, traubigen oder rispigen Blütenständen angeordnet. Über jedem Tragblatt befinden sich jeweils meist zwei, selten drei Vorblätter, die selten mit der Sprossachse verwachsen sind (recauleszent). Die zwittrigen Blüten sind radiärsymmetrisch und meist vier- oder selten fünfzählig mit doppelter Blütenhülle. Die meist vier (ein bis fünf) freien Kelchblätter sind klein und tragblattartig bis groß und farbig. Die Kelchblätter sind kürzer als die Kronblätter. Die meist vier oder selten fünf haltbaren Kronblätter sind auf der Hälfte ihre Länge bis fast vollständig glockenförmig bis röhrig verwachsen. Es sind meist zwei Kreise mit je vier oder fünf Staubblättern vorhanden, die die Blütenkrone überragen können. Die geraden bis s-förmigen, meist kahlen Staubfäden weisen im Querschnitt abgeflachte bis zylindrische Sporne entweder am äußersten Ende der Staubfäden oder rückseitig auf den Staubbeuteln auf. Die Staubbeutel besitzen keine Anhängsel und öffnen sich mit Poren. Selten bilden die Pollen Monaden. Die meist vier, selten ein bis acht Fruchtblätter sind zu einem oberständigen Fruchtknoten verwachsen, der pseudo-zehnkammerig ist, mit meist mehr als einer Samenanlage je Fruchtblatt. Der leicht bis selten stark verdickte, becherförmige, gerade oder zurückgebogene Griffel ist deutlich länger als der Fruchtknoten, selten fehlt er fast ganz oder ist hinfällig. Narbenlappen können ganz fehlen bis gut entwickelt sein. Der Griffel kann die Blütenkrone überragen. Die Kapselfrüchte wirken steinfruchtartig, sind ellipsoid und öffnen sich längs entlang der Außenwände fachspaltig = lokulizid oder gar nicht und enthalten etwa zehn Samen. Die Samen sind ellipsoid bis verkehrt-eiförmig und nicht geflügelt oder geschwänzt. Die Samenschale (Testa) ist netzartig oder feingrubig. Chromosomensätze Die Chromosomengrundzahl beträgt meist x = 12, selten x = 18. Systematik und Verbreitung Die Gattung Erica wurde 1753 durch Carl von Linné aufgestellt. Der Gattungsname Erica ist vom altgriechischen Wort ereiko für brechen abgeleitet und bezieht sich auf die zerbrechlichen Zweige. Es gibt eine Vermutung, dass Erica vom altgriechischen Wort ereike für „Heide“ abgeleitet sein könnte. Nach Kron et al. 2002 bildet, entsprechend molekulargenetischer Untersuchungen, die Gattung Erica gemeinsam mit den monotypischen Gattungen Daboecia und Calluna die Tribus Ericeae in der Unterfamilie der Ericoideae innerhalb der Familie der Ericaceae. Die innere Systematik der Gattung ist unzureichend erforscht und gilt als offen. Rund 90 % der Erica-Arten sind im südlichen Afrika beheimatet. Das Zentrum der Artenvielfalt ist Südafrika. Die anderen Arten finden sich im restlichen Afrika, Madagaskar, der südwestlichen Arabischen Halbinsel, dem Mittleren Osten oder in Europa. Sie finden sich von Meereshöhe bis in die afroalpine Höhenstufe. Es gibt 830 bis 860 Erica-Arten: Erica abbottii : Sie kommt nur von Umtamvuna bis Mkambati in den südafrikanischen Provinzen Ostkap sowie KwaZulu-Natal vor. Es sind nur drei Fundorte in der Nähe der Küste in Höhenlagen von 800 bis 1000 Metern bekannt. Die Bestände gelten als stabil, sind aber potentiel durch Landwirtschaft gefährdet. Erica abelii Es ist nur ein Fundort in der Groendal Wilderness Area in der Nähe von Uitenhage im Ostkap bekannt. Es wurden weniger als 1000 blühfähige Exemplare gefunden, aber der Bestand gilt als stabil. Erica abietina : Es gibt etwa sieben Unterarten nur im Westkap. Erica accommodata : Die zwei Varietäten kommen nur im Westkap vor. Erica acuta Erica adaequata Sie scheint eine Hybride zu sein. Erica adnata : Sie kommt nur im Westkap vor. Erica adunca Erica aemula : Sie kommt nur im Westkap vor. Erica aestiva : Die zwei Varietäten kommen in Lesotho und in den südafrikanischen Provinzen Free State sowie KwaZulu-Natal. Erica affinis : Sie ist von neun Fundorten von Uniondale bis Uitenhage im Ostkap bekannt. Die Bestände gelten 2008 als stabil. Erica agglutinans : Von dieser gefährdeten Art sind nur noch drei bis fünf Fundorte bekannt. Der Habitatverlust schreitet fort. Sie kommt nur von Napier bis Bredasdorp und südwärts auf der Ebene nördlich des Soetanysberg im Westkap vor. Die meisten Bestände enthalten nur 100 bis 200 Exemplare. Erica aghillana : Sie ist von vier Fundorten von Pearly Beach bis Kap Agulhas im Westkap bekannt. Sie gedeiht an saisonal feuchten Küstenebenen. Die Bestände sind fortlaufen durch Habitatverlust und invasive Pflanzenarten gefährdet. Erica albens : Sie kommt nur im Westkap vor. Erica albertyniae : Sie kommt nur an sechs Fundorten auf der Agulhas-Ebene im südlichen Westkap vor. Die Bestände nehmen durch invasive Pflanzenarten fortlaufend ab. Erica albescens : Sie kommt nur im Westkap vor. Erica albospicata : Diese seltene Art gedeiht nur an steilen Grashängen in den Drakensbergen in KwaZulu-Natal. Es sind nur drei Fundorte bekannt, aber diese Bestände gelten als stabil. Erica alexandri : Dieser gefährdete Art kommt nur von Paarl bis Franschhoek im Westkap vor. 80 % des ursprünglichen Habitats sind verloren gegangen. Die Restbestände befinden sich an voneinander isolierten Standorten. 2012 wurde weniger als 1000 blühfähige Exemplare gefunden. - Es wurde eine zweite Unterart nur aus Kraaifontein beschrieben, diese Unterart wurde zuletzt 1940 aufgesammelt und gilt als ausgestorben. Erica alfredii Erica algida Erica alnea Erica alopecurus Erica altevivens Erica alticola Erica altiphila Erica amalophylla Erica amatolensis Erica amicorum Erica amidae Erica amoena Erica amphigena Erica ampullacea Erica andevalensis Erica andreaei Erica andringitrensis Erica aneimena Erica anemodes Erica anguliger Erica angulosa Erica annalis Erica annectens Erica anomala Erica arachnocalyx Baumheide (Erica arborea ) Erica arborescens Erica arcuata Erica ardens Erica arenaria Erica areolata Erica argentea Erica argyraea Erica aristata Erica aristifolia Erica armandiana Erica armata Erica artemisioides Erica articularis Erica aspalathifolia Erica aspalathoides Erica astroites Erica atherstonei Erica atricha Erica atromontana Erica atropurpurea Erica atrovinosa Erica auriculata Erica australis Erica austronyassana Erica austroverna Erica autumnalis Erica axillaris Erica axilliflora Erica azaleifolia Erica azorica Erica baccans Erica bakeri Erica banksia Erica barbigeroides Erica barnettiana Erica baroniana Erica barrydalensis Erica bauera Erica baurii Erica beatricis Erica benguelensis Erica benthamiana (Syn.: Aniserica gracilis , Aniserica gracilis var. hispida , Aniserica macrocalyx non Erica macrocalyx , Blaeria gracilis non Erica gracilis , Sympieza gracilis , Sympieza kunthii , Sympieza kunthii var. brachyphylla , Sympieza kunthii var. hispida ): Sie kommt im Westkap vor. Erica bergiana Erica berzelioides Erica betsileana Erica bibax Erica bicolor Erica binaria Erica blaerioides Erica blancheana Erica blandfordia Erica blenna Erica blesbergensis Erica bodkinii Erica bojeri Erica bokkeveldia Erica bolusanthus Erica bolusiae Erica borboniifolia Erica bosseri Erica botryoides Erica boucheri Erica boutonii Erica brachialis Erica brachycentra Erica brachyphylla Erica brachysepala Erica bracteolaris Erica bredasiana Erica brevicaulis Erica brevifolia Erica brownii Erica brownleeae Erica bruniades Erica bruniifolia Erica burchelliana Erica cabernetea Erica caespitosa Erica caffra Erica caffrorum Erica calcareophila Erica calcicola Erica caledonica Erica calycina Erica cameronii Erica campanularis Erica canaliculata Erica canariensis Erica canescens Erica capensis Erica capillaris Erica capitata Erica caprina Erica carduifolia Schneeheide (Erica carnea ) Erica caterviflora Erica cavartica Erica cederbergensis Erica cedromontana Erica ceraria Erica cereris Erica cerinthoides Erica cernua Erica cetrata Erica chamissonis Erica chartacea Erica chionodes Erica chionophila Erica chiroptera Erica chlamydiflora Erica chloroloma Erica chlorosepala Erica chonantha Erica chrysocodon Erica ciliaris Erica cincta Atlantische Grauheide (Erica cinerea ) Erica clavisepala Erica coacervata Erica coarctata Erica coccinea Erica collina Erica colorans Erica columnaris Erica comata Erica comorensis Erica condensata Erica conferta Erica consobrina Erica conspicua Erica constantia Erica cooperi Erica copiosa Erica cordata Erica corifolia Erica coronanthera Erica coruscans : Dieser Endemit wurde zuletzt 1940 gesammelt. Sie wurde nur in größeren Höhenlagen in den Kleinrivier Mountains im Westkap gefunden. Erica corydalis Erica costatisepala Erica crassifolia Erica crassisepala Erica crateriformis Erica cremea Erica crenata : Dieser Endemit kommt nur auf der Kaphalbinsel vor. Erica cristata Erica cristiflora Erica croceovirens Erica crucistigmatica Erica cruenta Erica cryptanthera Erica cryptoclada Erica cubica Erica cubitans Erica cumuliflora Erica cunoniensis Erica curtophylla Erica curviflora (Syn.: Erica bucciniformis , Erica burchellii , Erica coccinea , Erica cuspidigera , Erica fastuosa , Erica ignescens , Erica laniflora , Erica procera , Erica simpliciflora , Erica sordida , Erica sulcata , Erica tubiflora , Erica tubiflora , Erica tubiflora ) Sie kommt im Westkap vor. Erica curvifolia Erica curvirostris Erica curvistyla Erica cuscutiformis Erica cyathiformis Erica cygnea Erica cylindrica Erica cymosa Erica cyrilliflora Erica danguyana Erica daphniflora Erica deflexa Erica demissa Erica densata Erica densifolia Erica denticulata Erica depressa Erica desmantha Erica dianthifolia Erica diaphana Erica diosmifolia Erica diotiflora Erica discolor Erica dispar Erica dissimulans Erica distorta Erica dodii Erica dolfiana Erica doliiformis Erica dominans Erica dracomontana Erica drakensbergensis Erica dregei Erica dulcis Erica duthieae Erica dysantha Erica ebracteata Erica eburnea Erica ecklonii Erica eglandulosa Erica elimensis Erica elsieana Erica embothriifolia Erica empetrina Erica equisetifolia Erica erasmia Erica eremioides Erica ericoides Erica erigena Erica erinus Erica eriocephala Erica eriocodon Erica eriophoros Erica esterhuyseniae Erica esteriana Erica ethelae Erica eugenea Erica euryphylla Erica eustacei Erica evansii Erica excavata Erica exleeana Erica extrusa Erica fairii Erica fascicularis Erica fastigiata Erica fausta Erica feminarum Erica ferrea Erica filago Erica filamentosa Erica filialis Erica filiformis Erica filipendula Erica fimbriata Erica flacca Erica flaccida Erica flanaganii Erica flavicoma Erica flexistyla Erica floccifera Erica flocciflora Erica florifera Erica foliacea Erica fontana Erica formosa Erica forsteri Erica frigida Erica fuscescens Erica galgebergensis Erica galioides Erica galpinii Erica garciae Erica genistifolia Erica georgica Erica gerhardii Erica gibbosa Erica gigantea Erica gillii Erica glabella Erica glabra Erica glabripes Erica glandulifera Erica glandulipila Erica glandulosa Erica glaphyra Erica glauca Erica globiceps Erica globulifera Erica glomiflora Erica glumiflora Erica glutinosa Erica gnaphaloides Erica goatcheriana Erica gossypioides Erica goudotiana Erica gracilipes Erica gracilis Erica grandiflora Erica granulatifolia Erica granulosa Erica grata Erica greyi Erica grisbrookii Erica guthriei Erica gysbertii Erica haemastoma Erica haematocodon Erica haematosiphon Erica halicacaba Erica hameriana Erica hanekomii Erica hansfordii Erica harveiana Erica hebdomadalis Erica hebeclada Erica heleogena Erica heliophila Erica hendricksei Erica hermani Erica heterophylla Erica hexandra Erica hexensis Erica hibbertia Erica hillburttii Erica hippurus Erica hirta Erica hirtiflora Erica hispidula Erica hispiduloides Erica holosericea Erica holtii Erica hottentotica Erica humansdorpensis Erica humbertii Erica humidicola Erica humifusa Erica ibityensis Erica ignita Erica imbricata Erica imerinensis Erica inamoena } Erica incarnata } Erica inclusa Erica inconstans Erica inflata Erica inflaticalyx Erica infundibuliformis Erica ingeana Erica innovans Erica inordinata Erica insignis Erica insolitanthera Erica intermedia Erica interrupta Erica intervallaris Erica intonsa Erica intricata Erica involucrata Erica involvens Erica ioniana Erica irbyana Erica irregularis Erica irrorata Erica isaloensis Erica ixanthera Erica jacksoniana Erica jananthus Erica jasminiflora Erica johnstoniana Erica jonasiana Erica jugicola Erica jumellei Erica juniperina Erica junonia Erica kammanassieae Erica karooica Erica karwyderi Erica keeromsbergensis Erica keetii Erica kingaensis Erica kirstenii Erica klotzschii Erica kogelbergensis Erica kougabergensis Erica kraussiana Erica krugeri Erica labialis Erica lachnaeifolia Erica laeta Erica laevigata Erica lageniformis Erica lananthera Erica lanceolifera Erica langebergensis Erica lanipes Erica lanuginosa Erica lasciva Erica lasiocarpa Erica lateralis Erica lateriflora Erica latiflora Erica latifolia Erica latituba Erica lavandulifolia Erica lawsonia Erica lecomtei Erica lehmannii Erica lepidota Erica leptantha Erica leptoclada Erica leptopus Erica lerouxiae Erica leucantha Erica leucanthera Erica leucoclada Erica leucodesmia Erica leucopelta Erica leucosiphon Erica leucotrachela Erica lignosa Erica limnophila Erica limosa Erica lithophila Erica loganii Erica longiaristata Erica longimontana Erica longipedunculata Erica longistyla Erica lowryensis Erica lucida Erica lusitanica Erica lutea Erica lyallii Erica lycopodiastrum Erica macilenta Erica mackayana Erica macowanii Erica macrocalyx Erica macroloma Erica macrophylla Erica macrotrema Erica madagascariensis Erica maderensis Erica maderi Erica madida Erica maesta Erica mafiensis Erica magistrati Erica magnisylvae Erica malmesburiensis Erica mammosa Erica manifesta Erica manipuliflora Erica mannii Erica margaritacea Erica marifolia Erica maritima Erica marlothii Erica marojejyensis Erica massonii Erica mauritanica Erica mauritiensis Erica maximiliani Erica melanacme Erica melanomontana Erica melanthera Erica melastoma Erica micrandra Erica microdonta Erica milanjiana Erica miniscula Erica minutifolia Erica mira Erica mitchelliensis Erica modesta Erica mollis Erica monadelphia Erica monantha Erica monsoniana Erica montis-hominis Erica mucronata Erica muirii Erica multiflexuosa Vielblütige Heide (Erica multiflora ) Erica multumbellifera Erica mundii Erica muscari Erica muscosa Erica myriadenia Erica myriocodon Erica nabea Erica nana Erica natalensis Erica natalitia Erica navigatoris Erica nematophylla Erica nemorosa Erica nervata Erica nevillei Erica newdigatei Erica nidularia Erica nigrimontana Erica nivea Erica niveniana Erica notholeeana Erica nubigena Erica nudiflora Erica numidica Erica nutans Erica nyassana Erica oakesiorum Erica oatesii Erica obconica Erica obliqua Erica oblongiflora Erica obtusata Erica occulta Erica ocellata Erica octonaria Erica odorata Erica oligantha Erica oliveri Erica omninoglabra Erica onusta Erica oophylla Erica opulenta Erica orculiflora Erica oreophila Erica oreotragus Erica oresigena Erica orientalis Erica orthiocola Erica ostiaria Erica outeniquae Erica ovina Erica oxyandra Erica oxycoccifolia Erica oxysepala Erica pageana Erica palliiflora Erica paludicola Erica paniculata Erica pannosa Erica papyracea Erica parilis Erica parkeri Erica parviflora Erica parviporandra Erica passerina Erica passerinoides Erica patens Erica patersonia Erica paucifolia Erica pauciovulata Erica pearsoniana Erica pectinifolia Erica pellucida Erica peltata Erica penduliflora Erica penicilliformis Erica perhispida Erica perlata Erica permutata Erica perplexa Erica perrieri Erica perspicua Erica petiolaris Erica petraea Erica petricola Erica petrophila Erica petrusiana Erica phacelanthera Erica phaeocarpa Erica philippioides Erica phillipsii Erica physantha Erica physodes Erica physophylla Erica pilaarkopensis Erica pillansii Erica pilosiflora Erica pilulifera Erica pinea Erica piquetbergensis Erica placentiflora Erica planifolia Erica platycalyx Erica platycodon Erica pleiotricha Erica plena Erica plukenetii Erica plumigera Erica plumosa Erica podophylla Erica pogonanthera Erica polifolia Erica polycoma Erica portenschlagiana Erica praenitens Erica priori Erica procaviana Erica prolata Erica propendens Erica propinqua Erica pseudocalycina Erica psittacina Erica puberuliflora Erica pubescens Erica pubigera Erica pudens Erica pulchella Erica pulchelliflora Erica pulvinata Erica pumila Erica purgatoriensis Erica pycnantha Erica pyramidalis Erica pyxidiflora Erica quadrangularis Erica quadratiflora Erica quadrifida Erica quadrisulcata Erica racemosa Erica radicans Erica rakotozafyana Erica recta Erica recurvata Erica recurvifolia Erica reenensis Erica regerminans Erica regia Erica rehmii Erica remota Erica retorta Erica reunionensis Erica revoluta Erica rhodantha Erica rhodopis Erica rhopalantha Erica ribisaria Erica richardii Erica rigidula Erica rimarum Erica riparia Erica rivularis Erica robynsiana Erica rosacea Erica roseoloba Erica rubens Erica rubiginosa Erica rudolfii Erica rufescens Erica rugata Erica rupicola Erica russakiana Erica rusticula Erica sacciflora Erica sagittata Erica salax Erica salicina Erica salteri Erica saptouensis Erica savilea Erica saxicola Erica saxigena Erica scabriuscula Erica schelpeorum Erica schlechteri Erica schmidtii Erica schumannii Erica scoparia Erica scytophylla Erica selaginifolia Erica senilis Erica seriphiifolia Erica serrata Erica sessiliflora Erica setacea Erica setociliata Erica setosa Erica setulosa Erica sexfaria Erica shannonea Erica sicifolia Erica sicula Erica silvatica Erica simii Erica similis Erica sitiens Erica situshiemalis Erica sociorum Erica solandra Erica sonderiana Erica sparrmanni Erica sparsa Erica spectabilis Erica sperata Erica sphaerocephala Erica spiculifolia Erica spinifera Erica spumosa Erica squarrosa Erica stagnalis Erica steinbergiana Erica stenantha Erica stokoeanthus Erica stokoei Erica straussiana Erica strigilifolia Erica strigosa Erica stylaris Erica subcapitata Erica subdivaricata Erica subimbricata Erica subterminalis Erica subulata Erica subverticillaris Erica suffulta Erica swaziensis Erica sylvainiana Erica symonsii Erica syngenesia Erica tarantulae Erica taxifolia Erica taylorii Erica tegulifolia Erica tenella Erica tenuicaulis Erica tenuifolia Erica tenuipes Erica tenuis Erica terminalis Erica terniflora Erica tetragona Glocken-Heide (Erica tetralix ) Erica tetrathecoides Erica thamnoides Erica thimifolia Erica thodei Erica thomae Erica thomensis Erica thunbergii Erica tomentosa Erica toringbergensis Erica totta Erica tradouwensis Erica tragomontana Erica tragulifera Erica triceps Erica trichadenia Erica trichoclada Erica trichophora Erica trichophylla Erica trichostigma Erica trichroma Erica triflora Erica trimera Erica triphylla Erica tristis Erica trivialis Erica truncata Erica tubercularis Erica tumida Erica turbiniflora Erica turgida Erica turmalis Erica turneri Erica turrisbabylonica Erica tysonii Erica uberiflora Erica umbellata Erica umbelliflora Erica umbonata Erica umbratica Erica unicolor Erica unilateralis Erica urceolata Erica urna-viridis Erica ustulescens Erica utriculosa Erica uysii Cornwall-Heide (Erica vagans ) Erica valida Erica vallis-aranearum Erica vallis-fluminis Erica vallis-gratiae Erica vanheurckii Erica varderi Erica velatiflora Erica velitaris Erica ventricosa Erica venustiflora Erica verecunda Erica vernicosa Erica versicolor Erica verticillata Erica vestita Erica viguieri Erica villosa Erica virginalis Erica viridiflora Erica viridimontana Erica viscaria Erica viscosissima Erica vlokii Erica vogelpoelii Erica walkeria (Syn.: Erica fastigiata , Erica pulchra , Erica walkeriana ) Erica wangfatiana Erica wendlandiana Erica whyteana Erica wildii Erica williamsiorum Erica winteri Erica wittebergensis Erica woodii Erica wyliei Erica xanthina Erica xeranthemifolia Erica zebrensis Erica zeyheriana Erica zitzikammensis Erica zwartbergensis Es gibt einige Naturhybriden: Erica ×flavisepala Erica ×fontensis Erica ×nelsonii Erica ×veitchii Erica ×vinacea Erica ×watsonii Erica ×williamsii Quellen Literatur P. F. Stevens et al.: Ericaceae. In: Klaus Kubitzki (Hrsg.): The Families and Genera of Vascular Plants, Volume VI: Flowering Plants - Dicotyledons - Celastrales, Oxalidales, Rosales, Cornales, Ericales. 2004, ISBN 3-540-06512-1. Avery F. McGuire, Kathleen A. Kron: Phylogenetic Relationships of European and African Ericas. In: International Journal of Plant Sciences, Volume 166, Issue 2, 2005, S. 311–318. Michael D. Pirie, E. G. H. Oliver, Dirk U. Bellstedt: A densely sampled ITS phylogeny of the Cape flagship genus Erica L. suggests numerous shifts in floral macro-morphology. In: Molecular Phylogenetics and Evolution, Volume 61, Issue 2, 2011, S. 593–601. A. L. Mugrabi de Kuppler, J. Fagúndez, D. U. Bellstedt, E. G. H. Oliver, J. Léon, M. D. Pirie: Testing reticulate versus coalescent origins of Erica lusitanica using a species phylogeny of the northern heathers (Ericeae, Ericaceae). In: Molecular Phylogenetics and Evolution, Volume 88, 2015, S. 121–131. M. D. Pirie, E. G. H. Oliver, A. Mugrabi de Kuppler, B. Gehrke, N. C. Le Maitre, M. Kandziora, D. U. Bellstedt: The biodiversity hotspot as evolutionary hot-bed: spectacular radiation of Erica in the Cape Floristic Region. In: BMC Evolutionary Biology, Volume 16, Issue 1, 2016, S. 190. Einzelnachweise Weblinks Erica In: S.Dressler, M.Schmidt, G. Zizka: African plants - A Photo Guide. Forschungsinstitut Senckenberg, Frankfurt/Main, 2014 ff. Heidekrautgewächse
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heidelbeeren
Heidelbeeren
Die Heidelbeeren (Vaccinium) sind eine Pflanzengattung aus der Familie der Heidekrautgewächse (Ericaceae). Die 450 bis 500 Vaccinium-Arten sind vorwiegend auf der Nordhalbkugel verbreitet. Einige Arten werden im deutschen Sprachgebrauch allgemein als Heidelbeeren oder Blaubeeren, regional auch als Schwarzbeeren oder Moosbeeren bezeichnet, wobei die Bezeichnung im engeren Sinne nur für die in Europa verbreitetste Art gilt, die Heidel- oder Blaubeere (Vaccinium myrtillus). Beschreibung Erscheinungsbild und Laubblätter Die Vaccinium-Arten wachsen als immergrüne oder laubabwerfende, kriechende, ausgebreitete, selbständig aufrechte oder kletternde Zwergsträucher, Sträucher oder Bäume. Meist wachsen sie terrestrisch, seltener auch epiphytisch. Die oberirdischen Pflanzenteile können kahl oder behaart sein; dabei sind die Haare (Trichome) gestielt oder ungestielt, sowie drüsig oder nicht drüsig. Die wechselständig und spiralig oder sehr selten pseudowirtelig angeordneten Laubblätter können gestielt sein. Die häutigen bis ledrigen Laubblätter sind kahl oder behaart. Die einfachen Blattspreiten sind elliptisch, eiförmig, länglich-lanzettlich oder spatelförmig. Der flache oder zurückgebogene Blattrand ist glatt oder gesägt. Blütenstände und Blüten Die end- oder achselständigen, traubigen Blütenstände enthalten meist zwei bis zehn Blüten; manchmal stehen die Blüten einzeln oder zu mehreren in den Blattachseln. Es sind haltbare oder bald vergängliche Tragblätter vorhanden. Kleine Deckblätter sind nur in der Sektion Oxycoccus vorhanden. Die Blütenstiele können nahe der Blüte verbreitert sein und meist sind sie gegliedert. Die zwittrigen Blüten sind radiärsymmetrisch und selten vier- oder meist fünfzählig mit doppelter Blütenhülle (Perianth). Es ist ein Blütenbecher vorhanden. Die selten vier oder meist fünf Kelchblätter sind nur an ihrer Basis verwachsen. Die meist fünf, selten vier oder sechs Kronblätter sind meist auf fast ihrer ganzen Länge kugel-, glocken-, urnen- oder röhrenförmig verwachsen; selten sind sie fast frei. Die Farben der Kronblätter reichen von meist grün, weiß über creme- bis rosa- und bronzefarbe, selten sind sie rot. Die geraden bis zurückgekrümmten Kronzipfel sind meist kürzer als die Kronröhre. Es sind meist zwei, selten ein, Kreise mit je vier oder fünf Staubblättern vorhanden, die die Krone meist nicht überragen. Die kahlen oder behaarten Staubfäden sind gerade und flach. Die Staubbeutel können Hörner besitzen (Tubules) und/oder Grannen. Der Diskus in ringförmig. Vier oder fünf Fruchtblätter sind zu einem unter- bis halbunterständigen, vier- bis fünfkammerigen oder meist acht- bis zehn pseudokammerigen Fruchtknoten verwachsen. Es sind viele Samenanlagen vorhanden. Die Narben sind kopfig, beziehungsweise unauffällig und gestutzt. Früchte und Samen Kennzeichnend für die Gattung Vaccinium sind die eiförmigen bis kugeligen, fleischigen Beeren. Die bei Reife roten oder blauen Beeren enthalten zwei bis vierzig Samen. Die relativ kleinen, eiförmigen bis ellipsoiden Samen besitzen eine netzartige, harte oder schleimige Samenschale (Testa). Chromosomen Die Chromosomengrundzahl beträgt x = 12. Nutzung Die Früchte der meisten Vaccinium-Arten sind essbar. Es gibt einige Sorten, die als Beerenobst angebaut werden. Von einigen Arten wurden die medizinischen Wirkungen untersucht. In Europa werden traditionell vor allem die Heidelbeere (Vaccinium myrtillus) und die Preiselbeere (Vaccinium vitis-idaea), in manchen Regionen aber auch Moosbeere (Vaccinium oxycoccos) und Rauschbeere (Vaccinium uliginosum) in der Natur gesammelt und gegessen. Die nordamerikanischen Wildformen dienten schon früher den nordamerikanischen Ureinwohnern, etwa im Gebiet des heutigen US-Bundesstaates Washington, als Nahrungsmittel. So fanden sich Trockenplätze, die nur durch rechteckige Vertiefungen erkennbar sind. Elf von ihnen konnten in der Indian Heaven Wilderness im Gifford Pinchot National Forest nachgewiesen werden. Kulturheidelbeeren (Kultur-Heidelbeeren, Strauch-Heidelbeeren), die heute in Plantagen angebaut werden, sind überwiegend Kreuzungen aus den in Nordamerika beheimateten Arten Vaccinium angustifolium und Vaccinium corymbosum sowie Kulturformen der Elternarten selbst, weiterer Hybride aus der Amerikanischen Heidelbeere (Vaccinium corymbosum) und anderen Vaccinium-Arten. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden 75 bis 100 neue Sorten kultiviert. Standorte Die Vaccinium-Arten wachsen meist auf nährstoffarmen und sauren Böden, vorwiegend in Heide- und Moorlandschaften oder in lichten Wäldern. In den Gebirgen sind sie in der subalpinen und alpinen Höhenstufe anzutreffen. Systematik und Verbreitung Die Erstveröffentlichung der Gattung Vaccinium erfolgte 1753 durch Carl von Linné in Species Plantarum, 1, S. 349–352. Typusart ist Vaccinium uliginosum Der botanische Gattungsname Vaccinium geht möglicherweise auf baccinium für Beerenstrauch und bácca für Beere zurück. Die Gattung Vaccinium gehört zur Tribus Vaccinieae in der Unterfamilie der Vaccinioideae innerhalb der Familie der Ericaceae. Synonyme für Vaccinium sind: Hornemannia , Hugeria , Neojunghuhnia , Oxycoccus , Rigiolepis Die Gattung Vaccinium umfasst unter anderem Preisel-, Heidel-, Rausch- und Moosbeeren. Die Gattung Vaccinium ist vorwiegend auf der Nordhalbkugel weitverbreitet. Im tropischen Asien, Zentral- und Südamerika ist sie auf die Hochgebirge beschränkt. Einige Arten finden sich in Afrika und auf Madagaskar. In der Volksrepublik China kommen 92 Arten vor, 51 davon nur dort. 25 Arten sind in Nordamerika beheimatet. Die Gattung Vaccinium wird in Untergattungen und Sektionen gegliedert. Sie umfasst je nach Auffassung verschiedener Bearbeiter zwischen etwa 450 und 500 Arten (Auswahl): Untergattung Oxycoccus: Sektion Oxycoccoides : Vaccinium erythrocarpum : Sie kommt mit Unterarten in den östlichen Vereinigten Staaten, in China, Japan, auf Cheju und Taiwan vor. Sektion Oxycoccus: Großfrüchtige Moosbeere (Vaccinium macrocarpon ) Kleinfrüchtige Moosbeere (Vaccinium microcarpum ) Gewöhnliche Moosbeere (Vaccinium oxycoccos ) Untergattung Vaccinium: Sektion Batodendron : Vaccinium arboreum : Sie kommt in den zentralen und in den östlichen Vereinigten Staaten vor. Sektion Brachyceratium: Vaccinium dependens : Sie kommt in Peru vor. Sektion Bracteata: Vaccinium acrobracteatum : Sie kommt in Irian Jaya und Papua-Neuguinea vor. Vaccinium barandanum : Sie kommt nur auf den philippinischen Inseln Luzon sowie Mindoro vor. Vaccinium bracteatum : Sie kommt in etwa drei Varietäten in Indonesien, Malaysia, in Indochina, China, Japan, Taiwan und im südlichen Korea vor. Vaccinium coriaceum : Dieser Endemit kommt nur in Sabah vor. Vaccinium cornigerum : Sie kommt in Neuguinea vor. Vaccinium cruentum : Sie kommt in Papua-Neuguinea vor. Vaccinium hooglandii : Sie kommt in Papua-Neuguinea vor. Vaccinium horizontale : Sie kommt in Papua-Neuguinea vor. Vaccinium laurifolium : Sie kommt auf Java, auf den Kleinen Sundainseln, Sumatra und in Sarawak vor. Vaccinium lucidum : Sie kommt auf Celebes, Java, den Kleinen Sundainseln sowie Sumatra vor. Vaccinium myrtoides : Sie kommt auf Celebes, den Molukken und auf den philippinisches Inseln Luzon, Mindanao sowie Mindoro vor. Vaccinium phillyreoides : Sie kommt nur in Kalimantan, Sabah sowie Sarawak vor. Vaccinium reticulatovenosum : Sie kommt in Papua-Neuguinea vor. Vaccinium sparsum : Sie kommt in Papua-Neuguinea vor. Vaccinium varingifolium : Sie kommt auf Java, auf den Kleinen Sundainseln, Sumatra und in Malaysia vor. Sektion Calcicolus : Vaccinium chunii : Sie kommt in Vietnam und in Hainan vor. Vaccinium dunalianum : Sie kommt in etwa vier Varietäten in Indien, Nepal, Bhutan, Myanmar, Vietnam, Taiwan und China vor. Vaccinium glaucoalbum : Sie kommt in Indien, Bhutan, Myanmar und in China vor. Vaccinium urceolatum : Sie kommt in Vietnam und in China vor. Sektion Ciliata: Vaccinium ciliatum : Sie kommt in Japan vor. Vaccinium oldhamii : Sie kommt in Japan, China und im südlichen Korea vor. Sektion Cinctosandra: Vaccinium exul : Sie kommt in Eswatini und in den südafrikanischen Provinzen Limpopo sowie Mpumalanga vor. Sektion Conchophyllum: Vaccinium corymbodendron : Sie kommt in Kolumbien, Peru, Guayana und in Venezuela vor. Vaccinium delavayi : Sie kommt in Myanmar, Tibet, Sichuan und in Yunnan vor. Vaccinium emarginatum : Sie kommt in Taiwan und auf den Ryūkyū-Inseln vor. Vaccinium griffithianum : Sie kommt in Indien vor. Vaccinium meridionale : Sie kommt in Kolumbien, Venezuela und auf Jamaika vor. Vaccinium moupinense : Sie kommt in Indien, Bhutan, Myanmar, Vietnam, Taiwan und in China vor. Vaccinium neilgherrense : Sie kommt in Indien vor. Vaccinium nummularia : Sie kommt in Indien, Nepal, Bhutan, Myanmar, Tibet und Yunnan vor. Vaccinium retusum : Sie kommt in Indien, Nepal, Bhutan, Myanmar, Tibet und Yunnan vor. Sektion Cyanococcus : Vaccinium angustifolium : Sie ist in Nordamerika verbreitet. Vaccinium boreale : Sie kommt im östlichen Kanada und in den nordöstlichen Vereinigten Staaten vor. Vaccinium caesariense : Sie kommt in den östlichen Vereinigten Staaten vor. Amerikanische Heidelbeere (Vaccinium corymbosum ): Sie ist ursprünglich in Kanada und in den Vereinigten Staaten weitverbreitet und ist in Japan, Neuseeland, Großbritannien und den Niederlanden ein Neophyt. Vaccinium darrowii : Sie kommt in den südöstlichen Vereinigten Staaten vor. Vaccinium elliottii : Sie kommt in Texas und in den südöstlichen Vereinigten Staaten vor. Vaccinium formosum : Sie kommt in den östlichen Vereinigten Staaten vor. Vaccinium fuscatum : Sie kommt in Kanada und in den Vereinigten Staaten vor. Vaccinium hirsutum : Sie kommt in den US-Bundesstaaten Georgia, North Carolina und Tennessee vor. Vaccinium myrsinites : Sie kommt in den US-Bundesstaaten Alabama, Florida, Georgia und South Carolina vor. Kanadische Blaubeere (Vaccinium myrtilloides ): Sie ist in Kanada und in den Vereinigten Staaten verbreitet. Vaccinium pallidum : Sie ist in Kanada und in den Vereinigten Staaten verbreitet. Vaccinium simulatum : Sie kommt in den südöstlichen Vereinigten Staaten vor. Vaccinium tenellum : Sie kommt in den südöstlichen Vereinigten Staaten vor. Vaccinium virgatum : Sie kommt in den Vereinigten Staaten vor. Sektion Eococcus: Vaccinium fragile : Sie kommt in Tibet und in den chinesischen Provinzen Guizhou, Sichuan, sowie Yunnan vor. Sektion Epigynium: Vaccinium vacciniaceum : Sie kommt in Indien, Bhutan, Nepal, Myanmar und in Tibet vor. Sektion Hemimyrtillus: Vaccinium arctostaphylos : Sie kommt in Bulgarien, in der Türkei, im Iran und im Kaukasusraum vor. Vaccinium cylindraceum : Dieser Endemit kommt nur auf den Azoren vor. Vaccinium hirtum (Syn.: Vaccinium koreanum ): Sie kommt in Japan und im südlichen Korea vor. Vaccinium padifolium : Dieser Endemit kommt nur auf Madeira vor. Vaccinium smallii : Sie kommt in Japan, in Korea, auf den Kurilen und auf Sachalin vor. Sektion Herpothamnus : Vaccinium crassifolium : Sie kommt in zwei Unterarten in den US-Bundesstaaten Georgia, North Carolina, South Carolina und Virginia vor. Sektion Myrtillus : Vaccinium calycinum : Sie kommt auf Hawaii vor. Vaccinium cespitosum : Sie ist von Kanada über die Vereinigten Staaten und Mexiko bis Guatemala weitverbreitet. Vaccinium deliciosum : Sie kommt in British Columbia und in den westlichen Vereinigten Staaten vor. Vaccinium dentatum : Sie kommt auf Hawaii vor. Vaccinium membranaceum : Sie ist in Kanada und in den Vereinigten Staaten verbreitet. Blaubeere, Heidelbeere (Vaccinium myrtillus ) Vaccinium ovalifolium : Sie kommt in den Vereinigten Staaten, in Kanada, Alaska, Japan und in Russlands Fernen Osten vor. Vaccinium parvifolium : Sie kommt in Alaska, in British Columbia und in den westlichen Vereinigten Staaten vor. Vaccinium praestans : Sie kommt in Japan und in Russlands Fernen Osten vor. Vaccinium reticulatum : Sie kommt auf Hawaii vor. Vaccinium scoparium : Sie kommt im westlichen Kanada und in den Vereinigten Staaten vor. Sektion Neurodesia: Vaccinium crenatum : Sie kommt in Kolumbien, Ecuador, Venezuela, Peru und Bolivien vor. Sektion Oarianthe: Vaccinium ambyandrum : Sie kommt in Indonesien und in Papua-Neuguinea vor. Vaccinium cyclopense : Sie kommt in Papua-Neuguinea vor. Sektion Pachyanthum: Vaccinium fissiflorum : Sie kommt in Papua-Neuguinea vor. Sie wird von manchen Autoren auch als Dimorphanthera fissiflora in die Gattung Dimophanthera gestellt. Sektion Polycodium : Vaccinium stamineum : Sie ist vom östlichen Kanada über die Vereinigten Staaten bis Mexiko verbreitet. Sektion Pyxothamnus: Vaccinium consanguineum : Sie kommt in Costa Rica und in Panama vor. Vaccinium floribundum : Sie kommt in Kolumbien, Venezuela, Ecuador, Peru und Bolivien vor. Vaccinium ovatum : Sie kommt in British Columbia und in den westlichen Vereinigten Staaten vor. Sektion Vaccinium: Rauschbeere, Trunkelbeere (Vaccinium uliginosum ) Sektion Vitis-Idaea : Preiselbeere, Kronsbeere (Vaccinium vitis-idaea ) Quellen S. P. Vander Kloet, T. A. Dickinson: A subgeneric classification of the genus Vaccinium and the metamorphosis of V. section Bracteata Nakai: more terrestrial and less epiphytic in habit, more continental and less insular in distribution. In: Journal of Plant Research. Volume 122, Issue 3, Mai 2009, S. 253–268. Fang Ruizheng (方瑞征), Peter F. Stevens: Gattung Vaccinium. S. 476–489 – textgleich online wie gedrucktes Werk. In: Wu Zheng-yi, Peter H. Raven, Deyuan Hong (Hrsg.): Flora of China. Volume 14: Apiaceae through Ericaceae. Science Press und Missouri Botanical Garden Press, Beijing / St. Louis 2005, ISBN 1-930723-41-5 (Abschnitte Beschreibung, Verbreitung und Systematik). Sam P. Vander Kloet: Vaccinium. S. 515 – textgleich online wie gedrucktes Werk. In: Flora of North America Editorial Committee (Hrsg.): Flora of North America North of Mexico. Volume 8: Magnoliophyta: Paeoniaceae to Ericaceae. Oxford University Press, New York / Oxford 2009, ISBN 978-0-19-534026-6 (Abschnitte Beschreibung, Verbreitung und Systematik). Einzelnachweise Weblinks
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heilige%20Schriften
Heilige Schriften
Als heilige Schriften bezeichnet die vergleichende Religionswissenschaft Texte, die für eine Religion normativ sind. In den unterschiedlichen Religionen gibt es auch ein je unterschiedliches Verständnis, was als normativer Text gilt. Ebenso ist die jeweilige Autorität eines Textes in den Religionen unterschiedlich. Religionen, die sich stark an Texten orientieren, nennt man auch Schrift- oder Buchreligionen. In schriftlosen Kulturen spielen kollektive Überlieferungen von Mythen als orale Texte die gleiche Rolle wie heilige Schriften (siehe auch: Ethnische Religion). Definition Merkmale heiliger Schriften, die vorliegen können, sind: Die Schrift gilt als normativ, d. h., Glaubensfragen, ethische Fragen oder rituelle Fragen werden durch Berufung auf die heilige Schrift entschieden, womit eine letztgültige Entscheidung vorliegt (siehe auch Dogma). Die Schrift wird wörtlich zitiert im Gottesdienst, im Kult oder Ritual und spielt dort eine zentrale oder grundlegende Rolle. Die heilige Schrift wird als zentrale Schrift, zentrale Referenz oder als Dokument der Religionsgründung angesehen. Es gibt eine Schriftauslegung und Interpretation, manchmal gibt es Richtungen und Schulen um verschiedene Möglichkeiten der Auslegung. Die Schrift ist mit dem Religionsstifter verbunden, oder dem Gott, bzw. den Gottheiten, die diese Schrift besonders inspiriert haben. Häufig gilt sie als wesentliches Dokument der Lehre des Religionsstifters oder als von Gottheiten offenbarte Schrift. Die Schrift bildet einen Kanon. Die Schriften sammeln als authentisch geltende Überlieferungen, Erzählungen, Offenbarungen, Liedgut, Ritualistik, Weisheitstexte. Häufig gelten die heiligen Schriften als das älteste Zeugnis einer Religionsgemeinschaft. Die heiligen Schriften spielen in der Frömmigkeit eine besondere Rolle, durch eine verehrende und liebende Lesung und Rezitation. Kunst, Ethik, Musik und Erzählungen einer Religion sind zentral von diesen Schriften inspiriert. Heilige Schriften werden oft als archetypisch präsent in einer himmlischen oder jenseitigen Welt angesehen, so gibt es auch häufig die Vorstellung, die Schrift habe schon vor ihrer weltlichen Niederschrift existiert und sei dann offenbart worden. Heilige Schriften werden von Religionsgemeinschaften oftmals von anderen religiösen Schriften unterschieden, sie haben dann einen höheren Wert als die übrige religiöse Literatur, auch im qualitativen Sinne. Für den Umgang mit heiligen Schriften gelten oft besonders respektvolle Regeln, so dass sich heilige Schriften von anderen Gegenständen der Buchkultur deutlich abheben. Heilige Schriften verschiedener Religionen Im Judentum steht der Begriff für Tanach und Talmud, im Christentum für die Bibel, die in Altes Testament und Neues Testament aufgeteilt wird, im Islam für den Koran und den Hadith, Liste: Heilige Bücher des Islam im Bahaitum sind es unter anderem das „Heiligste Buch“ sowie das „Das Buch der Gewissheit“ ebenso wie die Schriften vorangegangener Weltreligionen (siehe: Fortschreitende Offenbarung). Der Begriff „Heilige Schrift“ unterscheidet dort die Texte, die als Gottes Selbstmitteilung gelten oder diese enthalten, von ihrer menschlichen, mündlichen und schriftlichen Auslegung. Die Veden, die Bhagavadgita und die Puranas des Hinduismus sind, neben anderen Schriften des Hinduismus, heilige Schriften. Der Guru Granth Sahib (auch Adi Granth, „Ur-Buch“) ist das heilige Buch der Sikhs. Im Theravada-Buddhismus gilt der Pali-Kanon als heilige Schrift. Der Mahayana-Buddhismus hat hier keine zentrale Schrift, die für alle Richtungen gültig ist. Heilige Schriften bestimmter Schulen sind beispielsweise: Das Herz-Sutra, das Lotos-Sutra und Sutren des Amitabha-Buddhismus. Für den tibetischen Buddhismus gelten Kanjur und Tanjur, Sammlungen kanonischer Schriften, als heilige Schriften. Die Bön-Religion verfügt ebenfalls über Kanjur und Tanjur. Für den Daoismus gelten das Daodejing, Zhuangzi und der Daozang als heilige Schriften. Für den Konfuzianismus gelten die Fünf Klassiker und Vier Bücher als heilige Schriften. Für den Shintoismus gelten das Kojiki und das Nihongi als heilige Schriften. Für den Zoroastrismus/Parsismus gilt der Avesta als heilige Schrift. Für die Mormonen sind das Buch Mormon, die Bibel, Lehre und Bündnisse und die Köstliche Perle die heiligen Schriften im Schriftenkanon. Für Thelema gilt das Liber AL vel Legis als heilige Schrift. Für die Wicca-Religion gilt das selbst geschriebene, individuelle Buch der Schatten als heilige Schrift. Für Pastafari gilt das Evangelium des Fliegenden Spaghettimonsters als heilige Schrift. Ebenso gibt es in vielen anderen Religionen oder religiösen Bewegungen Schriften, die als heilig angesehen werden, z. B. bei den Jinas und den Drusen. Siehe auch Bibelkanon Literatur Udo Tworuschka (Hrsg.): Heilige Schriften. Eine Einführung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, ISBN 3-534-13594-6. Aktualisierte Neuauflage: Verlag der Weltreligionen, Frankfurt am Main 2008. Marco Frenschkowski: Heilige Schriften der Weltreligionen und religiösen Bewegungen. Marix Verlag, Wiesbaden 2007, ISBN 3-86539-915-0. Christoph Bultmann, Claus P. März, Vasilios N. Makrides (Hrsg.): Heilige Schriften. Aschendorff, Münster 2005, ISBN 978-3-402-03415-6. Günter Lanczkowski: Heilige Schriften. Inhalt, Textgestalt und Überlieferung. Urban-Bücher 22, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1956. Andreas Mauz: Machtworte. Studien zur Poetik des ‚heiligen Textes‘, Mohr Siebeck, Tübingen 2016 (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Bd. 70), ISBN 978-3-16-154193-3. Einzelnachweise Dokument Religiöse Literatur
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hofheim%20am%20Taunus
Hofheim am Taunus
Hofheim am Taunus ist die Kreisstadt des hessischen Main-Taunus-Kreises im Regierungsbezirk Darmstadt mit  Einwohnern (). Die Stadt liegt zentral im Rhein-Main-Gebiet zwischen der Landeshauptstadt Wiesbaden und Frankfurt am Main. Die Stadt wies im Jahr 2020 einen weit überdurchschnittlichen Kaufkraftindex von 135,4 des Bundesdurchschnitts auf und gehört damit zu den wohlhabendsten Kreisstädten Deutschlands. Geografie Geografische Lage Hofheim liegt im Vordertaunus in abwechslungsreicher Mittelgebirgslandschaft. Das Ortszentrum liegt auf , höchste Erhebung des Hofheimer Stadtgebiets ist der Berg Judenkopf mit . Die Gemeindegrenze verläuft im Westen großteils etwa entlang der Autobahn A 3 sowie im Süden nahe der A 66, im Osten neben der Bundesstraße 519. Im Norden reicht das Gemeindegebiet nahe an das Tal des Daisbachs heran, eines Zuflusses des Schwarzbachs. Letztgenannter verläuft auf Hofheimer Gemarkung durch das schmale Tal zwischen dem nach Süden abfallenden Judenkopf sowie dem parallelen Berggrat, der sich vom Staufen über Lorsbacher Kopf () und Kapellenberg () fortsetzt, ehe der Bach den Hofheimer Ortskern durchläuft. Nachbargemeinden Hofheim grenzt im Norden an die Städte Eppstein und Kelkheim (Taunus), im Osten an die kreisfreie Stadt Frankfurt am Main, die Gemeinde Kriftel und die Stadt Hattersheim am Main, im Süden an die Städte Flörsheim am Main und Hochheim am Main sowie im Westen an die kreisfreie Landeshauptstadt Wiesbaden. Gliederung Hofheim am Taunus besteht aus sieben Stadtteilen: Geschichte Vor- und Frühgeschichte Die bislang ältesten Spuren menschlichen Lebens aus dem Gebiet um Hofheim stammen aus der Altsteinzeit mit dem ältester Fund um 40.000 v. Chr. Aus der Jungsteinzeit ab ca. 5000 v. Chr. konnten Siedlungsgebiete an den Ufern des Schwarzbachs, beiderseits des heutigen Schmelzwegs und auf dem Kapellenberg nachgewiesen werden. Vor allem die Michelsberg-Kultur um 4400 bis 3500 v. Chr. zeigt sich durch zahlreiche Siedlungsspuren und Funde auf dem Kapellenberg (Ringwallanlage). Um 30/40 n. Chr. wurde das Gebiet von den Römern besiedelt, die hier u. a. zur Sicherung der Wetterau, zur Absicherung des Weges zwischen Mainz und Nida im heutigen Frankfurt-Heddernheim sowie zum Schutz des Limesdreiecks das Kastell Hofheim als zweiphasige Anlage bauten – zunächst ein Erd- und ab 75 n. Chr. unter Kaiser Vespasian auch ein Steinkastell, das bis 110 n. Chr. bestand. Mittelalter und Neuzeit Die erste urkundliche Erwähnung erfolgte im Jahre 1254 unter dem Namen Hoveheim, das Suffix -heim deutet jedoch auf eine weit frühere fränkische Gründung hin. Hofheim gehörte Graf Philipp VI. dem Älteren von Falkenstein, als Kaiser Karl IV. am 21. März 1352 Hofheim – unter dem Namen Hobeheim – die Stadtrechte verlieh. Diese Urkunde gab den Herren über Hofheim das Recht Mauern, Tore und Brücken zu bauen, einen Galgen zu errichten, Gericht zu halten, Handwerk zu betreiben und Markt abzuhalten. Im Reichskrieg gegen Philipp den Älteren von Falkenstein (Falkensteiner Fehde) wurde die Stadt 1366 von Kurmainz erobert, dem sie bis zum Jahre 1418 unterstand. Darauf folgte die Herrschaft der Grafen von Eppstein-Königstein bis zum Erlöschen des Geschlechts im Jahr 1535. Innerhalb des 16. Jahrhunderts wechselten nur zweimal die Besitzer. 1535 bis 1574 gehörte die Herrschaft Eppstein-Königstein dem Grafen Ludwig von Stolberg, der 1540 die Reformation in Hofheim einführte, und von 1574 bis 1581 Christoph von Stolberg. Doch bereits 1559 hatte Kurfürst und Erzbischof Daniel Brendel von Homburg eine alte Pfandschaft eingelöst und dadurch Eppstein und Hofheim zurückerhalten. Nach dem Tod von Christoph von Stolberg ging 1581 auch die restliche Grafschaft Königstein an Kurmainz. Unter der Regierung von Wolfgang von Dalberg, Erzbischof und Kurfürst von Mainz, und seinem Nachfolger Johann Adam von Bicken erreichten die Hexenprozesse in Kurmainz in der Zeit von 1588 bis 1602 in den beiden Ämtern Höchst und Hofheim ihren Höhepunkt. Aus den Resten alter Gerichtsprotokolle, den Aschaffenburger Archivresten konnten 23 Frauen ermittelt werden, die man der Hexerei anklagte, 15 von ihnen fanden den Tod auf dem Scheiterhaufen. Die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Hofheim am Taunus beschloss am 3. November 2010 eine Rehabilitierung der wegen Hexerei verurteilten Bürger. Noch bis zu Beginn des Jahres 1603 war der Protestantismus die vorherrschende Religion unter den Einwohnern trotz Zugehörigkeit der Stadt zu dem katholischen Kurmainz. Erst im Juni dieses Jahres wurde der evangelische Pastor durch einen katholischen Pfarrer ersetzt. Im Dreißigjährigen Krieg besetzten, plünderten und verwüsteten spanische, bayrische, schwedische und französische Truppen die Stadt und die heutigen Stadtteile. Einwohner wurden gefoltert, damit sie die Verstecke von Vieh, Pferden und Hausrat preisgaben. Neben Hungersnöten brachen immer wieder Epidemien aus und 1635 verbreitete sich die Pest in der Region. In Hofheim sank die Zahl der Männer (Bürger) 1635 von 76 und 13 Witwen innerhalb von vier Jahren auf 27 Personen (keine Unterteilung in Männer und Witwen). Am Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 zählte man schließlich 40 Männer und 4 Witwen. Kinder, Frauen und Beisassen sind bei Zählungen prinzipiell nicht erfasst worden. Ab 1665 wütete die Pest im Mainz und Frankfurt sowie in der Region des heutigen Main-Taunus-Kreises. Im darauffolgenden Jahr war Hofheim immer noch pestfrei und am 3. Juli 1666 führte Pfarrer Gleidener die Einwohner in einer Prozession auf den „Rabberg“ (heute Kapellenberg), um ein Gelübde abzulegen: Wenn die Stadt von der Pest verschont bliebe, sollte zu Ehren der Heiligen Jungfrau Maria an dieser Stelle eine Kapelle errichtet werden. Die Kapelle wurde 1667 errichtet und 1774 durch einen Nachfolgebau ersetzt. Mit dem Beginn der Französischen Revolution 1789 endete für Hofheim eine 26-jährige Friedensperiode. Die Bevölkerung war zu einem bescheidenen Wohlstand gekommen und auf Tausend Einwohner angewachsen. Mit der Besetzung der Stadt Mainz durch französische Revolutionstruppen und schließlich der Stadt Frankfurt 1792 begann für die Hofheimer ein jahrelanger Leidensprozess. Wechselnde Truppendurchmärsche und Einquartierungen brachten Plünderungen, Hungersnöte und Epidemien. Im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 fiel Hofheim an das Fürstentum Nassau-Usingen. 1806 erfolgte die Vereinigung mit dem Fürstentum Nassau-Weilburg. Gemeinsam bildeten sie das Herzogtum Nassau. 1866 wurde dieses von Preußen annektiert und existierte fortan als Provinz Hessen-Nassau. Nachdem Hofheim lange Zeit verkehrsmäßig im Abseits gelegen war, wurde die Stadt von 1874 bis 1877 mit dem Bau der Main-Lahn-Bahn zwischen Frankfurt und Limburg an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Ein erneuter wirtschaftlicher Aufschwung begann. Auch für die Taunus-Touristen aus Frankfurt war Hofheim durch die Bahnverbindung interessant geworden. 20./21. Jahrhundert Der Erste Weltkrieg 1914–1918 forderte seine Opfer: 121 Männer fielen bei Kriegshandlungen. Zahlreiche Einwohner, vor allem Kinder, starben an den Folgen der Unterernährung. Nach dem Waffenstillstandsvertrag vom 11. November 1918 folgte bereits ab dem 2. Dezember eine Besetzung Hofheims durch französische Truppen, die bis 1929 (offiziell bis 1930) andauerte (→ Alliierte Rheinlandbesetzung). Hofheim lag innerhalb des Dreißig-Kilometer-Radius um Mainz, der von deutschen Soldaten – gemäß den Forderungen der Sieger – befreit sein musste. In diesen Zonen lagen die Städte Köln und Koblenz, das Gebiet rechts des Rheins und die Stadt Kehl (letztere mit kleinerem Radius). 1933 erfolgte auch in Hofheim die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Bei der Reichstagswahl am 5. März stimmten in Hofheim 36,91 Prozent der Einwohner für die NSDAP. Bei den Kommunalwahlen am 12. März 1933 erreichte diese 6 von 12 Sitzen. Die weiteren Sitze entfielen auf die SPD (3) und die Zentrumspartei (3). Am 22. Juni wurde die SPD verboten, die Zentrumspartei löste sich unter massivem Druck am 5. Juli auf. Somit war die NSDAP die einzig verbliebene Partei im Hofheimer Stadtparlament und ab 24. Juli sowieso per Gesetz die einzig zugelassene Partei im Deutschen Reich. Bis zum 11. April 1933 waren im Main-Taunus-Kreis in 13 Gemeinden die bisherigen Bürgermeister durch NSDAP-Angehörige ersetzt worden. Seit 1920 übte Oskar Meyrer das Bürgermeisteramt in Hofheim aus und sollte es bis zu seinem Tod am 1. August 1942 behalten. Danach wurde die Stelle nicht wieder besetzt, sondern durch den Ortsgruppenleiter Georg Kaufmann vertretungsweise weiter ausgeübt. Bereits mit der Machtübernahme begannen Diskriminierung und Verfolgung von Kommunisten, Sozialdemokraten, Mitgliedern der Bekennenden Kirche und vor allem von jüdischen Einwohnern. Seit dem Mittelalter hatte es eine jüdische Gemeinde gegeben. Um 1800 war von den Mitgliedern eine Synagoge im ehemaligen Wehrturm/Büttelturm eingerichtet worden. 1933 umfasste die Gemeinde etwa 35 Mitglieder. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 (Reichspogromnacht) wurde diese Synagoge verwüstet. Aufgrund der engen Bebauung in der Altstadt hatte man auf das Anzünden verzichtet. Ein ähnliches Schicksal widerfuhr der Synagoge in Wallau (seit 1977 ein Stadtteil von Hofheim). Durch Emigration ins Ausland konnten sich nur einige Einwohner retten, die anderen wurden deportiert und wurden in Konzentrationslagern ermordet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam Hofheim an das neu gegründete Land Hessen. Zum 1. Januar 1980 wurde Hofheim im Taunus neue Kreisstadt des Main-Taunus-Kreises, der endgültige Umzug erfolgte allerdings erst im Jahre 1987 mit der Fertigstellung des neuen Kreishauses in Hofheim, zuvor befand sich der Verwaltungssitz im Frankfurter Stadtteil Höchst, der bis zur Eingemeindung nach Frankfurt im Jahre 1928 als selbständige Stadt Höchst am Main Teil des Kreises war. Im Jahre 1988 war die Stadt Hofheim 28. Hessentagsstadt. In den Jahren 2008 bis 2014 wurden in Hofheim und den Stadtteilen Marxheim, Diedenbergen, Wallau und Langenhain durch den Künstler Gunter Demnig 89 Stolpersteine für Opfer des Nationalsozialismus verlegt. Eingemeindungen Im Jahre 1938 wurde Marxheim eingemeindet. Im Zuge der Gebietsreform in Hessen folgte auf freiwilliger Basis die Eingliederung weiterer bis dahin selbständiger Gemeinden: am 31. Dezember 1971 Langenhain, am 1. April 1972 Diedenbergen und am 1. Juli 1972 Lorsbach. Kraft Landesgesetz folgten am 1. Januar 1977 Wallau und Wildsachsen. Für alle Stadtteile und die Kernstadt wurden Ortsbezirke mit Ortsbeirat und Ortsvorsteher nach der Hessischen Gemeindeordnung gebildet. Verwaltungsgeschichte im Überblick Die folgende Liste zeigt die Staaten und deren nachgeordnete Verwaltungseinheiten, denen Hofheim angehörte: 1400: Heiliges Römisches Reich, Kurmainz, Amt Hofheim 1668: Heiliges Römisches Reich, Kurmainz, Amt und Kellerei Hofheim ab 1781: Heiliges Römisches Reich, Kurmainz, Oberamt Höchst und Königstein, Amtsvogtei Hofheim ab 1806: Herzogtum Nassau, Amt Höchst ab 1849: Herzogtum Nassau, Kreisamt Höchst ab 1854: Herzogtum Nassau, Amt Höchst ab 1867: Königreich Preußen, Provinz Hessen-Nassau, Regierungsbezirk Wiesbaden, Mainkreis ab 1886: Königreich Preußen, Provinz Hessen-Nassau, Regierungsbezirk Wiesbaden, Kreis Wiesbaden ab 1871: Deutsches Reich, Königreich Preußen, Provinz Hessen-Nassau, Regierungsbezirk Wiesbaden, Kreis Wiesbaden ab 1919: Deutsches Reich, Hilfskreis Wiesbaden in der französischen Besatzungszone ab 1928: Deutsches Reich, Freistaat Preußen, Provinz Hessen-Nassau, Regierungsbezirk Wiesbaden, Main-Taunus-Kreis ab 1944: Deutsches Reich, Freistaat Preußen, Provinz Nassau, Main-Taunus-Kreis ab 1945: Amerikanische Besatzungszone, Groß-Hessen, Regierungsbezirk Wiesbaden, Main-Taunus-Kreis ab 1946: Amerikanische Besatzungszone, Hessen, Regierungsbezirk Wiesbaden, Main-Taunus-Kreis ab 1949: Bundesrepublik Deutschland, Hessen, Regierungsbezirk Wiesbaden, Main-Taunus-Kreis ab 1968: Bundesrepublik Deutschland, Hessen, Regierungsbezirk Darmstadt, Main-Taunus-Kreis Bevölkerung Einwohnerstruktur 2011 Nach den Erhebungen des Zensus 2011 lebten am Stichtag dem 9. Mai 2011 in Hofheim am Taunus 37842 Einwohner. Nach dem Lebensalter waren 6885 Einwohner unter 18 Jahren, 15.999 zwischen 18 und 49, 7602 zwischen 50 und 64 und 7356 Einwohner waren älter. Unter den Einwohnern waren 3414 (9,0 %) Ausländer, von denen 1509 aus dem EU-Ausland, 1073 aus anderen Europäischen Ländern und 830 aus anderen Staaten kamen. Von den deutschen Einwohnern hatten 6,9 % einen Migrationshintergrund. (Bis zum Jahr 2020 erhöhte sich die Ausländerquote auf 13,1 %.) Die Einwohner lebten in 1733 Haushalten. Davon waren 5577 Singlehaushalte, 5118 Paare ohne Kinder und 4677 Paare mit Kindern, sowie 1422 Alleinerziehende und 342 Wohngemeinschaften. In 3702 Haushalten lebten ausschließlich Senioren und in 11.892 Haushaltungen lebten keine Senioren. Einwohnerentwicklung Religionszugehörigkeit Politik Stadtverordnetenversammlung Die Kommunalwahl am 14. März 2021 lieferte folgendes Ergebnis, in Vergleich gesetzt zu früheren Kommunalwahlen: Bürgermeister Nach der hessischen Kommunalverfassung wird der Bürgermeister für eine sechsjährige Amtszeit gewählt, seit 1993 in einer Direktwahl, und ist Vorsitzender des Magistrats, dem in der Stadt Hofheim am Taunus neben dem Bürgermeister der hauptamtliche Erste Stadtrat, ein weiterer hauptamtlicher Stadtrat sowie zwölf ehrenamtliche Stadträte angehören. Bürgermeister ist seit dem 13. September 2019 Christian Vogt (CDU). Er wurde als Nachfolger von Gisela Stang, die nach drei Amtszeiten nicht mehr kandidiert hatte, am 7. April 2019 in einer Stichwahl bei 42,9 Prozent Wahlbeteiligung mit 58,3 Prozent der Stimmen gewählt. Amtszeiten der Bürgermeister 2019–2025 Christian Vogt (CDU) 2001–2019 Gisela Stang (SPD) 1995–2001 Rolf Felix (CDU) Wappen Blasonierung: Geteilt und unten von Blau und rot gespalten; oben in Schwarz der wachsende, golden nimbierte hl. Petrus mit silbernem Ober- und blauen Untergewand, in der Rechten ein goldenes Buch, in der Linken ein goldener Schlüssel; unten vorne ein rot bewehrter goldener Löwe zwischen goldenen Schindeln, hinten ein sechsspeichiges silbernes Rad. Das Wappen ist seit 1907 amtlich gebilligt und wurde 1920 offiziell verliehen. Es entspricht älteren Gerichtssiegeln, deren ältestes nach der Stadtrechtsverleihung von 1352 datiert. Als seinerzeitige zeitweilige Ortsherren werden Mainz mit dem Mainzer Rad und Erzbischof Gerlach als Graf aus dem Haus Nassau mit dem Löwen repräsentiert. Städtepartnerschaften Chinon, Frankreich, seit 1967 Tiverton, England, seit 1980 Buccino, Italien, seit 2008 Pruszcz Gdański, Polen, seit 2012 Kultur und Sehenswürdigkeiten Bauwerke Altes Rathaus von 1529 Stadtmauer und Untertor Wasserschloss Hofheim (Kellereiplatz) Kellereigebäude von 1720 Hexenturm Stadtmuseum Hofheim am Taunus (Burgstraße 11) Blaues Haus, Kapellenstraße 11, Arbeitsdomizil vieler namhafter Künstler Altstadt mit vielen Fachwerk-Häusern Historische Keller in der Altstadt, teilweise aus der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg kath. Kirche St. Peter und Paul von 1642 ev. Johanneskirche, 1900 von Architekt Ludwig Hofmann Ringwall Kapellenberg Meisterturm von 1928 (auf dem Kapellenberg) Cohausen-Tempel von 1910 Maria auf dem Berg: Wallfahrtskapelle von 1772 Bahai-Tempel von 1964 im Stadtteil Langenhain, seit 1987 hessisches Kulturdenkmal, der einzige Tempel der Bahai in Europa Wandersmann-Denkmal im Stadtteil Wallau Sternwarte Hofheim (Eppsteiner Straße im Stadtteil Langenhain) Sport- und Vereinsleben Die SG Wallau/Massenheim war ein Handball-Sportverein, welcher im Hofheimer Ortsteil Wallau ansässig war. Die Spielvereinigung war lange Zeit in der Handball-Bundesliga vertreten. Mittlerweile spielt das Team als HSG Breckenheim Wallau/Massenheim in der Bezirksliga. Der Schachverein 1920 Hofheim hat eine 28-jährige Bundesligatradition und spielt mit seiner ersten Mannschaft in der Saison 2017/18 in der 1. Bundesliga. Die Frauenmannschaft spielt ebenfalls seit 1999 ununterbrochen in der Bundesliga, in der Saison 2017/18 sogar in der 1. Frauen-Bundesliga. Motorsport wird in Hofheim seit 1958 durch den MSC Diedenbergen betrieben. Die Speedwaymannschaft war mehrmals Deutscher Meister und brachte aus ihren Reihen mehrere Europameister und Weltmeister hervor, so zum Beispiel Gerd Riss und Egon Müller. Die Basketball-Damenmannschaft des TV Hofheim spielte bis 2008 in der 2. Bundesliga Süd. Seit der Saison 2008/09 tritt die erste Mannschaft gemeinsam mit dem TV Langen in einer Spielgemeinschaft, den Rhein-Main Baskets, an. Dieser glückte gleich im ersten Spieljahr der Aufstieg in die 1. Damen-Basketball-Bundesliga. Die Tischtennisabteilung der SG Wildsachsen spielt in der Saison 2009/2010 mit drei Herrenmannschaften in der Verbandsliga, Kreisliga und Kreisklasse. Der Blasmusik in traditioneller, moderner und konzertanter Form wird seit 1962 beim Musikzug Wallau gefrönt. Seit 1966 besteht der Kunstverein Hofheim. Im Jahre 1984 wurde der Hofheimer Fastnachtszug e.V. als eigenständiger Verein aus der KG1900 ausgegründet. Die Aufgabe des Vereins ist die Ausrichtung des Fastnachtsumzuges in der Stadt Hofheim, der im zweijährigen Rhythmus stattfindet. Regelmäßige Veranstaltungen Das traditionell jährlich am 1. Mai stattfindende Radrennen Rund um den Finanzplatz Eschborn-Frankfurt führte sehr häufig durch Hofheim. Im Mai/Juni finden die Internationalen Musiktage Hessen Main-Taunus Hofheim statt und ziehen internationale Gäste an. Daneben wird der künstlerische Wettbewerb um den von Alois Kottmann gestifteten Alois-Kottmann-Preis durchgeführt. Jeden Sommer finden in der Innenstadt der Kreisstadtsommer, der Kreisstadtlauf, das Sommerscheinfestival und im Stadtteil Langenhain das Bahai-Sommerfest statt. Seit 1996 findet jeweils zum Ende der Sommerferien das Sommerschein-Festival auf dem Areal des Sportpark Heide im Stadtteil Marxheim statt. Im September findet jedes Jahr die Baumesse Hofheim unter dem Motto „Bauen Wohnen Renovieren Energiesparen“ im Messecenter Rhein-Main statt. Der Hofheimer Gallusmarkt, ein Krammarkt mit Vergnügungsbereich, findet jedes Jahr im Oktober nach dem Gallustag statt. Wirtschaft und Infrastruktur Im Jahr 2020 verfügte die Stadt Hofheim am Taunus über einen weit überdurchschnittlichen Kaufkraftindex von 135,4 des Bundesdurchschnitts. Wirtschaftsstruktur Wirtschaftliche Schwerpunkte Hofheims sind die Gewerbegebiete Hofheim-Wallau und Hofheim-Nord. Einige in der Stadt ansässige Betriebe haben herausragende Bedeutung: IKEA Deutschland in Hofheim-Wallau (Deutschlandzentrale) Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) Polar-Mohr, Maschinenbauunternehmen für Druckverarbeitungsgeräte das Kreiskrankenhaus als Teil der Kliniken des Main-Taunus-Kreises Einzelhandel Aufgrund seiner Lage mitten im Rhein-Main-Gebiet und der hervorragenden Verkehrsanbindung spielt Hofheim selbst keine große Rolle im Einzelhandel. Auf Hofheimer Gemarkung befindet sich in Wallau das Einrichtungshaus IKEA. Seit Herbst 2010 wird die Einzelhandelslandschaft der Hofheimer Innenstadt durch die überdachte Einkaufspassage Chinon-Center, mit ca. 20 Einzelhandelsgeschäften und einem Kino auf drei Etagen erweitert. Verkehr Hofheim mit seinen Stadtteilen liegt entlang der Autobahn A 66 und ist über fünf Auffahrten erschlossen. Außerdem liegen die Ortsteile Diedenbergen, Wallau und Wildsachsen noch an der A 3 zwischen Köln und Würzburg. Für den öffentlichen Personennahverkehr bestehen an den beiden Bahnhöfen Hofheim (Taunus) und Lorsbach an der Main-Lahn-Bahn eine direkte S-Bahn-Anbindung (Linie S2) in Richtung Niedernhausen sowie über Frankfurt am Main nach Dietzenbach. Ebenfalls hält die Regionalbahn RB 22 und der Regional-Express RE 20 auf der Linie Limburg an der Lahn–Frankfurt am Main am Hofheimer Bahnhof. Somit sind in den Hauptverkehrszeiten sieben Fahrten pro Stunde und Richtung zwischen Hofheim und Frankfurt möglich. Die Stadtteile von Hofheim sowie die angrenzenden Gemeinden sind durch zahlreiche Omnibusverbindungen und das Anrufsammeltaxi erreichbar. Nach 19 Uhr, Sa. ab 15 Uhr und So. ab 10 Uhr verkehren innerhalb der Gemeinde die per App bestellbaren On-Demand-Shuttle Colibri bis in die Nacht. Auch in die Landeshauptstadt Wiesbaden bestehen zwei direkte (X26 und 262), tagsüber zusammen dreimal pro Stunde verkehrende Omnibusverbindungen. Zum Flughafen Frankfurt fährt halbstündlich der X17. Das Gemeindegebiet wird darüber hinaus durch die Tunnel Wandersmann Nord und Wandersmann Süd der Schnellfahrstrecke Köln–Rhein/Main unterquert. Bildung In Hofheim gibt es eine Vielzahl von Grund- sowie weiterführenden Schulen: Marxheimer Schule (Grundschule, Marxheim) Lorsbacher Schule (Grundschule, Lorsbach) Pestalozzischule (Grundschule) Philipp-Keim-Schule (Grundschule, Diedenbergen) Steinbergschule (Grundschule) Taunusblickschule (Grundschule, Wallau) Wilhelm-Busch-Schule (Grundschule, Langenhain) Heiligenstockschule (Grundschule mit Förderstufe) Montessori-Zentrum Hofheim (private Grundschule, sowie private integrierte Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe inklusive des Montessori-Nestes für Altersgruppen von 11 Monaten bis 3 Jahren) Gesamtschule Am Rosenberg (kooperative Gesamtschule mit Ganztagsschule) Friedrich-von-Bodelschwingh-Schule (Schule für Sonderpädagogik) Elisabethenschule (private Realschule) Brühlwiesenschule (berufliche Schule; berufliches Gymnasium, Fachoberschule, Berufsfachschule) Main-Taunus-Schule (Gymnasium) Neben den oben aufgeführten Bildungseinrichtungen beherbergt die Kreisstadt Hofheim am Taunus eine Volkshochschule, eine Stadtbücherei und ein Stadtmuseum. Persönlichkeiten Söhne und Töchter der Stadt Anna Glitzen (* um 1541, † unbekannt) aus Hofheim, Schwiegermutter des Pfarrers aus Weilbach, wurde 1601 wegen angeblicher Hexerei angeklagt, im Hexenturm in Hofheim inhaftiert und mehrfach gefoltert, aber sie gestand nicht. Schließlich wurde sie aus der Haft entlassen. Matthäus Heilmann (1744–1817), kurmainzischer Orgel- und Instrumentenbauer Joseph Weiler (1791–1867), Mitglied des Nassauischen Lndtags Adam Faust (1840–1908), Landwirt und Abgeordneter des Provinziallandtages der Provinz Hessen-Nassau Adolf Messer (1878–1954), Erfinder und Industrieller Hermann Gerhard Krupp (* 1926 in Hofheim, † 2019), Kunstmaler, Pianist, Komponist und Galerist Berthold Faust (1935–2016), wissenschaftlicher Tierillustrator und Autor Wolfgang Kaus (1935–2018), Regisseur und Schauspieler Hans-Albert Walter (1935–2016), Literaturwissenschaftler Ursula Summ (* 1947), Autorin Hans Georg Faust (* 1948), Politiker (CDU), Mitglied des Deutschen Bundestages (1998–2009) Alexander Steinmann, Maschinenbauingenieur und Professor Bernd Wolf (1953–2010), Maler Annette Mehlhorn (* 1958), Theologin, Hochschuldozentin und Theaterpädagogin Michael Hasel (* 1959), Flötist und Dirigent Monika Böhm (* 1960), Rechtswissenschaftlerin, Hochschullehrerin Jürgen Hardt (* 1963), Politiker (CDU), Mitglied des Deutschen Bundestages Constanze Wagner (* 1963), Leichtathletin Ruth Ziesak (* 1963), Sängerin (Sopran) Markolf Niemz (* 1964), Biophysiker und Autor Martin Kowalewski (* 1970), Fußballspieler und Sportfunktionär Oli Bott (* 1974), Jazz-Vibraphonist, -Orchesterleiter und -Komponist Persönlichkeiten mit Bezug zu Hofheim Philipp Keim (1804–1884) aus Hofheim-Diedenbergen, nassauischer Dichter und Zeitungssänger Elisabeth Winterhalter (1856–1952), erste deutsche Chirurgin Ottilie Roederstein (1859–1937), Malerin Richard Zorn (1860–1945), Heimatforscher und Pomologe Sophie Reinheimer (1874–1935), Kinder- und Jugendliteraturschriftstellerin Paul Bekker (1882–1937), Dirigent, Intendant und einflussreicher Musikkritiker Ludwig Meidner (1884–1966), expressionistischer Maler und Dichter, lebte von 1953 bis 1963 in Marxheim Anton Flettner (1885–1961), Erfinder, Lehrer an der Lorsbacher Schule von 1909 bis 1913 Hanna Bekker vom Rath (1893–1983), Mäzenin, Sammlerin, Kunsthändlerin Heinrich Weiss (1893–1966), Landtagsabgeordneter der SPD von 1946 bis 1966, Mitglied der Verfassungsberatenden Landesversammlung, mehrmaliges Mitglied der Bundesversammlung und Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes Siegfried Shalom Sebba (1897–1975), Maler und Bildhauer, lebte von 1968 bis 1975 in Hofheim am Taunus Ernst Wilhelm Nay (1902–1968), deutscher Maler und Grafiker der klassischen Moderne, lebte von 1945 bis 1952 in Hofheim am Taunus Hanns Großmann (1912–1999), deutscher Jurist, 1963 Ankläger im 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess Marta Hoepffner (1912–2000), Fotokünstlerin und Namensgeberin des Marta Hoepffner Preises für Fotografie Reinhard Dachlauer (1922–1995), Bildhauer und bedeutender Tierplastiker, verbrachte Kindheit und Jugend in Hofheim am Taunus Hermann Haindl (1927–2013), Künstler Ev Grüger (1928–2017), deutsche Künstlerin Karl Malkmus (1929–1997), Künstler, Maler Alois Kottmann (1929–2021), Geiger, Musikpädagoge, Mäzen Ingrid Hornef (* 1940), Bildhauerin, Installationskünstlerin, Kuratorin und Malerin Manfred Schell (* 1943), 1989 bis Mai 2008 Bundesvorsitzender der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) Thilo Götze Regenbogen (1949–2015), Künstler Oskar Mahler (* 1952) Künstler und Schauspieler, verbrachte Jugend in Hofheim, leitete drei Jahre die Jugendgruppe des Kunstvereins Hofheim e.V. Dirk Metz (* 1957), Staatssekretär a. D. und ehemaliger Sprecher der Hessischen Landesregierung Axel Wintermeyer (* 1960), Landtagsabgeordneter (CDU), Staatsminister Christian Schneider (* 1962), Musiker, Arrangeur, Komponist und Musikproduzent Nele Neuhaus (* 1967 in Münster), Schriftstellerin, deren Krimis vorwiegend im Taunus spielen Alexander Schur (* 1971), Fußballspieler (Eintracht Frankfurt) Anna Lührmann (* 1983), Politikerin (Grüne), Bundestagsabgeordnete Maurice Wiese (* 1995 in Diedenbergen), erster Slackline-Weltmeister Schultheißen 1325: M. Seelig 1369: Schultheiß Hug 1387–1389: Ulyn, HStAW 106–127 1401: Henne Hademar 1401–1412: Emmerich Gerume, HStAW 106–169 1432: Alban von Riffersberg 1433–1435: Schmidt (Peder Smydt) 1436: Heinrich Wolff (henne) 1438: Ludeshen 1440: Heinrich Wolff 1444: Heinrich Hoxstaid 1451: Herman Pastor 1451 – 1453: Herman Snyder, Hofh. Gerichtsbuch II. S. 237 … 1456 – 1460: Peder Kaldebach, Hofh. Gerichtsbuch II. S. 263 … 1463 – 1477: Matthias Heyer, Hofh. Gerichtsbuch II. S. 350 … 1479 – 1489: Herman Spar 1489 – 1491: Hen Pieffer 1528 – 1541: Philipp Spar 1560 – 1608: Hieronymus Mergeler, HStAW 106–455 1610 – 1656: Hans Caspar Mergeler, HStAW 106–471 1657 – 1685: Johann Traudt (Trauth), † 8. Oktober 1691 1685 – 1695: Andreas Weppener, † 18. April 1719 1696 – 1723: Martin Kirsten, † auswärts um 1725 1723–1731: Andreas Ixstatt, † 24. März 1731 1732–1782: Anselm Franz Aull, † 24. August 1782 1783–1802: Andreas Weigand, † 17. Juni 1804 1804–1807: Nikolaus Westenberger, † 16. Februar 1809 1807–1809: Leonhard Kunz, † 4. Oktober 1809 1812–1813: Johann Kunz, † 9. Februar 1813 1813–1815: Baltharsar Filzinger, † 8. Mai 1826 1817–1831: Johann Seelig, † 18. Mai 1861 1832–1835: Stadtverwalter Everhardi 1836–1848: Heinrich Josef Wohmann, † 1. Mai 1856 1848–1868: Valerius Wollstadt, † 8. Juni 1870 Bürgermeister 1868–1884: Johann Josef Kling, † 14. Dezember 1884 1885–1891: Johann Baptist Hohfeld, † 10. April 1899 1892–1919: Heinrich Heß, † 9. Dezember 1935 1919–1920: Martin Wohmann, stellv. Bürgermeister 1920–1942: Oskar Meyrer, † 1. August 1942 1942 – März 1945: Georg Kaufmann, stellv. Bürgermeister April 1945 – Mai 1945: Willi Oberst, kommissar. Bürgermeister Mai 1945 – Juni 1948: Eduard Schullenberg 1948–1950: Ernst Nilges, suspendiert am 5. Oktober 1950 1950–1953: Jos. Landler + Ad. Stang, stellv. Bürgermeister (Beigeordnete) 1. September 1953 – 30. April 1973: Werner Schwichtenberg 1. Mai 1973 – 3. Juli 1989: Friedrich Flaccus, † 31. Juli 2013 13. September 1989 – 12. September 2001: Rolf Felix, † 20. August 2013 13. September 2001 – 12. September 2019: Gisela Stang seit 13. September 2019: Christian Vogt Weblinks Webauftritt der Stadt Hofheim am Taunus Einzelnachweise Ort im Main-Taunus-Kreis Kreisstadt in Hessen Stadtrechtsverleihung 1352 Ersterwähnung 1263
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hochheim%20am%20Main
Hochheim am Main
Hochheim am Main ist eine Stadt mit  Einwohnern () im südhessischen Main-Taunus-Kreis und liegt zentral im Rhein-Main-Gebiet zwischen Frankfurt am Main und Mainz. Hochheim gehörte zunächst zum Mainkreis und später zum Landkreis Wiesbaden. Bei dessen Auflösung im Jahr 1928 wurde die Stadt dem Main-Taunus-Kreis zugeordnet. Geografie Geografische Lage Die Stadt Hochheim liegt etwa 35 Meter über der Untermainebene auf einer Geländestufe am Südrand des Main-Taunus-Vorlandes. Der Südhang dieser sich auf etwa fünf Kilometer Länge erstreckenden Geländestufe besteht, teilweise bis dicht ans Mainufer, aus Weinbergen. Von den Weinbergen und vom südlichen Stadtrand gibt es eine Fernsicht bis Darmstadt, zur Neunkircher Höhe im Odenwald, zu der markanten Spitze des Melibokus an der Bergstraße in 38 Kilometern Entfernung und schließlich bis Oppenheim in Rheinhessen. Die Stadtsilhouette ist aus südlicher Richtung weit sichtbar. In unmittelbarer Nähe befinden sich die Großstädte Frankfurt am Main, Wiesbaden und Mainz. Nachbargemeinden Hochheim grenzt im Norden an Hofheim am Taunus, im Osten an Flörsheim am Main, im Süden, getrennt durch den Main, an Rüsselsheim am Main, Bischofsheim und Ginsheim-Gustavsburg (alle drei Kreis Groß-Gerau) sowie im Westen an die Ortsbezirke Mainz-Kostheim und Delkenheim der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden. Stadtgliederung Hochheim besteht aus der Kernstadt Hochheim, der um den Bahnhof am Mainufer angesiedelten Südstadt, die durch Weinberge von der Hochheimer Altstadt getrennt ist, und dem 1977 eingemeindeten Stadtteil Massenheim mit ungefähr 2000 Einwohnern. Seit dieser Zeit gehört auch das Wiesbadener Kreuz zum Hochheimer Stadtgebiet. Geschichte In Hochheim wurde ein keltisches Fürstengrab gefunden. Zur Römerzeit war das Gebiet bereits dicht besiedelt und der Weinbau wurde eingeführt. Der Name Hochheim geht auf die im 4. und 5. Jahrhundert dort siedelnden Alemannen zurück, auf die die Franken folgten. Mittelalter Hochheim wurde 754 während des Todeszugs von Bonifatius erstmals schriftlich erwähnt. Massenheim wurde erstmals 819 als Geschenk an das Kloster Fulda erwähnt. 1273 wurde das Dorf Hochheim vom Kölner Domkapitel an das Mainzer Domkapitel verkauft. Im Jahr 1484 verlieh Kaiser Friedrich III. das Recht, jährlich zwei Märkte abzuhalten. 19. und 20. Jahrhundert Mit dem Reichsdeputationshauptschluss fiel Hochheim 1803 an das Fürstentum Nassau-Usingen, das 1806 mit dem Fürstentum Nassau-Weilburg zum Herzogtum Nassau vereinigt wurde. Am 9. und 10. November 1813 fanden am Hochheimer Kippel die letzten Kämpfe der napoleonischen Truppen vor ihrem Rückzug aus Deutschland statt. Bei diesem Gefecht bei Hochheim wurden 1800 Opfer auf französischer Seite und mehr als 200 auf der Seite der Alliierten beklagt. Eine Gedenkausstellung war im Rathaus der Stadt Hofheim am Taunus im April und Mai 2014 zu sehen. Ab April 1817 war Hochheim Sitz eines herzoglich-nassauischen Amtes, und seit 1820 wird der Ort als Stadt geführt, ohne dass sich die Verleihung der Stadtrechte urkundlich nachweisen lässt. Nach der Annexion des Herzogtums Nassau durch Preußen im Jahr 1866 kam Hochheim zur preußischen Provinz Hessen-Nassau. Die bisherigen nassauischen Ämter wurden zu Landkreisen zusammengefasst; Hochheim gehörte zunächst zum Mainkreis und später zum Landkreis Wiesbaden. Bei dessen Auflösung im Jahr 1928 wurde die Stadt dem Main-Taunus-Kreis zugeordnet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Hochheim mit der ehemaligen preußischen Provinz Nassau Teil des neu gegründeten Landes Hessen. Im Zuge der Gebietsreform in Hessen wurde die bis dahin selbständige Gemeinde Massenheim am 1. Januar 1977 kraft Landesgesetz in die Stadt Hochheim eingegliedert. Für den Ortsteil Massenheim wurde ein Ortsbezirk mit Ortsbeirat und Ortsvorsteher nach der Hessischen Gemeindeordnung eingerichtet. Bevölkerung Einwohnerstruktur 2011 Nach den Erhebungen des Zensus 2011 lebten am Stichtag, den 9. Mai 2011, in Hochheim 16.886 Einwohner. Darunter waren 1131 (6,7 %) Ausländer, von denen 459 aus dem EU-Ausland, 325 aus anderen Europäischen Ländern und 320 aus anderen Staaten kamen. Von den deutschen Einwohnern hatten 25,7 % einen Migrationshintergrund. (Bis zum Jahr 2019 erhöhte sich die Ausländerquote auf 10,7 %.) Nach dem Lebensalter waren 2673 Einwohner unter 18 Jahren, 6972 zwischen 18 und 49, 3567 zwischen 50 und 64 und 3675 Einwohner waren älter. Die Einwohner lebten in 7623 Haushalten. Davon waren 2541 Singlehaushalte, 2352 Paare ohne Kinder und 2076 Paare mit Kindern, sowie 528 Alleinerziehende und 129 Wohngemeinschaften. In 1821 Haushalten lebten ausschließlich Senioren/-innen und in 5055 Haushaltungen leben keine Senioren/-innen. Einwohnerentwicklung Religionszugehörigkeit Politik Wappen und Flagge Die Stadt Hochheim am Main führt ein Wappen und eine Flagge. Beschreibung des Banners: „Die Farben der Stadt sind weiß-blau-rot. Das Banner ist weiß-blau-rot gespalten mit dem aufgelegten Wappen oberhalb der Mitte.“ Stadtverordnetenversammlung Die Kommunalwahl am 14. März 2021 lieferte folgendes Ergebnis, in Vergleich gesetzt zu früheren Kommunalwahlen: Bürgermeister Nach der hessischen Kommunalverfassung wird der Bürgermeister für eine sechsjährige Amtszeit gewählt, seit 1993 in einer Direktwahl, und ist Vorsitzender des Magistrats, dem in der Stadt Hochheim neben dem Bürgermeister der Erste Stadtrat sowie acht weitere ehrenamtliche Stadträte angehören. Bürgermeister ist seit 1. Oktober 2014 Dirk Westedt. Er hatte sich als unabhängiger Kandidat – obgleich FDP-Mitglied – am 25. Mai 2014 in einer Stichwahl bei 51,7 Prozent Wahlbeteiligung mit 59,6 Prozent der Stimmen durchgesetzt. Seine zwölf Jahre lang amtierende Amtsvorgängerin Angelika Munck (FWG) hatte nicht mehr kandidiert. Bei der Wahl am 14. März 2021 wurde Westedt gegen Jan Herfort (SPD) mit 54,2 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Seine Amtszeit endet wegen der durch Corona bedingten Verschiebung des Wahltermins am 11. Mai 2027. Bisherige Bürgermeister 2014–2027 Dirk Westedt 2002–2014 Angelika Munck (FWG) 1990–2002 Harald Schindler (SPD) 1984–1990 Volker Zintel (CDU) 1974–1984 Gottfried Gensch (CDU) 1954–1974 Aloys Schnorr (SPD) 1948–1954 Peter Ohlig Städtepartnerschaften Hochheim unterhält seit 1987 eine Partnerschaft mit der im Département Vaucluse in der Nähe von Avignon gelegenen Stadt Le Pontet sowie seit 2022 mit der tschechischen Stadt Mikulov. an der Grenze zu Österreich. Weiterhin bestehen Städtefreundschaften mit der ungarischen Stadt Bonyhád im Komitat Tolna (seit 1997, hat auch einen hessischen Löwen im Wappen) und der thüringischen Stadt Kölleda. Kultur und Sehenswürdigkeiten Bauwerke und Anlagen In Hochheim und Massenheim wurden 185 kulturhistorische Objekte unter Denkmalschutz gestellt. Dazu gehören als Gesamtanlagen die Altstadt von Hochheim und der Dorfkern von Massenheim mit vielen restaurierten Fachwerkhäusern. Für den ungestörten Blick auf die Gesamtanlage Hochheim gelten die zum Main nach Süden abfallenden Weinberge als schützenswerter Grünbereich. Seit der Niederlegung der Stadtmauer zu Beginn des 19. Jahrhunderts blieb die Ansicht von Süden unverändert. Die Stadt wuchs seitdem nur nach Norden, Osten und Westen. Blickfang in der südlichen Stadtsilhouette ist die Kirche St. Peter und Paul, eine im Stil des Barock gehaltene Kirche mit Fresken des 1725 in Söflingen (Ulm) geborenen deutschen Barockmalers Johann Baptist Enderle. Im Jahr 2005 wurde die 1999 begonnene Restaurierung der Fresken beendet. Museen und Kunst In der Altstadt befinden sich das Weinbaumuseum und das Otto-Schwabe-Heimatmuseum. Galerieflächen sind in der Hochheimer Kunstsammlung, eine Ausstellungsfläche ist im Treppenhaus des Hochheimer Rathauses. Regionalpark Rhein-Main Als Teil des Regionalparks Rhein-Main steht nördlich von Hochheim im Gebiet des Kiesgrubengeländes „Silbersee“ die 2001 eingeweihte hölzerne Aussichtskanzel Vogelnest. Über 40 Stufen einer stählernen Wendeltreppe gelangt man zur 7,5 m hohen Aussichtsplattform, die einen guten Rundumblick in die Umgebung bietet. Ca. 600 m östlich des 10 m hohen Aussichtsturms befindet sich in Sichtweite der Spielpark Hochheim mit einer 15 m hohen „Tunnelrutsche“, dem 13 m hohen „Tarzanschwinger“ sowie weiteren Attraktionen. Wirtschaft und Infrastruktur Weinbau Der Wirtschaftszweig, dem die Stadt ihre Bekanntheit in erster Linie verdankt, ist der Weinbau. Der Name der Stadt ist seit einem Besuch der britischen Königin Viktoria im Jahr 1845 im englischsprachigen Raum als Hock zum Synonym für Rheinwein im Allgemeinen und für Wein aus dem Rheingau im Besonderen geworden. Der Überlieferung nach soll sich wegen des guten Geschmacks der Hochheimer Weine und ihrer nahrhaften Eignung am britischen Hof das Sprichwort etabliert haben: „A good Hock keeps off the doc!“ Sinngemäß: Ein guter Hochheimer ersetzt jeden Arzt, oder hält den Arzt fern. Mit 241 ha Rebfläche gehört Hochheim zu den großen Weinbaugemeinden im Rheingau. Die Hochheimer Gemarkung bildet das Kernstück der Großlage Daubhaus. Die namhaftesten Lagen sind die unterhalb der Altstadt gelegenen Lagen Domdechaney und Kirchenstück sowie der kleine Königin-Viktoria-Berg, der östlich der Stadt oberhalb der Bahnlinie inmitten der Hölle gelegen ist, dort wo das in neugotischem Stil errichtete Königin-Viktoria-Denkmal an den Besuch der Queen in Hochheim erinnert. Weitere Lagen sind Berg, Herrnberg, Hofmeister, Reichestal, Stein und Stielweg. Hinzu kommt die Lage Schlossgarten in der Gemarkung Massenheim. 80 % der Rebfläche sind mit Rieslingreben bestockt, 15 % entfallen auf Spätburgunder und 5 % auf Kerner, Müller-Thurgau und andere Rebsorten. Das Domdechant Werner’sche Weingut erinnert an die Verbindung zum Mainzer Klerus. Hochheim war im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch ein wichtiges Zentrum der Sektproduktion. So wurde 1837 hier die rheinische Sektkellerei Burgeff, bekannt unter der Marke Mumm, gegründet, die sich heute im Besitz der Rotkäppchen-Mumm Sektkellereien befindet. 1877 kam das Sekthaus Carl Graeger hinzu. Jährlich steht die Stadt Anfang November im Zeichen des Hochheimer Marktes, eines der größten Herbstmärkte in Deutschland. Er wird seit 1484 abgehalten und ist für ein Wochenende von Freitag bis Dienstag mit einer Mischung aus Kram-, Vergnügungs- und Viehmarkt Anziehungspunkt von fast einer halben Million Besucher. Am ersten Juliwochenende findet ein Weinfest in Hochheim statt, das über hunderttausend Besucher anlockt. Unternehmen Die wirtschaftliche Struktur der Stadt Hochheim war seit dem Zweiten Weltkrieg einem steten Wandel unterworfen. Das international bekannteste hier ansässige Unternehmen ist Tetra Pak, das hier seit 1965 den Sitz seiner Deutschland-Zentrale hat. Verkehr Am westlichen Stadtrand verläuft die Bundesautobahn 671 mit den Anschlussstellen Hochheim Süd und Hochheim Nord. Durch die Stadt führt die Bundesstraße 40 nach Mainz im Westen und Flörsheim im Osten. Nach Flörsheim und Wiesbaden-Delkenheim führt außerdem die Landesstraße 3028. Die Stadt liegt innerhalb des Rhein-Main-Verkehrsverbundes an der Taunus-Eisenbahn. Am Bahnhof Hochheim (Main) halten Züge der Linie S1 der S-Bahn Rhein-Main zwischen Rödermark-Ober-Roden, Frankfurt am Main und Wiesbaden. Seit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2018 halten hier stündlich auch die Regional-Express-Linien RE 4 und RE 14 zwischen Frankfurt Hbf und Mainz. Im Zweistundentakt fährt die Linie RE 14 weiter in Richtung Mannheim Hauptbahnhof über Worms und Frankenthal. Der Bahnsteig der Gleise 2 und 3, an dem Züge Richtung Frankfurt beginnen oder halten und aus der Gegenrichtung enden, ist nicht barrierefrei. Hochheim ist Teil des Pilotgebietes im Regionalpark Rhein-Main mit mehreren ausgebauten und geplanten Radwanderwegen, von denen folgende durch die Stadt bzw. am Mainufer entlangführen: Der Hessische Radfernweg R3 (Rhein-Main-Kinzig-Radweg) führt unter dem Motto Auf den Spuren des Spätlesereiters entlang von Rhein, Main und Kinzig über Fulda nach Tann in der Rhön. Auf dem Teilstück bis Eltville und Hochheim am Main führt der R3 über die Rheingauer Riesling Route. Der Main-Radweg führt von den Quellen des Weißen und Roten Mains bis nach Mainz zur Mündung in den Rhein. Die D-Route 5 (Saar-Mosel-Main) von Saarbrücken über Trier, Koblenz, Mainz, Frankfurt am Main, Würzburg und Bayreuth bis zur tschechischen Grenze (1021 km). Die Bus-Linie 68, die von Hochheim bis Budenheim über Mainz fährt. Persönlichkeiten Folgende Personen wurden in Hochheim geboren, wirkten aber hauptsächlich andernorts: Nikolaus Schmölder (1798–1872), Kaufmann und Mitglied des Nassauischen Landtags Johannes Selenka (1801–1871), Buchbinder und Wegbereiter der Handwerkerbewegung in Braunschweig Ignaz Schweickardt (1811–1858), Küfer und Gründer einer Sektkellerei Sigmund Aschrott (1826–1915), Kaufmann, Industrieller und Immobilienunternehmer in Kassel Wilhelm Cuntz (1849–1909), Mediziner Ferdinand Raab (1878–1954), Manager in der Braunkohlenindustrie Alois Eckert (1890–1969), Pfarrer, Geistlicher Rat, Apostolischer Protonator, Stadtpfarrer von Frankfurt 1950–1965 Erich-Hans Kaden (1898–1973), Rechtsgelehrter Diether Hummel (1908–1989), Sektproduzent und Verbandspräsident Valentin Petry (1928–2016), Radsportler Rolf Selzer (* 1942), Politiker (SPD) Enno Siehr (* 1947), Politiker (SPD); 1992–2010 Landrat des Kreises Groß-Gerau Rudolf J. Kaltenbach (* 1956), Bildhauer Manfred Freisler (* 1957), ehemaliger Handballspieler; 1978 Weltmeister Andreas Kammerbauer (* 1961), hessischer Politiker (Grüne) Bettina Mantel (* 1966), ehemalige Frauenfußballspielerin, Deutsche Meisterin und Deutsche Pokalsiegerin (FSV Frankfurt) Kerstin Merkel (* 1962), Kunsthistorikerin und Hochschullehrerin Weitere Persönlichkeiten, die in Hochheim gelebt und gewirkt haben: Georg Hofmann (1798–1853), Kaufmann, Gutsbesitzer und Ratsherr in Hochheim Franz Crass (1928–2012), Opernsänger; lebte bis kurz vor seinem Tod in Hochheim am Main, starb in Rüsselsheim Waldemar Wolf (1929–2001), hessischer Politiker (SPD); Stadtverordneter, Fraktionsvorsitzender und ehrenamtlicher Stadtrat in Hochheim Hermann Joseph Hummel (1834–1921), deutscher Fabrikant, Kommerzienrat und Verbandsfunktionär, Ehrenbürger von Hochheim Literatur digitalisierter Hochheimer Stadtanzeiger 1911–1932 Weblinks Webpräsenz der Stadt Hochheim am Main Einzelnachweise Ort im Main-Taunus-Kreis Rheingau Weinort in Hessen Ort am Main Stadt in Hessen
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Hochtaunuskreis
Der Hochtaunuskreis ist eine Gebietskörperschaft mit Einwohnern () im Regierungsbezirk Darmstadt in Hessen. Der Landkreis liegt in der Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main und ist Teil der Stadtregion Frankfurt. Kreisstadt und zugleich bevölkerungsreichste Stadt ist Bad Homburg v. d. Höhe. Bekannt ist der Hochtaunuskreis für seine als allgemein wohlhabend geltende Bevölkerung. Der Hochtaunuskreis weist für das Jahr 2021 den dritthöchsten Kaufkraftindex aller deutschen Land- und Stadtkreise auf. 2020 betrug der Kaufkraftindex 142,6 des Bundesdurchschnitts. Die Städte Königstein im Taunus (203,8) und Kronberg im Taunus (181,4) weisen die höchsten Pro-Kopf-Einkommen im Hochtaunuskreis auf und nehmen mit einigen benachbarten Gemeinden des Main-Taunus-Kreises bundesweit Spitzenplätze ein. Kommunen Der Hochtaunuskreis umfasst dreizehn Kommunen, von denen acht einen Status als Stadt sowie fünf einen als Gemeinde haben. Kreisstadt und zugleich bevölkerungsreichste Stadt ist Bad Homburg v. d. Höhe, die zudem eine Sonderstatusstadt ist. Manche Städte führen amtliche Namenszusätze wie „(Taunus)“, „im Taunus“ bzw. „v. d. Höhe“ und sind offizielle Bestandteile des jeweiligen Stadtnamens. Die Gemeinde Neu-Anspach wurde aufgrund des Erreichens der Einwohnerzahl von 15.000 per 31. Oktober 2007 zur Stadt erhoben. Geographie Lage Der Hochtaunuskreis liegt nördlich von Frankfurt am Main großteils im Mittelgebirge Taunus. Dessen 20 höchste Gipfel liegen sämtlich im Kreisgebiet. Die „Taunusrandstädte“ Bad Homburg, Oberursel, Friedrichsdorf, Kronberg, Königstein und Steinbach im Süden sind bereits Teil der Stadtregion Frankfurt, die in die Oberrheinische Tiefebene und im Osten in die Wetterau übergeht. Die höchste Erhebung ist der Große Feldberg (), die tiefste Stelle des Kreises befindet sich bei Ober-Erlenbach, einem Stadtteil von Bad Homburg (). Der Schmittener Ortsteil Oberreifenberg ist mit durchschnittlich in der Ortslage das höchstgelegene Dorf im Taunus und eines der höchstgelegenen Dörfer in Hessen. Der Hochtaunuskreis wird unterteilt in Vorder- und Hintertaunus, wobei der Vordertaunus der Frankfurt zugewandten Seite entspricht (vor der Höhe) und der Hintertaunus, welcher gerne als Frankfurter Naherholungsgebiet genutzt wird, sich auf der anderen Seite des Taunushauptkamms befindet. Nachbarkreise Der Landkreis grenzt, im Nordwesten beginnend im Uhrzeigersinn, an den Landkreis Limburg-Weilburg, den Lahn-Dill-Kreis und den Wetteraukreis, an die kreisfreie Stadt Frankfurt am Main sowie an den Main-Taunus-Kreis und den Rheingau-Taunus-Kreis. Geschichte Das heutige Kreisgebiet gehörte im Mittelalter zu verschiedenen Herrschaften, zu Kurmainz, den Herren von Cronberg oder zu Eppstein. Anfang des 19. Jahrhunderts gehörte der südliche Teil zur Landgrafschaft Hessen-Homburg, der nördliche Teil zum Fürstentum, später Herzogtum Nassau. Nach dem Deutschen Krieg und der preußischen Annexion im Jahr 1866 entstanden aus Hessen-Homburg und den nassauischen Ämtern Königstein und Usingen der Obertaunuskreis mit Sitz in Bad Homburg. Gemäß der Kreisordnung vom 1. April 1886 wurde ein Teil mit 46 Gemeinden nördlich des Gebirgskammes in einem neuen Landkreis Usingen organisiert. Im Obertaunuskreis verblieben 34 Gemeinden mit einer Fläche von 22.454 Hektar. Im Jahr 1919 wurde der französisch besetzte Teil des Obertaunuskreises – das ehemals nassauische „Amt Königstein“ – abgetrennt und als Kreis Königstein eingerichtet. Erst am 1. Oktober 1928 – nach dem Abzug der französischen Besatzungstruppen – kehrte er zum Obertaunuskreis zurück. Aufgrund der preußischen Sparverordnungen wurde am 1. August 1932 der Kreis Usingen aufgelöst. Teile des Kreises fielen an die benachbarten Landkreise Wetzlar, Oberlahn und Untertaunus, der Löwenanteil jedoch an den Obertaunuskreis. Schon ein Jahr später, am 1. Oktober 1933 wurde auf Betreiben der örtlichen Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) der Landkreis Usingen wiederhergestellt. Im Zuge der Gebietsreform in Hessen wurde am 1. August 1972 der Hochtaunuskreis gebildet. Zu dem neuen Kreis traten der Obertaunuskreis bis auf die Gemeinde Kalbach, die zur Stadt Frankfurt kam der Landkreis Usingen bis auf die Gemeinden Niederems, Reichenbach, Steinfischbach und Wüstems, die zur Gemeinde Waldems im Untertaunuskreis kamen die Gemeinden Ober-Erlenbach, Ober-Eschbach und Burgholzhausen vor der Höhe aus dem Landkreis Friedberg die Gemeinden Glashütten, Reifenberg und Schloßborn aus dem Main-Taunus-Kreis sowie die Gemeinde Hasselbach aus dem Landkreis Limburg. Gleichzeitig wurde am 1. August 1972 durch eine Reihe von Zusammenschlüssen die bis heute bestehende Gliederung in 13 Gemeinden geschaffen. Als Sitz der Kreisverwaltung und damit als Kreisstadt wurde die Stadt Bad Homburg benannt. Im Dezember 1991 wurde der Hochtaunus bundesweit durch eine Korruptionsaffäre bekannt. Im Februar 2004 thematisierte der damalige Landrat Jürgen Banzer (CDU) einen möglichen Zusammenschluss des Hochtaunuskreises mit dem benachbarten und ähnlich strukturierten Main-Taunus-Kreis. Mit einer Zusammenlegung beider Landkreise könnten Einsparungen von 18 bis 20 Millionen Euro jährlich erzielt werden. Einwohnerentwicklung Konfessionsstatistik Laut Zensus 2011 überwiegen im Ballungsraum Rhein-Main sowie Kassel die Zugehörigkeiten zu Religionsgemeinschaften jenseits der großen christlichen Kirchen. Nach den Ergebnissen des Zensus am 9. Mai 2011 waren von den Einwohnern 32 Prozent evangelisch, 26 Prozent römisch-katholisch und 42 Prozent waren konfessionslos, gehörten einer anderen Religionsgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Die Zahl der Protestanten und Katholiken ist seitdem gesunken, dabei sind die Rückgänge bei den Protestanten massiver als bei den Katholiken. Politik Kreistag Landrat Nach der hessischen Kommunalverfassung wird der Landrat für eine sechsjährige Amtszeit gewählt, seit 1993 in einer Direktwahl, und ist Vorsitzender des Kreisausschusses, dem im Hochtaunuskreis neben dem Landrat der hauptamtliche Erste Kreisbeigeordnete, ein weiterer hauptamtlicher Kreisbeigeordneter sowie zwölf ehrenamtliche Kreisbeigeordnete angehören. Landrat ist seit 9. Mai 2006 Ulrich Krebs (CDU), der am 26. März 2006 mit 56,5 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang gewählt wurde. Er ist Nachfolger von Jürgen Banzer (CDU), der am 23. November 2005 als Minister der Justiz in die Hessische Landesregierung berufen worden war. Krebs wurde am 23. Januar 2012 und am 28. Januar 2018 für zwei weitere Amtszeiten bis 2024 wiedergewählt. Als Erster Kreisbeigeordneter und damit als Stellvertreter des Landrats fungiert Thorsten Schorr (CDU). Partnerschaften Der Hochtaunuskreis ist im Jahr 1986 eine Partnerschaft mit dem israelischen Regionalverband Gilboa eingegangen. Wappen, Flagge und Banner Der Entwurf stammt von dem Heraldiker Heinz Ritt. Wirtschaft und Infrastruktur Die Kreisstadt Bad Homburg ist ein international bekannter Kurort. In Bad Homburg haben sich mit Fresenius Medical Care und Fresenius SE & Co. KGaA zwei DAX-Unternehmen angesiedelt. Als weitere bekannte Unternehmen mit Sitz im Hochtaunuskreis sind die Alte Leipziger Versicherung sowie die Avis Autovermietung zu nennen. Auch haben im Hochtaunuskreis die Gillette Group (mit Braun und Oral-B), Jaguar Deutschland, Fidelity Investments Deutschland, Accenture Deutschland (alle in Kronberg) und die Canton Elektronik (in Weilrod) ihre Hauptsitze. Der Hochtaunuskreis verzeichnete im Jahr 2020 mit 142,6 des Bundesdurchschnitts (100) den dritthöchsten Kaufkraftindex aller deutschen Land- und Stadtkreise. 2020 betrug das durchschnittlich zur freien Verfügung stehende Einkommen aller Einwohner des Landkreises 7,888 Milliarden Euro. Bemerkenswert ist, dass zwölf der dreizehn Kommunen im Hochtaunuskreis einen weit überdurchschnittlich hohen Kaufkraftindex aufweisen; lediglich die Gemeinde Grävenwiesbach (98,9) weist einen leicht unterdurchschnittlichen Kaufkraftindex auf. Viele Wohlhabende (wie Banker aus dem benachbarten Frankfurt) sind in und um Bad Homburg wohnhaft. Das gesamte Kreisgebiet weist sehr hohe Bodenpreise auf und zeichnet sich durch ein allgemein sehr hohes Mietniveau aus. Im sogenannten „Zukunftsatlas“ 2016 belegte der Hochtaunuskreis Platz 15 von 402 Landkreisen, Kommunalverbänden und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Regionen mit „sehr hohen Zukunftschancen“. Verkehr Schiene Das Gebiet des heutigen Hochtaunuskreises liegt abseits der großen Achsen des Fernbahnnetzes, die von Frankfurt ausgehen. Der Südhang des Taunusgebirges, dessen Städte und Dörfer als Bäder und Kurorte sowie als bevorzugte Wohngebiete schon vor einhundert Jahren ebenso beliebt waren wie heute, wurde daher von Frankfurt aus durch mehrere Bahngesellschaften mit oft nur kurzen Stichbahnen erschlossen. Die Homburger Eisenbahn-Gesellschaft eröffnete ihre Strecke am 10. September 1860, die in Frankfurt vom Main-Weser-Bahnhof ausging. Obwohl sie den kurhessischen Ort Bockenheim umfuhr, brauchte sie für ihre Trasse über Rödelheim–Oberursel nach Homburg, der damaligen Residenz einer kleinen Landgrafschaft und heutigen Kreisstadt des Hochtaunuskreises, die Konzession von vier souveränen Staaten. In Rödelheim zweigte ab 1. November 1874 eine Stichstrecke der Cronberger Eisenbahn-Gesellschaft zu dem malerischen Taunusstädtchen Kronberg ab. Dessen Nachbarstadt Königstein wurde ab 24. Februar 1902 durch die Kleinbahn Höchst–Königstein erschlossen, die heute ein Teil der Hessischen Landesbahn (HLB) ist. Inzwischen beginnen die Züge aller drei Bahnen am Hauptbahnhof im Zentrum Frankfurts. Zusätzlich verband ab Mai 1910 die Frankfurter Lokalbahn Bad Homburg und Oberursel-Hohemark durch zwei elektrische Vorortbahnen mit der Großstadt, die heute Teil des Frankfurter U-Bahn-Netzes sind. Schon seit 1899 gab es in Homburg eine elektrische Straßenbahn, die bis 1935 auch eine Linie zum Römerkastell Saalburg betrieb. Das strahlenförmig von Frankfurt ausgehende Schienennetz im Vordertaunus wurde bis 1912 durch Vollendung der Bahnstrecke Friedrichsdorf–Albshausen über den Taunushauptkamm hinaus verlängert und mit der Lahntalbahn verbunden. Von Friedrichsdorf gibt es seit dem 15. Juli 1901 eine Verbindung zur Main-Weser-Bahn nach Friedberg (Hessen) (Bahnstrecke Friedberg–Friedrichsdorf), die im Zuge der Bäderbahn Berlin–Bad Nauheim–Bad Homburg–Wiesbaden jahrelang auch von Schnellzügen befahren wurde. Dem öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) auf der Schiene dienen heute die S-Bahn-Linien S4 (Frankfurt–Kronberg) und S5 (Frankfurt–Bad Homburg–Friedrichsdorf), sowie die von der Hessischen Landesbahn GmbH betriebenen Strecken Frankfurt–Königstein (Königsteiner Bahn, RMV-Linie 12) und Bad Homburg–Usingen–Grävenwiesbach–Brandoberndorf (RMV-Linie 15). Als RMV-Linie 16 wird die Bahnstrecke Friedberg–Friedrichsdorf betrieben. An das Frankfurter U-Bahn-Netz angeschlossen sind die Städte Bad Homburg (Linie U2, Endstation Bad Homburg-Gonzenheim) und Oberursel (Linie U3, Oberursel-Hohemark). Als Verkehrsverband Hochtaunus (VHT) wurde 1988 ein Zweckverband vom Hochtaunuskreis und allen seinen Städten und Gemeinden gegründet. Der Verband hat die 28,8 Kilometer lange Bundesbahnstrecke Friedrichsdorf–Usingen–Grävenwiesbach zum Kaufpreis von 2,8 Millionen Deutsche Mark erworben, um sie vor der Stilllegung zu bewahren. Alle Linien des öffentlichen Verkehrs sind seit 1995 in den Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) eingegliedert. Zu den Schienenbaumaßnahmen gehören die in Bau befindliche Regionaltangente West (RTW) sowie eine in Prüfung befindliche Verlängerung der Taunusbahn auf dem Streckenabschnitt Brandoberndorf–Albshausen (Lahn-Dill-Kreis). Straßen Durch das Kreisgebiet führen die Bundesautobahnen 5 (Frankfurt–Hattenbacher Dreieck) und 661 (Darmstadt–Oberursel). Ferner erschließen mehrere Bundesstraßen und Kreisstraßen (siehe Liste) das Gebiet, darunter die Bundesstraßen 275, 455 und 456. Die Ferienstraße Hochtaunusstraße verbindet – zwischen Bad Homburg und Bad Camberg – die Sehenswürdigkeiten für Touristen. Der Taunushauptkamm verläuft quer durch den Kreis und wird von verschiedenen Pässen überwunden, siehe Pässe im Taunus. Kreiseigene Unternehmen Der Hochtaunuskreis betreibt mit den Hochtaunus-Kliniken Krankenhäuser in Bad Homburg und Usingen. Zusätzlich ist er Eigentümer der Taunus Menü Service GmbH mit Sitz in Neu-Anspach, diese beliefert Kliniken, die Oberurseler Werkstätten und einen Teil der Schulen des Hochtaunuskreises mit Gerichten, welche im Koch-und-Kühl-Verfahren zubereitet und schockgefrostet werden. Gemeinsam mit dem Main-Taunus-Kreis ist der Hochtaunuskreis Träger der Taunus Sparkasse. Ebenfalls mit dem Main-Taunus-Kreis ist der Hochtaunuskreis Anteilseigner der Rhein-Main Deponie GmbH (RMD) (jeweils 50 Prozent). Wesentliche Anteile hält der Kreis an den Zweckverbänden des Naturparks Taunus und Verkehrsverband Hochtaunus (VHT). Als Eigenbetrieb werden die Oberurseler Werkstätten für behinderte Menschen geführt. An weiteren Unternehmen wie der Nassauischen Sparkasse, der Süwag und der Nassauischen Heimstätte hält der Kreis Anteile. Kfz-Kennzeichen Am 1. August 1972 wurde dem Landkreis das seit dem 1. Juli 1956 für den Obertaunuskreis gültige Unterscheidungszeichen HG zugewiesen. Es wird von der Kreisstadt Bad Homburg vor der Höhe abgeleitet und wird durchgängig bis heute ausgegeben. Im Rahmen der Kennzeichenliberalisierung ist seit dem 2. Januar 2013 zudem das Unterscheidungszeichen USI (Usingen) erhältlich. Sonstiges Bedeutende regionale Zeitungen sind die Taunus-Zeitung (ein Kopfblatt der Frankfurter Neue Presse) sowie der Usinger Anzeiger, der vorrangig im Hintertaunus vertreten ist. Die Frankfurter Rundschau erscheint in einer Taunus-Ausgabe, die sich dem Geschehen im Kreis widmet. Siehe auch Liste der Naturschutzgebiete im Hochtaunuskreis Liste der Schulen im Hochtaunuskreis Weblinks Webpräsenz des Hochtaunuskreises Einzelnachweise Gegründet 1972
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Hygiene
Hygiene (über altgriechisch ὑγίεια hygíeia, „Gesundheit“, von hygieinḗ [téchnē], „der Gesundheit dienende [Kunst]“) ist zum einen die Lehre von der Gesunderhaltung des Einzelnen und der Allgemeinheit (genannt auch Gesundheitslehre) und zum anderen die Gesamtheit der Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens sowie zur Vermeidung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten und Epidemien (genannt auch Gesundheitsfürsorge). Maßnahmen der Hygiene oder der Gesundheitspflege sollen Krankheiten verhüten sowie die Gesundheit erhalten und festigen. Umgangssprachlich verstehen wir darunter vor allem das Sauberhalten von etwas, die Körperhygiene und den Infektionsschutz, wie er zum Beispiel in Gesundheitseinrichtungen durch Maßnahmen der Basishygiene erzielt wird. Definitionen und Aspekte der Hygiene Hygiene im weiteren Sinne ist die „Gesamtheit aller Bestrebungen und Maßnahmen zur Verhütung von Krankheiten und Gesundheitsschäden“. In diesem Sinne umfasst der Begriff der Hygiene verschiedene Bereiche, die sich zum Teil überschneiden, so Aspekte des Infektionsschutzes (wie zum Beispiel die Lebensmittelsicherheit, Wasserhygiene – insbesondere Trinkwasserhygiene und Abwasserbeseitigung), der Abfallentsorgung, der Umwelthygiene (wie Vermeidung von Umweltgiften in der Luft und im Boden), Arbeitsschutz, Bau- und Wohnhygiene sowie Sozialhygiene (als „Soziale Hygiene“ 1882 von Max Pettenkofer im Sinn der öffentlichen Gesundheitsfürsorge geprägter Begriff) und Psychohygiene. Nach Max Rubner (1911) bedeutet Hygiene „die bewusste Vermeidung aller der Gesundheit drohenden Gefahren und die Betätigung gesundheitsmehrender Handlungen“. Auch gemäß Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezieht sich Hygiene auf Bedingungen und Handlungen, die dazu dienen, die Gesundheit zu erhalten und die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern. Medizinische Hygiene umfasst zahlreiche spezifische Präventionsmaßnahmen, die dem Infektionsschutz und damit dem Erhalt der Gesundheit dienen. So z. B. die klinische Hygiene, Reinhaltung der Umwelt, Sterilisation von Geräten, Trinkwasser- und Badegewässerkontrolle sowie sichere Entsorgung von medizinischem Abfall. Die Deutsche Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie reduziert den Begriff auf „Erkennung, Behandlung und Prävention von Infektionskrankheiten.“ Das Fachgebiet Hygiene stellt die „Lehre von der Verhütung von Krankheiten und der Erhaltung, Förderung und Festigung der Gesundheit“ dar. Hygienefachpersonen werden allgemein als Hygieniker bezeichnet; in Deutschland bestehen Weiterbildungen zum Hygienebeauftragten und zur Hygienefachkraft. Etymologie Das Wort Hygiene stammt aus dem Griechischen: hygieinḗ [téchnē] bedeutet „der Gesundheit dienende [Kunst]“. Es ist von hygíeia „Gesundheit“ abgeleitet – dem Wort, mit dem auch die griechische Göttin der Gesundheit, Hygieia, bezeichnet wird. Der Zusammenhang mit der personifizierten Göttin ist seit dem 4. Jahrhundert vor Christus (bei Aristoteles) belegt und wurde im 2. Jahrhundert durch Galen systematisiert. Bis Ende des 19. Jahrhunderts war die Schreibung „Hygieine“ vorherrschend. Die Vereinfachung zu „Hygiene“ setzte sich erst im letzten Viertel des Jahrhunderts durch. Hygiene im engeren Sinn bezeichnet die Maßnahmen zur Vorbeugung gegen Infektionskrankheiten, insbesondere Reinigung, Desinfektion und Sterilisation. In der Alltagssprache wird das Wort Hygiene auch fälschlicherweise an Stelle von Sauberkeit verwendet, doch umfasst sie nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Aufgabenkreis der Hygiene. Die Arbeitshygiene befasst sich mit der Verhütung von Berufskrankheiten. Die Ehehygiene befasst sich mit der Sexualhygiene in der Ehe, besonders in Bezug auf Intimpflege und Empfängnisverhütung. Geschichte Hygienische Maßnahmen, darunter religiöse Gebote und Verbote sowie technische Bemühungen zur Versorgung mit sauberem Trinkwasser, sind weltweit und seit ältester Zeit nachweisbar. So bestand bereits um 3000 v. Chr. am Indus eine vorindoarische Kultur mit hochstehender Hygiene. Gesellschaftliche Maßstäbe für Sauberkeit und Körperhygiene änderten sich mehrfach im Verlauf der Geschichte. Zu den bedeutendsten Errungenschaften auf hygienischem Gebiet gehört die Einführung der Schutzimpfung gegen die Pocken. Lebenssituation im Mittelalter Im Mittelalter war es in Europa noch üblich, die Notdurft auch auf der Straße zu verrichten, Nachttöpfe wurden auf den Straßen ausgeleert, Marktabfälle (Pflanzenreste, Schlachtabfälle, Schlachtblut) blieben auf den Straßen und Plätzen liegen, häuslicher Unrat und Mist aus den Ställen der städtischen Tierhaltung wurde auf den Straßen gelagert, Schweine, Hühner und andere Haustiere liefen auf den Straßen frei darin herum, Niederschlagswasser durchfeuchtete und verteilte alles, all dies führte dazu, dass der Straßenschmutz und damit zusammenhängende Geruchsbelästigungen und Krankheitsausbreitung in den Städten überhandnahmen, wogegen Polizeiverordnungen erlassen wurden. Im späteren Mittelalter wurden dann neben städtischen Verordnungen zur Seuchenbekämpfung (vor allem nachdem der Schwarze Tod sich 1348 verbreitet hatte) bereits Verordnungen zur Reinhaltung von Straßen (so 1366 in Regensburg) oder zur Tötung von Tieren in Schlachthäusern (Augsburg, 1276) erlassen. Erst die Einführung der Kanalisation, städtischer Schlachthäuser und von Pflasterungen konnten den Schmutz und damit zusammenhängende Seuchen eindämmen. Hygiene in der Medizin Die Hygiene in der Medizin betrifft das Verhalten des Fachpersonals im ambulanten Einsatz sowie in der klinischen Hygiene zur Abwehr von Neuerkrankungen. Thomas McKeown hat 1979 den Rückgang der Infektionskrankheiten der letzten 200 Jahre auf Hygiene, bessere Ernährung des Menschen, Immunität und andere unspezifische Maßnahmen zurückgeführt. Abseits der Industriestaaten hat sich das Muster der Erkrankungen nicht wesentlich verändert, trotz teilweiser Einführung von medikamentösen Behandlungsmethoden. So kann angenommen werden, dass ohne finanzielle und materielle Unterstützung der „Dritten Welt“ und ohne bessere Lebensbedingungen für den Großteil der Menschheit der Gefahr von Seuchen Vorschub geleistet wird. Die Hygiene im Römischen Reich war verhältnismäßig weit entwickelt. Der römische Politiker und Universalgelehrte Marcus Terentius Varro ahnte, dass Krankheiten durch „kleine Tiere, welche für das Auge nicht sichtbar sind“ (aus heutiger Sicht Mikroorganismen) hervorgerufen werden. Es war bekannt, dass Quarantäne die Verbreitung von Infektionskrankheiten verhindern konnte. Im 16. und 17. Jahrhundert verfassten Joachim Struppius (1574) und Hippolyt Guarinonius (1610) bahnbrechende Schriften zur Hygiene. Bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Sauberkeit und Desinfektion in der Medizin nicht als notwendig angesehen. So wurden die Operationsschürzen der Chirurgen praktisch nie gewaschen. Medizinische Instrumente wurden vor dem Gebrauch nicht gereinigt. Auch wurden nicht selten in Krankenhäusern die Wunden von verschiedenen Patienten nacheinander mit demselben Schwamm gereinigt. Ignaz Semmelweis gelang in den 1840er Jahren erstmals der Nachweis, dass Desinfektion die Übertragung von Krankheiten eindämmen kann. Als Assistenzarzt in der Klinik für Geburtshilfe in Wien untersuchte er, warum in der einen Abteilung, in der Medizinstudenten arbeiteten, die Sterberate durch Kindbettfieber wesentlich höher war als in der zweiten Abteilung, in der Hebammenschülerinnen ausgebildet wurden. Er fand die Erklärung, als einer seiner Kollegen während einer Sektion von einem Studenten mit dem Skalpell verletzt wurde und wenige Tage später an Blutvergiftung verstarb, einer Krankheit mit ähnlichem Verlauf wie das Kindbettfieber. Semmelweis stellte fest, dass die an Leichensektionen beteiligten Mediziner Gefahr liefen, die Mütter bei der anschließenden Geburtshilfe zu infizieren. Da Hebammenschülerinnen keine Sektionen durchführen, kam diese Art der Infektion in der zweiten Krankenhausabteilung seltener vor. Das erklärte die dort niedrigere Sterblichkeit. Semmelweis wies seine Studenten daher an, sich vor der Untersuchung der Mütter die Hände mit Chlorkalk zu desinfizieren. Diese wirksame Maßnahme senkte die Sterberate von 12,3 % auf 1,3 %. Das Vorgehen stieß aber bei Ärzten wie Studenten auf Widerstand. Sie wollten nicht wahrhaben, dass sie selbst die Infektionen übertrugen, anstatt sie zu heilen. Joseph Lister, ein schottischer Chirurg, verwendete erfolgreich Karbol zur Desinfektion von Wunden vor der Operation. Er war zunächst der Meinung, dass Infektionen durch Erreger in der Luft verursacht würden. Eine Zeit lang wurde deshalb während der Operation ein feiner Karbolnebel über dem Patienten versprüht, was wieder aufgegeben wurde, als man erkannte, dass Infektionen hauptsächlich von Händen und Gegenständen ausgingen, die in Kontakt mit den Wunden kamen. Max Pettenkofer hatte in München ab September 1865 den ihm von Bayerns König Ludwig II. eingerichteten ersten Lehrstuhl für Hygiene als medizinisches Lehrfach inne und gilt bahnbrechend als Vater der Hygiene; 1865 markiert damit, ebenso wie die Gründung des Kaiserlichen Gesundheitsamtes in Berlin im Jahr 1876 den Beginn der modernen Hygiene. Als Teilgebiet war Hygiene an der Wiener Medizinischen Fakultät jedoch bereits ab 1805 Bestandteil der ärztlichen Ausbildung und auch an der Medizinischen Fakultät Würzburgs wurde das Fach bereits vor der Ernennung zum Nominalfach von dem Arzt und Chemiker Johann Joseph von Scherer gelehrt. Weitere bekannte Forscher auf dem Gebiet der Hygiene waren Emil von Behring, Johann Peter Frank, Robert Koch und Louis Pasteur. Ein Pionier der Hygiene im militärischen Bereich war Franz Ballner. Aus der Hygiene hat sich im späten 19. Jahrhundert auch das Fach Sportmedizin entwickelt, da dieselben humanbiologischen Kenntnisse auch in der Bewegungstherapie Verwendung fanden. Öffentliche Hygiene im 19. Jahrhundert Das 19. Jahrhundert war durch neue Erkenntnisse zur Prävention von Krankheiten und durch das Entstehen öffentlicher Gesundheitsfürsorge geprägt. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erkannten Regierungen die Notwendigkeit zum systematischen Aufbau einer öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Hatten sich die Maßnahmen hierzu in Westeuropa zunächst auf Quarantäneregelungen in Häfen zur Kontrolle und Ausgrenzung Kranker oder potenziell Kranker beschränkt, waren neue Maßnahmen auf den Ausbau infrastruktureller Einrichtungen gerichtet, wodurch Krankheiten der Nährboden entzogen werden sollte. Öffentliche Gesundheitsfürsorge wurde zur Aufgabe des Staates, während sie bis dahin privater und religiöser Initiative überlassen war. Die neuen Prioritäten galten, ausgehend von Großbritannien, ab den 1830er-Jahren der Beseitigung von Unrat und Abwässern in Städten und der Versorgung mit unschädlichem Trinkwasser. Die Begleiterscheinungen der Frühindustrialisierung wurden damit erkannt und schrittweise, wenn auch mit Widerstand, dagegen angegangen. Wasser musste zunächst als öffentliches Gut anerkannt werden. Erst auf dieser Grundlage konnte eine Wasserpolitik mit umfassenden rechtlichen Bestimmungen für das Eigentum und die Nutzung von Wasser entstehen. Private Besitzansprüche mussten aufgehoben werden, ein langwieriger und komplizierter Prozess, der sich in Westeuropa teilweise bis ins 20. Jahrhundert hinzog, so in Frankreich. Hinzukommen mussten adäquate Technologien in Form moderner Wasserversorgung. New York erhielt als erste Stadt 1842 ein umfassendes Röhrensystem, Aquädukte, Speicher und angebundene öffentliche Brunnen. Der Wert technischer Wasserreinigung wurde eindrucksvoll bestätigt, seit 1849 bekannt war, dass Cholera durch Wasser übertragen wird. Dennoch dauerte es Jahrzehnte, so etwa in London bis 1868 und in München sogar bis 1881, bis sich das neue Wissen gegen einen vielfach radikalen Marktliberalismus durchgesetzt hatte und geeignete Maßnahmen ergriffen werden konnten. In London konnten um 1800 in der Themse noch Lachse gefischt und geschwommen werden, während um 1858 so starker Gestank aus dem Fluss aufstieg, dass das House of Commons mit Laken umhängt und die Sitzungen dort wegen des Gestanks abgebrochen werden mussten. Erst dieses Ereignis führte zur Beauftragung des Baus eines unterirdischen Kanalisationssystems zur Verbesserung der Stadthygiene. Außerhalb Westeuropas waren Städte teilweise schon deutlich früher für eine Verbesserung der Stadthygiene aktiv geworden. Das persische Isfahan wurde in Berichten vor der afghanischen Zerstörung 1722 für seine Wasserversorgung gerühmt. In Damaskus, einer Stadt mit damals 15000 Einwohnern, war 1872 jede Straße, jede Moschee, jedes öffentliche und private Haus im Überfluss mit Kanälen und Fontänen versorgt. In Bombay wurde bereits 1859 eine öffentliche organisierte Wasserversorgung eingerichtet. In Kalkutta wurde 1865 ein Abwassersystem und 1869 eine Wasserfilterung gebaut. Dasselbe geschah in Shanghai 1883, allerdings dort durch private Investoren und nur für einige reiche Chinesen und dort lebende Europäer. Die Chinesen verhielten sich zurückhaltend gegenüber den Erneuerungen. Im 20. Jahrhundert wurden von der Forschung im Bereich der Hygiene neben der intensiven Beachtung von Erkenntnissen aus Physik, Chemie, Bakteriologie und Serologie auch vermehrt soziale Faktoren bei wachsendem Interesse an einer wissenschaftlichen Sozialhygiene berücksichtigt und es erfolgten weitere Maßnahmen (vgl. etwa Office international d’hygiène publique) auf dem Gebiet der Hygiene. So wurde 1900 das Hamburger Institut für Schiffs- und Tropenhygien von Bernhard Nocht gegründet, 1902 wurde die übernationale Gesundheitsorganisation für Nord- und Südamerika Pan American Sanitary Bureau gegründet, die sich insbesondere auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung bewährte. Alfred Grotjahn gründete 1905 in Berlin die Gesellschaft für soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. Im Jahr 1920 koordinierte die Hygienekommission des Völkerbundes Arbeiten der europäischen Staaten auf dem Gebiet des öffentlichen Gesundheitswesens. Hygienemaßnahmen Hygienemaßnahmen sind einzelne Methoden und Verfahren, die auf Erfahrung, Tradition oder wissenschaftlichen Untersuchungen beruhen. Ist eine Hygienemaßnahme als Verfahrensanweisung dokumentiert, gilt sie in dem jeweiligen Bereich als verbindliche Vorschrift. Insbesondere im wirtschaftlichen Bereich sind Lebensmittel-, Trinkwasser- und Wäschereihygiene gesetzlich geregelt. Darunter fällt auch die Schädlingsbekämpfung. Hiervon sind z. B. Großküchen und Gemeinschaftseinrichtungen bzw. -unterkünfte betroffen. Für Privathaushalte gelten diese Regelungen nicht. Einrichtungen des Gesundheitswesens Die klinischen Basishygienemaßnahmen sind in den meisten Einrichtungen des Gesundheitswesens verbindlich geregelt. Sie umfassen unter anderem Regelungen zur Händehygiene, Desinfektion und zu aseptischen Tätigkeiten wie Wundversorgung, um zu verhindern, dass Infektionserreger übertragen werden. In Bereichen mit Gefahr einer solchen Erregerübertragung dürfen z. B. laut den bundesdeutschen Unfallverhütungsvorschriften und der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention keine Uhren und kein Schmuck an Händen und Unterarmen getragen werden. unter Umständen müssen zusätzlich Barrieremaßnahmen durchgeführt werden, wie z. B. das Tragen von Schutzkitteln und einem geeigneten Atemschutz. Weitere medizinische Maßnahmen sind Sterilisation, Isolierung und Quarantäne. Persönliche Hygiene Zu den individuellen persönlichen Hygienemaßnahmen zählen die Körper-, Mund-, Brust-, Anal- und Sexualhygiene. Für die Reinigung im Privathaushalt erachtete das Umweltbundesamt, Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin und Robert Koch-Institut herkömmliche Reinigungsmittel für die Sicherung der Hygiene als ausreichend; der Einsatz von Produkten mit bakterizider, antibakterieller und antimikrobieller Wirkung sei unnötig (Stand: 2000). Kritik an moderner Hygiene Die moderne Hygiene und Medizin fokussiert auf die Gefahr bzw. Virulenz der Krankheitserreger. Das Fazit der 40-jährigen Forschungsarbeit des französischen Mediziners und Physiologen Claude Bernard lautete: Le germe n’est rien, le terrain est tout! („Der Keim ist nichts, das Milieu ist alles!“) Mit Keim (germ) ist hier ein mikrobieller Krankheitserreger gemeint, so wie auch heute noch in der Medizin der Ausdruck Keim gebraucht wird. Bernard brachte mit dieser Aussage zum Ausdruck, dass unabhängig von der Virulenz eines Krankheitserregers letztlich stets die jeweils vorhandene Stoffwechsel-, Wund- und Immunsituation des individuellen (menschlichen) Organismus über die vom Krankheitserreger ausgehende Gefahr entscheidet, entweder als Nährboden für die Vermehrung der Krankheitserreger (siehe Infektion) dient, oder aber eine Vermehrung derselben unmöglich macht. Im letzten Fall wären entweder nur die Kriterien einer Kontamination, nicht jedoch einer Infektion erfüllt (Kriterium Erregervermehrung im Organismus), oder aber es würde trotz des Auftretens einer Infektion eine Infektionskrankheit verhindert werden (siehe Stille Feiung). Hierbei spielt sowohl die individuelle Leistungsfähigkeit des Organismus als auch die ihm entgegengebrachte, unter anderem ärztliche, Hilfe (siehe z. B. Débridement, Tetanus) eine Rolle. Wissenschaftliche Studien weisen auf einen Zusammenhang zwischen übertriebener Sauberkeit im häuslichen Umfeld und dem Auftreten von Allergien hin. Durch den verringerten Kontakt mit Krankheitserregern, besonders während der frühen Kindheit, tendiere das Immunsystem dazu, auf eigentlich harmlose Stoffe wie zum Beispiel Pollen oder Hausstaub zu reagieren. Evolutionsforscher vermuten, dass der menschliche Körper darauf angewiesen ist, dass bestimmte Bakterien und auch Würmer in ihm oder seiner Umgebung leben. Euphemistische Verwendung des Begriffs Auch frühere Rassentheorien wurden im Zusammenhang mit dem Fachgebiet der Hygiene betrachtet. Im Jahr 1911 definierte Max von Gruber den 1885 von Alfred Ploetz eingeführten Begriff „Rassenhygiene“ als „Hygiene des Keimplasmas“. Der Bakteriologe Walter Schürmann schrieb in seiner Veröffentlichung Repetitorium der gesamten Hygiene, Bakteriologie und Serologie (Verlag von Julius Springer, Berlin 1938, S. 143): „Es gibt Rassen, die Krankheiten und geistige Minderwertigkeiten in erhöhtem Maße zeigen.“ Siehe auch Diätetik Körperpflege Monatshygiene Krankenhaushygiene Schlafhygiene Psychohygiene Sozialmedizin Public Health Sanitary Movement Deutsches Hygiene-Museum Robert Koch#Bakterienfurcht, zur ersten Hygiene-Ausstellung Berlin 1883 Wörther Schlossbitter, zur Hygiene-Ausstellung Baden-Baden 1896 Internationale Hygiene-Ausstellung Dresden 1911 Internationale Hygiene-Ausstellung Dresden 1930 Regimen sanitatis Literatur Christian Conrad: Krankenhaushygiene damals und heute – was hat sich geändert? Hygiene und Medizin 29(6), S. 204 ff. (2004), M. Klade, U. Seebacher, M. Jaros: Potenzielle Gefährdung von Mensch und Umwelt durch Desinfektionsmittel in der Krankenhaushygiene: Eine vergleichende Bewertung. Krankenhaus Hygiene und Infektionsverhütung 24(1), S. 9–15 (2002), Alfred Nassauer: Die neue Richtlinie für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention – Tradition und Fortschritt. (PDF; 195 kB) In: Hygiene und Medizin. Band 39, Nr. 4, 2004, S. 113–115 GMS Krankenhaushygiene Interdisziplinär. Zeitschrift der DGKH (Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene). Online: GMS Krankenhaushygiene Interdisziplinär Helmut Siefert: Hygiene. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 647 f. Walter Steuer, Friedemann Schubert (Hrsg.): Leitfaden der Desinfektion, Sterilisation und Entwesung. B. Behrs, Hamburg, 8. Auflage 2007, ISBN 978-3-89947-351-3 (10. Aufl. 2016, ISBN 978-3-95468-405-2) Katherine Ashenburg: The Dirt on Clean - An Unsanitized History (eine Hygienehistorie der Menschheit), 2008, ISBN 978-0-676-97664-9 Weblinks Arbeitskreis Krankenhaus- und Praxishygiene der AWMF mit allen Leitlinien zum Thema Institut für Hygiene und Umweltmedizin der Charité Berlin Universitätsklinikum Essen – Krankenhaushygiene – Textsammlung zum Thema Hygiene (Menüeintrag: Skripte) Institut für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene Deutsches Hygienemuseum in Dresden Hygiene Hypothesis: Are We Too „Clean“ for Our Own Good? englischsprachige Seite (HealthLink) Einzelnachweise Medizinisches Fachgebiet
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Herbizid
Herbizide ( ‚Kraut‘, ‚Gras‘ und lat. ‚töten‘) oder Unkrautbekämpfungsmittel sind Substanzen, die störende Pflanzen abtöten sollen. Sie werden vor allem in der Landwirtschaft eingesetzt, aber auch auf Nicht-Kulturland. Kulturpflanzen stehen im Wettbewerb mit Unkräutern um Wasser, Nährstoffe und Licht. Dichter Unkrautbewuchs kann die Ernte sehr erschweren und deutlich vermindern. Unkräuter können manuell, mit Maschinen oder mit Herbiziden dezimiert werden. Man unterscheidet dabei zwischen selektiven Herbiziden, die gegen bestimmte Pflanzen wirken, und Breitband- oder Totalherbiziden, die gegen sehr viele Pflanzen wirken. Während des Vietnamkrieges wurden im Zuge der Operation Ranch Hand Herbizide (insbesondere Agent Orange) auch zu militärischen Zwecken als Entlaubungsmittel verwendet. Geschichte Die Notwendigkeit des Pflanzenschutzes begann für den Menschen mit dem systematischen Anbau von Kulturpflanzen. Während die Bekämpfung von Insekten und Pilzerkrankungen erst mit Hilfe chemischer Mittel in neuerer Zeit möglich wurde, ist eine rein mechanische Beseitigung von Unkräutern bereits seit Jahrtausenden üblich. Die in der landwirtschaftlichen Großerzeugung am weitesten fortgeschrittenen USA waren der Einführung selektiver Herbizide gegenüber besonders aufgeschlossen. Die starke Konkurrenz in der landwirtschaftlichen Erzeugung mit Zwang zur Ertragssteigerung, Einsparung von Pflanzgut und Samen förderte folgerichtig die Niederhaltung von Unkräutern zur Vermeidung von Ernteausfällen. Die Verteuerung der menschlichen Arbeitskraft, zum Teil auch die Verknappung der Arbeitskräfte, waren kräftige Promotoren für die Einführung von vorwiegend selektiven Herbiziden unter Ausschaltung einer manuellen oder rein mechanischen Unkrautbeseitigung. Im Zuge der Rationalisierung des Anbaues von großen Monokulturen mussten viele Arbeitsvorgänge maschinell durchgeführt werden. Kartoffeln, Baumwolle oder auch Getreide können nur noch mit Erntemaschinen wirtschaftlich geerntet werden. Eine maschinelle Ernte, z. B. von Baumwolle oder Kartoffeln bedingt aber die Vorbehandlung der Kulturpflanzen. Kartoffelpflanzen werden mit Krautabtötungs- und Austrocknungsmitteln vorbehandelt, erst dann können Maschinen relativ einfach ernten. Die Kartoffelkrautabtötung und -austrocknung als Sonderform der Herbizide unterdrückt außerdem eine Pilzinfektion durch faulendes Gewebe. Weiterhin fördern große Monokulturen die Entwicklung bestimmter Unkräuter. So wurde die Bekämpfung von Unkräutern z. B. in Getreidekulturen immer dringlicher. Da das Ernten des Getreides mit Mähdreschern erst relativ spät geschehen kann, begünstigt das nicht nur die Verbreitung der frühreifen Unkräuter, sondern der Unkräuter allgemein, da Spreu und Unkrautsamen auf dem Feld bleiben und nicht wie früher mit dem Erntegut abtransportiert werden. Das hat zwangsläufig eine weitere Steigerung der Anwendung von selektiven Herbiziden im Getreidebau zur Folge. Zwar ist das Problem resistent gewordener Unkräuter noch nicht überall präsent, wohl aber eine Vermehrung schwer bekämpfbarer, bisher vielleicht weniger wichtiger Unkräuter. Das zwingt die Forschung zur Suche nach neuen Herbiziden mit einem anderen Wirkungsspektrum und zur Anwendung von Herbizid-Kombinationen mit einem breiteren Wirkungsspektrum. Forderungen nach extrem niedrigen Pflanzenschutzmittelrückständen erschweren die Forschung bzw. die Neueinführung von Insektiziden und zum Teil auch von Fungiziden. Bei Herbiziden tritt dieses nicht im gleichen Umfang auf. Einmal sind fast ausnahmslos die praktisch herbizid wirkenden Verbindungen (Natriumarsenit ausgenommen) für Warmblüter sehr wenig toxisch, zum anderen geschieht die Anwendung der Herbizide vorwiegend vor oder kurz nach der Aussaat sowie im ersten Entwicklungsstadium einer Kulturpflanze, kaum aber später. Trotzdem müssen auch für Herbizide Rückstandsbestimmungen vorgelegt werden und es sind seit 1968 Höchstmengen im Erntegut festgelegt, in der Bundesrepublik durch die Höchstmengen-Verordnung-Pflanzenschutz. Um 1851 verwendete man Eisensulfat, ab 1896 Kupfersulfat und Schwefelsäure zur Bekämpfung von Unkräutern. Später wurden Natriumchlorat (1926) und Dinitrokresol (DNOC) verwendet. Im Jahr 1942 wurde die 2,4-Dichlorphenoxyessigsäure (2,4-D) als erstes hochwirksames Herbizid entwickelt. Zwischen 1945 und 1960 folgten Thiocarbamate und Phenylharnstoffe. Zwischen 1960 und 1980 wurden Triazine (z. B. Atrazin), Diphenylether-Herbizide, Nitrile (z. B. Bromoxynil), Carbamate und Chloracetamide (z. B. Alachlor) als Herbizide verwendet. Zwischen 1980 und 1990 folgten Sulfonylharnstoffe, Aminosäurederivate (z. B. Glyphosat, Glufosinat) und Imidazoline. Neuere Herbizide wie Metazachlor können auch auf die bereits aufgelaufene Kultur (z. B. Winterraps) ausgebracht werden, die durch Züchtung resistent gegen diese Behandlung ist. Anwendung von Herbiziden Die Aufbringung auf das Feld erfolgt in wässrigen Suspensionen. Hersteller bieten Wirkstoffsuspensionen in Emulgaten und Pulvern an, die mit Wasser verdünnt werden. Setzt man die Herbizide vor oder während der Saat ein, so nennt man sie Vorauflauf-Herbizide. Nachauflauf-Herbizide verwendet man nach der Bildung erster Keimblätter. Mobilität Systemische Herbizide verteilen sich nach der Aufnahme in der Pflanze. Wenn ein Wirkstoff nur im Xylem mobil ist, kann er nach oben, aber nicht nach unten verlagert werden. Wichtige Gruppen von Herbiziden In einer Pflanzenzelle sind die Chloroplasten für die Umwandlung von Kohlendioxid und Wasser zu Kohlenhydraten unter Freisetzung von Sauerstoff verantwortlich (Fotosynthese). In diesen Stoffwechsel greift die Mehrzahl der Herbizide ein. Breitbandherbizide umgangssprachlich auch als Totalherbizide bezeichnet, wirken mit wenigen Ausnahmen unselektiv gegen alle Pflanzen. Photosynthesehemmer Diese Wirkstoffgruppe stört die Umwandlung von Licht in chemische Energie im Photosystem I. Zu ihnen gehören Paraquat und Diquat, welche als Kontaktherbizide ausgebracht werden (Wirkstoffaufnahme über die Blätter). Hemmer der Aminosäuresynthese von Pflanzen Glyphosat (Handelsname u. a. Roundup) ist ein Beispiel für ein Breitbandherbizid gegen Unkräuter (z. B. Quecken). Glyphosat ist eines der meistverwendeten Herbizide der Welt, der Umsatzanteil betrug im Jahr 2001 etwa 3 Mrd. US$. Dieses Herbizid nimmt eine Pflanze über grüne Pflanzenteile (also nicht über die Wurzel) auf. Glyphosat verhindert die Biosynthese der aromatischen Aminosäuren L-Phenylalanin, L-Tyrosin und L-Tryptophan durch eine Hemmung des Shikimisäureweges. Da der Shikimisäureweg im tierischen Stoffwechsel nicht vorkommt, wirkt das Herbizid nur gegen Pflanzen. Glyphosat wird wegen seiner nicht-spezifischen Wirkung u. a. als Vorauflaufherbizid eingesetzt. Glufosinat (Handelsnamen: Basta, Liberty) wirkt auf die Biosynthese von L-Glutamin in Pflanzen. Auch diese Gruppe wird häufig als Breitbandherbizid eingesetzt. Andere bekannte Breitbandherbizide sind die Sulfonylharnstoffe (Amidosulfuron sowie Sulfometuron-methyl (Handelsnamen: Oust)) und Imidazoline (Imidazolinone) wie beispielsweise Imazapyr (Handelsname: Arsenal). Diese Substanzklassen wirken auf die Biosynthese von verzweigten Aminosäuren wie L-Valin, L-Leucin und L-Isoleucin. Diese Herbizide werden über Wurzeln und Blättern aufgenommen, sie werden bei Ackerflächen für Soja und Getreide häufig angewandt. Wuchsstoffe Besonders in früheren Jahrzehnten waren die Wuchsstoffe, chemisch Chlorphenoxyessigsäuren wie 2,4-D, 2,4,5-T oder MCPA, eine wichtige Herbizidklasse. Diese regen zum schnellen Wachstum an, aufgrund von Nahrungsmangel sterben die breitblättrigen Unkräuter dann jedoch ab. Das schmalblättrige Getreide hat eine höhere Toleranzschwelle und wird nicht geschädigt. Selektive Herbizide, Nachauflauf-Herbizide Eine wichtige Gruppe von Nachauflauf-Herbiziden sind die 1,3-Cyclohexandione. Wichtige Vertreter sind Cycloxydim und Sethoxydim. Diese Herbizide hemmen die Fettsäuresynthese in Pflanzen und werden häufig gegen Gräser angewandt. Weitere Gruppen sind die Thymin/Uracil-Herbizide (z. B. Bromacil, Einsatz bei Unkräutern in Sojapflanzungen), die Benzothiadiazole (z. B. Bentazon, Handelsname: Basagran), die Phenylpyridazine (z. B. Pyridat) und die Phenoxypropionsäuren (z. B. 2,4-DB oder Fenoxaprop – sehr gute Wirkung gegen Gräser). Safener Zur Erhöhung der Selektivität werden Safener zusammen mit den entsprechenden Herbiziden eingesetzt. Sie setzen die schädliche Wirkung (auch Herbizidstress genannt) für Kulturpflanzen herab. Die phytotoxische Wirkung gegen Unkräuter bleibt hingegen unberührt. Man unterscheidet zwischen Saatgut-, Boden- und Blatt-Safenern. Es handelt sich um eine chemische Alternative zur gentechnischen Saatgutveränderung für die Steigerung von Hektarerträgen bei Herbizidanwendungen. Die Wirkung beruht auf der Induzierung von Enzymreaktionen innerhalb der Pflanze, die eine schnelle Entgiftung ermöglicht. Ein wichtiger Saatgut-Safener ist beispielsweise das Fluxofenim, ein Oximether. In Europa ist eine Bewertung und Zulassung der Substanzen in einer Positivliste durch Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 (Pflanzenschutzmittelverordnung) rechtlich vorgesehen. Tendenzen in der Herbizidentwicklung In den 1950er- und 1960er-Jahren wurde einfach durch Synthese von verschiedenen organischen Molekülen ausprobiert, ob eine Substanz schädlich auf ein Unkraut wirkt. Seit den 1980er-Jahren klärt man zunehmend den biochemischen Stoffwechsel von Pflanzen auf. Es werden wichtige Enzyme der Pflanzenbiosynthese isoliert und mit verschiedenen synthetischen Stoffen wird die Hemmung der Enzyme untersucht (Enzym-Assays). Viele moderne Verfahren, z. B. die Gaschromatographie, erlauben die schnelle Identifizierung von wichtigen biochemischen Stoffwechselprodukten. Eine weitere Tendenz geht in die Richtung, die Wirkstoffmenge zu verringern. Die Forscher möchten auch die Wirkstoffmenge der Herbizide je Hektar gering halten und gleichzeitig die Giftigkeit für Mensch und Tier minimieren. Während man 1950 noch für die Unkrautbekämpfung etwa 12 kg Natriumchlorat oder 7 kg Atrazin auf einen Hektar Ackerfläche anwenden musste, waren es für 1 Hektar im Jahre 1970 nur noch 1 kg bis 2 kg Bentazon. Ab 1980 reichte sogar eine Wirkstoffmenge von nur 20 g Chlorsulfuron für einen Hektar Ackerboden aus. Neuere Entwicklungen untersuchen eine Hemmung des Shikimatwegs durch Kohlenhydrate wie 7-Desoxy-sedoheptulose. Wirkungsspektrum der Herbizide NA=Nachauflauf VA=Vorauflauf Substanzgruppen der Herbizide {| class="wikitable" style="text-align:center; font-size:90%;" |- | class="hintergrundfarbe6" colspan="3" | Wichtige Herbizide |- class="hintergrundfarbe5" | Substanzgruppe || Eine Verbindung dieser Gruppe || % am Weltumsatz(S.-Gruppe, 2000) |- | Aminosäurederivate || Glyphosat || 18,0 |- |Sulfonylharnstoffe || Amidosulfuron || 10,8 |- | Triazine || Atrazin || 8,5 |- | Harnstoffe || Monuron || 4,3 |- | Entkoppler || 2-Methyl-4,6-dinitrophenol (DNOC) || |- | Anilide || Propanil || |- | Triazinone || Metamitron || |- | Benzothiadiazole || Bentazon || |- | Phenylpyridazine || Pyridat || |- | Cyclohexandione || Cycloxydim || |- | Bipyridil || Diquatdibromid || |- | Saatgut-Safener || Cyometrinil || |} Wirtschaftliche Aspekte Mit einem Umsatzanteil von 39 % (2007) sind Herbizide die wirtschaftlich wichtigsten Pflanzenschutzmittel. Der Gesamtumsatz für Herbizide betrug auf dem Weltmarkt 15,5 Mrd. US$. Die größten Wirtschaftssektoren für Herbizide liegen im Schutz der Soja- (ca. 10 % des Weltumsatzes an Pflanzenschutzmitteln, Abkürzung: WUAPSM, ungefähre Daten 1985), Getreide- (10 % des WUAPSM), Weizen- (6 % des WUAPSM), Obst- und Gemüse (3,5 % des WUAPSM), Reis (3,7 % des WUAPSM), Baumwolle (2,2 % des WUAPSM), Zuckerrüben (2,2 % des WUAPSM). Etwa 90 % der Sojafelder, 71 % der Getreidefelder, 63 % der Weizenfelder, 69 % der Zuckerrübenfelder, 35 % der Reisfelder, 17 % der Obst- und Gemüseplantagen werden weltweit mit Herbiziden behandelt. 2017 wurden in Deutschland 50.092 Tonnen Herbizide abgegeben. Kritikpunkte Resistenzbildung Durch den mehrfachen Einsatz einer einzigen Wirkstoffgruppe über mehrere Jahre hinweg können besonders in Monokulturen resistente Unkräuter selektiert werden. Dieses Phänomen wurde bei fast allen Wirkstoffgruppen beobachtet. Besonders häufig werden dabei Pflanzen mit einer hohen Reproduktionsrate resistent. Ein aktuelles Beispiel stellt der Acker-Fuchsschwanz in Deutschland dar. Das HRAC beschäftigt sich intensiv damit, wie man die Resistenzbildung eindämmen kann. Die Resistenzentwicklung ist bei Unkräutern jedoch geringer als bei Insekten oder Pilzen. Resistenzen lassen sich jedoch auch gezielt züchten, wodurch auf die Kulturen abgestimmte Herbizide auch nach Auflauf der Kulturen (Nachauflauf) eingesetzt werden können. Allerdings besteht dann das Problem darin, die Nutzkultur (z. B. Winterraps) bei Änderung der Fruchtfolge wieder aus dem Bestand zu eliminieren. Mittlerweile kann davon ausgegangen werden, dass Resistenzbildung eher über kurz als lang wieder zurück zu kombinierten Methoden der Unkrautbekämpfung führt. Teilweise werden herbizidresistente Unkräuter auch Superweeds genannt, dann vor allem in den Massenmedien und politischen Diskussionen. Übermäßiger Schädlingsbefall Wo Herbizide eingesetzt werden, ist deutlich weniger Lebensraum für nützlichen Insekten vorhanden. Obwohl ungewollte Pflanzen die Ernte der Nutzpflanzen stark dezimieren können, konnte nachgewiesen werden, dass in Monokultur angebaute Pflanzen von der Anwesenheit sogenannter Unkräuter profitieren, da diese Nützlinge Zuflucht und Nahrung bieten. So ging insbesondere der Befall durch Blattläuse nachweislich zurück, wenn Korbblütler in der Nähe wuchsen. Zu den Fraßfeinden der Blattläuse, die sich so ansiedeln konnten, zählten unter anderem Flor- und Schwebfliegenarten. Ökologische Auswirkungen Die Wirkung von synthetischen Pflanzenschutzmitteln wie Herbiziden auf Mensch und Umwelt ist umstritten. Durch den Wegfall mechanischer Bodenentkrautung, z. B. im Rübenanbau, soll sich Humus in der Bodenkrume anreichern, was zusammen mit der Ausschaltung der Unkrautkonkurrenz eine verminderte Stickstoffdüngung ermöglicht. Außerdem werden Vögel, besonders während der Brutphase weniger gestört, wenn die Felder nicht mehr gehackt werden. Dafür können Herbizide, wenn sie verweht werden, Nachbarkulturen schädigen und die Artenzahl von Wildpflanzen in der Umgebung dezimieren. In den Boden gelangende Herbizide können die Artenzusammensetzung der Bodenorganismen verändern, ohne die Gesamtzahl der Bodenlebewesen zu vermindern. Großflächig angelegte Unkrautbekämpfungsmaßnahmen wirken sich indirekt auf die Fauna aus. Durch die Bekämpfung bestimmter Unkräuter können bestimmte Insektenarten (zum Beispiel Schlupfwespen) lokal massiv reduziert werden, was wiederum die Tiere der Nahrungskette beeinträchtigt (zum Beispiel Rebhühner). Die Auswirkungen auf den Menschen reichen vom Argument, durch breiten Herbizideinsatz seien gesunde Nahrungsmittel für die breite Bevölkerung erschwinglich und die Krebserkrankungsraten daher rückläufig und unbedeutend im Vergleich zu epidemisch auftretenden Krebserkrankungen durch Tabakrauch und Übergewicht sowie chronischen Lebensmittelinfektionen (hauptsächlich in Entwicklungsländern), bis hin zu kritischen Stimmen wie der von Rachel Carson, die mit ihrem Buch Der stumme Frühling auf die Auswirkungen von Insektizid- und Herbizideinsätzen bei großflächiger Anwendung in den USA aufmerksam machte. In der europäischen Bevölkerung dominiert eher die Angst vor chemischen Lebensmittelrückständen. Die Mehrheit der Befragten schätzt die Gefahr höher ein als die gesundheitlichen Auswirkungen von bakteriellen Verunreinigungen von Lebensmitteln oder unausgewogene Ernährung. Pestizide und Herbizide sind toxikologisch gut untersucht, allerdings ist aufgrund der vielfältigen chemischen Strukturen dieser Substanzen nicht auszuschließen, dass sich einige dieser Verbindungen in zukünftigen Untersuchungen als gefährlicher erweisen als derzeit angenommen. Auswirkungen auf Nahrungsketten und Biodiversität Herbizide bringen nicht nur die Sprossteile bestimmter Pflanzen zum Absterben, sondern auch deren Durchwurzelung. Bei der großflächigen und dauerhaften Anwendung von Herbiziden kann sich das Pflanzenartenspektrum in der Agrarlandschaft stark verringern. Da von jeder Pflanzenart mehr oder weniger viele Insektenarten abhängig sind und von diesen über die Nahrungsketten wiederum andere Tiere (insbesondere Vögel, Zugvögel), besteht die Gefahr der generellen Artenverarmung in der Feldlandschaft. Der massive Artenrückgang (Verlust der Biodiversität) in den Agrarlandschaften Europas ist vor allem eine Folge dieser Zusammenhänge. Allerdings ist der Anteil des Herbizid- und Insektizideinsatzes in der Landwirtschaft an den Ursachen des Artenrückgangs nicht klar bestimmbar. Es gibt aktuelle Hinweise darauf, dass sich die flächendeckende Anwendung von Breitbandherbiziden in einigen Regionen Deutschlands (z. B. in Sachsen) in den letzten Jahren weiter ausgebreitet hat. Die verstärkte Anwendung erfolgt insbesondere im Zuge des Mulchsaatverfahrens. Dabei wird auf eine mechanische Unkrautbekämpfung verzichtet (sogenannte pfluglose Bodenbearbeitung) und stattdessen intensiv Breitbandherbizide (z. B. Glyphosat / Roundup) verwendet. Der Verzicht auf das Pflügen des Bodens ist eine Abkehr von der Schwarzbrache, welche ein wichtiger Lebensraum für die traditionellen Bewohner der Kulturlandschaft wie Feldlerche und Rebhuhn war. Ähnliches erfolgt bei der Umwandlung von blüten- und artenreichen Mähwiesen in ertragreiches, aber artenarmes Intensivgrünland (Abtöten des vorherigen Pflanzenbestandes – umbruchlose Neuaussaat schnell wachsender, eiweißreicher Gräser). Zwar handelt es sich dabei um bodenschonende Verfahren, welche in erosionsgefährdeten Hanglagen zweckmäßig sind, allerdings sind die Folgen bei nahezu flächendeckender Anwendung in der Landwirtschaft auf die Biodiversität noch nicht absehbar. Ein Positionspapier des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit vom Oktober 2019 kommt zum Schluss: „Die prinzipiellen Zielkonflikte zwischen hohen und sicheren Ernteerträgen einerseits und dem Erhalt der Segetalflora andererseits sind bedingt auflösbar. Für einen nachhaltigen Ackerbau ist eine veränderte Sichtweise und Pflanzenschutzpraxis – auch und insbesondere – hinsichtlich der Unkrautregulierung erforderlich. Es darf das Motto gelten: Mehr Unkräuter wagen!“ Abdrift – Mittelverfrachtung auch auf weit entfernte Flächen Der breite Herbizideinsatz führt auch zu einer Nachweisbarkeit der Wirkstoffe im Oberflächen- und Grundwasser. Eine andere Gefahr rührt von Wirkstoffen mit einem (im Verhältnis mit anderen Wirkstoffen) besonders hohen Dampfdruck her, da sie sich über die Gasphase verbreiten können. Ein Beispiel ist Clomazon, welches nach Richtlinien aus dem Jahr 2012 nur bei Außentemperaturen unter 25 °C ausgebracht werden darf. Das Mittel war zunächst verboten worden, nachdem Anwohner von gesundheitlichen Beschwerden und Verfärbungen der Blätter auf angrenzenden Flächen berichteten. Trivia Im Schienenverkehr erfolgt die sogenannte Vegetationskontrolle durch spezielle Sprengwagen, welche die Herbizide im Gleisbereich versprühen, um Wucherungen im Schotterbett zu verhindern. Literatur Wolfgang Krämer und Ulrich Schirmer: Modern Crop Protection Compounds Volume 1, 2007, S. 266 Karl-Heinz König: Fortschritte im chemischen Pflanzenschutz, Chemie in unserer Zeit, 10/1990, S. 217 ff. Einzelnachweise Pflanzenschutz im Gartenbau Pflanzenschutz in der Feldwirtschaft
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Heinrich Hertz
Heinrich Rudolf Hertz (* 22. Februar 1857 in Hamburg; † 1. Januar 1894 in Bonn) war ein deutscher Physiker. Er konnte 1886 als Erster elektromagnetische Wellen im Experiment erzeugen und nachweisen und gilt damit als deren Entdecker. Ihm zu Ehren wurde die internationale Einheit für die Frequenz als Hertz (abgekürzt mit dem Einheitenzeichen Hz) bezeichnet. Leben Herkunft Heinrich Rudolf Hertz entstammte einer angesehenen hanseatischen Familie. Sein Vater Gustav Ferdinand Hertz (ursprünglicher Name David Gustav Hertz, 1827–1914) entstammte einer jüdischen Familie, konvertierte aber zum Christentum. Er war promovierter Rechtsanwalt, seit 1877 Richter und von 1887 bis 1904 Senator und Präses der Hamburger Justizverwaltung. Die Mutter Anna Elisabeth geborene Pfefferkorn war die Tochter eines Garnisonsarztes. Heinrich Hertz hatte vier Geschwister, die Brüder Gustav Theodor (* 1858), Rudolf (* 1861) und Otto (* 1867) sowie die Schwester Melanie (* 1873). Der Bruder Gustav Theodor Hertz war Vater des Nobelpreisträgers Gustav Ludwig Hertz und Großvater des Atomphysikers und Informationswissenschaftlers Hardwin Jungclaussen. 1886 heiratete Heinrich Hertz Elisabeth Doll (1864–1941). Aus der Ehe gingen zwei Töchter hervor, Johanna (1887–1967) und Mathilde (1891–1975). Ausbildung und Lehrtätigkeit Hertz machte sein Abitur am Johanneum in Hamburg und bereitete sich danach in einem Konstruktionsbüro in Frankfurt am Main auf ein Ingenieurstudium vor. Das Studium in Dresden brach er nach dem ersten Semester ab, weil ihn dort lediglich die Mathematikvorlesungen begeistern konnten. Nach einem einjährigen Militärdienst begann er an der Technischen Hochschule München Mathematik und Physik zu studieren. 1878 wechselte er an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Im Alter von 23 Jahren promovierte er mit einer Arbeit über die Rotation von Metallkugeln in einem Magnetfeld und blieb zwei Jahre als Forschungs- und Vorlesungsassistent bei Hermann von Helmholtz in Berlin, wo er begann, die physikalische Natur der Kathodenstrahlen zu untersuchen. Im Jahr 1883 wurde Hertz Privatdozent für Theoretische Physik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Von 1885 bis 1889 lehrte er als Professor und Lehrstuhlinhaber für Physik an der Technischen Hochschule Karlsruhe. Ab 1889 war er Professor für Physik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, nachdem er Berufungen nach Berlin, Gießen und Amerika abgelehnt hatte. Wirken Hertz gelang es 1886 als Erstem, freie elektromagnetische Wellen (im Ultrakurzwellenbereich bei einer Frequenz von etwa 80 MHz) experimentell zu erzeugen und nachzuweisen. Am 13. November 1886 gelang ihm im Experiment die Erzeugung elektromagnetischer Wellen und ihre Übertragung von einem Sender zu einem Empfänger. Damit bestätigte er die von James Clerk Maxwell entwickelten Grundgleichungen des Elektromagnetismus und insbesondere die elektromagnetische Theorie des Lichts. Den experimentellen Beweis der elektromagnetischen Lichttheorie publizierte Hertz 1888. Die von Hertz nachgewiesene elektromagnetische Strahlung eines oszillierenden elektrischen Dipols entsprach genau derjenigen, wie er sie selber aus diesen Gleichungen für einen punktförmigen Dipol vorher berechnet hatte (siehe Hertzscher Oszillator). Heinrich Hertz arbeitete damals in Karlsruhe und setzte die Erforschung der unsichtbaren elektromagnetischen Wellen (Radiowellen) fort. Er wies nach, dass sie sich auf die gleiche Art und mit der gleichen Geschwindigkeit ausbreiten wie Lichtwellen (siehe Brechung, Polarisation und Reflexion). An der Berliner Akademie der Wissenschaften unterrichtete er am 13. Dezember 1888 in seinem Forschungsbericht „Über Strahlen elektrischer Kraft“ über die elektromagnetischen Wellen. Heinrich Hertz’ Ergebnisse lieferten die Grundlage für die Entwicklung der drahtlosen Telegrafie und des Radios. 1886 untersuchte Hertz den bereits 1839 von Alexandre Edmond Becquerel entdeckten äußeren Photoeffekt. Diese Untersuchung wurde ein Jahr später von Wilhelm Hallwachs weitergeführt (Hallwachs-Effekt). Der Effekt spielte eine besondere Rolle bei der Formulierung der Lichtquantenhypothese durch Albert Einstein 1905. Hertz berechnete elastizitätstheoretisch die Spannungen beim Druckkontakt gekrümmter Flächen (Hertzsche Pressung). Als Bonner Professor ab 1889 führte er die schon in Berlin begonnenen Untersuchungen zur Natur der Kathodenstrahlen fort und zeigte bei seiner letzten Experimentaluntersuchung 1891, dass diese dünne Metallfolien durchdringen können. Sein Assistent Philipp Lenard erweiterte später dieses Experiment, verwendete statt der dünnen Folie ein mit einer Aluminiumfolie versehenes Metallsieb. Durch dieses „Lenardfenster“ konnten Kathodenstrahlen aus der Vakuumröhre in die Luft austreten. Damit waren die Grundlagen für die Entdeckung der Bremsstrahlen im Jahr 1895 durch Wilhelm Conrad Röntgen geschaffen. „Für seine Arbeiten über Kathoden-Strahlen“ erhielt Lenard dann 1905 den Nobelpreis für Physik. Tod 1892 wurde bei Hertz nach einem schweren Migräneanfall Wegener-Granulomatose festgestellt. 1894 starb er daran in Bonn. Er ist auf dem Friedhof Ohlsdorf in Hamburg begraben. Seine Frau Elisabeth heiratete nicht wieder. Die beiden Töchter heirateten nicht und blieben ohne Nachkommen. Zeit des Nationalsozialismus Heinrich Hertz definierte sich nie als Jude und war sein ganzes Leben lutherisch, da die Familie seines Vaters zum evangelisch-lutherischen Christentum konvertiert war. Auch der unter deutschen Juden häufige Name Hertz führte nicht dazu, dass er als Physiker antisemitischen Vorurteilen ausgesetzt war. Erst in der NS-Zeit ging man postum auf Distanz zu dem erfolgreichen, im rassistischen Jargon des Nationalsozialismus als „Halbjude“ bezeichneten Wissenschaftler. Sein Porträt wurde wegen seiner jüdischen Abstammung aus dem Hamburger Rathaus entfernt sowie nach ihm benannte Institutionen und Straßen zumeist umbenannt. Auch gab es Überlegungen, die nach ihm benannte Einheit Hertz, die 1933 international eingeführt worden war, unter Beibehaltung der Abkürzung „Hz“ in „Helmholtz“ umzubenennen. Seine Tochter, die Biologin Mathilde Hertz, und sein Neffe, der Physiknobelpreisträger Gustav Hertz, wurden nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus dem öffentlichen Dienst entfernt. Mathilde Hertz emigrierte 1935 nach England, wohin ihr Mutter und Schwester 1936 folgten. Ehrungen Orden Hertz erhielt den japanischen Orden des Heiligen Schatzes. Denkmale Ein seit 1897 im Hamburger Rathaus befindliches Porträtrelief an einer der Ehrensäulen der Rathausdiele wurde von den Nationalsozialisten entfernt, nach dem Krieg aber wiederhergestellt. 1933 wurde die Aufstellung einer vom Hamburger Senat in Auftrag gegebenen Bronzeskulptur „Ätherwelle“ zur Ehrung von Hertz verhindert. Die in Vergessenheit geratene Skulptur von Friedrich Wield wurde erst 1994 im Eichenpark an der Alster aufgestellt. 2016 wurde die Skulptur innerhalb des Stadtteils Harvestehude auf den bereits in den 1930er Jahren favorisierten Platz auf dem Gelände des NDR-Funkhauses versetzt. Ein weiteres bleibendes Denkmal setzte Hermann von Helmholtz seinem Freund Hertz mit der Herausgabe von dessen Nachlass. Heinrich Hertz als Namensgeber Nach Hertz wurden unter anderem benannt: die Einheit Hertz (Hz) der Frequenz, die seit 1933 im internationalen metrischen System verankert ist (eine Schwingung pro Sekunde = 1 Hz) ein 1996 entdeckter Asteroid erhielt den Namen (16761) Hertz 1961 erhielt der Mondkrater Hertz seinen Namen der Heinrich-Hertz-Turm (Hamburger Fernsehturm) das Heinrich-Hertz-Teleskop, Mount Graham, Arizona das Berliner Heinrich-Hertz-Institut, das seit dem 1. Januar 2003 zur Fraunhofer-Gesellschaft gehört verschiedene Schulen, darunter: das Heinrich-Hertz-Berufskolleg in Düsseldorf das Heinrich-Hertz-Europakolleg in Bonn das Heinrich-Hertz-Gymnasium in Berlin-Friedrichshain die Heinrich-Hertz-Schule in Hamburg (ehemalige Lichtwark-Schule) die Heinrich-Hertz-Schule Karlsruhe (Bundesfachschule für Elektrotechnik) Straßen, z. B. in Berlin, Bonn, Bremen-Vahr, Darmstadt, Hamburg, Kassel, Leinefelde-Worbis, Neubrandenburg, Schacht-Audorf die Heinrich-Hertz-Kaserne in Daun die Heinrich-Hertz-Kaserne in Birkenfeld der Hertz-Hörsaal im Karlsruher Institut für Technologie, Campus Süd der Heinrich-Hertz-Satellit, eine 2023 gestartete Satellitenmission des DLR Schriften (Auswahl) Ueber die Induction in rotirenden Kugeln. Inaugural-Dissertation Berlin, 1880. Ueber die Berührung fester elastischer Körper, Journal für reine und angewandte Mathematik, Band 92, 1881, S. 156–171 (PDF-Datei; 1,81 MB) Die Constitution der Materie. Eine Vorlesung über die Grundlagen der Physik aus dem Jahre 1884. Herausgegeben von Albrecht Fölsing, Berlin 1999. Ueber sehr schnelle electrische Schwingungen. In: Annalen der Physik. Band 267, Nummer 7, 1887, S. 421–448. (PDF-Datei; 1,4 MB) Ueber einen Einfluss des ultravioletten Lichtes auf die electrische Entladung. In: Annalen der Physik. Band 267, Nummer 8, 1887, S. 983–1000. Ueber die Einwirkung einer geradlinigen electrischen Schwingung auf eine benachbarte Strombahn. In: Annalen der Physik. Band 270, Nummer 5, 1888, S. 155–170. Ueber die Ausbreitungsgeschwindigkeit der electrodynamischen Wirkungen. In: Annalen der Physik. Band 270, Nummer 7, 1888, S. 551–569. Ueber die Beziehungen zwischen Licht und Elektricität. Vortrag gehalten bei der 62. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Heidelberg. Emil Strauß, 1889. Gesammelte Werke, Band 2: Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft, Barth 1894, Archive Die Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt, Leipzig, 1894, Archive Siehe auch Hertzscher Dipol, wichtige Grundlage für jede Antenne Literatur Manuel Gracia Doncel: Heinrich Hertz. Spektrum der Wissenschaften, Oktober 1994, S. 88–96 Hannelore Dittmar-Ilgen: 120 Jahre Radiowellen. In: Naturwissenschaftliche Rundschau. 60, Nr. 6, 2007, , S. 303–305 Michael Eckert: Heinrich Hertz. Reihe Hamburger Köpfe. Ellert & Richter, Hamburg 2010, ISBN 978-3-8319-0371-9 Albrecht Fölsing: Heinrich Hertz. Hoffmann und Campe, Hamburg 1997, ISBN 3-455-11212-9 Hermann Gerhard Hertz, M. G. Doncel: Heinrich Hertz’s Laboratory Notes of 1887. In: Archive for History of Exact Sciences 49, 1995, S. 197–270 J. F. Mulligan, Hermann Gerhard Hertz: An Unpublished Lecture by Heinrich Hertz: „On the Energy Balance of the Earth“ In: Am. J. Phys. 65, 1997, S. 36–45 Max Planck: Heinrich Rudolf Hertz. Rede zu seinem Gedächtniss in der Sitzung der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin am 16. Februar 1894. Barth, Leipzig 1894 Helmut Pulte: Heinrich Rudolf Hertz. In: Franco Volpi (Hrsg.): Großes Werklexikon der Philosophie (Studium fundamentale der Universität Witten-Herdecke). 2 Bände. Kröner, Stuttgart 1999, Band I, S. 685 f. Stefan L. Wolff: Jüdische oder Nichtjüdische Deutsche? Vom öffentlichen Umgang mit Heinrich Hertz und seiner Familie im Nationalsozialismus. In: Ralph Burmester, Andrea Niehaus (Hrsg.): Heinrich Hertz vom Funkensprung zur Radiowelle. 2012, S. 38–57 K. Jäger, F. Heilbronner (Hrsg.): Lexikon der Elektrotechniker, VDE Verlag, 2. Auflage von 2010, Berlin/Offenbach, ISBN 978-3-8007-2903-6, S. 191–192 Weblinks Hertz’ Dissertation: Über die Induction in rotirenden Kugeln Original-Veröffentlichung von Heinrich Hertz: Über die Berührung fester elastischer Körper (PDF-Datei; 1,8 MB) Grab Heinrich Hertz, Gustav Hertz, Friedhof Ohlsdorf MP4-Videofeature über Leben und Werk von Heinrich Hertz inklusive populärwissenschaftlicher Erklärung von Hertz´ Nachweis elektromagnetischer Wellen, Vortrag von Wissenschaftshistoriker Prof. Ernst Peter Fischer auf Mediathek RadioWissen br.de Abteilung Wissen; abgerufen am 5. April 2014 Einzelnachweise Hochschullehrer (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) Hochschullehrer (Karlsruher Institut für Technologie) Hochschullehrer (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn) Burschenschafter (19. Jahrhundert) Physiker (19. Jahrhundert) Hochfrequenztechniker Erfinder Funk- und Radiopionier Mitglied der Accademia dei Lincei Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Mitglied der Accademia delle Scienze di Torino Ehrenmitglied des Physikalischen Vereins Ehrenmitglied der London Mathematical Society Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Träger des Ordens des Heiligen Schatzes Person (Dresden) Person (Hamburg) Deutscher Geboren 1857 Gestorben 1894 Mann Elektronenstrahltechnologie
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Herz
Das Herz (lateinisch Cor, griechisch Kardía, καρδία, oder latinisiert Cardia) ist ein bei verschiedenen Tiergruppen vorkommendes muskuläres Hohlorgan (Hohlmuskel), das mit Kontraktionen Blut oder Hämolymphe durch den Körper pumpt und so die Versorgung aller Organe sichert. Höherentwickelte Herzen, beispielsweise bei den Wirbeltieren, arbeiten wie eine Verdrängerpumpe, indem Flüssigkeit (Blut) ventilgesteuert aus Blutgefäßen angesaugt wird (bei Säugern Hohl- bzw. Lungenvenen) und durch andere Blutgefäße ausgestoßen wird (bei Säugern Truncus pulmonalis bzw. Aorta). Die Lehre von Struktur, Funktion und Erkrankungen des Herzens ist die Kardiologie. Ein Leben ohne Herz ist für höhere Tiere und den Menschen nicht möglich, jedoch können künstliche Herzen den Verlust der natürlichen Funktionen mittlerweile in gewissen Grenzen ausgleichen. Das Herz gehört zu den ersten während der Embryonalentwicklung angelegten Organen. Historisch wurzelt die Formulierung des springenden Punktes in dem zu schlagen beginnenden Herz des Hühnerembryos. Etymologie Der neuhochdeutsche Begriff Herz – gemeingermanisch und mittelhochdeutsch hërz[e], althochdeutsch herza – geht auf das indogermanische kē̌rd zurück. Es hat somit denselben etymologischen Ursprung wie die lateinischen und griechischen Formen. Die im Deutschen am Anfang und am Ende des Wortes befindlichen zwei Konsonanten beruhen auf einem Wandel, der im Laufe der Generationen auftritt und als Lautverschiebung bezeichnet wird. Die Herzen von Mensch und Säugetier haben vier Herzhöhlen: zwei Vorhöfe (Atrium) und zwei Kammern (Ventrikel). Das Atrium war in der römischen Architektur der Innenhof oder Vorraum eines Wohnhauses. Ein Ventrikel ist im Lateinischen (ventriculus) ein „kleiner Bauch“; venter ist der Magen oder das Abdomen. Es ist sprachlich falsch, wenn die Kardiologen vom Vierkammerblick, von der Vierkammerebene und dem Dreikammerblick oder vom Dreikammerschrittmacher sprechen. Im Englischen dagegen hat ein four-chambered heart zwei Ventrikel; ein Ventrikel is one of two large chambers. Beim Übersetzen ist chamber (= Kammer, lateinisch camera) also entweder eine Herzkammer oder eine Herzhöhle (lateinisch cavum cordis). Ein Zweikammer-Herzschrittmacher stimuliert einen Vorhof und die dazugehörige Kammer, nicht aber beide Ventrikel. Forschungsgeschichte Denker der Antike wie Empedokles (5. Jahrhundert v. Chr.), Aristoteles (4. Jahrhundert v. Chr.), Diokles von Karystos (4. oder 3. Jahrhundert v. Chr.), Vertreter der westgriechischen Medizin und die meisten Stoiker sahen das Herz als Zentralorgan des Körpers und Ausgangspunkt für Blutgefäße und Nerven an. Als Aufgabe des Gehirns nahmen sie hingegen nur die Abkühlung der im Herzen lokalisierten Wärme an. Der griechische Philosoph Alkmaion erkannte, dass nicht das Herz die ihm in der Antike noch zugesprochene Rolle als Zentralorgan der Wahrnehmung und der Erkenntnis hat, sondern das Gehirn, welches er auch für die Bewegungsabläufe im Körper verantwortlich machte. Alkmaions Theorie folgten auch Platon und Verfasser des Corpus Hippocraticum. Auch wenn diese Lehre durch die alexandrinischen Ärzte Herophilos von Chalkedon und Erasistratos bestätigt wurde, hielten sich noch lange die älteren Vorstellungen vom Herz als Zentralorgan. Die linke Herzkammer galt, so bei Galen in De usu partium, als Ort der „eingepflanzten Wärme“ (calor innatus), dem eigentlichen Lebensprinzip, und damit als Speicher des „Lebenspneumas“ (während das „Seelenpneuma“ im Gehirn vermutet wurde). Der linke Herzvorhof wurde von Galen als Teil der Lungenvene aufgefasst. Der arabische Arzt Ibn an-Nafīs (1213–1288) war der Erste, der das Herz anatomisch richtig beschrieb. Der englische Arzt William Harvey (1578–1657) zeigte, dass die Kontraktionen des Herzens die Bewegung des Bluts durch den Kreislauf antreiben. Anatomisch bedeutende Darstellungen des Herzens publizierten unter anderem auch Berengario da Carpi, Leonardo da Vinci, Andreas Vesalius und Godefridus Bidloo. Zu den bekanntesten Abhandlungen über die Anatomie und Pathologie des Herzens im 18. Jahrhundert gehört die 1749 erschienene Schrift Traité de la structure du coer, de son action et de ses maladies von Jean-Baptiste Sénac, dem Leibarzt von Ludwig XV. Herztypen und deren Verbreitung im Tierreich Röhrenherzen und Kammerherzen Die Herzen der verschiedenen Tiergruppen lassen sich bezüglich ihres Aufbaus in röhrenförmige und gekammerte Typen einteilen. Röhrenförmige Herzen setzen das Blut oder die Hämolymphe in Bewegung, indem Kontraktionswellen durch ihre Wände laufen (Peristaltik). So kann ein gerichteter Fluss erzeugt werden, auch wenn keine Ventile vorhanden sind. Gliederfüßer haben röhrenförmige Herzen, die nahe am Rücken liegen. Bei Insekten und manchen Krebsen wie Artemia können sie sich über längere Körperabschnitte erstrecken, bei anderen Krebsen handelt es sich um kurze muskuläre Säcke. Das Blut beziehungsweise die Hämolymphe tritt meistens über seitliche Öffnungen ein, sogenannte Ostien. Diese können recht zahlreich werden, die Fangschreckenkrebse haben 13 Paare. Manchmal geschieht der Zufluss aber auch von hinten über Venen. Bei der Herzkontraktion wird die Flüssigkeit nach vorne in eine mit Klappen versehene Arterie gepresst. Das Herz ist an Bändern oder Muskeln aufgehängt, die durch die Herzkontraktion unter Spannung gesetzt werden. Beim Erschlaffen des Herzens öffnen sich die Ostien und das Herz erweitert sich, so dass Flüssigkeit nachströmen kann. Das Arthropodenherz lässt sich daher mit einer Saugpumpe vergleichen. Röhrenförmige Herzen kommen auch bei den Urochordata und bei Embryonen der Wirbeltiere vor. Beim Manteltier Ciona ändert sich die Richtung der Kontraktionswellen rhythmisch, so dass die Flussrichtung des Blutes abwechselt. Dies ist auch bei Insekten so. So zeigt die visuelle Beobachtung vom Herz von ruhenden Mücken der Art Anopheles gambiae, dass sich dieses mit einer Rate von 1,37 Hz (82 Schläge pro Minute) zusammenzieht und die Kontraktionsrichtung wechselt, wobei 72 % der Kontraktionen in anterograder Richtung (zum Kopf hin) und 28 % der Kontraktionen in retrograder Richtung (zur Bauchspitze hin) erfolgen. Bei Herzen mit Kammern zieht sich eine Kammer komplett zusammen. Das Fließen in die falsche Richtung wird durch Klappen verhindert, die sich nur in eine Richtung öffnen. Dieser Herztyp kommt besonders bei Weichtieren und Wirbeltieren vor. Aufgrund der sehr starken Wandmuskulatur wirken diese Herzen zusätzlich als Druckpumpe, die einen hohen Blutdruck erzeugen kann. Bei vielen Weichtieren, speziell bei den Schnecken, aber auch bei niederen Wirbeltieren funktioniert die Füllung des Herzens durch Unterdruck in der Perikardhöhle, die das Herz umgibt. Die Wand dieser Höhle kann sehr fest sein, so dass hier bei der Herzkontraktion ein Unterdruck entsteht, der nach Ende der Kontraktion Blut in das Herz saugt. Bei Haien entstehen so −5 mmWS. Die Kammer (auch: Ventrikel) hat eine dicke, muskuläre Wand. Ihr vorgeschaltet ist der Vorhof (auch: Atrium), der eine schwächere Wandmuskulatur hat und der durch seine Kontraktion die Kammer befüllt. Myogene und neurogene Herzen Die Herzkontraktion wird durch einen elektrischen Impuls ausgelöst. Bei myogenen Herzen wird dieser Impuls spontan und rhythmisch in spezialisierten Herzmuskelzellen ausgelöst, den Schrittmacherzellen. Dies kommt bei Wirbeltieren, Manteltieren, Weichtieren sowie bei manchen Ringelwürmern und Gliederfüßern (darunter die Insekten) vor. Bei Säugern und Vögeln wurden die verantwortlichen Zellen im Sinusknoten lokalisiert. Die elektrische Gesamtaktivität eines myogenen Herzens lässt sich in einem Elektrokardiogramm (EKG) darstellen. Das EKG ist für jede Tierart typisch. Bei neurogenen Herzen wird der Impuls zur Kontraktion durch Nervenzellen (genauer: Ganglienzellen) ausgelöst, die am Herzen anliegen. Eine solche neurogene Automatie kommt bei manchen Ringelwürmern und manchen Gliederfüßern vor, zum Beispiel bei den Zehnfußkrebsen, zu denen Hummer, Krabben und andere Gruppen gehören. Das verantwortliche Herzganglion kann je nach Art zum Beispiel neun oder 16 Zellen haben. Auch der Pfeilschwanzkrebs Limulus und die Vogelspinne Erypelma californicum haben ein neurogenes Herz. Während sich bei myogenen Herzen die Erregung von den Schrittmacherzellen über jeweils benachbarte Muskelzellen schließlich im gesamten Herzen ausbreitet, findet eine solche muskuläre Erregungsweiterleitung in neurogenen Herzen soweit bekannt nicht statt. Stattdessen sind die Muskelzellen vielfach innerviert. Bei Limulus wird jede Muskelzelle von sechs oder mehr Nervenzellen innerviert, die Ganglien entspringen, die rückenwärts am Herzen anliegen und die Erregung steuern. Auch myogene Herzen sind oft innerviert, etwa bei Weichtieren und Wirbeltieren. So können sowohl myogene als auch neurogene Herzen durch das Nervensystem gesteuert werden. Durch entsprechende Nervenimpulse können beispielsweise die Schrittmacherzellen stimuliert oder inhibiert werden, so dass die Herzfrequenz gesteigert oder herabgesetzt wird, je nach den körperlichen Erfordernissen. Bei den Gliederfüßern sind lange Herzen häufiger neurogen und kurze Herzen eher myogen. Generell schlagen beide Herztypen selbstständig, ohne Signalgeber aus dem zentralen Nervensystem. Dies wird als Autonomie oder Autorhythmie bezeichnet. Nebenherzen Die meisten Weichtiere haben ein offenes Gefäßsystem mit einem Herzen mit Vorhof und Kammer. Bei den Kopffüßern, die ein weitgehend geschlossenes Gefäßsystem haben, finden sich jedoch neben dem Hauptherzen noch zwei Kiemenherzen, die das Blut durch die Kapillaren der Kiemen pressen. Sie haben also eine ähnliche Funktion wie die rechte Herzhälfte der Säuger, die den Lungenkreislauf antreibt. Bei Myxinen, einer Gattung der Schleimaale, finden sich neben dem Hauptherzen noch Portalherz, Cardinalherzen und Caudalherz. Nebenherzen gibt es auch in den Flügelvenen von Fledermäusen. Im Lymphgefäßsystem von Froschlurchen treten sogenannte Lymphherzen auf. Sie sind paarig in der Nähe des Steißbeins angelegt und haben eine neurogene Automatie. Ein eigener Schrittmacher ist jedoch nicht vorhanden. Stattdessen werden sie vom vegetativen Nervensystem gesteuert. Lymphherzen kommen auch bei manchen Reptilien und Vögeln vor, etwa beim Strauß, bei den meisten Vögeln und den Säugern aber nicht. Bei vielen Insekten kommen zusätzliche Herzen in Flügeln, Beinen und Antennen vor, die helfen, die Hämolymphe durch diese schmalen Körperanhänge zu pressen. Bis zu einigen Dutzend dieser akzessorischen Herzen können auftreten. Andere blutfördernde Organe Neben Herzen tragen bei manchen Arten auch andere Organe zum Fluss des Blutes bei. In den Beinen der Landwirbeltiere führt die Kontraktion der Muskeln zu einem verbesserten Rückstrom des venösen Blutes zum Herzen. Die Körperbewegung der Gliederfüßer setzt die Hämolymphe in Bewegung. Bei manchen Arten kommen Blutgefäße vor, die sich zusammenziehen können, zum Beispiel beim Perlboot Nautilus, wo sie das Blut durch die Kiemen zum Herzen pumpen. Herzfrequenz Generell gilt, dass innerhalb einer Tiergruppe die Herzfrequenz großer Arten niedriger ist als jene von kleineren Arten. Dies wurde beispielsweise für Säuger, Krebstiere oder Spinnentiere gezeigt. Bei Säugern liegen die Werte für ausgewachsene Tiere in Ruhe zwischen 6 Schlägen pro Minute beim Blauwal und 1000 Schlägen pro Minute bei der Etruskerspitzmaus. Eine Ausnahme von der Regel ist die Giraffe, die mit 170 Schlägen pro Minute eine deutlich höhere Frequenz hat als Tiere vergleichbarer Größe. Bei gleichwarmen Tieren ist die Frequenz höher als bei gleich großen wechselwarmen Tieren. Wie auch die Atemfrequenz steht die Herzfrequenz in Relation zur Stoffwechselrate. Bei gleich großen verwandten Arten mit unterschiedlicher Aktivität haben die trägeren eine langsamere Herzfrequenz als die lebhafteren. Bei Vögeln, Krebsen und Lungenschnecken lässt sich der Zusammenhang zwischen steigender Körpermasse () und abnehmender Herzfrequenz () mit folgender allometrischer Gleichung beschreiben: wobei eine für die Tiergruppe spezifische Konstante ist und bei den Vögeln −0,27, bei den Krebsen −0,12 und bei den Lungenschnecken −0,11 beträgt. Grundsätzlich beziehen sich derartige Vergleiche auf erwachsene Tiere. Die Häufigkeit des Herzschlags (Herzfrequenz) ist nicht allein entscheidend für die Blutmenge, die durch das Herz hindurchgepumpt wird, sondern auch die Amplitude zwischen der Dehnung und Kontraktion der Herzmuskeln, also das Herzschlagvolumen. Aus dem Zusammenwirken beider ergibt sich (als Produkt) das Herzzeitvolumen. Blutdruck Der Blutdruck ist der Druck, gegen den das Herz seinen Inhalt auswerfen muss. Er ist damit entscheidend für die Arbeit, die das Herz verrichten muss. Bei Tieren mit einem geschlossenen Blutkreislauf hängt die Höhe des Blutdrucks unmittelbar mit der Auswurfleistung des Herzens zusammen. Das Herzzeitvolumen ist hier der Quotient aus Blutdruck und peripherem Widerstand. Dies ist bei Tieren mit offenem Kreislaufsystem nicht der Fall. Da die Hämolymphe auch die Leibeshöhle durchströmt, ist der Blutdruck hier einerseits vergleichsweise niedrig und andererseits abhängig von der Körperbewegung und -haltung und dadurch sehr variabel. Bei den Weichtieren wurde gezeigt, dass der Druck, der vom Ventrikel aufgebaut werden kann, bei den Tiergruppen mit aktiverer Lebensweise größer ist. Bei den Kopffüßern sind bei Octopus bis zu 600 mmWS gemessen worden (entspricht 44 mm Hg), bei der Schnecke Patella 50 mmWS (3,7 mm Hg) und bei Muscheln in der Regel unter 20 mmWS (1,5 mm Hg). Bei den Wirbeltieren ist der Blutdruck am höchsten im Körperkreislauf der Vögel, dicht gefolgt vom Körperkreislauf der Säuger. Die anderen Wirbeltiergruppen, die keine vollständige Trennung zwischen Lungenkreislauf und Körperkreislauf haben (siehe unten), haben deutlich niedrigere Blutdrücke (siehe Tabelle). Bei Vögeln und Säugern nimmt der Blutdruck mit dem Alter zu und ist bei Männchen etwas höher als bei Weibchen. Bei Säugetieren, die Winterschlaf halten, sinkt der Blutdruck stark. Wenn nicht anders angegeben, beruhen die Zahlenangaben der Tabelle auf dem zitierten Lehrbuch. Angegeben werden zuerst der Ruheblutdruck am Ende der Herzkontraktion (systolischer Blutdruck), der dem Druck im (linken) Ventrikel entspricht, und gefolgt von einem Schrägstrich der Druck in der Aorta am Beginn der nächsten Kontraktion, gegen den das Herz das Blut auswerfen muss (diastolischer Blutdruck). Alle Werte in mm Hg. Herzen der Wirbeltiere Alle Wirbeltierherzen sind myogen, ein Schrittmacher sorgt für eine herzeigene Reizgenerierung. In vielen Fällen schlagen Herzen unter kontrollierten Bedingungen noch weiter, nachdem sie aus einem Tier herauspräpariert wurden. Diese Eigenschaft wird als Autorhythmie oder Autonomie bezeichnet. Wandstruktur Die Wände der Wirbeltierherzen sind aus mehreren Schichten aufgebaut. Das Herz ist umgeben vom Herzbeutel (Perikard). Die äußerste Schicht des Herzens ist das Epikard und nach innen folgt das äußere Bindegewebe des Herzens. Wenn Koronargefäße (Herzkranzgefäße) vorhanden sind, liegen sie hier. Sie erstrecken sich dann von hier in die darunter liegende Muskelschicht, das Myokard. Hier liegen die Herzmuskelzellen, die Kardiomyozyten. Die innerste Schicht ist das Endokard, eine Bindegewebsschicht, die zum Herzinnenraum hin von einer Schicht Epithelzellen abgeschlossen wird. Die Muskelschicht kommt in zwei Formen vor, als kompaktes oder spongiöses (schwammiges) Myokard. Der jeweilige Anteil beider Typen ist artspezifisch. Bei Fischen und Amphibien liegt hauptsächlich spongiöses Myokard vor, während Säuger fast nur kompaktes Myokard haben. Im Gegensatz zu kompaktem hat spongiöses Myokard häufig keine Blutgefäße, es wird vom Blut im Herzen versorgt. Das spongiöse Myokard kann in Trabekeln oder Bälkchen in die Herzkammer hineingezogen sein. Fische Das Herz der Fische sammelt das Blut aus dem Körper und treibt es mit starkem Druck in die Kiemen. Diese Funktionen lassen sich im Aufbau wiederfinden. Von den vier hintereinander liegenden Kammern sammeln die hinteren beiden, der Sinus venosus und der Vorhof (Atrium), das Blut. Aus diesen beiden dünnwandigen Räumen wird das Blut zunächst in den muskulösen Ventrikel geleitet. Bei den Plattenkiemern (Elasmobranchii, Haie und Rochen) folgt der muskulöse Conus arteriosus (auch Bulbus cordis). Ihr Herzbeutel (Perikard) ist steif, so dass durch das Auspressen des Blutes ein Unterdruck entsteht. Dieser hilft bei der Füllung für den nächsten Zyklus. Bei den Echten Knochenfischen (Teleostei) ist der Conus arteriosus weitgehend zurückgebildet. Stattdessen haben sie aus dem Anfang der Aorta den Bulbus arteriosus entwickelt, eine Struktur, die viele elastische Fasern sowie glatte Muskelzellen enthält. Er ruft einen starken Windkesseleffekt zur Aufrechterhaltung des Blutdrucks hervor. Die Kontraktionswelle entsteht myogen im Sinus venosus und läuft dann nach vorne. Klappen zwischen den Kammern verhindern das Zurückfließen (siehe auch Blutkreislauf der Fische). Eine Abwandlung dieses Bauplans liegt bei den Lungenfischen (Dipnoi) vor. Der Vorhof ist hier geteilt. Während der rechte Vorhof wie der Vorhof der anderen Fische das sauerstoffarme Blut aus dem Körper aufnimmt, wird der linke Vorhof vom neu entwickelten Lungenkreislauf mit sauerstoffreichem Blut gespeist. Eine lange Spiralfalte im Bulbus cordis hilft, das sauerstoffreiche Blut über die Aorta dorsalis in den Körper zu leiten. Wie die Elasmobranchii haben auch die Lungenfische einen steifen Herzbeutel. Amphibien Das Herz der Amphibien ähnelt dem der Lungenfische: Es besitzt zwei separate Vorhöfe und eine Hauptkammer (Ventrikel). Der Sinus venosus ist bei den Amphibien verkleinert. Sauerstoffreiches Blut aus der Lunge kommt im linken Vorhof an, das Blut des Körperkreislaufs im rechten. Von dort gelangt das Blut in die Kammer und danach durch den Conus arteriosus in den Lungen- und den Körperkreislauf. Trabekel in der Kammer erlauben es, sauerstoffreiches und -armes Blut weitgehend getrennt zu halten. Eine Spiralfalte im Conus arteriosus leitet bevorzugt sauerstoffarmes Blut zur Arteria pulmocutanea, deren weitere Verzweigungen zur Lunge und zur Haut führen. Hautatmung kann bei Amphibien einen wichtigen Anteil der Sauerstoffversorgung stellen. Der Körperkreislauf wird dagegen mit sauerstoffreichem Blut beschickt. Sauerstoffreiches Blut von der Haut kommt im Gegensatz zu dem Blut aus der Lunge im rechten Vorhof an, zusammen mit dem sauerstoffarmen Blut aus dem Körperkreislauf. Taucht ein Frosch in sauerstoffreichem Wasser, fließt weniger Blut durch die Lungen, dafür mehr durch die Haut. Der gemeinsame Ventrikel beider Kreisläufe erlaubt es auch in dieser Situation, dass Sauerstoff in die Gewebe geleitet wird (siehe auch Blutkreislauf der Amphibien). Reptilien Bei den Reptilien kommen zwei unterschiedliche Herztypen vor. Der Herztyp der Crocodylia einerseits und der aller anderen Reptilien andererseits. Die anderen Reptilien haben wie die Amphibien ein Herz mit zwei getrennten Vorhöfen (Atrien) und einem gemeinsamen Ventrikel. Der Ventrikel ist aber hier durch Muskelleisten in drei miteinander in Verbindung stehende Räume (Cavum arteriosum, Cavum venosum und Cavum pulmonale) unterteilt, so dass von insgesamt fünf Kammern (besser: Herzhöhlen) gesprochen wird. Der Sinus venosus, bei den Amphibien und Fischen noch dem Vorhof vorgeschaltet, ist weiter reduziert und fehlt manchmal ganz. Entsprechend ist das erregungsbildende Gewebe (Sinusknoten) in die Wand des Atriums verschoben, nahe der Veneneinmündung. Während das Blut aus dem Ventrikel bei den Amphibien noch in einen gemeinsamen Conus arteriosus fließt, ist dieser bei den Reptilien dreigeteilt, in die Lungenarterie und in die rechte und die linke Aorta. Im Gegensatz zu den Amphibien spielt Hautatmung keine Rolle mehr, so dass eine Sauerstoffanreicherung nur in der Lunge stattfindet. Trotz einer gemeinsamen Kammer bleiben sauerstoffreiches und -armes Blut in der Regel getrennt. Sauerstoffarmes Blut kommt vom Körperkreislauf in den rechten Vorhof, von dort ins Cavum venosum und weiter ins Cavum pulmonale (blaue Pfeile in der rechten Abbildung). Das sauerstoffreiche Blut fließt über Cavum arteriosum und Cavum venosum in die beiden Aorten und damit in den Körperkreislauf. Durch den gemeinsamen Ventrikel ist es den Reptilien möglich, mit einem Shunt (deutsch: Abzweig, Nebenanschluss) bei Bedarf den Lungen- oder Körperkreislauf zu umgehen. Die Regulation dieser Vorgänge ist noch nicht völlig verstanden, vermutlich unterscheidet sie sich von Art zu Art. Ein Rechts-links-Shunt bewirkt, dass der Lungenkreislauf umgangen wird und Blut vom Körperkreislauf im Herzen wieder in den Körperkreislauf geleitet wird. Dies geschieht in bei Reptilien häufig vorkommenden Atempausen. Auch bei Reptilien, die unter Wasser ruhen, treten sie auf. Bei den Crocodilia ist der Ventrikel vollständig geteilt, dass wie bei Säugern und Vögeln ein vierkammeriges Herz (besser: ein Herz mit vier Höhlen, ein vierkavitäres Herz, von lateinisch cavum = Höhle, als Oberbegriff von Vorhof und Kammer) vorliegt. Im Gegensatz zu diesen sind jedoch der Lungenkreislauf und der Körperkreislauf nicht vollständig getrennt, so dass Blut zwischen den beiden verschoben werden kann. Sauerstoffreiches Blut kommt von der Lunge in den linken Vorhof und in den linken Ventrikel. Hier entspringt die rechte Aorta, die den vorderen Körper mit dem Gehirn versorgt. Sauerstoffarmes Blut kommt über die Körpervene in den rechten Vorhof und weiter in den rechten Ventrikel. Hier entspringt sowohl die linke Aorta, die den Hinterleib versorgt, als auch die Lungenarterie. Bei Luftatmung und körperlicher Aktivität ist der Druck im linken Ventrikel höher als im rechten. Dadurch ist auch der Druck in der linken Aorta höher als in der rechten. Durch zwei Verbindungen zwischen linker und rechter Aorta strömt dadurch sauerstoffreiches Blut auch in die hintere Körperhälfte. Das sauerstoffarme Blut landet dagegen weitgehend in der Lunge. Jene Reptilien, bei denen die Trennung des Ventrikels in zwei Hälften besonders ausgeprägt ist, erreichen höhere Stoffwechselraten als andere. Bei Waranen mit ihrer zusätzlichen Muskelleiste (siehe Abbildung) kann sie 20 Milliliter Sauerstoff pro Minute pro Kilogramm Körpergewicht betragen, während Schildkröten nur 10 Milliliter erreichen. Daraus wird geschlossen, dass die Entwicklung vollständig getrennter Kammern wichtig für die hohen Stoffwechselraten der Säuger und Vögel war. Säugetiere und Vögel Bei Säugetieren und Vögeln sind linke und rechte Herzhälfte vollständig voneinander getrennt. Im Gegensatz zu den Crocodilia sind bei ihnen aber auch Lungen- und Körperkreislauf vollständig getrennt, so dass in beiden unterschiedlich hohe Drücke aufgebaut werden können. Auch eine Vermischung von sauerstoffarmem und sauerstoffreichem Blut ist ausgeschlossen. Beide Herzhälften haben einen dünnwandigen Vorhof und einen dickwandigen Ventrikel, so dass insgesamt vier Herzhöhlen vorhanden sind. Diese haben verglichen mit anderen Wirbeltieren recht glatte innere Wände. Die rechte Herzhälfte pumpt das Blut durch den Lungenkreislauf („kleiner Kreislauf“), wonach es sauerstoffreich im linken Vorhof ankommt. Die linke Herzhälfte befördert das Blut durch den Körperkreislauf („großer Kreislauf“), an dessen Ende es wieder im rechten Vorhof landet. Da der Gesamtgefäßwiderstand sowie der Blutdruck im Körperkreislauf erheblich größer sind als im Lungenkreislauf, muss die linke Herzkammer eine entsprechend größere Arbeit (Herzarbeit) gegen diesen Widerstand verrichten und weist daher eine deutlich stärkere Wanddicke auf als die rechte. Auch bei unterschiedlichen Füllungsvolumina der vier Herzhöhlen müssen die Schlagvolumina in beiden Herzkammern und in beiden Vorhöfen bei jedem Herzschlag gleich sein. Diese Gleichheit wird gegebenenfalls durch verschiedene Ejektionsfraktionen gewährleistet. Herzklappen zwischen den Vorhöfen und den Ventrikeln sowie am Ausgang der Ventrikel verhindern einen Rückfluss von Blut (siehe auch Blutkreislauf der Vögel und Säugetiere). Das Herz der Säugetiere unterscheidet sich bei den verschiedenen Arten nur wenig, abgesehen von einer Größenanpassung. Dabei haben einzelne Herzmuskelzellen der verschiedenen Arten wiederum kaum Unterschiede in Morphologie und Größe. Die Herzmasse steigt bei den Säugern linear mit der Körpermasse an, sie beträgt in der Regel 0,6 % der Körpermasse. Entsprechend steigt auch das Schlagvolumen linear. Das größte Herz hat der Blauwal, der bei einem Körpergewicht von 100 Tonnen ein Herzgewicht von 600 kg und ein Schlagvolumen von 350 Litern erreicht. Seine Herzfrequenz liegt in Ruhe bei 6 Schlägen pro Minute und kann bei einem Tauchgang auf 2 bis 3 Schläge pro Minute abfallen. Das wohl kleinste Säugerherz hat die Etruskerspitzmaus. Bei einem Körpergewicht von 2 g betragen das Herzgewicht 12 mg und das Schlagvolumen 1,2 µl. Die Ruheherzfrequenz von 800 bis 1200 Schlägen pro Minute (= 13 bis 20 Schläge pro Sekunde) kann bei körperlicher Anstrengung bis auf 1500 Schläge pro Minute (25 Schläge pro Sekunde) gesteigert werden. Der vom linken Ventrikel aufgebaute Blutdruck im Körperkreislauf ändert sich dagegen nur wenig, er liegt unabhängig von der Körpergröße zwischen 100 und 150 mmHg systolisch und zwischen 70 und 105 mmHg diastolisch (siehe Tabelle). Auch bei den Säugetieren besteht ein allometrischer Zusammenhang zwischen Herzfrequenz und Körpermasse. Der Exponent b beträgt hier −0,25, ähnlich dem der Vögel, die Herzfrequenz nimmt also mit zunehmender Körpermasse ab. Dies wird mit der Stoffwechselrate erklärt, die mit zunehmender Körpermasse ebenfalls allometrisch abnimmt (b= 3/4). Der zeitliche Abstand von der Erregung der Vorhöfe bis zur Erregung der Ventrikel (PQ-Intervall, siehe unten) steigt ebenfalls allometrisch mit b=1/4. Eine Ausnahme in mehrerlei Hinsicht ist die Giraffe, die auf Grund des Höhenunterschieds von etwa zwei Metern zwischen Herz und Gehirn einen höheren Blutdruck benötigt. Je nach Quelle liegt dieser bei 300/230 oder 280/180 mmHg und ist damit der höchste aller Säugetiere. Um den hohen Druck aufzubauen, liegt die Herzfrequenz bei für Tiere dieser Größe ebenfalls sehr ungewöhnlichen 170 Schlägen pro Minute (siehe auch: Giraffe#Herz-Kreislauf-System.) Auf Grund der Ähnlichkeit der Herzen der verschiedenen Säugetierarten kann das unten dargestellte menschliche Herz als Modell für alle Säugerherzen gelten. Lage und Aufbau des menschlichen Herzens Lage Das Herz liegt innerhalb des Herzbeutels (Perikard) im Mediastinum: Seitlich grenzen, getrennt durch parietale und viszerale Pleura (Brustfell), die linke und rechte Lunge an das Herz. Unten sitzt das Herz dem Zwerchfell auf, das mit dem Herzbeutel verwachsen ist. Oberhalb teilt sich die Luftröhre (Trachea) in die beiden Hauptbronchien (Bifurcatio tracheae), von denen der linke vom Aortenbogen überquert wird. Unterhalb dieser Aufteilung befindet sich der linke Herzvorhof. Wenn dieser krankhaft vergrößert ist, kann das zu einer Spreizung der Hauptbronchien führen, was sich im Röntgenbild als vergrößerter Winkel zwischen den Bronchien darstellt. Der linke Vorhof steht außerdem nach hinten in direktem Kontakt mit der Speiseröhre. Vor dem Herzen befindet sich das Brustbein (Sternum), im oberen Bereich liegt es vor den abgehenden großen Gefäßen. Zwischen Brustbein und Herz liegt der Thymus. Das Herz liegt also praktisch direkt hinter der vorderen Leibeswand in Höhe der zweiten bis fünften Rippe. Die Herzbasis oben reicht nach rechts etwa zwei Zentimeter über den rechten Brustbeinrand hinaus. Unten kommt die Herzspitze knapp an eine gedachte senkrechte Linie heran, die durch die Mitte des linken Schlüsselbeins verläuft (linke Medioklavikularlinie). Anatomie Die Gestalt des Herzens gleicht einem abgerundeten Kegel, dessen Spitze nach unten und etwas nach links vorne weist. Das Herzvolumen entspricht ungefähr dem Volumen der geschlossenen Faust des betreffenden Menschen. Das Herz sitzt beim Menschen in der Regel leicht nach links versetzt hinter dem Brustbein. In seltenen Fällen ist es nach rechts versetzt (die sogenannte Dextrokardie – „Rechtsherzigkeit“), meist bei Situs inversus (also bei spiegelverkehrter Organanordnung). Das gesunde Herz wiegt etwa 0,5 % des Körpergewichts, beim Mann zwischen 280 und 340 Gramm, bei der Frau zwischen 230 und 280 Gramm. Über den größten Teil des Lebens nimmt die Herzmasse kontinuierlich zu, wobei es bei dauerhafter Belastung eher mit der (risikoarmen) Vergrößerung schon bestehender Herzmuskelzellen reagiert: ab etwa 500 g, dem so genannten kritischen Herzgewicht, erhöht sich das Risiko einer Mangelversorgung des nunmehr vergrößerten Herzens mit Sauerstoff, da die versorgenden Herzkranzgefäße nicht in gleichem Maße mitwachsen. Entgegen früheren Annahmen bildet der Mensch im Lauf seines Lebens neue Herzmuskelzellen, allerdings nur in begrenztem Ausmaß. Im Alter von 25 Jahren beträgt die jährliche Regeneration etwa ein Prozent, bis zum 75. Lebensjahr fällt sie auf unter 0,5 Prozent. Während einer durchschnittlichen Lebensspanne werden damit weniger als 50 % der Herzmuskelzellen ersetzt. Wandschichten Das Herz wird vollständig vom bindegewebigen Herzbeutel (Perikard, Pericardium fibrosum) umschlossen. Die untere Seite des Herzbeutels ist mit dem Zwerchfell (Diaphragma) verwachsen, so dass die Bewegungen des Zwerchfells bei der Atmung auf das Herz übertragen werden. Die innerste Schicht des Herzbeutels (Pericardium serosum) schlägt am Abgang der großen Blutgefäße (s. u.) in das Epikard um, das dem Herzen direkt aufliegt. Zwischen Perikard und Epikard liegt ein mit 10–20 ml Flüssigkeit gefüllter kapillärer Spaltraum, der reibungsarme Verschiebungen des Herzens im Herzbeutel ermöglicht. Diese komplizierten Verhältnisse werden anschaulicher, wenn man sich den Herzbeutel als einen mit Luft gefüllten und verschlossenen Luftballon vorstellt. Die eigene zur Faust geschlossene Hand stellt das Herz dar. Drückt man den Luftballon mit der Faust so weit ein, dass sie vom Ballon vollständig umschlossen wird, so liegt eine Schicht des Luftballons der Faust (dem „Herzen“) direkt an. Diese Schicht, die dem Epikard entspricht, schlägt am Übergang zum Arm in eine äußere Schicht um. Diese äußere Schicht entspricht dem Perikard. Zwischen beiden befindet sich ein mit Luft gefüllter Raum, der dem flüssigkeitsgefüllten Spaltraum des Herzbeutels vergleichbar ist. Unter dem Epikard befindet sich eine Fettschicht (Tela subepicardiaca), in der die Herzkranzgefäße verlaufen. Nach innen hin folgt die dicke Muskelschicht (Myokard) aus spezialisiertem Muskelgewebe, das nur im Herzen vorkommt. Die Herzinnenräume werden vom Endokard ausgekleidet, das auch die Herzklappen bildet. Räume und Gefäße des Herzens Rechte und linke Herzhälfte bestehen jeweils aus einer Kammer (lat. Ventriculus cordis, (Herz-)Ventrikel, kurz RV und LV) und einem Vorhof (Atrium, RA und LA). Getrennt werden diese Räume durch die Herzscheidewand (Septum). Diese wird in die Vorhofscheidewand (Septum interatriale, Vorhofseptum) und die Kammerscheidewand (Septum interventriculare, Ventrikelseptum) unterteilt. Außen ist die Grenze zwischen Herzkammern und Vorhöfen durch die Herzkranzfurche (Sulcus coronarius) ersichtlich, in welcher die Herzkranzgefäße verlaufen. Das Blut kann zwischen den Herzräumen nur in eine Richtung fließen, da sich zwischen den Vorhöfen und den Kammern sowie zwischen den Kammern und den sich anschließenden Gefäßen Herzklappen befinden, die wie Rückschlagventile arbeiten. Alle vier Klappen des Herzens befinden sich ungefähr in einer Ebene, der Ventilebene, und sind gemeinsam an einer Bindegewebsplatte, dem Herzskelett, aufgehängt. Innerhalb der Kammern und Vorhöfe finden sich Muskelzüge, die in die Hohlräume hervorragen – die Papillarmuskeln und die Musculi pectinati. Arterien transportieren das Blut vom Herzen zu den Organen, Venen von den Organen zum Herzen. Arterien des Körperkreislaufs führen sauerstoffreiches (arterielles) Blut, während Arterien des Lungenkreislaufs sauerstoffarmes (venöses) Blut führen. Umgekehrt ist das Blut in den Venen des Körperkreislaufs sauerstoffarm (venös) und das der Lungenvenen sauerstoffreich (arteriell). In den rechten Vorhof münden die obere und untere Hohlvene (Vena cava superior und inferior). Sie führen das sauerstoffarme Blut aus dem großen Kreislauf (Körperkreislauf) dem Herzen zu. Zwischen rechtem Vorhof und rechter Kammer befindet sich die Trikuspidalklappe, die bei der Kammerkontraktion einen Rückstrom des Blutes in den Vorhof verhindert. Von der rechten Herzkammer aus fließt das Blut über einen gemeinsamen Stamm (Truncus pulmonalis) in die beiden Lungenarterien. Der Rückfluss in die rechte Kammer wird durch die taschenförmige Pulmonalklappe verhindert. Die Lungenarterien führen das sauerstoffarme Blut dem Lungenkreislauf (kleiner Kreislauf) zu. Durch meist vier Lungenvenen fließt das in der Lunge mit Sauerstoff angereicherte Blut in den linken Vorhof. Von hier aus gelangt es über eine weitere Segelklappe, die Mitralklappe, zur linken Kammer. Der Ausstrom erfolgt durch den sogenannten linksventrikulären Ausflusstrakt (LVOT) über eine weitere Taschenklappe (Aortenklappe) und die Hauptschlagader (Aorta) in den Körperkreislauf. Herzkranzgefäße Aus dem Anfangsteil der Aorta entspringen die rechte und linke Herzkranzarterie (Koronararterien). Sie versorgen den Herzmuskel selbst mit Blut. Die Herzkranzarterien sind so genannte „funktionelle Endarterien“. Dies bedeutet, dass eine einzelne Arterie zwar mit anderen Arterien verbunden ist (Anastomosen), dass diese Verbindungen jedoch zu schwach sind, um bei Mangelversorgung eine Durchblutung des Gewebes auf einem anderen Weg zu gewährleisten. Fällt also eine Arterie aufgrund einer Blockade oder einer anderen Störung aus, kommt es in dem von dieser Arterie versorgten Gebiet zu einem Absterben von Gewebe. Die linke Koronararterie (Arteria coronaria sinistra, left coronary artery, LCA) versorgt die Herzvorderseite. Sie teilt sich in einen Ramus interventricularis anterior (RIVA, left anterior descending, LAD) und einen Ramus circumflexus (RCX). Die rechte Koronararterie (Arteria coronaria dextra, right coronary artery, RCA) gibt die A. marginalis dextra ab, welche die freie Wand der rechten Herzkammer versorgt. Am „Herzkreuz“ (Crux cordis) teilt sie sich in den Ramus interventricularis posterior und den Ramus posterolateralis dexter. Die rechte Koronararterie versorgt auch einen wichtigen Teil des Erregungssystems (Sinusknoten, Atrioventrikularknoten). Es gibt drei große Koronarvenen, die in den Sinus coronarius des rechten Vorhofs münden und das sauerstoffarme Blut aus dem Herzmuskel abführen. Die große Herzvene (V. cordis magna) verläuft auf der Vorderseite, die mittlere Herzvene (V. cordis media) auf der Hinterseite und die V. cordis parva am rechten Herzrand. Ein kleiner Teil des sauerstoffarmen Blutes wird über die Thebesius-Venen direkt in die Ventrikel entleert. Entwicklung Das Herz beginnt sich beim Menschen schon in der 3. Woche der Embryonalentwicklung zu bilden. Dazu lagern sich Angioblasten (Blutgefäßbildungszellen) vor und seitlich der Prächordalplatte an – der Beginn der Gefäßentwicklung (Vaskulogenese). Sie bilden zunächst mehrere kleinere Hohlräume (Sinus), die schließlich zum hufeisenförmigen Herzschlauch verschmelzen. Die Anlage wandert dann kaudoventral (nach unten und in Richtung Bauch). Um den Herzschlauch herum liegt embryonales Bindegewebe (Mesenchym) aus der Splanchopleura (Seitenplattenmesoderm), welches die Herzmuskulatur (Myokard) bildet. Das Epikard – der dünne Überzug des Herzens – entsteht aus Mesothelzellen. Der primitive Herzschlauch besteht aus folgenden Anteilen: Truncus arteriosus Bulbus cordis primitivus Ventriculus primitivus Atrium primitivum Sinus venosus Am 23. oder am 24. Tag beginnt das Herz mit peristaltischen Kontraktionen und damit mit Pumpbewegungen. Man unterscheidet am fetalen Herzen eine Einstrom- von einer Ausstrombahn. In den Sinus venosus fließen die Dottersackvenen (Vv. vitellinae), die das Blut vom Dottersack in den Embryonalkreislauf leiten, die Nabelvene (V. umbilicalis), die sauerstoffreiches Blut aus den Chorionzotten führt, und die Kardinalvenen (Vv. cardinales anteriores et posteriores), welche das Blut aus dem eigentlichen Embryonalkreislauf enthalten und es wieder zurückführen, ein. Die Ausstrombahn erhält erst Anschluss an die Kiemenbogenarterien, später an den Aortenbogen bzw. den Truncus pulmonalis. Wichtige Prozesse im Rahmen der Entwicklung sind die Bildung des Cor sigmoideum (vom Schlauch zur Schleife) und die Trennung in zwei getrennte Kreisläufe (Körper- und Lungenkreislauf). Weiter werden das Atrium primitivum in einen rechten und einen linken Vorhof (durch Auswachsen von Endokardkissen) und der Ventriculus primitivus in eine rechte und eine linke Herzkammer (durch Bildung des muskulösen und membranösen Septums) unterteilt. Die Segelklappen (zwischen Vorhöfen und Kammern) bilden sich ebenfalls aus auswachsenden Endokardkissen, die Taschenklappen durch Bildung von Endothelwülsten. Funktionsweise des menschlichen Herzens Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystem Die Kontraktion von Herzmuskelfasern wird durch elektrische Signale ausgelöst. Bei einem myogenen Herzen wie dem menschlichen werden die für die Herzaktion nötigen Impulse spontan und rhythmisch in spezialisierten Herzmuskelzellen erzeugt, den Schrittmacherzellen. Damit sich die elektrische Erregung über das Herz ausbreiten kann, sind die einzelnen Herzmuskelzellen über kleine Poren in ihren Zellmembranen miteinander verbunden. Über diese Gap Junctions fließen Ionen von Zelle zu Zelle. Dabei nimmt die Erregung im Sinusknoten zwischen oberer Hohlvene und rechtem Herzohr ihren Ursprung, breitet sich erst über beide Vorhöfe aus und erreicht dann über den Atrioventrikularknoten (AV-Knoten) in der Ventilebene die Kammern. In den beiden Herzkammern gibt es ein Erregungsleitungssystem zur schnelleren Fortleitung, das aus spezialisierten Herzmuskelzellen besteht. Diese Zellen bilden vom AV-Knoten ausgehend das His-Bündel, das das Herzskelett durchbohrt und sich in einen rechten und einen linken Tawara-Schenkel für die rechte und die linke Kammer aufteilt. Der linke Tawara-Schenkel teilt sich in ein linkes vorderes und ein linkes hinteres Bündel. Die Endstrecke des Erregungsleitungssystems wird durch Purkinje-Fasern gebildet, die bis zur Herzspitze verlaufen, dort umkehren und direkt unter dem Endokard in der Arbeitsmuskulatur enden. Zum Teil können sie auch als „falsche Sehnenfäden“ (Chordae tendineae spuriae) oder innerhalb der Moderatorbänder (Trabeculae septomarginales) durch die Lichtung der Kammer ziehen. Dieses System ermöglicht den Kammern, sich trotz ihrer Größe koordiniert zu kontrahieren. Erreichen den AV-Knoten aus irgendeinem Grunde keine Vorhoferregungen, so geht von ihm selbst eine langsamere Kammererregung aus (ca. 40 /min). Der AV-Knoten bildet auch einen Frequenzfilter, der zu schnelle Vorhoferregungen (z. B. bei Vorhofflattern oder -flimmern) abblockt (→ AV-Block). Mechanik der Herzaktion Das menschliche Herz pumpt in Ruhe etwa das gesamte Blutvolumen des Körpers einmal pro Minute durch den Kreislauf, das sind bei Erwachsenen etwa fünf Liter pro Minute. Bei körperlicher Belastung kann die Pumpleistung etwa auf das Fünffache gesteigert werden, wobei sich der Sauerstoffbedarf entsprechend erhöht. Diese Steigerung wird durch eine Verdoppelung des Schlagvolumens und eine Steigerung der Herzfrequenz um den Faktor 2,5 erreicht. Bei jeder Pumpaktion fördert jede Kammer und jeder Vorhof etwas mehr als die Hälfte des maximalen Füllungsvolumens, also etwa 50–100 ml Blut. Das ist die Ejektionsfraktion, also der prozentuale Anteil am enddiastolischen Füllungsvolumen, welcher aus der Herzhöhle herausgeworfen wird. Die Herzfrequenz (Schläge/Minute) beträgt in Ruhe 50–80/min (bei Neugeborenen über 120–160) und kann unter Belastung auf über 200/min ansteigen. Liegt ein zu langsamer Herzschlag vor (unter 60/min im Ruhezustand), wird von einer Bradykardie gesprochen. Schlägt das Herz zu schnell (bei Erwachsenen über 100/min im Ruhezustand), spricht man von einer Tachykardie. Während eines Herzzyklus füllen sich zunächst die Vorhöfe, während gleichzeitig die Kammern das Blut in die Arterien auswerfen. Wenn sich die Kammermuskulatur entspannt, öffnen sich die Segelklappen und das Blut fließt, gesaugt durch den Druckabfall in den Kammern, aus den Vorhöfen in die Kammern. Unterstützt wird dies durch ein Zusammenziehen der Vorhöfe (Vorhofsystole). Es folgt die Kammersystole. Hierbei zieht sich die Kammermuskulatur zusammen, der Druck steigt an, die Segelklappen schließen sich und das Blut kann nur durch die nun geöffneten Taschenklappen in die Arterien ausströmen. Ein Rückfluss des Blutes aus den Arterien während der Entspannungsphase (Diastole) wird durch den Schluss der Taschenklappen verhindert. Die Strömungsrichtung wird also allein durch die Klappen bestimmt. Neben der Muskulatur, dem weitaus größten Teil der Gewebemasse des Herzens, besitzt das Herz ein sogenanntes Herzskelett. Es handelt sich hier um eine bindegewebige Struktur, die hauptsächlich aus den „Einfassungen“ der Ventile besteht. Das Herzskelett hat drei wichtige Funktionen: Es dient als Ansatz für die Muskulatur, als Ansatz für die Herzklappen (daher auch als Ventilebene bezeichnet) und zur elektrischen Trennung von Vorhof- und Kammermuskulatur, um eine gleichzeitige Kontraktion zu verhindern. Das Herzskelett ist ausschlaggebend für die Mechanik der Herzaktion: Aufgrund des Rückstoßes bei der Blutaustreibung ist die Herzspitze im Laufe des gesamten Herzzyklus relativ fixiert und bewegt sich kaum. Somit wird folglich bei einer Kontraktion der Kammermuskulatur (Systole) die Ventilebene nach unten in Richtung der Herzspitze gezogen. In der Erschlaffungsphase der Kammermuskulatur (Diastole) bewegt sich die Ventilebene wieder in Richtung Herzbasis. Bei der Senkung der Ventilebene wird somit zum einen das Blut aus der Kammer in den Kreislauf ausgeworfen und zum anderen vergrößert sich auch der zugehörige Vorhof. Es kommt zu einem Unterdruck, wodurch Blut aus den großen Venen in die Vorhöfe strömt. Bei der Erschlaffung der Kammermuskulatur hebt sich nun die Ventilebene, wodurch die Kammern passiv über die Blutsäulen der Vorhöfe ausgedehnt werden und sich dadurch zu etwa 70–80 % füllen. Die anschließende Kontraktion der Vorhöfe pumpt nun das restliche Blut in die Kammern und leitet somit einen neuen Herzzyklus ein. Die Vorhofkontraktion ist daher nicht zwingend für das Funktionieren des Herzens nötig, was sich auch daran zeigt, dass (im Gegensatz zum Kammerflimmern) Patienten mit Vorhofflimmern durchaus lebensfähig sind. Ein etwa mit einem Pulmonaliskatheter gemessener erniedrigter Druck im rechten Vorhof kann auf ein unzureichendes Blutvolumen oder eine Sepsis, ein erhöhter auf einen kardiogenen Schock, einen rechtsventrikulären Herzinfarkt, eine Lungenembolie oder eine Herzbeuteltamponade hinweisen. Regulation Bei körperlicher Belastung wird die Herzleistung durch die Einwirkung sympathischer Nervenfasern gesteigert, die an den Zellen der Arbeitsmuskulatur und auch des Erregungsleitungssystems den Transmitter Noradrenalin freisetzen. Zusätzlich erreicht Noradrenalin zusammen mit Adrenalin das Herz als Hormon über die Blutbahn. Die Wirkung von Noradrenalin und Adrenalin wird überwiegend über β1-Adrenozeptoren vermittelt. Dieser ist G-Protein-gekoppelt und aktiviert eine Adenylatcyclase (AC), welche die Synthese von cAMP aus ATP katalysiert. Daraufhin phosphoryliert eine cAMP-abhängige Proteinkinase (PKA) Calciumkanäle und erhöht dadurch den langsamen Einstrom von Calcium in die Muskelzelle. Dies führt zur Ausschüttung von weiterem Calcium aus dem Sarkoplasmatischen Retikulum (SR) und damit zur gesteigerten Muskelkontraktion des Herzens während der Systole (positiv inotroper Effekt). Außerdem phosphoryliert die PKA das Phospholamban des SR, wodurch die Calciumaufnahme ins SR erhöht wird und die Relaxationszeit des Herzens in der Diastole verkürzt wird (positiv lusitroper Effekt). Zudem steigen die Herzfrequenz (positiv chronotrop) und die Überleitungsgeschwindigkeit im AV-Knoten (positiv dromotrop) an. Der Gegenspieler des Sympathikus ist auch am Herzen der Parasympathikus, welcher über den Nervus vagus (X. Hirnnerv) wirkt, der mit dem Transmitter Acetylcholin die Herzfrequenz, die Kontraktionskraft des Herzens, die Überleitungsgeschwindigkeit des AV-Knotens und die Erregbarkeit des Herzens herabsetzt (negativ chronotrop, negativ inotrop, negetiv dromotrop und negativ bathmotrop), wobei die Wirkung des Parasympathikus auf die Ino- und Bathmotropie eher gering ist. Gleichzeitig passt sich die Kontraktionskraft (Herzkraft) automatisch den Erfordernissen an: Wird der Herzmuskel durch zusätzliches Blutvolumen stärker gedehnt, so verbessert sich dadurch die Funktion der kontraktilen Elemente in den Muskelzellen (Frank-Starling-Mechanismus). Dieser Mechanismus trägt wesentlich dazu bei, dass sich die gleichzeitigen Schlagvolumina von rechter und linker Kammer nicht unterscheiden: Erhöht sich aus irgendeinem Grund kurzfristig das Schlagvolumen einer Herzhälfte, so führt dies zu einer Vergrößerung des Füllungsvolumens der anderen Herzhälfte bei der folgenden Herzaktion. Dadurch wird die Wand stärker gedehnt und die Kammer kann mit verbesserter Kontraktionskraft ebenfalls ein größeres Blutvolumen auswerfen. Bei jeder Herzaktion ist in allen vier Herzhöhlen das Produkt aus enddiastolischem Füllungsvolumen und zugehöriger Netto-Ejektionsfraktion notwendigerweise konstant. Gäbe es diese Gleichheit der vier Schlagvolumina nicht, käme es sofort zum Blutstau. Das Herz produziert in seinen Vorhöfen (vor allem im rechten Vorhof) auch dehnungsabhängig ein harntreibendes Hormon, das atriale natriuretische Peptid (ANP), um Einfluss auf das zirkulierende Blutvolumen zu nehmen. Erkrankungen In der Medizin beschäftigt sich die Kardiologie als Spezialgebiet der Inneren Medizin mit dem Herzen und der konservativen Behandlung der Herzerkrankungen bei Erwachsenen; Operationen am Herzen werden von Herzchirurgen durchgeführt. Herzerkrankungen von Kindern sind, soweit konservativ therapierbar, Gegenstand der Kinderkardiologie, welche sich als Teilgebiet der Pädiatrie seit etwa 1975 entwickelt hat. Die operative Therapie bei Kindern wird, zumindest in Deutschland, von der als Spezialisierung etablierten Kinderherzchirurgie übernommen. Da seit etwa 1995 zunehmend Kinder mit komplexen angeborenen Herzfehlern das Erwachsenenalter erreichen, stellt sich heute die Frage der medizinischen Versorgung für diesen Patientenkreis, der lebenslang auf kardiologische Kontrolluntersuchungen angewiesen ist und bei dem eventuell auch Re-Operationen anstehen. Erst vereinzelt haben sich bisher Erwachsenenkardiologen intensiv auf dem Gebiet der angeborenen Herzfehler fortgebildet. Kinderkardiologen sind zwar sehr kompetent im Bereich der verschiedenen Krankheitsbilder, jedoch als Pädiater nicht im Bereich der Erwachsenkardiologie ausgebildet. Deshalb werden heute zunehmend interdisziplinäre Sprechstunden in verschiedenen Herzzentren angeboten. Siehe auch Sportherz Herztransplantation Literatur Ole Martin Høystad: Kulturgeschichte des Herzens. Von der Antike bis zur Gegenwart. Aus dem Norwegischen von Frank Zuber. Böhlau, Köln / Weimar / Wien 2006, ISBN 3-412-28705-9 Susanne Hahn: Herz. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 581 ff. Charles Reginald Schiller Harris: The heart and the vascular system in ancient Greek medicine from Alcmaeon to Galen. Oxford 1973. Friedrich Wilhelm Hehrlein: Herz und große Gefäße. In: Franz Xaver Sailer, Friedrich Wilhelm Gierhake (Hrsg.): Chirurgie historisch gesehen: Anfang – Entwicklung – Differenzierung. Dustri-Verlag, Deisenhofen bei München 1973, ISBN 3-87185-021-7, S. 164–185. Das Herz (Gedächtnisschrift für Ernst Boehringer). 3 Bände. Dr. Karl Thomae GmbH, Biberach an der Riß 1965–1969. Wolfgang Bargmann, Wilhelm Doerr: Das Herz des Menschen. Thieme, Stuttgart 1963. Herbert Reindell, Helmut Klepzig: Krankheiten des Herzens und der Gefäße. In: Ludwig Heilmeyer (Hrsg.): Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 450–598. T. East: The Story of Heart Disease. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Herzinfarkt
Herzinfarkt
Der Herzinfarkt oder (genauer) Herzmuskelinfarkt bzw. Myokardinfarkt, auch Koronarinfarkt genannt, ist ein akutes und lebensbedrohliches Ereignis infolge einer Erkrankung des Herzens, bei der eine Koronararterie oder einer ihrer Äste verlegt oder stärker eingeengt wird. In der Humanmedizin gebräuchliche Abkürzungen sind HI, MI (myocardial infarction) oder AMI (acute myocardial infarction). Es handelt sich um eine anhaltende Durchblutungsstörung (Ischämie) von Teilen des Herzmuskels (Myokard), die in den meisten Fällen durch Blutgerinnsel in einer atherosklerotisch veränderten Engstelle eines Herzkranzgefäßes verursacht wird. Leitsymptom des Herzinfarktes ist ein plötzlich auftretender, anhaltender und meist starker Schmerz im Brustbereich, der vorwiegend linksseitig in die Schultern, Arme, Unterkiefer, Rücken und Oberbauch ausstrahlen kann. Er wird oft von Schweißausbrüchen/Kaltschweißigkeit, Übelkeit und eventuell Erbrechen begleitet. Bei etwa 25 % aller Herzinfarkte treten nur geringe oder keine Beschwerden auf (sogenannter stummer Infarkt). In der Akutphase eines Herzinfarktes kommen häufig gefährliche Herzrhythmusstörungen vor; auch kleinere Infarkte führen nicht selten über Kammerflimmern zum plötzlichen Herztod. Etwa 30 % aller Todesfälle beim Herzinfarkt ereignen sich vor jeder Laienhilfe oder medizinischen Therapie. Der Artikel behandelt den Myokardinfarkt im Wesentlichen beim Menschen; Myokardinfarkte bei Tieren sind gesondert am Schluss beschrieben. Epidemiologie Der Herzinfarkt ist eine der Haupttodesursachen in den Industrienationen. Die Inzidenz beträgt in Österreich/Deutschland etwa 300 Infarkte jährlich pro 100.000 Einwohner (in Japan < 100; Mittelmeer, Schweiz, Frankreich < 200; 300 bis 400 in Skandinavien; 400 bis 500 in England, Ungarn), in Deutschland erleiden jedes Jahr etwa 280.000 Menschen einen Herzinfarkt. Laut Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamtes starben in Deutschland im Jahr 2015 über 49.000 Menschen infolge eines akuten Herzinfarktes. Damit liegt der akute Herzinfarkt seit 1998 immer an zweiter Stelle der Todesursachen in Deutschland. Sowohl die absolute Anzahl der Sterbefälle infolge eines Herzinfarktes als auch die relative Häufigkeit sind in Deutschland seit Jahren stetig rückläufig (siehe Tabelle). Herzinfarkte treten deutlich häufiger in sozial ärmeren Stadtteilen auf. Zudem sind die Patienten aus diesen Vierteln im Gegensatz zu Patienten aus sozial privilegierteren Bezirken jünger und haben ein höheres Risiko, innerhalb eines Jahres nach dem Herzinfarkt zu versterben. Terminologie und Pathologie Das Verständnis vom Herzinfarkt hat sich seit den 1970er Jahren grundlegend gewandelt. Neue Diagnose- und Therapieverfahren haben wichtige Erkenntnisse zur Pathophysiologie besonders der ersten Stunden nach Beginn der Symptome beigetragen und die Definition und Terminologie des Herzinfarktes verändert. Terminologie Eine in jeder Situation gültige Definition des Herzinfarktes existiert nicht. Allgemein ist akzeptiert, dass der Begriff Herzinfarkt den Zelltod von Herzmuskelzellen auf Grund einer länger andauernden Durchblutungsstörung (Ischämie) beschreibt. Schwieriger ist die Frage, welche Kriterien für einen solchen Zelltod zugrunde gelegt werden. Die eingesetzten Messinstrumente unterscheiden sich teilweise erheblich: Rettungsdienste diagnostizieren den Herzinfarkt anhand von Symptomen und EKG-Veränderungen, Intensivmediziner zusätzlich mit Hilfe von Laboruntersuchungen, Pathologen ausschließlich auf der Grundlage von makroskopischen oder noch seltener auch mikroskopischen Gewebeveränderungen und Epidemiologen schließlich meist unter Verwendung von mehr oder weniger exakten Todesursachenstatistiken (vgl. Leichenschau) oder Entlassungsdiagnosen der Krankenhäuser. Bei länger als 20 Minuten anhaltenden infarkttypischen Brustschmerzen wird zunächst von einem akuten Koronarsyndrom gesprochen, was die Möglichkeit eines Herzinfarktes einschließt. Wenn sich dann in einem möglichst rasch anzufertigenden Elektrokardiogramm (EKG) Hebungen der ST-Strecke (vgl. EKG-Nomenklatur) zeigen, so wird der Begriff ST-Hebungsinfarkt (Abk. STEMI für ST-elevation myocardial infarction) verwendet. Bei Patienten ohne eine solche ST-Hebung kann erst nach drei bis vier Stunden mit Hilfe von Laboruntersuchungen zwischen Nicht-ST-Hebungsinfarkt (Abk. NSTEMI für Non-ST-elevation myocardial infarction) und instabiler Angina pectoris unterschieden werden. Während in den für Deutschland geltenden Leitlinien STEMI und NSTEMI als endgültige Diagnosen angesehen werden, unterscheiden die US-amerikanischen Leitlinien zwischen Q-wave myocardial infarction (Qw MI) und Non-Q-wave myocardial infarction (NQMI) als abschließender Diagnose. Diese Unterscheidung zwischen transmuralen (die gesamte Dicke der Wandschicht des Herzens betreffend) und nicht-transmuralen Myokardinfarkten ist auch in den deutschsprachigen Ländern gebräuchlich und wird anhand von Veränderungen des QRS-Komplexes im EKG getroffen, die in der Regel erst nach zwölf Stunden, oft auch erst nach einem Tag, erkennbar sind. Pathophysiologie Die Mehrzahl der Herzinfarkte entsteht im Rahmen einer koronaren Herzkrankheit (KHK). Wie alle akuten Koronarsyndrome beim Menschen werden sie fast immer durch eine plötzliche Minderdurchblutung in einem Herzkranzgefäß hervorgerufen, die auf eine arteriosklerotische Gefäßveränderung mit zusätzlichen Blutgerinnseln („Koronarthrombose“) zurückzuführen ist und von einer krampfartigen Gefäßverengung (Koronarspasmus) begleitet sein kann. Das sich daraus entwickelnde Krankheitsbild hängt von der Lokalisation, der Schwere und der Dauer der Durchblutungsstörung des Herzmuskels ab. Bei ST-Hebungsinfarkten zeigt sich im akuten Stadium bei über 90 % ein durch Blutgerinnsel (Thromben) verschlossenes Herzkranzgefäß. Bei NSTEMI sind nur in etwa 50 % der Fälle Thromben in den Kranzgefäßen nachweisbar. 65–75 % der ST-Hebungsinfarkte entstehen durch die Ruptur eines „vulnerablen“ Plaques, also den Einriss der dünnen fibrösen Kappe einer entzündlich veränderten lipidreichen Gefäßwandveränderung. Etwa 75 % der Infarkte entstehen an nur leicht oder mittelgradig veränderten Abschnitten der Herzkranzgefäße. Deutlich seltener ist ein Herzinfarkt die Folge einer anderen Erkrankung. In Frage kommen Verschlüsse der Herzkranzgefäße durch andere Ursachen, wie langanhaltende „Verkrampfungen“ (Spasmen) bei Prinzmetal-Angina oder im Rahmen einer allergischen Reaktion (Kounis-Syndrom) und Embolien bei einer Endokarditis oder einer disseminierten intravasalen Koagulopathie (DIC). Auch Blutungen oder Tumoren am Herzen sowie Einrisse der Gefäßinnenwand (Intima) bei einer Aortendissektion können zum Verschluss eines Kranzgefäßes und damit zum Herzinfarkt führen. Wenn seine Blutzufuhr komplett unterbrochen ist, beginnt der Herzmuskel nach 15–30 Minuten abzusterben. Dieser Vorgang der Infarzierung beginnt innen, in der den Herzkammern zugewandten Schicht, und setzt sich zeitabhängig nach außen, zum Herzbeutel hin, fort. Infarktlokalisation Herzinfarkte ereignen sich in unterschiedlichen Bereichen des Herzmuskels, abhängig davon, welches Gefäß betroffen ist und welcher Abschnitt des Herzmuskels von dem jeweiligen Gefäß mit Blut versorgt wird. Da es eine große Variabilität der Herzarterien gibt, kann man keine strengen Regeln für die Infarktlokalisation aufstellen. Häufig führen Verschlüsse der rechten Koronararterie (RCA – Right Coronary Artery) zu sogenannten Hinterwandinfarkten und krankhafte Veränderungen der linken Herzarterie (LCA – Left Coronary Artery) zu Vorderwandinfarkten. Der übliche Ausdruck Hinterwandinfarkt ist dabei insofern irreführend, als es sich zumeist um einen inferioren Infarkt handelt, also in einem dem Zwerchfell (Diaphragma) zugewandten unteren Areal (zum streng posterioren Infarkt siehe unten). Je näher der Verschluss zum Abgang der jeweiligen Arterie von der Aorta liegt (man sagt proximal), desto größer ist das Infarktareal; je weiter entfernt (man sagt distal), desto kleiner ist das minderversorgte Muskelgebiet. Im Einzelnen unterscheidet man so proximale Verschlüsse der RCA, die zu einem rechtsventrikulären Infarkt oder einem inferioren (zur Herzspitze gelegenen) Hinterwandinfarkt führen, und Prozesse in einem Ast der RCA, dem Ramus posterolateralis dexter, die zu einem Hinterseitenwandinfarkt führen. Die Einteilung ist komplizierter, wenn die linke Herzarterie (LCA) betroffen ist, da diese mehr Äste besitzt. Der sogenannte Hauptstamm der LCA ist sehr kurz und teilt sich gleich in den Ramus circumflexus (RCX) und den Ramus interventricularis anterior (RIVA). Der RIVA wird im englischsprachigen Raum als LAD (Left Anterior Descending) bezeichnet; doch auch im deutschsprachigen Raum (zum Beispiel in der Herzchirurgie) wird anstelle von RIVA oft der Begriff LAD verwendet. Verschlüsse der RCX führen oft zu einem posterioren (zum Rücken) gelegenen Hinterwandinfarkt. Der posteriore Hinterwandinfarkt heißt in der Nomenklatur der Pathologen Seitenwand- oder Kanteninfarkt. Proximale Verschlüsse der RIVA führen zu einem großen Vorderwandinfarkt, distale RIVA-Verschlüsse führen zu einem anteroseptalen Infarkt; dabei ist die Herzscheidewand betroffen. Ein Verschluss des Diagonalastes der RIVA führt zu einem Lateralinfarkt. Die verschiedenen Infarkttypen verursachen charakteristische EKG-Veränderungen. Sieht man zum Beispiel direkte Infarktzeichen (ST-Hebungen) in allen Brustwandableitungen (V1-V6), handelt es sich (bezogen auf das Gefäßversorgungsgebiet) um einen großen Vorderwandinfarkt. Dann findet sich meistens ein proximaler Verschluss der RIVA. Die entsprechende Zuordnung aufgrund des EKGs ist aber vorläufig und kann nur durch eine Coronarangiographie bewiesen werden. Da die Muskelmasse und damit auch das Versorgungsgebiet des rechten Ventrikels kleiner als des linken ist und zu dessen Durchblutung folglich auch eine längere Gefäßstrecke notwendig ist, die erkranken kann, ist bei den Herzinfarkten auch statistisch überwiegend die linke Koronararterie betroffen. Risikofaktoren Da Herzinfarkte die Folge einer Atherosklerose der Herzkranzgefäße (Koronare Herzkrankheit) sind, sind die Hauptrisikofaktoren solche, die zur Atherosklerose führen: Tabakkonsum, Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), Bluthochdruck Hypercholesterinämie familiäre Belastung (früh auftretende Herzkreislauferkrankungen wie Infarkt oder Schlaganfall bei nahen Blutsverwandten) ererbte oder erworbene Störung des Fettstoffwechsels. Hierbei sind vor allem ein erhöhtes LDL, erhöhtes IDL, niedriges HDL und erhöhte Triglyceride problematisch. Einige der o. g. Risikofaktoren verstärken sich bei Übergewicht, Fehlernährung und Bewegungsmangel. Für die Berechnung des individuellen Risikos gibt es Software wie den Arriba-Rechner. Trotz tendenzieller Gewichtszunahme bei Rauchstopp verringert dieser das Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu erkranken. Stress und Wut Auslösende Faktoren für einen Infarkt können plötzliche Belastungen und Stresssituationen mit starken Blutdruckschwankungen sein; 40 % aller Infarkte ereignen sich in den frühen Morgenstunden (zwischen 6 und 10 Uhr). Infarkte treten montags häufiger als an anderen Wochentagen auf, auch bei Rentnern nach dem 60. Lebensjahr. In Japan bezeichnet Karōshi den „Tod durch Überarbeiten“, der meist als Herzinfarkt oder Schlaganfall auftritt. Der Anteil psychosozialer Faktoren wie Depression, Angst, Persönlichkeit, Charakter, sozialer Isolation und chronischem Stress bei der Entstehung einer KHK wird seit Jahrzehnten ohne klares Ergebnis untersucht. Gesundheitsschädliches Verhalten, Stress, Rauchen, zu reichliche Ernährung etc. haben unzweifelhaft Einfluss. Diskutiert wird weiter, inwieweit beispielsweise eine Aktivierung von Blutplättchen oder des neuroendokrinen Systems mit Ausschüttung von Stresshormonen mit den Folgen einer Verengung der Blutgefäße, Verschlechterung der Fließeigenschaften des Blutes sowie Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck zusätzliche auslösende Qualitäten aufweist. Eine Studie aus dem Jahr 2006 zur Zeit der Fußball-Weltmeisterschaft hat gezeigt, dass die mit Fußball verbundenen Emotionen das Risiko für einen Infarkt erheblich steigern und dass dies besonders für Menschen zutrifft, die eine bekannte koronare Herzkrankheit haben. Diese Erkenntnis wird jedoch in der wissenschaftlichen Literatur kontrovers diskutiert: So konnte eine zweite Studie im gleichen Zeitintervall in der gleichen Region (Bayern) keinen Einfluss der Fußballweltmeisterschaft 2006 auf das Risiko eines Myokardinfarkts nachweisen. Auch andere emotionale Faktoren leisten der Krankheit Vorschub. So konnte nachgewiesen werden, dass gewohnheitsmäßige, schlecht gehandhabte Wut ein machtvoller Prädiktor für Herzinfarkte ist. Infarktpatienten, die sich einem Anti-Aggressivitäts-Training unterzogen, erlitten unter Studienbedingungen weniger häufig einen zweiten Infarkt als Personen der Vergleichsgruppe. Alkohol Bei übermäßigem Alkoholkonsum ist das Risiko für einen Herzinfarkt und verschiedene andere schwere Erkrankungen erhöht. Hinsichtlich der Sterblichkeit gibt es Hinweise auf eine Korrelation zwischen einem regelmäßigen Konsum von geringen und mehr noch „mäßigen“ Mengen Alkohol und einem niedrigeren Risiko, an Herzkreislauferkrankungen zu sterben. Insgesamt betrachtet stellen dennoch selbst geringe Mengen Alkohol eine Schädigung für den Körper dar. Infektion Eine akute Infektionskrankheit erhöht das Risiko eines Herzinfarktes. Bereits in den 1920er Jahren wurde erkannt, dass während einer Influenza-Epidemie die Herzinfarktrate anstieg. Die gleiche Beobachtung wurde bei Lungenentzündung, akuter Bronchitis und anderen Atemwegsinfektionen gemacht. Eine neuere Studie ergab nach einer Influenza-Infektion ein sechsfach erhöhtes Infarktrisiko, nach RSV-Infektion ein vierfach und nach anderen virusbedingten Atemwegserkrankungen ein dreifach erhöhtes Infarktrisiko. Auch für bakterielle Infektionen mit Pneumokokken und Haemophilus influenzae wurde eine Steigerung der Infarktrate nachgewiesen. Harnwegsinfektionen und Bakteriaemien erhöhen ebenfalls das Infarktrisiko. Als Erklärung wird angenommen, dass atheroskleroischer Plaques zahlreiche Entzündungszellen enthalten. Bei einer Infektion werden verschiedene Zytokine wie zum Beispiel IL1, IL6, IL8 und TNF-alpha ausgeschüttet. Diese stimulieren die Entzündungszellen im atheroskleroischen Plaque und begünstigen eine Destabilisierung mit folgender Thrombose und Verschluss. Weitere Risikofaktoren Ein erhöhter Blutspiegel von Homocystein (Hyperhomocysteinämie) ist ebenfalls ein unabhängiger Risikofaktor, die verfügbaren Therapieansätze zur Senkung des Homocysteinspiegels führen allerdings nicht zu einer Senkung des kardiovaskulären Risikos. Auch ein niedriger Blutspiegel des Vitamin D3 (25-Hydroxy-Cholecalciferol) korreliert möglicherweise mit einem erhöhten Infarktrisiko. In einer prospektiven Fall-Kontroll-Studie konnte gezeigt werden, dass Männer mit niedrigeren Vitamin-D3-Spiegeln ein doppelt so hohes Infarktrisiko hatten wie jene mit höheren. Männer mit mittleren Spiegeln an Vitamin D3 (15,0–22,5 ng/ml) waren im Vergleich zu jenen mit höheren offenbar noch vermehrt infarktgefährdet. Ob dies in einer mangelhaften Zufuhr des Vitamin D oder einem verminderten Umbau des 7-Dehydrocholesterol bzw. 25-Hydroxy-Cholecalciferol in der Leber und Haut begründet ist, der auf einer auch für den Herzinfarkt ursächlichen Disposition beruhen könnte, wurde nicht untersucht. Schlechte Compliance ist ein Risikofaktor für ein Fortschreiten der Erkrankung. Eine Analyse der Einnahme fettsenkender Medikamente (Statine), Betablocker und Calciumantagonisten nach Herzinfarkt zeigte, dass eine schlechte Compliance eine Erhöhung der Mortalität innerhalb von 2,4 Jahren für Statine um 25 % und für Betablocker um 13 % hatte. Bei den Kalziumantagonisten ergab sich keine Beziehung zwischen Mortalität und Zusammenarbeit. Träger der Blutgruppe AB sind am stärksten herzinfarktgefährdet, diejenigen der Gruppe 0 dagegen am wenigsten. Ein weiterer Risikofaktor ist das Vorhandensein einer Migräne mit Aura. Dieser Risikofaktor ist laut einer Studie nach der arteriellen Hypertonie der zweitwichtigste Risikofaktor für Herzinfarkt und Schlaganfall. Auch eine Allergieneigung kann das Risiko für ein kardiales Ereignis erhöhen (Kounis-Syndrom). Epidemiologische Studien zur Wirtschaftskrise in Griechenland und zum Tropensturm Katrina in New Orleans zeigen auch, dass es nach Krisen vermehrt zu Herzinfarkten kommt. Dies könnte entweder an fehlenden Medikamenten oder posttraumatischem Stress liegen, dem die Menschen ausgesetzt sind. Auch der Wohnort könnte eine gewisse Rolle spielen. So zeigt eine neue europäische Kohortenstudie, dass eine Feinstaubbelastung bereits unterhalb der EU-Grenzwerte zu einem höheren Risiko für ein koronares Ereignis führt. An sehr kalten Tagen steigt die Zahl der Herzinfarkte. Starke Kälte belastet die Herzkranzgefäße, indem sich die Gefäße verengen und die Blutversorgung des Herzmuskels vermindern, der dadurch weniger Sauerstoff bekommt. Gleichzeitig werden auch die Widerstandsgefäße im übrigen Körper verengt – das hat einen Blutdruckanstieg zur Folge-, so dass das Herz gegen einen größeren Widerstand anpumpen muss. Darüber hinaus existieren erste Hinweise auf ähnliche Zusammenhänge zwischen der kälteren Jahreszeit und dem häufigeren Auftreten von Schlaganfällen, Lungenembolien und bestimmten Herzrhythmusstörungen. Andererseits gibt es aber auch kanadische Studien, die einen Zusammenhang zwischen zu warmen Nächten und dem Herzinfarkt belegen, besonders bei Männern. Zwei Drittel der Opfer in den besonders heißen Sommerphasen im Juni und Juli waren Männer. Mit jedem Grad wärmer in der Nacht stieg das Risiko eines tödlichen Herzinfarkts für die Männer um vier Prozent. Prävention Die Empfehlungen der American Heart Association (AHA) von 2021 beinhalten folgende evidenzbasierte Richtlinien zur Ernährung: Energiezufuhr auf Verbrauch einstellen, um ein gesundes Körpergewicht zu erreichen und zu halten Viel Obst und Gemüse essen und eine bunte Vielzahl wählen Vollkornprodukte statt Weißmehlprodukten konsumieren Gesunde Formen von Eiweiß konsumieren: vorwiegend pflanzliches Eiweiß wählen (Hülsenfrüchte, Nüsse) Fisch und Meeresfrüchte fettarme Milchprodukte wenn Fleisch oder Geflügel gewünscht sind, fettarmes und unbearbeitetes Fleisch wählen flüssige Pflanzenöle bevorzugen gegenüber tropischen Ölen (Kokos, Palm, Palmkern), tierischen Fetten oder gehärteten Fetten Minimal verarbeitete Lebensmittel statt hochverarbeitete Lebensmittel wählen Mahlzeiten mit keinem oder wenig Salz zubereiten Wer keinen Alkohol trinkt, sollte nicht damit anfangen, wer doch Alkohol trinkt, sollte den Konsum reduzieren Sich immer an diese Richtlinien halten, unabhängig davon, wo Lebensmittel zubereitet oder konsumiert werden Krankheitsbild Symptome Die meisten Patienten klagen über Brustschmerzen unterschiedlicher Stärke und Qualität. Typisch ist ein starkes Druckgefühl hinter dem Brustbein (retrosternal) oder Engegefühl im ganzen Brustkorb (als ob „jemand auf einem sitzen würde“). Auch stechende oder reißende Schmerzen werden beschrieben. Die Schmerzen können in die Arme (häufiger links), den Hals, die Schulter, den Oberbauch und den Rücken ausstrahlen. Oft wird von einem „Vernichtungsschmerz“ gesprochen, der mit Atemnot, Übelkeit und Angstgefühl („Todesangst“) einhergeht. Im Gegensatz zum Angina-pectoris-Anfall bessern sich diese Beschwerden oft nicht durch Anwendung von Nitroglycerin. Frauen sowie ältere Patienten zeigen im Vergleich zu Männern bzw. jüngeren Patienten häufiger atypische, diffusere Symptome; häufig sind es Atemnot, Schwäche, Magenverstimmungen und körperliche Erschöpfungszustände. Erschöpfung, Schlafstörungen und Atemnot wurden als häufig auftretende Symptome genannt, welche bereits bis zu einem Monat vor dem eigentlichen Infarktereignis auftreten können. Schmerzen im Brustkorb können bei Frauen eine geringere Voraussagekraft haben als bei Männern. Manche Herzinfarkte verursachen keine, nur geringe oder untypische Symptome und werden manchmal erst zu einem späteren Zeitpunkt diagnostiziert, z. B. anlässlich einer EKG-Untersuchung. So wurde ein Teil der in den 30 Jahren der Framingham-Studie diagnostizierten Infarkte nur auf Grund der routinemäßig angefertigten EKG festgestellt; fast die Hälfte von ihnen war ohne Symptome verlaufen („stille“ oder „stumme“ Infarkte). Der Anteil unbemerkter Infarkte war bei Frauen (35 %) höher als bei Männern (28 %). Von den mehr als 430.000 Patienten, die bis 1998 in US-amerikanischen Krankenhäusern in das Register National Registry of Myocardial Infarction 2 aufgenommen wurden, hatten 33 % bei Krankenhausaufnahme keine Brustschmerzen. Bei den Patienten ohne Brustschmerzen fanden sich mehr Frauen, mehr Ältere und mehr Diabetiker. Auch in der EKG-Untersuchung werden zahlreiche stumme Infarkte nicht erkannt, die sich aber im SPECT nachweisen lassen, insbesondere bei Diabetikern. Menschen mit Diabetes mellitus haben häufig ein vermindertes Schmerzempfinden. Sie nehmen aufgrund von Nervenschädigungen erste Symptome wie Brustschmerz kaum wahr. Ein chronisch hoher Blutzucker begünstigt die Arteriosklerose als Ursache von Herzinfarkt und Schlaganfall, so dass bei Männern mit Diabetes das Herzinfarktrisiko um das Zwei- bis Vierfache und bei Frauen um das Sechsfache erhöht ist. Klinische Zeichen Die Befunde der körperlichen Untersuchung sind variabel; sie reichen vom Normalbefund eines unbeeinträchtigten Patienten bis hin zum bewusstlosen Patienten mit einem Herz-Kreislauf-Stillstand. Eindeutige klinische Zeichen des Herzinfarktes gibt es zwar nicht, typisch aber ist der Gesamteindruck eines schmerzgeplagten Patienten mit Blässe, ängstlich wirkendem Gesichtsausdruck, Erbrechen und Schweißneigung. Andere Befunde weisen bereits auf eingetretene Komplikationen hin: Pulsunregelmäßigkeiten auf die beim Infarkt häufigen Extrasystolen, Pulsbeschleunigung, beim Abhören (Auskultation) neben den zwei normalen ein dritter Herzton und Rasselgeräusche über der Lunge sowie Halsvenenstauung auf eine Pumpschwäche des Herzens (Herzinsuffizienz), Herzgeräusche auf eine Mitralklappeninsuffizienz, eine Herzbeutelentzündung (Perikarditis) oder eine Ventrikelruptur (Herzkammerriss) und Kollaps, Bewusstlosigkeit und Herz-Kreislaufstillstand auf schwerwiegende Rhythmusstörungen wie Kammerflimmern, ventrikuläre Tachykardien oder Asystolien. Technische Befunde Elektrokardiogramm Das wichtigste Untersuchungsverfahren bei Infarktverdacht ist das EKG. Im Akutstadium treten gelegentlich Überhöhungen der T-Wellen (vgl. EKG-Nomenklatur) und häufig Veränderungen der ST-Strecke auf, wobei ST-Strecken-Hebungen auf den kompletten Verschluss eines Herzkranzgefäßes hinweisen. Im weiteren Verlauf kommt es nach etwa einem Tag oft zu einer „Negativierung“ (Ausschlag unterhalb der sogenannten Nulllinie) von T-Wellen. Veränderungen des QRS-Komplexes weisen in dieser Phase auf eine transmurale Infarzierung hin, einen Gewebsuntergang, der alle Wandschichten des Herzmuskels betrifft. Diese QRS-Veränderungen bleiben in der Regel lebenslang sichtbar und werden oft als „Infarktnarbe“ bezeichnet. Auch für die Erkennung und Beurteilung von Herzrhythmusstörungen als häufige Komplikationen eines Infarktes ist das EKG von entscheidender Bedeutung. Um Extrasystolen, Kammerflimmern und AV-Blockierungen in der Akutphase so rasch wie möglich erkennen und ggf. behandeln zu können, wird in der Akutphase eine kontinuierliche EKG-Überwachung (EKG-Monitoring) durchgeführt. Im Anschluss an die Akutphase dient ein Belastungs-EKG der Beurteilung der Belastbarkeit und Erkennung fortbestehender Durchblutungsstörungen des Herzmuskels, ein Langzeit-EKG der Aufdeckung anderweitig unbemerkter Herzrhythmusstörungen. Laboruntersuchungen Als sogenannte Biomarker werden Enzyme und andere Eiweiße bezeichnet, die von absterbenden Herzmuskelzellen freigesetzt werden. Sie sind im Blut nach einem Herzinfarkt in erhöhter Konzentration messbar. Die klassischen und bis Anfang der 1990er Jahre einzigen Biomarker sind die Creatin-Kinase (CK), deren Isoenzym CK-MB, die Aspartat-Aminotransferase (AST, meist noch als GOT abgekürzt) und die Lactatdehydrogenase (LDH). Hinzugekommen sind seither das Myoglobin und das Troponin (Troponin T und Troponin I, oft abgekürzt als „Trop“). Der neueste Biomarker ist die Glycogenphosphorylase BB (GPBB). Dieser Biomarker ist herzspezifisch und ein Frühmarker, findet derzeit (2013) klinisch aber keine Anwendung. Die Messung der Blutkonzentrationen dieser Biomarker wird meist in regelmäßigen Abständen wiederholt, da Anstieg, höchster Wert und Abfall der Konzentration Rückschlüsse auf den Zeitpunkt des Infarktbeginns, die Größe des Herzinfarktes und den Erfolg der Therapie erlauben. Bildgebende Verfahren Die Ultraschalluntersuchung des Herzens (Echokardiografie) zeigt beim Herzinfarkt eine Wandbewegungsstörung im betroffenen Herzmuskelbereich. Da das Ausmaß dieser Wandbewegungsstörung für die Prognose des Patienten sehr wichtig ist, wird die Untersuchung bei fast allen Infarktpatienten durchgeführt. In der Akutphase liefert die Echokardiografie bei diagnostischen Unsicherheiten und Komplikationen wichtige Zusatzinformationen, weil sie hilft, die Pumpfunktion und evtl. Einrisse (Ruptur) des Herzmuskels, Schlussunfähigkeiten der Mitralklappe (Mitralklappeninsuffizienz) und Flüssigkeitsansammlungen im Herzbeutel (Perikarderguss) zuverlässig zu beurteilen. Die Gefäßdarstellung (Angiografie) der Herzkranzgefäße im Rahmen einer Herzkatheteruntersuchung erlaubt den direkten Nachweis von Verschlüssen und Verengungen. Sie wird entweder so früh wie möglich als Notfall-Untersuchung zur Vorbereitung einer PTCA (vgl. Reperfusionstherapie) oder im weiteren Verlauf bei Hinweisen auf fortbestehende Durchblutungsstörungen des Herzmuskels durchgeführt. Nachteilig kann die hohe Strahlenbelastung von bis zu 14,52 mSv sein. Das ist so viel wie bei 725 Röntgen-Thorax-Bildern. Jedes Jahr werden weltweit mehrere Milliarden Bilder mittels der Strahlentechnik angefertigt – ungefähr ein Drittel dieser Aufnahmen bei Patienten mit akutem Myokardinfarkt. Zwischen den Jahren 1980 und 2006 ist die jährliche Dosis um schätzungsweise 700 % angestiegen. Diagnostik Gängige und neuere Diagnoseverfahren Die Diagnose Herzinfarkt wird gestellt, wenn einer der sogenannten „Biomarker“ (vorzugshalber kardiales Troponin, ersatzweise CK-MB) im Blut erhöht und mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt ist: typische EKG-Veränderungen oder typische Brustschmerzen oder unlängst durchgeführte Intervention an einem Herzkranzgefäß (beispielsweise eine PTCA). Die Blutkonzentration der Biomarker Troponin und CK-MB steigt allerdings erst nach drei bis sechs Stunden an, so dass eine verlässliche Diagnose bisher erst nach vier bis sechs Stunden möglich war. Neuesten Studien zufolge kann nun eine schnellere und spezifischere Diagnose mittels des neu entdeckten Herzmarkers Glycogenphosphorylase BB (GPBB) zeitnah erfolgen. Bereits ab der ersten Stunde kann durch GPBB ein Herzinfarkt diagnostiziert werden, so dass die Gefahr der irreversiblen Schädigung des Herzgewebes eingedämmt werden kann. In dieser Akutphase ist das wichtigste Untersuchungsverfahren ein so schnell wie möglich angefertigtes EKG. Beim Nachweis von ST-Strecken-Hebungen wird mit einer diagnostischen Sicherheit von über 95 % von einem Infarkt ausgegangen und die entsprechende Behandlung möglichst unverzüglich eingeleitet. Zeigt das EKG hingegen ST-Strecken-Senkungen oder keine Veränderungen, so kann ein Infarkt anhand der Biomarker erst sechs Stunden nach Beginn der Symptome mit Sicherheit ausgeschlossen oder bestätigt werden. Bei diagnostischer Unsicherheit in dieser Phase kann der Nachweis einer Wandbewegungsstörung in der Echokardiografie helfen, die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß eines Infarktes besser einzuschätzen. Differentialdiagnose Wegen der möglicherweise weitreichenden Konsequenzen wurde die Verdachtsdiagnose Herzinfarkt früher oft gestellt, in der Akutsituation mussten dann die Differentialdiagnosen Pneumothorax, Lungenembolie, Aortendissektion, Lungenödem anderer Ursache, Herpes Zoster, Stress-Kardiomyopathie, Roemheld-Syndrom, Herzneurose oder auch Gallenkolik berücksichtigt werden. Nur bei etwa 32 % der Patienten mit Infarktverdacht fand sich tatsächlich ein Herzinfarkt. Heute wird der Begriff Infarkt bis zu seinem definitiven Nachweis meist vermieden und stattdessen vom akuten Koronarsyndrom gesprochen, um der häufigen diagnostischen Unsicherheit in den ersten Stunden Ausdruck zu verleihen. Auch die Infarktdiagnostik ist mit möglichen Fehlern behaftet: Bei einigen Patienten (in einer Untersuchung 0,8 %), vor allem bei älteren Patienten und solchen mit Diabetes mellitus, wird auch im Krankenhaus der Infarkt nicht richtig erkannt. Eine außergewöhnliche Verwechslung der Symptome wurden bei einem (eher seltenen) Fall des Verzehrs von Honig von der türkischen Schwarzmeerküste beobachtet (siehe dazu Honig#Giftstoffe in Honig und giftige Honigsorten). Therapie Erste Hilfe Die ersten Minuten und Stunden eines Herzinfarktes sind für den Patienten von entscheidender Bedeutung. Innerhalb der ersten Stunde (der sogenannten goldenen Stunde oder golden hour) bestehen gute Aussichten, den Gefäßverschluss durch eine Lysetherapie oder Herzkatheterbehandlung fast vollständig rückgängig zu machen. Daher steht die unverzügliche Alarmierung des Rettungsdienstes an erster Stelle der für Laien sinnvollen Maßnahmen. Die Deutsche Herzstiftung empfiehlt für diese Situation: Nicht warten. Rettungsdienst über die Rufnummer 112 (in Europa) oder eine andere örtliche Notrufnummer alarmieren und Verdacht auf Herzinfarkt äußern. Niemals selbst mit dem Auto in die Klinik fahren, wegen der Gefahr eines Zusammenbruchs während der Fahrt. Die Gefahr des Herzstillstandes durch Kammerflimmern ist in der ersten Stunde am größten. Nur durch eine rasch einsetzende Herz-Lungen-Wiederbelebung durch Ersthelfer und Rettungsdienst kann in diesem Fall der Tod oder schwere Schäden durch Sauerstoffunterversorgung des Gehirns verhindert werden. Durch eine Defibrillation durch medizinisches Fachpersonal oder mittels eines öffentlich zugänglichen automatisierten externen Defibrillators, der durch Laien bedient werden kann, besteht die Möglichkeit, dass das Kammerflimmern gestoppt wird und sich wieder ein stabiler Eigenrhythmus einstellt. Medizinische Erstversorgung Das Rettungsfachpersonal des Rettungsdienstes konzentriert sich zunächst auf eine möglichst rasche Erkennung von Akutgefährdung und Komplikationen. Dazu gehört eine zügige klinische Untersuchung mit Blutdruckmessung und Auskultation (Abhören) von Herz und Lunge. Nur ein schnell angefertigtes Zwölf-Kanal-EKG lässt den ST-Hebungsinfarkt erkennen und erlaubt die Einleitung der dann dringlichen Lysetherapie oder Katheterbehandlung. Um Herzrhythmusstörungen sofort erkennen zu können, wird eine kontinuierliche EKG-Überwachung (Rhythmusmonitoring) begonnen und zur Medikamentengabe eine periphere Verweilkanüle angelegt. Die medikamentöse Therapie zielt in der Akutsituation auf eine möglichst optimale Sauerstoffversorgung des Herzens, die Schmerzbekämpfung und eine Vermeidung weiterer Blutgerinnselbildung. Verabreicht werden in der Regel Nitroglycerin-Spray oder -Kapseln sublingual und Morphinpräparate, Acetylsalicylsäure und Clopidogrel sowie Heparin intravenös. Sauerstoff (O2) wird nach den aktuellen Leitlinien der ERC nur noch bei niedriger Sauerstoffsättigung des Bluts verabreicht. Die generelle Gabe von Sauerstoff wird wegen seiner möglicherweise schädlichen Auswirkungen allerdings nicht mehr empfohlen. In speziellen Situationen und bei Komplikationen können weitere Medikamente erforderlich sein, zur Beruhigung (Sedierung) beispielsweise Benzodiazepine wie Diazepam oder Midazolam, bei vagaler Reaktion Atropin, bei Übelkeit oder Erbrechen Antiemetika (beispielsweise Metoclopramid), bei Tachykardie trotz Schmerzfreiheit und fehlenden Zeichen der Linksherzinsuffizienz Betablocker (beispielsweise Metoprolol) und bei kardiogenem Schock die Gabe von Katecholaminen. Reperfusionstherapie Vordringliches Therapieziel beim ST-Hebungsinfarkt ist die möglichst rasche Eröffnung des betroffenen und in dieser Situation meist verschlossenen Herzkranzgefäßes. Diese Wiederherstellung der Durchblutung im Infarktgebiet wird Reperfusionstherapie genannt. Je früher diese erfolgt, umso besser kann eine Infarktausdehnung verhindert werden („time is muscle“). Gelingt es, die Reperfusionstherapie bereits in der ersten Stunde nach Infarkteintritt anzuwenden, so können viele dieser Infarkte sogar verhindert werden. Als Reperfusionstherapie sind zwei Behandlungsverfahren etabliert: Primär-Perkutane Koronarintervention (auch Direkt-PTCA oder Primär-PTCA): mechanische Öffnung (Rekanalisation) des Gefäßes mit anschließender Ballondilatation und Stentimplantation mittels Herzkatheter. Zeigt sich ein mittels PTCA nicht angehbarer Befund, kann in Einzelfällen eine akute operative Myokardrevaskularisation indiziert sein. Lysetherapie oder Thrombolyse: intravenöse Gabe eines gerinnselauflösenden Medikamentes. Dieses Thrombolytikum kann vom Notarzt bereits am Einsatzort verabreicht werden (prästationäre Lyse) und führt durch frühen Behandlungsbeginn zu besseren Ergebnissen als eine Therapieeinleitung im Krankenhaus. Bei gleichzeitiger Verfügbarkeit ist die Primär-PCI in einem erfahrenen Zentrum die bevorzugte Strategie. Da aber weniger als 20 % der deutschen Krankenhäuser über die Möglichkeit zur Primär-PCI verfügen, muss die Entscheidung zur optimalen Therapie im Einzelfall getroffen werden. Viele Notärzte sind mit Zwölf-Kanal-EKG-Geräten und Medikamenten für eine Lysetherapie ausgerüstet, so dass sie heute sofort nach Diagnosestellung in Abhängigkeit von der Infarktdauer, dem Patientenzustand, der Verfügbarkeit eines erfahrenen Herzkatheterteams und der Transportentfernung die bestmögliche Reperfusionstherapie auswählen können. Bei Nicht-ST-Hebungsinfarkten (NSTEMI) ist ein Nutzen der unverzüglichen Reperfusionstherapie nicht belegt, eine Lysetherapie ist kontraindiziert. Ob und zu welchem Zeitpunkt eine Herzkatheteruntersuchung erforderlich ist, ist trotz vieler Studien zu diesem Thema strittig. Die vorherrschende und auch in den Leitlinien der kardiologischen Fachgesellschaften verankerte Empfehlung sieht eine „frühe Intervention“ innerhalb von 48 Stunden vor. Erneute Diskussionen sind durch eine weitere im Herbst 2005 veröffentlichte Studie entstanden, die bei 1200 Patienten mit NSTEMI kein höheres Risiko fand, wenn die Intervention nur bei Patienten mit anhaltenden Beschwerden erfolgte. Weitere Behandlung Im Krankenhaus werden Infarktpatienten wegen möglicher Herzrhythmusstörungen in der Akutphase auf einer Intensiv- oder Überwachungsstation behandelt, wo eine kontinuierliche EKG-Überwachung (Monitoring) möglich ist. Bei einem unkomplizierten Verlauf können sie oft bereits am Folgetag Schritt für Schritt mobilisiert und nach fünf bis acht Tagen entlassen werden. Patienten mit großen Infarkten, die zu einer Pumpschwäche (Herzinsuffizienz) des Herzmuskels geführt haben, benötigen manchmal bis zu drei Wochen, um die gewohnten Alltagsaktivitäten wiederaufnehmen zu können. Nach einem Herzinfarkt ist bei den meisten Patienten eine lebenslange medikamentöse Therapie sinnvoll, die Komplikationen wie Herzrhythmusstörungen und Herzmuskelschwäche sowie erneuten Herzinfarkten vorbeugt. Dazu zählt die Therapie mit Betablockern, ASS, Statinen, ACE-Hemmern und bei einigen Patienten Clopidogrel oder Prasugrel. In der Realität zeigt sich allerdings, dass die medikamentöse Therapie oft nicht leitliniengerecht umgesetzt wird und eine deutliche Unterversorgung der betroffenen Patienten besteht. Bei stark eingeschränkter Pumpfunktion des Herzens wird die prophylaktische Anlage eines implantierbaren Defibrillators zum Schutz vor plötzlichem Herztod empfohlen. Nach dem Auftreten von großen Vorderwandinfarkten kann es (< 50 %) zur Thrombenbildung in der linken Schlagkammer kommen, die die Gefahr eines Hirninfarktes nach sich ziehen können. Sollten sich echokardiografisch Thromben nachweisen lassen, wird meist eine mehrmonatige Antikoagulantientherapie mit Phenprocoumon durchgeführt. Besondere Aufmerksamkeit erfordern die Risikofaktoren, die die Lebenserwartung der Infarktpatienten erheblich beeinträchtigen können. Vorteilhaft sind strikter Nikotinverzicht und eine optimale Einstellung von Blutdruck, Blutzucker und Blutfettwerten. Neben der Normalisierung des Lebenswandels, dem Stressabbau und der Gewichtsnormalisierung spielen eine gesunde Ernährung und regelmäßiges körperliches Ausdauertraining nach ärztlicher Empfehlung dabei eine wesentliche Rolle. Im Anschluss an die Krankenhausbehandlung wird in Deutschland oft eine ambulante oder stationäre Anschlussheilbehandlung empfohlen. Diese meist drei Wochen dauernde Maßnahme soll durch Krankengymnastik (Physiotherapie), dosiertes körperliches Training, Schulungsmaßnahmen und psychosoziale Betreuung eine möglichst gute und vollständige Wiedereingliederung in den Alltag ermöglichen. Zur dauerhaften Lebensstilveränderung kann der Besuch einer Herzschule sinnvoll sein. Weitere Therapie der koronaren Herzerkrankung mit Koronararterien-Bypass oder PTCA Um weiteren Infarkten vorzubeugen, ist eine definitive Versorgung der (oftmals mehreren) kritischen Stenosen mittels Stentimplantation oder Koronararterien-Bypass notwendig. Die aktuellen Leitlinien der Europäischen kardiologischen Gesellschaft zur Revaskularisierung geben für Patienten mit hohem Operationsrisiko und einer oder zwei betroffenen Koronararterien ohne Beteiligung des linkskoronaren Hauptstamms (oder einer äquivalenten proximalen Stenose des Ramus interventrikularis anterior) die Empfehlung, bevorzugt mittels PTCA zu behandeln. Für alle anderen Patienten gilt eine höhergradige Empfehlung zur operativen Versorgung mit Koronararterien-Bypässen. Es wird ein insbesondere hinsichtlich der Begleiterkrankungen (wie hämodynamisch relevantes Aneurysma, thorakale Re-Operation) ein auf den individuellen Patienten zugeschnittenes Prozedere propagiert. Die Therapieplanung und Beratung des Patienten sollte hierbei durch ein „Heart Team“ erfolgen, also eine interdisziplinäre Zusammenkunft von Kardiologen und Herzchirurgen. Dies ist in der täglichen Praxis in Deutschland erfahrungsgemäß jedoch eher die Ausnahme. Experimentelle Ansätze Seit den 1990er Jahren werden Versuche unternommen, die Pumpfunktion des Herzmuskels nach einem Herzinfarkt durch Stammzellen positiv zu beeinflussen. Dabei werden verschiedene Techniken eingesetzt, unter anderem die Injektion von Stammzellen, die aus Blut oder Knochenmark gewonnen werden, in das betroffene Herzkranzgefäß (intrakoronar, mittels Herzkatheter). Auch die subkutane Injektion von granulocyte-colony stimulating factor (G-CSF), der die Stammzellproduktion fördert, wird untersucht. Mehrere in den Jahren 2004 bis 2006 veröffentlichte Studien weisen darauf hin, dass die intrakoronare Anwendung von Knochenmark-Stammzellen die Pumpfunktion tatsächlich verbessern kann, die alleinige Gabe von G-CSF hingegen keinen Vorteil bringt. Eine Studie aus dem Jahr 2012 hat jedoch keinen positiven Effekt festgestellt. Ein weiterer, in jüngerer Zeit in präklinischen Studien verfolgter Therapieansatz ist der Einsatz von Wachstumsfaktoren wie Fibroblast-like Growth Factor (FGF-1), Insuline-like Growth Factors (IGFs) und Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF), die die Gefäßneubildung (Angiogenese) anregen. Krankheitsverlauf und Prognose Die ersten beiden Stunden nach Eintritt eines Herzinfarktes sind zumindest bei einem ST-Hebungsinfarkt (STEMI) für den weiteren Verlauf und die Überlebenschance des Patienten von entscheidender Bedeutung, weil sich die Mehrzahl der Todesfälle, die in der Regel durch Kammerflimmern verursacht sind, in diesem kurzen Zeitraum ereignet und eine während dieser Zeit eingeleitete Reperfusionstherapie die Prognose maßgeblich beeinflusst. Die Akutsterblichkeit jener Patienten, die im Krankenhaus aufgenommen werden, beträgt heute nach verschiedenen Untersuchungen zwischen weniger als zehn und knapp zwölf Prozent. Weiterhin stirbt aber fast ein Drittel aller Patienten vor Aufnahme in eine Klinik, so dass die Einjahressterblichkeit aller Infarktpatienten in den letzten 30 Jahren nahezu unverändert bei etwa 50 % verblieben ist. Die Sterblichkeit im Zusammenhang mit einem Herzinfarkt wird vom Alter des Patienten stark beeinflusst. Aus dem Berliner Herzinfarktregister wurde für die Jahre 1999 bis 2003 bei über 75-Jährigen eine Krankenhaussterblichkeit von 23,9 %, bei jüngeren Patienten von 7,3 % ermittelt. Insgesamt ist die Rate an Sterbefällen nach Herzinfarkten jedoch stark abgesunken, wie eine epidemiologische Studie mit Daten der WHO zeigte. So haben sich die Herzinfarkt-Sterbefälle seit 1980 in Europa halbiert. In Deutschland lag sie 2009 bei 15–17 %, in Österreich bei 19–20 %, in Frankreich bei 6–8 %. Komplikationen Sehr häufig sind Herzrhythmusstörungen, auch bei kleinen Infarkten vor allem in der Frühphase. Ventrikuläre Tachykardien bis hin zum Kammerflimmern sind die häufigste Todesursache beim Herzinfarkt, deshalb wird in der Akutphase eine ständige Überwachung und Defibrillationsbereitschaft auf einer Intensivstation gesichert. In Einzelfällen ist eine Behandlung mit einem Antiarrhythmikum nötig. Besonders Hinterwandinfarkte können über eine Ischämie des AV-Knotens zum AV-Block und bei Ischämie des Sinusknoten zum Sick-Sinus-Syndrom führen, was vorübergehend (oder dauerhaft) den Einsatz eines Herzschrittmachers erfordert. Wenn der Infarkt große Areale des Herzens (mehr als 30 % der Muskulatur) betrifft, kann es zur Ausbildung eines kardiogenen Schocks kommen, bei dem das Herz durch die Herzmuskelschädigung nicht mehr in der Lage ist, eine ausreichende Kreislauffunktion aufrechtzuerhalten. Diese Patienten haben eine deutlich schlechtere Prognose, der kardiogene Schock ist die zweithäufigste Todesursache im Rahmen eines akuten Herzinfarktes. Hier kann eine intraaortale Ballonpumpe (IABP) vorübergehend das Herz unterstützen. Ein Herzwandaneurysma kann sich aufgrund der Wandschwäche nach einem Herzinfarkt ausbilden. Hierbei entwickelt sich eine Auswölbung der geschädigten Herzwand. Chronisch kommt es zu einer verschlechterten Herzfunktion, der Bildung eines Thrombus durch gestörten Blutfluss mit der Möglichkeit arterieller Embolien. In der direkten Phase nach einem Infarkt kann es zu einer Ruptur (Platzen) der Auswölbung kommen mit nachfolgender Herzbeuteltamponade, welche sofort entlastet und im Allgemeinen chirurgisch versorgt werden muss. Durch Nekrose im Herzscheidewandbereich kann es auch hier zu einer Septumperforation kommen. Nachfolgend kommt es zum Übertritt von Blut aus dem linken in den rechten Teil des Herzens. Insbesondere bei Hinterwandinfarkten kann eine akute Insuffizienz der Mitralklappe durch Nekrose der Papillarmuskeln mit nachfolgendem Abriss eines Sehnenfadens auftreten. Der Rückfluss von Blut in den linken Vorhof kann zu einer akuten Herzinsuffizienz führen und eine schnelle Herzoperation notwendig machen. Ein neu auftretendes systolisches Herzgeräusch kann zu dieser Verdachtsdiagnose führen, daher sollen Patienten nach Herzinfarkt regelmäßig abgehört (auskultiert) werden. Im weiteren Verlauf (einige Tage bis ca. acht Wochen) kann sich im Rahmen einer Autoimmunreaktion eine Entzündung des Herzbeutels, das sogenannte Dressler-Syndrom, entwickeln. Infarkte bei älteren Menschen In den europäischen Ländern betreffen etwa ein Drittel (24 bis 42 %) aller Infarkte Menschen im Alter von über 74 Jahren. Dieser Anteil wird aufgrund der demografischen Entwicklung mit der Zeit zunehmen. Schätzungen zufolge soll der Anteil über 75-Jähriger im Jahr 2050 bereits zwei Drittel betragen. Ältere Infarktpatienten leiden häufiger an bedeutsamen Begleiterkrankungen wie Herzversagen, Niereninsuffizienz und Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit). Bei ihnen werden öfter Zeichen eines schweren Infarktes wie Lungenstauung und Linksschenkelblock festgestellt. Die Zeit zwischen Symptombeginn und Aufnahme im Krankenhaus ist bei ihnen länger und gemessen am Einsatz der Reperfusionstherapie sowie der Anwendung von Betablockern und Statinen kommt eine leitliniengerechte Therapie seltener zur Anwendung. Zusätzlich erhöhen kardiale Erkrankungen, wie der Herzinfarkt, auch das Risiko für kognitive Probleme. Vor allem Frauen mit Herzerkrankungen leiden im Alter öfter an einer leichten nicht-amnestischen kognitiven Beeinträchtigung (Wortfindungsstörungen, Aufmerksamkeitsprobleme, Desorientierung usw.). Geschichte Von den Anfängen bis 1950 Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ist bekannt, dass eine Thrombose im Herzkranzgefäß zum Tode führen kann. Tierexperimente mit Unterbindung eines Kranzgefäßes und Sektionsbefunde legten nahe, dass die Koronarthrombose ein fatales Ereignis darstellte. Im Mai 1876 diagnostizierte Adam Hammer in Wien als Erster den Herzinfarkt an einem lebenden Menschen. 1901 wies der Deutsche Ludolf von Krehl nach, dass sie nicht immer tödlich ausging, die erste ausführliche Beschreibung nicht-tödlicher Herzinfarkte stammt von den Russen V. P. Obraztsov und N. D. Strazhesko aus dem Jahr 1910. 1912 bezog sich der US-Amerikaner James B. Herrick auf diese Veröffentlichung und führte körperliche Ruhe als Therapieprinzip für Infarktpatienten ein. Sie blieb bis in die frühen 1950er Jahre einzige Behandlungsmöglichkeit und wurde konsequent betrieben: Die Patienten durften sich zwei Wochen nicht bewegen und sollten deshalb auch gefüttert werden. Herrick war es auch, der die 1903 vom Holländer Einthoven entwickelte Elektrokardiografie zur Diagnostik des Herzinfarktes einführte. 1923 veröffentlichte Wearn die Beschreibung des Krankheitsverlaufes von 19 Patienten mit Herzinfarkt, denen absolute Bettruhe und eine Beschränkung der Flüssigkeitszufuhr verordnet wurden. Sie erhielten Digitalispräparate gegen eine Lungenstauung sowie Koffein und Campher zur Vorbeugung und Behandlung von erniedrigtem Blutdruck, Synkopen und Herzrhythmusstörungen. 1928 beschrieben Parkinson und Bedford ihre Erfahrungen mit der Schmerzbehandlung durch Morphin bei 100 Infarktpatienten, Nitrate hielten sie wegen der blutdrucksenkenden Wirkung für kontraindiziert. 1929 veröffentlichte Samuel A. Levine das erste ausschließlich der Infarktbehandlung gewidmete Fachbuch, in dem unter anderem auf die Bedeutung der Herzrhythmusstörungen eingegangen und Chinidin gegen ventrikuläre Tachykardien und Adrenalin gegen Blockierungen empfohlen wurde. In den 1950er Jahren wurde der Herzinfarkt bereits als wichtige Todesursache in den Industrieländern angesehen. Wegen der hohen Gefährdung durch Thrombosen und Lungenembolien auf Grund der langen Bettruhe gewann das von Bernard Lown propagierte Konzept einer früheren Mobilisierung (arm chair treatment) an Bedeutung. Großzügige Flüssigkeitszufuhr und regelmäßige Sauerstoffgabe wurden empfohlen. Die „Thrombolyse-Ära“ Bereits 1948 wurde empfohlen, nach einem überstandenen Herzinfarkt vorbeugend Cumarine als Antikoagulanzien einzunehmen. Hauptsächlich Fletcher und Verstraete wiesen in den 1950er und 1960er Jahren experimentell nach, dass frische Koronarthrombosen medikamentös aufgelöst werden können. 1959 brachten die deutschen Behring-Werke Streptokinase auf den Markt, das unter anderem die Lysetherapie beim akuten Herzinfarkt ermöglichte. In den 1970er Jahren waren es dann zwei Arbeitsgruppen um Jewgeni Tschasow und Klaus Peter Rentrop, die den Nachweis einer erfolgreichen Lysetherapie durch intrakoronare Infusion von Streptokinase führten. Ihre Ergebnisse wurden unterstützt durch Befunde von De Wood, der bei 90 % der Patienten mit ST-Strecken-Hebung okkludierende (das Gefäßlumen verschließende) Koronarthromben nachwies. Anfang der 1980er Jahre wurde deutlich, dass eine intravenöse Infusion der intrakoronaren gleichwertig war, was die Verbreitung der Methode sehr förderte. 1986 wurde die als GISSI-Studie bezeichnete erste randomisierte klinische Studie zur Lysetherapie veröffentlicht, die an 11.806 Patienten durchgeführt wurde und eine Senkung der 21-Tage-Sterblichkeit von 13 auf 10,7 % nachwies, was einem geretteten Menschenleben pro 43 Behandlungen entsprach. Weiterentwicklung der Therapie 1960 veröffentlichte die American Heart Association die Framingham-Studie, die den Zusammenhang zwischen dem Rauchen und dem Auftreten von Herzinfarkten bewies. Mitte der 1990er Jahre wurde die erst 1977 von Andreas Grüntzig eingeführte Ballondilatation der Herzkranzgefäße als Therapieoption auch beim akuten Herzinfarkt in größerem Umfang eingesetzt. Heute ist dies die Behandlung der Wahl und wird in Deutschland bei mehr als 200.000 Patienten jährlich angewandt. Myokardinfarkt bei Tieren Anders als beim Menschen wird der Herzmuskelinfarkt bei Tieren nur selten beobachtet. Zudem sind bei Haussäugetieren, im Gegensatz zur meist nichtinfektiösen Genese beim Menschen, vor allem infektiös bedingte Endokarditiden der Mitralklappe mit Abschwemmung von Thromben in die Herzkranzgefäße Auslöser eines Myokardinfarkts. Bei Tieren, die auch in menschlicher Obhut ein hohes Alter erreichen, wie etwa Haushunden, Papageien und Zootieren (z. B. Pazifisches Walross), sind auch vereinzelt Myokardinfarkte infolge atherosklerotischer Veränderungen wie beim Menschen beschrieben. Beim Hund wird auch eine verminderte Sauerstoffversorgung des Herzmuskels infolge einer Amyloidose kleiner Herzarterien beobachtet. Diese – in der Regel kleinen – Infarkte bleiben klinisch zumeist unbemerkt und werden als Zufallsbefunde bei pathologischen Untersuchungen relativ häufig als lokale Vernarbungen des Herzmuskels gefunden. Bei Katzen scheinen Infarkte vor allem als Komplikation bereits bestehender Herzmuskelerkrankungen (Hypertrophe Kardiomyopathie) aufzutreten. Die erhöhte Anfälligkeit des Herzmuskels von Schweinen auf Stress ist dagegen nicht auf eine Mangeldurchblutung zurückzuführen, sondern beruht auf einer massiven und unkontrollierten Calciumfreisetzung innerhalb der Muskelzelle mit Muskeluntergang (Porcine stress syndrome). Literatur Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung: AWMF-Leitlinie 2019–2024: Infarkt-bedingter kardiogener Schock – Diagnose, Monitoring und Therapie. European Society of Cardiology: ESC Clinical Practice Guidelines 2018: K. Thygesen, J. S. Alpert, A. S. Jaffe und andere: Fourth Universal Definition of Myocardial Infarction Guidelines. In: European Heart Journal. Band 40, S. 237–269. Douglas P. Zipes, Peter Libby, Robert O. Bonow, Douglas L. Mann, Gordon F. Tomaselli: Braunwald’s Heart Disease: A Textbook of Cardiovascular Medicine. 11. Auflage. Elsevier Health Sciences, Philadelphia 2019, ISBN 978-0-323-55593-7, Vorschau Google Books. Herbert Reindell, Helmut Klepzig: Krankheiten des Herzens und der Gefäße. In: Ludwig Heilmeyer (Hrsg.): Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 450–598, hier: S. 555–559 (Der Herzinfarkt). Weblinks Herzinfarktrisiko online testen – Deutsche Herzstiftung Einzelnachweise Krankheitsbild in der Kardiologie Krankheitsbild in der Notfallmedizin Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hydrophilie
Hydrophilie
Hydrophilie (von altgriechisch hýdor „Wasser“ sowie phílos „liebend“) bedeutet wasserliebend, was besagt, dass ein Stoff stark mit Wasser (oder anderen polaren Stoffen) wechselwirkt. Das Gegenteil von Hydrophilie lautet Hydrophobie. Nach IUPAC-Definition ist die Hydrophilie die Solvatationstendenz eines Moleküls in Wasser. Wenn eine Oberfläche sehr stark wasseranziehend ist, spricht man auch von Superhydrophilie. Eigenschaften Hydrophile Substanzen sind meist wasserlöslich, es gibt aber auch hydrophile Substanzen, die nicht wasserlöslich sind, z. B. manche Hydrogele oder Colestipolhydrochlorid. Aus diesem Grund ist hydrophil nicht mit wasserlöslich gleichzusetzen. Bei hydrophilen Stoffen handelt es sich in der Regel entweder um Salze (Ionenverbindungen) oder um polare Substanzen, die sich im ebenfalls polaren Wasser entsprechend gut lösen. Hydrophilie bezieht sich nur auf die Wechselwirkung mit Wasser und weder auf die Löslichkeit noch auf die Fähigkeit, Wasser anzuziehen und zu binden. Ein Stoff, der dies kann, wird hygroskopisch genannt. Hydrophile Stoffe sind oft gleichzeitig lipophob, lösen sich also schlecht in Fetten oder Ölen. Substanzen, die hydrophil und lipophil sind, bezeichnet man als amphiphil; hierzu zählen zum Beispiel Tenside und Phospholipide. Amphiphilie ist eine spezielle Eigenschaft eines Moleküls, das hydrophobe und hydrophile Gruppen trägt. Auch Oberflächen können hydrophil sein. Diese sind immer von einem meistens nicht sichtbaren Wasserfilm bedeckt. Die meisten Metalle sind hydrophil, ebenso Glasoberflächen. Hydrophile Oberflächen haben gegenüber Wasser Kontaktwinkel nahe 0°. Siehe auch Wasser als Lösungsmittel Hygroskopie Einzelnachweise Dispersion (Chemie)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Die%20Abenteuer%20des%20Huckleberry%20Finn
Die Abenteuer des Huckleberry Finn
Die Abenteuer des Huckleberry Finn (im Original Adventures of Huckleberry Finn) ist der erfolgreichste Roman von Mark Twain und gilt als Schlüsselwerk der US-amerikanischen Literatur. Er wurde am 10. Dezember 1884 in Großbritannien und Kanada und am 18. Februar 1885 in den Vereinigten Staaten veröffentlicht. Die erste deutsche Übersetzung verfasste Henny Koch mit dem Titel Huckleberry Finns Abenteuer und Fahrten (1890). Der Ich-Erzähler ist Huck Finn selbst. Mark Twain simuliert die Perspektive und die Sprache eines Jungen, der seiner Zeit und seiner Umwelt verhaftet ist, sie aber auch in Frage stellt. Handlung Das Buch liefert eine detailreiche Beschreibung der Menschen und Orte an den Ufern des Mississippi und gibt ernüchternde und bissige Einblicke in die fest verwurzelten Verhaltensweisen dieser Zeit, insbesondere den Rassismus und die Sklaverei. Das Buch wird bisweilen selbst als rassistisch missverstanden, weil Jim durchweg als „Nigger“ bezeichnet wird. Mark Twain übernimmt damit gewollt eine zu der Zeit gebräuchliche Anrede für Afroamerikaner, so wie er die handelnden Figuren auch in unterschiedlichen regionalen und subkulturellen Dialekten sprechen lässt. Dieser Ansatz wird heute kritisch diskutiert. In der 2011 durch den Verlag NewSouth veröffentlichten englischsprachigen Ausgabe des Buches wurde das Wort „Nigger“ im Text durch „Slave“ ersetzt. In dem Roman gehen ein unbeschulter, individualistischer weißer Außenseiter und ein rechtloser dunkelhäutiger Sklave zusammen erfolgreich ihren widrigen Weg den Mississippi stromab. Der Roman gilt in der landläufigen Amerikanistik als eine der klassischen Verkörperungen des amerikanischen Traumes, des Strebens nach Glück, wie es in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung proklamiert wurde. Er kann dadurch, dass Twain darin ganz selbstverständlich beide gemeinsam dieses „Glück“ (in Form eines zumindest menschenwürdigeren Lebens) „anstreben“ lässt, vor allem als eine eindeutige politische Stellungnahme gegen den Rassismus angesehen werden, der Schwarze zu der beschriebenen Zeit und noch lange danach von diesem – nur theoretisch für „alle“ proklamierten – Recht ausschloss. Das Leben in St. Petersburg Der Roman beginnt in Missouri am Ufer des Mississippi River in der fiktiven Stadt St. Petersburg, die dem Ort Hannibal nachempfunden ist, wo Mark Twain aufwuchs. Er spielt irgendwann zwischen 1835 (als das erste Dampfschiff den Mississippi befuhr) und 1845. Zwei junge Burschen, das Waisenkind Tom Sawyer und Huckleberry Finn, sind durch frühere Abenteuer zu einer beträchtlichen Geldsumme, jeweils 6000 Dollar, gekommen. Huck steht zu Anfang unter der Vormundschaft der Witwe Douglas, die zusammen mit ihrer Schwester Miss Watson versucht, ihn zu „zivilisieren“. Huck freut sich über ihre Bemühungen, findet aber zivilisiertes Leben zu beschränkt. Am Anfang der Geschichte erscheint kurz Tom Sawyer und hilft Huck nachts bei seiner Flucht aus dem Haus, vorbei an Miss Watsons Sklaven Jim, der später eine wichtige Rolle spielen wird. Sie treffen sich in der selbsternannten Bande Tom Sawyers, die sich – nach deutlichem literarischen Vorbild – vornimmt, abenteuerliche Aktionen und Verbrechen zu begehen. Das Leben von Huck wird allerdings durch das plötzliche Auftauchen seines Vaters massiv verändert. Dieser ist ein chronischer Trunkenbold, der sich nur selten blicken lässt, dann aber das Verprügeln seines Sohnes als berechtigte „Erziehung“ ansieht. Hucks Vater hat erfahren, dass sein Sohn zu Geld gekommen ist, und will es ihm abknöpfen. Huck wehrt sich anfangs erfolgreich dagegen, kann aber nicht verhindern, dass er von seinem Vater gekidnappt und gezwungen wird, mit ihm in einer Hütte auf einer einsamen Insel im Fluss zu leben. Dort hat er seinen Sohn ständig im Auge oder sperrt ihn ein, wenn er ihn für längere Zeit allein zurücklässt. Huck gelingt es schließlich, aus seinem Gefängnis zu entkommen. Raffiniert schafft er es auch, seine eigene Ermordung vorzutäuschen, um dem Vater zu suggerieren, dass weitere Nachstellungen sinnlos wären. Huck begibt sich mit einem Boot auf den Mississippi und fährt einer ungewissen Zukunft entgegen. Das Hausboot und Huck als Mädchen Huck lebt zunächst durchaus glücklich auf einer verwilderten, unbewohnten Insel namens Jackson's Island im Mississippi. Unerwartet trifft er auf den Sklaven Jim, der seiner Besitzerin Miss Watson weggelaufen ist, weil sie ihn für 800 Dollar nach New Orleans verkaufen will, wo das Leben für Sklaven noch härter ist. Damit beginnt eine lange gemeinsame Flucht. Jim versucht, einen Weg zur Stadt Cairo in Illinois zu finden, um von dort nach Ohio zu kommen, einem freien Staat, um seiner Familie die Freiheit zu erkaufen. Zunächst überlegt Huck, ob er Jims Flucht melden soll. Aber schließlich reisen sie zusammen und führen ausführliche Gespräche über ihr Leben. Huck erfährt dadurch viel über Jims Vergangenheit und bekommt zunehmend Verständnis für seine Situation. Im Laufe dieses Prozesses ändert er seine Ansichten über die Sklaverei und über das Leben im Allgemeinen. Huck und Jim bleiben zunächst in einer Höhle auf einem Hügel auf Jackson’s Island, um einen schweren Sturm zu überdauern. Wenn sie können, schnorren sie rund um den Fluss auf der Suche nach Nahrung, Holz und anderem. Eines Nachts finden sie ein Floß und benutzen es später für ihre große Reise auf dem Mississippi. Später stoßen sie auf ein ganzes schwimmendes Haus und stehlen daraus alles, was sie greifen können. Jim findet in einem Raum dieses Hauses einen Mann, der tot auf dem Boden liegt, dem offensichtlich in den Rücken geschossen wurde, während man versuchte, das Haus zu plündern. Er verwehrt Huck den Blick auf das Gesicht des Mannes. Huck will sich über die neuesten Nachrichten der Gegend informieren und kommt daher auf die Idee, sich als Mädchen zu verkleiden und sich in irgendeinem Haus mit einer erfundenen Geschichte unter dem Namen Sarah Williams vorzustellen. Er betritt das Haus einer Frau namens Judith Loftus, die neu in der Gegend ist, und glaubt daher, von ihr nicht erkannt zu werden. Während sie reden, erfährt Huck, dass 300 Dollar Belohnung ausgesetzt sind für Jim, dem vorgeworfen wird, Huck ermordet zu haben. Huck verrät sich und seine Lügengeschichte damit, dass er seinen Vornamen bei einer Wiederholung falsch angibt, und weil er eine Nadel nicht einfädeln kann, was zur damaligen Zeit jedes Mädchen konnte. Die Frau geht gnädig mit ihm um und will ihm sogar helfen. Sie weist aber in Unkenntnis seiner wahren Identität darauf hin, dass ihr Mann und einige andere die Insel, auf der die beiden hausen, bereits in Verdacht haben, Jim als Aufenthalt zu dienen, und sie sie bald überprüfen wollen. Huck kehrt sofort auf die Insel zurück, weckt den schlafenden Jim und erklärt ihm, dass sie beide sofort fliehen müssen. In großer Eile packen beide ihre Habseligkeiten auf das Floß und fliehen. Die Grangerfords und die Shepherdsons Das Floß der beiden wird von einem vorbeifahrenden Dampfer überrannt, dadurch werden die beiden getrennt. Huck schwimmt an Land und wird in der wohlhabenden Familie Grangerford aufgenommen. Er freundet sich mit einem der jüngeren Söhne namens Buck an, einem gleichaltrigen Jungen, und erfährt, dass die Grangerfords in eine 30-jährige Blutrache gegen eine andere Familie, die Shepherdsons, einbezogen sind, von der aber keiner mehr genau weiß, worum es anfänglich ging. Die Grangerfords und die Shepherdsons gehen regelmäßig in die gleiche Kirche. Beide Familien bringen dabei stets Waffen mit, trotz der Predigt in der Kirche, die zur brüderlichen Liebe aufruft. Das Geschehen erreicht einen Höhepunkt, als Bucks Schwester Sophia mit Harney Shepherdson durchbrennt. In einer dadurch ausgelösten Schießerei sterben alle übrigen Männer der Familie Grangerford; beim Anblick der Leiche seines Freundes Buck ist Huck zu verstört, um über das Geschehene zu schreiben. Allerdings beschreibt er, wie er knapp seinem eigenen Tod entkam, und die spätere Wiedervereinigung mit Jim. Beide setzen ihre Flucht nach Süden auf ihrem alten, wider Erwarten unzerstörten Floß fort. Der Herzog und der König Weiter unten am Fluss retten Jim und Huck zwei berufsmäßige Betrüger, die ebenfalls auf das Floß kommen. Der jüngere der beiden, ein Mann von etwa dreißig Jahren, stellt sich als Sohn eines englischen Herzogs vor, des Herzogs von Bridgewater. Er sei der rechtmäßige Nachfolger seines Vaters. Der ältere, etwa siebzig, behauptet sogar, er sei der Sohn von Ludwig XVI. und damit rechtmäßiger König von Frankreich. Diese beiden, der „Herzog“ und der „König“, überreden Jim und Huck, auf dem Floß mitreisen zu dürfen. Während der Reise nach Süden begehen sie diverse Betrügereien. Einmal kommen sie in eine Stadt und mieten das Gerichtsgebäude für eine Nacht, um dort Plakate zu drucken, die eine Theateraufführung ankündigen, die sie das „Königliche Unvergleichliche“ nennen. Das Spiel entpuppt sich während der Aufführung als eine rohe Angelegenheit, und dies ärgert die Städter, die dafür gezahlt hatten. Anstatt sich an den Schauspielern zu rächen, kommen sie auf die Idee – um nicht alleine als die Dummen dazustehen –, die anderen Stadtbewohner ebenfalls ins Theater zu kriegen, indem sie ihnen vorlügen, es sei ein ganz wunderbares Stück. In der Zwischenzeit kommt am Tag des Spiels ein Betrunkener namens Boggs in die Stadt und erregt Aufruhr, indem er einen bekannten Südstaatler namens Colonel Sherburn mit dem Tode bedroht. Dieser zeigt sich öffentlich, warnt Boggs und stellt ihm ein Ultimatum bis 1 Uhr. Bis dahin darf er ihn beleidigen, aber nicht später. Boggs behält aber sein Verhalten auch bis nach 1 Uhr bei, woraufhin Colonel Sherburn ihn erschießt. Jemand in der Menge schreit, dass Sherburn gelyncht werden sollte, und alle machen sich auf zu seinem Haus, um ihn zu töten. Dort erwartet sie Colonel Sherburn mit geladenem Gewehr. Er hält eine längere Rede über die allgemeine Gemeinheit und Feigheit der amerikanischen Rechtsprechung. Er wirft der hysterischen Meute vor, sich völlig blind und ohne jede Vernunft einem Anführer untergeordnet zu haben. Er behauptet, dass solches Lynchen meist nur gelingt, wenn es sich um „echte Männer“ handelt, die nur nachts mit Masken ihr Tun verrichten würden (In dieser Rede bringt Mark Twain seine eigenen misanthropischen Ansichten zum Ausdruck: Huck, der Ausgestoßene, flieht aus dem Süden, während Sherburn, der Gentleman, diese Gesellschaft zurechtweist, wenn auch in einer zynischen und brutalen Weise). Als der „König“ und der „Herzog“ versuchen, das Stück zum dritten Mal aufzuführen, sind die Einwohner entschlossen, sich das nicht bieten zu lassen, und kommen mit diversen Wurfgeschossen ins Theater, was aber von den anderen bemerkt wird. Alle vier fliehen umgehend aus der Stadt und fahren auf dem Floß weiter den Mississippi hinunter. Die Betrügereien des „Königs“ und des „Herzogs“ erreichen ihren Höhepunkt, als sie versuchen, sich in einer anderen Stadt als Brüder des soeben verstorbenen und sehr vermögenden Peter Wilkes auszugeben. Die notwendigen Detailkenntnisse haben sie sich kurz zuvor von einem weiteren, nichts ahnenden Familienmitglied besorgt. Sie gewöhnen sich einen absurden englischen Akzent an. Der „König“ schafft es, die meisten Einwohner der Stadt davon zu überzeugen, dass er und der „Herzog“ die beiden Brüder des Verstorbenen sind, die gerade eben aus England gekommen seien. Im Folgenden versuchen sie, sich einen Großteil des Erbes anzueignen. Ein einziger Mann aus dem Freundeskreis des Verstorbenen bezichtigt sie öffentlich des Betruges, allerdings vorerst ohne Erfolg. Trotzdem werden die beiden Betrüger vorsichtig. Der „Herzog“ will sofort fliehen, aber der „König“ will noch mehr aus dem Erbe an sich reißen und behauptet, es bestünde wenig Gefahr, „weil die meisten Trottel auf ihrer Seite stünden, und das sei schließlich die Mehrheit in jeder Stadt“ (auch in diesem Satz vermutet man ein „Glaubensbekenntnis“ von Mark Twain). Huck ist entsetzt über den Plan der beiden, den Töchtern des Verstorbenen ihr Erbe wegzunehmen, und plant seinerseits, diesen Diebstahl rückgängig zu machen. Außerdem wendet er sich gegen den Plan der Betrüger, die Sklaven des Verstorbenen einzeln zu verkaufen und dadurch von ihren Familien zu trennen. Huck stiehlt das bisher geraubte Geld und versteckt es in dem noch offenen Sarg. Er fasst den Plan, von einer anderen Stadt aus einer der Töchter zu schreiben, wo sich das Geld befindet. Aber in dem ganzen Durcheinander weiß er selbst nicht mehr, ob das Geld nun im Sarg ist oder ob es jemand herausgenommen hat. Kurz danach geraten die beiden Betrüger erneut in Schwierigkeiten, weil die angeblich wahren Brüder des verstorbenen Peter Wilkes, jedoch ebenfalls zwei weitere Betrüger, auftauchen. Als das Geld in Wilkes Sarg gefunden wird, gelingt es den beiden Betrügern, in der allgemeinen Konfusion zu fliehen und auf das Floß zu Huck und Jim zurückzukehren. Huck selbst ist sehr enttäuscht, weil er gehofft hat, die beiden endgültig abgehängt zu haben. Jims Flucht Während der weiteren Flucht beschließt der „König“, Jim zu verkaufen, als Huck gerade in einer nahe gelegenen Stadt unterwegs ist. Huck ist empört über diesen erneuten Verrat und gerät in einen Gewissenskonflikt. Einerseits sagt er sich, dass seine Unterstützung für Jims Flucht gleichzeitig ein Vergehen am „Eigentum“ von Jims Besitzerin Miss Watson ist. Aber Huck riskiert es, „zur Hölle zu gehen“, und beschließt, Jim weiterhin bei seiner Flucht zu helfen. Huck erfährt, als er das Haus besucht, zu dem Jim verkauft wurde, dass der „König“ ihn für 40 Dollar verkauft hat. Zu einem erstaunlichen Zufall kommt es, als entdeckt wird, dass die neuen Besitzer von Jim, Herr und Frau Phelps, Onkel und Tante von Tom Sawyer sind, der zu einem Besuch erwartet wird, den sie aber schon lange nicht mehr gesehen haben. Nun wird Huck selbst für Tom Sawyer gehalten, und er lässt Toms Verwandte in diesem Irrglauben in der Absicht, damit Jim zur Flucht zu verhelfen. Da erscheint Tom selbst, gibt sich aber, als er Hucks Plan erfährt, nunmehr selbst als sein jüngerer Bruder Sid aus. Jim sorgt dafür, dass die beiden Betrüger ihr gewohntes Täuschungsmanöver mit dem Theaterstück nicht schon wieder durchführen können. Beide werden von den Städtern gefangen genommen, geteert und gefedert und schließlich aus der Stadt gejagt. Anstatt Jim einfach aus dem Schuppen zu befreien, in dem er festgehalten wird, entwickelt Tom einen ausgeklügelten und abenteuerlichen Befreiungsplan. Hier spielen geheime Botschaften, versteckte Tunnel und eine Strickleiter eine Rolle, die in einer Mahlzeit versteckt wird, und andere Elemente aus den populären Romanen. Dazu gehört auch eine Nachricht an die Phelps, die angeblich von einem Indianerstamm handelt, der seinen entflohenen Sklaven sucht. Bei der folgenden Flucht wird Tom ins Bein geschossen. Anstatt an seine erfolgreiche Flucht zu denken, besteht Jim darauf, dass Huck für einen Doktor sorgt, der Tom ärztlich betreut. Das ist das erste Mal, dass Jim etwas für einen weißen Menschen fordert. Huck erklärt sich das folgendermaßen: „Ich wusste immer, dass er innerlich weiß ist, also ist das in Ordnung.“ Jim und Tom werden eingefangen und vom Doktor zurückgebracht. Schluss Nachdem Jim wieder bei seinen neuen „Besitzern“ angelangt ist, lösen sich die restlichen Probleme wie von selbst. Toms Tante Polly erscheint und klärt die wahre Identität von Tom und Huck auf. Tom gibt bekannt, dass Jim schon seit einigen Wochen frei ist, denn Miss Watson verstarb vor zwei Monaten und hat Jim in ihrem Testament die Freiheit geschenkt. Aber Tom hat das nicht direkt sagen wollen, damit er seinen abenteuerlichen Befreiungsplan durchführen konnte. Jim erzählt Huck, dass dessen Vater schon seit geraumer Zeit tot ist – er war der Tote, den sie in der schwimmenden Hütte gefunden hatten – und Huck ohne Angst nach Sankt Petersburg zurückkehren kann. Abschließend erklärt Huck, dass er ganz froh sei, diese Geschichte schriftlich erzählt zu haben, und dass er, anstatt sich von Toms Familie adoptieren und „sivilisieren“ zu lassen, lieber nach Westen ins Indianerterritorium gehen wolle. Rezeption und literarische Bedeutung Die Abenteuer des Huckleberry Finn war Mark Twains größter Erfolg und gilt als Schlüsselwerk der US-amerikanischen Literatur. Ernest Hemingway stellte den Roman an den Anfang der gesamten neueren amerikanischen Literatur. Der Literaturtheoretiker Wayne C. Booth merkt 2005 an, dass es in literarischen Werken selten eine so durchweg zweifelhafte Stimme („a consistently dubious voice“) gibt wie die von Huck Finn (oder wie die des Butlers in Kazuo Ishiguros Was vom Tage übrigblieb). Adaptionen Verfilmungen Die Geschichten von Tom Sawyer und Huckleberry Finn wurden seit 1917 oft für das Kino und später auch fürs Fernsehen bearbeitet. Einordnung der deutschen Verfilmungen Eine relativ umfängliche Bearbeitung der Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn fand der Stoff in dem ZDF-Abenteuervierteiler Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer von 1968. Die von Tom Sawyer unabhängigen Abenteuer des Huck Finn werden darin (im 4. Teil) jedoch lediglich bis zum Beginn der Flucht mit dem entlaufenen Sklaven Jim geschildert. Die vollständigen Abenteuer sind in der deutsch/kanadischen Co-Produktion der 26-teiligen Fernsehserie Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn (Huckleberry Finn and His Friends, 1979) enthalten. Die deutsche Verfilmung der Regisseurin Hermine Huntgeburth aus dem Jahr 2012 unter dem Titel Die Abenteuer des Huck Finn kam am 20. Dezember 2012 in die Kinos. Internationale Verfilmungen (Auswahl) Huckleberry Finn (1920) von William Desmond Taylor mit Lewis Sargent als Huck und Gordon Griffith als Tom Huckleberry Finn (1931) von Norman Taurog mit Junior Durkin als Huck und Jackie Coogan als Tom Die Abenteuer des Huckleberry Finn (1939) von Richard Thorpe mit Mickey Rooney als Huck und Walter Connolly als König Abenteuer am Mississippi (1959) von Michael Curtiz mit Tony Randall als König und Eddie Hodges als Huck Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer (Fernsehserie, 1968) mit Marc di Napoli als Huck Finn und Lina Carstens als Tante Polly Ganz unverbesserlich (1973) von Georgi Danelija, mit Roman Madjanow als Huck, Wachtang Kikabidse als Herzog und Jewgeni Leonow als König. Huckleberry Finn (Anime-Fernsehserie, 1976) Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn (Fernsehserie in 26 Episoden zu je 25 Min.; BRD/Kanada, 1979) mit Brigitte Horney als Tante Polly Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn (1982, Original-Titel: Приключения Тома Сойера и Гекльберри Финна) von Stanislaw Goworuchin, mit Fjodor Stukow (Tom), Wladislaw Galkin (Huck) und Marija Mironowa (Becky) Sawyer and Finn (1983) mit Michael Dudikoff als Huck, schildert Abenteuer von Huck und Tom Sawyer als Erwachsene Die Abenteuer von Huck Finn (1993), Drehbuch und Regie: Stephen Sommers, mit Elijah Wood als Huck, Courtney B. Vance als Jim, Jason Robards als König Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huck Finn (Anime-Fernsehserie, 1994) Die Abenteuer des Huck Finn (2012), Regie: Hermine Huntgeburth mit Leon Seidel als Huck, Louis Hofmann als Tom, Jacky Idy als Jim Tom Sawyer und Huckleberry Finn (2014) mit Joel Courtney als Tom und Jake T. Austin als Huck Musical Das Musical Tom Sawyer und Huckleberry Finn wurde im Jahr 2014 in einer deutschen Fassung nach Entwürfen von Kurt Weill und Maxwell Anderson aus dem Jahr 1950 durch John von Düffel dramaturgisch überarbeitet und herausgebracht. Hörspiel Eine vom Südwestrundfunk produzierte und vom Hörverlag herausgegebene Hörspielfassung wurde 2009 mit dem Radio-Eins-Hörspielkino-Publikumspreis ausgezeichnet. In den Hauptrollen sprachen unter anderem Martin Semmelrogge, Marc Hosemann und Tommi Piper, die Hörspielbearbeitung und Regie übernahm Robert Schoen. Comic 2013 erschien im Suhrkamp Verlag eine Adaption von Olivia Vieweg unter dem Titel Huck Finn. Der Graphische Roman hält sich eng an den ersten Teil der Vorlage, kürzt aber den Handlungsbogen um den „Herzog“ und den „König“ heraus und setzt die Geschichte in einen modernen Kontext. Huck Finn flüchtet hier mit der asiatischen Zwangsprostituierten Jin von Halle aus die Saale hinab Richtung Hamburg. Ausgaben Das Buch ist in unterschiedlicher Ausstattung bei vielen Verlagen erhältlich. In manchen Ausgaben sind auch die übrigen Abenteuer mit Tom Sawyer zusammengefasst. Michael P. Hearn (Hrsg.): Alles über Huckleberry Finn. Europa Verlag, Hamburg 2003 ISBN 3-203-83535-5 Die Abenteuer des Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Komet Verlag, Köln 2003 ISBN 978-3-89836-323-5 Übers. Friedhelm Rathjen: Die Abenteuer von Huckleberry Finn. Haffmans, Zürich 1997 ISBN 3-251-20268-5; wieder Zweitausendeins, 1998 ISBN 3-86150-288-7 Huckleberry Finn. Area Verlag, Erftstadt 2004 ISBN 978-3-89996-144-7 Huckleberry Finns Abenteuer. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006 ISBN 978-3-423-13443-9 Hrsg., Übers. Andreas Nohl: Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Hanser, München 2010; Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2012 danach Hörspiel: Tom Sawyer & Huckleberry Finn. Die neuen Hörspielinszenierungen. 2010, 5-CDs Der Hörverlag ISBN 978-3-86717-520-3 Oliver Kellner, Ulf Marek: Seewolf & Co. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1999 ISBN 978-3-89602-190-8 Hrsg., Übers. Wolfram Gramowski: Huckleberry Finn. Agrippina Verlag, Köln 1950 Übers. Irma Silzer: Huckleberry Finns Abenteuer. Büchergilde Gutenberg, Zürich 1953 Die Abenteuer des Huckleberry Finn. Dressler Verlag, Hamburg 1995 ISBN 978-3-7915-3565-4 Stuttgart 1892 Comic Olivia Vieweg: Huck Finn. Suhrkamp, Berlin 2013 ISBN 978-3-518-46429-8 Sonstiges Eine der von TT-Line zwischen Deutschland und Schweden eingesetzten Autofähren ist nach Huckleberry Finn benannt. Literatur Karl Schubert: Mark Twain. Adventures of Huckleberry Finn. In: Der amerikanische Roman im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Edgar Lohner. Schmidt Verlag, Berlin 1974, ISBN 3-503-00515-3, S. 70–91. Robert C. Evans: The Adventures of Huckleberry Finn (Mark Twain). Civil Disobedience and the Ending of Mark Twain's The Adventures of Huckleberry Finn. In: Civil Disobedience. Edited by Harold Bloom and Blake Hobby. Bloom's Literary Criticism, New York 2010, ISBN 978-1-60413-439-1, pp. 21–29. Patricia F. D'Ascoli: Coming Up Empty. Exploring Narrative Omissions in Adventures of Huckleberry Finn. In: Twain's Omissions. Exploring the Gaps as Textual Context. Edited by Gretchen Martin. Cambridge Scholars, Newcastle upon Tyne, England 2013, ISBN 978-1-4438-4989-0, pp. 57–74. John Bird: Mind the Gap. A Reader Reading Adventures of Huckleberry Finn. In: Twain's Omissions. Exploring the Gaps as Textual Context. Edited by Gretchen Martin. Cambridge Scholars, Newcastle upon Tyne, England 2013, ISBN 978-1-4438-4989-0, pp. 9–20. Weblinks Filme mit Huckleberry Finn in der IMDb (englisch) Der ZDF-Vierteiler bei IMDb Adventures of Huckleberry Finn im Projekt Mark Twain in His Times der University of Virginia – enthält den vollständigen englischen Originaltext sowie zeitgenössische Zeitungsbesprechungen, Illustrationen und weitere Informationen über das Werk (auf Englisch). Huckleberry Finns Abenteuer und Fahrten – Deutsche Übersetzung von Henny Koch im Projekt Gutenberg „Corpus Matching online“ (CoMOn), kostenfrei, keine Anmeldung erforderlich; diverse Korpora verfügbar u. a. M. Twain: „Tom Sawyer, Huckleberry Finn“: automatische Durchprüfung eines (zu wählenden) Romanabschnitts auf gleiche Wortketten im restlichen Korpus. Einzelnachweise Tom Sawyer und Huckleberry Finn Literarisches Werk Literatur (19. Jahrhundert) Literatur (Englisch) Literatur (Vereinigte Staaten) Kinder- und Jugendliteratur Abenteuerroman Werk von Mark Twain
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hirntod
Hirntod
Als Hirntod (Adjektiv: hirntot) wird das irreversible Ende aller Hirnfunktionen – bei vorhandener Kreislaufaktivität und künstlich aufrechterhaltener Atmung – aufgrund von weiträumig abgestorbenen Nervenzellen bezeichnet. Beim Begriff des Hirntods handelt es sich um eine Todesdefinition, die 1968 im Zusammenhang mit der sich entwickelnden Intensiv- und Transplantationsmedizin eingeführt wurde. Der Hirntod wird oft als sicheres inneres Todeszeichen oder als „Äquivalent des menschlichen Todes“ angesehen. Wenn keine exogene Vergiftung oder Unterkühlung vorliegt, sind fehlende Reflexe, weite lichtstarre Pupillen und fehlende Spontanatmung Zeichen des eingetretenen Hirntods. Geschichte Im Menschenbild der alten Ägypter wurde das Herz als Zentralorgan des Körpers gesehen und repräsentierte daher auch die Seele des Toten. Daher wurde das Herz bei der Mumifizierung als Sitz aller Körper- und Verstandeskräfte beim Körper belassen, während die Eingeweide und verschiedene Organe in eigene Gefäße gelegt wurden. Dieses kardiozentrische Menschenbild prägte für Jahrtausende die meisten nachfolgenden Religionen und Kulturen. Das Ausbleiben von Herzschlag, Atmung und spontanen Bewegungen blieb bis zum Zeitalter der Aufklärung das allgemein gültige, allerdings nirgends normativ festgelegte Todeszeichen. Im Jahr 1744 soll in England ein erstickter Bergmann von einem Chirurgen erfolgreich beatmet worden sein. 1774 berichteten die „Transactions of the Royal Humane Society“ über die Reanimation eines Mädchens, das aus dem 1. Stock stürzte und von Ärzten im Krankenhaus für tot gehalten wurde. Elektroschocks hätten den Herzschlag wieder hergestellt. Das Dogma des Herzstillstandes (Asystolie bzw. Kreislaufstillstand) als endgültiger Tod des Menschen geriet dadurch, aber auch durch die Ergebnisse der seitdem durchgeführten elektrischen Experimente an Gehirnen und Körpern frisch Verstorbener, ins Wanken. Dies führte zur Scheintodhysterie des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts: Weil man den Vorgang der Reanimation nicht verstand, hatten die Menschen die Sorge, scheintot begraben zu werden. Auf der Suche nach neuen sicheren Todeszeichen fand man schließlich die Todesstarre und die Todesflecken. M.-F.-X. Bichat folgerte um 1800 aus seinen ausgedehnten anatomischen, histologischen und physiologischen Untersuchungen, dass die Aufrechterhaltung einer zellulären Ordnung ein wesentliches Merkmal des Lebens sei und die Auflösung dieser Ordnung den Tod bedeutet. Er postulierte, dass ein Organismus aus Funktionen auf unterschiedlichen zellulären Ebenen beruhe und dass diese Funktionen nicht zwangsläufig gleichzeitig enden müssen. Er grenzte vegetative Grundfunktionen (Atmung, Kreislauf, Stoffwechsel) als „organisches Leben“ von dem Komplex höherer Gehirnleistungen (Bewusstsein, Sinneswahrnehmungen) ab. In Konsequenz dieser Ergebnisse prägte er den Begriff „Hirntod“. Trotz Bichats Erkenntnissen galt in der Medizin weiterhin ein Mensch dann als tot, wenn seine Atmung und seine Herztätigkeit stillstanden. Der russische Reanimationsforscher Wladimir A. Negowski (1909–2003) stellte fest, dass der Versuch einer Reanimation sinnlos ist, wenn das Gehirn abgestorben ist. So schrieb er in den 1940er-Jahren: „Für eine lange Zeit waren wir der Ansicht, dass die jüngste Kontraktion des Herzens der letzte ‚Akkord des Lebens‘ sei. Wir sprechen jetzt nicht so, denn nach Beendigung der Herztätigkeit ist noch für einige Minuten die Wiederherstellung des zentralen Nervensystems möglich. In der Tat ist der letzte ‚Akkord des Lebens‘ die noch verbleibenden Zeichen der Vitalität des Gehirns.“ Durch Einführung der künstlichen Beatmung und anderer intensivmedizinischer Techniken gab es ab den 1950er Jahren immer wieder Patienten mit schwerer Hirnschädigung ohne Eigenatmung. Bald erkannte man, dass bei einigen von ihnen nach einigen Tagen des tiefen Komas unweigerlich der Blutkreislauf zusammenbricht. Auf die Frage, wie man mit ihnen verfahren sollte, antwortete 1957 Papst Pius XII.: „Wenn tiefe Bewußtlosigkeit für permanent befunden wird, dann sind außerordentliche Mittel zur Weitererhaltung des Lebens nicht obligatorisch. Man kann sie einstellen und dem Patienten erlauben zu sterben.“ Pierre Mollaret und Maurice Goulon beschrieben 1959 erstmals mit dem Begriff „Coma dépassé“ (jenseits/unterhalb des Komas) einen Zustand, welcher bei künstlicher Beatmung keinerlei Lebenszeichen des Gehirns erkennen ließ, der nicht umkehrbar war und irgendwann zum Tod durch Herzversagen führte. Der Begriff „Hirntod“ von Bichat wurde von ihnen nicht aufgegriffen. 1960 veröffentlichten Wertheimer, Rougemont, Jouvet und Descotes in einem Artikel, dass sie eine künstliche Beatmung beendet haben. Als Kriterien für ihr Handeln nannten sie: Nachweis der völligen Areflexie, keine Eigenatmung, die Nulllinie im EEG und eine fehlende angiographische Darstellung der Hirndurchblutung. Diese Untersuchungen sind noch heute Grundlage der Hirntoddiagnostik. Am 10. Mai 1966 stellte die Kommission der französischen „Académie Nationale de Médicine“ das Ergebnis ihrer Arbeit vor: Der irreversible Funktionsverlust des Gehirns wurde als neues Todeskriterium eingeführt. Im April 1968 stellte die Kommission der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie das Ergebnis ihrer Arbeit unter dem Titel „Todeszeichen und Todeszeitbestimmung“ vor. Nach der französischen medizinischen Akademie bejaht auch die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie das Hirntodkonzept. Menschen mit irreversiblem Funktionsverlust des Gehirns werden als Tote angesehen. Eine Kommission der Harvard Medical School veröffentlichte am 5. August 1968 eine Definition dieses Begriffs und schlug vor, den entsprechenden Zustand als Hirntod zu bezeichnen und als neues Todeskriterium festzulegen. Begründet wurde dies einerseits damit, den Status der komatösen Patienten zu klären und die künstliche Beatmung einstellen zu können, und andererseits damit, Kontroversen bei der Beschaffung von Organen zur Transplantation zu vermeiden. Diese neue Todesdefinition wurde in den folgenden Jahren von vielen Ländern übernommen. In Deutschland brachte der Wissenschaftliche Beirat der deutschen Bundesärztekammer im Jahr 1982 eine „Entscheidungshilfe zur Feststellung des Hirntodes“ heraus. In ihr hat man den Hirntod als einen „irreversiblen Verlust der Großhirn- und der Hirnstammfunktion“ gekennzeichnet. 1986 erfolgte die 1. Fortschreibung. Darin definierte man den Hirntod wiederum als einen „irreversiblen Verlust der Großhirn- und der Hirnstammfunktion“. 1991 folgte die 2. Fortschreibung, in ihr wurde der Hirntod definiert „als Zustand des irreversiblen Erloschenseins der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms“. 1997 folgte die 3. Fortschreibung mit ähnlichem Wortlaut. Im Herbst 1997 wurde in Deutschland das Transplantationsgesetz (TPG) verabschiedet. Dort wurde in Abs. 2 der Hirntod als der „nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen“, legal definiert. In sprachlicher Anpassung an das TPG erfolgte im Jahr 1998 eine neue Ausgabe der 3. Fortschreibung, die nun zur „Richtlinie“ aufgewertet wurde. Am 30. März 2015 brachte das Bundesministerium für Gesundheit die 4. Fortschreibung als neue Richtlinie „zur Feststellung des Todes“ heraus. Darin heißt es in Anlehnung an § 3 Abs. 2 TPG: Hirntod als Tod des Menschen Deutschland In Deutschland ist in keinem Gesetzeswerk der Tod definiert. Im Transplantationsgesetz (TPG) ist der Tod des Menschen indirekt mit dem Hirntod verknüpft: In Abs. 1 TPG heißt es, dass eine Organentnahme nur zulässig ist, wenn „der Tod des Organ- oder Gewebespenders nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist“. In Absatz 2 heißt es weiter, dass eine Organentnahme unzulässig ist, wenn „nicht vor der Entnahme bei dem Organ- oder Gewebespender der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist“. Am 6. Juni 2015 trat die am 30. März 2015 vom Bundesministerium für Gesundheit erschienene „Richtlinie gemäß Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur Feststellung des Todes nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG und die Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG“ in Kraft. Darin sind einige Bezüge zum Tod des Menschen enthalten: Seite 2: „Mit der Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms (irreversibler Hirnfunktionsausfall) ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt.“ Seite 3: „Die Ursache und die Schwere der zum Tod führenden Hirnschädigung müssen zweifelsfrei belegt sein.“ Seite 23 und 25: „Damit ist der Tod des Patienten festgestellt am … um … Uhr.“ (Protokollbogen, den der untersuchende Arzt zu unterschreiben hat.) Österreich In Österreich hat der Oberste Sanitätsrat im Jahr 2013 eine Empfehlung zur Todesfeststellung herausgebracht. Darin die „Definition des Todes“: Schweiz In der Schweiz ist der Tod in Artikel 9 Transplantationsgesetz definiert. Diagnostik und Verfahren Die Diagnose des Hirntodes kann nur während einer intensivmedizinischen Behandlung mit künstlicher Beatmung, Kreislauftherapie und Hormonersatztherapie im Krankenhaus erfolgen. Durch die maschinellen Unterstützungsmaßnahmen können die Durchblutung und die Sauerstoffversorgung der Organe langfristig aufrechterhalten werden, wenn keine weiteren Komplikationen auftreten. Bevor die Untersuchungen zur Hirntodfeststellung eingeleitet werden, müssen folgende Voraussetzungen überprüfbar erfüllt sein: Vorliegen einer akuten primären oder sekundären Hirnschädigung, Ausschluss einer anderen Ursache oder Mitursache für einen (eventuell nur zeitweiligen) Ausfall der Hirnfunktionen (z. B. Vergiftung). Die zweifelsfreie Feststellung des Hirntodes erfolgt anhand klinischer und optional apparativer Kriterien. Die klinischen Kriterien sind: der Verlust des Bewusstseins (Koma), eine Areflexie des Hirnstamms (z. B. mittel- bis maximal weite und lichtstarre Pupillen, fehlende Schmerzreaktion im Trigeminusbereich, fehlender Lidschlussreflex, Puppenkopfphänomen, fehlender Schluck- und Hustenreflex), wobei autonome Reflexe auf Rückenmarksebene erhalten sein können, der Verlust der Spontanatmung (Apnoe). Dass es sich um einen unumkehrbaren Ausfall aller Hirnfunktionen (also um Hirntod) handelt, wird durch eine erneute Untersuchung der klinischen Kriterien nach festgelegter, adäquater Wartezeit (12, 24 beziehungsweise 72 Stunden je nach Alter und Lokalisation der primären Hirnläsion) nachgewiesen, oder durch eine ergänzende apparative Untersuchung. Zu den apparativen Kriterien gehören: Ein Nulllinien-Elektroenzephalogramm (EEG). Die EEG-Untersuchung soll in Anlehnung an die Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für klinische Neurophysiologie durchgeführt werden. Ergibt die EEG-Ableitung über einen Zeitraum von mindestens dreißig Minuten eine hirnelektrische Stille, also ein sogenanntes Nulllinien-EEG, so ist die Irreversibilität des Hirnfunktionsausfalls ohne weitere Beobachtungszeit nachgewiesen. Laut Aussagen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) konnten in Ausnahmefällen EEG-Aktivitäten trotz klinischer Hirntod-Zeichen und nachgewiesenen Durchblutungsstillstands beobachtet werden. Die Ursache: „sog. Anastomosen (Gefäßverbindungen) in den Randgebieten zwischen der (unterbrochenen) Blutversorgung hirneigener Arterien und dem noch intakten Kreislauf der äußeren Halsschlagader […], welche die Gesichtsweichteile, aber auch die Hirnhäute versorgt. Hierdurch kann es zu einem Überleben umschriebener Nervenzellpopulationen nach Eintreten des Hirntodes kommen.“ Ein mittels zerebraler Hirnperfusionsszintigraphie oder Doppler-Sonographie festgestellter Durchblutungsstopp in allen hirnversorgenden Gefäßen. Bei der Perfusionsszintigraphie wird eine schwach radioaktiv markierte Substanz injiziert und ihre Verteilung im Gehirn verfolgt. Bei intakter Hirndurchblutung lässt sich die Markierungssubstanz über Stunden in den durchbluteten Hirnregionen nachweisen. Bei einem Hirntoten hingegen stellt sich die Schädelhöhle infolge eines Abbruchs der gesamten Hirndurchblutung „leer“ dar. Bei der Dopplersonographie werden die Hirnbasisarterien beschallt. Anhand der Reflexion des Schallsignals wird die Blutflussgeschwindigkeit in den Hirngefäßen gemessen. Die Dopplersonographie darf nur von einem hierin erfahrenen Untersucher vorgenommen werden und muss mindestens zweimal im Abstand von wenigstens 30 Minuten erfolgen. Der Ausfall der akustischen oder somatosensiblen evozierten Potenziale bei einer primären Läsion des Großhirns und bei einer sekundären Hirnschädigung (Sauerstoffmangel des Gehirns z. B. nach Wiederbelebung des Herzens). Dabei ist die Reizantwort des Gehirns auf einen peripheren Nervenreiz unumkehrbar aufgehoben. Evozierte Potentiale sind hirnelektrische Potentialschwankungen auf akustische (AEP, akustisch evozierte Potentiale) oder elektrische (SEP, somatosensibel evozierte Potentiale) Reize. Durch ein besseres Verständnis der Vorgänge im Sterbeprozess lässt sich seit Anfang der 2000er Jahre die Erfolgsquote bei der Reanimation von Patienten mit Herzstillstand steigern. Im Gehirn von sterbenden Ratten beobachteten Forscher 2013 während eines kurzen Zeitraums nach einem Herzstillstand ein extrem intensives Aktivitätsmuster, das auf eine ähnliche kurzzeitige neuronale Aktivitätssteigerung beim Menschen vor dem Eintritt des Hirntods schließen lässt. Rechtssichere Todesfeststellung Nach abgeschlossener Hirntoddiagnostik und festgestelltem Hirntod kann ein Totenschein ausgestellt werden. „Festgestellt wird nicht der Zeitpunkt des eintretenden, sondern der Zustand des bereits eingetretenen Todes. Als Todeszeit wird die Uhrzeit registriert, zu der die Diagnose und Dokumentation des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls abgeschlossen sind.“ Um den Hirntod rechtssicher festzustellen, wurden in Deutschland mit der neuen Richtlinie „zur Feststellung des Todes“ (2015) die Kriterien an die untersuchenden Ärzte stark angehoben: „Die den irreversiblen Hirnfunktionsausfall in der Intensivmedizin feststellenden und protokollierenden Ärzte müssen Fachärzte sein und über eine mehrjährige Erfahrung in der Intensivbehandlung von Patienten mit akuten schweren Hirnschädigungen verfügen. … Mindestens einer der den irreversiblen Hirnfunktionsausfall feststellenden Ärzte muss ein den obigen Anforderungen entsprechender Facharzt für Neurologie oder Neurochirurgie sein. Bei der Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls von Kindern bis zum vollendeten 14. Lebensjahr muss zusätzlich einer der Ärzte ein den obigen Anforderungen entsprechender Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin sein.“ Seit der „Entscheidungshilfe zur Feststellung des Hirntodes“ des Jahres 1982 bis zur 4. Fortschreibung (2015) ist die Hirntoddiagnostik durchgehend auf 3 Säulen aufgebaut: Voraussetzungen Schwere akute Hirnschädigung Keine anderen Ursachen der Ausfallsymptome des Gehirns (z. B. Intoxikation, primäre Unterkühlung, Kreislaufschock) Klinische Symptome Koma Hirnstamm-Areflexie Apnoe Irreversibilitätsnachweis Beobachtungszeit ergänzende Untersuchungen (alternativ) Sollen dem Patienten nach der Feststellung Organe entnommen werden, so muss die Feststellung des Hirntods durch Ärzte erfolgen, die nicht an der Organentnahme oder der Transplantation beteiligt sind. Eine zusätzliche apparative Untersuchung ist nur in den Fällen zwingend erforderlich, in denen die primäre Schädigung im Bereich des Hirnstamms oder des Kleinhirns lag (primär infratentorielle Hirnschädigung). Die apparative Zusatzuntersuchung kann jedoch als Beweis der Irreversibilität der klinischen Ausfallsymptome die Wartezeit verkürzen. Das für die Schweiz gültige Verfahren der Todesfeststellung findet sich in den medizinisch-ethischen Richtlinien zur Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). In der Informationsbroschüre Kein Weg zurück … des Arbeitskreises Organspende wird folgende Aussage gemacht: Bedeutung hinsichtlich Organspende Die Feststellung des Hirntodes erfolgt nicht primär zum Zweck einer Organentnahme, sondern zur Beendigung einer sinnlos gewordenen Therapie. Da jedoch vor Beendigung der intensivmedizinischen Behandlung Organe gespendet werden können, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit der Organentnahme. Die Feststellung des Hirntodes ist die Voraussetzung für die Organentnahme. Spätestens mit der Feststellung des Hirntodes entfällt die Pflicht (und das Recht) des Arztes, therapeutisch ausgerichtete Maßnahmen zu ergreifen. Daher können sich die organprotektive Intensivtherapie und die Vorbereitungen zur Organentnahme und Transplantation nur mit Zustimmung zur Organspende anschließen. Falls einer Organspende nicht zugestimmt wurde, wird die medizinische Therapie in der Regel beendet und das Beatmungsgerät abgestellt. Eine Ausnahme könnte eine bestehende Schwangerschaft sein. Nach des deutschen Transplantationsgesetzes (TPG) ist die Hirntodfeststellung nach den Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, Voraussetzung zur Organentnahme. Die dem Stand der Erkenntnisse entsprechenden Regeln sind derzeit mit dem Hirntod identisch, so dass dieser juristisch als Todeskriterium z. B. im Erbrecht oder im Personenstandsrecht akzeptiert wird. Ethische und moralische Standpunkte Christliche Kirchen Im Jahre 1990 verabschiedeten die beiden großen Kirchen die gemeinsame Erklärung „Organtransplantationen – Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD“. Darin heißt es: „Die meisten zu übertragenden Organe werden nicht lebenden, sondern hirntoten Spendern entnommen. Der äußere Unterschied zwischen Herztod und Hirntod kann irrtümlich so gedeutet werden, als ob Gewebe und Organe schon vor und nicht erst nach dem Tod des Spenders entnommen würden. Daher ist für das Vertrauen in die Transplantationsmedizin nicht nur die ärztlich selbstverständliche sichere Feststellung des Todes vor der Organspende entscheidend wichtig, sondern auch die allgemeine Kenntnis des Unterschieds zwischen Herztod und Hirntod.“ Weiter heißt es darin: „Der Hirntod bedeutet ebenso wie der Herztod den Tod des Menschen. Mit dem Hirntod fehlt dem Menschen die unersetzbare und nicht wieder zu erlangende körperliche Grundlage für sein geistiges Dasein in dieser Welt.“ Die römisch-katholische Kirche akzeptiert die Hirntod-Definition, nach der das Ausbleiben messbarer Hirnströme über einen Zeitraum von mindestens sechs Stunden den Tod des Menschen anzeigt. Am 27. April 2015 brachte die Deutsche Bischofskonferenz die Arbeitshilfe „Hirntod und Organspende“ heraus. Darin heißt es auf Seite 6: „Nach jetzigem Stand der Wissenschaft stellt das Hirntod-Kriterium im Sinne des Ganzhirntodes – sofern es in der Praxis ordnungsgemäß angewandt wird – das beste und sicherste Kriterium für die Feststellung des Todes eines Menschen dar, sodass potenzielle Organspender zu Recht davon ausgehen können, dass sie zum Zeitpunkt der Organentnahme wirklich tot und nicht nur sterbend sind.“ Islam Die Haltung zum Hirntod ist in der islamischen Religion uneinheitlich. Betrachtet man jedoch die Entwicklung von 1981 bis 1997, so ist ein Trend zu erkennen: 1981 legte das kuwaitische Religionsministerium fest, dass ein Mensch nicht als tot angesehen werden könne, solange seine Herz- und Kreislaufaktivitäten – wenn auch künstlich – vorhanden sind: „Es ist nicht möglich, diese Person aufgrund des Hirntodes als tot zu betrachten, wenn in ihrem Kreislauf- und Atmungsapparat Leben ist, wenn auch apparativ.“ 1986 wurde auf einer Konferenz islamischer Rechtsgelehrter in Amman der Hirntod dem Herztod in einer Fatwa gleichgestellt. Darin heißt es: „Der menschliche Tod, und alle daraus entstehenden islamisch-rechtlichen Konsequenzen, gilt bei Vorliegen einer der beiden folgenden Zustände: 1. Bei vollständigem, irreversiblem, ärztlich festgestelltem Herz- und Atemstillstand, 2. Bei irreversiblem, ärztlich festgestelltem Ausfall der Hirnfunktion, auch wenn die Herz- und Atemfunktion noch mechanisch aufrechterhalten wird, bzw. mechanisch aufrechterhalten werden kann.“ 1997 empfahl der Zentralrat der Muslime in Deutschland die Festlegung des Hirntodes als Todeskriterium, was sich mit der Meinung der meisten islamischen Gelehrten decke. Deutscher Bundestag Im Rahmen der Gesetzgebung zum Transplantationsgesetz hat sich auch der Deutsche Bundestag wiederholt mit dem Thema auseinandergesetzt. Die derzeit geltenden gesetzlichen Bestimmungen sind 2013 durch eine Kleine Anfrage zum Thema Hirntod und die Antwort der Bundesregierung in erneute Diskussion geraten, da erhebliche Zweifel an den zugrunde liegenden Definitionen bestehen und die Frage, ob Hirntote nicht eher als Sterbende denn als Tote zu bezeichnen wären, nicht abschließend geklärt scheint. Deutscher Ethikrat Am 24. Februar 2015 veröffentlichte der Deutsche Ethikrat die „Stellungnahme Hirntod und Entscheidung zur Organspende“. Darin sprachen sich 7 Mitglieder dagegen aus, den Hirntod als Tod des Menschen anzusehen, für 18 Mitglieder ist der Hirntod der Tod des Menschen. Würde der Hirntoten Der hohe juristische Würdeschutz zu Lebzeiten endet mit dem Absterben des Menschen als lebender Organismus, also mit dem Tod. Allerdings ist die Würde toter Menschen nicht gänzlich ungeschützt, sondern ein eingeschränkter Würdeschutz reicht über den Todeszeitpunkt hinaus. StGB schützt die Totenruhe, und die meisten Bestattungsgesetze der Länder achten ausdrücklich die Würde der Toten und schreiben einen angemessenen Umgang damit vor. Im Transplantationsgesetz ist der „Achtung der Würde des Organ- und Gewebespenders“ gewidmet: "(1) Die Organ- oder Gewebeentnahme bei verstorbenen Personen und alle mit ihr zusammenhängenden Maßnahmen müssen unter Achtung der Würde des Organ- oder Gewebespenders in einer der ärztlichen Sorgfaltspflicht entsprechenden Weise durchgeführt werden. (2) Der Leichnam des Organ- oder Gewebespenders muss in würdigem Zustand zur Bestattung übergeben werden. Zuvor ist dem nächsten Angehörigen Gelegenheit zu geben, den Leichnam zu sehen." Gemeinsame Erklärungen und Richtlinien Gemeinsame Erklärungen medizinischer Gesellschaften Verschiedene medizinische Gesellschaften brachten seit 1994 immer wieder gemeinsame Erklärungen zum Hirntod heraus. Außer der BÄK hat keine dieser Gesellschaften etwas mit Organspende zu tun. In allen diesen gemeinsamen Erklärungen wird der Hirntod als sicheres Todeszeichen genannt. Die gemeinsame Erklärungen der DGN, DGNI, DGNC, DPG, DIVI, BÄK und WB-BÄK zum Hirntod sind: Die gemeinsame Erklärung der DGAI, DGNC, DGN und DPG (1994) beginnt mit den Worten: Die gemeinsame Erklärung der DGAI, DGN, DGNC BÄK und WB-BÄK (2001) enthält: Die zentralen Aussagen dieser gemeinsamen Erklärungen lauten zusammengefasst: 1994 - DGNI, DGN, DGNC, DPG Es gibt nur einen Tod, den Hirntod. Seine Feststellung erfolgt als Nachweis eines bereits unabänderlichen Zustands. Ein Mensch, dessen Gehirn abgestorben ist, kann nichts mehr aus seinem Inneren und aus seiner Umgebung empfinden, wahrnehmen, beobachten und beantworten, nicht mehr denken, nichts mehr entscheiden. Mit dem völligen und endgültigen Ausfall der Tätigkeit seines Gehirns hat der Mensch aufgehört, ein Lebewesen in körperlich-geistiger oder in leiblich-seelischer Einheit zu sein. Das Gehirn stirbt ab, wenn die Sauerstoffversorgung des Hirngewebes mehrere Minuten unterbrochen wird oder wenn der Druck im Hirnschädel den arteriellen Blutdruck übersteigt und dadurch die Hirndurchblutung aufhört. Auch wenn das Gehirn abgestorben ist, lässt sich die im Herzen selbst entstehende Herztätigkeit durch intensivmedizinische Maßnahmen und durch Beatmung aufrechterhalten. Der Tod wird unabhängig davon festgestellt, ob eine anschließende Organentnahme möglich ist. 1997 - BÄK DGAI DGCH DGIM DGNC DGN DPG Die oftmals irreführende öffentliche Diskussion haben zu einer Verunsicherung in der Bevölkerung geführt. Das TPG muss Rechtssicherheit schaffen, dass Hirntote Tote sind. Das TPG soll die praktizierte erweiterte Zustimmungslösung beibehalten. Das TPG soll eine patientenorientierte Verteilung der Organe vorschreiben. 2001 – DGAI, DGN, DGNC, BÄK, WB-BÄK Seit 1982 gibt es die Entscheidungshilfen zur Feststellung des Hirntodes. 1993 wurde vom WB-BÄK die anthropologische Begründung für die Bedeutung des Hirntods als sicheres inneres Todeszeichen des Menschen dargelegt. Übereinstimmend auch mit der neueren wissenschaftlichen Literatur wird gegenüber anders lautenden und missverständlichen Äußerungen – leider auch einzelner Ärzte – klargestellt: An der biologisch begründeten Definition des Hirntods, an der Sicherheit der Hirntodfeststellung und an der Bedeutung des Hirntods als sicheres inneres Todeszeichen des Menschen hat sich nichts geändert. Nach dem Hirntod gibt es keine Schmerzempfindung mehr. Deshalb sind nach dem Hirntod bei Organentnahmen keine Maßnahmen zur Schmerzverhütung (zum Beispiel Narkose) nötig. Die Tätigkeit eines Anästhesisten bei der Organentnahme … dient ausschließlich der Erhaltung der Funktionsfähigkeit der zu entnehmenden Organe. 2002 - DGN DIVI DGNC An der Definition, an der Sicherheit der Feststellung und an der Bedeutung des Hirntods als sicheres inneres Todeszeichen des Menschen hat sich nichts geändert. Nach dem Hirntod gibt es keine Schmerzempfindung mehr. Bei Organentnahmen nach dem Hirntod ist keine Narkose zur Schmerzverhütung nötig. Hirntod bedeutet irreversibel erloschene Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms, festgestellt während einer Intensivbehandlung und kontrollierter Beatmung mit allein dadurch noch aufrechterhaltener Herz- und Kreislauffunktion. Diese Definition des Hirntods … beruht damit allein auf naturwissenschaftlichen Befunden und Zusammenhängen. Der Hirntod als irreversibler Verlust der gesamten Hirntätigkeit kann und muss eindeutig von allen Zuständen eines reversiblen oder partiellen Hirnausfalls unterschieden werden. Der Tod als biologisches Lebensende des Menschen kann und muss eindeutig vom Tod der Körperteile unterschieden werden. Die Medizin verdankt ihren Fortschritt den Naturwissenschaften, den Geisteswissenschaften ihre Menschlichkeit. Nur mit beiden zusammen kann der Arzt dem Menschen dienen. 2012 – DGNI, DGN, DGNC (PDF; 324 kB) Der nachgewiesene Hirntod ist ein wissenschaftlich belegtes sicheres Todeszeichen. Diesbezügliche Bedenken halten einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Der Nachweis des Hirntodes ist in Richtlinien festgelegt. Sie geben den Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft wieder. Scheinbare Widersprüche zwischen den Ergebnissen der Untersuchungen ohne und mit Geräten sind zweifelsfrei geklärt. Der Apnoe-Test ist zum Nachweis aller Ausfallbefunde des Gehirns unerlässlich. Bei vorschriftsgemäßer Untersuchung ist keine zusätzliche Schädigung des Gehirns zu befürchten. Weltweit ist keine Erholung der Hirnfunktion eines Menschen nachgewiesen worden, der nach richtliniengemäß festgestelltem und dokumentiertem Ausfall der Gesamtfunktion seines Gehirns weiterbehandelt wurde. 2014 – DGNI, DGN, DGNC (PDF; 164 kB) Die DSO nennt für 3 Jahre 8 Organspender, bei denen der Hirntod formal nicht richtig diagnostiziert wurde. In allen Fällen fiel der Fehler auf, bevor es zur Orgenentnahme kam. Die DGNI, DGN und DGNC nehmen hierzu Stellung: Die Hirntoddiagnostik ist die sicherste Diagnostik in der Medizin, wenn sie nach den geltenden Kriterien durchgeführt wird. Um den hohen Standard aus qualitativ abzusichern, sollte mindestens ein Neurologe oder Neurochirurg mit langjähriger Erfahrung bei der Hirntoddiagnostik beteiligt sein. Das diskutierte Konzept des Non-Heart-Beating-Donors (NHBD, siehe Herztodkriterium) ist weiterhin strikt abzulehnen, da es ein höheres Risiko von Fehldiagnosen in sich birgt. Der Hirntod bedeutet den Tod des Individuums. Die Feststellung des Hirntodes wird vor dem Hintergrund einer eventuellen Transplantation durchgeführt. 2015 – DGNI, DGN, DGNC (PDF) Ein Neurologe oder Neurochirurg sollte bei der Hirntoddiagnostik dabei sein. Derzeit ist dies bei etwa ¾ der Hirntoddiagnostik der Fall. NHBD ist strikt abzulehnen. Bei mehr als der Hälfte der Patienten wird der Hirntod diagnostiziert, auch wenn nach der Diagnose keine Organentnahme erfolgt. Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes In den Jahren 1982 brachte der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer seine erste „Entscheidungshilfe zur Feststellung des Hirntodes“ heraus. In den Jahren 1986, 1991 und 1997 erfolgte eine Fortschreibung, die aufgrund weiterer Untersuchungsmöglichkeiten erforderlich war. Die sprachliche Anpassung an das im Jahr 1997 verabschiedete Transplantationsgesetz führte zu der „Richtlinie zur Feststellung des Hirntodes“ im Jahre 1998. In diesen heißt es: 1982: „Der Hirntod ist der Tod des Menschen. … Hirntod und somit der Tod des Patienten diagnostiziert am“ 1986: „Der Hirntod ist der Tod des Menschen. … Hirntod und somit der Tod des Patienten diagnostiziert am“ 1991: „Der Hirntod ist der Tod des Menschen. … wird der Hirntod und somit der Tod des Patienten festgestellt am“ 1997: „Die klinischen Zeichen des Hirntodes hingegen sind seit drei Jahrzehnten uneingeschränkt gültig und der Nachweis des Hirntodes weltweit als sicheres Todeszeichen anerkannt. … Mit dem Hirntod ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt. … wird der Hirntod und somit der Tod des Patienten festgestellt am“ 1998: „Mit dem Hirntod ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt. Wird vom Arzt ein äußeres sicheres Zeichen des Todes festgestellt, so ist damit auch der Hirntod nachgewiesen. … wird der Hirntod und somit der Tod des Patienten festgestellt am“ Am 30. März 2015 setzte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) die vierte Fortschreibung der Richtlinie für die Feststellung des Hirntodes in Kraft. Darin heißt es: 2015: „Mit der Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms (irreversibler Hirnfunktionsausfall) ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt. Das unwiderrufliche Erlöschen der Gehirnfunktion wird entweder durch die in dieser Richtlinie dargestellten Verfahrensregeln oder durch das Vorliegen anderer sicherer Todeszeichen, wie Totenflecke oder Leichenstarre, nachgewiesen. Liegt ein anderes sicheres Todeszeichen vor, so ist damit auch der irreversible Hirnfunktionsausfall eingetreten und nachgewiesen. … Damit ist der Tod des Patienten festgestellt am“ Zu den häufig als Kriterium eines nicht eingetretenen Hirntodes genannten Schwangerschaften heißt es 1997 in der o. g. Entscheidungshilfe: „Das Fortbestehen einer Schwangerschaft widerspricht nicht dem eingetretenen Hirntod der Mutter. Eine Schwangerschaft wird endokrinologisch von der Plazenta und nicht vom Gehirn der Mutter aufrechterhalten.“ Das BMG bestätigte mit seiner Richtlinie aus dem Jahre 2015 diese Aussage mit den Worten: „Das Fortbestehen einer Schwangerschaft widerspricht nicht dem eingetretenen irreversiblen Hirnfunktionsausfall der Mutter. Eine Schwangerschaft wird endokrinologisch von der Plazenta aufrechterhalten.“ Bezüglich der anderen, häufig genannten „Lebenszeichen“ der Hirntoten schreibt das BMG: „Folgende Konstellationen schließen die Diagnose des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls nicht aus: Beim Hirnfunktionsausfall können spinale Reflexe, Extremitäten-Bewegungen (z. B. Lazarus-Zeichen) und vegetative Symptome (z. B. Schwitzen) sowie die Leitfähigkeit des peripheren Abschnittes von Hirnnerven, die periphere Erregbarkeit und spontane Entladungen im Elektromyogramm der Gesichtsmuskeln vorübergehend noch erhalten bleiben oder wiederkehren, solange der Körper-Kreislauf und die Beatmung aufrechterhalten werden. Diagnostische Einschränkungen durch Blutdruckschwankungen oder Fieber sind nicht bekannt. Schon während der Entwicklung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls kann, je nach Temperatur von Umgebung und Beatmungsluft, die Körperkerntemperatur abfallen. Der Zeitpunkt des Auftretens eines Diabetes insipidus variiert.“ Todesbescheinigungen Die von einem Arzt auszufüllende Todesbescheinigung beinhaltet in allen deutschen Bundesländern den Hirntod als sicheres Zeichen des Todes. In dem Artikel Ärztliche Leichenschau und Todesbescheinigung, erschienen am 28. November 2003 im Deutschen Ärzteblatt, wird der Hirntod als sicheres Todeszeichen genannt. Kontroversen Verschiedene Mediziner und Wissenschaftler üben Kritik an der Hirntod-Definition als endgültigem Tod des Menschen. So meint etwa der Alternativmediziner und Kardiologe Paolo Bavastro, dass der Begriff des „hirntoten Menschen“ eine „arglistige Täuschung“ sei, da ein Mensch mit Hirnversagen zwar „ein Mensch“ sei, dessen „Gehirn einen erheblichen Schaden“ habe und „ein schwerstkranker, sterbender Mensch“ sei, aber eben „noch kein Toter“. Ärzte könnten bei hirntoten Menschen trotzdem einen Herzschlag wahrnehmen, sie würden ihre Körpertemperatur selbst regulieren, Urin und Stuhl ausscheiden, sie könnten schwitzen und sogar Antikörper bilden, Männer könnten Erektionen bekommen und Frauen schwanger werden und gesunde Kinder gebären. Die Vorstellung, dass „nur die Hirnaktivität den Menschen zum Menschen“ mache und „der Tod des Hirns auch den Tod des Menschen bedeute“, sei überholt, so Bavastro. Der Medizinethiker Axel W. Bauer, der von 2008 bis 2012 Mitglied des Deutschen Ethikrates war, weist auf die in ethischer Perspektive problematische Argumentationstechnik hin, die das Hirntodkonzept stützen soll. Drei zentrale Gründe, die 1997 bei Erlass des Transplantationsgesetzes zugunsten des Hirntodkonzepts sprachen, bezögen sich nicht auf objektive physiologische Tatsachen, sondern beschrieben potenzielle sozial- und individualethische Gefahren, die eintreten könnten, wenn der Gesetzgeber vom Kriterium des Hirntodes als dem Todeszeitpunkt des Menschen abwiche: 1. Der Arzt würde den Patienten bei der Organentnahme töten; 2. die aktive Sterbehilfe könnte begünstigt werden; 3. die Bereitschaft zur Organspende in der Bevölkerung könnte abnehmen. Um diese drei Szenarien vermeiden zu können, sei der Hirntod zum rechtlich bindenden Todeskriterium des Menschen erklärt worden. In wissenschaftlicher und ethischer Hinsicht unseriös sei diese Argumentation deshalb, weil sie die Begründung des Hirntodkriteriums nicht aus der Sache an sich ableite, sondern aus den unerwünschten Folgen seiner Zurückweisung. Damit werde einer funktionalen Indienstnahme des Hirntodkonzepts Vorschub geleistet, und es entstehe der Eindruck, der potenzielle Organspender solle dadurch, dass man ihn formal „für tot erklärt“, zu fremden Zwecken instrumentalisiert werden. Der US-amerikanische Arzt Alan Shewmon, welcher früher ein bekannter Befürworter des Hirntod-Konzeptes war, vertritt die Auffassung, dass „das Gehirn nicht als zentraler Integrator aller menschlichen Körperfunktionen“ wirke. Der Neurologe hatte bis 1998 über 170 dokumentierte Fälle gefunden, in denen zwischen Feststellung des Hirntodes und Eintritt des Herzstillstands viel Zeit vergangen war. Die Spannen reichten dabei von mindestens einer Woche bis zu 14 Jahren. Der US-amerikanische „President’s Council on Bioethics“ (Ethikrat der USA) schloss sich dieser Einschätzung an. Die Vorstellung von der Gleichsetzung von Hirntod und Tod sei nach Auffassung des Rates „nicht mehr aufrechtzuhalten“. Das Gehirn sei „nicht der Integrator der verschiedenen Körperfunktionen“, vielmehr sei „die Integration eine emergente Eigenschaft des ganzen Organismus“. Die neurologische Fachgesellschaft der Vereinigten Staaten mahnt außerdem an, dass „die Kriterien für die Feststellung des Hirntodes nicht wissenschaftlich untermauert“ seien. Beispielsweise seien die (auch in Deutschland) „vorgeschriebenen Wartezeiten zwischen der ersten und zweiten neurologischen Untersuchung“ nur „grobe Erfahrungswerte und nicht zuverlässig“. Kritisiert wird auch, dass „apparative Zusatzuntersuchungen“, wie die „Messungen der elektrischen Aktivität und der Durchblutung des Gehirns“, nicht „zum obligatorischen Standard“ gehören. Unter Umständen könnten „neurologisch unerfahrene Ärzte deshalb einen Komapatienten für tot erklären“, obwohl „seine Hirnrinde noch bei Bewusstsein“ sei. Zudem sei die Feststellung des Hirntods mit einer Reihe von Unsicherheiten behaftet, so Joseph Verheijde, Mohamed Rady und Joan McGregor von der Non-Profit-Organisation Mayo Clinic. Sie bezweifeln, dass die etablierten Richtlinien geeignet seien, einen „irreversiblen Schaden des Gehirns mit hinreichender Sicherheit zu konstatieren“. Gehirne von für hirntot erklärten Patienten wiesen nicht alle die erwarteten schweren Schäden auf. In Deutschland gelten für die Hirntoddiagnostik die Kriterien der Bundesärztekammer. Eine apparative Untersuchung sei nur bei Kindern bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr vorgesehen. Die in den übrigen Fällen als ausreichend erachtete klinische Diagnostik „erfasse nur Teilbereiche des Gehirns“. Funktionen des Mittelhirnes, des Kleinhirns und der Großhirnrinde würden gar nicht untersucht werden, gibt die deutsche Physikerin und Philosophin Sabine Müller von der Charité in Berlin zu bedenken. Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren wie der Positronenemissionstomographie oder der funktionellen Magnetresonanztomographie an Patienten mit schweren Bewusstseinsstörungen ließen an der Behauptung des irreversiblen Ausfalles aller Hirnfunktionen zweifeln. Überlebende eines vermeintlichen Hirntodes Es gab Fälle von Personen, die in den Medien als Hirntote beschrieben wurden, aber wieder zu Bewusstsein kamen. Als Erklärung kommt in Frage: Es wurde Hirntod angenommen, aber die Hirntoddiagnostik war noch nicht abgeschlossen, sodass noch kein Hirntod vorlag. Beispielsweise wurde im Mai 2018 weltweit darüber berichtet, dass ein 13-jähriger Junge aus dem US-Staat Alabama angeblich aus dem Hirntod wieder aufgewacht sei. Die Ärzte hatten einen Hirntod angenommen und die Eltern des Jungen die Organe zur Transplantation freigegeben. Einen Tag vor dem geplanten endgültigen EEG-Test zeigte der Junge wieder Lebenszeichen und erwachte später aus dem Koma. Die Hirntoddiagnostik wurde nicht korrekt durchgeführt. Beispielsweise kam eine 41-jährige Frau im Jahr 2009 nach einer Drogenüberdosis in eine New Yorker Klinik. Dort wurde die Untersuchungen nicht korrekt durchgeführt und Lebenszeichen ignoriert. Kurz vor der Organentnahme kam die Frau wieder zu sich. Die Klinik wurde im September 2012 zu einer Geldstrafe von 22.000 Dollar verurteilt. Grundsätzliches Der amerikanische Neurologe Alan Shewmon veröffentlichte im Jahr 1998 das Ergebnis seiner Studie. Er trug die Daten von insgesamt über 170 Menschen zusammen, die nach der Feststellung des Hirntodes intensivmedizinisch weiterbehandelt wurden. Bis zum irreversiblen Herzstillstand vergingen zwischen einer Woche und 14 Jahren. Keiner dieser Hirntoten kehrte ins Leben zurück. Alle verblieben bis zum Herzstillstand in ihrem Zustand des Hirntodes. Zu der Studie ist anzumerken: Von den 175 von Alan Shewmon dokumentierten Hirntoten ist bei 56 der Hirntod hinreichend sicher dokumentiert. Über die Hirntoten selbst schreibt Alan Shewmon zusammenfassend: Die drei Hirntoten mit den längsten Zeiten (2,7 und 5,1 und 14,5 Jahre) waren Neugeborene und kleine Kinder. Alle 9 Hirntoten mit Zeiten über 4 Monate waren jünger als 18 Jahre. Allen 17 Hirntoten mit über 30 Jahren versagte der Blutkreislauf innerhalb der ersten 2,5 Monate. Anwältin (Hongkong, 2009) Eine Anwältin aus Hongkong erlitt im April 2009 einen Herzinfarkt und fiel infolgedessen in ein Koma. Es wurde der Tod ihres Stammhirns erklärt. Sie erlangte allerdings drei Tage nach ihrer Einlieferung wieder das Bewusstsein. Jugendlicher (England 2008) Ein damals 17-jähriger Jugendlicher hatte 2008 nach einem Autounfall schwere Kopfverletzungen erlitten und wurde nach zwei Tagen fälschlich von vier Ärzten einer Klinik für hirntot erklärt, nachdem sie anhand von CT-Aufnahmen von einem irreversiblen Hirnschaden ausgingen. Jedoch wurde er weiter am Leben gehalten. Ein Neurologe überprüfte die Diagnose und stellte eine positive Prognose. Nach zwei Wochen erwachte der vermeintlich Hirntote aus dem Koma. 2012 studierte der dann 21-Jährige Rechnungswesen. Hirntote Schwangere In der „Entscheidungshilfe zur Feststellung des Hirntodes“ der Bundesärztekammer des Jahres 1997 heißt es: „Das Fortbestehen einer Schwangerschaft widerspricht nicht dem eingetretenen Hirntod der Mutter. Eine Schwangerschaft wird endokrinologisch von der Plazenta und nicht vom Gehirn der Mutter aufrechterhalten.“ Das Bundesministerium für Gesundheit bestätigte dies in seiner am 30. März 2015 herausgegebenen Richtlinie zur Feststellung des Todes: „Das Fortbestehen einer Schwangerschaft widerspricht nicht dem eingetretenen irreversiblen Hirnfunktionsausfall der Mutter. Eine Schwangerschaft wird endokrinologisch von der Plazenta aufrechterhalten.“ Betriebswirtin (1991) Eine 33-jährige Betriebswirtin war in der 17. Woche schwanger, als sie am 4. Juli 1991 aus ungeklärter Ursache bewusstlos zusammenbrach. Die Frau wurde ohne Herzschlag von einem Spaziergänger gefunden, erfolgreich reanimiert und in eine Klinik gebracht. Dort wurde am 14. Juli der Tod ihres Hirnstammes anhand von Tests festgestellt, die Diagnostik zum Hirntod war allerdings noch nicht abgeschlossen, weil kein Atemtest durchgeführt wurde. Um das Kind zu retten, wurde die Schwangere in der anthroposophischen Filderklinik weiter medizinisch mit allem versorgt. Am 26. September 1991 setzten – nach 84 Tagen Versorgung auf der Intensivstation – in 28. Schwangerschaftswoche vorzeitige Wehen ein. Ihr Sohn wurde lebend durch Kaiserschnitt geboren, die Mutter starb zwei Tage danach. Erlanger Baby (1992) Im Fall des Erlanger Babys wurde bei den Vorbereitungen zur Organentnahme einer hirntoten Frau eine Schwangerschaft in der 15. Woche festgestellt. Daraufhin wurde die Organentnahme abgesagt und entschieden, die Schwangerschaft auszutragen. Die Frau wurde intensivmedizinisch mit Beatmung, Kreislauftherapie und Hormonersatz weiterbehandelt, so dass ihr Körper und damit auch der Uterus in seiner Grundfunktion erhalten blieben. Der Fetus wuchs normal, bis es durch eine Infektion in der 20. Schwangerschaftswoche zu einer Frühgeburt kam, die das Kind nicht überlebte. Am Tag der Geburt wurden die lebenserhaltenden Maßnahmen für die hirntote Mutter abgestellt, zu diesem Zeitpunkt war eine Organentnahme nicht mehr möglich. Der hirntoten Schwangeren war ein rechtlicher Betreuer bestellt worden, um über die weitere medizinische Behandlung zu entscheiden. In dem Beschluss des Amtsgerichtes Hersbruck heißt es: Es stellte sich die Frage, ob es ethisch gerechtfertigt werden kann, die hirntote Mutter solange künstlich zu beatmen und zu ernähren, bis der Fetus per Kaiserschnitt auf die Welt geholt werden kann, und ob es ethisch gerechtfertigt werden kann, einen Fetus in einer hirntoten Mutter bis zur Geburt wachsen zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte im Jahr 1975 den Schutz des ungeborenen Kindes: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“ Hirntote Medizintechnikerin (2013) Am 26. November 2013 kollabierte eine 33-jährige, in der 14. Woche schwangere Medizintechnikerin, aufgrund einer schweren Lungenembolie. Im John Peter Smith Hospital in Fort Worth, Texas, wurde der Hirntod diagnostiziert. Die Familienangehörigen, einschließlich des Ehemanns, sprachen sich für eine Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen aus, da sich die Betroffene selbst in früheren Gesprächen mit dem Ehemann dagegen ausgesprochen hatte. Dies wurde jedoch vom behandelnden Krankenhaus mit Hinweis auf texanische Gesetze verweigert. Daraufhin klagte der Ehemann gegen das Krankenhaus. Der Fall löste intensive ethische Diskussionen aus. Nach zwei Monaten wurde dem Kläger Recht gegeben, und die Patientin samt dem ungeborenen Kind verstarb nach dem Abschalten der lebenserhaltenden medizinischen Versorgung. Siehe auch Lazarus-Phänomen Atropintest Hans Meyer-Hörstgen für den Roman „Hirntod“ von 1985 Herz-Lungen-Wiederbelebung Literatur Johann S. Ach, Michael Quante (Hrsg.): Hirntod und Organverpflanzung. Ethische, medizinische, psychologische und rechtliche Aspekte der Transplantationsmedizin. Frommann-Holzboog, Stuttgart 1999, ISBN 3-7728-1992-3. Karim Akerma: Lebensende und Lebensbeginn. Philosophische Implikationen und mentalistische Begründung des Hirn-Todeskriteriums. Lit, Münster u. a. 2006, ISBN 3-8258-9744-3. Axel W. Bauer: Hirntod, Organentnahme, Tod: Das beschwiegene Dilemma der Transplantationsmedizin. In: Ders.: Normative Entgrenzung. Themen und Dilemmata der Medizin- und Bioethik in Deutschland. Springer VS, Wiesbaden 2017, ISBN 978-3-658-14033-5, S. 248–263. Lorenz Bode: Todeszeitpunkt des Menschen – Zur Notwendigkeit einer „Neudefinition“. In: Zeitschrift für Lebensrecht Nr. 4, 2015, S. 111. () Alberto Bondolfi (Hrsg.): Hirntod und Organspende. Schwabe, Basel 2003, ISBN 3-7965-1968-7. Johannes Hoff, Jürgen in der Schmitten (Hrsg.): Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und „Hirntod“-Kriterium. Rowohlt, Reinbek 1995, ISBN 3-499-19991-2. Ludger Honnefelder: Hirntod und Todesverständnis. Das Todeskriterium als anthropologisches und ethisches Problem. In: Ludger Honnefelder, Christian Streffer (Hrsg.): Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik. Band 3. Walter de Gruyter, Berlin 1998, ISBN 3-11-016394-2, S. 56–78. Dag Moskopp: Hirntod: Konzept – Kommunikation – Verantwortung. Thieme, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-13-198661-0. Fuat Oduncu: Hirntod und Organtransplantation. Medizinische, juristische und ethische Fragen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998, ISBN 3-525-45822-3. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Hudson%20River
Hudson River
Der Hudson River [] ist ein 493 Kilometer langer Fluss in den US-Bundesstaaten New York und New Jersey im Nordosten der USA. Flusslauf Der Hudson entspringt im US-Bundesstaat New York in den Adirondack Mountains am Henderson Lake. Von dort fließt er überwiegend in südlicher Richtung durch diesen Staat und nimmt bei Albany das Wasser des Mohawk River auf. Nur im Unterlauf bildet er teilweise die Grenze zum Nachbarstaat New Jersey und erreicht vor seiner Mündung den New Yorker Hafen. In den Atlantik mündet er zwischen den Inseln Manhattan und Staten Island in die Upper New York Bay. Der Unterlauf des Hudson ist dem Einfluss der Gezeiten unterworfen. Der Tidenhub macht sich noch über 225 Kilometer flussaufwärts, bis zum Wehr in Troy, nördlich von Albany, bemerkbar. Daher kann der Hudson nicht auf ganzer Länge als Fluss bezeichnet werden. Dieser Abschnitt wird als Estuary (dt.: Ästuar) bezeichnet. Der Hudson entwässert zusammen mit seinen Nebenflüssen, insbesondere mit dem Mohawk River, ein großes Gebiet im Osten der USA. Wegen der Schönheit des Hudsontals wurde dem Hudson River die Bezeichnung Der Rhein Amerikas verliehen. Geschichte Die ursprünglich in der Gegend lebenden Ureinwohner, die Mahican, nannten den Fluss Mahicannituck, also „Wasser, das immer fließt“. Als erster Europäer entdeckte 1524 der Italiener Giovanni da Verrazzano den Fluss. Die niederländischen Siedler, die sich seit 1624 in Nieuw Amsterdam und am Unterlauf des Flusses niedergelassen hatten, nannten ihn Noortrivier, zuweilen auch Manhattes rieviere, Groote Rivier oder de grootte Mouritse reviere. Später wurde er nach Henry Hudson benannt, einem englischen Seefahrer, der ihn 1609 im Auftrag der Niederländischen Ostindien-Kompanie erkundet hatte. Hudson war bis in die Gegend der heutigen Stadt Albany hinaufgesegelt, so weit, wie es mit seinem Dreimaster Halve Maen, einer Jagt, möglich war. Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, ein Jahrhundert, nachdem die Kolonie Nieuw Nederland 1664 den Briten überlassen werden musste, wurde im Hudson-Tal nach wie vor durchweg niederländisch gesprochen. Ins Blickfeld der weltweiten Öffentlichkeit gelangte der Hudson-Fluss am 15. Januar 2009, als der Kapitän Chesley Sullenberger des US-Airways-Fluges 1549 eine spektakuläre Notwasserung auf dem Hudson-Fluss auf der Höhe von Manhattan Island durchführte. Schifffahrt Der Strom ist flussaufwärts bis Albany schiffbar. 8 km nördlich von Albany befinden sich der erste Staudamm (Federal Dam) und die erste Schleuse. Oberhalb davon zweigt der im 19. Jahrhundert gebaute Eriekanal, welcher den Hudson River mit dem Eriesee verbindet, nach Westen ab. Der Mittellauf des Hudson River ist mit mehreren Schleusen als Champlain Canal ausgebaut. Bei Fort Edward zweigt dieser am östlichen Flussufer ab und verläuft in nördlicher Richtung zum Lake Champlain. Wasserkraftanlagen Am oberen Hudson River liegen mehrere Wasserkraftwerke. Das Wasserkraftwerk Green Island 8 km nördlich von Albany liegt am untersten Staudamm des Hudson River. Es ist geplant, die Leistung von 8 MW auf 48 MW zu erhöhen. Eine Auswahl an Wasserkraftanlagen in Abstromrichtung: Weblinks Hudson Valley Tourism Hudson River Valley National Heritage Area Einzelnachweise Fluss in den Appalachen Fluss in New Jersey Geographie (New York City) American Heritage Rivers Albany County (New York) Bergen County Bronx Columbia County (New York) Dutchess County Essex County (New York) Greene County (New York) Hamilton County (New York) Hudson County Geographie (Manhattan) Orange County (New York) Putnam County (New York) Rensselaer County Rockland County Saratoga County Ulster County Warren County (New York) Washington County (New York) Westchester County Henry Hudson als Namensgeber Gewässer in den Adirondack Mountains
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hertzsprung-Russell-Diagramm
Hertzsprung-Russell-Diagramm
Das Hertzsprung-Russell-Diagramm, kurz HRD, zeigt grob die Entwicklungsverteilung der Sterne. Es wurde 1913 von Henry Norris Russell entwickelt und baut auf Arbeiten von Ejnar Hertzsprung auf. Wird dazu der Spektraltyp gegen die absolute Helligkeit aufgetragen, ergeben sich bei einer genügenden Anzahl von Eintragungen charakteristische linienartige Häufungen. Charakteristische Bereiche Hauptreihe Das Diagramm zeigt die meisten Sterne in der Gegend der sogenannten Hauptreihe (main sequence oder Zwergenast), die sich von den O-Sternen mit einer absoluten Helligkeit von circa Magnitude −6 bis zu den M-Sternen mit einer absoluten Helligkeit von Magnitude 9 bis 16 hinzieht. Die Sterne der Hauptreihe bilden die Leuchtkraftklasse V. Die Sonne ist ein Hauptreihenstern der Spektralklasse G2. Weitere Beispiele für Hauptreihensterne sind Wega (A0) und Sirius (A1). Sonstige Bereiche Oberhalb der Hauptreihe findet sich der Riesenast mit Sternen der Leuchtkraftklasse III. Zwischen der Hauptreihe und dem Riesenast finden sich die selteneren Unterriesen mit der Leuchtkraftklasse IV. Ihr Durchmesser liegt zwischen dem der Sterne der Hauptreihe und dem der Riesensterne. Im Bereich der Spektralklassen A5 bis G0, links oberhalb der Hauptreihe, liegt die sogenannte Hertzsprung-Lücke (auf der Illustration nicht eingezeichnet), ein Gebiet mit auffällig wenigen Sternen. Sie erklärt sich dadurch, dass massereiche Sterne lediglich eine sehr kurze Zeit benötigen, um sich zu Riesen zu entwickeln und damit relativ schnell im Riesenast aufgehen. Daher erscheint der Bereich der Hertzsprung-Lücke relativ leer. Neben der dicht besetzten Hauptreihe und dem Riesenast gibt es noch die Bereiche der hellen Riesen (bright giants) mit der Leuchtkraftklasse II sowie der Überriesen (supergiants) mit der Leuchtkraftklasse I. Diese Bereiche sind relativ dünn aber gleichmäßig besetzt. Unterhalb der Hauptgruppe finden sich die Bereiche der Unterzwerge mit einer etwa um 1–3 geringeren Magnitude sowie die isoliert im Bereich der Spektralklassen B bis G liegende Gruppe der weißen Zwerge mit einer um etwa 8–12 geringeren Magnitude als die Sterne der Hauptgruppe und einem sehr geringen Durchmesser. Deutung Die Konzentration der Sterne auf die verschiedenen Gruppen lässt sich aus der Theorie der Sternentwicklung erklären. Die Entwicklungszustände der Sterne sind voneinander mehr oder weniger klar abgegrenzt und finden sich an ganz bestimmten Stellen des HRD wieder. Im Laufe der Zeit ändern sich die beiden Zustandsgrößen der Effektivtemperatur und der Leuchtkraft eines Sterns in Abhängigkeit von den nuklearen Vorgängen in seinem Inneren, so dass jeder Stern einen gewissen Entwicklungsweg durch das HRD durchläuft. Dies geschieht mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Entwicklungszustände, die lange Zeit anhalten, sind dementsprechend häufiger zu beobachten (z. B. in der Hauptreihe) als schnelle, nur kurz anhaltende Entwicklungsstufen (z. B. im Bereich der Hertzsprung-Lücke). Jenseits von Effektivtemperaturen von etwa 3000–5000 Kelvin finden sich im HRD keine Sterne mehr, weil hier der Bereich der Protosterne liegt, welche eine sehr hohe Entwicklungsgeschwindigkeit haben. Diese nahezu senkrecht verlaufende „Linie“ wird Hayashi-Linie genannt. Da der Spektraltyp grob mit der Oberflächentemperatur des Sterns zusammenhängt, kann das HRD als Temperatur-Leuchtkraft-Diagramm angesehen werden. Alternative Darstellungen zum klassischen HRD Statt des Spektraltyps kann man auch den Farbindex der Sterne auftragen, der ebenfalls ein Maß für ihre Temperatur ist. Statt des HRD wird so das Farben-Helligkeits-Diagramm (FHD) erhalten. Siehe auch Sternentwicklung Asymptotischer Riesenast Instabilitätsstreifen Henyey-Linie Weblinks HRD der meisten bekannten Sterne (englisch) Das Hertzsprung-Russell-Diagramm und das Maß der Sterne Einzelnachweise Stellarphysik Methode der Astrophysik Diagramm
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hypertext%20Transfer%20Protocol%20Secure
Hypertext Transfer Protocol Secure
Hypertext Transfer Protocol Secure (HTTPS, für „sicheres Hypertext-Übertragungsprotokoll“) ist ein Kommunikationsprotokoll im World Wide Web, mit dem Daten abhörsicher übertragen werden können. Es stellt eine Transportverschlüsselung dar. HTTPS wurde von Netscape entwickelt und zusammen mit SSL 1.0 erstmals 1994 mit deren Browser veröffentlicht. Technisch definiert wurde es als URI-Schema, eine zusätzliche Schicht zwischen HTTP und TCP. Eine formale Spezifikation wurde im Jahr 2000 als Request for Comments RFC 2818 veröffentlicht. Diese wurde im Jahr 2022 durch den Internetstandard RFC 9110 abgelöst. Nutzen HTTPS wird zur Herstellung von Vertraulichkeit und Integrität in der Kommunikation zwischen Webserver und Webbrowser (Client) im World Wide Web verwendet. Dies wird unter anderem durch Verschlüsselung und Authentifizierung erreicht. Ohne Verschlüsselung sind Daten, die über das Internet übertragen werden, für jeden, der Zugang zum entsprechenden Netz hat, als Klartext lesbar. Mit der zunehmenden Verbreitung von offenen (d. h. unverschlüsselten) WLANs nimmt die Bedeutung von HTTPS zu, weil damit die Inhalte unabhängig vom Netz verschlüsselt werden können. Die Authentifizierung dient dazu, dass beide Seiten der Verbindung beim Aufbau der Kommunikation die Identität des Verbindungspartners überprüfen können. Dadurch sollen Man-in-the-Middle-Angriffe und teilweise auch Phishing verhindert werden. Technik Syntaktisch ist HTTPS identisch mit dem Schema für HTTP, die zusätzliche Verschlüsselung der Daten geschieht mittels SSL/TLS: Unter Verwendung des SSL-Handshake-Protokolls findet zunächst eine geschützte Identifikation und Authentifizierung der Kommunikationspartner statt. Anschließend wird mit Hilfe asymmetrischer Verschlüsselung oder des Diffie-Hellman-Schlüsselaustauschs ein gemeinsamer symmetrischer Sitzungsschlüssel ausgetauscht. Dieser wird schließlich zur Verschlüsselung der Nutzdaten verwendet. Der Standard-Port für HTTPS-Verbindungen ist 443. Neben den Server-Zertifikaten können auch signierte Client-Zertifikate nach X.509.3 erstellt werden. Das ermöglicht eine Authentifizierung der Clients gegenüber dem Server, wird jedoch selten eingesetzt. Eine ältere Protokollvariante von HTTPS war S-HTTP. Client-Verarbeitung Mit der Entwicklung von HTTPS durch Netscape wurde das Protokoll und die anwenderseitige Client-Software schon früh in Webbrowser integriert. Damit ist meist keine weitere Installation gesonderter Software notwendig. Eine HTTPS-Verbindung wird durch eine https-URL angewählt und durch das SSL-Logo angezeigt. Dies wird bei allen geläufigen Browsern als kleines Schloss-Symbol in der Adresszeile dargestellt. Varianten der HTTPS-Anwahl Die Entscheidung, ob eine sichere HTTPS- statt einer HTTP-Verbindung genutzt wird, kann unterschiedlich erfolgen: Serverseitig wird ausschließlich HTTPS zugelassen, wie meist bei Online-Banking; teils wird dabei eine angewählte http-Adresse automatisch auf https weitergeleitet. Der Login wird über HTTPS erzwungen, dann wird ein HTTP-Cookie im Browser gesetzt und, um Rechenzeit zu sparen, der weitere Dienst unverschlüsselt abgewickelt; z. B. bei eBay. Clientseitig durch HSTS: Wenn der Server nur HTTPS zulässt (wie oben beschrieben), kann der Browser dies speichern und stellt zukünftig immer eine Verbindung über HTTPS her. Steht der Server zusätzlich auf der HSTS Preload Liste, stellt der Browser auch beim ersten Besuch schon direkt eine HTTPS-Verbindung her. Clientseitige Eingabe der HTTPS-Variante oder Browser-Plug-in (z. B. für Firefox und Chrome „HTTPS Everywhere“), welches http-Anfragen durch https-Anfragen ersetzt, bei Diensten, die beide Varianten unterstützen. Seit 2020 (Version 83) kann Firefox so eingestellt werden, dass es nur HTTPS verwendet. Falls eine Website nur über das unsichere HTTP erreicht werden kann, erfolgt der Zugriff erst nach expliziter Zustimmung durch den Nutzenden. Gemäß der ursprünglichen Auslegung soll der Client-Browser nach Anwahl der HTTPS-Adresse dem Anwender zuerst das Zertifikat anzeigen. Dieser entscheidet nun, ob er dem Zertifikat für diese Sitzung vertraut, es evtl. auch permanent speichert, gegebenenfalls nach Prüfung über die angegebenen Links. Andernfalls wird die HTTPS-Verbindung nicht hergestellt („Diese Seite verlassen“ bei Firefox bzw. „Klicken Sie hier um diese Seite zu verlassen.“ beim Internet Explorer). Vorinstallierte Zertifikate Um diese für Unkundige eventuell irritierende Abfrage zu vermeiden, wurde mit der Zeit eine Reihe von Root-Zertifikaten von den Browserherstellern akzeptiert, die schon bei der Installation eingetragen werden. Webseiten, die entsprechende Zertifikate haben, werden dann, ebenso wie davon abgeleitete Unter-Zertifikate, bei Aufruf ohne Nachfrage akzeptiert. Ob ein Root-Zertifikat dem Browser bekannt ist, hängt von der Browser-Version ab; zudem wird die Liste der Zertifikate teils auch online im Rahmen der Systemaktualisierung auf den neuesten Stand gebracht, so bei Microsoft Windows. Mit dem Internet Explorer 7 hat Microsoft, kurz danach auch Mozilla mit dem Firefox 3, die Warnung bei nicht eingetragenen Zertifikaten verschärft: Erschien vorher nur ein Pop-up „Sicherheitshinweis“, das nach Name, Quelle und Laufzeit des Zertifikats differenzierte, so wird nun der Inhalt der Webseite ausgeblendet und eine Warnung angezeigt, mit der Empfehlung, die Seite nicht zu benutzen. Um diese sehen zu können, muss der Anwender dann explizit eine „Ausnahme hinzufügen“. Ein nicht im Browser eingetragenes Zertifikat wird damit für Massenanwendungen zunehmend untauglich. Die Frage, welche Zertifikate in die Browser aufgenommen werden, hat in der Open-Source-Community fallweise zu längeren Diskussionen geführt, so zwischen CAcert, einem Anbieter kostenloser Zertifikate, und der Mozilla Foundation, siehe CAcert (Vertrauenswürdigkeit). Ende 2015 ging Let’s Encrypt online, gegründet u. a. von Mozilla und der Electronic Frontier Foundation. Hier werden kostenlose Zertifikate für jedermann angeboten mit dem Ziel, die Verbreitung von HTTPS insgesamt zu fördern. Für die Installation und laufende Aktualisierung der Zertifikate ist jedoch eine eigene Software auf dem Server notwendig. Server-Betrieb Als Software zum Betrieb eines HTTPS-fähigen Webservers wird eine SSL-Bibliothek wie OpenSSL benötigt. Diese wird häufig bereits mitgeliefert oder kann als Modul installiert werden. Der HTTPS-Service wird üblicherweise auf Port 443 bereitgestellt. Zertifikat Das digitale Zertifikat für SSL, das die Authentifizierung ermöglicht, ist vom Server bereitzustellen: Ein Binärdokument, das im Allgemeinen von einer – selbst wiederum zertifizierten – Zertifizierungsstelle (CA von ) ausgestellt wird, das den Server und die Domain eindeutig identifiziert. Bei der Beantragung werden dazu etwa die Adressdaten und der Firmenname des Antragstellers geprüft. In gängigen Browsern eingetragene Zertifikate werden typischerweise zu Preisen zwischen 15 und 600 € pro Jahr angeboten, wobei fallweise weitere Dienste, Siegel oder Versicherungen enthalten sind. Eine Reihe von Zertifizierungsstellen gibt kostenlos Zertifikate aus. Die etwa von Let’s Encrypt ausgestellten Zertifikate werden dabei von fast allen modernen Browsern ohne Fehlermeldung akzeptiert. Ebenfalls kostenlose Zertifikate erstellt CAcert, wo es bisher jedoch nicht gelang, in die Liste der vom Browser automatisch akzeptierten Zertifikate aufgenommen zu werden; siehe oben. Ein solches Zertifikat muss daher bei der Client-Verarbeitung vom Anwender manuell importiert werden; dieses Verhalten kann aber auch erwünscht sein. Um veraltete oder unsicher gewordene Zertifikate für ungültig zu erklären, sind Zertifikatsperrlisten (, CRL) vorgesehen. Das Verfahren sieht vor, dass diese Listen regelmäßig von Browsern geprüft und darin gesperrte Zertifikate ab sofort abgewiesen werden. Mit dem OCSP (Online Certificate Status Protocol) kann, ergänzt um SCVP (Server-based Certificate Validation Protocol), serverseitig die Unterstützung für Zertifikats-Prüfungen umgesetzt werden. Zu Angriffen auf das Zertifikatsystem, siehe unten. Selbst-signiert Ein Server-Betreiber kann auch selbst-signierte Zertifikate (englisch ) kostenlos erstellen, ohne Beteiligung einer dritten Instanz. Diese müssen vom Browser-Anwender manuell bestätigt werden ('Ausnahme hinzufügen'). In diesem Fall garantiert kein Dritter die Authentizität des Anbieters. Ein solches Zertifikat kann wiederum dem Anwender vorab auf einem sicheren Weg zugestellt und in seine Client-Anwendung importiert werden, um Authentizität auf anderem Wege abzubilden. Extended-Validation-Zertifikat Vor dem Hintergrund zunehmender Phishing-Angriffe auf HTTPS-gesicherte Webanwendungen hat sich 2007 in den USA das CA/Browser Forum gebildet, das aus Vertretern von Zertifizierungsorganisationen und den Browser-Herstellern besteht. Zum Gründungszeitpunkt waren die Browser-Hersteller KDE, Microsoft, Mozilla und Opera beteiligt. Im Juni 2007 wurde daraufhin eine erste gemeinsame Richtlinie verabschiedet, das Extended-Validation-Zertifikat, kurz EV-SSL in Version 1.0, im April 2008 dann Version 1.1. Ein Domain-Betreiber muss für dieses Zertifikat weitere Prüfungen akzeptieren: Während bisher nur die Erreichbarkeit des Administrators (per Telefon und E-Mail) zu prüfen war, wird nun die Postadresse des Antragstellers überprüft und bei Firmen die Prüfung auf zeichnungsberechtigte Personen vorgenommen. Damit sind auch deutlich höhere Kosten verbunden. IP-Adressen bei mehreren Domains Zum Betrieb eines HTTPS-Webservers war lange Zeit eine eigene IP-Adresse pro Hostname notwendig. Bei unverschlüsseltem HTTP ist das nicht erforderlich: Seitdem Browser den Hostnamen im HTTP-Header mitsenden, können mehrere virtuelle Webserver mit je eigenem Hostnamen auf einer IP-Adresse bedient werden, zum Beispiel bei Apache über den NameVirtualHost-Mechanismus. Dieses Verfahren wird inzwischen bei der weit überwiegenden Zahl der Domains benutzt, da hier der Domain-Eigner selbst keinen Server betreibt. Da bei HTTPS jedoch der Webserver für jeden Hostnamen ein eigenes Zertifikat ausliefern muss, der Hostname aber erst nach erfolgtem SSL-Handshake in der höheren HTTP-Schicht übertragen wird, ist das Deklarieren des Hostnamens im HTTP-Header hier nicht anwendbar. Dadurch war eine Unterscheidung nur anhand der IP/Port-Kombination möglich; ein anderer Port als 443 wird wiederum von vielen Proxys nicht akzeptiert. Vor diesem Hintergrund nutzten einige Provider einen Workaround, um ihren Kunden auch HTTPS ohne eigene IP-Adresse zu ermöglichen, etwa „shared SSL“. Sie nutzten Wildcard-Zertifikate, die für alle Subdomains einer Domain gültig sind, in Verbindung mit kundenspezifischen Subdomains. Andere Provider nutzten einen „SSL Proxy“, der die Anfragen über eine von mehreren Kunden genutzte Domain leitete. Die Lösung dieses Problems kam durch Server Name Indication (SNI), auf Basis von Transport Layer Security 1.2, da hier der vom Browser gewünschte Hostname bereits beim SSL-Handshake übermittelt werden kann. Damit sind die oben genannten anderen Techniken bedeutungslos geworden. Das Verfahren bedarf entsprechend aktueller Software auf Seiten des Servers und des Browsers und wurde von diesen ab 2006 unterstützt. Im Falle des Apache-Servers wird die SNI-Verarbeitung z. B. durch eine nur leicht modifizierte Konfigurations-Anweisung gesteuert:<VirtualHost _default_:443> Einbindung Die Einbindung von HTTPS in eine Website oder -anwendung erfolgt analog zu den oben genannten Varianten der HTTPS-Anwahl: Wenn ausschließlich HTTPS zulässig ist, kann das umgesetzt werden durch: Weiterleitung (HTML-refresh) oder auch ein rewrite der URL Konfiguration von HTML-Seiten oder Skripten als Muss-SSL, bei Apache etwa durch die Anweisung SSLRequireSSL in der .htaccess. Wird eine solche Seite per HTTP aufgerufen, erzeugt der Server einen '403 – Forbidden' HTTP-Fehlercode. Der Anwender wird auf die Möglichkeit der SSL-Nutzung durch einen entsprechenden Link hingewiesen. Teilweise wird, vor allem während der Einführung von HTTPS, auf eine Bewerbung durch einen Link verzichtet. Der Anwender kann nur manuell auf HTTPS umschalten, indem er in der URL selbstständig das „s“ hinter „http“ hinzufügt. Skriptgesteuerte Erzeugung von HTTPS-Links, um den Anwender bei bestimmten Arbeitsschritten oder Ausgaben auf eine HTTPS-Seite zu lenken. Anschließend kann im Skript geprüft werden, ob dieses per HTTPS aufgerufen wurde, bei PHP etwa durch die Bedingung: $_SERVER['HTTPS']=='on' Umstellung Mit zunehmender CPU-Leistung sowie Sicherheitsbewusstsein tritt regelmäßig die Anforderung auf, eine bisher auf HTTP basierende Website auf HTTPS umzustellen. Im Falle der Website Stack Overflow mit einer Vielzahl von Usern und Services zieht sich dieser Prozess über einige Jahre hin und ist Stand März 2017 nicht abgeschlossen. Dabei wurden u. a. folgende Themen bearbeitet: Vermeidung von Einbindungen von unverschlüsselten Daten (Mediadaten, Stylesheets etc.) in eine verschlüsselte Seite (sogenannter Mixed Content). Andernfalls werden Browserwarnungen wie 'Part of this page is not secure' ausgegeben oder Daten nicht geladen. Gesamte Infrastruktur ist auf SSL umzustellen, darunter Loadbalancer und Proxies Organisation der Zertifikate, ggf. für eine Vielzahl von Subdomains Umstellung von Code der eigenen Webanwendung, worin HTTP hart codiert ist Umstellung von altem und Prüfung von neuem User-Code, der ggf. HTTP verwendet Qualitätsprüfung Umsetzung laufender Sessions, ohne deren Inhalte zu verlieren (24/7 Betrieb) Leistung Beim Verbindungsaufbau legt der Server einen Verschlüsselungsalgorithmus fest. In der Theorie soll sich der Server dabei an den Wünschen des Clients orientieren. Um Rechenzeit zu sparen, werden jedoch auf Servern mit hohem Datenverkehr bevorzugt Strom-Chiffren eingesetzt, da diese weniger rechenintensiv sind als Block-Chiffren wie AES oder Camellia. Viele der dabei lange Zeit genutzten Verfahren wie RC4 gelten als unsicher und werden daher seit 2016 von den großen Webbrowsern nicht mehr unterstützt. Zur Entlastung der Server-CPU werden auch Hardware-SSL-Beschleuniger (SSL accelerators) angeboten: PCI-Steckkarten mit speziellen, optimierten Prozessoren, die aus der SSL-Bibliothek angesprochen werden. Daneben gibt es auch eigenständige Geräte, meist in Rack-Bauweise, die Teile des HTTP-Datenstroms automatisch verschlüsseln. Weiterhin werden Server mit programmierbaren Recheneinheiten angeboten, die mit entsprechenden SSL-Bibliotheken höhere Leistung als vergleichbar aufwendige Universal-CPUs erreichen, so die MAU (Modular Arithmetic Unit) von Sun. Diese spezielle Hardware steht aber im engen Wettbewerb mit der stetigen Entwicklung der Multiprozessor- und Multi-Core-Systeme der großen CPU-Hersteller Intel und AMD. 2010 verursachte die Verschlüsselung beispielsweise bei Gmail weniger als 1 % der Prozessor-Last, weniger als 10 KB Arbeitsspeicherbedarf pro Verbindung und weniger als 2 % des Netzwerk-Datenverkehrs. 10 Jahre vorher belastete der Rechenaufwand der Verschlüsselung die Server noch stark. Angriffe und Schwachstellen Mit den allgemein zunehmenden Kenntnissen über die HTTPS-Technik haben sich auch die Angriffe auf SSL-gesicherte Verbindungen gehäuft. Daneben sind durch Recherche und Forschungen Lücken in der Umsetzung bekannt geworden. Dabei ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Schwachstellen bei der Verschlüsselung selbst und im Zertifikatsystem. 2013 wurde im Zusammenhang mit der globalen Überwachungs- und Spionageaffäre bekannt, dass die NSA beide Angriffskanäle nutzte, um Zugang zu verschlüsselten Verbindungen zu erlangen. Verschlüsselung Die bei SSL eingesetzten Verschlüsselungsverfahren werden unabhängig von ihrem Einsatzzweck regelmäßig überprüft und gelten als mathematisch sicher, d. h., sie lassen sich theoretisch mit den heute bekannten Techniken nicht brechen. Die Zuverlässigkeit der Algorithmen wird regelmäßig etwa durch Wettbewerbe unter Kryptologen überprüft. Regelmäßig werden in den Spezifikationen und den Implementierungen die Unterstützung veralteter Verschlüsselungsverfahren, die nach dem aktuellen Stand der Technik als nicht mehr sicher gelten, gestrichen und neue Verfahren aufgenommen. Probleme entstanden in der Vergangenheit mehrfach durch fehlerhafte Implementierung der Kryptologie. Insbesondere Schwachstellen in der weit verbreiten OpenSSL-Bibliothek wie Heartbleed haben dabei große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Da in der Regel Benutzer nicht explizit eine verschlüsselte Verbindung durch Spezifizierung des HTTPS-Protokolls (https://) beim Aufruf einer Webseite anfordern, kann ein Angreifer eine Verschlüsselung der Verbindung bereits vor Initialisierung unterbinden und einen Man-in-the-Middle-Angriff ausführen. Speziell zur Abwehr von Downgrade-Attacken gegen die Verschlüsselung sowie von Session Hijacking wurde 2012 das Verfahren HTTP Strict Transport Security oder HSTS vorgestellt. Es wird durch einen HSTS-Header seitens des Servers aktiviert, worauf im Browser u. a. http- in https-URLs umgewandelt werden. Zertifikatsystem SSL-Verbindungen sind grundsätzlich gefährdet durch Man-in-the-Middle-Angriffe, bei denen der Angreifer den Datenverkehr zwischen Client und Server abfängt, indem dieser sich beispielsweise als Zwischenstelle ausgibt. Eine Reihe von Angriffsverfahren setzen voraus, dass sich der Angreifer im Netzwerk des Opfers befindet. Beim DNS-Spoofing wiederum bestehen diese Voraussetzungen nicht. Um sich als (anderer) Server auszugeben, muss der Angreifer auch ein Zertifikat vorweisen. Das ist ihm beispielsweise dann möglich, wenn es ihm gelingt, in das System einer Zertifizierungsstelle einzudringen, oder er anderweitig in den Besitz eines Zertifikats kommt, mit dem sich beliebige andere Zertifikate ausstellen lassen. Insbesondere bei einflussreichen Angreifern, wie etwa Regierungsbehörden, können solche Möglichkeiten bestehen, da mitunter auch staatliche Zertifizierungsstellen existieren. HTTP Public Key Pinning und Certificate Transparency sollen solche Angriffe erschweren. Phishing und HTTPS Ein Nachteil der automatischen Bestätigung der Zertifikate besteht darin, dass der Anwender eine HTTPS-Verbindung nicht mehr bewusst wahrnimmt. Das wurde in jüngerer Zeit bei Phishing-Angriffen ausgenutzt, die etwa Online-Banking-Anwendungen simulieren und dem Anwender eine sichere Verbindung vortäuschen, um eingegebene PIN/TAN-Codes „abzufischen“. Als Reaktion wiesen betroffene Unternehmen ihre Kunden darauf hin, keine Links aus E-Mails anzuklicken und https-URLs nur manuell oder per Lesezeichen einzugeben. Wegen der teils oberflächlichen Prüfungen bei der Vergabe von Zertifikaten wurde von den Browserherstellern das extended-validation-Cert eingeführt, siehe oben. Gemischte Inhalte Das Nachladen unverschlüsselter Ressourcen ermöglicht einem Angreifer, mittels eines Man-in-the-Middle-Angriffs Schadcode in die ursprünglich verschlüsselt übertragene Webseite einzuschleusen. Daher blockieren aktuelle Versionen gängiger Webbrowser das Nachladen unverschlüsselter Ressourcen standardmäßig. Ebenso besteht bei einem sowohl für verschlüsselte als auch unverschlüsselte Verbindungen genutzten HTTP-Cookie das Risiko eines Session Hijacking, auch wenn die Authentifizierung über eine verschlüsselte Verbindung erfolgte. Schwachstelle MD5 Auf dem 25. Chaos Communication Congress in Berlin wurde im Dezember 2008 ein erfolgreicher Angriff auf das SSL-Zertifikatsystem veröffentlicht. In internationaler Zusammenarbeit von Kryptologen und mit Einsatz speziell programmierter Hardware – einem Cluster aus 200 Playstation-3-Spielkonsolen – war es gelungen, im MD5-Algorithmus eine Kollision zu erzeugen, auf deren Basis ein Angreifer sich selbst beliebige Zertifikate ausstellen könnte. Von der Verwendung des MD5-Algorithmus wurde in Fachkreisen vorher schon abgeraten; bei EV-Zertifikaten kann er ohnehin nicht verwendet werden. Die meisten Webbrowser akzeptieren schon seit 2011 keine MD5-Zertifikate mehr. Um ähnliche Probleme zu vermeiden, kündigten die Browser-Hersteller darauf an, auch SHA1-Zertifikate nur noch eine beschränkte Zeit zu unterstützen. Spezifikationen Weblinks Wie funktioniert HTTPS? softed.de SSL intro. Apache.org Einzelnachweise HTTP Verschlüsselungsprotokoll Internet-Anwendungsprotokoll Kryptologischer Standard Internetstandard
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heiliges%20R%C3%B6misches%20Reich
Heiliges Römisches Reich
Heiliges Römisches Reich ( oder Sacrum Romanum Imperium), seit dem Ende des 15. Jahrhunderts auch Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation (), war vom Spätmittelalter bis 1806 die offizielle Bezeichnung für das seit dem 10. Jahrhundert bestehende Herrschaftsgebiet der römisch-deutschen Kaiser. Der Name leitet sich vom Anspruch seiner mittelalterlichen Herrscher ab, Nachfolger der römischen Kaiser der Antike und nach Gottes heiligem Willen die universalen, weltlichen Oberhäupter der Christenheit zu sein, im Rang also über allen anderen Königen Europas zu stehen. Es war ein aus zahlreichen Territorien bestehender Verband, der zur Unterscheidung von dem 1871 als Nationalstaat gegründeten Deutschen Reich auch als Römisch-deutsches Reich oder als Altes Reich bezeichnet wird. Das Reich bildete sich im 10. Jahrhundert unter der Dynastie der Ottonen aus dem ehemals karolingischen Ostfrankenreich heraus. Mit seiner Kaiserkrönung am 2. Februar 962 in Rom knüpfte Otto I., wie 162 Jahre zuvor Karl der Große, an die Idee des erneuerten Römerreiches an. An der Theorie der Translatio imperii, die ihren universalen Herrschaftsanspruch legitimierte, hielten seine Nachfolger bis zum Ende des Reiches prinzipiell fest. Das Gebiet des Ostfrankenreichs wurde erstmals im 11. Jahrhundert in verschiedenen Schriftquellen – aber nie offiziell – als Regnum Teutonicum oder Regnum Teutonicorum bezeichnet. Seit der Zeit Kaiser Friedrich Barbarossas sind die Namen Sacrum Imperium (1157) und Sacrum Romanum Imperium (1184) erstmals urkundlich belegt, nicht erst seit 1254, wovon die ältere Forschung ausging. Der Zusatz Deutscher Nation ( oder natio Teutonica) wurde ab dem späten 15. Jahrhundert gelegentlich gebraucht. Umfang und Grenzen des Heiligen Römischen Reiches veränderten sich im Laufe der Jahrhunderte erheblich. Seit 1033 bestand es aus drei Teilen: aus dem Regnum Teutonicum, also dem „deutschen“ Reich, aus Reichsitalien und – bis zum faktischen Verlust im ausgehenden Spätmittelalter – aus dem Königreich Burgund, das auch als Arelat bezeichnet wurde. Eine Sonderrolle nahm das ebenfalls dem Reich angehörige Königreich Böhmen ein. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung um 1200 umfasste das Reichsgebiet das heutige Deutschland bis zur Eider, die Benelux-Staaten mit Ausnahme von Teilen Flanderns, die Schweiz, Liechtenstein, Österreich, Tschechien, Slowenien und Norditalien außer Venedig sowie weite Teile im Osten Frankreichs und ungefähr das westliche Drittel Polens. Wegen verschiedener Unklarheiten bei der Reichszugehörigkeit (z. B. den Deutschordensstaat betreffend) ist eine eindeutige Darstellung des Reichsgebietes nicht möglich; dies ist auch im Falle der hier verwendeten Karten zu beachten. Aufgrund seines multiethnischen, vor- und übernationalen Charakters und seines universalen Anspruchs entwickelte sich das Reich nie zu einem Nationalstaat moderner Prägung, sondern blieb ein monarchisch geführter, ständisch geprägter Verband von Kaiser und Reichsständen mit nur wenigen gemeinsamen Institutionen wie dem Reichstag und dem Reichskammergericht. Seit der Frühen Neuzeit war das Reich strukturell nicht mehr zu offensiver Kriegsführung, Machterweiterung und Expansion fähig. Rechtsschutz und Friedenswahrung galten seither als seine wesentlichen Zwecke. Das Reich sollte für Ruhe, Stabilität und die friedliche Lösung von Konflikten sorgen, indem es die Dynamik der Macht eindämmte: Untertanen sollte es vor der Willkür der Landesherren und kleinere Reichsstände vor Rechtsverletzungen mächtigerer Stände und des Kaisers schützen. Da seit dem Westfälischen Frieden von 1648 auch benachbarte Staaten als Reichsstände in seine Verfassungsordnung integriert waren, erfüllte das Reich zudem eine friedenssichernde Funktion im System der europäischen Mächte. Das Reich konnte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts seine Glieder immer weniger gegen die expansive Politik innerer und äußerer Mächte schützen. Dies trug wesentlich zu seinem Untergang bei. Durch die Napoleonischen Kriege und die daraus resultierende Gründung des Rheinbunds, dessen Mitglieder aus dem Reich austraten, war es nahezu handlungsunfähig geworden. Das Heilige Römische Reich erlosch am 6. August 1806 mit der Niederlegung der Reichskrone durch Kaiser Franz II. Charakter Das Heilige Römische Reich entstand aus dem Ostfränkischen Reich. Es war ein vor- und übernationales Gebilde, ein Lehnsreich und Personenverbandsstaat, der sich niemals zu einem Nationalstaat wie etwa Frankreich oder Großbritannien entwickelte und aus ideengeschichtlichen Gründen auch nie als solcher verstanden werden wollte. Innerhalb der Grenzen des Reiches wurden in der Frühen Neuzeit zwölf verschiedene Sprachen gesprochen, darunter Dänisch, Tschechisch, Slowenisch, Italienisch, Französisch und Niederländisch. Am häufigsten war das Deutsche, das auch außerhalb des Reiches, vor allem in Ostmittel- und Südosteuropa verbreitet war. Der konkurrierende Gegensatz von Bewusstsein in den Stammesherzogtümern bzw. später in den Territorien und dem supranationalen Einheitsbewusstsein wurde im Heiligen Römischen Reich nie ausgetragen oder aufgelöst, ein übergreifendes Nationalgefühl entwickelte sich nicht. Die Geschichte des Reiches war geprägt durch den Streit über seinen Charakter, welcher sich – da die Machtverhältnisse innerhalb des Reiches keineswegs statisch waren – im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder veränderte. Ab dem 12. und 13. Jahrhundert ist eine Reflexion über das politische Gemeinwesen zu beobachten, die sich zunehmend an abstrakten Kategorien orientiert. Mit dem Aufkommen von Universitäten und einer steigenden Anzahl ausgebildeter Juristen stehen sich hier über mehrere Jahrhunderte die aus der antiken Staatsformenlehre übernommenen Kategorien Monarchie und Aristokratie gegenüber. Das Reich ließ sich jedoch nie eindeutig einer der beiden Kategorien zuordnen, da die Regierungsgewalt des Reiches weder allein in der Hand des Kaisers noch allein bei den Kurfürsten oder der Gesamtheit eines Personenverbandes wie dem Reichstag lag. Vielmehr vereinte das Reich Merkmale beider Staatsformen in sich. So kam im 17. Jahrhundert Samuel Pufendorf in seiner unter Pseudonym veröffentlichten Schrift De statu imperii zu dem Schluss, dass das Reich eigener Art sei – ein „irregulärer und einem Monstrum ähnlicher Körper“ (irregulare aliquod corpus et monstro simile), was Karl Otmar von Aretin als meistzitierten Satz über die Reichsverfassung ab 1648 bezeichnet. Bereits seit dem 16. Jahrhundert rückte dann immer mehr der Begriff der Souveränität in den Mittelpunkt. Die hierauf aufbauende Unterscheidung zwischen Bundesstaat (bei dem die Souveränität beim Gesamtstaat liegt) und Staatenbund (der ein Bund souveräner Staaten ist) ist jedoch eine ahistorische Betrachtungsweise, da der feste Bedeutungsgehalt dieser Kategorien sich erst später einstellte. Auch ist sie in Bezug auf das Reich nicht aufschlussreich, da sich das Reich wiederum keiner der beiden Kategorien zuordnen ließ: Ebenso wenig wie es dem Kaiser jemals gelang, den regionalen Eigenwillen der Territorien zu brechen, ist es in einen losen Staatenbund zerfallen. In der neueren Forschung wird die Rolle von Ritualen und Inszenierung von Herrschaft in der vormodernen Gesellschaft und speziell im Hinblick auf die ungeschriebene Rang- und Verfassungsordnung des Reichs bis zu dessen Auflösung im Jahr 1806 verstärkt betont (symbolische Kommunikation). Das Reich überwölbte als „Dachverband“ viele Territorien und gab dem Zusammenleben der verschiedenen Landesherren reichsrechtlich vorgegebene Rahmenbedingungen. Diese quasi-selbstständigen, aber nicht souveränen Fürsten- und Herzogtümer erkannten den Kaiser als zumindest ideelles Reichsoberhaupt an und waren den Reichsgesetzen, der Reichsgerichtsbarkeit und den Beschlüssen des Reichstages unterworfen, gleichzeitig aber auch durch Königswahl, Wahlkapitulation, Reichstage und andere ständische Vertretungen an der Reichspolitik beteiligt und konnten diese für sich beeinflussen. Im Gegensatz zu anderen Ländern waren die Bewohner nicht direkt dem Kaiser untertan, sondern dem Landesherrn des jeweiligen reichsunmittelbaren Territoriums. Im Falle der Reichsstädte war dies der Magistrat der Stadt. Voltaire beschrieb die Diskrepanz zwischen dem Namen des Reiches und seiner ethnisch-politischen Realität in seiner späten Phase (seit der Frühen Neuzeit) mit dem Satz: „Dieser Korpus, der sich immer noch Heiliges Römisches Reich nennt, ist in keiner Weise heilig, noch römisch, noch ein Reich.“ Montesquieu beschrieb das Reich in seinem 1748 erschienenen Werk Vom Geist der Gesetze als „république fédérative d’Allemagne“, als ein föderativ verfasstes Gemeinwesen Deutschlands. In der neueren Forschung werden die positiven Aspekte des Reichs wieder stärker hervorgehoben, das nicht nur über mehrere Jahrhunderte einen funktionierenden politischen Ordnungsrahmen bot, sondern auch (gerade aufgrund der eher föderalen Herrschaftsstruktur) vielfältige Entwicklungen in den verschiedenen Herrschaftsräumen zuließ. Name Durch den Namen wurde der Anspruch auf die Nachfolge des antiken Römischen Reiches und damit gleichsam auf eine Universalherrschaft erhoben. Gleichzeitig fürchtete man das Eintreffen der Prophezeiungen des Propheten Daniel, der vorhergesagt hatte, dass es vier Weltreiche geben und danach der Antichrist auf die Erde kommen werde (Vier-Reiche-Lehre) – die Apokalypse sollte beginnen. Da in der Vier-Reiche-Lehre das (antike) Römische Imperium als viertes Reich gezählt wurde, durfte es nicht untergehen. Die Erhöhung durch den Zusatz „Heilig“ betonte das Gottesgnadentum des Kaisertums und die Legitimation der Herrschaft durch göttliches Recht. Mit der Krönung des Frankenkönigs Karl des Großen zum Kaiser durch Papst Leo III. im Jahr 800 stellte dieser sein Reich in die Nachfolge des antiken römischen Imperiums, die so genannte Translatio Imperii. Geschichtlich und dem eigenen Selbstverständnis nach gab es allerdings schon ein Reich, das aus dem alten römischen Reich entstanden war, nämlich das christlich-orthodoxe byzantinische Reich; nach Ansicht der Byzantiner war das neue westliche „Römische Reich“ ein selbsternanntes und illegitimes. Das Reich trug zum Zeitpunkt seiner Entstehung Mitte des 10. Jahrhunderts noch nicht das Prädikat heilig. Der erste Kaiser Otto I. und seine Nachfolger sahen sich selbst als Stellvertreter Gottes auf Erden und wurden damit als erste Beschützer der Kirche angesehen. Es bestand also keine Notwendigkeit, die Heiligkeit des Reiches besonders hervorzuheben. Das Reich hieß weiterhin Regnum Francorum orientalium oder kurz Regnum Francorum. In den Kaisertitulaturen der Ottonen tauchen die später auf das gesamte Reich übertragenen Namensbestandteile aber schon auf. So findet sich in den Urkunden Ottos II. aus dem Jahre 982, die während seines Italienfeldzuges entstanden, die Titulatur Romanorum imperator augustus, „Kaiser der Römer“. Otto III. erhöhte sich in seiner Titulatur über alle geistlichen und weltlichen Mächte, indem er sich, analog zum Papst und sich damit über diesen erhebend, demutsvoll „Knecht Jesu Christi“ (servus Jesu Christi) und später sogar „Knecht der Apostel“ (servus apostolorum) nannte. Diese sakrale Ausstrahlung des Kaisertums wurde vom Papsttum im Investiturstreit von 1075 bis 1122 massiv angegriffen und letztlich weitgehend zerstört. Die Heiligsprechung Karls des Großen 1165 und der Begriff des sacrum imperium, der erstmals 1157 in der Kanzlei Friedrichs I. bezeugt ist, wurden in der Forschung als Versuch gedeutet, „das Reich durch eine eigenständige Heiligkeit von der Kirche abzugrenzen und ihr als gleichwertig gegenüberzustellen“. Die Heiligkeit sei demnach ein „Säkularisierungsvorgang“. Friedrich berief sich jedoch nie auf seinen heiligen Vorgänger Karl, und das sacrum imperium wurde kein offizieller Sprachgebrauch zu Friedrichs Zeiten. Regnum Teutonicum oder Regnum Teutonicorum tauchen als Eigenbezeichnung in den Quellen erstmals in den 1070er Jahren auf. Die Begriffe wurden bereits zu Beginn des 11. Jahrhunderts in italienischen Quellen gebraucht, allerdings nicht von Autoren in Reichsitalien. Es handelte sich auch um keinen offiziellen Reichstitel, der deshalb in der Kanzlei der mittelalterlichen römisch-deutschen Könige in der Regel nicht verwendet wurde. Der Titel rex Teutonicus wurde vom Papsttum gezielt genutzt, um somit indirekt den Universalanspruch des rex Romanorum auf Herrschaftsrechte außerhalb des deutschen Reichsteils (wie im Arelat und in Reichsitalien) zu bestreiten bzw. zu relativieren. In der päpstlichen Kanzleisprache wurde deshalb während des Investiturstreits bewusst eine Titulatur benutzt, die die römisch-deutschen Könige selbst nicht verwendeten. Später wurden Bezeichnungen wie regnum Teutonicum weiterhin als „Kampfbegriffe“ benutzt, um Herrschaftsansprüche der römisch-deutschen Könige zu bestreiten, wie beispielsweise im 12. Jahrhundert von Johannes von Salisbury. Die römisch-deutschen Könige hingegen bestanden gerade deshalb auf ihrer Titulatur rex Romanorum und auf der Bezeichnung des Reiches als Romanum Imperium. Im sogenannten Interregnum von 1250 bis 1273, als es keinem der drei gewählten Könige gelang, sich gegen die anderen durchzusetzen, verband sich der Anspruch, der Nachfolger des Römischen Reiches zu sein, mit dem Prädikat heilig zur Bezeichnung Sacrum Romanum Imperium (deutsch „Heiliges Römisches Reich“). Die lateinische Wendung Sacrum Romanum Imperium ist erstmals 1184 belegt und wurde ab 1254 der gängige Reichstitel; in deutschsprachigen Urkunden trat sie rund hundert Jahre später seit der Zeit Kaiser Karls IV. auf. Im Spätmittelalter wurde am Universalanspruch des Reiches weiterhin festgehalten. Dies galt nicht nur für die Zeit des sogenannten Interregnums, sondern auch für das 14. Jahrhundert, als es in der Regierungszeit Heinrichs VII. und Ludwigs IV. wieder zu Spannungen bzw. offenen Konflikten mit der päpstlichen Kurie kam. Die Formulierung Imperium Sanctum ist bereits im spätantiken Römerreich vereinzelt belegt. Der Zusatz Nationis Germanicæ erschien erst auf der Schwelle zwischen Spätmittelalter und Frühneuzeit, als sich das Reich im Wesentlichen auf das Gebiet des deutschen Sprachraumes erstreckte. 1486 wurde diese Titulatur im Landfriedensgesetz Kaiser Friedrichs III. verwendet. Erstmals offiziell verwendet wurde dieser Zusatz 1512 in der Präambel des Abschieds des Reichstages in Köln. Kaiser Maximilian I. hatte die Reichsstände unter anderem zwecks Erhaltung […] des Heiligen Römischen Reiches Teutscher Nation geladen. Die genaue ursprüngliche Bedeutung des Zusatzes ist nicht ganz klar. Es kann eine territoriale Einschränkung gemeint sein, nachdem der Einfluss des Kaisers in Reichsitalien auf einen faktischen Nullpunkt gesunken war und weite Teile des Königreichs Burgund nun von Frankreich beherrscht wurden. Andererseits klingt auch eine Betonung der Trägerschaft des Reiches durch die deutschen Reichsstände an, die ihren Anspruch auf die Reichsidee verteidigen sollte. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts verschwand die Formulierung wieder aus dem offiziellen Gebrauch, wurde aber bis zum Ende des Reiches noch gelegentlich in der Literatur verwendet. Das lateinische Wort natio hatte bis ins 18. Jahrhundert keine ganz einheitliche Bedeutung; die gemeinte Herkunftsgemeinschaft konnte mal enger, mal weiter zugeschnitten sein als das „Volk“ im heutigen Sinne. Der Zusatz „deutscher Nation“ macht das Heilige Römische Reich also nicht zum Nationalstaat, wie wir ihn kennen. Bis 1806 war Heiliges Römisches Reich die offizielle Bezeichnung des Reiches, die oft als SRI für Sacrum Romanum Imperium auf lateinisch oder H. Röm. Reich o. Ä. auf Deutsch abgekürzt wurde. Daneben werden in der Neuzeit auch Bezeichnungen wie Deutsches oder Teutsches Reich und Teutsch- oder Deutschland gebräuchlich. Erst der Reichsdeputationshauptschluss von 1803, die Rheinbundakte sowie die Auflösungserklärung Kaiser Franz’ II. von 1806 verwenden deutsches oder teutsches Reich und Teutschland für das Heilige Römische Reich offiziell. Bereits kurz nach seiner Auflösung wurde in geschichtswissenschaftlichen Abhandlungen das Heilige Römische Reich wieder vermehrt mit dem Zusatz deutscher Nation versehen, und so bürgerte sich im 19. und 20. Jahrhundert diese ursprünglich nur zeitweilige Bezeichnung nicht ganz korrekt als allgemeiner Name des Reiches ein. Daneben wird es auch das Alte Reich genannt, um es vom späteren deutschen Kaiserreich ab 1871 zu unterscheiden. Geschichte Entstehung Das Fränkische Reich hatte nach dem Tode Karls des Großen 814 mehrfach Teilungen und Wiedervereinigungen der Reichsteile unter seinen Enkeln durchlaufen. Solche Teilungen unter den Söhnen eines Herrschers waren nach fränkischem Recht normal und bedeuteten nicht, dass die Einheit des Reiches aufhörte zu existieren, da eine gemeinsame Politik der Reichsteile und eine künftige Wiedervereinigung weiterhin möglich waren. Starb einer der Erben kinderlos, so fiel dessen Reichsteil einem seiner Brüder zu oder wurde unter diesen aufgeteilt. Solch eine Teilung wurde auch im Vertrag von Verdun 843 unter den Enkeln Karls beschlossen. Das Reich wurde aufgeteilt zwischen Karl dem Kahlen, der den westlichen Teil (Neustrien, Aquitanien) bis etwa zur Maas erhielt, Lothar I. – er übernahm neben einem mittleren Streifen (mit einem Großteil Austrasiens und den ehemals burgundischen und langobardischen Gebieten bis etwa Rom) die Kaiserwürde – und Ludwig dem Deutschen, der den östlichen Reichsteil mit einem Teil Austrasiens und den eroberten germanischen Reichen nördlich der Alpen erhielt. Wenngleich hier, von den Beteiligten nicht beabsichtigt, die zukünftige Landkarte Europas erkennbar ist, kam es im Laufe der nächsten fünfzig Jahre zu weiteren, meist kriegerischen Wiedervereinigungen und Teilungen zwischen den Teilreichen. Erst als Karl der Dicke 887 wegen seines Versagens beim Abwehrkampf gegen die plündernden und raubenden Normannen abgesetzt wurde, wurde kein neues Oberhaupt aller Reichsteile mehr bestimmt, sondern die verbliebenen Teilreiche wählten sich eigene Könige, die teilweise nicht mehr der Dynastie der Karolinger angehörten. Dies war ein deutliches Zeichen für das Auseinanderdriften der Reichsteile und das auf dem Tiefpunkt angekommene Ansehen der Karolingerdynastie, die das Reich durch Thronstreitigkeiten in Bürgerkriege stürzte und nicht mehr in der Lage war, es in seiner Gesamtheit gegen äußere Bedrohungen zu schützen. Infolge der nun fehlenden dynastischen Klammer zerfiel das Reich in zahlreiche kleine Grafschaften, Herzogtümer und andere regionale Herrschaften, die meist nur noch formal die regionalen Könige als Oberhoheit anerkannten. Besonders deutlich zerfiel 888 der mittlere Reichsteil in mehrere unabhängige Kleinkönigreiche, darunter Hoch- und Niederburgund sowie Italien (während Lothringen als Unterkönigreich dem Ostreich angegliedert wurde), deren Könige sich mit der Unterstützung lokaler Adliger gegen karolingische Prätendenten durchgesetzt hatten. Im östlichen Reich wählten die lokalen Adligen auf Stammesebene Herzöge. Nach dem Tod Ludwigs des Kindes, des letzten Karolingers auf dem ostfränkischen Thron, hätte das Ostreich ebenfalls in Kleinreiche zerfallen können, wenn dieser Prozess nicht durch die gemeinsame Wahl Konrads I. zum ostfränkischen König aufgehalten worden wäre. Konrad gehörte zwar nicht der Dynastie der Karolinger an, war aber ein Franke aus dem Geschlecht der Konradiner. Lothringen schloss sich bei dieser Gelegenheit jedoch dem Westfrankenreich an. 919 wurde mit dem Sachsenherzog Heinrich I. in Fritzlar erstmals ein Nicht-Franke zum König des Ostfrankenreiches gewählt. Seit diesem Zeitpunkt trug nicht mehr eine einzige Dynastie das Reich, sondern die regionalen Großen, Adligen und Herzöge entschieden über den Herrscher. Im Jahre 921 erkannte der westfränkische Herrscher im Vertrag von Bonn Heinrich I. als gleichberechtigt an, er durfte den Titel rex francorum orientalium, König der östlichen Franken, führen. Die Entwicklung des Reiches als eines auf Dauer eigenständigen und überlebensfähigen Staatswesens war damit im Wesentlichen abgeschlossen. 925 gelang es Heinrich, Lothringen wieder dem ostfränkischen Reich anzugliedern. Trotz der Ablösung vom Gesamtreich und der Vereinigung der germanischen Völkerschaften, die im Gegensatz zum gewöhnlichen Volk Westfrankens kein romanisiertes Latein, sondern theodiscus oder diutisk (von diot volksmäßig, volkssprachig) sprachen, war dieses Reich kein früher „deutscher Nationalstaat“. Ein übergeordnetes „nationales“ Zusammengehörigkeitsgefühl existierte in Ostfranken ohnehin nicht, Reichs- und Sprachgemeinschaft waren nicht identisch. Genauso wenig war es bereits das spätere Heilige Römische Reich. Das steigende Selbstbewusstsein des neuen ostfränkischen Königsgeschlechtes zeigte sich bereits in der Thronbesteigung Ottos I., Sohn Heinrichs I., der auf dem vermeintlichen Thron Karls des Großen in Aachen gekrönt wurde. Hier zeigte sich der zunehmend sakrale Charakter seiner Herrschaft dadurch, dass er sich salben ließ und der Kirche seinen Schutz gelobte. Nach einigen Kämpfen gegen Verwandte und lothringische Herzöge gelang ihm mit dem Sieg über die Ungarn 955 auf dem Lechfeld bei Augsburg die Bestätigung und Festigung seiner Herrschaft. Noch auf dem Schlachtfeld soll ihn das Heer laut Widukind von Corvey als Imperator gegrüßt haben. Dieser Sieg über die Ungarn veranlasste Papst Johannes XII., Otto nach Rom zu rufen und ihm die Kaiserkrone anzubieten, damit dieser als Beschützer der Kirche auftrete. Johannes stand zu diesem Zeitpunkt unter der Bedrohung regionaler italienischer Könige und erhoffte sich von Otto Hilfe gegen diese. Aber der Hilferuf des Papstes bekundet auch, dass die ehemaligen Barbaren sich zu den Trägern der römischen Kultur gewandelt hatten und dass das östliche regnum als legitimer Nachfolger des Kaisertums Karls des Großen angesehen wurde. Otto folgte dem Ruf und zog nach Rom. Dort wurde er am 2. Februar 962 zum Kaiser gekrönt. West- und Ostfranken entwickelten sich nun politisch endgültig zu getrennten Reichen. Mittelalter Herrschaft der Ottonen Das Reich war im Frühmittelalter ein im Vergleich zum Hoch- und Spätmittelalter ständisch und gesellschaftlich noch wenig ausdifferenziertes Gebilde. Es wurde sichtbar im Heeresaufgebot, in den lokalen Gerichtsversammlungen und in den Grafschaften, den bereits von den Franken installierten lokalen Verwaltungseinheiten. Oberster Repräsentant der politischen Ordnung des Reiches, zuständig für den Schutz des Reiches und den Frieden im Inneren, war der König. Als politische Untereinheiten dienten die Herzogtümer. Wichtig war bis ins Spätmittelalter der Konsens zwischen Herrscher und den Großen des Reiches (konsensuale Herrschaft). Obwohl in der frühkarolingischen Zeit um 750 die fränkischen Amtsherzöge für die durch die Franken unterworfenen oder durch deren territorialen Zusammenfassung erst entstandenen Völker abgesetzt worden waren, entstanden im ostfränkischen Reich, begünstigt durch die äußere Bedrohung und das erhalten gebliebene Stammesrecht, zwischen 880 und 925 fünf neue Herzogtümer: das der Sachsen, der Baiern, der Alemannen, der Franken und das nach der Reichsteilung neu entstandene Herzogtum Lothringen, zu dem auch die Friesen gehörten. Doch schon im 10. Jahrhundert ergaben sich gravierende Änderungen der Struktur der Herzogtümer: Lothringen wurde 959 in Nieder- und Oberlothringen aufgeteilt und Kärnten wurde 976 ein eigenständiges Herzogtum. Da das Reich als Instrument der selbstbewussten Herzogtümer entstanden war, wurde es nicht mehr zwischen den Söhnen des Herrschers aufgeteilt und blieb zudem eine Wahlmonarchie. Die Nichtaufteilung des „Erbes“ zwischen den Söhnen des Königs widersprach zwar dem überkommenen fränkischen Recht, andererseits beherrschten die Könige die Stammesherzöge nur als Lehnsherren. Dementsprechend gering war die direkte Einwirkungsmöglichkeit des Königtums. Heinrich I. legte 929 in seiner „Hausordnung“ fest, dass nur ein Sohn auf dem Thron nachfolgen solle. Schon hier werden der das Reich bis zum Ende der Salier-Dynastie prägende Erbgedanke und das Prinzip der Wahlmonarchie miteinander verbunden. Otto I. (reg. 936–973) gelang es infolge mehrerer Feldzüge nach Italien, den nördlichen Teil der Halbinsel zu erobern und das Königreich der Langobarden ins Reich einzubinden. Eine vollständige Integration Reichsitaliens mit seiner überlegenen Wirtschaftskraft gelang allerdings auch in der Folgezeit nie wirklich vollständig. Außerdem band die im Süden notwendige Präsenz bisweilen recht erhebliche Kräfte. Die Kaiserkrönung Ottos 962 in Rom verband für das restliche Mittelalter den Anspruch der späteren römisch-deutschen Könige auf die westliche Kaiserwürde. Die Ottonen übten nun eine hegemoniale Machtstellung im lateinischen Europa aus. Unter Otto II. lösten sich auch die letzten verbliebenen Verbindungen zum westfränkisch-französischen Reich, die in Form von Verwandtschaftsbeziehungen noch bestanden, als er seinen Vetter Karl zum Herzog von Niederlotharingien machte. Karl war ein Nachkomme aus dem Geschlecht der Karolinger und gleichzeitig der jüngere Bruder des westfränkischen Königs Lothar. Es wurde aber nicht – wie später in der Forschung behauptet – ein „treuloser Franzose“ ein Lehnsmann eines „deutschen“ Königs. Solche Denkkategorien waren zu jener Zeit noch unbekannt, zumal die führende fränkisch-germanische Schicht des westfränkischen Reiches noch einige Zeit nach der Teilung weiterhin ihren altdeutschen Dialekt sprach. In der neueren Forschung wird die Ottonenzeit auch nicht mehr als Beginn der „deutschen Geschichte“ im engeren Sinne verstanden; dieser Prozess zog sich bis ins 11. Jahrhundert hin. Otto II. spielte jedenfalls den einen Vetter gegen den anderen aus, um für sich einen Vorteil zu erlangen, indem er einen Keil in die karolingische Familie trieb. Die Reaktion Lothars war heftig, und beide Seiten luden den Streit emotional auf. Die Folgen dieses endgültigen Bruches zwischen den Nachfolgern des Fränkischen Reiches zeigten sich aber erst später. Das französische Königtum wurde aufgrund des sich herausbildenden französischen Selbstbewusstseins aber nunmehr als unabhängig vom Kaiser angesehen. Die unter den ersten drei Ottonen begonnene Einbindung der Kirche in das weltliche Herrschaftssystem des Reiches, später von Historikern als „ottonisch-salisches Reichskirchensystem“ bezeichnet, fand unter Heinrich II. ihren Höhepunkt. Das Reichskirchensystem bildete bis zum Ende des Reiches eines der prägenden Elemente seiner Verfassung; die Einbindung der Kirche in die Politik war aber an sich nicht außergewöhnlich, dasselbe ist in den meisten frühmittelalterlichen Reichen des lateinischen Europas zu beobachten. Heinrich II. verlangte von den Klerikern unbedingten Gehorsam und die unverzügliche Umsetzung seines Willens. Er vollendete die Königshoheit über die Reichskirche und wurde zum „Mönchskönig“ wie kaum ein zweiter Herrscher des Reiches. Doch er regierte nicht nur die Kirche, er regierte das Reich auch durch die Kirche, indem er wichtige Ämter – wie etwa das des Kanzlers – mit Bischöfen besetzte. Weltliche und kirchliche Angelegenheiten wurden im Grunde genommen nicht unterschieden und gleichermaßen auf Synoden verhandelt. Dies resultierte aber nicht nur aus dem Bestreben, dem aus fränkisch-germanischer Tradition herrührenden Drang der Herzogtümer nach größerer Selbstständigkeit ein königstreues Gegengewicht entgegenzusetzen. Vielmehr sah Heinrich das Reich als „Haus Gottes“ an, das er als Verwalter Gottes zu betreuen hatte. Spätestens jetzt war das Reich „heilig“. Hochmittelalter Als dritter wichtiger Reichsteil kam unter Konrad II. das Königreich Burgund zum Reich, auch wenn diese Entwicklung schon unter Heinrich II. begonnen hatte: Da der burgundische König Rudolf III. keine Nachkommen besaß, benannte er seinen Neffen Heinrich zu seinem Nachfolger und stellte sich unter den Schutz des Reiches. 1018 übergab er sogar seine Krone und das Zepter an Heinrich. Die Herrschaft Konrads war weiterhin durch die sich entwickelnde Vorstellung gekennzeichnet, dass das Reich und dessen Herrschaft unabhängig vom Herrscher existiert und Rechtskraft entwickelt. Belegt ist dies durch die von Wipo überlieferte „Schiffsmetapher“ Konrads (siehe entsprechenden Abschnitt im Artikel über Konrad II.) und durch seinen Anspruch auf Burgund – denn eigentlich sollte ja Heinrich Burgund erben und nicht das Reich. Unter Konrad begann auch die Herausbildung der Ministerialen als eigener Stand des unteren Adels, indem er an die unfreien Dienstmannen des Königs Lehen vergab. Wichtig für die Entwicklung des Rechtes im Reich waren seine Versuche, die so genannten Gottesurteile als Rechtsmittel durch die Anwendung römischen Rechtes, dem diese Urteile unbekannt waren, im nördlichen Reichsteil zurückzudrängen. Konrad setzte zwar die Reichskirchenpolitik seines Vorgängers fort, allerdings nicht mit dessen Vehemenz. Er beurteilte die Kirche eher danach, was diese für das Reich tun konnte. In der Mehrzahl berief er Bischöfe und Äbte mit großer Intelligenz und Spiritualität. Der Papst spielte allerdings auch bei seinen Berufungen keine große Rolle. Insgesamt erscheint seine Herrschaft als große „Erfolgsgeschichte“, was wohl auch daran liegt, dass er in einer Zeit herrschte, in der allgemein eine Art Aufbruchsstimmung herrschte, die Ende des 11. Jahrhunderts in die Cluniazensische Reform mündete. Heinrich III. übernahm 1039 von seinem Vater Konrad ein gefestigtes Reich und musste sich im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern seine Macht nicht erst erkämpfen. Trotz kriegerischer Aktionen in Polen und Ungarn legte er sehr großen Wert auf die Friedenswahrung innerhalb des Reiches. Diese Idee eines allgemeinen Friedens, eines Gottesfriedens, entstand in Südfrankreich und hatte sich seit Mitte des 11. Jahrhunderts über das ganze christliche Abendland verbreitet. Damit sollten das Fehdewesen und die Blutrache eingedämmt werden, die immer mehr zu einer Belastung für das Funktionieren des Reiches geworden waren. Initiator dieser Bewegung war das cluniazensische Mönchstum. Wenigstens an den höchsten christlichen Feiertagen und an den Tagen, die durch die Passion Christi geheiligt waren, also von Mittwochabend bis Montagmorgen, sollten die Waffen schweigen und der „Gottesfrieden“ herrschen. Heinrich musste für die Zustimmung der Großen des Reiches bei der Wahl seines Sohnes, des späteren Heinrich IV., zum König 1053 eine bis dahin völlig unbekannte Bedingung akzeptieren. Die Unterordnung unter den neuen König sollte nur gelten, wenn sich Heinrich IV. als rechter Herrscher erweise. Auch wenn die Macht der Kaiser über die Kirche mit Heinrich III. auf einem ihrer Höhepunkte war – er war es gewesen, der über die Besetzung des heiligen Throns in Rom bestimmte –, so wird die Bilanz seiner Herrschaft in der neueren Forschung meist negativ gesehen. So emanzipierte sich Ungarn vom Reich, das vorher noch Reichslehen war, und mehrere Verschwörungen gegen den Kaiser zeigten den Unwillen der Großen des Reiches, sich einem starken Königtum unterzuordnen. Durch den frühen Tod Heinrichs III. gelangte sein erst sechsjähriger Sohn Heinrich IV. auf den Thron. Für ihn übernahm seine Mutter Agnes die Vormundschaft bis zu seinem 15. Lebensjahr 1065. Es kam hierdurch zu einem schleichenden Macht- und Bedeutungsverlust des Königtums. Durch den „Staatsstreich von Kaiserswerth“ konnte eine Gruppe von Reichsfürsten unter Führung des Kölner Erzbischofs Anno II. zeitweise die Regierungsgewalt an sich reißen. In Rom interessierte die Meinung des künftigen Kaisers schon bei der nächsten Papstwahl niemanden mehr. Der Annalist des Klosters Niederaltaich fasste die Situation folgendermaßen zusammen: Entscheidend für die zukünftige Stellung der Reichskirche wurde der so genannte Investiturstreit. Für die römisch-deutschen Herrscher war es selbstverständlich, dass sie die vakanten Bischofssitze im Reich neu besetzten. Durch die Schwäche des Königtums während der Regentschaft von Heinrichs Mutter hatten der Papst, aber auch geistliche und weltliche Fürsten versucht, sich königliche Besitzungen und Rechte anzueignen. Die späteren Versuche, der Königsmacht wieder Geltung zu verschaffen, trafen natürlich auf wenig Gegenliebe. Als Heinrich im Juni 1075 versuchte, seinen Kandidaten für den Mailänder Bischofssitz durchzusetzen, reagierte Papst Gregor VII. sofort. Im Dezember 1075 bannte Gregor König Heinrich und entband damit alle Untertanen von ihrem Treueid. Die Fürsten des Reiches forderten von Heinrich, dass er bis Februar 1077 den Bann lösen lassen sollte, ansonsten würde er von ihnen nicht mehr anerkannt. Im anderen Falle würde der Papst eingeladen, den Streit zu entscheiden. Heinrich IV. musste sich beugen und demütigte sich im legendären Gang nach Canossa. Die Machtpositionen hatten sich in ihr Gegenteil verkehrt; 1046 hatte Heinrich III. noch über drei Päpste gerichtet, nun sollte ein Papst über den König richten. Der Sohn Heinrichs IV. empörte sich mit Hilfe des Papstes gegen seinen Vater und erzwang 1105 dessen Abdankung. Der neue König Heinrich V. herrschte bis 1111 im Konsens mit den geistlichen und weltlichen Großen. Das enge Bündnis zwischen Herrscher und Bischöfen konnte auch bei der Investiturfrage gegen den Papst fortgesetzt werden. Die gefundene Lösung des Papstes war einfach und radikal. Um die von den Kirchenreformern geforderte Trennung der geistlichen Aufgaben der Bischöfe von den bisher wahrgenommenen weltlichen Aufgaben zu gewährleisten, sollten die Bischöfe ihre in den letzten Jahrhunderten vom Kaiser beziehungsweise König erhaltenen Rechte und Privilegien zurückgeben. Einerseits entfielen damit die Pflichten der Bischöfe gegenüber dem Reich, andererseits auch das Recht des Königs, bei der Einsetzung der Bischöfe Einfluss nehmen zu können. Da die Bischöfe aber nicht auf ihre weltlichen Regalien verzichten wollten, nahm Heinrich den Papst gefangen und erpresste das Investiturrecht sowie seine Kaiserkrönung. Erst die Fürsten erzwangen 1122 im Wormser Konkordat einen Ausgleich zwischen Heinrich mit dem amtierenden Papst Calixt II. Heinrich musste auf das Investiturrecht mit den geistlichen Symbolen von Ring und Stab (per anulum et baculum) verzichten. Dem Kaiser wurde die Anwesenheit bei der Wahl der Bischöfe und Äbte gestattet. Die Verleihung der Königsrechte (Regalien) an den Neugewählten durfte der Kaiser nur noch mit dem Zepter vornehmen. Die Fürsten gelten seitdem als „die Häupter des Staatswesens“. Nicht mehr allein der König, sondern auch die Fürsten repräsentierten das Reich. Nach dem Tod Heinrichs V. 1125 wurde Lothar III. zum König gewählt, wobei er sich in der Wahl gegen den schwäbischen Herzog Friedrich II., den nächsten Verwandten des kinderlos verstorbenen Kaisers, durchsetzen konnte. Nicht mehr die erbrechtliche Legitimation bestimmte die Thronfolge im römisch-deutschen Reich, sondern die Wahl der Fürsten war entscheidend. 1138 wurde der Staufer Konrad zum König erhoben. Konrads Wunsch, die Kaiserkrone zu erwerben, sollte sich jedoch nicht erfüllen. Auch seine Teilnahme am Zweiten Kreuzzug hatte keinen Erfolg, er musste noch in Kleinasien umkehren. Dafür gelang ihm ein gegen die Normannen gerichtetes Bündnis mit dem byzantinischen Kaiser Manuel I. Komnenos. 1152 wurde nach dem Tod Konrads dessen Neffe Friedrich, der Herzog von Schwaben, zum König gewählt. Friedrich, genannt „Barbarossa“, betrieb eine zielstrebige Politik, die auf die Rückgewinnung kaiserlicher Rechte in Italien gerichtet war (siehe honor imperii), deretwegen Friedrich insgesamt sechs Italienzüge unternahm. 1155 wurde er zum Kaiser gekrönt, doch kam es aufgrund eines nicht erfolgten, aber vertraglich zugesicherten Feldzugs gegen das Normannenreich in Unteritalien zu Spannungen mit dem Papsttum, ebenso verschlechterten sich die Beziehungen zu Byzanz. Auch die oberitalienischen Stadtstaaten, besonders das reiche und mächtige Mailand, leisteten Friedrichs Versuchen Widerstand, die Reichsverwaltung in Italien zu stärken (siehe Reichstag von Roncaglia). Es kam schließlich zur Bildung des sogenannten Lombardenbundes, der sich militärisch gegen den Staufer durchaus behaupten konnte. Gleichzeitig war es zu einer umstrittenen Papstwahl gekommen, wobei der mit der Mehrheit der Stimmen gewählte Papst Alexander III. von Friedrich zunächst nicht anerkannt wurde. Erst nachdem abzusehen war, dass eine militärische Lösung keine Aussicht auf Erfolg hatte (1167 hatte im kaiserlichen Heer vor Rom eine Seuche gewütet, 1176 Niederlage in der Schlacht von Legnano), kam es endlich im Frieden von Venedig 1177 zu einer Einigung zwischen Kaiser und Papst. Auch die oberitalienischen Städte und der Kaiser verständigten sich, wobei Friedrich jedoch längst nicht alle seine Ziele verwirklichen konnte. Im Reich hatte sich der Kaiser mit seinem Cousin Heinrich überworfen, dem Herzog von Sachsen und Bayern aus dem Hause der Welfen, nachdem beide über zwei Jahrzehnte eng zusammengearbeitet hatten. Als Heinrich nun jedoch seine Teilnahme an einem Italienzug an Bedingungen knüpfte, wurde der übermächtige Herzog Heinrich auf Bestreben der Fürsten durch Friedrich gestürzt. 1180 wurde Heinrich der „Prozess“ gemacht und das Herzogtum Sachsen zerschlagen sowie Bayern verkleinert, wovon jedoch weniger der Kaiser als vielmehr die Territorialherren im Reich profitierten. Der Kaiser verstarb im Juni 1190 in Kleinasien während eines Kreuzzugs. Seine Nachfolge trat sein zweitältester Sohn Heinrich VI. an. Dieser war schon 1186 von seinem Vater zum Caesar erhoben worden und galt seitdem als designierter Nachfolger Friedrichs. 1191, im Jahr seiner Kaiserkrönung, versuchte Heinrich, das Normannenkönigreich in Unteritalien und Sizilien in Besitz zu nehmen. Da er mit einer Normannenprinzessin verheiratet war und das dort herrschende Haus Hauteville in der Hauptlinie ausgestorben war, konnte er auch Ansprüche geltend machen, die militärisch zunächst aber nicht durchsetzbar waren. Erst 1194 gelang die Eroberung Unteritaliens, wo Heinrich mit teils äußerster Brutalität gegen oppositionelle Kräfte vorging. In Deutschland hatte Heinrich gegen den Widerstand der Welfen zu kämpfen – 1196 scheiterte sein Erbreichsplan. Dafür betrieb er eine ehrgeizige und recht erfolgreiche „Mittelmeerpolitik“, deren Ziel vielleicht die Eroberung des Heiligen Landes oder womöglich sogar eine Offensive gegen Byzanz war. Nach dem frühen Tod Heinrichs VI. 1197 scheiterte der letzte Versuch, im Reich eine starke Zentralgewalt zu schaffen. Nach der Doppelwahl von 1198, bei der Philipp von Schwaben im März in Mühlhausen/Thüringen und Otto IV. im Juni in Köln gewählt wurden, standen sich zwei Könige im Reich gegenüber. Der Sohn Heinrichs, Friedrich II., war zwar schon 1196 im Alter von zwei Jahren zum König gewählt worden, seine Ansprüche wurden aber beiseite gewischt. Philipp hatte sich schon weitgehend durchgesetzt, als er im Juni 1208 ermordet wurde. Otto IV. konnte sich daraufhin für einige Jahre als Herrscher etablieren. Seine geplante Eroberung Siziliens führte zum Bruch mit seinem langjährigen Förderer Papst Innozenz III. Im nordalpinen Reichsteil verlor Otto durch die Exkommunikation bei den Fürsten zunehmend an Zustimmung. Die Schlacht bei Bouvines 1214 beendete seine Herrschaft und brachte die endgültige Anerkennung Friedrichs II. Nach den Thronstreitigkeiten setzte im Reich ein erheblicher Entwicklungsschub ein, Gewohnheiten schriftlich festzuhalten. Als bedeutende Zeugnisse dafür gelten die beiden Rechtsbücher der Sachsen- und der Schwabenspiegel. Viele Argumente und Grundsätze, die für die folgenden Königswahlen gelten sollten, wurden in jener Zeit formuliert. Diese Entwicklung gipfelte Mitte des 14. Jahrhunderts nach den Erfahrungen des Interregnums in den Festlegungen der Goldenen Bulle. Dass sich Friedrich II., der 1212 nach Deutschland gereist war, um dort seine Rechte durchzusetzen, auch nach seiner Anerkennung nur wenige Jahre seines Lebens und damit seiner Regierungszeit im deutschen Reich aufhielt, gab den Fürsten wieder mehr Handlungsspielräume. Friedrich verbriefte 1220 besonders den geistlichen Fürsten in der Confoederatio cum principibus ecclesiasticis weitgehende Rechte, um sich von ihnen die Zustimmung zur Wahl und Anerkennung seines Sohnes Heinrich als römisch-deutscher König zu sichern. Die seit dem 19. Jahrhundert als Confoederatio cum principibus ecclesiasticis und Statutum in favorem principum (1232) genannten Privilegien bildeten für die Fürsten die rechtliche Grundlage, auf der sie ihre Macht zu geschlossenen, eigenständigen Landesherrschaften ausbauen konnten. Es waren jedoch weniger Stationen des Machtverlustes für das Königtum, sondern mit den Privilegien wurde ein Entwicklungsstand verbrieft, den die Fürsten im Ausbau ihrer Territorialherrschaft bereits erreicht hatten. In Italien war der hochgebildete Friedrich II., der die Verwaltung des Königreichs Sizilien nach byzantinischem Vorbild immer stärker zentralisierte, über Jahre in einen Konflikt mit dem Papsttum und den oberitalienischen Städten verwickelt, wobei Friedrich gar als Antichrist verunglimpft wurde. Am Ende schien Friedrich militärisch die Oberhand gewonnen zu haben, da verstarb der Kaiser, der vom Papst 1245 für abgesetzt erklärt worden war, am 13. Dezember 1250. Spätmittelalter Zu Beginn des Spätmittelalters verfiel im Zuge des Untergangs der Staufer und des darauffolgenden Interregnums bis in die Zeit Rudolfs von Habsburg die königliche Herrschaftsgewalt, die allerdings traditionell ohnehin nur schwach ausgeprägt gewesen war. Gleichzeitig nahm die Macht der Landesherren und Kurfürsten zu. Letztere verfügten seit dem späten 13. Jahrhundert über das ausschließliche Königswahlrecht, sodass die nachfolgenden Könige oft eine übereinstimmende Reichspolitik mit ihnen anstrebten. König Rudolf (1273–1291) gelang es noch einmal, das Königtum zu konsolidieren und das noch vorhandene Reichsgut infolge der sogenannten Revindikationspolitik zu sichern. Rudolfs Plan der Kaiserkrönung scheiterte jedoch ebenso wie sein Versuch, eine dynastische Nachfolge durchzusetzen, wozu die Reichsfürsten nicht bereit waren. Das Haus Habsburg gewann im Südosten des deutschen Reichsteils jedoch bedeutende Besitzungen hinzu. Rudolfs Nachfolger Adolf von Nassau suchte eine Annäherung an das mächtige Königreich Frankreich, doch provozierte er mit seiner Politik in Thüringen den Widerstand der Reichsfürsten, die sich gegen ihn zusammenschlossen. 1298 fiel Adolf von Nassau im Kampf gegen den neuen König Albrecht von Habsburg. Albrecht musste ebenfalls mit dem Widerstand der Kurfürsten kämpfen, denen seine Pläne zur Vergrößerung der habsburgischen Hausmacht missfielen und die befürchteten, er plane eine Erbmonarchie zu errichten. Gegen die Kurfürsten konnte sich Albrecht letztlich zwar noch behaupten, doch unterwarf er sich Papst Bonifatius VIII. in einem Gehorsamseid und gab im Westen Reichsgebiete an Frankreich ab. Am 1. Mai 1308 fiel er einem Verwandtenmord zum Opfer. Die verstärkte französische Expansion im westlichen Grenzgebiet des Imperiums seit dem 13. Jahrhundert hatte zur Folge, dass die Einflussmöglichkeiten des Königtums im ehemaligen Königreich Burgund immer weiter abnahm; eine ähnliche, aber weniger stark ausgeprägte Tendenz zeichnete sich in Reichsitalien (also im Wesentlichen in der Lombardei und der Toskana) ab. Erst mit dem Italienzug Heinrichs VII. (1310–1313) kam es zu einer zaghaften Wiederbelebung der kaiserlichen Italienpolitik. Der 1308 gewählte und 1309 gekrönte König Heinrich VII. erreichte in Deutschland eine weitgehende Einheit der großen Häuser und gewann 1310 für sein Haus das Königreich Böhmen. Das Haus Luxemburg stieg damit zur zweiten bedeutenden spätmittelalterlichen Dynastie neben den Habsburgern auf. 1310 brach Heinrich nach Italien auf. Er war nach Friedrich II. der erste römisch-deutsche König, der auch die Kaiserkrone erlangen konnte (Juni 1312), doch rief seine Politik den Widerstand der Guelfen in Italien, des Papstes in Avignon (siehe Avignonesisches Papsttum) und des französischen Königs hervor, die ein neues, machtbewusstes Kaisertum als Gefahr ansahen. Heinrich starb am 24. August 1313 in Italien, als er zu einem Feldzug gegen das Königreich Neapel aufbrechen wollte. Die Italienpolitik der folgenden spätmittelalterlichen Herrscher verlief in wesentlich engeren Grenzen als die ihrer Vorgänger. 1314 wurden mit dem Wittelsbacher Ludwig IV. und dem Habsburger Friedrich zwei Könige gewählt. 1325 wurde für kurze Zeit ein für das mittelalterliche Reich bislang völlig unbekanntes Doppelkönigtum geschaffen. Nach Friedrichs Tod betrieb Ludwig IV. als Alleinherrscher eine recht selbstbewusste Politik in Italien und vollzog in Rom eine „papstfreie“ Kaiserkrönung. Dadurch geriet er in Konflikt mit dem Papsttum. In dieser intensiven Auseinandersetzung spielte vor allem die Frage des päpstlichen Approbationsanspruches eine große Rolle. Es kam diesbezüglich auch zu polittheoretischen Debatten (siehe Wilhelm von Ockham und Marsilius von Padua) und schließlich zu einer verstärkten Emanzipation der Kurfürsten beziehungsweise des Königs vom Papsttum, was schließlich 1338 im Kurverein von Rhense seinen Ausdruck fand. Ludwig verfolgte seit den 1330er Jahren eine intensive Hausmachtpolitik, indem er zahlreiche Territorien erwarb. Damit missachtete er aber die konsensuale Entscheidungsfindung mit den Fürsten. Dies führte vor allem zu Spannungen mit dem Haus Luxemburg, die ihn 1346 mit der Wahl Karls von Mähren offen herausforderten. Ludwig starb kurz darauf und Karl bestieg als Karl IV. den Thron. Die spätmittelalterlichen Könige konzentrierten sich wesentlich stärker auf den deutschen Reichsteil, wobei sie sich gleichzeitig stärker als zuvor auf ihre jeweilige Hausmacht stützten. Dies resultierte aus dem zunehmenden Verlust des verbliebenen Reichsguts durch eine ausgiebige Verpfändungspolitik vor allem im 14. Jahrhundert. Karl IV. kann als ein Musterbeispiel eines Hausmachtpolitikers angeführt werden. Es gelang ihm, den luxemburgischen Hausmachtkomplex um wichtige Gebiete zu erweitern; er verzichtete dafür aber auf Reichsgüter, die in großem Maßstab verpfändet wurden und schließlich dem Reich verloren gingen, ebenso trat er faktisch Gebiete im Westen an Frankreich ab. Karl erzielte dafür einen weitgehenden Ausgleich mit dem Papsttum und ließ sich 1355 zum Kaiser krönen, verzichtete aber auf eine Wiederaufnahme der alten Italienpolitik im staufischen Stil. Er schuf aber vor allem mit der Goldenen Bulle von 1356 eines der wichtigsten „Reichsgrundgesetze“, in dem die Rechte der Kurfürsten endgültig festgelegt wurden und die maßgeblich die künftige Politik des Reiches mitbestimmten. Die Goldene Bulle blieb bis zur Auflösung des Reiches in Kraft. In Karls Regierungszeit fiel auch der Ausbruch des so genannten Schwarzen Todes – der Pest –, die zu einer schweren Krisenstimmung beitrug und in deren Verlauf es zu einem deutlichen Rückgang der Bevölkerung und zu Judenpogromen kam. Gleichzeitig stellte diese Zeit aber auch die Blütezeit der Hanse dar, die zu einer Großmacht im nordeuropäischen Raum wurde. Mit dem Tod Karls IV. 1378 ging die Machtstellung der Luxemburger im Reich bald verloren, da der von ihm geschaffene Hausmachtskomplex rasch zerfiel. Sein Sohn Wenzel wurde wegen seiner offensichtlichen Unfähigkeit sogar von den vier rheinischen Kurfürsten am 20. August 1400 abgesetzt. Statt seiner wurde der Pfalzgraf bei Rhein, Ruprecht, zum neuen König gewählt. Seine Machtbasis und Ressourcen waren jedoch viel zu gering, um eine wirkungsvolle Regierungstätigkeit entfalten zu können, zumal die Luxemburger sich mit dem Verlust der Königswürde nicht abfanden. Nach Ruprechts Tod 1410 gelangte schließlich mit Sigismund, der bereits seit 1387 König von Ungarn war, der letzte Luxemburger auf den Thron. Sigismund hatte mit erheblichen Problemen zu kämpfen, zumal er im Reich über keine Hausmacht mehr verfügte, erlangte aber 1433 die Kaiserwürde. Der politische Aktionsradius Sigismunds reichte bis weit in den Balkanraum und nach Osteuropa hinein. Hinzu traten in dieser Zeit kirchenpolitische Probleme wie das Abendländische Schisma, das erst unter Sigismund unter Rückgriff auf den Konziliarismus beseitigt werden konnte. Ab 1419 stellten die Hussitenkriege eine große Herausforderung dar. Die zuvor wirtschaftlich blühenden Länder der böhmischen Krone wurden dadurch weithin verwüstet und die angrenzenden Fürstentümer fanden sich in einer stetigen Bedrohung durch hussitische Militärkampagnen. Die Auseinandersetzungen endeten 1436 mit den Basler Kompaktaten, die die utraquistische Kirche im Königreich Böhmen und in der Markgrafschaft Mähren anerkannten. Der Kampf gegen die böhmischen Häresien führte zu einer Verbesserung der Beziehungen zwischen dem Papst und dem Kaiser. Mit dem Tod Sigismunds 1437 erlosch das Haus Luxemburg in direkter Linie. Die Königswürde ging auf Sigismunds Schwiegersohn Albrecht II. und damit auf die Habsburger über, die sie fast durchgehend bis zum Ende des Reiches behaupten konnten. Friedrich III. hielt sich längere Zeit aus den direkten Reichsgeschäften weitgehend heraus und hatte politisch mit einigen Problemen zu kämpfen, wie dem Konflikt mit dem ungarischen König Matthias Corvinus. Friedrich sicherte aber letztlich die habsburgische Machtstellung im Reich, die habsburgischen Ansprüche auf größere Teile des zerfallenen Herrschaftskomplexes des Hauses Burgund und die Königsnachfolge für seinen Sohn Maximilian. Das Reich durchlief in dieser Zeit zudem einen Struktur- und Verfassungswandel, in einem Prozess „gestalteter Verdichtung“ (Peter Moraw) wurden die Beziehungen zwischen den Reichsgliedern und dem Königtum enger. Frühe Neuzeit Reichsreform Von Historikern wird das frühneuzeitliche Kaisertum des Reiches als Neuanfang und Neuaufbau angesehen und keinesfalls als Widerschein der staufischen hochmittelalterlichen Herrschaft. Denn der Widerspruch zwischen der beanspruchten Heiligkeit, dem globalen Machtanspruch des Reiches und den realen Möglichkeiten des Kaisertums war in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu deutlich geworden. Dies löste eine publizistisch unterstützte Reichsverfassungsbewegung aus, die zwar die alten „heilen Zustände“ wieder aufleben lassen sollte, letztendlich aber zu durchgreifenden Innovationen führte. Unter den Habsburgern Maximilian I. und Karl V. kam das Kaisertum nach seinem Niedergang wieder zu Anerkennung, das Amt des Kaisers wurde fest mit der neu geschaffenen Reichsorganisation verbunden. Der Reformbewegung entsprechend initiierte Maximilian 1495 eine umfassende Reichsreform, die einen Ewigen Landfrieden, eines der wichtigsten Vorhaben der Reformbefürworter, und eine reichsweite Steuer, den Gemeinen Pfennig, vorsah. Zwar gelang es nicht vollständig, diese Reformen umzusetzen, denn von den Institutionen, die aus ihr hervorgingen, hatten nur die neugebildeten Reichskreise und das Reichskammergericht Bestand. Dennoch war die Reform die Grundlage für das neuzeitliche Reich. Es erhielt mit ihr ein wesentlich präziseres Regelsystem und ein institutionelles Gerüst. So förderte etwa die Möglichkeit, vor dem Reichskammergericht einen Untertanenprozess gegen seine Landesherrschaft anzustrengen, friedliche Konfliktlösungen im Reich. Das nunmehr festgelegte Zusammenspiel zwischen Kaiser und Reichsständen sollte prägend für die Zukunft werden. Der Reichstag bildete sich ebenfalls zu jener Zeit heraus und war bis zu seinem Ende das zentrale politische Forum des Reiches. Reformation und Religionsfrieden Setzen demnach, ordnen, wöllen und gebieten. daß hinfüro niemands, was Würden, Stands oder Wesen der sey, um keinerley Ursachen willen, wie die Namen, haben möchten, auch in was gesuchtem Schein das geschehe, den andern bevehden, bekriegen, berauben, fahen, überziehen, belägern, auch darzu für sich selbs oder jemands andern von seinetwegen nit dienen, noch einig Schloß, Städt, Marckt, Befestigung, Dörffer, Höffe und Weyler absteigen oder ohn des andern Willen mit gewaltiger That freventlich einnehmen oder gefährlich mit Brand oder in andere Wege beschädigen § 14 (Landfriedensformel) des Augsburger Reichs- und Religionsfriedens Die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts war auf der einen Seite geprägt durch eine weitere Verrechtlichung und damit eine weitere Verdichtung des Reiches, so beispielsweise durch Erlasse von Reichspolizeiordnungen 1530 und 1548 und der Constitutio Criminalis Carolina im Jahre 1532. Auf der anderen Seite wirkte die in dieser Zeit durch die Reformation entstandene Glaubensspaltung desintegrierend. Dass sich einzelne Regionen und Territorien von der alten römischen Kirche abwandten, stellte das Reich, nicht zuletzt wegen seines Heiligkeitsanspruches, vor eine Zerreißprobe. Das Wormser Edikt von 1521, in dem die Reichsacht (nach dem päpstlichen Kirchenbann Decet Romanum Pontificem) über Martin Luther quasi obligatorisch verhängt wurde, bot noch keinerlei Spielräume für eine reformationsfreundliche Politik. Da das Edikt nicht im ganzen Reich beachtet wurde, wichen schon die Entscheidungen der nächsten Reichstage davon ab. Die meist ungenauen und zweideutigen Kompromissformeln der Reichstage waren Anlass für neuen juristischen Streit. So erklärte beispielsweise der Nürnberger Reichstag von 1524, alle sollten das Wormser Edikt, so vil inen muglich sei, befolgen. Eine endgültige Friedenslösung konnte allerdings nicht gefunden werden, man hangelte sich von einem meist zeitlich befristeten Kompromiss zum nächsten. Befriedigend war diese Situation für keine der beiden Seiten. Die evangelische Seite besaß keine Rechtssicherheit und lebte mehrere Jahrzehnte in der Angst vor einem Religionskrieg. Die katholische Seite, insbesondere Kaiser Karl V., wollte eine dauerhafte Glaubensspaltung des Reiches nicht hinnehmen. Karl V., der anfangs den Fall Luther nicht richtig ernst nahm und seine Tragweite nicht erkannte, wollte diese Situation nicht akzeptieren, da er sich, wie die mittelalterlichen Herrscher, als Wahrer der einen wahren Kirche ansah. Das universale Kaisertum brauchte die universale Kirche; seine Kaiserkrönung in Bologna 1530 sollte jedoch die letzte sein, die ein Papst vollzog. Nach langem Zögern verhängte Karl im Sommer 1546 über die Anführer des evangelischen Schmalkaldischen Bundes die Reichsacht und leitete die militärische Reichsexekution ein. Diese Auseinandersetzung ging als Schmalkaldischer Krieg von 1547/48 in die Geschichte ein. Nach dem Sieg des Kaisers mussten die protestantischen Fürsten auf dem Geharnischten Augsburger Reichstag von 1548 das so genannte Augsburger Interim annehmen, das ihnen immerhin den Laienkelch und die Priesterehe zugestand. Dieser für die protestantischen Reichsstände recht glimpfliche Ausgang des Krieges war dem Umstand geschuldet, dass Karl neben religionspolitischen Zielen auch verfassungspolitische verfolgte, die zu einem Aushebeln der ständischen Verfassung und einer Quasi-Zentralregierung des Kaisers geführt hätten. Diese zusätzlichen Ziele brachten ihm den Widerstand der katholischen Reichsstände ein, so dass keine für ihn befriedigende Lösung der Religionsfrage möglich wurde. Die religiösen Auseinandersetzungen im Reich waren in die Konzeption Karls V. eines umfassenden habsburgischen Reiches eingebunden, einer monarchia universalis, die Spanien, die österreichischen Erblande und das Heilige Römische Reich umfassen sollte. Es gelang ihm aber weder, das Kaisertum erblich zu machen, noch die Kaiserkrone zwischen der österreichischen und spanischen Linie der Habsburger hin- und herwechseln zu lassen. Gleichzeitig befand sich Karl im Konflikt mit Frankreich, der vor allem in Italien ausgetragen wurde, während die Türken nach 1526 Ungarn eroberten. Die militärischen Konflikte banden erhebliche Ressourcen. Der Fürstenkrieg des sächsischen Kurfürsten Moritz von Sachsen gegen Karl und der daraus resultierende Passauer Vertrag von 1552 zwischen den Kriegsfürsten und dem späteren Kaiser Ferdinand I. waren erste Schritte hin zu einem dauerhaften Religionsfrieden im Reich, was 1555 zum Augsburger Reichs- und Religionsfrieden führte. Der damit zumindest vorerst erfolgte Ausgleich wurde auch durch die dezentralisierte Herrschaftsstruktur des Reichs ermöglicht, wo die Interessen der Landesherren und des Kaisertums immer wieder eine Konsensfindung notwendig machten, wohingegen es in Frankreich mit seiner zentralisierten Königsmacht während des 16. Jahrhunderts zu einem blutigen Kampf zwischen dem katholischen Königtum und einzelnen protestantischen Anführern kam. Der Frieden von Augsburg war aber nicht nur als Religionsfrieden wichtig, er besaß auch eine bedeutsame verfassungspolitische Rolle, indem durch die Schaffung der Reichsexekutionsordnung wichtige verfassungspolitische Weichenstellungen getroffen wurden. Diese Schritte waren durch den im fränkischen Raum von 1552 bis 1554 tobenden Zweiten Markgrafenkrieg des Kulmbacher Markgrafen Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach notwendig geworden. Albrecht erpresste Geld und sogar Gebiete von verschiedenen fränkischen Reichsgebieten. Kaiser Karl V. verurteilte dies nicht, er nahm Albrecht sogar in seine Dienste und legitimierte damit den Bruch des Ewigen Landfriedens. Da sich die betroffenen Territorien weigerten, den vom Kaiser bestätigten Raub ihrer Gebiete hinzunehmen, verwüstete Albrecht deren Land. Im nördlichen Reich formierten sich derweilen Truppen unter Moritz von Sachsen, um Albrecht zu bekämpfen. Ein Reichsfürst und später König Ferdinand, nicht der Kaiser hatten militärische Gegenmaßnahmen gegen den Friedensbrecher eingeleitet. Am 9. Juli 1553 kam es zur blutigsten Schlacht der Reformationszeit im Reich, der Schlacht bei Sievershausen, bei der Moritz von Sachsen starb. Die auf dem Reichstag zu Augsburg 1555 beschlossene Reichsexekutionsordnung beinhaltete die verfassungsmäßige Schwächung der kaiserlichen Gewalt, die Verankerung des reichsständischen Prinzips und die volle Föderalisierung des Reiches. Die Reichskreise und lokalen Reichsstände erhielten neben ihren bisherigen Aufgaben auch die Zuständigkeit für die Durchsetzung der Urteile und die Besetzung der Beisitzer des Reichskammergerichtes. Außerdem erhielten sie neben dem Münzwesen weitere wichtige, bisher kaiserliche Aufgaben. Da sich der Kaiser als unfähig und zu schwach erwiesen hatte, eine seiner wichtigsten Aufgaben, die Friedenswahrung, wahrzunehmen, wurde dessen Rolle nunmehr durch die in den Reichskreisen verbundenen Reichsstände ausgefüllt. Ebenso wichtig wie die Exekutionsordnung war der am 25. September 1555 verkündete Religionsfrieden, mit dem die Idee eines konfessionell einheitlichen Reiches aufgegeben wurde. Die Landesherren erhielten das Recht, die Konfession ihrer Untertanen zu bestimmen, prägnant zusammengefasst in der Formel wessen Herrschaft, dessen Religion. In protestantischen Gebieten ging die geistliche Gerichtsbarkeit auf die Landesherren über, wodurch diese zu einer Art geistlichen Oberhauptes ihres Territoriums wurden. Weiterhin wurde festgelegt, dass geistliche Reichsstände, also Erzbischöfe, Bischöfe und Reichsprälaten, katholisch bleiben mussten. Diese und einige weitere Festlegungen führten zwar zu einer friedlichen Lösung des Religionsproblems, manifestierten aber auch die zunehmende Spaltung des Reiches und führten mittelfristig zu einer Blockade der Reichsinstitutionen. Nach dem Reichstag von Augsburg trat Kaiser Karl V. von seinem Amt zurück und übergab die Macht an seinen Bruder, den römisch-deutschen König Ferdinand I. Karls Politik innerhalb und außerhalb des Reiches war endgültig gescheitert. Ferdinand beschränkte die Herrschaft des Kaisers wieder auf Deutschland, und es gelang ihm, die Reichsstände wieder in eine engere Verbindung mit dem Kaisertum zu bringen und dieses damit wieder zu stärken. Deshalb wird Ferdinand vielfach als der Gründer des neuzeitlichen deutschen Kaisertums bezeichnet. Konfessionalisierung und Dreißigjähriger Krieg Bis Anfang der 1580er Jahre gab es im Reich eine Phase ohne größere kriegerische Auseinandersetzungen. Der Religionsfrieden wirkte stabilisierend und auch die Reichsinstitutionen wie Reichskreise und Reichskammergericht entwickelten sich zu wirksamen und anerkannten Instrumenten der Friedenssicherung. In dieser Zeit vollzog sich aber die sogenannte Konfessionalisierung, das heißt die Verfestigung und Abgrenzung der drei Konfessionen Protestantismus, Calvinismus und Katholizismus zueinander. Die damit einhergehende Herausbildung frühmoderner Staatsformen in den Territorien brachte dem Reich Verfassungsprobleme. Die Spannungen nahmen derart zu, dass das Reich und seine Institutionen ihre über den Konfessionen stehende Schlichterfunktion nicht mehr wahrnehmen konnten und Ende des 16. Jahrhunderts faktisch blockiert waren. Bereits ab 1588 war das Reichskammergericht nicht mehr handlungsfähig. Da die protestantischen Stände am Beginn des 17. Jahrhunderts auch den ausschließlich durch den katholischen Kaiser besetzten Reichshofrat nicht mehr anerkannten, eskalierte die Situation weiter. Gleichzeitig spalteten sich das Kurfürstenkolleg und die Reichskreise in konfessionelle Gruppierungen. Ein Reichsdeputationstag im Jahr 1601 scheiterte an den Gegensätzen zwischen den Parteien und 1608 wurde ein Reichstag in Regensburg ohne Reichsabschied beendet, da die calvinistische Kurpfalz, deren Bekenntnis vom Kaiser nicht anerkannt wurde, und andere protestantische Stände diesen verlassen hatten. Da das Reichssystem weitestgehend blockiert und der Friedensschutz vermeintlich nicht mehr gegeben war, gründeten sechs protestantische Fürsten am 14. Mai 1608 die Protestantische Union. Weitere Fürsten und Reichsstädte schlossen sich später der Union an, der jedoch Kursachsen und die norddeutschen Fürsten fernblieben. Als Reaktion auf die Union gründeten katholische Fürsten und Städte am 10. Juli 1609 die katholische Liga. Die Liga wollte das bisherige Reichssystem aufrechterhalten und das Übergewicht des Katholizismus im Reich bewahren. Das Reich und seine Institutionen waren damit endgültig blockiert und handlungsunfähig geworden. Der Prager Fenstersturz war dann der Auslöser für den großen Krieg, in dem der Kaiser anfangs große militärische Erfolge erzielte und auch versuchte, diese reichspolitisch für seine Machtstellung gegenüber den Reichsständen auszunutzen. So ächtete Kaiser Ferdinand II. 1621 aus eigenem Machtanspruch den pfälzischen Kurfürsten und böhmischen König Friedrich V. und übertrug die Kurwürde auf Maximilian I. von Bayern. Ferdinand war zuvor von allen, auch den protestantischen, Kurfürsten am 19. August 1619 trotz des beginnenden Krieges zum Kaiser gewählt worden. Der Erlass des Restitutionsediktes am 6. März 1629 war der letzte bedeutende Gesetzesakt eines Kaisers im Reich und entsprang genauso wie die Ächtung Friedrichs V. dem kaiserlichen Machtanspruch. Dieses Edikt verlangte die Umsetzung des Augsburger Reichsfriedens nach katholischer Interpretation. Dementsprechend waren alle seit dem Passauer Vertrag durch die protestantischen Landesherren säkularisierten Erz- und Hochstifte und Bistümer an die Katholiken zurückzugeben. Dies hätte neben der Rekatholisierung großer protestantischer Gebiete eine wesentliche Stärkung der kaiserlichen Machtposition bedeutet, da bisher religionspolitische Fragen vom Kaiser gemeinsam mit den Reichsständen und Kurfürsten entschieden worden waren. Dagegen bildete sich eine konfessionsübergreifende Koalition der Kurfürsten. Sie wollten nicht hinnehmen, dass der Kaiser ohne ihre Zustimmung solch ein einschneidendes Edikt erließ. Die Kurfürsten zwangen den Kaiser auf dem Regensburger Kurfürstentag 1630 unter der Führung des neuen katholischen Kurfürsten Maximilian I. den kaiserlichen Generalissimus Wallenstein zu entlassen und einer Überprüfung des Ediktes zuzustimmen. Ebenfalls 1630 trat Schweden auf Seiten der protestantischen Reichsstände in den Krieg ein. Nachdem die kaiserlichen Truppen Schweden einige Jahre unterlegen gewesen waren, gelang es dem Kaiser durch den Sieg in der Schlacht bei Nördlingen 1634 nochmals die Oberhand zu gewinnen. Im darauffolgenden Prager Frieden zwischen dem Kaiser und Kursachsen von 1635 musste Ferdinand zwar das Restitutionsedikt für vierzig Jahre, vom Stand von 1627 ausgehend, aussetzen. Aber das Reichsoberhaupt ging aus diesem Frieden gestärkt hervor, da bis auf den Kurverein alle reichsständischen Allianzen für aufgelöst erklärt wurden und dem Kaiser der Oberbefehl über die Reichsarmee zugebilligt wurde. Diese Stärkung des Kaisers nahmen aber auch die Protestanten hin. Das religionspolitische Problem des Restitutionsediktes war faktisch um 40 Jahre vertagt worden, da sich der Kaiser und die meisten Reichsstände darin einig waren, dass die politische Einigung des Reiches, die Säuberung des Reichsgebietes von fremden Mächten und die Beendigung des Krieges am vordringlichsten seien. Nach dem offenen Kriegseintritt Frankreichs, der erfolgte, um eine starke kaiserlich-habsburgische Macht in Deutschland zu verhindern, verschoben sich die Gewichte wieder zu Ungunsten des Kaisers. Spätestens hier war aus dem ursprünglichen teutschen Konfessionskrieg innerhalb des Reiches ein europäischer Hegemonialkampf geworden. Der Krieg ging also weiter, da die konfessions- und verfassungspolitischen Probleme, die zumindest provisorisch im Prager Frieden geklärt worden waren, für die sich auf Reichsgebiet befindlichen Mächte Schweden und Frankreich nebenrangig waren. Außerdem wies der Frieden von Prag wie bereits angedeutet schwere Mängel auf, so dass auch die reichsinternen Auseinandersetzungen weitergingen. Ab 1641 begannen einzelne Reichsstände Separatfrieden zu schließen, da sich in dem Gestrüpp aus konfessioneller Solidarität, traditioneller Bündnispolitik und aktueller Kriegslage kaum mehr eine breit angelegte Gegenwehr des Reiches organisieren ließ. Den Anfang machte im Mai 1641 als erster größerer Reichsstand der Kurfürst von Brandenburg. Dieser schloss Frieden mit Schweden und entließ seine Armee, was nach den Bestimmungen des Prager Friedens nicht möglich war, da diese nominell zur Reichsarmee gehörte. Andere Reichsstände folgten; so schloss 1645 Kursachsen Frieden mit Schweden und 1647 Kurmainz mit Frankreich. Gegen den Willen des Kaisers, seit 1637 Ferdinand III., der ursprünglich das Reich bei den sich nun anbahnenden Friedensgesprächen in Münster und Osnabrück entsprechend dem Frieden von Prag allein vertreten wollte, wurden die Reichsstände, die von Frankreich unterstützt auf ihre Libertät pochten, zu den Unterredungen zugelassen. Dieser als Admissionsfrage bezeichnete Streit hebelte das System des Prager Friedens mit der starken Stellung des Kaisers endgültig aus. Ferdinand wollte ursprünglich in den westfälischen Verhandlungen nur die europäischen Fragen klären und Frieden mit Frankreich und Schweden schließen und die deutschen Verfassungsprobleme auf einem anschließenden Reichstag behandeln, auf dem er als glorioser Friedensbringer hätte auftreten können. Auf diesem Reichstag wiederum hätten die fremden Mächte nichts zu suchen gehabt. Westfälischer Frieden Es möge ein christlicher allgemeiner und immerwährender Friede herrschen […] und es soll dieser aufrichtig und ernstlich eingehalten und beachtet werden, auf daß jeder Teil Nutzen, Ehre und Vorteil des anderen fördere und daß sowohl auf Seiten des gesamten Römischen Reiches mit dem Königreich Schweden als auch auf Seiten des Königreichs Schweden mit dem Römischen Reiche treue Nachbarschaft, wahrer Friede und echte Freundschaft neu erwachsen und erblühen möge. Erster Artikel des Vertrages von Osnabrück Der Kaiser, Schweden und Frankreich verständigten sich 1641 in Hamburg auf Friedensverhandlungen, währenddessen die Kampfhandlungen weitergingen. Die Verhandlungen begannen 1642/43 parallel in Osnabrück zwischen dem Kaiser, den evangelischen Reichsständen und Schweden und in Münster zwischen dem Kaiser, den katholischen Reichsständen und Frankreich. Dass der Kaiser das Reich nicht allein repräsentierte, war eine symbolisch wichtige Niederlage. Die aus dem Frieden von Prag gestärkt hervorgegangene kaiserliche Macht stand wieder zur Disposition. Die Reichsstände gleich welcher Konfession hielten die Prager Ordnung für so gefährlich, dass sie ihre Rechte besser gewahrt sahen, wenn sie nicht allein dem Kaiser gegenübersaßen, sondern die Verhandlungen über die Reichsverfassung unter den Augen des Auslands stattfanden. Dies kam aber auch Frankreich sehr entgegen, das die Macht der Habsburger unbedingt einschränken wollte und sich deshalb für die Beteiligung der Reichsstände starkmachte. Beide Verhandlungsstädte und die Verbindungswege zwischen ihnen waren vorab für entmilitarisiert erklärt worden (was aber nur für Osnabrück vollzogen wurde) und alle Gesandtschaften erhielten freies Geleit. Zur Vermittlung reisten Delegationen der Republik Venedig, des Papstes und aus Dänemark an und Vertreter weiterer europäischer Mächte strömten nach Westfalen. Am Ende waren alle europäischen Mächte, bis auf das Osmanische Reich, Russland und England, an den Verhandlungen beteiligt. Die Verhandlungen in Osnabrück wurden neben den Verhandlungen zwischen dem Reich und Schweden faktisch zu einem Verfassungskonvent, auf dem die verfassungs- und religionspolitischen Probleme behandelt wurden. In Münster verhandelte man über die europäischen Rahmenbedingungen. Weiterhin wurde hier der Friede von Münster zwischen Spanien und der Republik der Niederlande ausgehandelt. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurde der Westfälische Frieden als zerstörerisch für das Reich angesehen. Fritz Hartung begründete dies mit dem Argument, der Friedensschluss habe dem Kaiser jegliche Handhabe genommen und den Reichsständen fast unbegrenzte Handlungsfreiheit gewährt, das Reich sei durch diesen „zersplittert“, „zerbröckelt“ – es handle sich mithin um ein „nationales Unglück“. Nur die religionspolitische Frage sei gelöst worden, das Reich aber in eine Erstarrung verfallen, die letztendlich zu dessen Zerfall geführt habe. In der Zeit direkt nach dem Westfälischen Frieden, und auch noch während des 18. Jahrhunderts, wurde der Friedensschluss hingegen ganz anders gesehen. Er wurde mit großer Freude begrüßt und galt als neues Grundgesetz, das überall da gelte, wo der Kaiser mit seinen Vorrechten und als Symbol der Einheit des Reiches anerkannt werde. Der Frieden stellte durch seine Bestimmungen die Territorialherrschaften und die verschiedenen Konfessionen auf eine einheitliche rechtliche Basis und schrieb die nach der Verfassungskrise Anfang des 16. Jahrhunderts geschaffenen und bewährten Mechanismen fest und verwarf diejenigen des Prager Friedens. Georg Schmidt schreibt zusammenfassend: Allen Reichsständen wurden zwar die vollen landeshoheitlichen Rechte zugesprochen und das im Prager Frieden annullierte Bündnisrecht wieder zuerkannt. Damit war aber nicht die volle Souveränität der Territorien gemeint, was sich auch daran erkennen lässt, dass dieses Recht im Vertragstext inmitten anderer schon länger ausgeübter Rechte aufgeführt wird. Das Bündnisrecht – auch dies widerspricht einer vollen Souveränität der Territorien des Reiches – durfte sich nicht gegen Kaiser und Reich, den Landfrieden oder gegen diesen Vertrag richten und war nach Meinung zeitgenössischer Rechtsgelehrter sowieso ein althergebrachtes Gewohnheitsrecht (siehe auch den Abschnitt Herkommen und Gewohnheitsrecht) der Reichsstände, das im Vertrag nur schriftlich fixiert wurde. Im religionspolitischen Teil entzogen sich die Reichsstände praktisch selbst die Befugnis, die Konfession ihrer Untertanen zu bestimmen. Zwar wurde der Augsburger Religionsfrieden als Ganzes bestätigt und für unantastbar erklärt, die strittigen Fragen wurden aber neu geregelt und Rechtsverhältnisse auf den Stand des 1. Januar 1624 fixiert beziehungsweise auf den Stand an diesem Stichtag zurückgesetzt. Alle Reichsstände mussten so beispielsweise die beiden anderen Konfessionen dulden, falls diese bereits 1624 auf ihrem Territorium existierten. Jeglicher Besitz musste an den damaligen Besitzer zurückgegeben werden und alle späteren anderslautenden Bestimmungen des Kaisers, der Reichsstände oder der Besatzungsmächte wurden für null und nichtig erklärt. Der zweite Religionsfrieden hat sicherlich keinerlei Fortschritte für den Toleranzgedanken oder für die individuellen Religionsrechte oder sogar die Menschenrechte gebracht. Das war aber auch nicht dessen Ziel. Er sollte durch die weitere Verrechtlichung friedensstiftend wirken. Frieden und nicht Toleranz oder Säkularisierung war das Ziel. Dass dies trotz aller Rückschläge und gelegentlicher Todesopfer bei späteren religiösen Auseinandersetzungen gelang, ist offensichtlich. Die Verträge von Westfalen haben dem Reich nach dreißig Jahren den langersehnten Frieden gebracht. Das Reich verlor einige Gebiete an Frankreich und entließ faktisch die Niederlande und die Alte Eidgenossenschaft aus dem Reichsverband. Ansonsten änderte sich im Reich nicht viel, das Machtsystem zwischen Kaiser und Reichsständen wurde neu austariert, ohne die Gewichte im Vergleich zur Situation vor dem Krieg stark zu verschieben und die Reichspolitik wurde nicht entkonfessionalisiert, sondern nur der Umgang der Konfessionen neu geregelt. Weder wurde Bis Mitte des 18. Jahrhunderts Nach dem Westfälischen Frieden drängte eine Gruppe von Fürsten, zusammengeschlossen im Fürstenverein, auf radikale Reformen im Reich, die insbesondere die Vorherrschaft der Kurfürsten beschränken und das Königswahlprivileg auch auf andere Reichsfürsten ausdehnen sollten. Auf dem Reichstag von 1653/54, der nach den Bestimmungen des Friedens viel früher hätte stattfinden sollen, konnte sich diese Minderheit aber nicht durchsetzen. Im Reichsabschied dieses Reichstages, genannt der Jüngste – dieser Reichstag war der letzte vor der Permanenz des Gremiums – wurde beschlossen, dass die Untertanen ihren Herren Steuern zahlen müssten, damit diese Truppen unterhalten könnten. Dies führte oft zur Bildung stehender Heere in verschiedenen größeren Territorien. Diese wurden als Armierte Reichsstände bezeichnet. Auch zerfiel das Reich nicht, da zu viele Stände ein Interesse an einem Reich hatten, das ihren Schutz gewährleisten konnte. Diese Gruppe umfasste besonders die kleineren Stände, die praktisch nie zu einem eigenen Staat werden konnten. Auch die aggressive, expansive Politik Frankreichs an der Westgrenze des Reiches und die Türkengefahr im Osten machten nahezu allen Ständen die Notwendigkeit eines hinlänglich geschlossenen Reichsverbandes und einer handlungsfähigen Reichsspitze deutlich. Seit 1658 herrschte Kaiser Leopold I., dessen Wirken erst seit den 1990er Jahren genauer untersucht wird, im Reich. Sein Wirken wird als klug und weitsichtig beschrieben, und gemessen an der Ausgangslage nach dem Krieg und dem Tiefpunkt des kaiserlichen Ansehens war es auch außerordentlich erfolgreich. Leopold gelang es durch die Kombination verschiedener Herrschaftsinstrumente, neben den kleineren auch die größeren Reichsstände wieder an die Reichsverfassung und an das Kaisertum zu binden. Hervorzuheben sind hier insbesondere seine Heiratspolitik, das Mittel der Standeserhöhungen und die Verleihung allerlei wohlklingender Titel. Dennoch verstärkten sich die zentrifugalen Kräfte des Reiches. Hierbei sticht insbesondere die Verleihung der neunten Kurwürde an Ernst August von Hannover 1692 hervor. Ebenso in diese Kategorie fällt das Zugeständnis an den brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III., sich 1701 für das nicht zum Reich gehörende Herzogtum Preußen zum König in Preußen krönen zu dürfen. Nach 1648 wurde die Position der Reichskreise weiter gestärkt und ihnen eine entscheidende Rolle in der Reichskriegsverfassung zugesprochen. So beschloss der Reichstag 1681 auf Grund der Bedrohung des Reiches durch die Türken eine neue Reichskriegsverfassung, in der die Truppenstärke der Reichsarmee auf 40.000 Mann festgelegt wurde. Für die Aufstellung der Truppen sollten die Reichskreise zuständig sein. Der Immerwährende Reichstag bot dem Kaiser die Möglichkeit, die kleineren Reichsstände an sich zu binden und für die eigene Politik zu gewinnen. Auch durch die verbesserten Möglichkeiten der Schlichtung gelang es dem Kaiser seinen Einfluss auf das Reich wieder zu vergrößern. Dass sich Leopold I. der Reunionspolitik des französischen Königs Ludwigs XIV. entgegenstemmte und versuchte, die Reichskreise und -stände zum Widerstand gegen die französischen Annexionen von Reichsgebieten zu bewegen, zeigt, dass die Reichspolitik noch nicht, wie unter seinen Nachfolgern im 18. Jahrhundert, zum reinen Anhängsel der habsburgischen Großmachtpolitik geworden war. Auch gelang in dieser Zeit das Zurückdrängen der Großmacht Schweden aus den nördlichen Gebieten des Reiches im Schwedisch-Brandenburgischen Krieg und im Großen Nordischen Krieg. Dualismus zwischen Preußen und Österreich Ab 1740 begannen die beiden größten Territorialkomplexe des Reiches, das Erzherzogtum Österreich und Brandenburg-Preußen, immer mehr aus dem Reichsverband herauszuwachsen. Das Haus Österreich konnte nach dem Sieg über die Türken im Großen Türkenkrieg nach 1683 große Gebiete außerhalb des Reiches erwerben, wodurch sich der Schwerpunkt der habsburgischen Politik nach Südosten verschob. Dies wurde besonders unter den Nachfolgern Kaiser Leopolds I. deutlich. Ähnlich verhielt es sich mit Brandenburg-Preußen, auch hier befand sich ein Teil des Territoriums außerhalb des Reiches. Zur zunehmenden Rivalität, die das Reichsgefüge stark beanspruchte, traten jedoch noch Änderungen im Denken der Zeit hinzu. War es bis zum Dreißigjährigen Krieg für das Ansehen eines Herrschers sehr wichtig, welche Titel er besaß und an welcher Position in der Hierarchie des Reiches und des europäischen Adels er stand, so traten nun andere Faktoren wie die Größe des Territoriums sowie die wirtschaftliche und militärische Macht stärker in den Vordergrund. Es setzte sich die Ansicht durch, dass nur die Macht, die aus diesen quantifizierbaren Angaben resultierte, tatsächlich zähle. Dies ist nach Ansicht von Historikern eine Spätfolge des großen Krieges, in dem altehrwürdige Titel, Ansprüche und Rechtspositionen insbesondere der kleineren Reichsstände fast keine Rolle mehr spielten und fingierten oder tatsächlichen Sachzwängen des Krieges untergeordnet wurden. Diese Denkkategorien waren jedoch nicht mit dem bisherigen System des Reiches vereinbar, das dem Reich und allen seinen Mitgliedern einen rechtlichen Schutz des Status quo gewährleisten und sie vor einem Übergewicht an Macht schützen sollte. Dieser Konflikt zeigt sich unter anderem in der Arbeit des Reichstages. Seine Zusammensetzung unterschied zwar zwischen Kurfürsten und Fürsten, Hocharistokratie und städtischen Magistraten, katholisch und protestantisch, aber beispielsweise nicht zwischen Ständen, die ein stehendes Heer unterhielten, und denen, die schutzlos waren. Diese Diskrepanz zwischen tatsächlicher Macht und althergebrachter Hierarchie führte zum Verlangen der großen, mächtigen Stände nach einer Lockerung des Reichsverbandes. Hinzu kam das Denken der Aufklärung, das den konservativen bewahrenden Charakter, die Komplexität, ja sogar die Idee des Reiches an sich hinterfragte und als „unnatürlich“ darstellte. Die Idee der Gleichheit der Menschen war nicht in Übereinstimmung zu bringen mit der Reichsidee, das Vorhandene zu bewahren und jedem Stand seinen zugewiesenen Platz im Gefüge des Reiches zu sichern. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Brandenburg-Preußen und Österreich nicht mehr in den Reichsverband passten, nicht nur auf Grund der schieren Größe, sondern auch wegen der inneren Verfasstheit der beiden zu Staaten gewordenen Territorien. Beide hatten die ursprünglich auch in ihrem Inneren dezentral und ständisch geprägten Länder reformiert und den Einfluss der Landstände gebrochen. Nur so waren die verschiedenen ererbten und eroberten jeweiligen Länder sinnvoll zu verwalten und zu bewahren sowie ein stehendes Heer zu finanzieren. Den kleineren Territorien war dieser Reformweg verschlossen. Ein Landesherr, der Reformen dieses Ausmaßes unternommen hätte, wäre unweigerlich mit den Reichsgerichten in Konflikt geraten, da diese den Landständen beigestanden hätten, gegen deren Privilegien ein Landesherr hätte verstoßen müssen. Der Kaiser in seiner Rolle als österreichischer Landesherr hatte den von ihm besetzten Reichshofrat natürlich nicht so zu fürchten wie andere Landesherrn und in Berlin scherte man sich um die Reichsinstitutionen sowieso kaum. Eine Exekution der Urteile wäre faktisch nicht möglich gewesen. Auch diese andere innere Verfasstheit der beiden großen Mächte trug zur Entfremdung vom Reich bei. Aus der als Dualismus zwischen Preußen und Österreich bezeichneten Rivalität erwuchsen im 18. Jahrhundert mehrere Kriege. Die zwei Schlesischen Kriege gewann Preußen und erhielt Schlesien, während der Österreichische Erbfolgekrieg zu Gunsten Österreichs endete. Während des Erbfolgekrieges kam mit Karl VII. ein Wittelsbacher auf den Thron, konnte sich aber ohne die Ressourcen einer Großmacht nicht durchsetzen, so dass nach seinem Tod 1745 mit Franz I. Stephan von Lothringen, dem Ehemann Maria Theresias, wieder ein Habsburger(-Lothringer) gewählt wurde. Diese Auseinandersetzungen waren für das Reich verheerend. Preußen wollte das Reich nicht stärken, sondern für seine Zwecke gebrauchen. Auch die Habsburger, die durch das Bündnis vieler Reichsstände mit Preußen und die Wahl eines Nicht-Habsburgers auf den Kaiserthron verstimmt waren, setzten nun viel eindeutiger als bislang auf eine Politik, die sich allein auf Österreich und dessen Macht bezog. Der Kaisertitel wurde fast nur noch wegen dessen Klang und des höheren Rangs gegenüber allen europäischen Herrschern erstrebt. Die Reichsinstitutionen waren zu Nebenschauplätzen der Machtpolitik verkommen und die Verfassung des Reiches hatte mit der Wirklichkeit nicht mehr viel zu tun. Preußen versuchte durch Instrumentalisierung des Reichstages den Kaiser und Österreich zu treffen. Insbesondere Kaiser Joseph II. zog sich fast gänzlich aus der Reichspolitik zurück. Joseph II. hatte anfangs noch versucht eine Reform der Reichsinstitutionen, besonders des Reichskammergerichtes, durchzuführen, scheiterte aber am Widerstand der Reichsstände, die sich aus dem Reichsverband lösen und sich deshalb vom Gericht nicht mehr in ihre „inneren“ Angelegenheiten hereinreden lassen wollten. Joseph gab frustriert auf. Aber auch sonst agierte Joseph II. unglücklich und unsensibel. Die österreichzentrierte Politik Josephs II. während des Bayerischen Erbfolgekriegs 1778/79 und die vom Ausland vermittelte Friedenslösung von Teschen waren ein Desaster für das Kaisertum. Als die bayerische Linie der Wittelsbacher 1777 ausstarb, erschien dies Joseph als willkommene Möglichkeit, Bayern den habsburgischen Landen einzuverleiben. Deshalb erhob Österreich juristisch fragwürdige Ansprüche auf das Erbe. Unter massivem Druck aus Wien willigte der Erbe aus der pfälzischen Linie der Wittelsbacher, Kurfürst Karl Theodor, in einen Vertrag ein, der Teile Bayerns abtrat. Karl Theodor, der ohnehin nur widerwillig das Erbe angenommen hatte, wurde suggeriert, dass später ein Tausch mit den Österreichischen Niederlanden, die in etwa das Gebiet des heutigen Belgiens umfassten, zustande käme. Joseph II. besetzte aber stattdessen die bayerischen Gebiete, um vollendete Tatsachen zu schaffen, und vergriff sich somit als Kaiser an einem Reichsterritorium. Diese Vorgänge erlaubten es dem preußischen König Friedrich II., sich zum Beschützer des Reiches und der kleinen Reichsstände und damit quasi zum „Gegenkaiser“ aufzuschwingen. Preußische und kursächsische Truppen marschierten in Böhmen ein. Im von Russland regelrecht erzwungenen Frieden von Teschen vom 13. Mai 1779 erhielt Österreich zwar das Innviertel zugesprochen. Der Kaiser stand dennoch als Verlierer da. Zum zweiten Mal nach 1648 musste ein innerdeutsches Problem mit Hilfe ausländischer Mächte geregelt werden. Nicht der Kaiser, sondern Russland brachte dem Reich Frieden. Russland wurde neben seiner Rolle als Garantiemacht des Teschener Friedens auch eine Garantiemacht des Westfälischen Friedens und damit einer der „Hüter“ der Reichsverfassung. Das Kaisertum hatte sich selbst demontiert und der preußische König Friedrich stand als Beschützer des Reiches da. Aber nicht Schutz und Konsolidierung des Reiches waren Friedrichs Ziel gewesen, sondern eine weitere Schwächung der Position des Kaisers im Reich und damit des ganzen Reichsverbandes an sich. Dieses Ziel hatte er erreicht. Das Konzept eines Dritten Deutschlands hingegen, geboren aus der Befürchtung der kleineren und mittleren Reichsstände zur reinen Verfügungsmasse der Großen zu verkommen, um mit einer Stimme zu sprechen und damit Reformen durchzusetzen, scheiterte an den Vorurteilen und Gegensätzen zwischen den protestantischen und den katholischen Reichsfürsten, sowie den Eigeninteressen der Kurfürsten und der großen Reichsstädte. Eigentliche Träger des Reichsgedankens waren zuletzt praktisch nur noch die Reichsstädte, die Reichsritterschaften und zu einem gewissen Teil die geistlichen Territorien, wobei auch die Letzteren vielfach durch Angehörige von Reichsfürstendynastien regiert wurden und deren Interessen vertraten (beispielsweise das im Spanischen Erbfolgekrieg unter einem wittelsbacherischen Erzbischof stehende Kurköln). Auch der Kaiser agierte eher wie ein Territorialherr, der auf die Ausweitung seines unmittelbaren Herrschaftsterritoriums zielte und weniger auf die Wahrung eines „Reichsinteresses“. Von vielen Zeitgenossen im Zeitalter der Aufklärung wurde das Reich daher als ein Anachronismus empfunden. Voltaire sprach spöttisch von dem „Reich, das weder römisch noch heilig“ sei. Ende des Reiches Erste Koalitionskriege gegen Frankreich Gegen die revolutionären Truppen Frankreichs fanden beide deutschen Großmächte (Österreich und Preußen) im Ersten Koalitionskrieg zu einem Zweckbündnis. Dieses als Pillnitzer Beistandspakt bezeichnete Bündnis vom Februar 1792 hatte freilich nicht den Schutz von Reichsrechten zum Ziel, sondern die Eindämmung der Revolution, vor allem deswegen, weil man deren Übergreifen auf das Reichsgebiet fürchtete. Die Chance, die anderen Reichsstände hinter sich zu bringen, verspielte Kaiser Franz II., der am 5. Juli 1792 in ungewohnter Eile und Einmütigkeit zum Kaiser gewählt wurde, durch den Umstand, dass er das österreichische Staatsgebiet unbedingt vergrößern wollte, notfalls auf Kosten anderer Reichsmitglieder. Und auch Preußen wollte sich für seine Kriegskosten durch die Einverleibung geistlicher Reichsgebiete schadlos halten. Dementsprechend gelang es nicht, eine geschlossene Front gegen die französischen Revolutionstruppen aufzubauen und größere militärische Erfolge zu erringen. Aus Enttäuschung über ausbleibende Erfolge und um sich besser um den Widerstand gegen die erneute Teilung Polens kümmern zu können, schloss Preußen 1795 einen Separatfrieden mit Frankreich, den Frieden von Basel. 1796 schlossen Baden und Württemberg ebenfalls Frieden mit Frankreich. In beiden Vereinbarungen wurden die jeweiligen linksrheinischen Besitzungen an Frankreich abgetreten. Die Besitzer aber sollten auf Kosten rechtsrheinischer geistlicher Gebiete „entschädigt“ werden, diese sollten also säkularisiert werden. Weitere Reichsstände verhandelten über einen Waffenstillstand oder Neutralität. 1797 schloss auch Österreich Frieden und unterschrieb den Frieden von Campo Formio, in dem es verschiedene Besitzungen innerhalb und außerhalb des Reiches abtrat, so insbesondere die österreichischen Niederlande und das Herzogtum Toskana. Als Ausgleich sollte Österreich ebenfalls auf Kosten von zu säkularisierenden geistlichen Gebieten oder anderen Reichsteilen entschädigt werden. Beide Großen des Reiches hielten sich also an anderen kleineren Reichsgliedern schadlos und räumten Frankreich sogar ein Mitspracherecht bei der zukünftigen Gestaltung des Reiches ein. Insbesondere der Kaiser, zwar als König von Ungarn und Böhmen handelnd, aber trotzdem als Kaiser zur Bewahrung der Integrität des Reiches und seiner Mitglieder verpflichtet, hatte zugelassen, dass für die „Entschädigung“ einiger weniger andere Reichsstände geschädigt wurden, und das Kaisertum damit irreparabel demontiert. Die Reichsdeputation von 1797/98 willigte im März 1798 gezwungenermaßen auf dem Friedenskongress von Rastatt in die Abtretung der linksrheinischen Gebiete ein sowie in die Säkularisation mit Ausnahme der drei geistlichen Kurfürstentümer. Der Zweite Koalitionskrieg beendete aber das Geschachere und Gefeilsche um die Gebiete, die man zu erhalten hoffte. Der Krieg wurde 1801 durch den Frieden von Lunéville beendet, in dem Franz II. nun auch als Reichsoberhaupt der Abtretung der linksrheinischen Gebiete zustimmte. In diesem Frieden traf man aber keine genauen Festlegungen für die anstehenden „Entschädigungen“. Der anschließend einberufene Reichstag stimmte dem Frieden zu. Reichsdeputationshauptschluss Die Friedensvereinbarungen von Basel mit Preußen, Campo Formio mit Österreich und Lunéville mit dem Reich verlangten „Entschädigungen“, über die nur ein Reichsgesetz entscheiden konnte. Deshalb wurde eine Reichsdeputation einberufen, die diesen Entschädigungsplan ausarbeiten sollte. Letztendlich nahm die Deputation aber den französisch-russischen Entschädigungsplan vom 3. Juni 1802 mit geringen Änderungen an. Am 24. März 1803 akzeptierte der Reichstag den Reichsdeputationshauptschluss endgültig. Als Entschädigungsmasse für die größeren Reichsstände wurden fast alle Reichsstädte, die kleineren weltlichen Territorien und fast alle geistlichen Hoch- und Erzstifte ausgewählt. Die Zusammensetzung des Reiches veränderte sich schlagartig, die zuvor mehrheitlich katholische Fürstenbank des Reichstages war nunmehr protestantisch geprägt. Zwei von drei geistlichen Kurfürstentümern hatten aufgehört zu existieren, auch der Kurfürst von Mainz verlor sein Hochstift, erhielt aber als neues Kurfürstentum Aschaffenburg-Regensburg. Neben diesem gab es nur noch zwei geistliche Reichsfürsten, den Großprior des Malteserordens und den Hoch- und Deutschmeister des Deutschen Ordens. Insgesamt gab es durch den Reichsdeputationshauptschluss 110 Territorien weniger und rund drei Millionen Menschen bekamen einen neuen Landesherrn. Aus einer Vielzahl kleiner Gebiete entstand eine überschaubare Anzahl von mittelgroßen Ländern. Dies wurde eine bleibende Veränderung, welche die drei Jahre der Gültigkeit weit überdauerte. Der Reichsdeputationshauptschluss führte ferner ein neues Normaljahr ein, also den Ausgangspunkt dafür, wie es bei einem Gebiet mit der Konfession steht und wie um die Vermögensverhältnisse. Das Jahr 1803 wurde nach dem im Westfälischen Frieden bestimmten Normaljahr 1624 das neue Normaljahr. Man sprach in diesem Zusammenhang allgemein von „Entschädigung“, „Säkularisation“ und „Mediatisierung“. Allerdings verbarg man dahinter (beschönigenderweise) auch die Tatsache, dass einige wenige Landesherren viel mehr Land und Geld erhielten, als sie abgetreten hatten. Der badische Markgraf erhielt beispielsweise mehr als neunmal so viele Untertanen als er linksrheinisch verlor. Grund hierfür war, dass Frankreich sich eine Reihe von Satellitenstaaten schuf, die groß genug waren, um dem Kaiser Schwierigkeiten zu machen, aber zu klein, um die Position Frankreichs zu gefährden. Weiterhin hatte die Reichskirche aufgehört zu existieren, die eine Stütze des Kaisers gewesen war. Die Aufklärung hatte dazu längst beigetragen, ebenso die absolutistische Neigung der Landesherren, sich die Macht nicht mit kirchlichen Einrichtungen teilen zu wollen. Das galt für protestantische und katholische Fürsten gleichermaßen und so sah es auch Frankreich. Im Herbst 1803 wurden auch die Reichsritterschaften im sogenannten Rittersturm von den benachbarten Ländern besetzt. Den Gesetzen des Reiches wurde allseits nicht mehr viel Beachtung geschenkt. Niederlegung der Reichskrone Am 18. Mai 1804 wurde Napoleon durch eine Verfassungsänderung zum erblichen Kaiser der Franzosen bestimmt. Damit wollte er sich nicht zuletzt in die Tradition Karls des Großen stellen, der tausend Jahre zuvor die Nachfolge des Römischen Reiches angetreten hatte. Nachdem Napoleon den Kaisertitel angenommen hatte, kam es zu Gesprächen mit Österreich. In einer Geheimnote vom 7. August 1804 forderte Napoleon, dass Österreich den Kaisertitel anerkenne. Im Gegenzug könne der römisch-deutsche Kaiser Franz II. zum Kaiser Österreichs werden. Wenige Tage später wurde aus der Forderung faktisch ein Ultimatum. Dies bedeutete entweder Krieg oder Anerkennung des französischen Kaisertums. Franz lenkte ein und nahm am 11. August 1804 als Konsequenz dieses Schrittes zusätzlich zu seinem Titel als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches „für Uns und Unsere Nachfolger […] den Titel und die Würde eines erblichen Kaisers von Österreich“ an. Dies geschah offensichtlich, um die Ranggleichheit mit Napoleon zu wahren. Hierzu schien der Titel des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches allein nicht mehr geeignet, auch wenn dies wohl ein Bruch des Reichsrechts war, da er weder die Kurfürsten über diesen Schritt informierte noch den Reichstag um Zustimmung bat. Dieser Schritt war auch vom Rechtsbruch abgesehen umstritten und wurde als übereilt angesehen. Napoleon ließ sich nicht mehr aufhalten. Im Dritten Koalitionskrieg marschierte seine Armee, die durch bayerische, württembergische und badische Truppen verstärkt wurde, auf Wien zu und am 2. Dezember 1805 siegten die napoleonischen Truppen in der Dreikaiserschlacht bei Austerlitz über Russen und Österreicher. Der darauffolgende Frieden von Preßburg, der Franz II. und dem russischen Zaren Alexander I. von Napoleon diktiert wurde, dürfte das Ende des Reiches endgültig besiegelt haben, da Napoleon durchsetzte, dass Bayern, Württemberg und Baden mit voller Souveränität ausgestattet und somit mit Preußen und Österreich gleichgestellt wurden. Diese Länder befanden sich nun faktisch außerhalb der Reichsverfassung. Letzter Anstoß für die Niederlegung der Krone war jedoch eine Handlung von Karl Theodor von Dalberg, dem Erzbischof von Regensburg. Dalberg war Erzkanzler des Reiches und damit Haupt der Reichskanzlei, Aufseher des Reichsgerichtes und Hüter des Reichsarchivs. Er machte den französischen Großalmosenier Joseph Kardinal Fesch 1806 zu seinem Koadjutor mit dem Recht der Nachfolge. Der zu seinem Nachfolger ernannte Kardinal war nicht nur Franzose und sprach kein Wort Deutsch – er war auch der Onkel Napoleons. Wäre also der Kurfürst gestorben oder hätte sonst irgendwie seine Ämter abgegeben, so wäre der Onkel des französischen Kaisers Erzkanzler des Reiches geworden. Am 28. Mai 1806 wurde der Reichstag davon in Kenntnis gesetzt. Der österreichische Außenminister Johann Philipp von Stadion erkannte die möglichen Folgen: entweder die Auflösung des Reiches oder eine Umgestaltung des Reiches unter französischer Herrschaft. Daraufhin entschloss sich Franz am 18. Juni zu einem Protest, der wirkungslos blieb, zumal sich die Ereignisse überschlugen: Am 12. Juli 1806 gründeten Kurmainz, Bayern, Württemberg, Baden, Hessen-Darmstadt, Nassau, Kleve-Berg und weitere Fürstentümer mit Unterzeichnung der Rheinbundakte in Paris den Rheinbund, als dessen Protektor Napoleon fungierte, und erklärten am 1. August den Austritt aus dem Reich. Bereits im Januar hatte der schwedische König die Teilnahme der vorpommerschen Gesandten an den Reichstagssitzungen suspendiert und erklärte als Reaktion auf die Unterzeichnung der Rheinbundakte am 28. Juli, dass in den zum Reich gehörenden Ländern unter schwedischer Herrschaft die Reichsverfassung aufgehoben und die Landstände und Landräte aufgelöst seien. Er führte stattdessen die schwedische Verfassung in Schwedisch-Pommern ein. Damit beendete er auch in diesem Teil des Reiches das Reichsregime. Das Reich hatte faktisch aufgehört zu existieren, denn von ihm blieb nur noch ein Rumpf übrig. Die Entscheidung, ob der Kaiser die Reichskrone niederlegen sollte, wurde durch ein Ultimatum an den österreichischen Gesandten in Paris, General Vincent, praktisch vorweggenommen. Sollte Kaiser Franz bis zum 10. August nicht abdanken, dann würden französische Truppen Österreich angreifen, so wurde diesem am 22. Juli mitgeteilt. In Wien waren jedoch schon seit mehreren Wochen Johann Aloys Josef Freiherr von Hügel und Graf von Stadion mit der Erstellung von Gutachten über die Bewahrung der Kaiserwürde des Reiches befasst. Ihre Analyse kam zu dem Schluss, dass Frankreich versuchen werde, die Reichsverfassung aufzulösen und das Reich in einen von Frankreich beeinflussten föderativen Staat umzuwandeln. Sie folgerten, dass die Bewahrung der Reichsoberhauptlichen Würde unvermeidlich zu Schwierigkeiten mit Frankreich führen würde und deshalb der Verzicht auf die Reichskrone unumgänglich sei. Der genaue Zeitpunkt dieses Schrittes sollte nach den politischen Umständen bestimmt werden, um möglichst vorteilhaft für Österreich zu sein. Am 17. Juni 1806 wurde dem Kaiser das Gutachten vorgelegt. Den Ausschlag für eine Entscheidung des Kaisers gab jedoch wohl das erwähnte Ultimatum Napoleons. Am 30. Juli entschied sich Franz, auf die Krone zu verzichten; am 1. August erschien der französische Gesandte La Rochefoucauld in der österreichischen Staatskanzlei. Erst nachdem der französische Gesandte nach heftigen Auseinandersetzungen mit Graf von Stadion formell bestätigte, dass sich Napoleon niemals die Reichskrone aufsetzen werde und die staatliche Unabhängigkeit Österreichs respektiere, willigte der österreichische Außenminister in die Abdankung ein, die am 6. August verkündet wurde. In der Abdankung heißt es, dass der Kaiser sich nicht mehr in Lage sehe, seine Pflichten als Reichsoberhaupt zu erfüllen, und dementsprechend erklärte er: Und der Kaiser überschritt ein letztes Mal seine Kompetenzen als Reichsoberhaupt. Franz legte nicht nur die Krone nieder, sondern er löste das Reich als Ganzes auf, hierzu wäre aber die Zustimmung des Reichstages nötig gewesen, denn er verkündete auch: Er löste auch die zu seinem eigenen Herrschaftsbereich gehörenden Länder des Reiches aus diesem heraus und unterstellte sie allein dem österreichischen Kaisertum. Damit endete auch die Tätigkeit der wichtigsten Institutionen des Reichs. Der Reichstag trat nicht mehr zusammen und das Reichskammergericht stellte seine Tätigkeit auf die Sammlung und Archivierung der vorhandenen Akten um. Die formelle Auflösung des Reichs setzte einen Schlusspunkt unter einen längeren Niedergang des Reiches durch die Schwächung der Zentralgewalt, den Dualismus der beiden Großmächte Preußen und Österreich, zunehmende Souveränität und Einzelinteressen der mittelgroßen Reichsterritorien und die Missachtung der Reichsverfassung. Am Ende fehlte es am politischen Willen und auch an der außenpolitischen Macht, das Reich zu bewahren. Wiener Kongress und Deutscher Bund 1815 Nach dem Wiener Kongress 1815 schlossen sich die deutschen Einzelstaaten zum Deutschen Bund zusammen. Zuvor, im November 1814, richteten jedoch 29 Souveräne kleinerer und mittlerer Staaten folgenden Wunsch an den Kongress: Grundlage dieser Petition dürfte kaum patriotischer Eifer gewesen sein. Eher kann davon ausgegangen werden, dass diese die Dominanz der durch Napoleon zu voller Souveränität und Königstiteln gelangten Fürsten fürchteten, beispielsweise der Könige von Württemberg, Bayern und Sachsen. Aber auch darüber hinaus wurde die Frage diskutiert, ob ein neuer Kaiser gekürt werden solle. So existierte u. a. der Vorschlag, dass die Kaiserwürde zwischen den mächtigsten Fürsten im südlichen Deutschland und dem mächtigsten Fürsten in Norddeutschland alternieren solle. Im Allgemeinen wurde jedoch von den Befürwortern des Kaisertums eine erneute Übernahme der Kaiserwürde durch Österreich favorisiert, also durch Franz I. Da aber auf Grund der geringen Macht der Befürworter der Wiederherstellung, der kleinen und mittleren deutschen Fürsten, nicht zu erwarten war, dass der Kaiser in Zukunft die Rechte erhielte, die diesen zu einem tatsächlichen Reichsoberhaupt machen würden, lehnte Franz die angebotene Kaiserwürde ab. Dementsprechend betrachteten Franz I. und sein Kanzler Metternich diese in der bisherigen Ausgestaltung nur als eine Bürde. Auf der anderen Seite wollte Österreich aber den Kaisertitel für Preußen oder einen anderen starken Fürsten nicht zulassen. Der Wiener Kongress ging auseinander, ohne das Kaisertum erneuert zu haben. Daraufhin wurde am 8. Juni 1815 der Deutsche Bund gegründet. Er war im Wesentlichen nur ein militärisches Bündnis für die innere und äußere Sicherheit der Mitgliedsstaaten. Das einzige Bundesorgan zu deren Vertretung war der Bundestag. Dort führte der österreichische Gesandte die Geschäfte, weswegen man Österreich die Präsidialmacht nannte. Verfassungsordnung Das Heilige Römische Reich hatte kein in einer einzigen Urkunde festgeschriebenes Grundgesetz im heutigen verfassungsrechtlichen Sinne. Seine Verfassungsordnung ergab sich vielmehr aus zahlreichen, durch lange Überlieferung und Ausübung gefestigten und praktizierten Rechtsnormen, die erst seit dem Spätmittelalter und verstärkt seit der Frühen Neuzeit durch schriftlich fixierte Gesetze ergänzt wurden. Diese Ordnung, wie sie seit dem 17. Jahrhundert im Rahmen der später so genannten Reichspublizistik durch Staatsrechtler erörtert und definiert wurde, bestand also aus einem Konglomerat geschriebener und ungeschriebener Rechtsgrundsätze über Idee, Form, Aufbau, Zuständigkeiten und Handeln des Reiches und seiner Glieder. Da sich der stark föderative Charakter des Reiches verbunden mit einer Wahlmonarchie kaum in ein Schema pressen lässt, formulierte bereits der Staatsrechtler Johann Jakob Moser ausweichend über den Charakter der Reichsverfassung: Die Tatsache der föderalistischen Ordnung mit vielen Einzelregelungen wurde schon von Zeitgenossen wie Samuel von Pufendorf kritisch untersucht, der 1667 in seinem unter dem Pseudonym Severinus von Monzambano veröffentlichten Werk De statu imperii Germanici das Reich als systema monstrosum und unglückliches „Mittelding“ zwischen Monarchie und Staatenbund charakterisierte. Zu seiner berühmten Einschätzung der Reichsverfassung als „irregulär“ und „monströs“ gelangte er auf Grund der Erkenntnis, dass das Reich in seiner Form weder einer der aristotelischen Staatsformen zugeordnet werden kann noch den Begrifflichkeiten der Souveränitätsthese gerecht wird. Trotzdem war das Reich ein staatliches Gebilde mit einem Oberhaupt, dem Kaiser, und seinen Mitgliedern, den Reichsständen. Wie beschrieben war der ungewöhnliche Charakter des Reiches und seiner Verfassung den Staatsrechtlern des Reiches bewusst, weshalb versucht wurde, dessen Charakter in der Theorie der „dualen“ Souveränität darzustellen. Nach dieser Theorie wurde das Reich von zwei Majestäten regiert. Auf der einen Seite war die Majestas realis, die von den Reichsständen ausgeübt wurde, und auf der anderen Seite die Majestas personalis, die des Erwählten Kaisers. Dieser verfassungstheoretisch erfasste Dualismus spiegelte sich auch in der häufig anzutreffenden Formulierung Kaiser und Reich wider. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern war dessen Oberhaupt eben nicht das Reich. Die „Reichsverfassung“ stellte somit eine Art Mischverfassungssystem dar, bestehend aus dem Kaiser und den Reichsständen. Gut 100 Jahre nach Pufendorf verteidigte Karl Theodor von Dalberg, der Erzbischof von Mainz, die Ordnung des Reiches mit den Worten: Grundgesetze Die niedergeschriebenen Gesetze und Texte, die zur Reichsverfassung gezählt wurden, entstanden in verschiedenen Jahrhunderten und ihre Anerkennung als zur Verfassung gehörig war nicht einheitlich. Dennoch lassen sich einige dieser allgemein akzeptierten Grundgesetze benennen. Die erste quasi-verfassungsrechtliche Regelung lässt sich im Wormser Konkordat von 1122 finden, mit dem der Investiturstreit endgültig beendet wurde. Die Festschreibung des zeitlichen Vorrangs der Einsetzung des Bischofs in das weltliche Amt durch den Kaiser vor der Einsetzung in das geistliche Amt durch den Papst eröffnete der weltlichen Macht eine gewisse Unabhängigkeit von der geistlichen Macht. Dies ist damit ein erster Mosaikstein im Rahmen der jahrhundertelang andauernden Emanzipation des Staates – der hier jedoch noch kaum so genannt werden kann – von der Kirche. Reichsintern entstand der erste verfassungsrechtliche Meilenstein gut 100 Jahre später. Die ursprünglich autonomen Stammesfürstentümer hatten sich im 12. Jahrhundert zu abhängigen Reichsfürstentümern gewandelt. Friedrich II. musste auf dem Reichstag in Worms 1231 im Statut zugunsten der Fürsten Münze, Zoll, Markt und Geleit sowie das Recht zum Burgen- und Städtebau an die Reichsfürsten abtreten. Darüber hinaus erkannte Friedrich II. auf selbigem Reichstag auch das Gesetzgebungsrecht der Fürsten an. Als neben dem Statut zugunsten der Fürsten wichtigste Verfassungsregelung ist sicherlich die Goldene Bulle von 1356 zu nennen, die die Grundsätze der Königswahl erstmals verbindlich regelte und damit Doppelwahlen, wie bereits mehrfach geschehen, vermied. Zudem wurden die Gruppe der Fürsten zur Wahl des Königs festgelegt und die Kurfürstentümer für unteilbar erklärt, um ein Anwachsen der Zahl der Kurfürsten zu vermeiden. Außerdem schloss sie päpstliche Rechte bei der Wahl aus und beschränkte das Fehderecht. Als drittes Grundgesetz gelten die Deutschen Konkordate von 1447 zwischen Papst Nikolaus V. und Kaiser Friedrich III., in denen die päpstlichen Rechte und die Freiheiten der Kirche und der Bischöfe im Reich geregelt wurden. Dies betraf unter anderem die Wahl der Bischöfe, Äbte und Pröpste und deren Bestätigung durch den Papst, die Vergabe von kirchlichen Würden und die Eigentumsfragen nach dem Tod eines kirchlichen Würdenträgers. Die Konkordate bildeten eine wichtige Grundlage für die Rolle und Struktur der Kirche als Reichskirche in den nächsten Jahrhunderten. Der vierte dieser wichtigen Rechtsgrundsätze ist der Ewige Reichsfriede, der am 7. August 1495 auf dem Reichstag zu Worms verkündet wurde und mit der Schaffung des Reichskammergerichts gesichert werden sollte. Damit wurde das bis dahin allgemein übliche adlige Recht auf Fehde verboten und versucht das Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen. Bewaffnete Auseinandersetzungen und Selbsthilfe des Adels wurden für rechtswidrig erklärt. Vielmehr sollten nun die Gerichte der Territorien beziehungsweise des Reiches, wenn es Reichsstände betraf, die Streitigkeiten regeln und entscheiden. Der Bruch des Landfriedens sollte hart bestraft werden. So waren für die Brechung des Landfriedens die Reichsacht oder hohe Geldstrafen ausgesetzt. Die Wormser Reichsmatrikel von 1521 kann als fünftes dieser „Reichsgrundgesetze“ betrachtet werden. In diesem wurden alle Reichsstände mit der Anzahl der für das Reichsheer zu stellenden Truppen und der Summe, die für den Unterhalt des Heeres gezahlt werden musste, erfasst. Trotz Anpassungen an die aktuellen Verhältnisse und kleinerer Änderungen war es die Grundlage der Reichsheeresverfassung. Hinzu kommen eine Anzahl weiterer Gesetze und Ordnungen, wie der Augsburger Religionsfrieden vom 25. September 1555 mit der Reichsexekutionsordnung und die Ordnung des Reichshofrates sowie die jeweilige Wahlkapitulation, die in ihrer Gesamtheit die Verfassung des Reiches seit dem Beginn der Frühen Neuzeit prägten. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges wurden die Bestimmungen des Westfälischen Friedens nach dem Austausch der Ratifikationsurkunden 1649 zum Ewigen Grundgesetz des Reiches erklärt. Neben den territorialen Veränderungen wurde in diesem Vertrag den Reichsterritorien endgültig die Landeshoheit zuerkannt und neben den Katholiken und Protestanten, die bereits im Augsburger Frieden als voll berechtigte Konfessionen anerkannt wurden, den Calvinisten (Reformierten) ebenfalls dieser Status gewährt. Weiterhin wurden Bestimmungen über den Religionsfrieden und die konfessionell paritätische Besetzung von Reichsinstitutionen vereinbart. Damit war die Herausbildung der Reichsverfassung im Wesentlichen abgeschlossen. Von den Staatsrechtsgelehrten wurden auch die verschiedenen Reichsfriedensverträge zur Verfassung des Reiches hinzugerechnet. Beispiele hierfür sind der Frieden von Nimwegen 1678/79 und der Frieden von Rijswijk 1697, in denen die Grenzen einiger Reichsteile geändert wurden. Hinzugerechnet wurden aber auch die verschiedenen Reichsabschiede, insbesondere der Jüngste Reichsabschied von 1654, bei dem Sorge dafür getragen wurde, dass die stehenden Heere der Landesfürsten verfassungsrechtlich anerkannt und budgetiert wurden und die Regelung über den Immerwährenden Reichstag von 1663. Von heutigen Historikern wird gelegentlich der Reichsdeputationshauptschluss als letztes Grundgesetz des Reiches bezeichnet, da mit diesem eine vollkommen neue Grundlage der Reichsverfassung geschaffen wurde. Diese Zuordnung des Hauptschlusses wird aber nicht einheitlich verwendet, da dieser häufig als der Anfang vom Ende des Reiches angesehen wird, was eine Einordnung als Reichsgrundgesetz nicht rechtfertige. Trotzdem, so Anton Schindling in seiner Analyse der Entwicklungspotentiale des Hauptschlusses, solle die historische Analyse ihn als Chance eines neuen Reichsgrundgesetz für ein erneuertes Reich ernst nehmen. Herkommen und Gewohnheitsrecht Der Staatsrechtler des 18. Jahrhunderts K. A. Beck definierte die auch in anderen Ländern üblichen und anerkannten Gewohnheitsrechte folgendermaßen: Einerseits handelt es sich um Rechte und Gewohnheiten, die niemals schriftlich festgehalten wurden, und auf der anderen Seite um Rechte und Gewohnheiten, die zu einer Änderung von niedergeschriebenen Gesetzen und Verträgen führten. So wurde die Goldene Bulle beispielsweise dahingehend geändert, dass die Krönung des Königs ab 1562 immer in Frankfurt durchgeführt wurde und nicht wie festgelegt in Aachen. Damit solches Handeln zum Gewohnheitsrecht wurde, musste dieses immer wiederkehrend und vor allem unwidersprochen durchgeführt werden. So waren beispielsweise die Säkularisationen der norddeutschen Bistümer durch die protestantisch gewordenen Landesfürsten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts niemals gültiges Recht, da diesen mehrfach vom Kaiser widersprochen wurde. Aber auch durch Nichtanwendung von Regeln konnte Festgeschriebenes abgeschafft werden. Von den Staatsrechtlern der damaligen Zeit wurde zwischen Herkommen, das die Staatsgeschäfte selbst betraf, dem „Reichsherkommen“, und dem Herkommen, wie man diese durchzuführen hatte, unterschieden. Zur ersten Gruppe gehörte die Vereinbarung, dass seit der Neuzeit nur ein Deutscher zum König gewählt werden konnte und dass der König seit 1519 eine Wahlkapitulation mit den Kurfürsten aushandeln musste. Aus altem Gewohnheitsrecht durften sich die vornehmsten Reichsstände mit dem Titelzusatz „von Gottes Gnaden“ versehen. Ebenso wurden deshalb die geistlichen Reichsstände als höher angesehen als ein weltlicher Reichsstand gleichen Ranges. Zur zweiten Gruppe der Gewohnheitsrechte gehörte unter anderem die Einteilung der Reichsstände in drei Kollegien mit unterschiedlichen Rechten, die Durchführung des Reichstages und die Amtsführung der Erzämter. Kaiser Die mittelalterlichen Herrscher des Reiches sahen sich – in Anknüpfung an die spätantike Kaiseridee und die Idee der Renovatio imperii, der Wiederherstellung des römischen Reichs unter Karl dem Großen – in direkter Nachfolge der römischen Cäsaren und der karolingischen Kaiser. Sie propagierten den Gedanken der Translatio imperii, nach dem die höchste weltliche Macht, das Imperium, von den Römern auf die Deutschen übergegangen sei. Aus diesem Grunde verband sich mit der Wahl zum römisch-deutschen König auch der Anspruch des Königs, durch den Papst in Rom zum Kaiser gekrönt zu werden. Für die reichsrechtliche Stellung des Reichsoberhauptes war dies insofern von Belang, als er damit auch zum Oberhaupt der mit dem Reich verbundenen Gebiete, Reichsitaliens und des Königreichs Burgund, wurde. Die Wahl zum König erfolgte zunächst – theoretisch – durch alle Freien des Reiches, dann durch alle Reichsfürsten, schließlich nur noch durch die wichtigsten Fürsten des Reiches. Der genaue Personenkreis war jedoch umstritten und mehrmals kam es zu Doppelwahlen, da sich die Fürsten nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnten. Erst die Goldene Bulle legte 1356 den Kreis der Wahlberechtigten und das Mehrheitsprinzip verbindlich fest. Seit Maximilian I. (1508) nannte sich der neu gewählte König „Erwählter Römischer Kaiser“, auf eine Krönung durch den Papst in Rom wurde fortan verzichtet. Nur Karl V. ließ sich vom Papst krönen, allerdings in Bologna. Umgangssprachlich und in der älteren Literatur wird die Bezeichnung deutscher Kaiser für die „Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ verwendet. Im 18. Jahrhundert wurden diese Bezeichnungen auch in offizielle Dokumente übernommen. Die neuere historische Literatur bezeichnet die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches hingegen als römisch-deutsche Kaiser, um sie von den römischen Kaisern der Antike einerseits und von den deutschen Kaisern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts andererseits zu unterscheiden. Verfassungsrechtliche Rolle des Kaisers Der Kaiser war das Reichsoberhaupt und oberster Lehnsherr. Wenn in frühneuzeitlichen Akten vom Kaiser die Rede ist, ist immer das Reichsoberhaupt gemeint. Ein eventuell zu Lebzeiten des Kaisers gewählter „Römischer König“ bezeichnete nur den Nachfolger und zukünftigen Kaiser. Solange der Kaiser noch lebte, konnte der König keine eigenen Rechte in Bezug auf das Reich aus seinem Titel ableiten. Gelegentlich wurden dem König, wie es Karl V. im Falle seiner Abwesenheit aus dem Reich bei seinem Bruder und römischen König Ferdinand I. tat, die Statthalterschaft und damit zumindest beschränkte Regierungsrechte übertragen. Der König übernahm nach dem Tode des Kaisers oder, wie im Falle Karls V., der Niederlegung der Krone ohne weitere Formalien die Herrschaft im Reich. Der Titel des Kaisers impliziert spätestens seit der Frühen Neuzeit mehr Machtfülle, als tatsächlich in dessen Händen lag, und ist mit dem der antiken römischen Cäsaren und auch den mittelalterlichen Kaisern nicht vergleichbar. Er konnte tatsächlich nur im Zusammenwirken mit den Reichsständen, darunter insbesondere den Kurfürsten, politisch wirksam werden. Rechtsgelehrte des 18. Jahrhunderts teilten die Befugnisse des Kaisers oft in drei Gruppen ein. Die erste Gruppe umfasste die sogenannten Komitialrechte (lateinisch iura comitialia), zu denen der Reichstag seine Zustimmung geben musste. Zu diesen Rechten gehörten alle wesentlichen Regierungshandlungen wie Reichssteuern, Reichsgesetze sowie Kriegserklärungen und Friedensschlüsse, die das ganze Reich betrafen. Die zweite Gruppe umfasste die iura caesarea reservata limitata, die begrenzten kaiserlichen Reservatrechte, für deren Ausübung die Kurfürsten zustimmen mussten oder zumindest deren Billigung eingeholt werden musste. Zu diesen Rechten gehörten die Einberufung des Reichstags und die Erteilung von Münz- und Zollrechten. Die dritte Gruppe umfasste die als iura reservata illimitata oder kurz iura reservata bezeichneten Rechte, die der Kaiser ohne Zustimmung der Kurfürsten im gesamten Reich ausüben konnte und deren Wahrnehmung nur an die Grenzen des geltenden Verfassungsrechts, wie der Wahlkapitulationen und der Rechte der Reichsstände, geknüpft war. Die wichtigsten dieser Rechte waren das Recht, Hofräte zu ernennen, dem Reichstag eine Tagesordnung vorzulegen, Standeserhöhungen vorzunehmen. Daneben gab es einige weitere Rechte, die für die Reichspolitik weniger wichtig waren, wie beispielsweise das Recht akademische Grade zu verleihen und uneheliche Kinder zu legitimieren. Die Zusammensetzung der kaiserlichen Rechte veränderte sich im Laufe der Frühen Neuzeit immer mehr in Richtung der zustimmungspflichtigen Rechte. So war das Recht die Reichsacht zu verhängen ursprünglich ein Reservatrecht, war am Ende aber der Zustimmung des Reichstages unterworfen, wurde also zu einem Komitialrecht. Reichsstände Als Reichsstände bezeichnet man diejenigen reichsunmittelbaren Personen oder Korporationen, die Sitz und Stimme im Reichstag hatten. Sie waren keinem Landesherrn untertan und entrichteten ihre Steuern an das Reich. Zu Beginn der Frühen Neuzeit hatte sich der Umfang der Reichsstandschaft endgültig herausgebildet. Neben den Unterschieden der Reichsstände entsprechend ihrem Range unterscheidet man außerdem zwischen geistlichen und weltlichen Reichsständen. Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, als im Heiligen Römischen Reich geistliche Würdenträger, wie Erzbischöfe und Bischöfe, auch Landesherren sein konnten. Neben der Diözese, in der der Bischof das Oberhaupt der Kirche bildete, regierte er oft auch über einen Teil des Diözesangebietes und war in diesem gleichzeitig der Landesherr. Dieses Gebiet wurde als Hochstift, bei Erzbischöfen als Erzstift, bezeichnet. Hier erließ er Verordnungen, zog Steuern ein, vergab Privilegien wie ein weltlicher Landesherr auch. Um diese Doppelrolle als geistliches und weltliches Oberhaupt zu verdeutlichen, wird solch ein Bischof auch als Fürstbischof bezeichnet. Erst diese weltliche Rolle der Fürstbischöfe begründete deren Zugehörigkeit zu den Reichsständen. Kurfürsten Die Kurfürsten (principes electores imperii) waren eine durch das Recht der Wahl des römisch-deutschen Königs hervorgehobene Gruppe von Reichsfürsten. Sie galten als die „Säulen des Reiches“. Das Kurfürstenkolleg vertrat gegenüber dem Kaiser das Reich und handelte als des Reiches Stimme. Das Kurkolleg war das cardo imperii, das Scharnier zwischen Kaiser und Reichsverband. Die weltlichen Kurfürsten hatten die Reichsämter inne, die sie während der Krönungsfeierlichkeiten eines neuen Königs beziehungsweise Kaisers ausübten. Das Kurkollegium bildete sich im 13. Jahrhundert heraus und ist erstmals bei der Doppelwahl von 1257 als Wahlkollegium fassbar. Im Jahr 1298 wurde es erstmals ausdrücklich als „collegium“, seine Mitglieder erstmals als „kurfursten“ benannt. Das Gremium wurde durch die Goldene Bulle von Karl IV. 1356 auf sieben Fürsten festgeschrieben. Im Spätmittelalter waren dies die drei geistlichen Kurfürsten von Mainz, Köln und Trier und vier weltliche Kurfürsten, der König von Böhmen, der Markgraf von Brandenburg, der Pfalzgraf bei Rhein und der Herzog von Sachsen. Kaiser Ferdinand II. übertrug 1623 die pfälzische Kur auf das Herzogtum Bayern. Im Westfälischen Frieden wurde die pfälzische Kur als achte erneut eingerichtet und 1692 erhielt das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg eine neunte Kur, die aber erst 1708 durch den Reichstag bestätigt wurde. Der König von Böhmen spielte eine besondere Rolle, da er sich seit den Hussitenkriegen nur noch an den Königswahlen, aber nicht mehr an den anderen Tätigkeiten des Kurkollegs beteiligte. Erst seit der „Readmission“ von 1708 änderte sich dies wieder. Durch ihr exklusives Wahlrecht, die von ihnen allein ausgehandelte Wahlkapitulation des Kaisers und durch die von ihnen ausgeübte und verteidigte Vorrangstellung gegenüber den anderen Reichsfürsten bestimmten die Kurfürsten die Reichspolitik besonders bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges entscheidend mit. Sie trugen bis in die 1630er Jahre Verantwortung für das Reich als Ganzes. Dies spiegelte sich insbesondere in den Kurfürstentagen wider. Ab da wurde der exklusive Führungsanspruch durch die anderen Reichsstände bestritten und bekämpft. Seit den 1680er Jahren gelang es, den Reichstag als Ganzes aufzuwerten, so dass der Einfluss des Kurfürstenkollegs zwar stark zurückging, aber trotzdem das erste und wichtigste Gremium des Reichstages blieb. Reichsfürsten Der Stand der Reichsfürsten hatte sich im Hochmittelalter herausgebildet und umfasste alle die Fürsten, die ihr Lehen nur und unmittelbar vom König bzw. Kaiser erhalten hatten. Es bestand also eine lehnsrechtliche Reichsunmittelbarkeit. Hinzu kamen aber auch Fürsten, die durch Standeserhebungen oder schlicht durch Gewohnheitsrecht zu den Reichsfürsten gezählt wurden. Zu den Reichsfürsten zählten Adlige, die über unterschiedlich große Territorien herrschten und unterschiedliche Titel trugen. Die Reichsfürsten gliederten sich genauso wie die Kurfürsten in eine weltliche und eine geistliche Gruppe. Nach der Reichsmatrikel von 1521 zählten zu den geistlichen Reichsfürsten die vier Erzbischöfe von Magdeburg, Salzburg, Besançon und Bremen und 46 Bischöfe. Diese Zahl verringerte sich bis 1792 auf die beiden Erzbischöfe von Salzburg und Besançon und 22 Bischöfe. Entgegen der Anzahl der geistlichen Reichsfürsten, die sich bis zum Ende des Reiches um ein Drittel reduzierte, erhöhte sich die Anzahl der weltlichen Reichsfürsten auf mehr als das Doppelte. Die Wormser Reichsmatrikel von 1521 zählte noch 24 weltliche Reichsfürsten. Ende des 18. Jahrhunderts werden hingegen 61 Reichsfürsten aufgeführt. Auf dem Augsburger Reichstag von 1582 wurde die Erhöhung der Anzahl der Reichsfürsten durch dynastische Zufälle eingeschränkt. Die Reichsstandschaft wurde an das Territorium des Fürsten gebunden. Erlosch eine Dynastie, übernahm der neue Territorialherr die Reichsstandschaft; im Falle von Erbteilungen übernahmen sie die Erben gemeinsam. Die Reichsfürsten bildeten auf dem Reichstag den Reichsfürstenrat, auch Fürstenbank genannt. Diese war entsprechend der Zusammensetzung der Fürstenschaft in eine geistliche und eine weltliche Bank geteilt. Durch die Bindung des Reichsfürstenstandes an die Herrschaft über ein Territorium war die Anzahl der Stimmen nach der Reichsmatrikel bestimmt und bildete die Grundlage für die Stimmberechtigung im Reichstag. War ein weltlicher oder geistlicher Fürst Herr über mehrere Reichsterritorien, so verfügte er auch über die dementsprechende Anzahl von Stimmen. Die größeren der Fürsten waren an Macht und Größe der regierten Territorien zumindest den geistlichen Kurfürsten überlegen und forderten deshalb seit dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts eine politische und zeremonielle Gleichstellung der Reichsfürsten mit den Kurfürsten. Reichsprälaten Neben den zu den Reichsfürsten gehörenden Erzbischöfen und Bischöfen bildeten die Vorsteher der reichsunmittelbaren Klöster und Kapitel einen eigenen Stand innerhalb des Reiches. Der Stand der Reichsprälaten bestand somit aus den Reichsäbten, Reichspröpsten und Reichsäbtissinnen. Die Reichsmatrikel von 1521 erfasste 83 Reichsprälaten, deren Anzahl sich bis 1792 durch Mediatisierungen, Säkularisationen, Abtretungen an andere europäische Staaten und Erhebungen in den Fürstenstand auf 40 verringerte. Auch der Austritt der Schweizer Eidgenossenschaft trug zur Verringerung der Zahl der Reichsprälaten bei, da unter anderem St. Gallen, Schaffhausen und Einsiedeln und damit deren Klöster nicht mehr zum Reich gehörten. Die Gebiete der Reichsprälaten waren oft sehr klein – manchmal umfassten sie nur wenige Gebäude – und konnten sich nur mit Mühe dem Zugriff der umliegenden Territorien entziehen, was auch nicht immer auf Dauer gelang. Die meisten Reichsprälaturen lagen im Südwesten des Reiches. Durch die geografische Nähe zueinander entwickelte sich ein Zusammenhalt, der sich in der Gründung des Schwäbischen Reichsprälatenkollegiums 1575 abbildete und in der Folge noch stärker wurde. Dieses Kollegium bildete auf den Reichstagen eine geschlossene Gruppe und besaß eine Kuriatsstimme, die einer Stimme eines Reichsfürsten gleichgestellt war. Alle anderen Reichprälaten bildeten das Rheinische Reichsprälatenkollegium, das auch eine eigene Stimme besaß, aber aufgrund der größeren geografischen Verteilung seiner Mitglieder nie den Einfluss des schwäbischen Kollegiums erreichte. Reichsgrafen Diese Gruppe war die zahlenmäßig größte unter den Reichsständen und vereinigte diejenigen Adligen, denen es nicht gelungen war, ihren Besitz in ein Königslehen umzuwandeln, da die Grafen ursprünglich nur Verwalter von Reichseigentum bzw. Stellvertreter des Königs in bestimmten Gebieten waren. Trotzdem verfolgten die Grafen wie die größeren Fürsten das Ziel, ihren Besitz in einen Territorialstaat umzuwandeln. Faktisch waren sie schon seit dem Hochmittelalter Landesherren und wurden auch gelegentlich in den Reichsfürstenstand erhoben, wie man an dem Beispiel der größten Grafschaft Württemberg sieht, die 1495 zum Herzogtum erhoben wurde. Die zahlreichen, zumeist kleinen reichsunmittelbaren Gebiete der Reichsgrafen – die Reichsmatrikel von 1521 zählt 143 Grafen auf – trugen sehr stark zum Eindruck der Zersplitterung des Reichsgebietes bei. In der Liste von 1792 tauchen immerhin noch fast 100 Reichsgrafen auf, was trotz zahlreicher Mediatisierungen und dem Erlöschen von Adelsgeschlechtern auf den Umstand zurückzuführen ist, dass im Laufe der Frühen Neuzeit zahlreiche Personen in den Reichsgrafenstand erhoben wurden, die aber nicht mehr über reichsunmittelbares Gebiet verfügten. Reichsstädte Die Reichsstädte bildeten eine politische und rechtliche Ausnahme, da sich in diesem Fall die Reichsstandschaft nicht auf eine Einzelperson bezog, sondern auf die Stadt als Ganzes, die vom Rat vertreten wurde. Von den anderen Städten des Reiches hoben sie sich dadurch ab, dass sie nur den Kaiser als Herrn hatten. Rechtlich waren sie den anderen Reichsterritorien gleichgestellt. Allerdings besaßen nicht alle reichsunmittelbaren Städte Sitz und Stimme im Reichstag und damit die Reichsstandschaft. Von den 1521 in der Reichsmatrikel erwähnten 86 Reichsstädten konnten sich nur drei Viertel die Mitgliedschaft im Reichstag sichern. Bei den anderen war die Reichsstandschaft umstritten beziehungsweise niemals gegeben. So konnte Hamburg beispielsweise seinen Sitz im Reichstag erst 1770 einnehmen, da Dänemark die gesamte Frühe Neuzeit über diesen Status bestritten hatte und dieser erst 1768 im Gottorper Vertrag endgültig festgestellt wurde. Die Wurzeln der frühneuzeitlichen Reichsstädte lagen einerseits in den mittelalterlichen Stadtgründungen der römisch-deutschen Könige und Kaiser, die dann als des Reichs Städte angesehen wurden und nur dem Kaiser untertan waren. Auf der anderen Seite gab es Städte, die sich im Spätmittelalter, verstärkt seit dem Investiturstreit, aus der Herrschaft eines meist geistlichen Stadtherren befreien konnten. Diese als „Freie Städte“ bezeichneten Städte hatten im Gegensatz zu den Reichsstädten keine Steuern und Heeresleistungen an den Kaiser zu entrichten. Seit 1489 bildeten die Reichsstädte und die Freien Städte das Reichsstädtekollegium und wurden unter dem Begriff „Freie- und Reichsstädte“ zusammengefasst. Im Sprachgebrauch verschmolz diese Formel im Laufe der Zeit zur „Freien Reichsstadt“. Bis 1792 nahm die Zahl der Reichsstädte auf 51 ab. Nach dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 blieben als Reichsstädte sogar nur noch die Städte Hamburg, Lübeck, Bremen, Frankfurt, Augsburg und Nürnberg übrig. Die Rolle und Bedeutung der Städte nahm seit dem Mittelalter ebenfalls immer mehr ab, da viele nur sehr klein waren und sich häufig dem Druck der umliegenden Territorien nur schwer widersetzen konnten. Bei den Beratungen des Reichstages wurde die Meinung der Reichsstädte meist nur pro forma zur Kenntnis genommen, nachdem sich die Kurfürsten und die Reichsfürsten geeinigt hatten. Weitere unmittelbare Glieder Reichsritter Der reichsunmittelbare Stand der Reichsritter gehörte nicht den Reichsständen an und fand auch keine Beachtung in der Reichsmatrikel von 1521. Die Reichsritter gehörten dem niederen Adel an und waren zu Beginn der Frühen Neuzeit als eigener Stand erkennbar. Zwar gelang ihnen nicht wie den Reichsgrafen die volle Anerkennung, jedoch konnten sie sich dem Zugriff der diversen Territorialfürsten widersetzen und ihre Reichsunmittelbarkeit bewahren. Sie genossen den besonderen Schutz des Kaisers, blieben aber vom Reichstag ausgeschlossen und wurden auch nicht in die Reichskreisverfassung einbezogen. Ab dem Spätmittelalter schlossen sich die Reichsritter in Ritterbünden zusammen, die es ihnen erlaubten, ihre Rechte und Privilegien zu bewahren und ihre Pflichten gegenüber dem Kaiser zu erfüllen. Deshalb organisierte sich die Reichsritterschaft ab der Mitte des 16. Jahrhunderts in insgesamt 15 Ritterorten, die wiederum, bis auf eine Ausnahme in drei Ritterkreisen zusammengefasst wurden. Die Ritterorte wurden seit dem 17. Jahrhundert nach dem Vorbild der Schweizer Eidgenossenschaft „Kantone“ genannt. Seit 1577 fanden zwar als „Generalkorrespondenztage“ bezeichnete Zusammenkünfte der Reichsritterschaft statt, jedoch blieben die Kreise und besonders die Kantone auf Grund der starken territorialen Verankerung der Ritter wesentlich wichtiger. Die Reichsritter wurden sehr häufig durch den Kaiser zu Kriegsdiensten herangezogen und gewannen dadurch einen sehr großen Einfluss im Militär und der Verwaltung des Reiches, aber auch auf die Territorialfürsten. Reichsdörfer Die Reichsdörfer wurden im Westfälischen Frieden von 1648 neben den anderen Reichsständen und der Reichsritterschaft anerkannt. Diese Überbleibsel der im 15. Jahrhundert aufgelösten Reichsvogteien waren zahlenmäßig gering und bestanden aus auf ehemaligen Krongütern gelegenen Gemeinden, Reichsflecken oder waren sogenannte Freie Leute. Sie besaßen die Selbstverwaltung und hatten die niedere, teilweise sogar die hohe Gerichtsbarkeit und unterstanden nur dem Kaiser. Von den ursprünglich 120 urkundlich bekannten Reichsdörfern existierten 1803 nur noch fünf, die im Rahmen des Reichsdeputationshauptschlusses mediatisiert, also benachbarten großen Fürstentümern zugeschlagen wurden. Institutionen Reichstag Der Reichstag war das bedeutendste und dauerhafteste Ergebnis der Reichsreformen des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Er entwickelte sich seit der Zeit Maximilians I. zur obersten Rechts- und Verfassungsinstitution, ohne dass es einen formellen Einsetzungsakt oder eine gesetzliche Grundlage gab. Im Kampf um eine stärker zentralistische oder stärker föderalistische Prägung des Reiches zwischen dem Kaiser und den Reichsfürsten entwickelte er sich zu einem der Garanten für den Erhalt des Reiches. Bis 1653/54 trat der Reichstag in verschiedenen Reichsstädten zusammen und bestand seit 1663 als Immerwährender Reichstag in Regensburg. Der Reichstag durfte nur vom Kaiser einberufen werden, der aber seit 1519 verpflichtet war, vor Versendung der „Ausschreiben“ genannten Einladungsschreiben die Kurfürsten um Zustimmung zu bitten. Der Kaiser hatte ebenfalls das Recht die Tagesordnung festzulegen, wobei er aber nur einen geringen Einfluss auf die tatsächlich diskutierten Themen hatte. Die Leitung des Reichstages hatte der Kurfürst von Mainz inne. Der Reichstag konnte einige Wochen bis mehrere Monate dauern. Die Beschlüsse des Reichstages wurden in einem beurkundeten Dokument niedergelegt, dem Reichsabschied. Der letzte dieser Reichsabschiede war der Jüngste Reichsabschied (recessus imperii novissimus) von 1653/54. Die Permanenz des Immerwährenden Reichstags nach 1663 wurde nie formell beschlossen, sondern entwickelte sich aus den Umständen der Beratungen. Der Immerwährende Reichstag entwickelte sich aufgrund seiner Permanenz recht schnell zu einem reinen Gesandtenkongress, auf dem die Reichsstände nur sehr selten erschienen. Da der Immerwährende Reichstag seit 1663 nicht formell beendet wurde, wurden seine Beschlüsse in Form sogenannter Reichsschlüsse niedergelegt. Die Ratifizierung dieser Beschlüsse wurde meist durch den Vertreter des Kaisers beim Reichstag, den Prinzipalkommissar, in Form eines „Kaiserlichen Commissions-Decrets“ durchgeführt. Die Entscheidungen wurden in einem langwierigen und komplizierten Entscheidungs- und Beratungsverfahren getroffen. Wenn durch Mehrheits- oder einstimmigen Beschluss Entscheidungen in den jeweiligen Ständeräten getroffen waren, wurden die Beratungsergebnisse ausgetauscht und versucht, dem Kaiser einen gemeinsamen Beschluss der Reichsstände vorzulegen. Auf Grund der immer schwerer werdenden Entscheidungsprozesse wurde auch versucht, die Entscheidung mittels verschiedener Ausschüsse zu erleichtern. Nach der Reformation und dem Dreißigjährigen Krieg bildeten sich infolge der Glaubensspaltung 1653 das Corpus Evangelicorum und später das Corpus Catholicorum. Diese versammelten die Reichsstände der beiden Konfessionen und berieten getrennt die Reichsangelegenheiten. Der Westfälische Frieden bestimmte nämlich, dass in Religionsangelegenheiten nicht mehr das Mehrheitsprinzip, sondern das Konsensprinzip gelten sollte. Reichskreise Die Reichskreise entstanden infolge der Reichsreform am Ende des 15. Jahrhunderts beziehungsweise zu Beginn des 16. Jahrhunderts und der Verkündung des Ewigen Landfriedens in Worms 1495. Sie dienten hauptsächlich der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung des Landfriedens durch den geographischen Zusammenhang seiner Mitglieder. Ausbrechende Konflikte sollten bereits auf dieser Ebene gelöst und über Störer des Landfriedens gerichtet werden. Außerdem verkündeten die Kreise die Reichsgesetze und setzten sie notfalls auch durch. Die ersten sechs Reichskreise wurden auf dem Reichstag von Augsburg 1500 im Zusammenhang mit der Bildung des Reichsregiments eingerichtet. Sie wurden lediglich mit Nummern bezeichnet und setzten sich aus Reichsständen aller Gruppen, mit Ausnahme der Kurfürsten, zusammen. Mit der Schaffung vier weiterer Reichskreise 1512 wurden nun auch die österreichischen Erblande und die Kurfürstentümer mit in die Kreisverfassung eingebunden. Außerhalb der Kreiseinteilung blieben bis zum Ende des Reiches das Kurfürstentum und Königreich Böhmen mit den zugehörigen Gebieten Schlesien, Lausitz und Mähren. Ebenso nicht eingebunden wurden die Schweizerische Eidgenossenschaft, die Reichsritterschaft, die Lehnsgebiete in Reichsitalien und einige Reichsgrafschaften und -herrschaften, wie beispielsweise Jever. Reichskammergericht Das Reichskammergericht wurde im Zuge der Reichsreform und der Errichtung des Ewigen Landfriedens 1495 unter dem römisch-deutschen König Maximilian I. errichtet und hatte bis zum Ende des Reiches 1806 Bestand. Es war neben dem Reichshofrat das oberste Gericht des Reiches und hatte die Aufgabe ein geregeltes Streitverfahren an die Stelle von Fehden, Gewalt und Krieg zu setzen. Es ermöglichte als Appellationsgericht auch Prozesse von Untertanen gegen ihren jeweiligen Landesherrn. Nach seiner Gründung am 31. Oktober 1495 hatte das Gericht seinen Sitz in Frankfurt am Main. Nach Zwischenstationen in Worms, Augsburg, Nürnberg, Regensburg, Speyer und Esslingen war es ab 1527 in Speyer und nach dessen Zerstörung infolge des Pfälzischen Erbfolgekrieges von 1689 bis 1806 in Wetzlar ansässig. Nach den Beschlüssen des Reichstages von Konstanz 1507 entsandten die Kurfürsten je einen von den insgesamt 16 Assessoren, also den Beisitzern des Gerichtes. Der römisch-deutsche König benannte für Burgund und Böhmen je zwei und jeder der 1500 gebildeten Reichskreise durfte einen Beisitzer zum Reichskammergericht entsenden. Außerdem wurden die letzten beiden Sitze auf Vorschlag der Reichskreise durch den Reichstag gewählt, so dass die Assessoren des Reichskammergerichts zur Hälfte aus Vertretern der Reichskreise bestanden. Auch als 1555 die Anzahl der Beisitzer auf 24 erhöht wurde, blieb die Rolle der Reichskreise entsprechend ihrer Wichtigkeit für den Landfrieden erhalten. Seitdem durfte jeder Reichskreis einen ausgebildeten Juristen und einen Vertreter der Reichsritterschaft entsenden, also jetzt zwei Vertreter. Auch nach dem Westfälischen Frieden, in dem die Anzahl auf 50 erhöht wurde, und dem Jüngsten Reichsabschied wurde die Hälfte der Assessoren mit Vertretern der Reichskreise besetzt. Durch die Einrichtung des Gerichtes wurde die oberste Richterfunktion des Königs und Kaisers aufgehoben und dem Einfluss der Reichsstände zugänglich. Dies war bei dem seit Anfang des 15. Jahrhunderts bestehenden königlichen Kammergericht nicht der Fall gewesen. Die erste Reichskammergerichtsordnung vom 7. August 1495 begründete Unser [also des Königs] und des Hailigen Reichs Cammergericht. Vom selben Tag datieren auch die Urkunden zum Ewigen Landfrieden, Handhabung Friedens und Rechts und die Ordnung des Gemeinen Pfennigs, die alle zusammen den Erfolg der Reichsstände gegenüber dem Kaiser zeigen, was sich auch bei den Regelungen für das Gericht bezüglich Tagungsort, eine von der Residenz des Kaisers weit entfernte Reichsstadt, Finanzierung und personeller Zusammensetzung zeigte. Die Partizipation der Stände an der Einrichtung und Organisation des Gerichtes hatte aber zur Folge, dass diese sich an der Finanzierung beteiligen mussten, da dessen Gebühren und sonstige Einnahmen dafür nicht ausreichten. Wie wichtig aber das Gericht den Ständen war, zeigt die Tatsache, dass mit dem Kammerzieler die einzige ständige Reichssteuer durch diese bewilligt wurde, nachdem der Gemeine Pfennig als allgemeine Reichssteuer 1507 im Reichsabschied von Konstanz scheiterte. Trotz festgelegter Höhe und Zahlungstermine kam es aber immer wieder durch Zahlungsverzug beziehungsweise -verweigerung zu finanziellen Schwierigkeiten und auch noch im 18. Jahrhundert zu dadurch verursachten langen Unterbrechungen in der Arbeit des Gerichtes. Reichshofrat Der Reichshofrat war neben dem Reichskammergericht die oberste gerichtliche Instanz. Seine Mitglieder wurden allein vom Kaiser ernannt und standen diesem, zusätzlich zu den gerichtlichen Aufgaben, auch als Beratungsgremium und Regierungsbehörde zur Verfügung. Neben den Rechtsgebieten, die auch durch das Reichskammergericht behandelt werden konnten, gab es einige Streitfälle, die nur vor dem Reichshofrat verhandelt werden konnten. So war der Reichshofrat ausschließlich zuständig für alle Fälle, die Reichslehnsachen, inklusive Reichsitalien, und die kaiserlichen Reservatrechte betrafen. Da sich der Reichshofrat im Gegensatz zum Reichskammergericht nicht streng an die damalige Gerichtsordnung halten musste und sehr oft auch davon abwich, waren Verfahren vor dem Reichshofrat im Allgemeinen zügiger und unbürokratischer. Außerdem beauftragte der Reichshofrat häufig örtliche, nicht am Konflikt beteiligte Reichsstände mit der Bildung einer „Kommission“, die die Vorgänge vor Ort untersuchen sollte. Auf der anderen Seite überlegten sich protestantische Kläger oft, ob sie tatsächlich vor einem Gericht des Kaisers, der stets katholisch war und auch bis ins 18. Jahrhundert nur Katholiken in den Reichshofrat berief, klagen wollten. Reichsmilitärwesen Kannte das Reich im Mittelalter vor allem das Heeresaufgebot von Kaisern, Herzögen bzw. Kurfürsten und der Städte, entwickelte sich ab dem 15. Jahrhundert ein Reichsmilitärwesen, das aber niemals mit den im Absolutismus aufkommenden Stehenden Heeren vergleichbar war. Zum einen gab es ein „Kaiserliches Heer“, das sich privilegiert bis zuletzt aus dem ganzen Reich rekrutierte, aber zunehmend den habsburgischen Hausinteressen diente. Zum anderen schuf die sich aus dem ersten Reichsmatrikel von 1422 sich entwickelnde Reichsheeresverfassung zusätzlich eine Reichsarmee, die mit der Reichsgeneralität vom Reichstag entsprechend der Reichsexekutionsordnung von 1555 eingesetzt wurde. In der Reichsdefensionalordnung von 1681, die im Kern bis 1806 gültig war, erfolgte eine neue Aufteilung in die Truppenkontingente der Reichskreise, die Gesamtsumme (Simplum) wurde auf 40.000 Soldaten erhöht. Daneben stellten die besonders gefährdeten vorderen Reichskreise in Zeiten der Gefahr als Kreisassoziationen beträchtliche Truppenkontingente auf. Das im Westfälischen Frieden verankerte Recht der einzelnen Landesherren auf eigene Truppen („jus armorum et foederum“) nutzten die großen Reichsstände zur Aufstellung separater stehender Heere, so bereits ab 1644 Brandenburg, ab 1682 Bayern und Sachsen. Zersplittert in Aufgebote der Reichskreise und darin in Kreisständen leistete die Reichsarmee gemeinsam mit dem Kaiserlichen Heer Dienste in den Reichskriegen gegen die Türken und Frankreich, verlor aber spätestens nach der Niederlage bei der Schlacht bei Roßbach 1757 bei der Reichsexekution gegen Preußen seine Bedeutung. Seine letzten Einsätze hatte das Reichsheer in den Koalitionskriegen. Die Kaiserliche Armee wurde weitgehend in die Kaiserlich-Königliche Armee des Kaisertums Österreich überführt. Reichsgebiet und Bevölkerung Gebiet des Reiches Zum Zeitpunkt der Entstehung des Reiches umfasste das Reichsgebiet etwa 470.000 Quadratkilometer und wurde nach groben Schätzungen um das Jahr 1000 von zehn und mehr Einwohnern pro Quadratkilometer bewohnt. Dabei ist das in der Antike zum Römischen Reich gehörende Gebiet im Westen dichter besiedelt als die Gebiete im Osten. Vom 11. bis zum 14. Jahrhundert verdreifachte sich die Bevölkerung auf ungefähr 12 Millionen; im Zuge der Pestwellen und der Flucht vieler Juden nach Polen im 14. Jahrhundert verringerte sich nach vorsichtigen Schätzungen die Bevölkerungszahl in Deutschland um ein Drittel. Das Reich bestand seit 1032 aus dem Regnum Francorum (Ostfrankenreich), später auch Regnum Teutonicorum genannt, dem Regnum Langobardorum oder Regnum Italicum im heutigen Nord- und Mittelitalien (Reichsitalien) und dem Königreich Burgund. Der Prozess der Nationalstaatsbildung und dessen Institutionalisierung in den anderen europäischen Ländern wie Frankreich und England im Spätmittelalter und der beginnenden Neuzeit umfasste auch die Notwendigkeit, klar umrissene Außengrenzen zu besitzen, innerhalb derer der Staat präsent war. Im Mittelalter handelte es sich trotz der auf modernen Karten vermeintlich erkennbaren präzise definierten Grenzen um mehr oder minder breite Grenzsäume mit Überlappungen und verdünnter Herrschaftspräsenz der einzelnen Reiche. Seit dem 16. Jahrhundert kann man für die Reichsterritorien und die anderen europäischen Staaten im Prinzip eine fest umrissene Staatsfläche erkennen. Das Heilige Römische Reich umfasste hingegen die ganze Frühe Neuzeit hindurch Gebiete mit einer engen Bindung an das Reich, Zonen mit verdünnter Präsenz des Reiches und Randbereiche, die sich gar nicht am politischen System des Reiches beteiligten, obwohl sie im Allgemeinen zum Reich gerechnet wurden. Die Reichszugehörigkeit definierte sich vielmehr aus der aus dem Mittelalter stammenden lehnsrechtlichen Bindung an den König bzw. Kaiser und den daraus folgenden rechtlichen Konsequenzen. Die Mitgliedschaft zum Lehnsverband und der Umfang der lehnsrechtlichen Bindung an den Herrscher waren selten eindeutig. Ziemlich klar fassbar sind die Grenzen des Reiches im Norden auf Grund der Meeresküsten und entlang der Eider, die die Herzogtümer Holstein, das zum Reich gehörte, und Schleswig, das ein Lehen Dänemarks war, voneinander trennte. Im Südosten, wo die österreichischen Erblande der Habsburger mit Österreich unter der Enns, der Steiermark, Krain, Tirol und dem Hochstift Trient die Grenzen des Reiches markierten, sind die Grenzen auch klar erkennbar. Im Nordosten gehörten Pommern und Brandenburg zum Reich. Das Gebiet des Deutschen Ordens wird hingegen von den meisten heutigen Historikern nicht als zum Reich gehörig betrachtet, obwohl es deutsch geprägt war und schon 1226 vor seiner Gründung in der Goldbulle von Rimini als kaiserliches Lehen betrachtet wurde, das er mit Privilegien ausstattet, was natürlich sinnlos gewesen wäre, wenn er das Gebiet nicht als zum Reich zugehörig betrachtet hätte. Auch erklärte der Augsburger Reichstag von 1530 Livland zum Mitglied des Reiches, und die Umwandlung des Ordensgebietes Preußen in ein polnisches Lehensherzogtum wurde vom Reichstag lange nicht akzeptiert. Das Königreich Böhmen wird im Allgemeinen auf Karten als zum Reich zugehörig dargestellt. Dies ist insofern richtig, als Böhmen kaiserliches Lehnsgebiet war und der böhmische König, den es aber erst seit der Stauferzeit gab, dem Kreis der Kurfürsten angehörte. Im Westen und Südwesten des Reiches lassen sich kaum unstrittige Grenzen angeben. Sehr gut ist dies am Beispiel der Niederlande zu erkennen. Die Gebiete des heutigen Belgiens und der Niederlande wurden bereits in 1473 von dem Haus Burgund vereint und durch den Burgundischen Vertrag von 1548 zu einem Gebiet mit stark verringerter Reichspräsenz gemacht, beispielsweise aus der Gerichtshoheit des Reiches entlassen. Bereits kurz nach Beginn des Niederländischen Aufstands bildeten die Niederlande in der Praxis einen unabhängigen Staat, doch wurden sie erst zum Ende des Achtzigjährigen Krieges im Westfälischen Frieden 1648 auch de jure endgültig als souverän anerkannt. Die Südlichen Niederlande fielen 1714 an Österreich. Als Österreichische Niederlande bildete dieses Gebiet einen nahezu selbständigen Staat, der nur durch Personalunion mit den übrigen österreichischen Gebieten verbunden war. Von Frankreich mehr oder minder allmählich aus dem Reichsverband gelöst wurden im 16. Jahrhundert die Hochstifte Metz, Toul und Verdun und im späten 17. Jahrhundert durch die „Reunionspolitik“ weitere reichsständische Gebiete. Dazu gehörte die Annexion der Reichsstadt Straßburg 1681. Das bereits aufgestellte Heer mit 40.000 Mann zur Befreiung der Stadt konnte nicht eingreifen, da gleichzeitig Truppen zur Türkenabwehr vor Wien gebraucht wurden. Das seit dem Vertrag von Nürnberg 1542 nur noch lose an das Reich gebundene und mehrfach französisch besetzte Lothringen gelangte 1737/38 in einem französisch-habsburgischen Tauschgeschäft im Frieden von Wien an Stanislaus Leszczyński, den entthronten König von Polen und Schwiegervater des französischen Königs. Erst nach Stanislaus’ Tod 1766 fiel das Gebiet direkt an die französische Krone. Die Schweizer Eidgenossenschaft gehört de jure seit 1648 nicht mehr zum Reich, aber bereits seit dem Frieden zu Basel 1499 haben die Eidgenossen keine Reichssteuer bezahlt und kaum mehr an der Reichspolitik teilgenommen. Trotzdem lässt sich die früher vertretene These nicht halten, der Frieden zu Basel habe de facto ein Ausscheiden der Eidgenossenschaft aus dem Reich bedeutet, denn die eidgenössischen Orte verstanden sich weiterhin als ein Teil des Reichs. Das südlich der Schweiz gelegene Savoyen gehörte juristisch gesehen sogar bis 1801 zum Reich, seine faktische Zugehörigkeit zum Reich war aber schon längst gelockert. Die Gebiete Reichsitaliens mit vielen kleinen Lehensgebieten und den großen Territorien des Großherzogtums Toskana, den Herzogtümern Mailand, Mantua, Modena, Parma und Mirandola, gehörten lehensrechtlich zum Reich, waren aber bis auf die gerichtliche Zuständigkeit des Reichshofrats nicht in die Reichsinstitutionen eingebunden. Sie waren nicht in die Kreisordnung integriert und hatten keine Rechte in der Reichsverfassung. Der Kaiser war zwar auch König von Italien, aber einen Einfluss auf die Wahl hatten die Kommunen und Territorien nicht. Während Kaiser und Reich in den großen Territorialstaaten Reichsitaliens nur wenige Durchgriffsmöglichkeiten hatten, waren die kleinen Reichslehen stark abhängig von der Belehnung durch Kaiser oder Reichshofrat und dem kaiserlichen Schutz vor den großen Territorien. Reichsitalien existierte bis zu den Französischen Revolutionskriegen, schwand in seiner Bedeutung aber Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend zu einem Anhängsel der österreichischen Besitztümer in Italien. Bevölkerung Das Reich hatte eine ethnisch vielfältige Bevölkerung. Diese umschloss neben deutschsprachigen Gebieten auch Bevölkerungsgruppen anderer Sprachen. So wurde es im Osten von Menschen mit slawischen Sprachen sowie im romanischen Westen und in Reichsitalien mit Sprachen, aus denen sich das moderne Französisch bzw. Italienisch entwickelte, bevölkert. Kaiser Heinrichs VII. Muttersprache war Französisch. Kaiser Karl V. wuchs in Gent mit Niederländisch und Französisch als Muttersprachen auf und lernte Deutsch erst, als er für die römisch-deutsche Königswürde kandidierte. Ebenso unterschieden sich die deutschen Sprachgebiete aufgrund unterschiedlicher historischer Voraussetzungen erheblich: Nach der Zeit der Völkerwanderungen waren die östlichen Bereiche des später (im ausgehenden Mittelalter) deutschsprachigen Teils des Reichs hauptsächlich slawisch besiedelt, die westlichen überwiegend germanisch. Im germanisch dominierten westlichen Bereich gab es vor allem im Süden auch noch keltische Einflüsse sowie Einflüsse des antiken Römischen Reiches. Diese Einflüsse waren regional sehr unterschiedlich. Im Laufe der Zeit mischten sich die verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Besonders vielfältig war die ethnische Mischung im Bereich, der einst zum Gebiet des antiken Römischen Reiches gehörte (südwestlich des Limes), trotz Völkerwanderung waren hier teilweise ethnische Einflüsse aus unterschiedlichen Regionen des Römischen Reichs vorhanden. Die östlichen Bereiche des deutschen Sprachraums wurden erst nach und nach Teil des Reiches, manche auch nie (z. B. Ostpreußen). Diese ehemals nahezu rein baltisch besiedelten Bereiche wurden infolge der Ostsiedlung durch Siedler aus den westlichen Bereichen in unterschiedlichem Ausmaß germanisiert. In den meisten Bereichen vermischten sich baltische, slawische und germanische Bevölkerungsteile im Laufe der Jahrhunderte. Über die Jahrhunderte veränderte sich die Bevölkerungsmischung im Heiligen Römischen Reich nahezu kontinuierlich größtenteils durch Zu- und Abwanderung aus dem/ins Ausland und durch Wanderungsbewegungen innerhalb der Reichsgrenzen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde teils eine gezielte Migrationspolitik betrieben, z. B. in Preußen, die zu erheblicher Zuwanderung in die betreffenden Gebiete führte. Siehe auch Ausstellung Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation Liste der römisch-deutschen Herrscher Liste der Ehefrauen der römisch-deutschen Herrscher Quellenausgaben und Übersetzungen Für das mittelalterliche Reich sind die wichtigsten Quellen in den diversen Ausgaben der Monumenta Germaniae Historica ediert. Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters sind mit deutscher Übersetzung in der Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe gesammelt. Ältere, teils bis heute nicht ersetzte Übersetzungen finden sich in der Reihe Die Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit. Zur Stadtgeschichte sind Die Chroniken der deutschen Städte von Bedeutung. Wichtig sind des Weiteren die Regesta Imperii, in denen teilweise weit verstreutes Material verarbeitet ist. Einen Quellenüberblick bieten die Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters. Für das frühneuzeitliche Reich fließen die Quellen (offizielle Dokumente, Tagebücher, Briefe, Geschichtswerke etc.) noch wesentlich reichhaltiger. Wichtig für die Reichsgeschichte sind unter anderem die Reichstagsakten (ab dem ausgehenden Spätmittelalter) und die verschiedenen Dokumente in den Archiven (des Reichs, der Städte und der Landesherren). Allgemeine Quellensammlungen in deutscher Übersetzung bieten beispielsweise Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung (epochenübergreifend) und zur Verfassungsgeschichte Arno Buschmann. Literatur Eine umfassende und bis Ende 2015 reichende bibliographische Onlinedatenbank bieten unter anderem die Jahresberichte für deutsche Geschichte. Gesamtdarstellungen Klaus Herbers, Helmut Neuhaus: Das Heilige Römische Reich – Schauplätze einer tausendjährigen Geschichte (843–1806). Böhlau, Köln [u. a.] 2005, ISBN 3-412-23405-2; Klaus Herbers, Helmut Neuhaus: Das Heilige Römische Reich. Ein Überblick. Böhlau, Köln 2010, ISBN 978-3-8252-3298-6 (leicht modifizierte und weniger bebilderte Studienausgabe). Wilhelm Brauneder, Lothar Höbelt (Hrsg.): Sacrum Imperium. Das Reich und Österreich 996–1806. Amalthea, Wien 1996, ISBN 3-85002-390-7. Ausstellung Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962–1806. 29. Ausstellung des Europarates in Magdeburg und Berlin 2006, Ausstellung erster Abschnitt: Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters. In Magdeburg 2006. Katalog in 2 Bänden von Matthias Puhle, Claus-Peter Hasse (Hrsg.): Band 1: Katalog. Band 2: Essays. Sandstein Verlag Dresden 2006, ISBN 3-937602-68-2. (Gesamtausgabe). Katalog und Essayband im Schuber, ISBN 3-937602-59-3 (Katalog – Museumsausgabe). Ausstellung zweiter Abschnitt: Altes Reich und neue Staaten 1495–1806. Dresden 2006, Katalog hrsg. von Hans Ottomeyer u. a. Band I: Katalog, Band II: Essayband, ISBN 978-3-937602-67-7. Erwin Gatz: Atlas zur Kirche in Geschichte und Gegenwart. Heiliges Römisches Reich – deutschsprachige Länder. Schnell und Steiner, Regensburg 2009, ISBN 978-3-7954-2181-6. Werner Paravicini, Jörg Wettlaufer, Jan Hirschbiegel (Hrsg.): Residenzenforschung. Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Grafen und Herren. Thorbecke, Ostfildern 2012, ISBN 978-3-7995-4525-9. Peter H. Wilson: The Holy Roman Empire. A Thousand Years of Europe’s History. Allen Lane, London 2016, ISBN 978-1-84614-318-2. Mittelalter Heinz Angermeier: Reichsreform 1410–1555. Beck, München 1984, ISBN 3-406-30278-5. Johannes Fried: Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024. Propyläen, Berlin 1994 (ND 1998), ISBN 3-549-05811-X. Hagen Keller: Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer 1024–1250. Propyläen, Berlin 1986, ISBN 3-549-05812-8. 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Vom Beginn der Revolutionskriege zum Deutschen Bund und zur Neuordnung Europas (PDF; 80 kB) Anmerkungen Historisches Territorium (Deutschland) Staat (Mittelalter) Historischer Staat (Neuzeit) Kaiserreich Aufgelöst 1806
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Höckerschwan
Der Höckerschwan (Cygnus olor) ist eine Vogelart, die innerhalb der Entenvögel (Anatidae) zur Gattung der Schwäne (Cygnus) und zur Unterfamilie der Gänse (Anserinae) gehört. Als halbdomestizierter Vogel ist er heute in weiten Bereichen Mitteleuropas beheimatet. Er hält sich bevorzugt auf Seen, Park- und Fischteichen, in seichten Meeresbuchten und im Winter auch auf offenen Flussläufen auf. Namensgebend für die Art ist der schwarze Höcker am Schnabelansatz. Schwäne haben in Mitteleuropa nur wenige Fressfeinde. Höckerschwäne gehören in Deutschland zu den jagdbaren Tierarten, und jedes Jahr werden mehrere Tausend geschossen. Zu einer Bestandsregulierung kommt es durch die stark ausgeprägte Territorialität der Schwäne während der Brutzeit sowie durch Verluste in strengen Winterhalbjahren. Aussehen Ausgewachsene Höckerschwäne Der Höckerschwan kann eine Körperlänge von bis zu 160 Zentimetern und eine Spannweite von 240 Zentimetern erreichen. In der Regel wiegen ausgewachsene Männchen zwischen 10,6 und 13,5 Kilogramm, maximal sind für Männchen 14,3 kg nachgewiesen worden. Das Körpergewicht der Weibchen bleibt erheblich darunter und beträgt in der Regel nicht mehr als 10 Kilogramm. Der Höckerschwan ist damit in Mitteleuropa der größte heimische Wasservogel und gehört zu den schwersten flugfähigen Vögeln weltweit. Höckerschwäne erreichen oft ein Alter von 16 bis zu 20 Jahren. Der älteste jemals entdeckte Schwan wurde Anfang 2009 nahe der dänischen Hafenstadt Korsør gefunden. An ihm wurde ein Ring mit der Kennung „Helgoland 112851“ (angebracht am 21. Februar 1970 in Heikendorf an der Kieler Förde) gefunden, was bedeutet, dass er 40 Jahre alt wurde. Erwachsene Vögel besitzen ein einheitlich weißes Gefieder. Durch den orange-rot gefärbten Schnabel mit schwarzer Schnabelspitze und -wurzel kann er von anderen Schwänen unterschieden werden. Der schwarze Schnabelhöcker ist am stärksten bei Männchen während der Brutzeit ausgebildet. Weibchen haben im Schnitt außerdem eine etwas geringere Körpergröße, ansonsten besteht kein auffälliger Geschlechtsdimorphismus. Die Füße und Beine sind bei beiden Geschlechtern schwarz. Die Augen sind haselnussfarben. Höckerschwäne tragen ihren Hals häufig S-förmig gebogen. Während der Brutzeit ist häufig eine Imponierhaltung zu beobachten, bei der der Hals stark zurückgebogen, der Schnabel nach unten gesenkt und die Schwingen segelartig gelüftet sind. Höckerschwäne mausern einmal im Jahr ihr Gefieder. Sie sind dann für einen Zeitraum von sechs bis acht Wochen flugunfähig. Bei brütenden Weibchen beginnt die Mauser, noch während die Dunenküken klein sind. Die Mauser der Männchen solcher erfolgreicher Brutpaare beginnt, wenn beim Weibchen die Flugfedern wieder nachgewachsen sind. Dunenküken und Jungvögel Dunenküken haben ein hell silbergraues Gefieder mit einer weißen Unterseite. Der Schnabel ist schwarz, die Füße und Beine dunkelgrau. Noch nicht ausgewachsene Jungvögel haben ein dumpf graubraunes Gefieder, das im Verlauf des ersten Lebensjahres zunehmend heller wird. Der Schnabel ist noch grau bis fleischfarben, wird dabei zunehmend mehr orange. Die braunen Federn werden allmählich verloren. Ein vollständig weißes Gefieder weisen die Jungschwäne nach der Vollmauser im zweiten Lebensjahr auf. Die Farbmorphe immutabilis Für den Höckerschwan werden keine Unterarten beschrieben. Es wird allerdings eine Farbmorphe unterschieden, die als immutabilis oder auch „Polnischer Schwan“ bezeichnet wird. Diese Farbvariante weist kein Melanin auf, so dass die Dunenküken und Jungvögel weiß erscheinen. Sie weisen bis zur Geschlechtsreife pinkfarbene bis gelbe Füße und Beine auf und sind an diesem Merkmal identifizierbar. Ausgewachsene Schwäne dieser Farbvariante haben hellgraue bis fleischfarbene Beine. Das Auftreten dieser Farbvariante ist häufiger bei im Osten Europas brütenden Höckerschwänen sowie bei den in den USA eingeführten Schwänen zu beobachten und tritt bei weiblichen Höckerschwänen häufiger als bei Männchen auf. Es gilt als wahrscheinlich, dass diese Farbmorphe in historischer Zeit gezielt gezüchtet wurde, da eine Zeitlang ein Handel mit Schwanenhäuten stattfand und die Häute der immutabilis-Morphe früher verkaufsfähig waren. Ausgewachsene Höckerschwäne reagieren auf die weißen Dunenküken und Jungvögel aggressiver und diese werden früher als graubraune Jungvögel aus dem Territorium vertrieben. Ihre Mortalitätsrate ist im Vergleich zu den normalfarbenen Jungvögeln daher höher. Die Immutabilis-Variante wird jedoch früher geschlechtsreif. Stimme und Instrumentallaute Höckerschwäne haben ein umfangreiches und variables Stimmrepertoire. Sie sind allerdings weniger laut und ihre Rufe sind weniger wohltönend als bei anderen Schwänen. Erregte Schwäne geben ein hartes, lautes hueiarr oder kiorr von sich. Zu ihren Lauten zählt auch ein leises krr-krr-krr oder tru-tru-truu. Ein Schwanenweibchen, das Junge führt, lässt bei Annäherung eines fliegenden Fressfeindes mehrsilbige ächzende Laute hören, die lautmalerisch mit krrr-wip-wip, chh oder einem tiefen chorr umschrieben werden können. Auch nach der Begattung geben Höckerschwäne gurgelnde, schnarrende und pfeifende Geräusche von sich. Zu den Instrumentallauten der Höckerschwäne gehört das rhythmische Halseintauchen, bei dem sie gurgelnd ausatmen. Dieses Verhalten zeigen sie unmittelbar vor der Begattung. Arttypisch sind ihre metallisch sausenden bis singenden Fluggeräusche, die bei Sing- und Zwergschwänen fehlen. Flugbild Höckerschwäne benötigen eine lange Anlaufphase, bevor sie sich in die Luft erheben können. Der Start der Höckerschwäne ist voller Kraft und Dynamik. Eine Zeitlang laufen sie über das Wasser und schlagen mit den Flügeln. Sobald sie sich in die Luft erhoben haben, ist ihr Flügelschlag langsam und kraftvoll. Sie gewinnen allerdings nur sehr allmählich an Höhe und der Flug wirkt insgesamt schwerfällig. Das rhythmische Fluggeräusch ist weithin hörbar. Verbreitung Der Höckerschwan kam ursprünglich im nördlichen Mitteleuropa, im südlichen Skandinavien, im Baltikum und im Bereich des Schwarzen Meeres vor. In Asien reicht sein Vorkommen von Kleinasien bis Nordchina. Die Brutpopulationen in Westeuropa gehen ausschließlich auf ausgesetzte und verwilderte Vögel zurück. Auch in manchen Regionen Mitteleuropas war der Höckerschwan möglicherweise nie heimisch. Der Höckerschwan wurde bis gegen das Ende des 19. Jahrhunderts stark bejagt, so dass er wildlebend fast nur noch im Ostseeraum vorkam. Parallel dazu gab es jedoch immer wieder Aussetzungsaktionen, die in Großbritannien weit vor dem 16. Jahrhundert und in Mitteleuropa etwa ab dem 16. Jahrhundert vorgenommen wurden. Eine intensivierte Ansiedelung erfolgte etwa ab 1920. Erst ab den 1950er Jahren kam es jedoch zu einer starken Zunahme des Bestands in Mitteleuropa. Beteiligt daran war der verbliebene Bestand an Höckerschwänen sowie eine erneute Verwilderung von Parkschwänen und zum Teil auch gezielte Ansiedelungen. Mit Zunahme der Siedlungsdichte erfolgte eine Ausweitung des Verbreitungsgebietes nach Süden und Südosten. Zur Zunahme haben unter anderem neben einer zeitweilig vollständigen Jagdverschonung auch ein Unterlassen der Eierernte, eine zunehmende Fütterung insbesondere im Winter und eine teilweise dadurch bedingte Verminderung der Fluchtdistanz, die auch zur Besiedlung belebter Ufer und Stillgewässer geführt hat, beigetragen. So ist der Höckerschwan heute auf vielen Teichen, Seen und Flüssen auf den Britischen Inseln und im südlichen Mitteleuropa anzutreffen. Einbürgerungen gab es auch in Nordamerika, so beispielsweise in der Region von New York und im Bundesstaat Michigan sowie in Australien und Neuseeland. In Neuseeland, wo er erstmals 1866 eingeführt wurde, kommt er mittlerweile in kleiner Zahl in einigen Feuchtgebieten, an mehreren Flüssen und an der Meeresküste vor. Zu Beginn der 1990er Jahre betrug die Zahl der in Neuseeland vorkommenden Höckerschwäne noch weniger als 200 wildlebende Vögel. Während mitteleuropäische Vögel auch im Winter im Gebiet bleiben, ziehen Höckerschwäne vom Nordrand des europäischen Areals, etwa aus Skandinavien, und solche aus Zentralasien im Winter nach Süden. Zentralasiatische Höckerschwäne überwintern dann beispielsweise im Iran. Bei den mitteleuropäischen Schwänen kommt es jedoch zu Mauserzügen. So finden sich am IJsselmeer tausende von Schwänen ein, die dort ihr Gefieder wechseln. In dieser Zeit sind die Höckerschwäne für einige Wochen flugunfähig. Lebensraum Lebensräume von Höckerschwänen waren ursprünglich Steppengewässer, Brackwassermarschen und langsam fließende Flüsse. Sie präferieren grundsätzlich eutrophe Flachseen. Eingeführte Populationen sind gleichfalls vor allem an seichten Seen zu finden und besiedeln regelmäßig auch Gewässer in menschlicher Nähe. Sie sind beispielsweise an Klär-, Park- und Fischteichen anzutreffen, die eutroph bis hypertroph sind. Sie halten sich jedoch häufig auch in geschützten Buchten an der Küstenlinie sowie auf Flüssen auf. Ernährung Der Höckerschwan lebt von Wasserpflanzen und den daran befindlichen Kleintieren (Muscheln, Schnecken, Wasserasseln), die er mit seinem langen Hals unter Wasser durch Gründeln erreicht. Hierbei erreicht er Tiefen von 70 bis 90 Zentimetern. An Land frisst er auch Gras und Getreidepflanzen. Dies kommt vor allem im Spätwinter vor, wenn die Unterwasservegetation nicht mehr ausreichend Nahrung bietet. Höckerschwäne bevorzugen dabei vor allem Rapsflächen. Grünland wird dagegen von ihnen nur selten als Nahrungsfläche genutzt. Die Fressphase beginnt im Winter etwa drei Stunden nach Sonnenaufgang und endet erst mit Einbruch der Dunkelheit. Im Frühjahr steigt der Anteil von Wasserpflanzen in der Nahrung wieder. Im Sommer erfolgt die Nahrungssuche ausschließlich auf Gewässern. Höckerschwäne sind nicht fähig, frei schwimmende Tiere zu erbeuten. Der Nahrungsbedarf der Höckerschwäne ist sehr hoch. Während der Mauser fressen ausgewachsene Höckerschwäne bis zu vier Kilogramm an Wasserpflanzen pro Tag. Besonders hoch ist der Nahrungsbedarf von verpaarten Weibchen. Diese fressen während der Brutphase kaum und müssen daher entsprechende Nahrungsreserven anlegen. Fortpflanzung Höckerschwäne binden sich auf Lebenszeit. Sie pflanzen sich erstmals im dritten oder vierten Lebensjahr an Land fort. Insbesondere in der Brutzeit, die im März beginnt, sind die männlichen Höckerschwäne sehr aggressiv und verteidigen ihr Territorium nachdrücklich auch gegen näher kommende Menschen und stoßen dabei Fauchlaute aus. Das Nest wird von beiden Elternvögeln nahe dem Wasser, auf kleinen Inseln oder im seichten Wasser im Verlauf von etwa zehn Tagen gebaut. Es ist ein großer Bau, der aus Reisern, Schilf und Rohr besteht. Die eigentliche Nestmulde ist nur sehr schwach mit Daunen ausgepolstert. Der Nestbau wird vom Männchen eingeleitet, dem sich der weibliche Altvogel später anschließt. Ein Gelege besteht in der Regel aus fünf bis acht schmutzig gelbbraunen Eiern, die in einem Legeabstand von etwa 48 Stunden gelegt werden. In sehr seltenen Fällen umfasst ein Gelege auch bis zu zwölf Eier. Die Brutzeit beträgt 35 bis 38 Tage. Es brütet überwiegend das Weibchen. Die Küken sind Nestflüchter. Einen Tag alte Küken wiegen im Schnitt 220 Gramm. Beide Eltern kümmern sich vier bis fünf Monate lang bis zum Flüggewerden um die Jungen. Insbesondere Weibchen tragen die Dunenküken gelegentlich zwischen den Schwingen auf dem Rücken. Dies schützt die Dunenküken unter anderem vor den Nachstellungen durch große Hechte. Zur elterlichen Brutfürsorge gehört ein Herausreißen von Unterwasservegetation, die die Dunenküken ohne die Elternvögel nicht erreichen könnten. Flügge sind die Jungvögel etwa in einem Alter von 120 bis 150 Tagen. Die Mortalitätsrate unter Dunenküken und Jungvögeln ist sehr hoch. Studien in Großbritannien haben gezeigt, dass zwischen 29 und 49 Prozent der Gelege verloren gehen, noch bevor die Küken schlüpfen. Häufige Ursache ist menschlicher Vandalismus. Die hohe Mortalität hält auch in den ersten Lebensjahren an, so dass nur etwa elf Prozent der Dunenjungen jemals selber brüten. Bestand Die Gesamtpopulation des Höckerschwans wird von der IUCN auf 600.000 bis 620.000 Tiere geschätzt. Die Art gilt als ungefährdet. Auf dem europäischen Festland lebt ein geschätzter Bestand von 250.000 Höckerschwänen, Irland und Großbritannien haben eine Population von insgesamt 47.000, am Schwarzen Meer kommen weitere 45.000 vor. In West- und Zentralasien bis zum Kaspischen Meer leben 260.000 bis 275.000 Höckerschwäne, in Ostasien dagegen ist der Bestand sehr klein. Dort leben zwischen 1.000 und 3.000 Höckerschwäne. In Nordamerika werden 14.700 Höckerschwäne gezählt. Bei Höckerschwänen lässt sich ein sehr komplizierter Mechanismus der Bestandsregulierung beobachten. Es handelt sich dabei um eine dichteabhängige Bestandsregulierung. So haben zwar Höckerschwäne nach dem Zweiten Weltkrieg in Mitteleuropa stark zugenommen, ein weiteres Anwachsen findet jedoch mittlerweile nicht mehr statt, obwohl die zunehmende Winterfütterung den Verlust während des Winterhalbjahres reduziert hat. Bestandsregulierend wirkt sich unter anderem der hohe Anteil an zwar ausgewachsenen und damit geschlechtsreifen Höckerschwänen aus, die aber nicht brüten. Der Anteil macht an ausgewachsenen Vögeln in vielen Populationen mehr als 50 Prozent unter den adulten Tieren aus. Dies ist teilweise auf erhöhte Nahrungskonkurrenz zurückzuführen. In Regionen mit sehr hoher Schwanendichte sind die einzelnen Schwäne häufig nicht optimal im Futter und weisen nicht die körperliche Kondition auf, die notwendig ist, um zur Brut zu schreiten. Als weiterer Faktor wirkt sich aus, dass viele Höckerschwäne ein großes Brutterritorium benötigen und nicht alle Schwäne sich ein solches erkämpfen können. An einigen Stellen brüten Höckerschwäne davon abweichend auch in Kolonien. Es handelt sich dabei überwiegend um die halbdomestizierten Bestände. Der Bruterfolg dieser kolonienbrütenden Populationen ist jedoch gering. Im mehrjährigen Durchschnitt ziehen einzeln brütende Höckerschwäne 2,6 Junge pro Brut groß. Bei kolonienbrütenden Paaren werden im Schnitt aber nur 0,9 Jungschwäne groß. Die Gelegegröße ist mit 5,6 beziehungsweise 5,2 Eiern dagegen fast identisch. Der geringe Bruterfolg kolonienbrütender Höckerschwäne liegt unter anderem am hohen Eiverlust, zu dem es durch die große Unruhe unter den Höckerschwänen kommt. Durch die ständige Auseinandersetzung mit in der Nachbarschaft brütenden Höckerschwänen werden viele Eier zerbrochen. Gleichzeitig ist die Mortalitätsrate unter den geschlüpften Kolonienbrütern deutlich höher als bei einzeln brütenden Paaren, da sich ihr Neststandort an weniger optimalen Stellen befindet. Das macht sich vor allem in windigen Sommern bemerkbar, wenn die Sterblichkeitsrate von Jungschwänen in Kolonien wetterbedingt besonders hoch ist. Jungschwäne aus Brutkolonien sind häufig in einem schlechteren Ernährungszustand als solche von Einzelbrütern. Deswegen überlebt eine geringere Anzahl von Jungtieren aus Kolonien ihren ersten Winter. Gefährdungen Neben der Jagd (s. u.) gibt es noch eine Reihe weiterer Gefährdungen für Höckerschwäne. In harten Wintern kommt es zu natürlichen Todesfällen. Es wurden Fälle von Bleivergiftungen durch Bleischrot und Angelblei nachgewiesen. Es kommt zu Unfallopfern an Stromleitungen durch Anflüge. Auch Todesfälle durch Krankheiten, darunter Botulismus, treten auf. Früher kam es zu Gelegeverlusten durch menschliches Eiersammeln und absichtliche Gelegezerstörung zur Bestandskontrolle. Durch menschliche Störungen kann es zur Gelegeaufgabe kommen. Auch Wasserstandsschwankungen am Brutgewässer können zum Gelegeverlust führen. Jagd In Deutschland unterliegt der Höckerschwan dem Jagdrecht und darf in der Regel vom 1. November bis zum 20. Februar des folgenden Jahres geschossen werden. Einzelne Bundesländer wie Thüringen und Hessen sowie die Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin verzichten auf eine Jagdzeit. Auch in Österreich gehören die Höckerschwäne zu den jagdbaren Tierarten. In der Schweiz dürfen sie hingegen nur mit Ausnahmegenehmigung bejagt werden, falls die Höckerschwäne Schäden verursachen. In Deutschland werden jedes Jahr mehrere Tausend Höckerschwäne geschossen. Es liegen anscheinend zurzeit keine bundesweiten Abschusszahlen vor. In Bayern wurden im Jagdjahr 2010/11 657 Höckerschwäne in der Streckenliste geführt. In Schleswig-Holstein waren im Jagdjahr 2010/11 676 Höckerschwäne auf der Streckenliste. In den Jagdjahren 2008/09 und 2009/10 waren 473 bzw. 752 Höckerschwäne in der Jagdstrecke Schleswig-Holsteins aufgeführt. Meist dürfen wie z. B. in Schleswig-Holstein Höckerschwäne nur per Kugelschuss gejagt werden. In der Streckenliste sind jeweils auch das Fallwild (Todfund ohne Jagdeinwirkung) enthalten. Der Anteil des Fallwildes an der Jagdstrecke schwankt sehr stark. Im Jagdjahr 2010/11 enthielt z. B. die Jagdstrecke in Schleswig-Holstein 22 Prozent Fallwild. Der Naturschutz fordert in Mitteleuropa einen Jagdverzicht auf den Höckerschwan wegen Verwechselungsgefahr mit Singschwan und Zwergschwan. Da Mitteleuropa große Bedeutung als Rastgebiet für Singschwan und Zwergschwan hat, soll ein irrtümlicher Abschuss dieser Arten ausgeschlossen werden. Höckerschwan und Mensch In Großbritannien hatte der Höckerschwan seit spätestens 1186 königlichen Status, und 1361 wurde der erste Schwanenmeister ernannt. 1482 wurde durch ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz, den Act of Swans, festgelegt, dass nur Landbesitzer ab einer gewissen Größe ihres Besitzes Schwäne halten durften. Von ursprünglich 900 Besitzberechtigten sind nur mehr drei verblieben: die Hochehrwürdige Gesellschaft der Färber, die bei der jährlichen Schwanenzählung, dem Swan-Upping im Juli, die Schnäbel mit einer Kerbe markiert, die Hochehrwürdige Gesellschaft der Winzer, die ihre Schwäne mit zwei Kerben versieht, und der Monarch, dem alle unmarkierten Tiere gehören. Dies alles ist aber heutzutage nur noch von zeremonieller Bedeutung. Der königliche Besitz von Schwänen kommt nicht auf den Orkney- und den Shetlandinseln zur Anwendung, wo noch das auf die Wikinger zurückgehende Udal Law Geltung hat, gemäß welchem Schwäne im Volkseigentum stehen. Seit 1971 besitzt der Höckerschwan durch den Creatures and Forest Law Act weiteren Schutz. In Hamburg wird der Höckerschwan wie ein Wappentier betrachtet. Er wird immer mit der Alster in Verbindung gebracht und ist im Logo der Alster-Touristik GmbH deutlich zu erkennen. Es gibt einen „Schwanenvater“, der sich seit dem 17. Jahrhundert um die Alsterschwäne kümmert. Zu seinen Aufgaben gehört es, die Schwäne der Alster und der umliegenden Kanäle im Herbst einzufangen, sie zu ihrem Winterquartier, dem Eppendorfer Mühlenteich zu bringen, dort mit Nahrung zu versorgen und im Frühjahr wieder auszusetzen. Seit 1926 unter Schutz gestellt, wurde der Höckerschwan in Dänemark 1984 nach einer Umfrage in den Rang eines Nationalvogels erhoben. Literatur Hans-Günther Bauer, Einhard Bezzel, Wolfgang Fiedler (Hrsg.): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas. Alles über Biologie, Gefährdung und Schutz. Band 1, Aula-Verlag, Wiesbaden 2005, ISBN 3-89104-647-2. Janet Kear (Hrsg.): Ducks, Geese and Swans. University Press, Oxford 2005, ISBN 0-19-854645-9. Brage bei der Wieden: Mensch und Schwan. Kulturhistorische Perspektiven zur Wahrnehmung von Tieren, Bielefeld 2014. ISBN 978-3-8376-2877-7. Weblinks Naturschutzbund: Höckerschwan Federn des Höckerschwans Einzelnachweise Gänse Federwild Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Homogenisierung
Homogenisierung
Homogenisierung steht für die Vergrößerung der Homogenität eines Systems, insbesondere Laser #Homogenisierung, möglichst ebenmäßige Intensitätsverteilung der Laserstrahlung Magnetfeldhomogenisierung, siehe Shim (Magnetismus) Milch #Homogenisierung, Reduzierung des mittleren Durchmessers der Milch-Fettkügelchen, um Aufrahmung zu vermeiden Zellaufschluss, in der Biochemie Verfahren zur Zerstörung von Zellen, um an deren Inhalt zu gelangen Lösungsglühen in Metallen, auch Homogenisierungsglühen
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Hydrologie
Die Hydrologie (von und ) ist die Wissenschaft, die sich mit dem Wasser in der Biosphäre der Erde befasst. Dabei betrachtet sie das Wasser sowohl hinsichtlich seiner Erscheinungsformen, Zirkulationen und Verteilungen in Raum und Zeit wie auch bezüglich seiner physikalischen, chemischen und biologischen Eigenschaften sowie seiner Interaktionen mit der Umwelt, einschließlich der Beziehungen zu Lebewesen. Geschichte Der Begriff Hydrologie war bis in die 1960er Jahre nicht klar definiert. Der Wissenschaftszweig wurde erst ernst genommen, als 1963 ein Impuls aus dem internationalen Bereich kam: Es war die Internationale Hydrologische Dekade (IHD) der UNESCO zwischen 1965 und 1974. Zum ersten Mal diskutierten nun Vertreter anderer Fachgebiete im Senat und Hauptausschuss der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dass die Hydrologie im Vergleich zu anderen Ländern in Deutschland völlig rückständig war und eine Mitarbeit in internationalen Rahmen besonderer Förderung und Aufbauarbeit bedurfte. In den späten 1970er Jahren hat der Geograph Reiner Keller den Studiengang Physische Geographie mit Vertiefung und Abschluss in Hydrologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ins Leben gerufen. In jüngster Zeit ist eine Tendenz zu verzeichnen, auch sozio-ökonomische Aspekte rund um das Wasser in den Fachbereich einzubeziehen. Am 23. September 2011 fand in Koblenz in der Bundesanstalt für Gewässerkunde die Gründungs- und erste Mitgliederversammlung der Deutschen Hydrologischen Gesellschaft (DHydroG) statt. Untergliederung und Einordnung in den Wissenschaftskanon Die Gliederung unterscheidet zwischen Ozeanologie (Hydrologie der Meere), Gewässerkunde (Hydrologie des Festlands), Limnologie (Binnengewässerkunde), darin enthalten die Potamologie (Fließgewässerkunde), sowie Hydrometrie (hydrologisches Messwesen). Im Rahmen der Hydrographie wird die Verteilung und der Fluss des Wassers quantitativ vermessen. Verwandte Fachgebiete sind vor allem die Hydrogeographie (räumliche Verteilung des Wassers sowie Wechselbeziehungen mit dessen Umgebung), die Hydrogeologie, die sich vorrangig mit dem unterirdischen Wasser und den geochemischen Wechselwirkungen mit Gesteinen befasst, die Wasserchemie, die Atmosphärenphysik, die Meteorologie, die Glaziologie als Wissenschaft, die sich der Entstehung, den Formen, der Wirkung und der Verbreitung des Eises auf der festen Erde annimmt, die Sedimentologie mit dem Spezialgebiet der Alluviologie (Geschiebekunde), die Pedologie und die Geologie als einer der Grunddisziplinen der Geowissenschaften, die Geographie sowie die Hydromorphologie. Nach dem System für die Hydrologie von de Haar (1974) wird die Hydrologie in drei Grundfächer aufgeteilt: Quantitative Hydrologie mit Hydrometeorologie, Hydrologie der Oberflächengewässer, Hydropedologie und Hydrogeologie Qualitative Hydrologie mit Hydrophysik, Hydrochemie und Biohydrologie Hydrologische Spezialfächer mit den quantitativen Teilen Isopotenhydrologie, Hydrometrie, Ingenieurhydrologie, mathematischer Hydrologie und den qualitativen Teilen Agrarhydrologie, Forsthydrologie, Küstenhydrologie, Karsthydrologie und Hydrogeographie Aufgaben der Hydrologie Die Hauptarbeitsgebiete der Hydrologie sind das Beobachten und Messen hydrologischer Veränderungen, die systematische Analyse der hydrologischen Prozesse als Grundlage für die Entwicklung und Erweiterung von Theorien und Verfahren sowie die Anwendung dieser Theorien und Verfahren zur Lösung unterschiedlicher Aufgaben in der Praxis. Vielfältige praktische Aufgaben der Hydrologie betreffen die Wasserwirtschaft, also das Management oberirdischer Gewässer (Flüsse, Seen, Talsperren) im Zusammenhang mit der Wasserversorgung, der Wasserkraft­gewinnung, dem Hochwasserschutz und der öffentlichen Nutzung der Gewässer, etwa für Freizeitaktivitäten. Siehe auch Hydromechanik Literatur Siegfried Dyck (Hrsg.): Angewandte Hydrologie. Teil 1: Berechnung und Regelung des Durchflusses der Flüsse, Teil 2: Der Wasserhaushalt der Flussgebiete, Ernst, Berlin 1976. Siegfried Dyck, Gerd Peschke: Grundlagen der Hydrologie. 3. Auflage. Verlag für Bauwesen, Berlin 1995, ISBN 3-345-00586-7. Ulrich Maniak: Hydrologie und Wasserwissenschaft. 5. Auflage. Springer, Berlin 2005, ISBN 3-540-20091-6. DIN 4049 Teil 1: Grundbegriffe, Teil 2: Begriffe der Gewässerbeschaffenheit, Teil 3: Begriffe der quantitativen Hydrologie. Beuth Verlag, Berlin. J. Barner: Hydrologie. Eine Einführung für Naturwissenschaftler und Ingenieure. 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In: Zeitschrift Hydrologie und Wasserwirtschaft. Heft 4, 2011, S. 215ff. Weblinks Webgeo Uni Freiburg (Mit weiterführenden Informationen zu bestimmten Begrifflichkeiten und Themen) E-Learning (Institut für Physische Geographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Arbeitsgruppe Hydrologie) Hydrologie-Onlineskript der TU Braunschweig (im Online-Archiv, Abrufdatum: 14. Oktober 2017; Letzte Änderung des Skripts: 3. März 2016; Original ist offline; Update sollte in 2019 erfolgen) Österreichische Gesellschaft für Hydrologie (Linksammlung zu Universitäten und internationalen Institutionen mit Bezug zur Hydrologie) Studiengang Hydrologie Uni Freiburg (Beschreibung unterschiedlicher Modellansätze/Werkzeuge der Hydrologie) Institut für Hydrologie und Meteorologie der TU Dresden Einzelnachweise Gewässerökologie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hausstaubmilben
Hausstaubmilben
Die Hausstaubmilben (Dermatophagoides) sind eine Gattung der Milben, die zu den Spinnentieren zählen. Die häufigsten Hausstaubmilbenarten sind Dermatophagoides pteronyssinus und Dermatophagoides farinae. Eine weitere in Europa verbreitete Art, Dermatophagoides microceras, ist bisher häufig mit farinae verwechselt worden. Weltweit sind bisher 49 Arten der Familie Pyroglyphidae nachgewiesen, von denen 13 in Hausstaub leben, nur sechs oder sieben davon häufiger. Es gibt aber weitere Milbenarten, die in Häusern leben können, besonders zahlreich in den Tropen. Ursprünglicher Lebensraum der Hausstaubmilben sind Vogelnester, von dort sind sie auf menschliche Behausungen übergegangen und weltweit verschleppt worden. Merkmale Hausstaubmilben sind etwa 0,1 bis 0,5 mm groß und weiß. Ihr Körper trägt haarförmige Borsten. Von anderen in Mittel- und Nordeuropa in Häusern lebenden Milbenarten unterscheiden sie sich durch ihre fein gestreifte Körperhülle (Cuticula) (bei den Arten der Familie Glycyphagidae ist sie glatt oder mit Papillen besetzt, bei den Tarsonemidae mit sich überlappenden Platten besetzt). Von der ebenfalls in Häusern lebenden Gattung Euroglyphus (mit der Art Euroglyphus maynei) unterscheiden sie sich durch die Länge von zwei Borsten am Rumpf (Idiosoma) und das Fehlen einer sklerotisierten Platte (Tegmen) an dessen Vorderende. Übersicht Der wissenschaftliche Name Dermatophagoides bedeutet ‚Hautfresser‘. Hausstaubmilben ernähren sich von abgefallenen Hautschuppen, von denen der Mensch etwa 0,5 bis 1 Gramm pro Tag verliert. Ältere, durchfeuchtete Hautschuppen werden gegenüber frisch gefallenen bevorzugt. Zur Frage, ob mit Schimmelpilzen der Gattung Aspergillus befallene Schuppen bevorzugt werden, gibt es widersprüchliche Aussagen. In einer Studie verminderte der Pilz die Lebensdauer und Fortpflanzung der Milben. Dieser Effekt kehrte sich allerdings langfristig um, Milbenpopulationen ohne Pilzkontakt konnten nicht auf Dauer überleben. Vermutlich werden vom Pilz essenzielle Nährstoffe zur Verfügung gestellt. Lebenszyklus und Vermehrung Hausstaubmilben sind getrenntgeschlechtlich, wobei die Männchen deutlich kleiner sind als die Weibchen (Weibchen erreichen ein Lebendgewicht von 5,8 Mikrogramm, Männchen nur 3,5). Nach der Kopula legen die Weibchen die Eier ab, allerdings nicht als Gelege, sondern einzeln über einen langen Zeitraum verteilt. Die Lebensdauer der Weibchen ist stark von Temperatur und Luftfeuchte abhängig und auch von Art zu Art etwas verschieden; sie reicht von etwa 30 bis zu 100 Tagen. In dieser Zeit legen sie zwischen 40 und 80 Eier ab. Aus den Eiern schlüpft eine Deutonymphe (Larve), welche sich in eine Tritonymphe wandelt, aus der die adulten Tiere hervorgehen (zwei Larvenstadien). Jeder Umwandlungsschritt ist dabei mit einer Ruheperiode unterschiedlicher Länge verbunden, während derer die Tiere erheblich widerstandsfähiger gegen widrige Umweltbedingungen sind. Die gesamte Lebensperiode vom Ei zum Geschlechtstier ist sehr variabel; sie dauert unter günstigen Bedingungen etwa 30 bis 50 Tage, kann aber bei niedrigen Temperaturen bis 120 Tage ausgedehnt sein. Paarungsbereite Tiere finden sich durch Sexuallockstoffe (Pheromone). Außerdem bilden die Tiere Aggregationen, die sich durch ein anderes Pheromon zusammenfinden. Lebensweise und Lebensraum Hausstaubmilben kommen beinahe ausschließlich in menschlichen Wohnungen vor, im Freien können sie normalerweise nicht überleben. Für das Leben im Freien gibt es nur wenige Angaben, z. B. Vorkommen in Vogelnestern. Wohnungen werden durch in der Kleidung verschleppte Milben neu besiedelt. Der größte Anteil der Hausstaubmilben befindet sich im Bett. Dort sind zu gleichen Teilen die Matratze und das Oberbett betroffen. Weitere Fundorte sind Polstermöbel, in Teppichen befinden sich normalerweise nur wenige Hausstaubmilben. Auch in anderen Substraten wie älteren Büchern können hohe Populationsdichten auftreten. Die höchste Konzentration findet sich in Matratzen und Kopfkissen, weil dort reichlich Hautschüppchen als Futter sowie viel Feuchtigkeit vorhanden sind: Ein schlafender Mensch scheidet pro Stunde etwa 40 g Wasser mit der Atemluft und im Schweiß aus, abgeschätzte Übergangsraten sind für Haut zu Matratze: 180–220 g/pro Nacht und Person, für Haut zu Kopfkissen 15–20 g/pro Nacht und Person. Wesentliche Faktoren für die Häufigkeit von Milben in Häusern sind Luftfeuchte und Temperatur. Nahrungsmangel kommt wegen des äußerst geringen Bedarfs kaum vor (kein erhöhter Milbenbefall bei Menschen mit Schuppenflechte). Auch der Platzbedarf der Winzlinge ist gering: Wenn Hautschüppchen in das Innere von Schaumstoffmatratzen vorgedrungen sind, können die Tiere darin ohne weiteres leben. Populationsvermindernde Faktoren: Angelockt durch den Sexuallockstoff kann die milbenfressende Milbe Cheyletus auftreten. Ein weiterer natürlicher Feind ist der Bücherskorpion. Auch Silberfischchen ernähren sich unter anderem von Hausstaubmilben. Im normalen Lebensraum der Hausstaubmilben spielen alle diese Arten aber keine Rolle, weil sie für eine Populationskontrolle viel zu selten sind. Effekt der Luftfeuchte auf das Überleben Die Optimalbedingungen der beiden häufigen Arten Dermatophagoides pteronyssinus und Dermatophagoides farinae sind etwas verschieden. D. farinae bevorzugt etwas wärmere Orte und kann etwas höhere Trockenheit ertragen (Optimum bei 25–30 °C und 70–75 % rel. Feuchte, gegenüber 15–20 °C und 75–80 % rel. Feuchte bei D. pteronyssinus). Diese Art ist deshalb an vielen Orten der USA häufiger – deshalb gelegentlich „Amerikanische Hausstaubmilbe“ genannt, während ihre Schwesterart z. B. im kühlen und feuchten England dominiert. Allerdings kommen beide Arten regelmäßig zusammen vor, und je nach Lebensraum kann überall die eine oder die andere dominieren. Beide Arten benötigen zum Leben eine relative Luftfeuchte von 73 % oder höher. Sie können dann Kontaktwasser oder Wasserdampf aus der Umgebung aufnehmen. Aufgrund der großen Oberfläche verlieren sie aber auch viel Wasser. Sie können in Bereichen unterhalb 50 % relative Luftfeuchte nicht lange überleben und weisen auch oberhalb davon reduzierte Fortpflanzung und Vitalität auf. Seit langer Zeit erschien es deshalb plausibel, die Milbendichte durch Austrocknung zu vermindern. Allerdings liegen zahlreiche Nachweise dafür vor, dass den Tieren bereits recht kurze Perioden hoher Luftfeuchte von etwa drei Stunden am Tag für ein dauerhaftes Leben vollkommen ausreichen. Legt man wissenschaftlich strenge Maßstäbe an, ist für keine Methode der direkten Milbenbekämpfung (weder Austrocknung noch vermeintlich milbensichere Matratzen o. ä.) ein Effekt auf das Leiden von Asthmatikern nachweisbar. Nach zahlreichen Studien sind aber die Milbendichte und die relative Luftfeuchte eng miteinander korreliert. Die Luftfeuchte der Umgebungsluft ist dabei in jedem Fall für das Überleben der Arten vollkommen ausreichend, eine Bekämpfung durch Lüften ist also nicht möglich. Es gibt Hinweise darauf, dass eine Verminderung der Luftfeuchte durch technische Geräte wirksam ist, aber nur dann, wenn sie über sehr lange Zeiträume ohne Pause erfolgt. Entscheidend für die Milbendichte ist vermutlich vor allem die relative Luftfeuchte im Winter. Temperaturen und Luftfeuchten oberhalb des Optimalbereichs bewirken eine Populationssenkung. Erhitzung (einige Minuten auf 50 °C oder längere Zeit auf 40 °C) kann die Milbendichte vermindern und wurde als Bekämpfungsmethode vorgeschlagen. In den Wintermonaten sollte die Austrocknung der Luft durch das Heizen die Lebensbedingungen für Hausstaubmilben verschlechtern. Tatsächlich wird beobachtet, dass die Milbendichte im Sommer und Herbst deutlich höher liegt als im Winter. Die Tiere können sich unter den suboptimalen Bedingungen aber häufig noch langsam fortpflanzen und überdauern ansonsten in einem der resistenteren Dauerstadien. Matratzen, die regelmäßig durch den Schläfer angefeuchtet werden, bieten außerdem ein mögliches Refugium. Dabei sind die Bedingungen für das Überleben nicht optimal, während sich der Schläfer noch im Bett befindet, weil durch die Körperwärme die relative Luftfeuchte absinkt. Nach gängiger Meinung haben Milben bei über 1200 Höhenmetern, nach anderen Aussagen bei über 1700 Höhenmetern, keine günstigen Lebensbedingungen. Hochgebirgsaufenthalte können deshalb Allergikern Linderung verschaffen. Eine Studie der Universität von Amsterdam fand allerdings im Jahr 2010 heraus, dass ein Höhenaufenthalt allen Menschen mit asthmatischen Beschwerden hilft, unabhängig davon, ob diese durch eine Allergie gegen Milbenallergene induziert sind oder nicht. Allergene Wirkung Allergieauslösende Faktoren der Milben sind ihr Kot, ihre Eier sowie Milbenreste, darunter unter anderem die Hauptallergene Der p 1, Der p 2 und Der p 23 im Falle der europäischen Hausstaubmilbe, daneben auch Der f 1 und Eur m 1. Diese Stoffe verteilen sich als feiner Staub (Partikelgröße: etwa 35 µm), werden eingeatmet und können Allergien, die Hausstauballergien, hervorrufen. Als allergieauslösend sind vier Arten bekannt, insbesondere D. pteronyssinus, aber auch D. farinae, D. microceras und D. siboney. Etwa 10 % der Bevölkerung und 90 % der Asthmatiker sind allergisch auf Hausstaubmilben oder im Haushalt vorkommende Vorratsmilben (zusammen als domestic mites – Hausmilben – bezeichnet). Neben der engen Assoziation zu Asthma sind Hausstaubmilben auch Auslöser der ganzjährigen (perennialen) allergischen Rhinitis. Die üblichen Therapieoptionen (Entfernung des Allergens) und die Verwendung von spezieller Bettwäsche und Staubschutz haben sich bisher als wenig effektiv erwiesen. Wenngleich die Methoden, die Einfluss auf das Raumklima haben (Temperatur verringern, Luftfeuchtigkeit senken), die Population nur reduzieren, kann die verminderte Belastung bereits positive Effekte auf den Erkrankungsverlauf zeigen. Die Immuntherapie (durch subkutane Injektion und Sublinguale Tabletten) gilt mittlerweile als funktionierender Therapieansatz bei Patienten mit schweren Symptomen. Eine Hausstaubmilbe produziert nach Laborbefunden abgeschätzt etwa 20 Kotkügelchen je Tag (6 bis 40). In einem Gramm Hausstaub können mehr als 250.000 solcher Kotkügelchen enthalten sein. Zahlreiche allergene Bestandteile des Milbenkots sind inzwischen nachgewiesen worden, die wichtigsten Allergene sind manche Verdauungsenzyme der Milben. Quellen Einzelnachweise Literatur Peter Brookesmith: Kleine Ungeheuer: die geheime Welt der winzigen Lebewesen. Gondrom Verlag, 1999, ISBN 3-8112-1735-6, S. 122–128. P. C. Gøtzsche, C. Hammarquist, M. Burr: House dust mite control measures in the management of asthma: meta-analysis. In: Br Med J. 317, 1998, S. 1105–1115. David Crowther, Jane Horwood, Nick Baker (The Martin Centre, Cambridge University), David Thomson (Medical Entomology Centre, Cambridge), Stephen Pretlove (School of Construction, South Bank University), Ian Ridley, Tadj Oreszczyn (The Bartlett, University College London): House Dust Mites and the Built Environment: A Literature Review. EPSRC project “A Hygrothermal Model for Predicting House-Dust Mite Response to Environmental Conditions in Dwellings”. First interim report. 2000. Weblinks Pyroglyphidae im National Library of Medicine, Medical Subject Headings (abgerufen am 31. August 2010) Sarcoptiformes (Ordnung)
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Hornmoose
Die Hornmoose (Anthocerotophyta) sind eine der Abteilungen der Moose aus dem Reich der Pflanzen. Die Abteilung gliedert sich in zwei Klassen, von denen eine (Leiosporocerotopsida) jedoch nur eine Art enthält, die andere (Anthocerotopsida) 100 bis 150 Arten. Merkmale Gametophyt Der Gametophyt der Hornmoose ist meist nur wenige Zentimeter groß. Es ist ein flacher, dunkelgrüner, rosettenförmiger Thallus, der mehrschichtig und am Rande gelappt ist. Der Thallus besteht aus dünnwandigen Zellen und ist mit einzelligen, glatten Rhizoiden am Untergrund befestigt. Die Zellen des Thallus enthalten einen großen, schüsselförmigen Chloroplasten mit Pyrenoiden. Diese Form tritt sonst nur noch bei den Grünalgen auf. Das Wachstum des Thallus erfolgt mit einer zweischneidigen Scheitelzelle. Der Gametophyt besitzt auch Spaltöffnungen, ebenfalls ein einzigartiges Merkmal unter den Moosen. Auch die symmetrischen Spermatozoiden mit rechtsschraubigen Geißeln kommen nur bei den Hornmoosen vor. Im Thallus befinden sich zwischen den Zellen (interzellulär) schleimerfüllte Höhlungen. In diesen siedeln mikroskopische Pilze und Stickstoff-assimilierende Cyanobakterien der Gattung Nostoc als Symbionten. Die Symbionten dringen durch die an der Unterseite befindlichen Spaltöffnungen in das Moos ein. Die Geschlechtszellenbehälter (Gametangien) sind im Gegensatz zu den übrigen Moosen in den Thallus eingesenkt, entstehen also endogen. Die männlichen Gametangien, die Antheridien, stehen meist zu mehreren in anfangs geschlossenen Höhlungen. Die befruchtete Eizelle (Zygote) teilt sich als erstes längs, während sie sich bei den übrigen Moosen quer teilt. Sporophyt Der diploide Sporophyt ist meist horn- oder schotenförmig. Er ist ein bis mehrere Zentimeter hoch und öffnet sich mit zwei Längsrissen. Er ist mit einer angeschwollenen Basis (Fuß, Haustorium) im Thallus verankert. Die Verbindung zwischen Gametophyt und Sporophyt ähnelt der beim urtümlichen Farn Tmesipteris. Das Wachstum des Sporophyten erfolgt durch eine meristematische Zone im Basisbereich (interkalar). Das Wachstum ist prinzipiell unbegrenzt, es finden sich in einem Sporangium alle Reifestadien der Sporen. Der Sporophyt besitzt Chloroplasten, ist relativ langlebig und weitgehend autotroph. Im Inneren des Sporophyten befindet sich die Columella, eine Längsachse aus sterilem Gewebe. Sie ist vom sporogenen Gewebe (Archespor) umgeben. Dieses ist ein lockeres parenchymatisches Gewebe und ist seinerseits von einem epidermalen Gewebe mit Spaltöffnungen nach außen abgeschlossen. Dieser Aufbau entspricht einem Urtelom, wobei die Columella als reduziertes Leitbündel zu deuten wäre. Aus jeder Archesporenzelle bilden sich durch Teilung Sporenmutterzellen, die sich durch Meiose zu vier haploiden Sporen entwickeln, und eine Pseudoelaterenmutterzelle. Aus dieser bilden sich durch mehrere Längs- und Querteilungen mehrere Pseudoelateren. Die Pseudoelateren erfüllen zwar die gleiche Aufgabe wie die Elateren der Lebermoose, da sie anders entstehen, werden sie Pseudoelateren genannt. Die Spore keimt zu einem kurzen Schlauch, der dem Protonema der anderen Moose entspricht, meist aber nicht als solches bezeichnet wird. Aus der Endzelle des Schlauches entwickelt sich wieder ein Thallus. Verbreitung Die Hornmoose sind in den gemäßigten und tropischen Breiten weit verbreitet. Die Arten in den Tropen sind meist ausdauernd, während sie in den gemäßigten Breiten meist sommerannuell sind, das heißt, sie durchlaufen ihren Lebenszyklus von der Keimung der Spore bis zur sich öffnenden Kapsel innerhalb weniger Monate innerhalb der warmen Jahreszeiten, bei den Hornmoosen hauptsächlich im Sommer und Herbst. Während der Gametophyt der Hornmoose schärfere Fröste nicht übersteht, können die Sporen mehrere Jahre in der Diasporenbank des Bodens überdauern. Systematik Äußere Systematik Die Hornmoose wurden ursprünglich aufgrund ihres thallösen Aufbaus zu den Lebermoosen gestellt. Sie teilen jedoch auch einige Merkmale mit den Laubmoosen: den Besitz von Spaltöffnungen sowie der Columella im Sporophyten. Daher liegen sie bei kladistischen Analysen manchmal zusammen mit den Laubmoosen. Die Chloroplasten-Form ist wieder sehr urtümlich und verbindet die Hornmoose mit den Grünalgen. Die Struktur des Thallus ähnelt wieder dem Prothallium der Farnpflanzen, wie auch das Sporogon dem Sporophyten von Horneophyton, einem fossilen Urfarn. Da keine fossilen Hornmoose bekannt sind, bleibt die Stammesgeschichte unklar. Heute wird meist angenommen, dass sich die Moose wie auch die Farne aus einem gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben, der wiederum von den Grünalgen abstammte. Aufgrund der relativ wenigen gemeinsamen Merkmale, die die Hornmoose mit den anderen Moosen verbindet, wird heute eine polyphyletische Abstammung der Moose angenommen und daher die Hornmoose als eigene Abteilung aufgefasst. Die genauen verwandtschaftlichen Beziehungen sind noch ungeklärt. Innere Systematik Die Abteilung enthält zwei Klassen, deren eine, die Leiosporocerotopsida, monotypisch ist. Die Anthocerotophyta enthalten 12 bis 14 Gattungen mit rund 100 bis 150 Arten. Abteilung Hornmoose (Anthocerotophyta) Klasse Leiosporocerotopsida Ordnung Leiosporocerotales Familie Leiosporocerotaceae Klasse Anthocerotopsida Unterklasse Anthocerotidae Ordnung Anthocerotales Familie Anthocerotaceae Gattung Anthoceros enthält z. B. Anthoceros neesii Acker-Hornmoos (Anthoceros agrestis) Familie Foliocerotaceae Unterklasse Notothylatidae Ordnung Notothyladales Familie Notothylaceae Unterklasse Dendrocerotidae Ordnung Phymatocerotales Familie Phymatocerotaceae Ordnung Dendrocerotales Familie Dendrocerotaceae Literatur Jan-Peter Frahm: Biologie der Moose. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg und Berlin 2001, ISBN 3-8274-0164-X Jan-Peter Frahm, Wolfgang Frey: Moosflora (= UTB. 1250). 4., neubearbeitete und erweiterte Auflage. Ulmer, Stuttgart 2004, ISBN 3-8252-1250-5. Jiro Hasegawa: New classification of Anthocerotae. In: Journal of the Hattori Botanical Laboratory. Bd. 76, 1994, , S. 21–34. Jonathan Shaw, Karen Renzaglia: Phylogeny and diversification of bryophytes. In: American Journal of Botany. Bd. 91, Nr. 10, 2004, , S. 1557–1581, . Irene Bisang, Luc Lienhard, Ariel Bergamini: Fördert die Ökologisierung der Landwirtschaft die Hornmoose im Schweizer Mittelland? - Schlussbericht zum Projekt „Monitoring von Hornmoos-Populationen in ausgewählten Äckern des Schweizer Mittellandes“ (VA-1232.00) 2008 Weblinks Hornwort Web Portal (englisch) Einzelnachweise
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Hexadezimalsystem
Im Hexadezimalsystem oder Sedezimalsystem werden Zahlen in einem Stellenwertsystem zur Basis 16 dargestellt. „Hexadezimal“ (von griech. hexa „sechs“ und lat. decem „zehn“) ist ein lateinisch-griechisches Mischwort; korrekt ist die Übersetzung „Sedezimal“ (von lat. sēdecim „sechzehn“). In der Datenverarbeitung wird das Hexadezimalsystem sehr oft verwendet, da es sich hierbei letztlich um eine komfortablere Verwaltung des Binärsystems handelt. Die Datenwörter bestehen in der Informatik meist aus Oktetten, die statt als achtstellige Binärzahlen auch als nur zweistellige Hexadezimalzahlen dargestellt werden können. Im Gegensatz zum Dezimalsystem eignet sich das Hexadezimalsystem mit seiner Basis als vierte Zweierpotenz (16 = 24) zur einfacheren Notation der Binärzahlen, da stets eine feste Anzahl Zeichen zur Wiedergabe des Datenwortes benötigt wird. Ein Nibble kann exakt mit einer hexadezimalen Ziffer und ein Byte mit zwei hexadezimalen Ziffern dargestellt werden. In den 1960er und 1970er Jahren wurde in der Informatik häufig auch das Oktalsystem mit seiner Basis als dritte Zweierpotenz (8 = 23) verwendet, da es mit den üblichen Ziffern von 0 bis 7 auskommt. Es findet aber heute seltener Anwendung, beispielsweise zur Darstellung von Zeichen in der Programmiersprache C. Auch gibt es noch weitere Zahlensysteme mit verschiedenen Basiswerten. Menschen sind es gewohnt, im Dezimalsystem zu rechnen. Das indo-arabische Zahlensystem verwendet zehn Symbole zur Notation der Ziffern (0 bis 9). Das Hexadezimalsystem enthält dagegen sechzehn Ziffern. Seit Mitte der 1950er Jahre werden zur Darstellung der sechs zusätzlichen Ziffern die Buchstaben A bis F oder a bis f als Zahlzeichen verwendet. Dies geht auf die damalige Praxis der IBM-Informatiker zurück. Etymologie Bei hexadezimal handelt es sich um eine Mischung eines griechischen und eines lateinischen Wortpartikels. Zwar könnte die 16 ohne Rückgriff auf die jeweils andere Sprache ausgedrückt werden (sedezimal von lat. sedecim bzw. hexadekadisch vom Griechischen), diese Bezeichnungen sind jedoch höchstens akademisch und haben keine Verbreitung gefunden. Hexadezimal ist zu unterscheiden vom Wort hexagesimal, das synonym zu sexagesimal ist und das Zahlensystem zur Basis 60 bezeichnet. Darstellung von Hexadezimalzahlen Um hexadezimale von dezimalen Zahlen unterscheiden zu können, existieren mehrere Schreibweisen. Üblicherweise werden hexadezimale Zahlen mit einem Index oder Präfix versehen. Verbreitete Schreibweisen sind: 7216, 72hex, 72h, 72H, 72H, 0x72, $72, "72 und X'72', wobei das Präfix 0x und das Suffix h insbesondere in der Programmierung und technischen Informatik Verwendung finden. Das Anhängen eines h an die Hex-Zahl ist auch als Intel-Konvention geläufig. Die Schreibweise mit dem Dollar-Präfix ist in Assemblersprachen bestimmter Prozessorfamilien üblich, insbesondere bei Motorola, zum Beispiel beim Motorola 68xx und 68xxx, aber auch beim MOS 65xx; die Schreibweise X'72' ist in der Welt der IBM-Großrechner üblich, wie in REXX. Der Übersicht dienende Trennpunkte können bei Hexadezimalzahlen alle vier Stellen gesetzt werden, trennen also Gruppen von jeweils sechzehn Bit. Die Bedeutung der 1.000016 = 65.53610 unter den hexadezimalen Zahlen entspricht also jener der 1.00010 unter den dezimalen Zahlen. Zum Vergleich ein voller Vierundsechzig-Bit-Bus mit und ohne Trennpunkte: FFFF.FFFF.FFFF.FFFF und FFFFFFFFFFFFFFFF Dezimale Zahlen werden, wo sie nicht der zu erwartende Normalfall sind, indiziert: 11410 Zählen im Hexadezimalsystem Gezählt wird wie folgt: Aussprache der Hexadezimalzahlen Für die hexadezimalen Ziffern und Zahlen sind keine eigenständigen Namen gebräuchlich. Hexadezimalzahlen werden daher meist Ziffer für Ziffer gelesen. Beispiele: 10 sprich: „eins-null“ (nicht: „zehn“), 1E sprich: „eins-E“, F112 sprich: „F-eins-eins-zwei“. Analog lässt sich jedoch auch die Zählweise des Dezimalsystems verwenden, ohne dass der Einsatz des Hexadezimalsystems bei jeder Zahl gehört werden kann und sich dann zum Beispiel aus dem Kontext ergeben muss. Da es allerdings zu Verwechslungen mit Dezimalzahlen kommen kann, wird dies seltener angewendet. Beispiele: 10 sprich: „zehn“, 1E sprich: „E-zehn“, BD sprich: „D-und-B-zig“, F2A sprich: „F-hundert-A-undzwanzig“, F112 sprich: „F-tausendeinhundertzwölf“. Hexadezimale Multiplikationstafel (kleines Einmaleins) Beispiel: 2 · 5 = A Von der Spalte mit dem Wert 2 vertikal hinunter gehen bis Schnittpunkt der Zeile mit Wert 5 → Ergebnis: A Hexadezimalbrüche Da das Hexadezimalsystem ein Stellenwertsystem ist, haben die Stellen nach dem Komma (das auch hier manchmal als Punkt geschrieben wird) den Stellenwert , wobei die dezimale Basis 16 und die Position der jeweiligen Nachkommastelle ist. Die erste Nachkommastelle () hat damit den Stellenwert , die zweite Nachkommastelle () hat den Stellenwert , die dritte Nachkommastelle () hat den Wert und so weiter. Da die Zahl 16 nur über den einzigen Primfaktor 2 verfügt, ergibt sich bei allen gekürzten Brüchen, deren Nenner keine Zweierpotenz ist, eine periodische Kommadarstellung im Hexadezimalsystem: Negative Zahlen Negative Zahlen lassen sich ebenfalls darstellen. Dazu wird in den meisten Fällen die Zweierkomplement-Darstellung verwendet. Durch ihre Auslegung braucht an den Mechanismen für Rechnungen in den Grundrechenarten keine Änderung vorgenommen zu werden. Anwendung Informatik Das Hexadezimalsystem eignet sich sehr gut, um Folgen von Bits (verwendet in der Digitaltechnik) darzustellen. Vier Stellen einer Bitfolge (ein Nibble) werden wie eine Dualzahl interpretiert und entsprechen so einer Ziffer des Hexadezimalsystems, da 16 die vierte Potenz von 2 ist. Die Hexadezimaldarstellung der Bitfolgen ist leichter zu lesen und schneller zu schreiben: Der Punkt dient bei dieser Darstellung lediglich der Zifferngruppierung. Software stellt daher Maschinensprache oft auf diese Weise dar. Mathematik Seitdem die Bailey-Borwein-Plouffe-Formel zur Berechnung von π im Jahr 1995 entwickelt wurde, ist das Hexadezimalsystem auch jenseits der Informatik von Bedeutung. Diese Summenformel kann jede beliebige Hexadezimalstelle von π berechnen, ohne die vorhergehenden Stellen dafür zu benötigen. Konvertierung in andere Zahlensysteme Viele Taschenrechner, aber auch die genauso genannten Hilfsprogramme auf Personal Computern, bieten Umrechnungen zum Zahlbasiswechsel an. Insbesondere rechnen die Windows- und macOS-Programme „Rechner“ Binär-, Hexadezimal- und Oktalzahlen in Dezimale und zurück, wenn man unter „Ansicht“ (Windows) bzw. „Darstellung“ (macOS) den Menüpunkt „Programmierer“ auswählt. In vielen Linux-Distributionen ist ein Taschenrechner-Hilfsprogramm vorinstalliert, das eine solche „Programmierer-Option“ beinhaltet, oder man kann in der Kommandozeile die Anweisung printf (als eingebauten bash-Befehl oder gesondertes Hilfsprogramm) dafür benutzen. Umwandlung von Dezimalzahlen in Hexadezimalzahlen Eine Möglichkeit, eine Zahl des Dezimalsystems in eine Zahl des Hexadezimalsystems umzurechnen, ist die Betrachtung der Divisionsreste, die entstehen, wenn die Zahl durch die Basis 16 geteilt wird, die Methode wird daher auch Divisionsverfahren oder Restwertverfahren genannt. Im Beispiel der 127810 sähe das so aus: 1278 : 16 = 79 Rest: 14 (= E) (Nr:1278-(79*16)=14) 79 : 16 = 4 Rest: 15 (= F) (Nr:79-(4*16)=15) 4 : 16 = 0 Rest: 4 (Nr:4-(0*16)=4) Die Hexadezimalzahl wird von unten nach oben gelesen und ergibt somit 4FE. Umwandlung von Hexadezimalzahlen in Dezimalzahlen Um eine Hexadezimalzahl in eine Dezimalzahl umzuwandeln, muss man die einzelnen Ziffern mit der jeweiligen Potenz der Basis multiplizieren. Der Exponent der Basis entspricht der Stelle der Ziffer, wobei der Zahl vor dem Komma eine Null zugeordnet wird. Dazu muss man allerdings noch die Ziffern A, B, C, D, E, F in die entsprechenden Dezimalzahlen 10, 11, 12, 13, 14, 15 umwandeln. Beispiel für 4FE16: Umwandlung Hexadezimal nach Oktal Um Zahlen zwischen dem vor allem früher in der Informatik verbreiteten Oktalsystem und dem heute gebräuchlichen Hexadezimalsystem umzuwandeln, ist der Zwischenschritt über das Binärsystem zweckmäßig. Dies gelingt recht einfach, da sowohl die Basis 8, als auch die Basis 16 Zweierpotenzen sind. Die Hexadezimalzahl wird nach obiger Tabelle in eine Folge von Binärziffern umgewandelt. Die Vierergruppen werden in Dreiergruppen umgewandelt. Anschließend wird die Binärfolge in eine Oktalfolge übersetzt. Beispiel für 8D5316: Umwandlung Oktal nach Hexadezimal Genauso einfach erfolgt die Umwandlung von oktal nach hexadezimal, nur dass hier der Weg Oktalfolge → Binärfolge in Dreiergruppen → Binärfolge in Vierergruppen → Hexadezimalfolge gegangen wird. Mathematische Darstellung des Hexadezimalsystems Formuliert im Dezimalsystem: Formuliert im Hexadezimalsystem: Ein- und zweihändiges Zählen mit den Fingerspitzen und Gelenken Wie auch das altbabylonische Sexagesimalsystem lässt sich auch das Hexadezimalsystem mit den Fingern abzählen. Mithilfe der folgenden Technik wird mit beiden Händen zusammen ein Byte dargestellt. Jede Hand repräsentiert dabei ein Nibble. Dessen oberes Crumb (Hälfte des Nibbles) zeigt sich am benutzten Finger, sein unteres Crumb dagegen am bezeigten Gelenk bzw. der Fingerspitze. Ein Bitflip ist durch Punktspiegelung der Daumenposition am Mittelpunkt der Fingerfläche herbeiführbar. Einhändiges Zählen von Null bis F16 Benutzt man, wie schon die alten Babylonier, den Daumen als Zeiger, legt ihn an die Spitze des Zeigefingers wie beim OK-Zeichen der Taucher und definiert dieses Zeichen als die Null, lässt sich am oberen Gelenk des Zeigefingers die Eins festlegen, gefolgt von der Zwei am mittleren und schließlich der Drei am unteren Gelenk. Genauso fortgesetzt über die Vier an der Spitze des Mittelfingers, der Acht an der Spitze des Ringfingers und der Zwölf an der des kleinen. Damit lässt sich dann bis 15 = F16 zählen, wenn der Daumen das untere Gelenk des kleinen Fingers erreicht hat, da wo er angewachsen ist. Die beiden Crumbs des Nibbles werden dabei orthogonal auf der Hand abgebildet, sodass die unteren beiden Bits an der Höhe des Daumens am jeweiligen Finger und die beiden oberen am benutzen Finger abgelesen werden können. Das heißt, sowohl ein Daumen an der Fingerspitze, als auch am Zeigefinger steht für 002 im jeweiligen Crumb. Das obere Gelenk sowie der Mittelfinger stehen für 012, das mittlere Gelenk und der Ringfinger für 102 und das untere Gelenk und der kleine Finger bedeuten 112. Somit müssen sich nur noch vier Kombinationen gemerkt werden, um mit der Hand zwischen Hexadezimal- und Binärsystem zu konvertieren, anstelle von 16. Ein Bitflip ist durch Punktspiegelung der Position des Daumens am Schnittpunkt der gedachten Achsen zwischen Ring- und Mittelfinger sowie der oberen und mittleren Gelenkreihe einfach zu erzielen. Ein Beispiel ist am Ende der folgenden Tabelle gegeben. Zweihändiges Zählen von Null bis FF16 Zählt man nun auf der linken Hand mit dem oben beschriebenen Verfahren, wie oft man auf der rechten Hand bis F16 gezählt hat, so lässt sich mit zwei Händen ein Byte darstellen. Da an jedem Finger vier Elemente gezählt werden, ergibt sich, dass an den Fingerspitzen Vielfache von Vier auftreten. Dies bedeutet, dass, wenn die Daumen der jeweiligen Hände an der jeweiligen Zeigefingerspitze bei Null zu zählen beginnen, der Wert sich an den Fingerspitzen der rechten Hand um vier, wohingegen bei der linken um jeweils 4016 bzw. 64, erhöht. Rückt man an der linken Hand nur um ein Fingerglied vor oder zurück, so ändert sich der dargestellte Wert um 1016 bzw. 16. Siehe auch Hexadezimale Farbdefinition – die Darstellung einer Farbe mit hexadezimaler Kodierung des Rot-, Grün- und Blauwertes Hex-Editor – ein Editor, um beliebige Dateien, die als Folge von Hexadezimalzahlen dargestellt werden, zu bearbeiten Hexadezimalzeit – ein 1863 vorgeschlagenes Uhrzeitformat, das sich nicht durchgesetzt hat Hexspeak – spezielle Begriffe, die sich durch Ziffern und die Buchstaben A–F darstellen lassen Stellenwertsystem Unärsystem (1) Dualsystem (2) Ternärsystem (3) Quaternär (4) Quinär (5) Senär (6) Dezimalsystem (10) Weblinks Online-Umrechner für verschiedene Zahlensysteme Zahlensysteme im Vergleich Historischer mechanischer Taschenrechner für das Hexadezimalsystem auf einestages Einzelnachweise Zeichenkodierung Zahlensystem
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https://de.wikipedia.org/wiki/Handwerk
Handwerk
Als Handwerk (von mittelhochdeutsch hant-werc, eine Lehnübersetzung zu lateinisch opus manuum und cheirurgía „Handarbeit“) werden zahlreiche gewerbliche Tätigkeiten bezeichnet, die Produkte meist auf Bestellung fertigen oder Dienstleistungen auf Nachfrage erbringen. Der Begriff bezeichnet auch den gesamten Berufsstand. Die handwerkliche Tätigkeit steht der industriellen Massenproduktion gegenüber. Das handwerkliche Gewerbe wird in Deutschland verbindlich durch die Handwerksordnung geregelt. Geschichte Antike Im Griechenland der klassischen Zeit war die Handwerkskunst (téchnai banausikaí, daher auch unser heutiges Wort „Banause“) insbesondere in den größeren Poleis nicht besonders hoch angesehen. So schrieb Xenophon in seinem Werk Oikonomikós (4, 2-3): „Denn gerade die so genannten handwerklichen Berufe sind verrufen und werden aus gutem Grund in den Städten besonders verachtet. Sie schädigen nämlich die Körper der Arbeiter und Aufseher, indem sie diese zwingen, zu sitzen und unter einem Dach zu arbeiten; manche nötigen sie sogar dazu, den ganzen Tag vor dem Feuer zuzubringen. Sind die Körper aber erst verweichlicht (wörtlich: verweiblicht, d. h. mit der hellen Hautfarbe der im Haus Tätigen), werden auch die Seelen anfälliger für Krankheiten. Auch gewähren die so genannten handwerklichen Berufe die geringste freie Zeit, sich noch um Freunde oder die Stadt zu kümmern, so dass solche Leute unbrauchbar zu sein scheinen für geselligen Umgang und zur Verteidigung des Vaterlandes. Folglich ist es in einigen Städten, besonders aber in denen, die als kriegstüchtig gelten, auch keinem Bürger erlaubt, in handwerklichen Berufen zu arbeiten.“ Sein Hauptargument gegen das Handwerk ist die Arbeit im Inneren einer Werkstatt, was er mit Tätigkeiten einer Frau innerhalb des Hauses gleichsetzt. Das Ausüben eines Handwerks disqualifiziert also den Handwerker für den Kriegsdienst; er kann also seine Polis nicht verteidigen. Außerdem bleibe nach Xenophon bei einem Handwerk keine Freizeit übrig, die man für Freunde oder sonstige Tätigkeiten für die Polis aufbringen könnte. Platon hingegen sieht in seinem Werk Politeia (601c–602a) den Handwerker in zu starker Abhängigkeit von dem Konsumenten: „Nun aber bezieht sich doch die Qualität und die Schönheit und die richtige Beschaffenheit eines jeden Gerätes und Gegenstandes sowie Lebewesens auf nichts anderes als auf den Gebrauch, wozu eben ein jedes hergestellt oder von Natur aus hervorgebracht ist.“ – „Notwendig also ist auch der Gebrauchende immer der Erfahrenste und er muss dem Herstellenden Bericht erstatten, wie sich das, was er gebraucht, gut oder schlecht zeigt im Gebrauch. Wie der Flötenspieler dem Flötenmacher Bescheid geben muss bezüglich der Flöten, welche ihm gute Dienste leisten beim Flöten, und ihm angeben muss, wie er sie machen soll, dieser aber muss Folge leisten.“ – „Natürlich.“ – „Der eine also als Wissender gibt an, was gute und schlechte Flöten sind, der andere aber stellt sie her als Glaubender?“ – „Ja.“ – „Von demselben Gerät also hat der Herstellende einen richtigen Glauben, wie es schön sei oder schlecht, weil er mit dem Wissenden umgeht und genötigt wird, auf diesen Wissenden zu hören; die Wissenschaft davon aber hat der Gebrauchende.“ Aufgrund dieser Abhängigkeit kann der Handwerker für Platon nicht im eigentlichen Sinne „frei“ sein, bekommt also einen sklavenähnlichen Status. Schließlich geht Aristoteles in seinem Buch Politik (1328b–1329a) sogar so weit zu sagen, dass eine Polis nur dann glücklich sein kann, wenn keiner ihrer Bürger ein Handwerk ausüben muss: „Da wir nun nach der besten Verfassung fragen, also derjenigen, bei der die Stadt am glücklichsten ist, und da wir vorhin feststellten, dass die Glückseligkeit ohne Tugend nicht bestehen kann, so ist klar, dass in der am besten verwalteten Stadt, deren Bürger also schlechthin und nicht nur unter bestimmten Voraussetzungen gerecht sind, diese weder das Leben von Handwerkern noch von Kaufleuten führen dürfen. Denn ein solches Leben ist unedel und widerspricht der Tugend.“ Dennoch kann von keiner allgemeinen Verachtung des Handwerks gesprochen werden. So erkannte Xenophon in seinem Werk Kyrupädie die Vorteile der Spezialisierung und der Arbeitsteilung (VIII 2, 6–7): „Denn ebenso wie die verschiedenen Handwerkskünste in den großen Städten am höchsten entwickelt sind, sind auf dieselbe Weise auch beim König die Speisen besonders gut zubereitet. In den kleinen Städten fertigen dieselben Leute ein Bett, eine Tür, einen Pflug, einen Tisch, und oft baut auch ebenderselbe Mann Häuser und ist zufrieden, wenn er so nur genügend Arbeit findet, um sich zu ernähren. Nun ist es aber unmöglich, dass ein Mensch, der vieles macht, alles gut macht. In den großen Städten aber genügt jedem auch ein Handwerk, um sich zu ernähren, da viele einer jeden Sache bedürfen. Oft genügt auch weniger als ein ganzes Handwerk: Z. B. fertigt der eine Schuhe für Männer, der andere für Frauen. Es gibt auch Orte, wo einer allein davon lebt, Schuhe zu reparieren, ein anderer davon, sie zuzuschneiden, wieder ein anderer nur davon, dass er die Oberleder zusammennäht, und schließlich einer, der nichts von alldem tut, sondern diese Teile zusammenfügt. Es ist nun aber zwingend, dass der, der auf einem kleinen Gebiet arbeitet, seine Arbeit am besten kann.“ Mittelalter Im weitgehend bäuerlich geprägten Frühmittelalter spielten die sich später spezialisierenden Handwerkstätigkeiten wie die Verarbeitung von Nahrungsmitteln, die Herstellung von Textilien oder das Fertigen von Geräten und Bauten aus Holz noch eine verschwindend geringe Rolle gegenüber der häuslichen Eigenproduktion. Spezielle Arbeitstechniken, wie Bronzeguss, Malerei und Bildhauerei, waren an Klöster gebunden. Erst im Hochmittelalter und mit der Städtebildung erhielten urbane Zentren ihre antike Bedeutung zurück. Die hergestellten Waren wurden auf Märkten feilgeboten oder in Werkstätten und Läden ausgestellt und verkauft. Eine Ausnahmerolle spielten Baumeister und Steinhauer, die, von einer (Kirchen-)Bauhütte zur nächsten ziehend, über territoriale Grenzen hinweg Fertigkeiten, Innovationen und Stilentwicklungen verbreiteten. Wichtige handwerkliche Berufe waren Schmied oder Töpfer, deren Tätigkeiten schon damals eine umfangreichere Ausrüstung erforderten. Mit der kulturellen Entwicklung des städtischen Lebens ging eine Diversifizierung der Textilherstellung und Lederverarbeitung einher, Goldschmiede, Möbeltischler oder Zinngießer brachten kunsthandwerkliche Sonderleistungen hervor. Einzelne Gewerke der städtischen Handwerkerschaft schlossen sich bis gegen Ende des Mittelalters zu selbstverwalteten Zünften zusammen. Neben ihnen gab es nur wenige freie Gewerbe und einzelne, vom Zunftzwang befreite Freimeister, aber zahlreiche heimlich in Vorstädten und auf Dachböden arbeitende Handwerker, die von den entsprechenden Zunftmeistern verfolgt wurden. Die politische Machtteilhabe der Handwerker an den sich entwickelnden städtischen Gremien war im deutschsprachigen Raum sehr unterschiedlich, doch überwogen solche kommunalen Verfassungen, in denen grundbesitzende und handeltreibende Familien das Sagen hatten. Zu den sogenannten „artes mechanicae“, den praktischen Künsten, zählte man im europäischen Mittelalter sieben verschiedene Handwerke: vestiaria (Bekleidungshandwerk, d. h. Schneider, Gerber, Weber) agricultura (Landwirtschaft) architectura (Bauhandwerk, d. h. Steinmetzhandwerk, Maurerhandwerk, Schreinerei) militia und venatoria (ersteres Kampfkunst und Waffenkunde, letzteres das Jagdhandwerk) mercatura (Handel und kaufmännische Tätigkeiten) coquinaria (Kochkunst) metallaria (Schmiedehandwerk, Metallurgie) Aus dem Mittelalter stammt das deutsche Sprichwort Handwerk hat goldenen Boden, dessen Spruch vollständig lautet Handwerk hat goldenen Boden, sprach der Weber, da schien ihm die Sonne in den leeren Brotbeutel. Der Spruch war sarkastisch auf die Armut vieler kleiner Handwerksmeister, insbesondere der Weber, gemünzt. Im Tiroler Freilichtmuseum Knappenwelt Gurgltal wird bei der jährlichen Handwerkerey originalgetreues Handwerk aus dem Mittelalter präsentiert, u. a. Töpfern, Schmieden, Wollverarbeitung und Bogenbau. Frühe Neuzeit Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nahmen die berufsständischen Regelungen, zum Beispiel zur Lehrzeit, zum Lehrgeld, dem Gesellenstück, der Walz oder der Meister­prüfung mit dem Ansteigen der Komplexität der Berufskonzepte und der fortschreitenden Spezialisierung weiter zu. Die zeitgenössische Ständeliteratur verzeichnete die wichtigsten Handwerke, Verrichtungen, Arbeitsgegenstände und Arbeitsmittel. Wandernde Gesellen erlernten, überlieferten und verbreiteten unterschiedliche Arbeitstechniken. Zudem erfolgte durch die Walz ein gewisser Arbeitsmarktausgleich. Arbeitszeugnisse der Handwerker waren häufig kalligraphisch kunstvoll ausgestaltete Handwerkskundschaften. Handwerk hatte sprichwörtlich einen goldenen Boden. Berufswahl erfolgte zumeist standesgemäß nach der Ständeordnung. Frauen, Juden, unehelich geborenen Menschen und Nachkömmlingen von sogenannten Ehrlosen (zum Beispiel Henkerskinder) blieb der Zugang zu traditionellen Handwerken häufig verwehrt. In zünftischen Handwerksbetrieben spielten die Meistersfrauen – wie dies anhand des Schreinerhandwerks in Basel gezeigt wurde – allerdings eine wichtige Rolle, indem sie in praktisch allen Produktionsvorgängen einschließlich Materialbeschaffung und Absatz beteiligt waren, und Witwen durften sogar vielfach einen Handwerksbetrieb in eigener Regie leiten. Entsprechend der wirtschaftlichen Bedürfnisse, der Entwicklung bestimmter Technologien und dem Zeitgeschmack blühten zusätzlich zu den traditionellen Handwerksberufen wie Fleischer oder Goldschmied neue Berufe wie Buchdrucker, Kupferstecher, Orgelbauer oder Perücken­macher auf. Handwerker hatten sich bei einem Brand gemäß Anordnungen des 18. Jahrhunderts zur Brandverhütung im Kurfürstentum Trier und in weiteren Kurfürstentümer des Heiligen Römischen Reiches mit ihrem Werkzeug zum Brand zu begeben, um dort fachmännisch zu helfen. Entwicklung in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert Angeregt durch die Französische Revolution und die dann einsetzende Industrialisierung setzte sich im Europa des 19. Jahrhunderts schließlich langsam die Gewerbefreiheit durch, die jedem Bürger das Recht zubilligte, ein Handwerk eigener Wahl auszuüben. Am 2. November 1810 wurde die Gewerbefreiheit in Preußen eingeführt. Am 21. Juni 1869 wurde schließlich die „Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund“ verabschiedet, die nach der Reichsgründung 1871 im ganzen Reich Gültigkeit erlangte. Jeder Bürger war nun berechtigt, einen Handwerksbetrieb zu gründen. 1897 und 1908 wurde die Gewerbeordnung schließlich novelliert; sie wird heute allgemein als Fundament des dualen Systems der Berufsausbildung betrachtet. Insbesondere seitens der Handwerksmeister waren Bemühungen, die Gewerbefreiheit wieder zu beschränken, ersichtlich. So wurde 1897 ein Handwerksgesetz verabschiedet, das eine Handwerkskammer legitimierte und der alle Handwerker beizutreten hatten. 1908 wurde der „kleine Befähigungsnachweis“ erlassen, der für die Ausbildung von Lehrlingen wieder den Meisterbrief erforderlich machte. Den Abschluss der Bewegung stellte die Handwerksordnung von 1935 mit der Wiedereinführung des großen Befähigungsnachweises dar, mit dem selbst für die Ausübung eines Handwerks wieder der Meisterbrief verlangt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der amerikanischen Besatzungszone – nun nach US-Vorbild – eine fast schrankenlose Gewerbefreiheit eingeführt. Die vorgeschriebene Mitgliedschaft in den Kammern und Innungen (sogenanntes Institut der fakultativen Zwangsinnung) wurde nun zur freiwilligen Angelegenheit. Ab 10. Januar 1949 genügte eine Postkarte, um ein Gewerbe anzumelden – der Meisterzwang entfiel. Wieder setzte ein Gründungsboom ein. Allein in München wurden im ersten Jahr der Gewerbefreiheit so viele neue Gewerbe angemeldet, wie vorher insgesamt bestanden hatten. Diese Freiheit wurde jedoch 1953 mit Verabschiedung der Handwerksordnung wieder eingeschränkt. Für 94 handwerkliche Berufe wurde abermals bundesweit die Meisterpflicht eingeführt. Federführend waren dabei die Bundestagsabgeordneten Richard Stücklen (CSU) und Hans Dirscherl (FDP). Diese Notwendigkeit des Meisterbriefs wurde unter anderem mit besonderer Gefahrengeneigtheit und hohen Anforderungen an den Verbraucherschutz sowie die dafür nötige fundierte Berufsausbildung gerechtfertigt. Handwerkliche Selbständigkeit ohne Meisterbrief wurde somit als ordnungswidrige Schwarzarbeit strafrechtlich verfolgt. 2003/2004 beschloss der Bundestag eine Novellierung dieser Regelung: In der Handwerksrechtsnovelle wurde die Gewerbefreiheit in 53 Handwerksberufen (aufgeführt in der Anlage B der Handwerksordnung) wieder eingeführt. Für diese Berufsstände reicht nunmehr der kleine Befähigungsnachweis. Die übrigen 41 Handwerke (enthalten in der Anlage A der Handwerksordnung) behalten den Zwang zum großen Befähigungsnachweis, es sollen aber Alternativen zum Meisterbrief geschaffen werden. Handwerk als Wirtschaftsbereich Das Handwerk ist ein heterogener (also vielseitiger) Wirtschaftsbereich. Die Varianten reichen vom Industriezulieferbetrieb bis zum Handwerker im konsumnahen Umfeld, vom mittelständischen Unternehmen mit Hunderten von Mitarbeitern bis zum Kleinstbetrieb. Handwerksunternehmen sind aufgrund ihrer Größe und ihres Leistungsspektrums sowohl auf dem Absatz- als auch auf dem Arbeitsmarkt weitgehend lokal beziehungsweise regional orientiert. Viele Bereiche der Handwerkswirtschaft stehen in unmittelbarer Konkurrenz zur industriellen Fertigung und zur Schwarzarbeit. Letztere macht mittlerweile, mit steigender Tendenz, über 15 % des Bruttoinlandprodukts in Deutschland aus. Deutschland Tätigkeitsfelder Die Handwerksbetriebe sind nach der Handwerksordnung in 53 zulassungspflichtigen, 56 zulassungsfreien und 57 handwerksähnlichen Gewerben tätig. Handwerk definiert sich über die in der Handwerksordnung ausgewiesenen Bereiche (Positivliste). Handwerk beschränkt sich hierdurch überwiegend auf Märkte, deren Expansionschancen in der wissensbasierten Ökonomie teilweise als begrenzt gelten. 43,4 % der Betriebe aus Anlage A sind im Bereich Metall/Elektro, 25,8 % im Bau- und Ausbaugewerbe, 15,6 % im Gesundheits-, Körperpflege oder Reinigungsgewerbe, 7,2 % im Bereich Holz, 6,7 % in den Nahrungsmittelgewerben, 1 % in der Handwerksgruppe Glas-, Papier-, Keramik- und sonstige Gewerbe und weniger als 1 % in der Bekleidungs-, Textil- und Lederbranche. Ein eigenes Thema bzw. Tätigkeitsfeld ist der weit verbreitete Handwerker-Pfusch, womit zum einen die Schwarzarbeit oder das Arbeiten von Personen ohne fachliche Grundlage (die den legal Tätigen also ins Handwerk pfuschen) gemeint sind, zum anderen jede mangelhafte Ausführung eines Handwerks, auch Murks genannt. Laut Gewährleistungspflicht wird dann ein Nachbessern oder ein anderer Leistungsausgleich fällig. Der Streit darum beschäftigt vermehrt Gerichte, sodass eigene Gütestellen zur Regelung so genannter Bagatellfälle eingerichtet wurden; siehe auch Handwerkerehre. Betriebe und Beschäftigte In rund 887.000 Betrieben arbeiten knapp 5 Millionen Menschen, fast 500.000 Auszubildende werden im Handwerk ausgebildet. Somit sind zurzeit noch 12,8 % aller Erwerbstätigen und rund 31 % aller Auszubildenden in Deutschland im Handwerk tätig. Handwerksunternehmen sind überwiegend Kleinbetriebe. Eine handwerksbezogene Auswertung des IAB-Betriebspanels 2003 belegt, dass 50 % der Betriebe weniger als fünf Mitarbeiter und 94 % weniger als zwanzig Mitarbeiter haben. Etwa 20 % der Handwerker arbeiteten im Jahr 2003 in Betrieben mit weniger als fünf Mitarbeitern, 35 % in Betrieben mit mehr als zwanzig Mitarbeitern. Die größte Gruppe der Handwerker (45 %) war somit in Betrieben mit fünf bis zwanzig Mitarbeitern tätig. Die durchschnittliche Betriebsgröße war 2003 im Handwerk mit 7,6 Beschäftigten nur halb so groß wie in der Gesamtwirtschaft. Im Jahr 2009 erreichte der Umsatz im Handwerk rund 488 Milliarden Euro. Seit mit der Novellierung der Handwerksordnung 2004 in vielen Gewerken der Meisterbrief als Voraussetzung für die Gründung entfiel, ist die Zahl der Handwerksbetriebe deutlich gestiegen, von 846.588 im Jahre 2003 auf 975.000 im Jahre 2009. Die wirtschaftliche Bedeutung des Handwerks erschließt sich allerdings nicht nur aus der Anzahl der Betriebe, der dort beschäftigten Erwerbspersonen und deren Wertschöpfung. Darüber hinaus hat das Handwerk eine besondere regionalpolitische Bedeutung: Die Handwerksbetriebe sind über die Fläche verteilt und tragen Wachstum und Beschäftigung auch in die ländliche Region. Gerade in strukturschwachen Regionen ist die Verfügbarkeit von Handwerksleistungen wiederum ein wichtiger Standortfaktor: Für Standortentscheidungen von Unternehmen ist nicht selten die ortsnahe Verfügbarkeit von Handwerksleistungen (Zulieferer, Dienstleister, Instandhaltung) ein wichtiger Faktor. Für die privaten Haushalte ist die ortsnahe Versorgung mit Leistungen des Handwerks (z. B. Lebensmittel, Kfz-Werkstätten etc.) ein Faktor, der Lebensqualität und Attraktivität der Region vermittelt. Personalstruktur und -entwicklung Die persönliche Qualifikation der Mitarbeiter ist der entscheidende Erfolgsfaktor für die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit des Handwerks. Der Facharbeiter­anteil lag 2003 im Handwerk bei knapp 40 %. Ungelernte Arbeiter machten einen Anteil von nur 18 % aus. Angestellte waren im Handwerk mit 17 % in der Personalstruktur im Vergleich zur Gesamtwirtschaft (35 %) seltener vertreten. Der Frauenanteil lag 2003 mit knapp 33 % erheblich unter dem gesamtwirtschaftlichen Schnitt von 43,3 %. Im Jahr 2003 waren rund 25 % der Beschäftigten im Handwerk in nicht-standardisierten Arbeitsverhältnissen (zum Beispiel Teilzeitbeschäftigung) beschäftigt. Mitarbeiter von Kleinbetrieben nehmen stark unterproportional an externen Weiterbildungsmaßnahmen teil (70,6 % der Großbetriebe greifen auf Angebote privater Weiterbildungsträger zurück, aber nur 16,2 % der Kleinbetriebe). Die Löhne im Handwerk sind rund 25 % geringer als in der Industrie. Die Kluft zwischen Handwerk und Industrie beträgt für Facharbeiter bzw. Gesellen fast 1.000 Euro pro Monat. Unternehmensgründung Die Gründungsquote im Handwerk betrug im Jahre 2001 etwa 4,7 % (gegenüber zirka 12 % in der Gesamtwirtschaft). Allerdings weisen deutsche Handwerksunternehmen eine überdurchschnittliche Lebenserwartung auf. Dies ist vor allem auf die gute Vorbereitung der „gründungsbereiten“ Jungunternehmer wegen des Meisterbriefes (großer Befähigungsnachweis) und auf die umfangreiche Gründungsberatung der Handwerkskammern zurückzuführen. Perspektiven Folgende Entwicklungstrends sind für die Zukunft der Handwerksbetriebe in Deutschland – und Europa – maßgeblich: Die demografische Entwicklung wird viele Absatzmärkte des Handwerks verändern; hier bestehen sowohl Risiken (Verlust von Kunden) als auch Chancen (Angebot besonderer Leistungen für ältere Kunden). Gleichzeitig wird es für das Handwerk zunehmend schwieriger, im Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte Personal im notwendigen Umfang und mit der notwendigen Qualifikation zu gewinnen. Die Innovationsfähigkeit des Handwerks ist gegenüber der Industrie deutlich schwächer ausgeprägt. Handwerkliche Innovationen beziehen sich – im Gegensatz zu industriellen – besonders auf unternehmens- und anwendungsbezogene neue Entwicklungen, Lösungen und Verfahren. Auch der internationale Wettbewerb wird sich zunehmend auf das Handwerk auswirken; hier bestehen ebenfalls sowohl Risiken als auch Chancen. Vor dem Hintergrund dieser Trends – die die verschiedenen Gewerke in unterschiedlichem Maße betreffen – gewinnt die berufliche Aus- und Weiterbildung stärker denn je an Bedeutung. Nur mit hochwertig ausgebildetem Personal kann das Handwerk die Herausforderungen der Zukunft meistern und Zukunftschancen nutzen. Ein attraktives Aus- und Weiterbildungsangebot ist außerdem auch notwendig, um qualifizierte Berufseinsteiger für das Handwerk zu gewinnen. Untersuchungen zur Zukunft des Handwerks haben Chancen und Risiken dieses speziellen Wirtschaftsbereiches mit folgenden Ergebnissen analysiert. Viele Handwerksunternehmen können als KMU sehr flexibel und dynamisch im Wettbewerb agieren. Sie sind allerdings häufig auch überproportional von ungenügenden Finanzierungsmöglichkeiten, Fachkräftemangel, fehlenden Erfahrungen und Ressourcen auf dem Gebiet der Außenwirtschaft und Kooperation sowie mangelnder Teilhabe an Forschung und Entwicklung betroffen. Im Handwerk fallen traditionell niedrige Qualifikationserwartungen und gefordertes hohes Kompetenzprofil der Mitarbeiter zur Bewältigung komplexer Aufgaben immer weiter auseinander. Das Handwerk bietet hervorragende Identifizierungsmöglichkeiten. Handwerk steht für Regionalität, Herkunft, Authentizität, Handbearbeitung, Transparenz über Materialien, Inhalte und Verarbeitungsweisen. Handwerksunternehmen setzen in der Regel weniger auf Wachstum als auf Qualität und Balance. Handwerk in Deutschland leistet innovative Beiträge zu Produktentwicklungen. Eine Studie der Prognos AG untersucht die Innovationsbeiträge des Handwerks. Handwerker liefern unter engem Kundenkontakt und Berücksichtigung der Kundenwünsche anspruchsvolle und individuelle Lösungen. Handwerker reparieren, tauschen aus und restaurieren. Sie setzen in ökologischer und ökonomischer Notwendigkeit vermehrt auf Erhalt des Bestehenden. Das Handwerk ist im Umschwung begriffen: Betriebe, die innovative, kreative und komplexe Leistungen anbieten, erfahren Aufschwung, wohingegen traditionelle Betriebe vermehrt mit wirtschaftlichem Abschwung rechnen. Wegen explodierender Rohstoff- und Energiepreise erfahren Recycling, Energieeffizienz, minimierter Materialeinsatz und Reparaturen als Geschäftsfelder im Handwerk weitere Bedeutung. Die Generation 35 plus fordert zukunftsweisende Handwerkerleistungen. Insbesondere Frauen, die zu 80 % über die Verteilung verfügbaren Einkommens der Haushalte entscheiden, sollten als Hauptzielgruppe gelten. (Ältere) Kunden begnügen sich nicht allein mit qualitativ hochwertigen Handwerkerleistungen; sie erwarten kraft Wertewandels mehr an Spaß und Unterhaltung durch Produkte und Leistungen. Erfolgreiche Gestaltung von Unternehmenskooperationen für handwerkliche KMU wird, auch in Anbetracht vieler Fehlgriffe, zur Überlebensfrage. Kooperativität verspricht, angestrebte Produktivität überproportional zu steigern. Handwerk aus Deutschland hat international einen ausgezeichneten Ruf. Handwerkliche Unternehmen finden zunehmend Märkte in den europäischen Nachbarländern, etwa in Großbritannien, Polen, den Niederlanden und Norwegen, nachdem dort strukturelle Defizite zu einem Defizit vergleichbarer handwerklicher Qualifikationen geführt haben. Das Handwerk ist traditionell an einer Berufsausbildung interessiert. Daher hat das Handwerk auch Interesse, dass nur gut ausbildete Handwerker (idealerweise Meister) einen Handwerksbetrieb führen dürfen. Allerdings wurden bei Novellierungen der Handwerksordnung auch Gewerke ohne Meisterabschluss zur Gründung eines Handwerksbetriebes zugelassen. Das Handwerk hat dabei durchaus ein Interesse eine gründliche, meist dreijährige Ausbildung in einem Beruf durchzuführen. Derzeit gibt es eine heftige Diskussion über die Einordnung der (handwerklichen) Berufe in einen deutschen Qualifikationsrahmen. Letztlich geht es um die Zuordnung (handwerklicher) Berufe zu schulischen Abschlüssen und um die Durchlässigkeit und Chancengerechtigkeit beim Zugang zu den Hochschulen auch für Menschen mit einer Berufsausbildung und einem Meisterabschluss. In allen Bundesländern, qualifizieren sich Handwerksmeister zugleich mit der Meisterprüfung bzw. der Prüfung zum Gestalter im Handwerk zur Berechtigung, an einer Hochschule ein Fach ihrer Wahl zu studieren. In Bayern haben Handwerksmeister seit dem Wintersemester 2009/2010 die Hochschulzugangsberechtigung; 387 Handwerksmeister haben sich im Wintersemester 2009/2010 an den bayerischen Universitäten eingeschrieben. Handwerksgesellen erwerben die Fachhochschulreife. Daneben besteht eine Möglichkeit zur Weiterbildung für Handwerker zum „Gestalter im Handwerk“, wo unter anderem Kurse in Zeichnen und Darstellungstechniken, Grundlagen der Gestaltung, Farbgestaltung, Entwurf, Gestaltung, Projektentwicklung, Materialkunde, Werktechnik und Modellbau, Typografie und Layout, Fotografie und Dokumentation, Kunst- und Designgeschichte, Präsentation und Designmanagement belegt werden müssen. Die Prüfung findet in Form einer umfangreichen Projektarbeit statt. Die Akademien für Gestaltung in Deutschland sind dem Bildungsangebot ihrer jeweiligen Handwerkskammern angeschlossen und bieten den einjährigen Vollzeitkurs oder den berufsbegleitenden 2-jährigen Kurs an. Diverse Fördermodelle unterstützen Handwerker dabei. Organisationsstruktur Das Handwerk ist in Deutschland wie folgt organisiert: Jeder zulassungspflichtige Handwerksbetrieb, die zulassungsfreien sowie handwerksähnliche Handwerke sind Pflichtmitglied in der regional zuständigen Handwerkskammer (vergleichbar der Industrie- und Handelskammer oder Rechtsanwaltskammer). Die Kammern bilden auf Ebene der Bundesländer regionale Kammertage und auf Bundesebene den Deutschen Handwerkskammertag als Spitzenorganisation der Handwerkskammern in Deutschland. Ferner sind viele Handwerksbetriebe in Innungen freiwillig organisiert. Diese Innungen eines Kreises bilden auf regionaler Ebene die Kreishandwerkerschaften. Innungen desselben oder sich fachlich nahestehender Handwerke eines oder mehrerer Bundesländer können sich zu Landesfach- beziehungsweise Landesinnungsverbänden zusammenschließen. Diese Verbände können sich auf Landesebene zu regionalen handwerkeübergreifenden Regionalvereinigungen als landesweite Arbeitgeberverbände (oft Unternehmer- oder Gesamtverband bezeichnet) zusammenschließen. Auf Bundesebene bilden sie die Bundesinnungsverbände bzw. Zentralfachverbände, welche sich im Unternehmerverband Deutsches Handwerk (UDH) als Spitzenorganisation der Arbeitgeber im Handwerk Deutschlands zusammengeschlossen haben. In den Bundesländern bilden die regionalen Kammertage mit den Unternehmer- bzw. Gesamtverbänden die regionalen Handwerkstage als Vertretung des Handwerks auf Länderebene. Die 53 Handwerkskammern und 36 Zentralfachverbände bilden mit weiteren bedeutenden Einrichtungen des Handwerks den Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Der ZDH ist Mitglied der UEAPME, der Europäischen Union des Handwerks und der Klein- und Mittelbetriebe mit Sitz in Brüssel. Weitere Organisationen des Handwerks sind z. B. die Junioren des Handwerks, welche speziell die Interessen junger Handwerksmeister und Führungskräfte vertreten, sowie der Arbeitskreis Unternehmerfrauen im Handwerk als Vertretung der im Handwerk tätigen Unternehmerinnen und in Leitungspositionen im Handwerk arbeitenden Frauen. Die folgende Grafik gibt einen Überblick der deutschen Handwerksorganisation: „Das Handwerk. Die Wirtschaftsmacht. Von nebenan.“ Bei „Das Handwerk. Die Wirtschaftsmacht. Von nebenan.“ handelte sich um eine eingetragene Marke des Deutschen Handwerkskammertages (DHKT). Seit 2010 führt das deutsche Handwerk unter dem entsprechenden Markendach eine bundesweite Imagekampagne durch mit der Zielsetzung, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung des Handwerks zu unterstreichen und jungen Menschen die Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten in den über 130 Handwerksberufen aus folgenden Bereichen näher zu bringen: Bau und Ausbau Metall und Elektro Holz und Kunststoff Bekleidungs-, Textil- und Lederhandwerk Lebensmittelhandwerk Gesundheits- und Körperpflegehandwerk sowie chemisches und Reinigungsgewerbe Grafisch-Gestaltendes Handwerk Die Kampagne vermittelt ein modernes Bild des Wirtschaftsbereichs, räumt mit Vorurteilen auf und gibt Einblick in Ausbildung und Berufsalltag im Handwerk. Durchgeführt wird die Kampagne vom Deutschen Handwerkskammertag im Auftrag der 53 Handwerkskammern. Neben bundesweiten Werbemaßnahmen in TV und auf Plakaten macht „Das Handwerk“ regelmäßig mit unterschiedlichen Aktionen auf sich aufmerksam und bietet jungen Menschen eine Anlaufstelle zur digitalen Berufsorientierung im Handwerk. Ausgewählte Aktionen: Tag des Handwerks Geilstes Praktikum der Welt Die Rekordpraktikanten Handwerk bringt dich überall hin Werkzeuge zur Berufsorientierung: Der „Berufe-Filter“ ist ein Dienstprogramm, um auf Basis der eigenen Interessen Berufe im Handwerk zu entdecken. Der „Lehrstellen-Radar“ ist eine Plattform, auf der bundesweite Praktika und Ausbildungsstellen von Handwerksbetrieben eingetragen werden können und von potenziellen Azubis für die Suche danach genutzt werden können. Kontinuierliche Bespielung der Social-Media-Kanäle Instagram, Facebook, Twitter, TikTok und YouTube Zitate Richard Sennett: „Etwas selbst dann richtig zu tun, wenn man dafür vielleicht gar nichts dafür bekommt, das ist wahrer Handwerksgeist. Und wie ich meine, vermag nur solch ein uneigennütziges Gefühl des Engagements und der Verpflichtung die Menschen emotional zu erheben. Anderenfalls unterliegen sie im Kampf ums Überleben.“ „Eine umfassende Definition [für eine handwerkliche Einstellung (im weiteren Sinn)] könnte lauten: etwas um seiner selbst willen gut machen. In allen Bereichen handwerklicher Einstellung spielen Disziplin und Selbstkritik eine wichtige Rolle. Man orientiert sich an gewissen Standards, und im Idealfall wird das Streben nach Qualität zum Selbstzweck.“ Siehe auch Handwerkerehre Handwerksmeister Der Letzte seines Standes? (eine Doku-Fernsehreihe des BR über seltene Handwerke) Kunsthandwerk (Kunstgewerbe) Zentralverband der Deutschen Elektro- und Informationstechnischen Handwerke Artigiano in Fiera Literatur Rainer S. Elkar unter Mitarbeit von Katrin Keller und Helmuth Schneider: Handwerk – Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Theiss Verlag, Darmstadt 2014. 224 Seiten. ISBN 978-3-8062-2783-3. Wolfgang Herzog: WissensQuick: Zukunft Lehre im Handwerk. Warum eine Lehre im Handwerk beste Zukunftschancen hat. Ein Plädoyer eines erfahrenen Handwerksmeisters. Edition Aumann, Coburg 2011. 87 Seiten. ISBN 978-3-942230-75-9. Peter John: Handwerk im Spannungsfeld zwischen Zunftordnung und Gewerbefreiheit – Entwicklung und Politik der Selbstverwaltungsorganisationen des deutschen Handwerks bis 1933 Bund-Verlag Köln 1987. Thomas Schindler, Carsten Sobik, Sonja Windmüller (Hrsg.): Handwerk. Anthropologisch, historisch, volkskundlich (= Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung N.F. 51). Jonas, Marburg 2017. ISBN 978-3-89445-543-9 Knut Schulz (Hrsg.): Handwerk in Europa. Vom Spätmittelalter bis zur Frühen Neuzeit (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 41). Oldenbourg, München 1999, ISBN 978-3-486-56395-5 (Volltext als PDF) Richard Sennett: Handwerk Berlin-Verlag, Berlin 2008 ISBN 3-8270-0033-5 (soziologisch, siehe z. B. Zitate) Rezension: Thomas Macho in NZZ, 24. Januar 2008 Jendrik Scholz: Krise des korporatistischen Arrangements und gewerkschaftliche Revitalisierungsansätze im Handwerk, in: Schmalz, Stefan; Dörre, Klaus (Hrsg.): Comeback der Gewerkschaften? Neue Machtressourcen, innovative Praktiken, internationale Perspektiven, Frankfurt am Main 2013, S. 199–212, Campus-Verlag, ISBN 978-3-593-39891-4 Jendrik Scholz: Regionale Strukturpolitik am Beispiel Trier und Luxemburg – Entwicklung von Methoden, Instrumenten, Referenzprozessen und politischen Handlungsempfehlungen zur Förderung des Technologie- und Innovationstransfers im Handwerk, in: Verwaltung & Management – Zeitschrift für allgemeine Verwaltung, Jahrgang 15, Heft 3/2009, S. 163–167 Weblinks Zentralverband des deutschen Handwerks e. V. Statistisches Bundesamt (Destatis): Daten und Aufsätze zum Thema „Handwerk“ Einzelnachweise Wirtschaftszweig Unternehmensart nach Wirtschaftszweig
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https://de.wikipedia.org/wiki/Handelsrecht%20%28Deutschland%29
Handelsrecht (Deutschland)
Handelsrecht ist ein spezielles Privatrecht, das die Gesamtheit aller Rechtsnormen für Kaufleute umfasst. Allgemeines Kaufleute unterliegen in Deutschland und weltweit einem Sonderrecht, das Teilgebiete ihrer Geschäftstätigkeit regelt. Diese Teilgebiete sind in Spezialgesetzen wie Handelsgesetzbuch (HGB) und dessen Nebengesetzen wie Scheckrecht (SchG) und Wechselrecht (WG) kodifiziert. Im weiten Sinn gehören auch die Normen des Gesellschaftsrechts, Wertpapier-, Bank-, Kapitalmarkt- und Börsenrechts zum Handelsrecht. Die Geltung des Handelsrechts ist nach dem HGB abhängig von der Kaufmannseigenschaft wenigstens eines der beteiligten Rechtssubjekte (so genanntes „subjektives System“; vgl. , HGB). Anders als es der Name vermuten lässt, gilt das heutige Handelsrecht nicht nur für Kaufleute, die Handel treiben, sondern auch für Handwerk, Industrie, Urerzeugung und die Gruppe der Dienstleister außerhalb der freien Berufe (etwa Gastronomie, Taxiunternehmen, Kinos). Geschichte Im Mai 1861 wurde das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch (ADHGB) der Staaten des Deutschen Bundes durch Erlass als Reichsgesetz zur Kodifikation des Handelsrechts aller Länder im neu entstandenen Deutschen Reich. Das neue HGB trat gleichzeitig mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) am 1. Januar 1900 in Kraft. Rechtsquellen Wichtigste Rechtsquelle ist das Handelsgesetzbuch. Das Handelsrecht steht als „Sonderprivatrecht der Kaufleute“ nicht in sich abgeschlossen neben dem Bürgerlichen Recht, sondern ergänzt und modifiziert dessen Vorschriften, insbesondere die des Bürgerlichen Gesetzbuches. Gegenüber dem Handelsgesetzbuch wird dieses nach Abs. 1 EGHGB daher nur subsidiär angewendet. Weitere handelsrechtliche Vorschriften finden sich in der Zivilprozessordnung ( Abs. 2, Abs. 1, ZPO) und im Börsengesetz ( BörsG). Eine große Bedeutung haben daneben das Gewohnheitsrecht (etwa die Lehre vom Scheinkaufmann, das kaufmännische Bestätigungsschreiben) und der Handelsbrauch ( HGB). Daneben ist in Registersachen das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (kurz FamFG) einschlägig. Handelsstand Kaufmannsbegriff und Kaufmannseigenschaft Das Handelsgesetzbuch beginnt mit dem Kaufmannsbegriff. Die Kaufmannseigenschaft löst zahlreiche Pflichten und Privilegien der Kaufleute aus. Hierzu zählen: ein hohes Maß an Privatautonomie; so dürfen etwa Vertragsstrafen nicht nach BGB herabgesetzt werden ( HGB), Bürgschaft, Schuldversprechen und Schuldanerkenntnis unterliegen keinen Formerfordernissen (Formfreiheit; HGB) der Grundsatz der Entgeltlichkeit (auch ohne besonderer Vereinbarung; HGB) die zügige Abwicklung der Rechtsgeschäfte, etwa durch das Erfordernis der unverzüglichen Mängelrüge ( HGB) der gesteigerte Verkehrs- und Vertrauensschutz, etwa durch den Publizitätsschutz des Handelsregisters (, HGB) und den Schutz des guten Glaubens an die Verfügungsbefugnis des Verfügenden ( HGB). Begriff des Gewerbes Nach überkommener Auffassung der höchstgerichtlichen Rechtsprechung und der Rechtslehre ist ein (Handels-)Gewerbe jede erlaubte, selbständige, nach außen erkennbare Tätigkeit, die planmäßig, für eine gewisse Dauer und zum Zwecke der Gewinnerzielung ausgeübt wird und kein „freier Beruf“ ist. In der neueren Literatur wird jedoch das Merkmal der Gewinnerzielung in Frage gestellt und von der nunmehr herrschenden Meinung mit der Begründung verneint, diese sei als reines Internum anzusehen. Dem Unternehmen stehe es frei, ob es Gewinn erzielen wolle oder nicht. Handelsregister Angaben zu wesentlichen Tatsachen der Kaufleute und der Unternehmen werden im Handelsregister eingetragen. Kaufmännische Absatz- und Geschäftsmittler Der Handelsvertreter Handelsvertreter ist nach Abs. 1 Satz 1 HGB, „wer als selbständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, für einen anderen Unternehmer (Unternehmer) Geschäfte zu vermitteln oder in dessen Namen abzuschließen.“ Wirtschaftlich gesehen ist seine Rolle meist als Absatzmittler aufzufassen. Als Gewerbetreibender nach Abs. 1 HGB ist er Kaufmann, soweit die Voraussetzungen des Abs. 2 HGB vorliegen oder er nach HGB ins Handelsregister eingetragen ist. Seine Tätigkeit besteht in der Vermittlung von Geschäften für den Unternehmer und im Abschluss von Geschäften im Namen des Unternehmers. Der Handelsvertretervertrag ist ein Geschäftsbesorgungsvertrag mit Dienstleistungscharakter nach Abs. 1 iVm § ff. BGB. Der Vertragshändler Vertragshändler ist, wer als selbständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, die Produkte eines anderen Unternehmers im eigenen Namen und für eigene Rechnung zu vertreiben und deren Absatz in ähnlicher Weise wie ein Handelsvertreter oder Kommissionsagent zu fördern. Ihm steht nach BGH-Ansicht (BGHZ 29, 83, 88 f.) analog HGB ein Ausgleichsanspruch zu, wenn zwischen ihm und dem Hersteller oder Lieferanten ein Rechtsverhältnis besteht, das sich nicht in bloßen Käufer-Verkäufer-Beziehungen erschöpft, sondern so in die Absatzorganisation seines Lieferanten eingegliedert ist, dass er wirtschaftlich in erheblichem Umfang dem Handelsvertreter vergleichbare Aufgaben zu erfüllen hat und er verpflichtet ist, dem Hersteller bei Ausscheiden aus der Absatzorganisation den Vorteil des Kundenstammes sofort und ohne Weiteres nutzbar zu machen. Die herrschende Auffassung in der Literatur lässt hingegen die tatsächliche Möglichkeit der Nutzung des Kundenstammes genügen. Handelsgeschäfte Das Kontokorrent Das Kontokorrent gehört zu den praktisch wichtigsten und zugleich dogmatisch schwierigsten Gebieten des gesamten Handelsrechts, was Isaac Abraham Levy gar dazu bewog, es als „mystische Ingredienz“ zu qualifizieren. Wichtigster Anwendungsfall dieser Vereinfachung des Zahlungsverkehrs ist das Bankkontokorrent. Es ist in HGB legaldefiniert und bewirkt die gegenseitige Verrechnung von Forderungen nach Ablauf der Rechnungsperiode. Zu unterscheiden sind vier verschiedene Verträge: die Kontokorrentabrede die Verrechnung die Feststellung des Überschusses der Geschäftsvertrag. Literatur Lehrbücher Claus-Wilhelm Canaris: Handelsrecht. 24. Auflage, C.H. Beck, München 2006, ISBN 978-3-406-52867-5. Karsten Schmidt: Handelsrecht. 5. Auflage, Heymanns, 1999, ISBN 978-3-452-24232-7. Dieter Krimphove: Handelsrecht mit Grundzügen des Wechsel- und Scheckrechts. Mit Hörfassung und interaktiven Fällen. W. Kohlhammer, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-17-021281-7. Tobias Lettl: Handelsrecht. 2. Auflage, C.H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-61491-0. Hans Brox, Martin Henssler: Handelsrecht. 21. Auflage, C.H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-62496-4. Günther Roth, Marc-Philippe Weller: Handels- und Gesellschaftsrecht. 7. Auflage, Vahlen, München 2010, ISBN 978-3-8006-3774-4. Peter Jung: Handelsrecht. 11. Auflage, C.H. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-69531-5. Axel Kokemoor, Rainer Wörlen: Handelsrecht. Mit Gesellschaftsrecht. 11. Auflage, Vahlen, München 2012, ISBN 978-3-8006-3972-4. Eugen Klunzinger: Grundzüge des Handelsrechts. 14. Auflage, Vahlen, München 2011, ISBN 978-3-8006-3805-5. Georg Bitter, Florian Schumacher: Handelsrecht. Vahlen, München 2011, ISBN 978-3-8006-4206-9. Fallbücher Karl-Heinz Fezer: Klausurenkurs im Handelsrecht. 5. Auflage, C.F. Müller, Heidelberg 2009, ISBN 978-3-8114-9733-7. Tobias Lettl: Fälle zum Handelsrecht. C.H. Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-56400-0. Wolfram Timm, Torsten Schöne: Fälle zum Handels- und Gesellschaftsrecht. Band I. 7. Auflage, C.H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60465-2. Wolfram Timm, Torsten Schöne: Fälle zum Handels- und Gesellschaftsrecht. Band II. 7. Auflage, C.H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60475-1. Kommentare Karsten Schmidt: Münchener Kommentar zum HGB. 2. Auflage, C.H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-52627-5. Oliver Haag, Joachim Löffler: Praxiskommentar zum Handelsrecht. 2. Auflage, ZAP, Münster 2013, ISBN 978-3-89655-703-2. Zeitschriften Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Weblinks Handelsgesetzbuch (HGB) mit Volltextsuche Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hypercholesterin%C3%A4mie
Hypercholesterinämie
Unter Hypercholesterinämie versteht man einen zu hohen Cholesterinspiegel im Blut. In der Literatur wird es auch in manchen Fällen gleichbedeutend mit Hyperlipoproteinämie verwendet. Im Allgemeinen wird ab einem Gesamtcholesterin im Blut von 200 mg/dl, dem zurzeit empfohlenen Grenzwert, von einer Hypercholesterinämie gesprochen. Abhängig von der Bestimmungsmethode wird das Blut bei Nüchternheit (12 Stunden nach der letzten Mahlzeit) oder auch bei nicht nüchternen Patienten untersucht. Die Hypercholesterinämie wird als relevanter Risikofaktor insbesondere für Arteriosklerose betrachtet. Eine wesentliche Rolle für den Wert als eigenständiger Risikofaktor kommt dabei der ergänzenden Bestimmung der Unterkategorien HDL und LDL zu. Die Empfehlungen zu den Ober-, aber auch Untergrenzen der Messwerte im Hinblick auf die Risikokonstellation wurden in den vergangenen Jahrzehnten aufgrund neuer Studienergebnisse mehrmals angepasst. Sie sind zudem abhängig von ergänzend vorhandenen Risikofaktoren sowie dem Alter und Vorerkrankungen betroffener Patienten. In Europa gelten zum Beispiel die ESC/EAS-Leitlinien zur Behandlung einer Dyslipidämie als Expertenkonsens. Diese beschreiben die Risikofaktoren, Risikoeinschätzung und Behandlungsmöglichkeiten einer Hypercholesterinämie. Ursachen Es gibt vielerlei Ursachen eines erhöhten Cholesterinspiegels im Blut: erbliche Erkrankungen, aber auch Diabetes, Schilddrüsenunterfunktion, Bauchspeicheldrüsenentzündung, nephrotisches Syndrom, gewisse Lebererkrankungen, Übergewicht, Alkoholismus, Schwangerschaft, die Einnahme bestimmter Medikamente (zum Beispiel Verhütungsmittel, Kortikosteroide und antiretrovirale Wirkstoffe bei HIV-Therapie) und Essstörungen. Hohe Cholesterin-Aufnahme über die Nahrung kann den LDL-C-Wert steigern. Bedeutung als Risikofaktor Die Hypercholesterinämie gilt als ein Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder periphere arterielle Verschlusskrankheit. Die anzustrebenden Zielwerte sind abhängig vom Vorhandensein weiterer Risikofaktoren und Vorerkrankungen. Allgemein sollte bei einem Gesamtcholesterinspiegel im Blut von über 200 mg/dl eine weitere Aufdifferenzierung in LDL- (Low Density Lipoprotein) und HDL- (High Density Lipoprotein) Cholesterin erfolgen, da das LDL-Cholesterin als Risikofaktor gilt (in der Laiensprache als „schlechtes Cholesterin“ bekannt). HDL-Cholesterin wird manchmal als „gutes Cholesterin“ bezeichnet. Prävention kardiovaskulärer Ereignisse Besondere Bedeutung kommt der Hypercholesterinämie als Risikofaktor für kardiovaskuläre Ereignisse zu (z. B. Herzinfarkt), sowohl bei jüngeren als auch älteren Erwachsenen. Primärprävention des Schlaganfalls Eine medikamentöse Lipidsenkung ist von LDL-Wert und individuellem Risikoprofil abhängig zu machen. Bestehen keine zusätzlichen Risikoindikatoren sollte der LDL-Wert unter 130 mg/dl liegen (oder therapeutisch unter diesen Wert gebracht werden). Liegen ein Diabetes mellitus, ein erhöhtes vaskuläres Risiko oder eine KHK vor, sollte er unter 100 mg/dl liegen, und bei Höchstrisikopatienten sogar unter 70 mg/dL. Dieser Wert gilt auch als Risikofaktor für eine Subarachnoidalblutung. Sekundärprävention des Schlaganfalls Eine Hypercholesterinämie wird hier zwar als ursächlich für das Voranschreiten einer Arteriosklerose betrachtet, welches zu einem Schlaganfall führen kann – oft in Kombination mit Hypertonie und anderen Risikofaktoren. Als Sekundärprävention eines Schlaganfalls (d. h. nach erlittenem Schlaganfall) gibt es keine Evidenz für einen bestimmten LDL Zielwert. Nach der abgelaufenen S3 Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie sollte in Anlehnung an kardiovaskuläre Studien ein LDL Zielwert von < 100 mg/dl angestrebt werden. Aneurysmen Die Hypercholesterinämie wird als „minor Risk factor“ für die Entstehung von Bauchaorten- und Beckenarterienaneurysmen eingestuft. Weitere Bedeutung Die Hypercholesterinämie gilt als relative Kontraindikation für den Einsatz von Ovulationshemmern. Für die ketogene Diät (kohlenhydratarme, energie- und proteinbilanzierte sowie extrem fettreiche Diät – imitiert den metabolischen Zustand des Fastens) gilt die Hypercholesterinämie als Kontraindikation. Behandlung Vorrangige Maßnahmen sind Gewichtsreduktion und sportliche Aktivität. Begleitend können eine cholesterinarme, fettreduzierte, kalorienangepasste und ballaststoffreiche Diät hilfreich sein. In Interventionsstudien wurde untersucht, ob eine Umstellung auf eine vegetarische/vegane Ernährung geringere Cholesterinspiegel mit sich bringt. Eine Review von 14 Interventionsstudien kommt zu dem Schluss, dass sich der LDL-Spiegel bei vegetarischer Ernährung um 10–15 % verringert, bei veganer um 15–25 %. Eine Meta-Analyse aus 30 Beobachtungs- und 19 Interventionsstudien bestätigt diese Beobachtung und kommt zu dem Schluss, dass vegane Kostformen den größten Effekt zeigen. Die Lebensstilmedizin von bspw. Dean Ornish, Caldwell Esselstyn, Neal D. Barnard oder John McDougall macht sich diesen Effekt in der Behandlung zunutze. Reduziert sich der Cholesterinspiegel trotz dieser Maßnahmen nicht ausreichend, kann eine zusätzliche medikamentöse Behandlung mittels Statinen notwendig werden. Wie stark der Cholesterinspiegel gesenkt werden soll, ist von den oben genannten individuellen Faktoren abhängig und wird in den ESC/EAS-Leitlinien genau erläutert. Zur Senkung kommen sogenannte CSE-Hemmer (Cholesterin-Synthese-Enzym-Hemmer) vom Typ der HMG-CoA-Reduktase-Inhibitoren in Frage, die zur Verminderung des LDL-Cholesterins führen, indem sie unter anderem dessen Neubildung in der Leber hemmen. Diese Arzneistoffe sind als Statine bekannt. Weitere LDL-senkende Medikamente sind die Austauschharze (Colestyramin, Colesevelam). Des Weiteren gibt es die Wirkstoffgruppen der Fibrate und Nikotinsäurederivate, die aber in der Praxis nach den neueren Studien an Bedeutung verloren haben. [ESC Leitlinie] Nikotinsäurederivate sind sogar in den meisten Ländern nicht mehr zugelassen. Zudem gibt es auch Ezetimib, ein selektiver Cholesterinresorptionshemmer, der nach den ESC/EAS-Leitlinien als Zweitlinien- oder Kombinationstherapie zur zusätzlichen LDL-Cholesterin-Senkung angewandt werden kann. Für therapieresistente Fälle mit hohem kardiovaskulärem Risiko oder bei einer erblich bedingten Störung des Fettstoffwechsels stehen seit Ende 2015 zwei vollhumane Antikörper gegen das Protein Proproteinkonvertase Subtilisin/Kexin Typ 9 zur Verfügung, die PCSK9-Hemmer Alirocumab und Evolocumab. Sie senken das LDL-Cholesterin um durchschnittlich 57 %. Als Ultima Ratio kann bei progredienter kardiovaskulärer Erkrankung unter maximaler lipidsenkender Therapie auch die LDL-Apherese eingesetzt werden. Eine US-Studie der Georgetown University ergab, dass Chrom(III)-nicotinat mit oder ohne der gemeinsamen Einnahme von Traubenkernextrakt zu einer Senkung des Cholesterinspiegels führen kann. Prävention kardiovaskulärer Ereignisse Eine Reduktion der Rate kardiovaskulärer Ereignisse durch Verminderung einer bestehenden Hypercholesterinämie konnte in verschiedenen Altersgruppen festgestellt werden und auch bei Patienten mit Typ II Diabetes mellitus. Primärprävention des Schlaganfalls Der Nutzen von Statinen ist für Hochrisikopatienten insbesondere zur Vorbeugung einer Atherothrombose statistisch belegt und wird daher auch für diese Gruppe von Patienten empfohlen. Sekundärprävention des Schlaganfalls Nach einem ischämischen Schlaganfall wird eine Statintherapie auch bei normalem Cholesterinspiegel empfohlen. Einzelnachweise Stoffwechselkrankheit
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https://de.wikipedia.org/wiki/Haselnussgew%C3%A4chse
Haselnussgewächse
Die Haselnussgewächse (Coryloideae) sind eine Unterfamilie der Birkengewächse (Betulaceae). Manchmal werden sie auch als selbständige Familie Corylaceae angesehen. Die Pflanzenarten dieser Unterfamilie kommen in den gemäßigten Zonen der Nordhalbkugel vor. Beschreibung Es sind laubabwerfende Bäume oder Sträucher. Die wechselständig, spiralig bis zweizeilig angeordneten gestielten Laubblätter sind einfach. Die Blattränder sind (meistens doppelt) gesägt bis gezähnt. Die Nebenblätter fallen früh ab. Sie sind einhäusig getrenntgeschlechtig (monözisch). Die männlichen Blütenstände sind hängende Kätzchen. Die Bestäubung erfolgt über den Wind (Anemophilie). Die weiblichen Blütenstände sind kurz und aufrecht aber je nach Gattung unterschiedlich aufgebaut. Die weiblichen Blütenstände haben laubblattähnliche Hochblätter (Brakteen), dagegen haben die Betuloideae holzige Blütenstände. Die Blütenhülle fehlt bei männlichen Blüten, bei weiblichen Blüten ist sie kelchblattartig. Die männlichen Blüten bestehen nur aus vier bis acht fertilen Staubblättern. Bei den weiblichen Blüten sind zwei Fruchtblätter zu einem unterständigen Fruchtknoten verwachsen, mit zwei Griffeln. Als Früchte werden meist große Nussfrüchte gebildet. Systematik In der Unterfamilie der Haselnussgewächse (Coryloideae) gibt es vier Gattungen mit insgesamt 45 bis 50 Arten: Hainbuchen (Carpinus ) Hasel (Corylus ) Hopfenbuchen (Ostrya ) Scheinhopfenbuchen (Ostryopsis ): Mit nur drei ausschließlich in China beheimateten Arten. Quellen Die Familie der Corylaceae bei DELTA von L.Watson & M.J.Dallwitz. (engl.) Beschreibung der Unterfamilie bei der APWebsite (engl.) Kurzbeschreibung in der Flora of North America. (engl.) Weblinks [ Eintrag bei GRIN.] Birkengewächse
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hartriegelgew%C3%A4chse
Hartriegelgewächse
Die Hartriegelgewächse (Cornaceae) sind eine Familie in der Ordnung Hartriegelartigen (Cornales) innerhalb der Bedecktsamigen Pflanzen (Magnoliopsida). Beschreibung Vegetative Merkmale Die meisten Arten sind Bäume oder Sträucher. Der Kanadische Hartriegel ist jedoch eine immergrüne, ausdauernde krautige Pflanze, in der Gattung Alangium kommen auch Lianen vor. Die gegen- oder wechselständig an den Zweigen angeordneten Laubblätter sind einfach. Generative Merkmale Die Blüten der Hartriegelgewächse sind relativ klein und werden in endständigen, verzweigten Blütenständen gebildet, die manchmal von auffälligen Hochblättern umhüllt sind. Die Arten der Ordnung Hartriegelartigen (Cornales) variieren stark in ihrer Blütenstruktur: Meist jedoch sind die Blüten klein, und vier bis fünf, in ihrer Größe reduzierte Kelchblätter bilden eine mit dem Fruchtknoten verwachsene Röhre. Oft findet sich auf dem oberen Teil des Fruchtknotens eine nektarproduzierende Scheibe. Im Allgemeinen weisen die Blüten vier bis fünf nicht miteinander verwachsene Kronblätter auf, die aber auch vollständig fehlen können. Systematik und Verbreitung Die Familie Cornaceae wurde 1825 durch Friedrich von Berchtold in Jan Svatopluk Presl: O Přirozenosti rostlin, aneb rostlinar, 2, 23, Seite 92, 91 aufgestellt. Ein Synonym für Cornaceae nom. cons. ist Alangiaceae nom. cons. Typusgattung ist (Cornus ) Hartriegelgewächse sind hauptsächlich in den gemäßigten Gebieten der Nordhalbkugel verbreitet. Einige Arten kommen auch im tropischen Südamerika und in Afrika vor. Sie kommen hauptsächlich in den gemäßigten Zonen, oder in Berggebieten der Tropen und Subtropen vor. Nach Angiosperm Phylogeny Group APG III wurden einige Jahre die Arten der Familie der Nyssaceae in die Familie Cornaceae eingeordnet; deshalb gab es die beiden Unterfamilien Cornoideae und Nyssoideae. Bei APG IV sind es aber wieder eigenständige Familien. Die Hartriegelgewächse (Cornaceae) sind die namensgebende Familie der Ordnung Hartriegelartige (Cornales). Die Familie Cornaceae nom. cons. s. str.: Sie enthält nur zwei Gattungen mit etwa 85 Arten: Alangium (Syn.: Marlea , Stylidium ): Die 21 bis 27 Arten sind vom tropischen Afrika über Asien bis zu den Inseln des südwestlichen Pazifik weitverbreitet. Hartriegel (Cornus , Syn.: Afrocrania , Arctocrania , Benthamia nom. illeg., Benthamidia , Bothrocaryum , Chamaepericlymenum , Chamaepericlimenum orth. var., Cornella , Cynoxylon , Dendrobenthamia , Discocrania , Eukrania , Kraniopsis , Macrocarpium , Mesomora nom. superfl., Ossea nom. superfl., Swida , Telukrama , Thelycrania , Yinquania ): Die 46 bis 60 Arten sind im gemäßigten Eurasien bis nach Indochina, in Uganda bis zum tropischen südlichen Afrika und in Nordamerika bis nach Bolivien verbreitet. Nutzung Die wirtschaftliche Bedeutung der Familie Cornaceae betrifft vor allem ihre Nutzung als Ziergehölze: Hartriegelgewächse werden wegen des attraktiven Erscheinungsbildes von Blüten und Früchten sowie wegen des farbenprächtigen Herbstlaubes kultiviert. Das Holz einiger Arten findet außerdem in der Möbelherstellung Verwendung. Die Kornelkirsche ist in Europa vielerorts in Wäldern und Gebüschen anzutreffen, sie ist eine beliebte Heckenpflanze. Ihre roten Früchte sind essbar, in Frankreich werden sie zur Herstellung eines alkoholischen Getränks genutzt, des Vin de cornouille. Der Rote Hartriegel – sein Laub färbt sich im Herbst rot – bildet schwarze Früchte, die durch Vögel verbreitet werden; er kommt als Unterholz in lichten Wäldern vor. Aus den Früchten gewonnenes Öl wird in Frankreich zur Herstellung von Seife genutzt. Quellen Die Familie der Cornaceae bei der APWebsite. (Abschnitte Systematik und Beschreibung) Die Familie der Cornaceae bei L. Watson, M. J. Dallwitz: The families of flowering plants von DELTA. (Abschnitt Beschreibung) Zack E. Murrell, Derick B. Poindexter: Cornaceae Berchtold & J. Presl. - textgleich online wie gedrucktes Werk, In: Flora of North America Editorial Committee (Hrsg.): Flora of North America North of Mexico, Volume 12 – Magnoliophyta: Vitaceae to Garryaceae, Oxford University Press, New York und Oxford, 22. Dezember 2016, ISBN 978-0-19-064372-0. Einzelnachweise Weblinks Historische Literatur Q.-Y. Xiang et al.: Relationships within Cornales and circumscription of Cornaceae – matK and rbcL sequence data and effects of outgroups and long branches. In: Molecular Phylogenetics and Evolution, Volume 24, 2002, S. 35–57. Q.-Y. Xiang et al.: Phylogenetic relationships of Cornaceae and close relatives inferred from matK and rbcL sequences. In: American Journal of Botany, Volume 85: 1998, S. 285–297. Friedrich von Berchtold in Jan Svatopluk Presl: O Přirozenosti rostlin, aneb rostlinar, 2, 23, 1825, S. 92, 91.
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https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A4ngende%20G%C3%A4rten%20der%20Semiramis
Hängende Gärten der Semiramis
Die Hängenden Gärten der Semiramis, auch die Hängenden Gärten von Babylon genannt, waren nach den Berichten griechischer Autoren eine aufwändige Gartenanlage in Babylon am Euphrat (im Zweistromland, im heutigen Irak gelegen). Sie zählten zu den sieben Weltwundern der Antike. Die griechische Sagengestalt der Semiramis wird manchmal mit der assyrischen Königin Schammuramat gleichgesetzt. Geschichte Nach den antiken Schriftstellern lagen die Hängenden Gärten neben oder auf dem Palast und bildeten ein Quadrat mit einer Seitenlänge von 120 Metern. Die Terrassen erreichten eine Höhe von ca. 25 bis 30 Metern. Die dicken Mauern und Pfeiler des Aufbaugerüstes waren überwiegend aus Brandziegeln hergestellt, unter den einzelnen Stufenabsätzen sollen sich Gänge befunden haben. Die Etagenböden bestanden aus drei Lagen, eine Lage aus Rohr mit viel Asphalt, darüber eine doppelte Lage aus gebrannten Ziegeln, die in Gipsmörtel eingebettet waren, und ganz oben dicke Platten aus Blei. So wurde ein Durchdringen von Feuchtigkeit verhindert. Auf diese Konstruktion hätte man Humus aufbringen und verschiedene Baumsorten einpflanzen können. Eine Bewässerung war aus dem nahegelegenen Euphrat möglich. Die Beschreibungen, denen wir unsere Vorstellung dieser Gärten verdanken, gehen auf folgende Autoren zurück: Antipatros von Sidon (Beginn des 2. Jahrhunderts v. Chr.), in dessen Gedicht über die sieben Weltwunder in der Anthologia Palatina jedoch kein Ort genannt wird („auch die Hängenden Gärten und den Koloß des Helios“). Den Chaldäer Berossos (* etwa 350 v. Chr.), aus dessen verlorenem Werk Babyloniaka der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus ausführlich zitierte. Den griechischen Mediziner Ktesias von Knidos, der um 400 v. Chr. in persische Kriegsgefangenschaft geriet und als Leibarzt des Königs Artaxerxes II. tätig war. Er hinterließ ein umfangreiches und streckenweise fantasiereiches Werk mit dem Titel Persika. Was er darin über Babylon schrieb, ist weitgehend verloren, bis auf Zitate in den Werken von Diodor und Quintus Curtius Rufus. Diodor, der seine Beschreibung (Historien 2,10,1–6) ungefähr in der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. schrieb und der aus einem mittlerweile verloren gegangenen Werk des Griechen Ktesias von Knidos zitiert. Ktesias diente vermutlich lange vor den Eroberungen durch Alexander den Großen am persischen Hof. Sein Bericht beruht vermutlich wiederum auf einem Bericht des antiken griechischen Geschichtsschreibers Kleitarchos. Diodoros Sikulos’ Bericht ist vor allem wesentlich, weil er eindeutig festhält, dass kein Mechanismus sichtbar war, der das Wasser nach oben transportierte. Strabon, ein griechischer Gelehrter, der im 1. Jahrhundert v. Chr. seine Geographie schrieb. Philon von Byzanz, der vermutlich um 250 v. Chr. eine Art Reiseführer zu den sieben Weltwundern schrieb. Nach der allgemeinen Überlieferung sollen die Gärten von Königin Semiramis errichtet worden sein, deren Ruhm auch heute noch bis ins entfernte Armenien reicht, wo ein großer Bewässerungskanal für die Stadt Van (heute Türkei) am Vansee „Strom der Semiramis“ und der höchste Teil des Kastells der Stadt „Semiramisburg“ genannt wird. Gegen die bereits im Altertum kursierende Meinung, dass die Gärten von Semiramis errichtet wurden, erhob aber schon Diodor Protest (2,10,1): Vielmehr habe sie ein babylonischer König erbaut. Nach genauerer Mitteilung des Borosos sei es Nebukadnezar II. gewesen: Seine Gemahlin soll sich im Tiefland von Babylonien nach den Wäldern und Bergen gesehnt haben, so habe der König ihr die Hängenden Gärten erbaut. Auch andere wichtige antike Autoren, die sich in der Gegend aufhielten oder über die Gegend berichten, benennen die Gärten nicht nach Semiramis, etwa Herodot (Historien 1,181), Xenophon (Kyropaedia) und Plinius der Ältere (Naturalis historia 6,123). Lokalisierungsversuche In Babylon Oft wird die von Robert Koldewey im Nordostteil des Südpalastes ausgegrabene Anlage, deren Fundament aus mehreren überwölbten Räumen bestand, als Überrest der hängenden Gärten gedeutet. Dieser Bau bestand aus 14 Kammern. Die Grundmauern bildeten ein Trapez mit Kantenlängen zwischen 23 und 35 Metern. Außerdem verfügte der Bau über eine Brunnenanlage. Auffällig waren vor allem die paternosterähnlichen Bauten, die anscheinend Wasser zwischen mehreren Etagen transportierten. Man fand heraus, dass dieses Wasser mehreren Quellen entsprang. Das ausgegrabene Areal wird Nebukadnezar II. zugewiesen. Wolfram Nagel lokalisiert die Gärten im Westen der Südburg, wohl im Bereich des Außenwerks, und nimmt dann einen Neubau in persischer Zeit durch Atossa, die Mutter Xerxes’ I., an, die damit an ihre „Großtante Amyitas“, für die Nebukadnezar Gärten hatte einrichten lassen, erinnern wollte. Julian Reade lokalisiert die Gärten im Außenwerk des sogenannten Nordpalastes, nach Osten zum Palast hin orientiert. Kai Brodersen nimmt an, dass diese Gärten nie existierten, sondern dass ein unzugänglicher Palastgarten Nebukadnezars II. im Laufe der Jahrhunderte in der Fantasie der Autoren immer wunderbarere Formen annahm. Als Beleg führt er an, dass diese Bauten bis heute nicht zufriedenstellend lokalisiert werden konnten, dass man dem Garten Bewässerungsformen unterstellte, die erst nach Nebukadnezar II. erfunden wurden, und dass weder zeitgenössische babylonische Texte noch Herodot von einem solchen Bau berichten. Auch andere Autoren bezweifeln inzwischen die Deutung Koldeweys, z. B. Michael Jursa. In Ninive Einige Wissenschaftler vertreten die These, dass die Berichte der Hängenden Gärten von Babylon eigentlich die weitläufigen Gartenanlagen des Palastes von Sanherib in Ninive und nicht in Babylon beschreiben. Die Assyriologin und Keilschrift-Expertin Stephanie Dalley von der University of Oxford legte bereits Anfang der 1990er Jahre Argumente für die Deutung vor, die Hängenden Gärten seien der Palastgarten des assyrischen Königs Sanherib gewesen, der rund 100 Jahre vor dem babylonischen König Nebukadnezar II. gelebt hatte. Dieser Palastgarten in Ninive am Tigris sei für Sanheribs Gattin Tašmetu-Šarrat erbaut und mittels einer archimedischen Schraube bewässert worden. Dalley untermauerte 2013 ihr Plädoyer für Ninive in einem Buch mit weiteren Belegen aus topografischen Untersuchungen und historischen Quellen und erregte damit Aufsehen. Dalley stellt die These auf, dass auf dem Relief aus Kuyunjik der Aquädukt von Jerwan dargestellt ist. Das Aquädukt ist Teil des großen Atrush-Kanals, der durch den assyrischen König Sanherib zwischen 703 und 690 vor Chr. erbaut wurde, um in Ninive u. a. die weitläufigen Gärten zu bewässern, mit Wasser aus der Khenis-Schlucht, das 48 km nach Norden umgeleitet wurde. Benennung in antiken Schriften Im Altgriechischen lautete die Bezeichnung („die Hängenden Gärten [der Semiramis] in Babylon“), im Lateinischen Semiramidis Horti Pensiles („die Hängenden Gärten der Semiramis“) oder Horti Pensiles Babylonis („die Hängenden Gärten Babylons“), im Arabischen . Trivia Im Jahr 1989 setzte Saddam Hussein, Diktator der Republik Irak, einen Preis von umgerechnet 1,5 Millionen US-Dollar für denjenigen Iraker aus, der erklären könne, wie die Hängenden Gärten der Semiramis bewässert wurden. Literatur Stephanie M. Dalley: The mystery of the Hanging Garden of Babylon: an elusive world wonder traced. Oxford University Press, 2013, ISBN 978-0-19-966226-5. Jean-Jacques Glassner: À propos des Jardins Mésopotamiens. In: Rika Gyselen (Hrsg.): Jardins d’Orient (= Res Orientales. Band 3). Paris 1991, S. 9–17. Robert Koldewey: Das wiedererstehende Babylon. Die bisherigen Ergebnisse der deutschen Ausgrabungen. C. H. Beck, München 1990. Fritz Krischen: Weltwunder der Baukunst in Babylonien und Jonien. Wasmuth, Tübingen 1956. Fauzi Rasheed: The Hanging Gardens are the Refrigerator of Babylon. In: Masao Mori, Hideo Ogawa, Mamoru Yoshikawa (Hrsg.): Near Eastern Studies: Dedicated to H. I. H. Prince Takahito Mikasa on the Occasion of his Seventy-Fifth Birthday. Wiesbaden 1991, S. 349–361. Stefan Schweizer: Die Hängenden Gärten von Babylon. Vom Weltwunder zur grünen Architektur. Klaus Wagenbach, Berlin 2020, ISBN 978-3-80313694-7. Weblinks Die Sieben Weltwunder der Antike: Babylon Website des Archäologen Kristian Büsch (Stand 2007) Die Hängenden Gärten der Semiramis Website von Thorsten Schiemann (Stand 2007) Einzelnachweise Weltwunder der Antike Bauwerk (Babylonien) Archäologie (Alter Orient) Garten in Asien Babylon
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https://de.wikipedia.org/wiki/Haithabu
Haithabu
Haithabu (altnordisch Heiðabýr, aus heiðr ‚Heide‘, und býr ‚Hof‘, auch æt Hæþum; dänisch/schwedisch Hedeby, lateinisch Heidiba; auch Haiðaby, Haidaby; altsächsisch/altfränkisch Sliasthorp und Sliaswich, etwa 'Schleisiedlung' oder 'Schleihandelsplatz') war eine bedeutende Siedlung dänischer Wikinger bzw. schwedischer Waräger. Der Ort gilt als frühe mittelalterliche Stadt in Nordeuropa und war ein wichtiger Handelsort und Hauptumschlagsplatz für den Fernhandel zwischen Skandinavien, Westeuropa, dem Nordseeraum und dem Baltikum. Er wurde um 770 gegründet und spätestens 1066 endgültig zerstört. Haithabu lag auf der Kimbrischen Halbinsel am Ende der Schlei in der Schleswigschen Enge (Isthmus) zwischen Nordsee und Ostsee in der Nähe des historischen Ochsenwegs (oder Heerweg). Der Ort gehörte wohl zur damaligen Verwaltungseinheit Arensharde. Heute gehört das Gebiet zu Deutschland, das Gelände ist ein Teil der Gemeinde Busdorf bei Schleswig im Kreis Schleswig-Flensburg. Der seit seiner Zerstörung im 11. Jahrhundert verlassene Ort Haithabu ist gemeinsam mit dem Danewerk das bedeutendste archäologische Bodendenkmal in Schleswig-Holstein und zählt seit 2018 als Archäologischer Grenzkomplex Haithabu und Danewerk zum Weltkulturerbe der UNESCO. Die Wallanlagen um die frühere Siedlung sind Bestandteil des Naturschutzgebietes „Haithabu-Dannewerk“. Geschichte Nach der Völkerwanderung, in deren Verlauf viele Angeln und Sachsen nach England auswanderten, drangen Dänen und Jüten in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts von Norden bis zur Schlei und zur Eckernförder Bucht vor. Das Gebiet scheint zu diesem Zeitpunkt nur noch dünn besiedelt gewesen zu sein. Spätestens um 770 wurde dann Haithabu gegründet und sehr bald der bedeutendste Handelsplatz der Dänen. Im 9. Jahrhundert entstand eine zweite Siedlung weiter nördlich und eine weitere Siedlung am Haithabu-Bach dazwischen. Ende des 9. Jahrhunderts wurden der nördliche und südliche Teil der Siedlung aufgegeben. Der mittlere Teil am Haithabu-Bach wurde weiter benutzt und durch Wälle in die dänischen Grenzanlagen des Danewerks eingebunden. Durch die Zerstörung des konkurrierenden slawischen Handelsortes Reric in der Nähe von Wismar durch den dänischen König Gudfred im Jahr 808 und die anschließende Zwangsumsiedlung zumindest der dänischen Kaufleute nach Haithabu entwickelte sich die Stadt schnell zur Handelsstadt, noch bevor Dänemark Einheit erlangte. Seit 811 markierte die einige Kilometer südlich fließende Eider die Grenze zum Frankenreich, was die Bedeutung Haithabus noch vergrößerte. Die Lage des Ortes war sehr günstig, denn die Schlei, ein langer Arm der Ostsee, war schiffbar, und zugleich verlief hier die uralte Nord-Süd-Route, der Ochsenweg. Wahrscheinlich wurden hier zudem Handelsgüter verladen, die über Land nur wenige Kilometer weit bis zur Eider gebracht und von dort weiter zur Nordsee verschifft wurden – und umgekehrt. Haithabu lag im äußersten Süden des von Wikingern besiedelten Gebietes. Vom 9. bis ins 10. Jahrhundert war Haithabu mit seinen mindestens eintausend ständigen Einwohnern ein wichtiger, überregional bekannter Handelsplatz. Dort wurden auch eigene Münzen geprägt. Andere Handelszentren in Nord- und Westeuropa, ohne die Haithabu keine solche Bedeutung hätte erlangen können, waren zu dieser Zeit u. a. Västergarn (zuvor Paviken) und Vallhagar auf Gotland, Avaldsnes, Kaupang, Spangereid und Steinkjer (Norwegen), Birka, Löddeköpinge und Sigtuna (Schweden), Domburg, Dorestad und Witla (Niederlande), Quentovic (Frankreich), Nowgorod (Russland), Ribe und Tissø (Dänemark) und an der südlichen Ostseeküste Jomsburg (Vineta), Menzlin, Ralswiek, Truso (bei Elbing) und Wiskiauten (bei Cranz), beide Orte im Preußenland, sowie Seeburg im Baltikum. Um 890 unternahm Wulfstan von Haithabu im Auftrag Alfred des Großen eine Reise nach Truso. Um 800 beherrschten von Dänemark unabhängige schwedische Wikinger (Waräger) die Region. Sie wurden aber nur wenige Jahre später vom dänischen König Gudfred unterworfen, der Haithabu zum Zentrum seines Reiches machte. Um 900 übernahmen schwedische Wikinger erneut die Macht in Haithabu. Im Jahr 934 besiegte der ostfränkisch-sächsische König Heinrich I. die Dänen unter König Knut I. in der „Schlacht von Haithabu“ und eroberte die Stadt anschließend. Damit fiel das Gebiet zwischen der Eider und der Schlei zunächst an das Ostfränkische bzw. Römisch-Deutsche Reich, bis 945 der dänische König Gorm den wichtigen Handelsplatz eroberte. Gorms Sohn Harald verlor Haithabu 974 zunächst wieder an Heinrichs Sohn Otto I. Haithabu war auch wegen seiner Lage an den Handelswegen zwischen dem Fränkischen Reich und Skandinavien sowie zwischen Ostsee und Nordsee ein Haupthandelsplatz. Adam von Bremen nennt als Bezeichnung Sliaswich und Heidiba. Daher wurde der Ort manchmal mit Schleswig verwechselt. Es sei ein Hafen (portus maritimus) gewesen, von dem aus Schiffe bis nach Schweden und in das Byzantinische Reich geschickt wurden. Besonders die Herstellung und Bearbeitung von Tonwaren (Geschirr), Glas und Werkzeug wurde wichtig für die Bedeutung Haithabus, das auch vom arabisch-jüdischen Reisenden Ibrahim ibn Jaqub um 965 besucht und beschrieben wurde. Nach einem Besuch Kaiser Ottos I. wurde Haithabu Bischofssitz. Schon um 850, wahrscheinlich durch Erzbischof Ansgar von Hamburg, war die erste christliche Kirche errichtet worden. Die Existenz dieses Baus ist zwar in den Schriftquellen sicher belegt, konnte aber noch nicht archäologisch nachgewiesen werden. Allerdings wurde eine aus dem frühen 10. Jahrhundert stammende Kirchenglocke geborgen. Adam von Bremen bezeichnete den Ort später als „Ansiedelung der Sachsen“, die in einer Auseinandersetzung mit König Otto II. zerstört worden sei, wobei er nicht zwischen Otto I. und Otto II. unterschied. Im 10. Jahrhundert erreichte Haithabu seine Blütezeit und war mit mindestens 1500 Einwohnern der bedeutendste Handelsplatz für den westlichen Ostseeraum. Im Jahre 983 eroberte der dänische König Harald Blauzahn (auch: Harald I. Gormson; dänisch Harald Blåtand), der seit 948 die Hoheit des Kaiserreiches anerkannte, Haithabu, und in den Jahrzehnten um 1000 gehörte die Siedlung wieder zum Machtbereich des römisch-deutschen Kaisers Otto III., der allerdings aufgrund seines jungen Alters und anderer Auseinandersetzungen (Slawenaufstand von 983) keinen Einfluss nahm. Unter Kaiser Konrad II. wurde die Grenze vermutlich durch eine von Sven Gabelbart unternommene Kriegshandlung von der Schlei wieder an die Eider zurückverlegt (→ Mark Schleswig). Obwohl ein neun Meter hoher Wall mit Palisade die Handelsstadt umgab, wurde sie wahrscheinlich im Jahr 1050 in einer Schlacht zwischen Harald Hardrada von Norwegen und Sweyn II. zerstört. Sie wurde danach nur teilweise wiederaufgebaut und 1066 von den Westslawen geplündert und gebrandschatzt, die damals in den Gebieten östlich der Kieler Förde lebten. Die Einwohner verlegten die Siedlung daraufhin nach Schleswig – auf das andere Ufer der Schlei – und bauten Haithabu nicht wieder auf. Gemeinsam mit der Schlacht von Stamford Bridge im selben Jahr markiert die Zerstörung und Aufgabe von Haithabu das Ende der Wikingerzeit. Ausführliche Erwähnung findet Haithabu (Heidiba) in der Chronik des Erzbistums Hamburg, die Adam von Bremen in lateinischer Sprache verfasste. Die Sachsen und Franken nannten eine neuere Siedlung nahe Haithabu Sliaswig und Sliaswich (Siedlung oder Bucht an der Schlei), wovon der Name der Stadt Schleswig und des Herzogtums Schleswig abgeleitet ist. Siedlung Die Hallenhäuser aus Holz- und/oder Flechtwerkwänden waren wahrscheinlich mit Reet oder Stroh gedeckt. Die überbauten Grundflächen variierten zwischen 3,5 × 17 m und 7 × 17,5 m. In der Siedlung wurden unterschiedliche Gräbertypen analysiert: dänische Brandgruben, schwedische Kammergräber, sächsische Urnengräber, christliche Erdgräber und slawische Urnengräber. Daraus lässt sich das Völkergemisch Haithabus erkennen, aber auch der Einfluss der Christianisierung (ab 826). Außerdem wurden unterschiedliche Werkstätten, Befestigungsanlagen, Landestege, Schiffbrücken und Speichergebäude gefunden. Handel Haithabu lag an der Kreuzung zweier wichtiger Handelsrouten: Wenige Kilometer westlich führte der Ochsenweg (dänisch Hærvejen, dt. Heerweg) vorbei, jahrhundertelang die entscheidende Süd-Nord-Verbindung von Hamburg bis Viborg in Jütland. In West-Ost-Richtung gab es eine Seehandelsroute zwischen Nord- und Ostsee: Über die Eider und Treene konnten Schiffe bis nach Hollingstedt kommen. Eine Nutzung der Rheider Au mit kleineren Schiffen war danach möglich. Dann mussten die Schiffe von der Rheider Au zum Selker Noor (südliche Fortsetzung des Haddebyer Noors) über Land gezogen werden, um in die Schlei zu gelangen. Nach anderen Theorien kann der Kograben knapp südlich des Danewerks als Schifffahrtskanal gedient haben. Waren aus der gesamten damals bekannten Welt wurden in Haithabu gehandelt: aus Norwegen, Schweden, Irland, Baltikum, Konstantinopel, Bagdad und dem fränkischen Reich. Aus dem Rheinland wurden Weine (Raum Koblenz) importiert (5.–7. Jhd.). Gehandelt wurden aus dem skandinavischen Raum vorwiegend Rohstoffe, aus den entfernteren Gebieten eher Luxusgüter. Durch archäologische Funde von eisernen Fuß- und Handfesseln ist ein Handel mit Sklaven belegt. Für das Entstehen einer gewachsenen Stadt ist das Beispiel Haithabu, das ein Warenumschlagsplatz auf grüner Wiese ohne städtische Infrastruktur war, untypisch. Durch die erzwungene Ansiedlung der Kaufleute von Reric und den Zustrom von Handwerkern kam es zu einer Siedlungsverdichtung. Weil die Landbevölkerung ihre Getreideüberschüsse in die Stadt verkaufte und die Stadtbewohner deshalb nicht auf Selbstversorgung angewiesen waren, konnten sich dort differenzierte Tätigkeiten entwickeln. Untergang Die größte Wikingerstadt des Nordens fand mit dem Ausgang der Wikingerzeit ihr Ende im Feuer: Während der dänische König Sven Estridsson (König von 1047 bis 1074) an anderer Stelle gebunden war, unternahm sein Gegner, König Harald der Harte von Norwegen (König von 1047 bis 1066), einen Angriff auf Haithabu. Darüber verfasste ein norwegischer Skalde König Haralds den folgenden Gesang: Verbrannt wurde von einem Ende zum anderen ganz Haithabu im Zorn, eine vortreffliche Tat, meine ich, die Sven schmerzen wird. Hoch schlug die Lohe aus den Häusern, als ich in der Nacht vor Tagesgrauen auf dem Arm der Burg stand. Haithabu konnte sich von dieser Zerstörung nicht mehr erholen. Bereits Ende des Jahres 1066 wurde der Ort erneut geplündert und gebrandschatzt, diesmal von Westslawen, die damals in den Gebieten östlich der Kieler Förde lebten. Die Einwohner verlegten die Siedlung daraufhin nach Schleswig – auf das andere Ufer der Schlei – und bauten Haithabu nicht wieder auf. Die aufgegebene Siedlung Haithabu verfiel am Ende des 11. Jahrhunderts auf Grund des Wasseranstiegs von Ostsee und Schlei. Die Anlagen und Bauten im Siedlungs- und Hafengelände, mit Ausnahme des Walls, vergingen oberirdisch vollständig. Schließlich geriet sogar in Vergessenheit, wo sich der Ort am Haddebyer Noor befunden hatte. Ausgrabungen Für die Arbeit der Archäologen gab es in Haithabu von Anfang an günstige Voraussetzungen: Der Platz war nie überbaut worden, und infolge der Nässe waren die ufernahen Partien teilweise noch sehr gut erhalten, sodass das Grabungsfeld noch viele Details erkennen ließ. 1897 gelangte der dänische Archäologe Sophus Müller zu der Annahme, das Gelände innerhalb des Halbkreiswalles sei der Siedlungsplatz des alten Haithabu gewesen. 1900 wurde dies von Johanna Mestorf bestätigt. Sie ließ erste Ausgrabungen innerhalb des Walles durchführen, und die ersten Funde bestätigten die Annahme. Von 1900 bis 1915 fanden alljährlich Ausgrabungen mit dem Ziel statt, die Bedeutung Haithabus für die nordische Geschichte und seine Rolle in der Welt der Wikingerzüge zu klären. In den Jahren von 1930 bis 1939 wurde unter der Leitung von Herbert Jankuhn intensiv gegraben. In der Zeit des Nationalsozialismus standen die Grabungen seit 1934 unter Schirmherrschaft von Heinrich Himmler und wurden anfangs finanziert durch die Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe. 1938 übernahm diese Haithabu. Für die Nationalsozialisten hatten die Grabungen eine hohe ideologische Bedeutung bei ihrer Suche nach einer vermeintlich „germanischen“ Identität. In Haithabu investierte das SS-Ahnenerbe über die Hälfte seines Ausgrabungsetats. Nach dem Krieg wurden die Arbeiten unter Kurt Schietzel fortgesetzt. Im Sommer 1949 entdeckte der Schleswiger Rechtsanwalt Otto von Wahl bei Tauchgängen die Palisaden der Hafenbefestigung von Haithabu, die Schiffsnieten im Hafengrund liegender Wracks von Wikingerschiffen und diverse Kleinfunde wie z. B. Glasperlen und ein Bronzearmband. Otto von Wahl drängte daher die Archäologen, die Unterwassersuche wieder aufzunehmen. Umfangreiche Untersuchungen des Haddebyer Noores im Hafengebiet vor Haithabu erfolgten dann ab 1953 unter der Leitung von Karl Kersten und Hans Hingst vom Landesmuseum für Vor- und Frühgeschichte in Schleswig. Seit 1959 hat man die gesamte Südsiedlung vor dem Halbkreiswall sowie einen großen Teil des alten Siedlungskerns im Halbkreiswall ausgegraben. Auch die Untersuchung des 11 ha großen Hafenbeckens wurde vorangetrieben. Erfolgreiche Tauchfahrten fanden 1953 statt. Dabei wurden weitere Reste der Hafenpalisade und das Wrack des Wikingerschiffes Haithabu 1 entdeckt. 1979 konnte es nach der Errichtung eines Bergebauwerkes (Spundkasten) geborgen werden. Die Bergung des Wracks, seine Konservierung und die danach erfolgte Rekonstruierung des Wikingerschiffes wurden von der Film-AG im Studentenwerk Schleswig-Holstein unter Leitung von Kurt Denzer auf 16-mm-Film festgehalten. Als Ergebnis dieser filmischen Dokumentation erschien 1985 der 30-minütige Dokumentarfilm Das Haithabu-Schiff. Haithabu ist der besterforschte frühmittelalterliche Hafen in Deutschland. Mit Schiffsbergungen und Hafenuntersuchungen bis 1980 fanden die Ausgrabungen ein vorläufiges Ende. Bis dato waren jedoch nur fünf Prozent des Siedlungsareals und ein Prozent des Hafens intensiv untersucht worden. Mit Hilfe der Dendrochronologie hat man festgestellt, dass die einzelnen Gebäude auf dem feuchten Boden nur eine kurze Lebenszeit hatten und mehrmals überbaut wurden. Die erstmalige jahrgenaue dendrochronologische Datierung von Funden gelang Dieter Eckstein im Rahmen seiner Dissertation 1969. Seit 2002 wurde mit Hilfe magnetischer, geophysikalischer Prospektion eine Art Stadtplan von Haithabu erstellt. Dabei macht man sich zunutze, dass die Überreste menschlichen Tuns andere magnetische Strukturen aufweisen als das umgebende Erdreich. Zur Überprüfung und Bestätigung der Ergebnisse wurde ab 2005 bis 2010 erneut in Haithabu gegraben. Dabei wurde u. a. ein auf den Überresten eines abgebrannten Grubenhauses errichteter Kuppelofen gefunden, der zur Herstellung von Glasperlen gedient haben könnte. Im Rahmen einer dreijährigen Förderung durch die Volkswagenstiftung werden die Funde und Befunde aus der Grabung ausgewertet. Im Sommer 2017 wurde ein Gräberfeld erneut untersucht, in dem 1939 wenige Tage vor Kriegsausbruch bereits Grabbeigaben gefunden worden waren. Bei der Freilegung mehrerer Gräber kamen neben Knochenfunden auch etliche Schmuckstücke aus Gold und Edelsteinen zum Vorschein. Die wichtigsten Funde, darunter die Runensteine von Haithabu, sind seit 1985 im Wikinger-Museum Haithabu ausgestellt. Direkt am Danewerk liegt das Danewerkmuseum. Ein Wikingerhaus von Haithabu ist im Museum von Moesgård in Dänemark rekonstruiert worden. Heutige Situation Heute befindet sich in der Nähe des Halbkreiswalles das Wikinger-Museum Haithabu. Auf dem Gelände Haithabus wurden von 2005 bis 2008 sieben aus Befunden rekonstruierte Wikingerhäuser errichtet. Am 7. Juni 2008 wurden alle sieben Häuser in einem Festakt der Öffentlichkeit präsentiert. Im gleichen Jahr wurde auf der Museumswerft in Flensburg ein rund 6,50 m langes Wikinger-Boot gebaut. Seit Mitte Mai 2009 liegt es in Haithabu an der Landebrücke. Museum Aufnahme in die UNESCO-Welterbeliste Das Archäologische Landesamt Schleswig-Holstein unter der Leitung von Claus von Carnap-Bornheim begann das Welterbevorhaben „Danewerk und Haithabu“ am 1. November 2004. Zusammen mit dem Danewerk und weiteren wikingerzeitlichen Stätten in Nordeuropa wurde Haithabu zunächst im Rahmen des transnationalen Projektes „Wikingerzeitliche Stätten in Nordeuropa“ für das Weltkulturerbe der UNESCO nominiert. Der internationale Antrag mit Island, Dänemark, Lettland und Norwegen wurde jedoch 2015 vom Welterbekomitee zur weiteren Überarbeitung an die Antragsteller zurückverwiesen und ist daraufhin nicht mehr weiterverfolgt worden. 2017 brachte das Archäologische Landesamt Schleswig-Holstein zur Nominierung als Welterbestätte daher einen neuen, eigenen Antrag zu Haithabu als wikingerzeitlichem Handelsknotenpunkt und zum Grenzbauwerk Danewerk unter dem Titel „Die archäologische Grenzlandschaft von Haithabu und dem Danewerk“ ein. Nach Abschluss des Prüfungsverfahrens durch ICOMOS in Abstimmung mit der für Kulturlandschaften zuständigen IUCN wurde der Weltkulturerbetitel im Juni 2018 verliehen. In Rahmen einer Feier wurde am 30. Juni 2019 von Michelle Müntefering, Staatsministerin für Internationale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt, in Haithabu die UNESCO-Urkunde zur Auszeichnung des Archäologischen Grenzkomplexes Haithabu und Danewerk als UNESCO-Welterbe an Schleswig-Holsteins Ministerpräsidenten Daniel Günther überreicht. Haithabu in der Kultur In der ins 13. Jahrhundert datierten Vorzeitsaga von Ragnar Lodbrok und seinen Söhnen entschließen sich die Söhne des Wikingerkönigs Ragnar, Ruhm zu erlangen, indem sie die Stadt Haithabu erobern, an deren Einnahme zuvor alle, einschließlich ihres Vaters, gescheitert waren. In der Saga gelingt es den Söhnen schließlich unter der Führung von Ivar dem Knochenlosen, die Stadt zu nehmen – um den Preis, dass ihr jüngster Bruder dabei fällt. Daraufhin plündern sie Haithabu, schleifen die Mauern und brennen jedes Haus nieder. In der kanadisch-irischen Fernsehserie Vikings herrscht die von Katheryn Winnick verkörperte weibliche Protagonistin Lagertha zeitweise über Haithabu (Hedeby). Die deutsche Shanty-Rock Band Santiano veröffentlichte 2018 die Single Mädchen von Haithabu. Siehe auch Bootkammergrab von Haithabu König von Haithabu Haithabu 4 Literatur Hellmuth H. Andersen: Die Haltung Dänemarks im Jahre 983. Zeitschrift für Archäologie 18. 1984. Archäologisches Landesmuseum der Christian-Albrechts-Universität Schleswig (Hrsg.): Berichte über die Ausgrabungen in Haithabu. 34 Bde. Wachholtz, Neumünster 1963ff., . Robert Bohn: Geschichte Schleswig-Holsteins. Verlag C.H. Beck, München 2006, ISBN 3-406-50891-X. Klaus Brandt, Michael Müller-Wille, Christian Radke (Hrsg.): Haithabu und die frühe Stadtentwicklung im nördlichen Europa. Wachholtz, Neumünster 2002, ISBN 3-529-01812-0, (Schriften des Archäologischen Landesmuseums 8). 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Reinhart Staats, Günter Weitling: Ansgar in Haithabu, Anfänge des Christentums in Nordeuropa, Ludwig, Kiel 2016, ISBN 978-3-86935-286-2. Weblinks Einzelnachweise Ort der Wikingerzeit Archäologischer Fundplatz (Wikingerzeit) Archäologischer Fundplatz im Kreis Schleswig-Flensburg Bodendenkmal im Kreis Schleswig-Flensburg Wikipedia:Artikel mit Video Gegründet im 8. Jahrhundert Geographie (Busdorf) Archäologischer Fundplatz in Europa Kultur (Busdorf) Geschichte (Busdorf)