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Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entscheidet über NPD | Deine tägliche Dosis Politik | bpb.de
☕ Guten Morgen, kann die NPD von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen werden? Darüber hat am Mittwoch erstmals das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verhandelt. 🕰️ Vorgeschichte 2017 hatte das BVerfG einen vom Bundesrat eingereichten NDP-Verbotsantrag abgelehnt. Das Gericht urteilte, dass die NPD zwar verfassungswidrig sei, jedoch zu wenig Einfluss habe, um die Demokratie zu gefährden. Das BVerfG verwies aber darauf, dass verfassungsfeindlichen Parteien bspw. die Parteienfinanzierung gestrichen werden könnte. Bundestag und Bundesrat änderten daraufhin das Grundgesetz. (Art. 21, Abs. 3) Kritiker/-innen sahen darin das Gleichbehandlungsgebot der Parteien verletzt, Befürworter/-innen dagegen ein Instrument der wehrhaften Demokratie. ⚖️ Das Verfahren Auf Grundlage der GG-Änderung stellten Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung 2019 einen Antrag beim BVerfG, um die NPD („Die Heimat“) von der Parteienfinanzierung auszuschließen. 2018 erhielt die NPD noch 878.000 Euro. Seit 2020 erhält die Partei keine staatlichen Zuschüsse mehr, da sie bei Wahlen zu wenige Stimmen bekam. Das BVerfG prüft nun, ob eine Partei, die nicht verboten, aber verfassungsfeindlich ist, von staatlichen Mitteln ausgeschlossen werden kann. Ein Urteil wird in einigen Monaten erwartet. Staatl. Parteienfinanzierung Parteien in D. haben Anspruch auf staatliche Mittel, wenn sie bei Bundestags- oder Europawahlen mind. 0,5 % und bei Landtagswahlen mind. 1 % der Stimmen erreichen. Für die ersten 4 Mio. Stimmen erhalten sie 1,06 Euro pro Stimme, für jede weitere 87 Cent. Zudem bekommen sie jährlich 45 Cent für jeden Euro, den sie u.a. durch Mitgliedsbeiträge oder Spenden erhalten. 2021 entfielen auf die 8 Bundesparteien 192 Mio. Euro – die meisten Mittel, 56 Mio. Euro, erhielt die SPD. ➡️ Mehr zur Debatte um ein NPD-Verbot und Parteienfinanzierung erfährst du hier: Externer Link: https://kurz.bpb.de/dtdp1987 Viele Grüße, Deine bpb Social Media Redaktion
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-07-06T00:00:00
2023-07-06T00:00:00
2023-07-06T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/taegliche-dosis-politik/522867/bundesverfassungsgericht-bverfg-entscheidet-ueber-npd/
Kann die NPD von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen werden? Darüber hat am Mittwoch erstmals das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verhandelt.
[ "NPD", "Deine tägliche Dosis Politik" ]
30,500
Zwischen Gamification und Bewertungssystem | Spielend lernen | bpb.de
Gamification liegt voll im Trend, verspricht doch die Anreicherung ganz normaler Tätigkeiten durch spielerische Elemente eine deutliche Steigerung der Motivation. Was im Arbeitsleben zu höherer Produktivität führen soll, verspricht im Bildungsbereich besseren Lernerfolg. An der Universität Düsseldorf werden bereits seit 2013 vermeintlich trockene Lehrinhalte über das interaktive Textadventure "Die Legende von Zyren" mit ergänzenden Seminar vermittelt. Im selben Jahr erdachte der Highschool-Lehrer Shawn Young das für Schulklassen entwickelte Rollenspiel "Classcraft", dessen Name nicht zufällig an das beliebte Online-Rollenspiel "World of Warcraft" erinnert. Die Idee: Indem man die Schülerinnen und Schüler dort abhole, wo sie sind, und den Unterricht mit Rollenspiel-Elementen anreichere, steigere dies Motivation, Lernerfolg und Sozialkompetenz. Spielverlauf Bei "Classcraft" schlüpfen die Schülerinnen und Schüler in die Rolle virtueller Spielfiguren, deren Entwicklung über ein Punktesystem gesteuert wird. Je nach Verhalten im Unterricht gewinnt der jeweilige Avatar beispielsweise an Erfahrung oder verliert Lebensenergie. Die Spieler und Spielerinnen sind dabei in Teams eingeteilt und können sich innerhalb der Teams gegenseitig unterstützen. Im Gegensatz zu gängigen Online-Rollenspielen werden die Avatare eher verwaltet als tatsächlich gespielt, das heißt es gibt keine simulierte Spielwelt, durch die man sich bewegen könnte, sondern eine formularartige Bedienoberfläche, über die alle Spielereignisse durchgeführt werden. Die Benutzeroberfläche von "Classcraft" (siehe Screenshot 1), wird zum Beispiel über einen Beamer während des Unterrichts permanent angezeigt. Hierzu ist eine Internetverbindung erforderlich. Jede Spielfigur verfügt über Lebensenergie (HP), Aktionspunkte (AP), Erfahrungspunkte (XP) sowie Goldstücke (GP). Diese eher nüchtern anmutenden Werte sind der Dreh- und Angelpunkt des Spiels. So werden Schülerinnen und Schüler für gute Antworten im Unterricht, soziales Verhalten etc. mit Erfahrungspunkten belohnt und verlieren im Gegenzug Lebenspunkte, wenn sie zu spät erscheinen oder die Hausaufgaben vergessen haben. Für welche Leistungen oder Versäumnisse es welche Belohnungen bzw. Strafen gibt, kann der Lehrende frei konfigurieren. Sollte die Lebensenergie einer Figur auf null sinken, stirbt bzw. fällt diese im Kampf. Sie kann nun von anderen Gruppenmitgliedern wiederbelebt werden oder sich aus eigener Kraft retten. Dazu muss eine Strafarbeit geleistet werden, wobei das Mitbringen eines Kuchens für die Klasse genauso möglich ist wie ein zusätzliches Referat. Wenn die Schüler und Schülerinnen eine bestimmte Anzahl an Erfahrungspunkten hinzugewonnen haben, steigen sie eine Stufe auf. Dies ermöglicht es ihnen, neue "Fertigkeiten" zu erlernen. Diese ermöglichen beispielsweise, im Unterricht zu trinken, ein Fenster zu öffnen oder sogar mehr Bedenkzeit in einem Test zu haben. Hier soll die soziale Komponente des Spiels zum Tragen kommen, da viele der Kräfte auf andere Gruppenmitglieder angewendet werden können oder gleich die gesamte Gruppe betreffen. Neben der Punktevergabe bietet die Bedienoberfläche noch einige weitere Möglichkeiten. So wird zu Stundenbeginn das Zufallsereignis des Tages angezeigt, über das "Rad des Schicksals" kann jemand für eine Aufgabe ausgewählt werden und Hilfsmittel wie herunterzählende Timer als Zeitlimit für Freiarbeitsphasen lassen sich einblenden. Nutzungsbedingungen Die Grundversion erfordert lediglich eine kostenlose Registrierung. Die Lehrkraft kann selbst Log-ins für die Schülerinnen und Schüler anlegen, wobei die Eingabe von E-Mail-Adressen oder anderen persönlichen Daten nicht erforderlich ist. Wer monatlich 8–12 Dollar für die Premium-Version von "Classcraft“ bezahlt, kann sich ausführliche Statistiken der Schülerinnen und Schüler anschauen (Screenshot 2) und das Spiel als Kommunikations- und Lernplattform nutzen. Eine Gegenüberstellung der weiteren Unterschiede zwischen kostenloser und Premium-Version findet sich Externer Link: auf der Website des Spiels. Pro und Kontra "Classcraft" stellt eine innovative, grundsätzlich neue Möglichkeit des Unterrichtens dar und wird entsprechend kontrovers diskutiert. Während Lehrerinnen und Lehrer nach ersten Praxistests vor allem eine gesteigerte Motivation, die Stärkung des sozialen Zusammenhalts der Klasse und die Bewertungstransparenz als positive Effekte hervorheben, gibt es meines Erachtens auch erhebliche Einwände gegen den Einsatz von "Classcraft". Zunächst einmal muss genau geprüft werden, ob das Spiel mit dem Schulgesetz und der Schulordnung konform ist. Dies betrifft vor allem den Datenschutz. Zum Zweiten stellt sich die Frage, wie mit Schülern und Schülerinnen zu verfahren ist, die nicht teilnehmen möchten. Auch wenn man die Teilnahme freistellt, liegt die Gefahr der Ausgrenzung von Nichtspielerinnen und -spielern nahe. Das größte Problem liegt allerdings im Spielprinzip selbst. Die Spielhandlung weist keinerlei Bezug zum eigentlichen Unterrichtsinhalt auf und hilft daher auch nicht, diesen zu erfassen und zu verstehen – anders als zum Beispiel bei der Storyline-Methode, die den Lernstoff als Teil einer übergeordneten Geschichte vermittelt. So wie beim oben genannten Textadventure "Die Legende von Zyren". Zudem wird bei Classcraft die Lernmotivation rein äußerlich über ein Belohnungssystem erzeugt. Erfahrungspunkte sind sozusagen die Währung, mit der die Leistung der Schülerinnen und Schüler bezahlt wird, wodurch die Beteiligung am Unterrichtsgeschehen zu einer Art Kosten-Nutzen-Rechnung wird. Andererseits könnte man den üblichen mündlichen und schriftlichen Noten eine ähnliche Wirkung unterstellen. Ob nun die Vor- oder Nachteile überwiegen, muss letztlich jede Lehrkraft selbst herausfinden. Bedingung für einen erfolgreichen Einsatz von "Classcraft" im Klassenzimmer dürfte neben den technischen Voraussetzungen vor allem die überzeugende Einbeziehung der Eltern und der Schulleitung sein. Nicht zuletzt sollte eine grundsätzliche Affinität für Computerspiele und die Fantasy-Thematik vorhanden sein, da sonst der Funke kaum überspringen dürfte. Weitere Informationen Externer Link: http://www.classcraft.com/de/ Preis Grundversion kostenlos, Premium-Version 8–12 Dollar monatlich, Staffelpreise möglich Zielgruppe Empfohlen für den Einsatz in der 6. bis 8. Klasse Externer Link: http://www.classcraft.com/de/ Preis Grundversion kostenlos, Premium-Version 8–12 Dollar monatlich, Staffelpreise möglich Zielgruppe Empfohlen für den Einsatz in der 6. bis 8. Klasse Externer Link: http://www.uni-duesseldorf.de/home/nc/startseite/news-detailansicht/article/erstmals-an-einer-deutschen-hochschule-gamification-und-interaktive-textadventures.html Externer Link: http://lehrprobe.blogspot.de/2014/11/classcraft-im-einsatz.html
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-10T00:00:00
2016-10-31T00:00:00
2022-01-10T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/236427/zwischen-gamification-und-bewertungssystem/
Unser Gastautor Frank Sindermann erläutert am Beispiel von „Classcraft“, inwieweit digitale Rollenspiele im Unterricht hau mehr Lernerfolg und Sozialkompetenz beitragen und welche Probleme mit ihnen einhergehen können.
[ "Sindermann", "Frank Sindermann", "Classcraft", "spiele", "Lernspiele", "Digitale Bildung" ]
30,501
Editorial | Familie und Politik | bpb.de
Einleitung Im Wahljahr 2002 steht die Familie bei den Parteien hoch im Kurs. Familienpolitik gilt nunmehr als ein zentrales gesellschaftspolitisches Thema. Die Regierung verspricht eine flächendeckende Verbesserung der Kinderbetreuung, die Opposition bietet ein so genanntes Familiengeld. Beiden geht es um die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Über das Verhältnis von Familie und Beruf, über Kinder und ihre Bedeutung für unsere Zukunft, die Erziehungsrolle der Eltern sowie die Beziehungen zwischen den und die Erfahrungen der Generationen wird in dieser Ausgabe diskutiert. Barbara Schaeffer-Hegel plädiert in ihrem Essay für eine Veränderung der Rahmenbedingungen, die Frauen und Männern bestimmte Rollen auferlegen. Es sei höchste Zeit, die gesellschaftliche Verantwortung für Kinder neu zu bedenken: die Zeit und die Zuwendung, die sie brauchten, zwischen Vätern und Müttern sowie den Einrichtungen der Gesellschaft anders zu verteilen. Für eine gerechtere Verteilung tritt auch Marc Szydlik im zweiten Essay dieser Ausgabe ein: Es gelte, die gesellschaftliche Solidarität zwischen armen und reichen Familien auszuweiten. Szydlik sieht eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe darin, der Reproduktion und Vertiefung sozialer Ungleichheit durch entsprechende Maßnahmen zu begegnen. Welche Maßnahmen darunter fallen könnten, zeigt Frank Bertsch. Der Autor plädiert für eine vernetzte Strategie der Armutsprävention und -bekämpfung: für ein föderatives Projekt gegen Familien- und Kinderarmut. Neben Einkommenstransfers fordert er Maßnahmen, die Selbsthilfe ermöglichen und mobilisieren: Aufklärung und Bildung, Beratung und Beteiligung, das Erlernen persönlicher Bewältigungsstrategien von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sowie die Reorganisation sozialer und kultureller, baulicher und ökologischer Infrastrukturen in kommunalen Lebensräumen. Das Verhältnis von Familie und Beruf steht nach Michael Opielka praktisch, theoretisch und politisch zur Debatte. Nach einem Blick in die Geschichte der deutschen Familienpolitik wendet sich der Autor der familienpolitischen Programmatik der beiden großen Volksparteien sowie zwei weiteren aktuellen Vorschlägen zu. Der Vergleich der familienpolitischen Programme von SPD und CDU offenbare über weite Strecken ähnliche, teilweise sogar identische Vorstellungen. Opielka hält Kompromisse für denkbar. Eine grundlegende Neubewertung der Familienarbeit scheine sich zumindest als Möglichkeit abzuzeichnen. Jutta Ecarius nähert sich ihrem Thema qualitativ-biografisch: über die Befragung von Zeitzeugen. Im Zentrum ihrer Analyse stehen die subjektiven Erfahrungen von drei Generationen in Ostdeutschland, ihr Erleben von Kindheit, die Anforderungen und Freiräume in der Familie und die Erziehungspraxis der Eltern und Großeltern. Nach Auffassung der Autorin kommt in den familialen Generationsbeziehungen in besonderer Weise die Verflechtung individueller Erfahrungen von Kindheit und sozialer Zeitgeschichte zum Tragen. Thomas Meyer wendet sich gegen die im populärwissenschaftlichen Diskurs vertretene Auffassung von der Vernachlässigung der Erziehungsaufgabe durch die Eltern in der Bundesrepublik Deutschland. Seine These vom Wandel der Elternschaft weist in die entgegengesetzte Richtung. Die Grenze zwischen Familie und ihrer gesellschaftlichen Umwelt werde immer durchlässiger. Folge sei eine - im Sinne von Jürgen Habermas - zunehmende "Kolonialisierung" der privaten Lebenswelt durch äußere Mächte.
Article
Katharina Belwe
2021-12-07T00:00:00
2011-10-04T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/26883/editorial/
Im Wahljahr 2002 steht die Familie bei den Parteien hoch im Kurs. Familienpolitik gilt nunmehr als ein zentrales gesellschaftspolitisches Thema.
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30,502
Dokument 1.11: Inhaltsverzeichnis und Vorwort der Herausgeber des Samisdat-Sammelbandes "Re Patria", 1974 | Russlanddeutsche | bpb.de
Re PATRIA Nr. 1 Materialsammlung zu den Deutschen in der Sowjetunion Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber 5 I. DIE SOWJETDEUTSCHEN Geschichte6 Geographie und Statistik14 Kultur20 II. DAS RECHT: THEORIE UND PRAXIS 1. Das Recht in der Philosophie. Rudolf v. Jhering "Der Kampf ums Recht"30 2. Das Recht und die UNO. Der Abschnitt ist weggelassen Darin enthalten: Deklaration der Menschenrechte, Fragmente des Paktes über Bürger- und politische Rechte und Kommentar (nach Materialien der sowjetischen Presse). 3. Rechtsbetrachtungen Probleme der Wiederherstellung der Rechte von Personen und Völkern, die durch Zwangsumsiedlungen verletzt wurden (nach Materialien des Sacharow–Komitees)39 W.N. Tschalidse "Das Recht verurteilter Bürger, das Land zu verlassen" (weggelassen) Leninsche Nationalitätenpolitik in Zitaten45 4. Der Kampf um das Recht. Menschen, Ereignisse, Tatsachen Von den Namenslisten der Personen, die das Land zu verlassen wünschen47 Der Fall der Familie Hierning47 Erklärung von J.K. Damm48 Erklärung der Delegation der "Sowjet-Deutschen"49 Erklärung der Familie Ruppel54 Der Fall Vitautas Grigas64 Offener Brief von Margarete Gretzinger73 III. DIE DEUTSCHE SPRACHE. Abschnitt ist weggelassen IV. MENSCHEN SUCHEN MENSCHEN77 V. ANHANG Nr. 1. Dekret des SNK [Rat der Volkskommissare, d.h. der Regierung] über die deutschen Wolgakolonien [19. Oktober 1918]82 Erlasse des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR Nr. 2. Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons lebten [28. August 1941]84 Nr. 3. Über die administrative Einrichtung des Territoriums der ehemaligen Republik der Wolgadeutschen [7. September 1941]85 Nr. 4. Über die Aufhebung der Einschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen und der Mitglieder ihrer Familien, die sich in der Sondersiedlungen befinden [13. Dezember 1955]86 Nr. 5. Über die Rehabilitierung der UdSSR-Deutschen [Über Änderungen des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 "Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons lebten", 29. August 1964]87 Nr. 6. Erlass des WZIK [Allrussisches Exekutivkomitee] vom 19.12.1923 zur Reorganisation [des Autonomen Gebiets der Wolgadeutschen in eine Autonome Sozialistische Sowjetrepublik] und [Erlass] des WZIK und SNK vom 20.2.1924 [Über die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen]88 Namensindex92 Vorwort der Herausgeber Der Sammelband "Re Patria" ist einigen Fragen gewidmet, die sich mit dem Erwachen des nationalen Bewusstseins der Deutschen in der UdSSR beschäftigen. Wir hoffen, dass der Überblick über die Lage der Sowjetdeutschen mit historischen, geographischen und statistischen Angaben ein besonderes Interesse findet. Leider wird diesen Fragen in der sowjetischen Presse wenig Aufmerksamkeit geschenkt und deswegen ist eines der Ziele dieses Sammelbandes, wenigstens teilweise diese Lücke auszufüllen. Viel Platz in unserem Band wird den rechtlichen Fragen eingeräumt. Einerseits wird damit der allgemeinen Tendenz zum Wachsen der Rechtskultur Tribut gezollt, andererseits ist dies ein Versuch, einige, für viele Sowjetdeutschen aktuelle Fragen vom rechtlichen Standpunkt zu beleuchten. Zusammen mit gesetzlichen Verordnungen, die im Anhang abgedruckt sind, wird dieser Abschnitt dem Leser verhelfen, eine Vorstellung über den Stellenwert des Rechtes überhaupt und über seine Rolle im Leben der Sowjetdeutscher insbesondere zu bekommen. Im Abschnitt "Menschen suchen Menschen" sind einige, in freier Form dargelegte Anzeigen zum Suchen von engen Verwandten veröffentlicht, die durch das tragische Schicksal – das die ganze Nation getroffen hat – auseinandergetrennt wurden. Trotz der beharrlichen Bemühungen der Behörden, uns in dieser Angelegenheit behilflich zu sein, halten wir die Einführung dieses Abschnittes in unseren Sammelband für angebracht. Wir hoffen auch auf die Rückmeldung von allen, die sich von diesem Problem angesprochen fühlen. Die deutsche Sprache ist in der UdSSR ziemlich populär und wird in vielen Lehranstalten unterrichtet. Wir haben trotzdem eine kleine Notiz über die effektive Methode der Spracherlernung angebracht, um auf die Wichtigkeit des Erhalts der Sprache als eines untrennbaren Teils der nationalen Kultur hinzuweisen. Wir hoffen, dass der Sammelband "Re Patria" auf Aufmerksamkeit bei denen stoßen wird, die sich für Probleme der Sowjetdeutschen interessieren. Für Zusendungen von Äußerungen, Wünschen und Materialien zur weiteren Vertiefung der angeschnittenen Fragen werden die Herausgeber dankbar sein. Diese Samisdat-Schrift erschien im Januar 1974 in Moskau auf Russisch und wurde ursprünglich als eine periodische Ausgabe gedacht. Soweit ersichtlich sind nur zwei Hefte erschienen. Als Herausgeber fungierten Vitautas Grigas, Lilie Bauer und Friedrich Ruppel; über den letzteren mehr im Interner Link: Abschnitt III: Lebensläufe. Alle drei durften kurz nach dem Erscheinen der Schrift nach Westdeutschland ausreisen. Ein Jahr später folgte der Nachdruck der ersten Nummer mit geringfügigen Kürzungen im russischen Emigrantenverlag "Posew" (Frankfurt/M), in der Reihe "Woljnoje slowo" (Freies Wort), Nr. 16, 1975. Diese Reihe veröffentlichte Samisdat-Schriften, die aus der UdSSR nach Westen gelangten. Das zweite, im Juni 1975 erschienene Samisdat-Heft, bleibt bislang nicht auffindbar. Nachdruck des ersten Heftes online (auf Russisch): Externer Link: http://vtoraya-literatura.com/pdf/volnoe_slovo_16_1975__ocr.pdf Das Audioarchiv des russischen Dienstes des Münchener Senders "Radio Free Europe/Radio Liberty" (RFE/RL) ist bereits on-line zugänglich: RFE/RL Russian Broadcast Recordings (view collection record): Externer Link: http://catalog.osaarchivum.org/catalog?f%5Bdigital_collection%5D%5B%5D=RFE%2FRL+Russian+Broadcast+Recordings Die Materialien dieses Samisdat-Heftes wurden in mehreren Sendungen des RFE/RL in der Reihe "Letters and Documents = Pis'ma i dokumenty" ausgestrahlt. Die erste Lesung erfolgte am 28. August 1974 und dauerte 29 Minuten, darunter der Inhalt des Heftes und das Vorwort ab 2:00 bis 8:40 min: Externer Link: http://hdl.handle.net/10891/osa:83b68c29-b12b-4b86-a458-ec83cd49810d. In Deutschland entstand 1975 in Frankfurt/M, durch die emigrierten einstigen sowjetischen Dissidenten initiiert, der gleichnamige Verein "Bund Re Patria. Bundesarbeitsgemeinschaft zur Hilfe bei der Verwirklichung der Volksgruppenrechte, der Familienzusammenführung und der Aussiedlung". Ein Teil der Materialien aus den bislang bekannten zwei Samisdat-Bänden "Re Patria" (1974, 1975) wurde übersetzt in der Zeitschrift des Bundes "Deutschtum im Osten. Eine Dokumentationszeitschrift" veröffentlicht. Erstes Heft der unregelmäßig herausgegebenen Verbandsschrift erschien Ende 1975. Einige online Ausgaben: Deutschtum im Osten. Dokumente. Ausgabe Nr. 2. März/April 1976. Hrsg. vom Bund Re Patria (Frankfurt) Externer Link: http://lmdr.de/wp-content/uploads/repatria/06.pdf. Deutschtum im Osten. Ausgabe Nr. 3. I. Quartal 1979. Hrsg. vom Bund Re Patria (Frankfurt). Externer Link: http://lmdr.de/wp-content/uploads/repatria/05.pdf. Eine Übersetzung des Inhaltes und des Vorwortes auf Deutsch erschien in: Deutschtum im Osten. Dokumente (Hrsg. vom Bund Re Patria, Frankfurt/M), Nr. 1/1975, S. 5–7. Hier erfolgt eine überprüfte, korrigierte und kommentierte deutsche Neufassung.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2019-01-11T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/russlanddeutsche/283724/dokument-1-11-inhaltsverzeichnis-und-vorwort-der-herausgeber-des-samisdat-sammelbandes-re-patria-1974/
[ "Russlanddeutscher Samisdat" ]
30,503
Probleme der inneren Einigung | Deutsche Teilung - Deutsche Einheit | bpb.de
Einleitung Parallel zu den Verhandlungen mit den Vier Mächten über die außenpolitischen Aspekte der Wiedervereinigung wurden zwischen den beiden deutschen Staaten die Probleme der inneren Einigung besprochen. Dabei ging es um höchst komplexe politische, rechtliche und wirtschaftliche Fragen, bei deren Lösung man auf keinen Präzedenzfall zurückgreifen konnte. Vordringlich war die Klärung der Bedingungen für die Wirtschafts- und Währungsunion, die - nicht zuletzt auf Drängen der DDR-Führung - Anfang Februar von der Bundesregierung angekündigt worden war und zum 1. Juli 1990 in Kraft treten sollte. Nur wenn es gelang, den Ostdeutschen wieder eine wirtschaftliche Perspektive zu bieten, war die Übersiedlungswelle zu stoppen und an eine Stabilisierung der Situation zu denken. Darüber hinaus mussten jedoch für den politischen und rechtlichen Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten frühzeitig Überlegungen darüber angestellt werden, wie die staatliche Ordnung aussehen sollte. Unklar war bereits, unter welchen rechtlichen Voraussetzungen die Wiedervereinigung überhaupt erfolgen sollte: ob als Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes oder nach Ausarbeitung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung. Doch selbst wenn man am Grundgesetz und an der Rechtsordnung der Bundesrepublik festhielt, waren beitrittsbedingte Änderungen und Anpassungen nicht zu vermeiden, die wohlüberlegt sein mussten. Dabei war eine Fülle von Einzelfragen zu klären. Sie betrafen unter anderem die gesetzgebenden Körperschaften, den Aufbau der öffentlichen Verwaltung, Überleitungsbestimmungen im Bereich der Justiz, die Finanzverwaltung, die Ordnung der Wirtschaft, den Bereich Verkehr, Post und Telekommunikation, das gesamte soziale Netz sowie Bildung, Wissenschaft und Kultur - um nur diese Beispiele zu nennen. Nirgends ließ sich das System der Bundesrepublik einfach auf die Gebiete der bisherigen DDR übertragen. Es bedurfte vielmehr detaillierter Anpassungsregelungen, die vor der Vereinigung festzulegen waren. Daher wurde der Abschluss eines entsprechenden "Vertrages zur deutschen Einheit" zwischen der Bundesrepublik und der DDR vereinbart. Die vertraglichen Grundlagen der Wiedervereinigung umfassten deshalb neben dem in Moskau unterzeichneten "Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland" (siehe auch S. 57 f.) den "Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik" vom 18. Mai 1990 sowie den "Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag" vom 31. August 1990. Erst die Verbindung der drei Vertragswerke ermöglichte die Wiedervereinigung Deutschlands. Wirtschafts- und Währungsunion Die Verhandlungen über die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion, die am 7. Februar 1990 nach der Ankündigung des Kanzlers begonnen hatten, wurden nach dem Sieg der "Allianz für Deutschland" bei den Wahlen zur DDR-Volkskammer am 18. März auf Drängen Bundeskanzler Kohls sogleich beschleunigt. Der Kanzler war überzeugt, dass eine rasche und anhaltende Verbesserung der Lebensbedingungen in Ostdeutschland durch wirtschaftlichen Wiederaufbau politisch notwendig war, wenn die deutsche Einheit erfolgreich verwirklicht werden sollte. Dabei setzte er voraus, dass der Wiederaufbau in relativ kurzer Zeit bewerkstelligt werden konnte. Dieser Optimismus basierte auf der Annahme, dass die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik - entsprechend einer Analyse der fünf führenden westdeutschen Wirtschaftsforschungsinstitute - in den Jahren 1990 und 1991 durch Stabilität und zusätzliches Wachstum bestimmt sein würde. Die Prognosen sagten für 1990 3,75 Prozent Wachstum und für 1991 sogar nahezu vier Prozent voraus; zugleich werde der "Wiedervereinigungsboom" die Arbeitslosigkeit drastisch reduzieren, ohne die Inflation über die Drei-Prozent-Grenze zu treiben. Die Bundesrepublik werde damit über genügend finanzielle Reserven verfügen, um etwa für die Anpassung der Renten, die Modernisierung der Infrastruktur und die Beseitigung der Umweltschäden in Ostdeutschland sorgen zu können. Darüber hinaus sah sich der Kanzler in seiner Zuversicht durch großzügige Versprechungen der deutschen Privatwirtschaft gestärkt, in der bisherigen DDR zu investieren. Nach Ankündigung der Währungsunion und erst recht nach dem Ausgang der Volkskammerwahl vom 18. März wurden in allen Teilen der Wirtschaft Absichtserklärungen für ein erhebliches Engagement in Ostdeutschland abgegeben. Einer Zählung der Bundesvereinigung der Handelskammern in Köln zufolge lagen Ende März 1990 bereits 1100 derartige Zusicherungen vor - vor allem aus der Automobilindustrie, dem Maschinenbau, der Elektrotechnik, dem Großhandel und dem Dienstleistungssektor. Nach der Wahl Lothar de Maizières zum neuen Ministerpräsidenten der DDR am 12. April 1990 wurde sogleich ein Treffen mit Bundeskanzler Kohl für den 24. April vereinbart, um die Verhandlungen über die Wirtschafts- und Währungsunion zwischen den beiden deutschen Staaten formell zu eröffnen. Grundlage war das Angebot Kohls vom Vorabend der Volkskammerwahl, die ostdeutsche Mark bis zu einer bestimmten Obergrenze zum Kurs von 1:1 umzutauschen. Vor allem die Bundesbank warnte vor den Folgen einer allzu hohen Bewertung der ostdeutschen Währung, die die Stabilität der DM gefährden könne. Bereits die von Kohl vorgeschlagene Lösung würde den Geldkreislauf mit 118 Milliarden DM Bargeld und Liquidität zusätzlich belasten und damit zu einer nominalen Kaufkrafterhöhung für Güter und Dienstleistungen im Umfang von 236 bis 240 Milliarden DM in der westdeutschen 2,3-Billionen-DM-Wirtschaft führen. Nach Meinung der Bundesbank konnte dies nicht ohne Auswirkungen auf die Geldwertstabilität bleiben. Man verständigte sich deshalb am 2. Mai auf eine Mischung: Alle Löhne und Gehälter sowie Renten, Pensionen, Stipendien und bestimmte Sozialleistungen sollten zum Kurs 1:1 umgestellt werden. Die Renten im Osten würden an das Niveau der Bundesrepublik angeglichen. Bei Bargeld und Sparkonten sollten Kinder bis zu 14 Jahren 2000 DDR-Mark zum 1:1-Kurs umtauschen können, Personen zwischen 15 und 59 bis 4000 Mark und Personen über 60 bis 6000 Mark. Beträge oberhalb dieser Grenzen würden zum Kurs 2:1 gewechselt werden. QuellentextWährungsumstellung Erklärung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und die Regierung der Bundesrepublik Deutschland beabsichtigen in Wahrnehmung der gemeinsamen Aufgabe der beiden deutschen Staaten und auf dem Weg zur deutschen Einheit, einen Staatsvertrag zur Einführung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zu schließen. Dieser Vertrag soll am 1. Juli 1990 in Kraft treten. [...] 2. Löhne, Gehälter, Stipendien, Mieten, Pachten und Renten sowie andere wiederkehrende Versorgungszahlungen (zum Beispiel Unterhaltszahlungen) werden im Verhältnis 1:1 umgestellt. Bei Löhnen und Gehältern werden die Bruttobeträge vom 1. Mai 1990 zugrunde gelegt. 3. Das Rentensystem in der DDR wird dem Rentensystem in der Bundesrepublik Deutschland angepasst. Das bedeutet, dass die meisten Renten in D-Mark höher liegen werden als heute in Mark der DDR. Sofern sich in Einzelfällen ein niedrigerer Betrag gegenüber der bisherigen Rente in Mark der DDR ergibt, wird sichergestellt, dass der bisherige Rentenbetrag in D-Mark gezahlt wird. 4. Durch in der Deutschen Demokratischen Republik zu schaffende rechtliche Regelungen werden sich insbesondere für Bezieher niedriger Renten und für Studenten ergebende soziale Härten ausgeglichen. [...] 5. Sonstige Forderungen und Verbindlichkeiten werden grundsätzlich im Verhältnis 2:1 umgestellt. 6. Personen mit ständigem Wohnsitz in der Deutschen Demokratischen Republik können im Verhältnis 1:1 folgende Beträge pro Kopf (Bargeld und Bankguthaben) tauschen: - Kinder bis zum vollendeten 14. Lebensjahr: 2000 Mark - Personen im Alter von 15 bis zum vollendeten 59. Lebensjahr: 4000 Mark - Personen ab dem 60. Lebensjahr: 6000 Mark Darüber hinausgehende Beträge werden 2:1 umgestellt. [...] 7. Guthaben von natürlichen oder juristischen Personen oder Stellen, deren ständiger Wohnsitz oder Sitz sich außerhalb der Deutschen Demokratischen Republik befindet, werden 3:1 umgestellt, soweit die Guthaben nach dem 31. Dezember 1989 entstanden sind. [...] Erklärung von Bundesminister Rudolf Seiters, Chef des Bundeskanzleramtes, vor der Bundespressekonferenz in Bonn am 2. Mai 1990, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 3. Mai 1990. Eigentumsprobleme Damit war ein wichtiger Punkt der künftigen Wirtschafts- und Währungsunion geklärt. Auch die sowjetische Führung reagierte darauf positiv, zumal de Maizière ihr bei einem Besuch in Moskau Ende April versichert hatte, das geeinte Deutschland werde die von der DDR eingegangenen Handelsverpflichtungen gegenüber der UdSSR einhalten. Verschiedene Probleme waren jedoch weiterhin ungelöst. Dazu zählten der Finanzausgleich zwischen den "alten" und "neuen" Bundesländern, Einzelheiten der Sozialunion und - vor allem - die Frage von Eigentumsrechten und Landbesitz, die nach Ansicht von CDU-Generalsekretär Volker Rühe sogar der "entscheidende Punkt" der Verhandlungen war. Da der Entwurf des Vertrages über die Wirtschafts- und Währungsunion am 18. Mai vom Bundeskabinett verabschiedet und am 22. Mai in erster Lesung vom Bundestag beraten werden sollte, war die Zeit für weitere Beratungen allerdings äußerst knapp. Tatsächlich wurden die Verhandlungen abgeschlossen, ohne dass zwei der heikelsten Fragen entschieden worden waren: die Regelung der Ansprüche früherer Eigentümer in Ostdeutschland und die Reprivatisierung verstaatlichten Besitzes einschließlich Ländereien und landwirtschaftlicher Betriebe. Beide Problembereiche konnten erst nach Inkrafttreten der Wirtschafts- und Währungsunion während der Verhandlungen über den Einigungsvertrag geklärt werden. Erreicht wurde eine Einigung jedoch hinsichtlich der finanziellen Unterstützung für Ostdeutschland. Die Bundesregierung und die elf westdeutschen Länder kamen am 16. Mai überein, einen "Fonds Deutsche Einheit" zu schaffen, aus dem bis Ende 1994 insgesamt 155 Milliarden DM als Wiederaufbauhilfe für Ostdeutschland bereitgestellt werden sollten. Der Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen den beiden deutschen Staaten konnte daraufhin nach abschließenden Gesprächen zwischen Bundesfinanzminister Theo Waigel und DDR-Finanzminister Walter Romberg am 18. Mai in Bonn unterzeichnet werden. Vertragsinhalte Kernstücke des Vertrages waren die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft in der DDR und die Umstellung der DDR-Währung auf DM zum 1. Juli 1990. In der Präambel des Vertrages erklärten die Bundesrepublik und die DDR, "die Soziale Marktwirtschaft als Grundlage für die weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung mit sozialem Ausgleich und sozialer Absicherung und Verantwortung gegenüber der Umwelt auch in der Deutschen Demokratischen Republik einzuführen und hierdurch die Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Bevölkerung stetig zu verbessern". Die ostdeutsche Wirtschaft sollte durch Privateigentum, freie Preisbildung und die Abschaffung staatlicher Monopole gekennzeichnet sein. Staatliche Subventionen sollten so weit wie möglich abgebaut werden, um mit den dadurch eingesparten Beträgen die ökonomische Umstrukturierung zu finanzieren. Die DDR würde außerdem das westdeutsche Sozialsystem übernehmen, während die Bundesrepublik umgekehrt für eine Übergangszeit den defizitären Staatshaushalt der DDR ausgleichen und die Kosten für die Finanzierung der ostdeutschen Sozialausgaben tragen würde. Damit verlor die DDR mit Inkrafttreten des Vertrages ihre Souveränität in Finanzangelegenheiten und übertrug die Verantwortung dafür der Bundesbank in Frankfurt am Main. Die Auswirkungen des Vertrages galten jedoch für viele von Anfang an als zwiespältig. Einerseits waren die darin enthaltenen Regelungen ein unvermeidliches Element der deutschen Einigung. Alternativen gab es nicht oder waren unrealistisch - wie etwa ein Fortbestehen der ostdeutschen Währung in einem wirtschaftlichen Sondergebiet auf dem Territorium der ehemaligen DDR. Andererseits sagten Ökonomen angesichts der "Schocktherapie", der die ostdeutsche Wirtschaft ausgesetzt wurde, den Zusammenbruch vieler ineffizienter Unternehmen voraus, die dem freien Wettbewerb nicht gewachsen waren. Die Zahl der Arbeitslosen in der DDR, die innerhalb eines Monats, von März bis April 1990, bereits von 38.313 auf 64.948 gestiegen war, würde dadurch je nach Prognose bis Ende 1991 auf 500.000 bis zwei Millionen anwachsen. Auch die Vorausschätzungen für die Summen, die benötigt wurden, um die Industrie und Infrastruktur der DDR westlichen Standards anzugleichen, schwankten stark. Sie variierten zwischen 500 Milliarden und 1,1 Billionen DM. Dabei wurden allein die Mehrausgaben für Sozialleistungen auf jährlich mindestens zehn Milliarden DM veranschlagt. Wirtschaftlicher Niedergang Marode DDR-Wirtschaft: Produktionsband in der Werkhalle des VEB Sachsenring Zwickau. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00049388, Foto: Klaus Lehnartz) Nachdem die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit Wirkung vom 1. Juli 1990 eingeführt worden war, offenbarte die DDR-Ökonomie ihren Charakter als eine Wirtschaft, in der weder Grunddaten noch Statistiken stimmten. In der Honecker-Zeit hatte man systematisch die immer deutlicher hervortretende Misere kaschiert und bewusst das unrealistische Bild einer DDR ohne größere wirtschaftliche Probleme gezeichnet, während sich der ostdeutsche Staat tatsächlich auf den Bankrott zubewegte. Der SED-Generalsekretär hatte alle Alarmzeichen ignoriert, um weitermachen zu können wie bisher. Als sein Nachfolger Krenz im Herbst 1989 eine ungeschönte Bilanz der ökonomischen Lage des Landes ziehen ließ, erfuhr er, dass die DDR am Ende war. Diese Situation, die heute aus internen Dokumenten des SED-Staates klar hervorgeht, war 1990 den mit der Vereinigung befassten Politikern allerdings noch nicht bekannt. Das erklärt weithin die Illusionen, die man sich in Bonn zunächst noch machte. Als Gütezeichen der DDR galten seit jeher Vollbeschäftigung, freie medizinische Versorgung und Niedrigstmieten. Genau diese Errungenschaften gehörten jedoch ebenso wie die staatlich festgesetzten Niedrigpreise für elementare Güter und Dienstleistungen des alltäglichen Bedarfs zu den entscheidenden Ursachen des ökonomischen Niedergangs der DDR: Honeckers Konzept der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" hatte die schwache Produktivität des Landes bei weitem überfordert. Die geringe Leistungsfähigkeit des sozialistischen Wirtschaftssystems aber war der ausschlaggebende Faktor, als Ostdeutschland mit der Wirtschafts- und Währungsunion im Juli 1990 dem freien internationalen Wettbewerb mit offenen Grenzen und Märkten ausgesetzt wurde. Nun wurde die Tatsache, dass DDR-Unternehmen im Durchschnitt nur etwa ein Drittel der Produktivität ihrer westlichen Konkurrenten aufwiesen, kaum weltmarktfähige Güter produzierten, enorme Umweltschäden verursachten und gewaltige Schuldenberge aufgehäuft hatten, der ostdeutschen Wirtschaft zum Verhängnis. In Zahlen ausgedrückt: Nahezu alle Staatsbetriebe der DDR hatten mit riesigen Verlusten operiert, die allein im Jahre 1989 Staatssubventionen in Höhe von mehr als 120 Milliarden DDR-Mark erforderlich gemacht hatten. Da überdies die Investitionsquote in den siebziger und achtziger Jahren zur Finanzierung der Honeckerschen Konsum- und Sozialpolitik sowie zunehmend auch zur Begleichung der aus dieser Politik ebenfalls resultierenden Auslandsschulden drastisch reduziert worden war, waren ein völlig veralteter und vielfach kaum noch funktionsfähiger Maschinenpark sowie eine desolate Infrastruktur die Folge. So waren 1989 etwa 29 Prozent der Industrieausrüstungen in der DDR zwischen elf und 20 Jahre alt, 21 Prozent sogar mehr als 20 Jahre. Die Öffnung der DDR-Wirtschaft zum Weltmarkt führte daher binnen kürzester Zeit zu ihrem völligen Zusammenbruch, zumal auch die Ostmärkte in dieser Zeit allgemeinen Wandels kollabierten. Die Talfahrt war bereits Ende 1989 deutlich zu spüren und entwickelte sich nach der Wirtschafts- und Währungsunion zum freien Fall: Obwohl 1990 auch 110.000 neue Betriebe gegründet wurden, sank das Bruttosozialprodukt bis Ende 1990 um nicht weniger als 18,5 Prozent. Treuhandanstalt Um die Anpassung der ostdeutschen Wirtschaft an die neuen politischen und ökonomischenBedingungen vorzunehmen, wurde im März 1990 - noch unter Ministerpräsident Hans Modrow - die Treuhandanstalt gegründet. Sie sah ihre Rolle allerdings zunächst als Sanierungsinstrument der staatlichen Industriepolitik in einer quasi-sozialistischen Gesellschaft. Erst nach der Volkskammerwahl vom 18. März erhielt die Privatisierung höhere Priorität. Die Anstalt wuchs nun rasch zu einer Großorganisation mit 3000 Mitarbeitern an, die teils in der Berliner Zentrale, teils in einem der 15 Regionalbüros tätig waren. Ihre Aufgabe war es, den umfangreichen staatlichen Grundbesitz und die darauf befindlichen Liegenschaften sowie 127 zentrale und 95 regionale Kombinate mit insgesamt 12.993 industriellen Unternehmen zu privatisieren. Das Ziel wurde in weniger als vier Jahren erreicht - allerdings zu einem sehr hohen Preis: Für jede DM, die von privater Seite für den Kauf eines ostdeutschen Unternehmens aufgewandt wurde, mussten drei DM von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellt werden, um Altschulden abzutragen oder Umweltschäden zu beseitigen. Ohne diesen öffentlichen Beitrag hätte es kaum Interessenten für die meisten DDR-Unternehmen gegeben, da sich die Erwerbungen sonst in der Regel betriebswirtschaftlich nicht gerechnet hätten. Jeder Privatisierungserfolg vergrößerte daher zugleich das finanzielle Defizit der Treuhand. Experten im Bonner Finanzministerium errechneten bereits 1991 eine Gesamtschuld von annähernd 500 Milliarden DM, die von den deutschen Steuerzahlern für die Abwicklung der DDR-Wirtschaft aufzubringen waren. QuellentextDie Arbeit der Treuhandanstalt: Bilanz und Perspektiven Der Treuhandanstalt wurde im Sommer 1990 unter der ersten demokratisch gewählten Regierung der DDR auf Beschluss der Volkskammer nahezu das gesamte verstaatlichte industrielle Vermögen der damals noch existierenden DDR zur Verwaltung und Verwertung übertragen. Dabei handelte es sich nicht nur um die Kombinate und volkseigenen Betriebe (VEB), sondern unter anderem auch um Grundstücke sowie um Sondervermögen der Parteien und Massenorganisationen. Der Treuhandanstalt wurden vom Parlament rund 8500 Staatsbetriebe mit rund vier Millionen Arbeitnehmern anvertraut. Auf die seinerzeit "größte Staatsholding der Welt" kam eine einmalige Herausforderung zu. [...] Die Geschäftspolitik der Treuhand steht und stand seit ihrer Gründung vor rund vier Jahren im Kreuzfeuer der Kritik. Den Westdeutschen gingen Privatisierung und Umstrukturierung der Staatsbetriebe viel zu langsam, den Ostdeutschen ging hingegen die Anpassung viel zu schnell. Viele empfanden sie als "Schocktherapie", und viele fürchteten Arbeitslosigkeit und soziale Desintegration. Und mancher Ostdeutsche beklagt die vermeintliche Verschleuderung von "Volksvermögen". Er sieht sich übervorteilt, da bislang keine "verbrieften Anteilsrechte" zugeteilt wurden, wie man sie nach der Diskussion im Frühjahr 1990 erwartet hatte. Hingegen haben westliche Investoren oftmals versucht, die ihrer Ansicht nach überhöhten Kaufpreise für Treuhandfirmen zu drücken. [...] Von vielen Kritikern der Treuhand wird übersehen, dass an den nicht selten umstrittenen Entscheidungen über das Schicksal der Firmen die Repräsentanten wichtiger Gesellschaftsgruppen im Verwaltungsrat meist einstimmig mitwirken: führende Gewerkschaftsvertreter, die Ministerpräsidenten der neuen Länder, die Staatssekretäre der Bundesministerien für Wirtschaft und Finanzen. [...] Sanierungsmaßnahmen wurden für solche Treuhandbetriebe beschlossen, deren Sanierungsfähigkeit anhand von Unternehmens- bzw. Sanierungskonzepten von unabhängigen Experten und Prüfern festgestellt worden war. Die Treuhand unterstützte diese Betriebe unter anderem durch die Übernahme von finanziellen und ökologischen Altlasten, durch die Verbesserung der Eigenkapitalbasis, aber auch durch Liquiditäts- und Finanzhilfen für Investitionen. Ohne diese Unterstützung hätten die meisten Unternehmen weder am Leben erhalten noch privatisiert werden können. Zudem wurden die Treuhandunternehmen auch durch Anregung und Förderung von Investitionen im Bereich Forschung und Entwicklung, im High-Tech-Bereich und zur Produktinnovation unterstützt. In Zusammenarbeit und mit Genehmigung der Europäischen Kommission wurden von der Treuhandanstalt auch einige größere Umstrukturierungsmaßnahmen vorgenommen, die unmittelbar zur regionalen und lokalen Sicherung von Arbeitsplätzen und Betrieben beitrugen. [...] Nur durch Umsätze, nicht durch Subventionen können die Betriebe und Arbeitsplätze in Ostdeutschland gesichert werden. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die Treuhandanstalt starteten eine "Einkaufsoffensive für die neuen Bundesländer", der sich viele große Konzerne anschlossen. [...] Die schwierige wirtschaftliche Lage vieler Firmen ließ eine Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmer in den ostdeutschen Unternehmen oft nicht zu. Dabei kam es darauf an, die notwendigen Maßnahmen sozial verträglich zu gestalten. Drohende Massenentlassungen konnten in der Anfangsphase nach der Währungsunion nur durch flankierende Maßnahmen, etwa die formale Weiterbeschäftigung von zwei Millionen Kurzarbeitern, zum Teil mit Null Stunden Kurzarbeit, vermieden werden. Mit den Gewerkschaften waren bereits 1991 Rahmenverträge zur Umschulung und Qualifizierung von Arbeitslosen geschlossen worden. [...] Für mehr als eine Million Arbeitnehmer wurden auf der Grundlage des Arbeitsförderungsgesetzes Sozialpläne entwickelt. Die soziale Abfederung wurde von der Treuhand mit mehr als sieben Milliarden DM finanziert. So gelang es 80 Prozent der aus Treuhandunternehmen ausgeschiedenen Mitarbeiter, ein neues Arbeitsverhältnis aufzunehmen. [...] Birgit Breuel, "Treuhandanstalt: Bilanz und Perspektiven", aus: "Aus Politik und Zeitgeschichte", Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 43-44/94, vom 28. Oktober 1994, S. 14 ff. Die Treuhandanstalt (THA) hat von Anfang an eine Polarisierung der Meinungen ausgelöst: Die einen rühmen sie als effizient arbeitende Privatisierungsagentur, die die schnellste Privatisierung einer Volkswirtschaft hervorbrachte, die es weltweit je gegeben hat - und das unter sehr schwierigen Rahmenbedingungen. Eine zweite Gruppe von Beobachtern kritisiert die Treuhand, weil sie auf die potenziellen Investoren durch Auflagen zu viel Einfluss genommen und zudem zu viel eigenständige Sanierung zur Erhaltung letztlich nicht lebensfähiger "industrieller Kerne" betrieben habe. [...] Für die dritte Gruppe war und ist die Treuhand [...] für die Zerstörung der Wirtschaftssubstanz der neuen Bundesländer verantwortlich. [...] Die Defizite der Treuhandpolitik des Bundes und der Anstalt selbst lassen sich in [folgenden] Punkten resümieren: 1. Unklarer gesetzlicher Auftrag: Zur Bewältigung der Jahrhundertaufgabe, die der THA aufgebürdet wurde, wäre ein präziserer gesetzlicher Auftrag notwendig gewesen. Das Treuhandgesetz enthält keinen beschäftigungs- und strukturpolitischen Auftrag; [...] 2. Die Strategie der schnellen Privatisierung: Da sich die THA - zumindest bis etwa Herbst 1992 - als reine Verkaufsagentur mit dem Ziel der schnellstmöglichen Privatisierung verstand, mussten die Verkaufskonditionen der wenigen westlichen Investoren weitgehend akzeptiert werden. Die aber setzten ganz überwiegend auf Sanierung durch Schrumpfung oder auf "Resteverwertung" und Grundstücksspekulation. [...] Um ihre Unternehmen loszuwerden, musste die THA immer stärker vom Verkauf zur Vergabe mit hohen Zugaben (negative Verkaufspreise) übergehen. Die wichtigste Gegenleistung der Investoren bestand dann in den vertraglichen Zusagen - etwa zum Erhalt oder zur Schaffung von Arbeitsplätzen, die nur sehr schwer kontrollierbar und bei veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen auch gar nicht einhaltbar sind. [...] 3. Privatisierung ohne Regelbindung der Entscheidungen: Die THA hat keine transparenten, einheitlichen Entscheidungsregeln für die Beurteilung der Sanierungsfähigkeit und die Auswahl der Investoren festgelegt. Die Kaufpreisfindung ist nicht nachvollziehbar. [...] 4. Die Vernachlässigung der Sanierung vor der Privatisierung: Die noch nicht privatisierten Unternehmen hat die Treuhand lange Zeit hingehalten; eine Sanierung sollte erst durch die neuen Eigentümer erfolgen. [...] 5. Vernachlässigung der Absatz- und Innovationsförderung: Dass die Absatzprobleme das entscheidende Hindernis für eine offensive Sanierungsstrategie waren, wurde ständig verkannt. Daher versäumte man, absatzfördernde Konzeptionen zu entwickeln. [...] Jan Priewe, "Die Folgen der schnellen Privatisierung der Treuhandanstalt", in: "Aus Politik und Zeitgeschichte", Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 43-44/97 vom 28. Oktober 1994, S. 21 ff. Transferzahlungen Da sich die Privatwirtschaft überdies entgegen früheren Versprechungen auch in Anbetracht der ungelösten Eigentumsproblematik mit ihrem Engagement in Ostdeutschland zunächst zurückhielt und innerhalb des ersten Jahres nach Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion nicht einmal 13 Milliarden DM investierte, blieben für die öffentliche Hand in den neuen Bundesländern weithin die einkalkulierten Steuern aus. Deshalb mussten die alten Bundesländer erheblich höhere Beiträge für die Beitrittsgebiete aufwenden als ursprünglich geplant. So bedurfte es allein 1991 etwa 143 Milliarden DM Bruttotransferleistungen für Ostdeutschland, um Einkommen zu sichern, Unternehmen zu stützen und die Infrastruktur zu verbessern. 1992 waren es bereits 173 Milliarden, 1995 188 Milliarden und 2000 rund 200 Milliarden. Für die Zeit von 1991 bis 1999 ergab sich daraus insgesamt ein Betrag von 1,634 Billionen DM. Selbst unter Berücksichtigung der Rückflüsse betrug die Nettoleistung immer noch rund 1,2 Billionen. Die Summen waren derart hoch, dass die öffentliche Verschuldung in der Bundesrepublik sich von 1990 bis 1999 mehr als verdoppelte. An dieser Tendenz im ersten Jahrzehnt der deutschen Einheit hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert, da nach wie vor hohe Transferzahlungen von West nach Ost erforderlich sind. Trotz der finanziellen Zuwendungen erwies sich der Optimismus der verantwortlichen Politiker über einen raschen Aufschwung der ostdeutschen Wirtschaft jedoch als verfehlt. Die zu überwindende Durststrecke war erheblich länger als erwartet, zumal die zunehmend durch schlechte Produktivitätsperspektiven verschreckten privaten Investoren weiter zögerten und die öffentlichen Stützungs- und Arbeitsbeschaffungsprogramme nicht auf Dauer im ursprünglichen Umfang aufrechterhalten werden konnten. Das Ergebnis war ein Anstieg der Arbeitslosigkeit auf durchschnittlich 15 Prozent, wobei die Quote in manchen Regionen noch sehr viel höher lag. Daraus wuchs Enttäuschung - nicht zuletzt auch deshalb, weil 1990 im Wahlkampf zu viel versprochen worden war. Einer Meinungsumfrage des "Politbarometers" der Forschungsgruppe Wahlen zufolge meinten 1993 75 Prozent der Ostdeutschen, dass sich die Gesellschaft in einer "schweren Krise" befinde. In einem "Katastrophenszenario" hielten über 50 Prozent die wirtschaftliche Lage in den neuen Ländern nicht nur für "schlecht", sondern glaubten, sie werde auch "gleich schlecht" bleiben. Diese negativen Einschätzungen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung standen jedoch in einem bemerkenswerten Kontrast zu den gleichzeitig abgegebenen Bewertungen der persönlichen Situation. So sahen 64 Prozent der Ostdeutschen das Jahr 1991 für sich als ein "gutes Jahr" an; 1992 waren es sogar 69 Prozent - genauso viele wie im Westen. Dieser Trend setzte sich in den folgenden Jahren fort. Damit tat sich eine Lücke in der Beurteilung der allgemeinen und der persönlichen Lage auf, die allein mit den üblichen Inkongruenzen bei Meinungsbefragungen nicht zu erklären ist. Denn die geringste Abweichung beider Größen lag bei 39 Punkten, das Maximum sogar bei 51 Punkten. Eine Erklärung dafür ist die Tatsache, dass die schwache Wirtschaftskraft in den neuen Ländern, die nicht nur aus der Berichterstattung der Medien, sondern auch im Alltag ersichtlich war, im persönlichen Bereich durch die gewaltigen Transferleistungen der Bundesregierung ausgeglichen wurde. Die wirtschaftliche Lage der großen Mehrheit der Ostdeutschen entwickelte sich positiv, während zugleich die allgemeine politische Entwicklung hinter den Erwartungen zurückblieb. Daraus erwuchs jedoch ein Problem: So wie die alte Bundesrepublik seit ihrer Entstehung 1949 für die Westdeutschen einen erheblichen Teil ihrer Legitimität aus ihrem materiellen Erfolg bezog, für den damals der Begriff des "Wirtschaftswunders" geprägt wurde, hing auch die Akzeptanz der neuen Bundesrepublik bei den Ostdeutschen maßgeblich von der Fähigkeit der marktwirtschaftlichen Ordnung ab, für ihre materielle Zufriedenheit zu sorgen. Grundgesetz oder neue Verfassung? Neben der Wirtschafts- und Währungsunion zählte die Frage nach der künftigen deutschen Verfassung zu den Hauptthemen der Wiedervereinigungsdiskussion im Frühjahr 1990. Rechtlich betrachtet, gab es zwei Wege, auf denen sich die Wiedervereinigung vollziehen konnte: nach Artikel 23 GG, der besagte, dass die Verfassung außer in den bereits bestehenden Ländern der Bundesrepublik auch in "anderen Teilen Deutschlands [...] nach deren Beitritt in Kraft zu setzen" sei; oder nach Artikel 146 GG, demzufolge das Grundgesetz an dem Tage seine Gültigkeit verliert, "an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist". Als die Frage nach Ankündigung der Währungsunion und nach der Konstituierung des "Ausschusses Deutsche Einheit" am 7. Februar 1990 aktuell wurde, zeigte sich rasch, dass die Mehrheit der Deutschen für die Anwendung des Artikels 23 plädierte, der eine rasche und unkomplizierte Lösung versprach. Zwar befürwortete eine Minderheit in beiden Teilen Deutschlands, darunter vor allem die Bürgerrechtler in der DDR und auch viele Sozialdemokraten, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gemäß Artikel 146, weil sie meinten, dass Bonn nicht einfach die DDR "annektieren" dürfe. Aber nach einer Umfrage des Wickert-Instituts von 1990, die am 26. Februar veröffentlicht wurde, traten 89,9 Prozent der Westdeutschen und 84,1 Prozent der Ostdeutschen für die Übernahme des Grundgesetzes als gesamtdeutsche Verfassung ein. Nach der Volkskammerwahl vom 18. März war die Frage auch politisch entschieden. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hielt deshalb bereits am 6. April eine erste Ressortbesprechung zur Vorbereitung eines "Gesetzes über die Einführung von Bundesrecht in der DDR (1. Überleitungsgesetz)" ab. Am 18. April traf er dazu mit seinem ostdeutschen Amtskollegen Peter-Michael Diestel zu einer Unterredung zusammen, wobei es im Grunde nur noch um praktische Fragen ging. Parallel dazu konferierten die Justizminister der beiden deutschen Staaten, Hans Engelhard und Kurt Wünsche, um Einzelheiten der Harmonisierung der beiden Rechtssysteme auszuarbeiten. Die wichtigsten Beschlüsse in der Beitritts- und Verfassungsfrage wurden jedoch von der DDR-Volkskammer getroffen. Dort lehnte eine Mehrheit der Abgeordneten am 26. April die Ausarbeitung einer neuen Verfassung ab. Ein Antrag der DSU-Fraktion, den sofortigen Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes zu beschließen, wurde am 17. Juni an den Verfassungs- und Rechtsausschuss überwiesen. Am 23. August 1990 votierte das ostdeutsche Parlament für einen Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23. Im Grundgesetz machte der Beitritt der fünf neuen Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie des östlichen Teils Berlins einige Änderungen notwendig. So wurde nunmehr in der Präambel die Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung festgestellt und gefolgert: "Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte deutsche Volk." Der alte Artikel 23 wurde durch den so genannten Europa-Artikel ersetzt, in dem sich die Bundesrepublik nunmehr auch in ihrer Verfassung zur europäischen Integration und zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union bekennt. Artikel 146 wurde dahingehend geändert, dass zwar künftig die Ausarbeitung einer neuen Verfassung nicht ausgeschlossen sei, das Grundgesetz aber nicht mehr als vorläufig gelte. Weitere Änderungen und Ergänzungen betreffen die Stimmenzahl der einzelnen Länder im Bundesrat (Art. 51 Abs. 2) und die Übernahme der Schulden der früheren DDR oder ihrer Rechtsträger (neuer Abs. 2 zum Art. 135a). Neu eingefügt wurde der Artikel 143, der in der bisherigen DDR Abweichungen vom Grundgesetz für eine Übergangszeit zulässt und die zwischen 1945 und 1949 erfolgten Enteignungen auf dem Gebiet der SBZ/DDR verfassungsrechtlich absichert. Eigentumsfrage Von dem Problem der Enteignungen waren Tausende von Deutschen in Ost und West betroffen, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone und danach in der DDR ihr Eigentum verloren hatten. Enteignungen durch die sowjetische Besatzungsmacht und die Regierung der DDR sowie Eigentumsverluste durch Flucht und Vertreibung hatten zu Eingriffen in Grundbesitz, Betriebe oder sonstiges Vermögen geführt, die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar waren. Diese Fehlentwicklungen zu korrigieren, war nicht nur ein wesentliches politisches Anliegen des Einigungsprozesses, sondern auch eine zwingende juristische Notwendigkeit, die sich aus der Rechtsordnung der Bundesrepublik ergab. Der Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion hatte die daraus resultierenden höchst komplizierten Eigentums- und Vermögensfragen, deren Behandlung durch das SED-Regime mit rechtsstaatlichen Grundsätzen zumeist nicht in Einklang zu bringen war, weitgehend ausgeklammert. Im Einigungsvertrag kam man nun nicht mehr umhin, eine Lösung zu versuchen. Dazu wurde am 15. Juni 1990 zunächst eine "Gemeinsame Erklärung" der Bundesregierung und der Regierung der DDR abgegeben, in der allgemeine Grundsätze formuliert wurden. Die Erklärung wurde dem Einigungsvertrag als Anlage III beigefügt und ist damit Bestandteil des Vertrages. Ein "Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen", das erst am 31. August, also am Tage der Unterzeichnung des Einigungsvertrages, ohne das übliche Gesetzgebungsverfahren in der Volkskammer als Anlage II in den Vertrag aufgenommen wurde, präzisiert diese Gemeinsame Erklärung und enthält detaillierte Ausführungsbestimmungen. Die Lösung, auf die man sich nach langwierigen und mühseligen Gesprächen zwischen den Regierungen der beiden deutschen Staaten schließlich einigen konnte, geht vor allem von zwei Grundsätzen aus: Eingriffe in das Eigentum von der Kapitulation bis zur Gründung der DDR, also für die Zeit zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 7. Oktober 1949, werden nicht rückgängig gemacht. Enteignungen und Eigentumsbeschränkungen, die in dieser Zeit nach Besatzungsrecht erfolgten, insbesondere auch im Rahmen der so genannten Bodenreform vom September 1945, behalten ihre Gültigkeit.Vermögen einschließlich Grundbesitz, das nach dem 7. Oktober 1949 enteignet bzw. unter staatliche Treuhandverwaltung der DDR gestellt wurde, soll grundsätzlich den ehemaligen Eigentümern oder ihren Erben zurückgegeben werden. Von Ausnahmen abgesehen, gilt das Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung". Strittig war zunächst vor allem der erste Punkt, der als Eingriff in das nach Artikel 14 GG geschützte Grundrecht auf Eigentum angesehen wurde. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte jedoch am 23. April 1991 die Bestimmung des Einigungsvertrages, dass "Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage" aus den Jahren 1945 und 1949 in der damaligen SBZ nicht aufgehoben werden. Auch der zweite Grundsatz war nicht unproblematisch. Obwohl eine andere Regelung aus verfassungsrechtlichen Gründen vermutlich nicht möglich gewesen wäre, erwies sich das Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" nicht nur durch langwierige Verfahren als Hindernis für Investitionen, sondern ebenso als Anlass für Missstimmung in Ostdeutschland. Menschen, die viele Jahre lang Nutzer des Besitzes gewesen waren, für den jetzt Rückübertragungsansprüche angemeldet wurden, sahen sich nun plötzlich von Kündigung und Existenzverlust bedroht. Die vom SED-Regime angerichteten Verwirrungen und Verzerrungen bei den Eigentums- und Vermögensverhältnissen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR waren damit ein besonders problematisches und folgenschweres Kapitel der deutschen Teilung. Dessen Auswirkungen mussten nun im wiedervereinigten Deutschland aufgearbeitet und geklärt werden, wobei langwierige Rechtsstreitigkeiten oft nicht zu vermeiden waren. Das Unrecht der Enteignungen aus DDR-Zeiten war dabei gegen die Möglichkeit neuen Unrechts durch Eingriffe in Eigentumsstrukturen, die in den vier Jahrzehnten der Existenz der DDR gewachsen waren, abzuwägen. Soziales Netz Im Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 heißt es in Art. 1 Abs. 4: "Die Sozialunion bildet mit der Währungs- und Wirtschaftsunion eine Einheit. Sie wird insbesondere bestimmt durch eine der Sozialen Marktwirtschaft entsprechende Arbeitsrechtsordnung und ein auf den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs beruhendes umfassendes System der sozialen Sicherung." Der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 behandelt in Kapitel VII ausführlich die Ausdehnung des "sozialen Netzes" der Bundesrepublik auf das Gebiet der ehemaligen DDR. Darin wurde festgelegt, dass die in der alten Bundesrepublik seit 1949 erlassenen Gesetze und Bestimmungen, die im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft den Sozialstaat verwirklichen sollten, nach der Wiedervereinigung ungeschmälert auf Ostdeutschland übertragen wurden. Im Prinzip waren für die neuen Länder keine Sonderregelungen vorgesehen. Von Anfang an sollte es eine uneingeschränkte Mitwirkung und Teilhabe an den sozialen Errungenschaften des westlichen Systems geben. Dabei war man sich einerseits der Tatsache bewusst, dass der Zusammenbruch des SED-Regimes wesentlich durch die wirtschaftliche und soziale Attraktivität der alten Bundesrepublik beschleunigt, wenn nicht gar verursacht worden war, so dass sich für die DDR-Bürgerinnen und -Bürger mit der Wiedervereinigung große materielle Hoffnungen und Erwartungen verbanden, die möglichst nicht enttäuscht werden durften. Andererseits gab es auch kein ernstzunehmendes Argument, das es gerechtfertigt hätte, den Deutschen im Osten jene Vorteile weiterhin vorzuenthalten, die die Deutschen im Westen seit langem genossen. Auch war zu bedenken, dass die Menschen in der DDR bereits ein Höchstmaß an sozialer Sicherheit gewöhnt waren, so dass ein Abbau oder das Fehlen von Elementen des Sozialsystems zu einem Glaubwürdigkeitsverlust des neuen Systems geführt hätte. Bei der neuen Sozialrechtsordnung ging es nicht nur um die Absicherung der Menschen gegen Gefahren, Unsicherheiten und Härten des privaten und beruflichen Lebens, sondern auch um Fragen der Mitbestimmung, des Tarifrechts und der Vermögensbildung. Demgemäß verpflichtete sich die DDR in Artikel 17 des Vertrages über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Arbeitskampfrecht, Betriebsverfassung, Unternehmensmitbestimmung und Kündigungsschutz entsprechend den in der Bundesrepublik geltenden Bestimmungen einzuführen. Beim Arbeitsvertragsrecht wurde der gesamtdeutsche Gesetzgeber in Artikel 30 Abs. 1 des Einigungsvertrages angewiesen, möglichst bald zu einheitlichen Regelungen zu kommen. Für bestehende Tarifverträge und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurden Übergangsregelungen vereinbart. Die Mitbestimmungs- und Vermögensbildungsgesetze der Bundesrepublik traten auch in der DDR in Kraft. Das Sozialversicherungsrecht der Bundesrepublik wurde ebenfalls von der DDR übernommen. An die Stelle der Einheitssozialversicherung trat ein gegliedertes System mit getrennten Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherungen. Die Renten sollten mit der Angleichung der Löhne und Gehälter in Ostdeutschland an das Niveau der alten Bundesländer entsprechend angepasst, das heißt erhöht werden. Die Bundesrepublik erklärte sich hier zu einer vorübergehenden "Anschubfinanzierung" bereit, solange die Beiträge und Staatszuschüsse die Ausgaben für die erhöhten Leistungen der Rentenversicherung nicht deckten. Entsprechendes galt für die Arbeitslosenversicherung, die rasch zu einem Problem wurde, weil der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft zu einem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit führte. Um schwerwiegende politische Konsequenzen zu vermeiden, mussten die sozialen Folgen dieser Entwicklung von der Bundesregierung abgefangen werden. Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die in den alten Ländern seit langem wohlvertraut waren, wurden daher nun auch in Ostdeutschland zu Begriffen, die für viele den Alltag prägten. QuellentextFrauen in den neuen Bundesländern [...] Als die Wende kam, absolvierte Martina gerade eine Lehre als Wirtschaftshilfe im FDGB-Hotel und war schwanger. Der FDGB (die Gewerkschaft der DDR) wurde aufgelöst, das Hotel privatisiert, die neuen West-Besitzer entließen das gesamte Personal. Seitdem ist sie immer noch auf der Odyssee durch Aushilfsjobs, Umschulungen, Weiterbildungen. "Zertifikate und der ganze Quatsch, das hat alles nichts gebracht, weil es ja keine Arbeitsplätze gibt." [...] Seit der Wende hat Bettina Berbig beruflich vor allem Pech gehabt. [...] Der Thüringerin erging es wie vielen qualifizierten Frauen mit kleinen Kindern. Bei der Umstrukturierung der Betriebe landeten sie auf der Straße und mussten sich, um überhaupt eine Arbeit zu finden, mit Aushilfsjobs begnügen. Von einem "Dequalifizierungstrend" spricht die Sozialwissenschaft. [...] Um der Arbeitslosigkeit zu entkommen, haben sich viele ostdeutsche Frauen ihren Arbeitsplatz selbst geschaffen. Ärztinnen, Rechtsanwältinnen, Architektinnen und Bauingenieurinnen, Handwerkerinnen gründeten ihre eigene Existenz. Das Problem der Gründungswilligen ist bis heute: Die bescheidenen Einkommensverhältnisse verhindern die Anhäufung von nennenswertem Eigenkapital. Ohne Besitz, ohne Sicherheiten geben Banken keinen Kredit. So bleibt ein Teil des großen Potenzials ostdeutscher Frauen an Engagement, Fachwissen und sozialer Kompetenz - Schlüsselqualifikationen in der boomenden Dienstleistungsbranche - brach liegen. [...] Doch die Frauen versuchen es immer wieder. Sie lassen sich von ihrem Lebensentwurf nicht abbringen. Zum Mutter-Sein gehört für sie die Berufstätigkeit, wie der Computer zum Internet. - Berufstätigkeit bedeutet für sie: Weiterentwicklung, Selbstverwirklichung, Herausforderung. Bedeutet finanzielle Unabhängigkeit. Wie kann es auch anders sein für die jüngere Generation, die das Managen von Beruf und Familie bereits von ihren Müttern und Großmüttern gelernt hat. [...] Katrin Rohnstock, "Die jungen Seniorinnen sind die Gewinnerinnen", in: Freitag vom 26. November 1999. Trotz der Probleme, die mit dem tief greifenden sozialen Wandel nach der Wende von 1989 für die DDR und die ostdeutsche Gesellschaft unvermeidlich verbunden waren, trug diese Ausdehnung des sozialen Netzes der alten Bundesrepublik auf die neuen Länder wesentlich dazu bei, die negativen Auswirkungen des Umbruchs für die betroffenen Menschen in Grenzen zu halten. Anders als in den anderen Staaten des sowjetischen Hegemonialbereichs, die nicht an westlichen Ressourcen partizipieren konnten, vollzogen sich die Veränderungen in Ostdeutschland immerhin auf gesicherter Grundlage. Wenn der Umbruch trotz der eingebauten sozialen Sicherungen von vielen dennoch als schmerzhaft empfunden wurde - vor allem wegen der früher unbekannten Arbeitslosigkeit -, lag dies nicht zuletzt an den Mentalitätsunterschieden, die in vierzig Jahren DDR entstanden waren. Zwar führte der Umbruch nur selten in eine soziale Katastrophe. Aber der Verlust an gewohnter Sicherheit rief bei den Menschen in den neuen Ländern oft eine Befindlichkeit hervor, die mit der objektiven Lebenssituation wenig zu tun zu haben schien. Umgekehrt wuchs auch in den alten Bundesländern der Verdruss über die Entwicklung. Die durchaus vorhandene Bereitschaft der Westdeutschen, für den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg in den neuen Ländern die notwendigen finanziellen Mittel aufzubringen, ließ in dem Maße nach, in dem die Kosten explodierten und die steuerlichen Belastungen zunahmen. Hinzu kam bei manchen Unverständnis über die "Undankbarkeit" der Ostdeutschen, die PDS wählten und auf ihre eigene Identität pochten. Die doppelte Frustration in Ost- und Westdeutschland war somit - ungeachtet aller positiven Ergebnisse - ein wichtiges Merkmal bei der Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Wiedervereinigung in der ersten Hälfte der neunziger Jahre. Wiedervereinigung der Kultur Die deutsche "Kulturnation", die sich seit der Herausbildung einer deutschen kulturellen Identität im 18. Jahrhundert entwickelt hatte und der Reichsgründung von 1871 vorangegangen war, wurde auch durch die politische Teilung nach 1945 nicht beseitigt. Die gemeinsame Geschichte und Tradition, die einheitliche Sprache, die verbindende Wirkung grenzüberschreitender Medien und nicht zuletzt die Ost-West-Wanderung von Intellektuellen verhalfen dazu, im kulturellen Bereich zwischen den beiden deutschen Staaten eine Gemeinsamkeit zu bewahren, die politisch nicht mehr bestand. Gleichwohl führten vierzig Jahre deutscher Teilung zu einer kulturellen Differenzierung, welche die Wiedervereinigung auch im Bereich der Kunst, Literatur und Musik sowie der Museen, Bibliotheken, Bildung und Wissenschaft vielfach zu einem Problem werden ließ. Der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 trug dem Rechnung, indem er in Artikel 35 einerseits darauf hinwies, dass "Kunst und Kultur - trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland - eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation" gewesen seien, andererseits aber durchaus "Auswirkungen der Teilung Deutschlands" konstatierte, denen man entgegenwirken müsse. Eine der Folgen betraf die Zuständigkeit für die Förderung von Kunst und Kultur: In der DDR war sie hochgradig zentralisiert, in der Bundesrepublik dagegen dezentral eine Angelegenheit der Länder und Kommunen. Im Einigungsvertrag wurde dazu vereinbart, das föderalistische Prinzip auf ganz Deutschland zu übertragen. Schutz und Förderung von Kunst und Kultur sollten "entsprechend der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes" auch im "Beitrittsgebiet" den Ländern und Kommunen obliegen. Da diese voraussichtlich mit dem für sie neuen Aufgabenbereich zumindest kurzfristig überlastet sein würden, bekundete der Bund die Bereitschaft, "übergangsweise zur Förderung der kulturellen Infrastruktur einzelne kulturelle Maßnahmen und Einrichtungen" in den neuen Ländern mitzufinanzieren, damit die "kulturelle Substanz" dort keinen Schaden nahm. So wurde der seit 1949 bestehende DDR-Kulturfonds zur Förderung von Kultur, Kunst und Künstlern unter Beteiligung des Bundes zunächst weitergeführt. Aber diese Weiterführung war bis zum 31. Dezember 1994 befristet. Über eine Nachfolgeeinrichtung war im Rahmen der Verhandlungen über den Beitritt der neuen Länder zur Kulturstiftung der Länder zu befinden. Von großer Bedeutung für die Kultur in Deutschland war die ebenfalls im Einigungsvertrag geregelte Wiedervereinigung von Sammlungen und Museen. Davon betroffen waren in erster Linie die ehemals staatlichen preußischen Sammlungen in Berlin, die durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse getrennt worden waren. Bei den Bibliotheken wurde die frühere, bis 1661 zurückreichende "Preußische Staatsbibliothek" mit Sitz Unter den Linden, die zu Beginn des Zweiten Weltkrieges mit drei Millionen Bänden die drittgrößte Bibliothek Europas war und in der DDR den Namen "Deutsche Staatsbibliothek" trug, nach 1990 mit der "Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz" in Westberlin verschmolzen. Der Gesamtbestand der neuen "Deutschen Staatsbibliothek" umfasst jetzt rund acht Millionen Titel. Im Bildungsbereich wurde die Anerkennung der in der früheren DDR erworbenen schulischen, beruflichen und akademischen Abschlüsse und Befähigungsnachweise im Einigungsvertrag grundsätzlich geregelt. Probleme bereitete aber die Überleitung des Personals, das in der DDR häufig nicht nur nach fachlichen Kriterien, sondern auch nach politischen Gesichtspunkten ausgewählt worden war. Die "Evaluierung" vorhandener Lehrkräfte musste deshalb durch einen Neuaufbau ergänzt werden. In der wissenschaftlichen Forschung, die in der DDR größtenteils nicht an den Universitäten und Hochschulen, sondern in eigenständigen Akademien und Instituten stattfand, wurde eine gemeinsame Struktur für ganz Deutschland geschaffen. Dabei blieben jedoch Einrichtungen der früheren DDR erhalten, wenn sie vom Wissenschaftsrat, dem zentralen Beratungsgremium der Bundesrepublik für die Förderung von Wissenschaft und Hochschulen, als leistungsfähig beurteilt wurden. Problem der Identität Mit all diesen Maßnahmen stellte der Einigungsvertrag wichtige Weichen für die Neuorganisation der Kultur im wiedervereinigten Deutschland. Wenn man Kultur jedoch in einem weiteren Sinne auch als "mentale oder geistig-moralische gesellschaftliche Befindlichkeit" und damit als geistigen Prozess versteht, wird man ihr mit Hinweisen auf Fragen der Finanzierung, der institutionellen Ausgestaltung und der politischen Verwaltung kaum gerecht. Tatsächlich gingen die Einflüsse der Maueröffnung und der Wiedervereinigung, die 1989/90 in Ostdeutschland zunächst als Selbstbefreiung, Öffnung und Chance zur demokratischen Erneuerung begriffen wurden, bald vielfach mit einem "Kultur- und Konsumschock" einher, der weit reichende Auswirkungen auf das kulturelle Leben hatte. In dem Maße, in dem sich der Alltag veränderte - oft auf dramatische Weise und in kürzester Frist-, wandelten sich auch Kunst und Kultur. Es entwickelte sich die Vorstellung einer "DDR-Identität", die es vor dem Ansturm der westlichen Konsumgesellschaft zu retten gelte. Die sich daraus ergebenden Spannungen wurden bald zu einem irritierenden Thema der innerdeutschen Diskussion. Sehnsucht nach Bewahrung des ostdeutschen Lebensgefühls kam auf. Der Schriftsteller Heiner Müller sprach von der "Qualität der Verlangsamung", von der Möglichkeit zur Konzentration, die in der Verwestlichung Ostdeutschlands abhanden zu kommen drohe. Errungenschaften der westeuropäischen Zivilisation, die in der Zeit der Teilung vielen in der DDR erstrebenswert erschienen waren, verloren nun plötzlich ihren Reiz. Zur Vielschichtigkeit gesamtdeutscher Identität, so hieß es nun, gehöre es, wenigstens die positiven Aspekte der DDR-Identität zu bewahren. Wie verbreitet das Gefühl der Bedrohung der eigenen Identität in Ostdeutschland war, zeigten nicht nur Meinungsumfragen, sondern auch die Wahlerfolge der PDS. Die Komplexität der Problematik von Veränderung und Bewahrung wurde auch in anderem Zusammenhang deutlich. Der Liedermacher Wolf Biermann schrieb dazu pointiert: "Die meisten Richter werden wohl Richter bleiben, genau wie nach 45 im Westen. Die Polizisten bleiben Polizisten. Die Chefs bleiben Chefs. Das Häuflein Aufrechter bleibt ein Häuflein." Mit anderen Worten: Biermann - so wie viele andere verfolgte und ausgebürgerte Künstler der DDR - befürchtete, dass die "Kader" von gestern auch im neuen Deutschland wieder Karriere machen würden, während die ehemals Verfolgten weiter benachteiligt und isoliert würden. Die damit angesprochene "Vergangenheitsbewältigung" in der Kultur ließ sich indessen nicht durch einen Federstrich bzw. eine Grundsatzentscheidung lösen. Hier bedurfte und bedarf es langfristiger Diskussionen und Auseinandersetzungen in allen Bereichen des kulturellen Lebens - nicht zuletzt unter Beteiligung der Betroffenen selbst -, um die Wiedervereinigung nicht nur als organisatorisch-administrativen Prozess, sondern auch im Sinne einer gesellschaftlichen Integration, einschließlich der Aufarbeitung der schwierigen Vergangenheit, zu vollziehen. Von der Bonner zur Berliner Republik Erklärung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und die Regierung der Bundesrepublik Deutschland beabsichtigen in Wahrnehmung der gemeinsamen Aufgabe der beiden deutschen Staaten und auf dem Weg zur deutschen Einheit, einen Staatsvertrag zur Einführung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zu schließen. Dieser Vertrag soll am 1. Juli 1990 in Kraft treten. [...] 2. Löhne, Gehälter, Stipendien, Mieten, Pachten und Renten sowie andere wiederkehrende Versorgungszahlungen (zum Beispiel Unterhaltszahlungen) werden im Verhältnis 1:1 umgestellt. Bei Löhnen und Gehältern werden die Bruttobeträge vom 1. Mai 1990 zugrunde gelegt. 3. Das Rentensystem in der DDR wird dem Rentensystem in der Bundesrepublik Deutschland angepasst. Das bedeutet, dass die meisten Renten in D-Mark höher liegen werden als heute in Mark der DDR. Sofern sich in Einzelfällen ein niedrigerer Betrag gegenüber der bisherigen Rente in Mark der DDR ergibt, wird sichergestellt, dass der bisherige Rentenbetrag in D-Mark gezahlt wird. 4. Durch in der Deutschen Demokratischen Republik zu schaffende rechtliche Regelungen werden sich insbesondere für Bezieher niedriger Renten und für Studenten ergebende soziale Härten ausgeglichen. [...] 5. Sonstige Forderungen und Verbindlichkeiten werden grundsätzlich im Verhältnis 2:1 umgestellt. 6. Personen mit ständigem Wohnsitz in der Deutschen Demokratischen Republik können im Verhältnis 1:1 folgende Beträge pro Kopf (Bargeld und Bankguthaben) tauschen: - Kinder bis zum vollendeten 14. Lebensjahr: 2000 Mark - Personen im Alter von 15 bis zum vollendeten 59. Lebensjahr: 4000 Mark - Personen ab dem 60. Lebensjahr: 6000 Mark Darüber hinausgehende Beträge werden 2:1 umgestellt. [...] 7. Guthaben von natürlichen oder juristischen Personen oder Stellen, deren ständiger Wohnsitz oder Sitz sich außerhalb der Deutschen Demokratischen Republik befindet, werden 3:1 umgestellt, soweit die Guthaben nach dem 31. Dezember 1989 entstanden sind. [...] Erklärung von Bundesminister Rudolf Seiters, Chef des Bundeskanzleramtes, vor der Bundespressekonferenz in Bonn am 2. Mai 1990, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 3. Mai 1990. Marode DDR-Wirtschaft: Produktionsband in der Werkhalle des VEB Sachsenring Zwickau. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00049388, Foto: Klaus Lehnartz) Der Treuhandanstalt wurde im Sommer 1990 unter der ersten demokratisch gewählten Regierung der DDR auf Beschluss der Volkskammer nahezu das gesamte verstaatlichte industrielle Vermögen der damals noch existierenden DDR zur Verwaltung und Verwertung übertragen. Dabei handelte es sich nicht nur um die Kombinate und volkseigenen Betriebe (VEB), sondern unter anderem auch um Grundstücke sowie um Sondervermögen der Parteien und Massenorganisationen. Der Treuhandanstalt wurden vom Parlament rund 8500 Staatsbetriebe mit rund vier Millionen Arbeitnehmern anvertraut. Auf die seinerzeit "größte Staatsholding der Welt" kam eine einmalige Herausforderung zu. [...] Die Geschäftspolitik der Treuhand steht und stand seit ihrer Gründung vor rund vier Jahren im Kreuzfeuer der Kritik. Den Westdeutschen gingen Privatisierung und Umstrukturierung der Staatsbetriebe viel zu langsam, den Ostdeutschen ging hingegen die Anpassung viel zu schnell. Viele empfanden sie als "Schocktherapie", und viele fürchteten Arbeitslosigkeit und soziale Desintegration. Und mancher Ostdeutsche beklagt die vermeintliche Verschleuderung von "Volksvermögen". Er sieht sich übervorteilt, da bislang keine "verbrieften Anteilsrechte" zugeteilt wurden, wie man sie nach der Diskussion im Frühjahr 1990 erwartet hatte. Hingegen haben westliche Investoren oftmals versucht, die ihrer Ansicht nach überhöhten Kaufpreise für Treuhandfirmen zu drücken. [...] Von vielen Kritikern der Treuhand wird übersehen, dass an den nicht selten umstrittenen Entscheidungen über das Schicksal der Firmen die Repräsentanten wichtiger Gesellschaftsgruppen im Verwaltungsrat meist einstimmig mitwirken: führende Gewerkschaftsvertreter, die Ministerpräsidenten der neuen Länder, die Staatssekretäre der Bundesministerien für Wirtschaft und Finanzen. [...] Sanierungsmaßnahmen wurden für solche Treuhandbetriebe beschlossen, deren Sanierungsfähigkeit anhand von Unternehmens- bzw. Sanierungskonzepten von unabhängigen Experten und Prüfern festgestellt worden war. Die Treuhand unterstützte diese Betriebe unter anderem durch die Übernahme von finanziellen und ökologischen Altlasten, durch die Verbesserung der Eigenkapitalbasis, aber auch durch Liquiditäts- und Finanzhilfen für Investitionen. Ohne diese Unterstützung hätten die meisten Unternehmen weder am Leben erhalten noch privatisiert werden können. Zudem wurden die Treuhandunternehmen auch durch Anregung und Förderung von Investitionen im Bereich Forschung und Entwicklung, im High-Tech-Bereich und zur Produktinnovation unterstützt. In Zusammenarbeit und mit Genehmigung der Europäischen Kommission wurden von der Treuhandanstalt auch einige größere Umstrukturierungsmaßnahmen vorgenommen, die unmittelbar zur regionalen und lokalen Sicherung von Arbeitsplätzen und Betrieben beitrugen. [...] Nur durch Umsätze, nicht durch Subventionen können die Betriebe und Arbeitsplätze in Ostdeutschland gesichert werden. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die Treuhandanstalt starteten eine "Einkaufsoffensive für die neuen Bundesländer", der sich viele große Konzerne anschlossen. [...] Die schwierige wirtschaftliche Lage vieler Firmen ließ eine Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmer in den ostdeutschen Unternehmen oft nicht zu. Dabei kam es darauf an, die notwendigen Maßnahmen sozial verträglich zu gestalten. Drohende Massenentlassungen konnten in der Anfangsphase nach der Währungsunion nur durch flankierende Maßnahmen, etwa die formale Weiterbeschäftigung von zwei Millionen Kurzarbeitern, zum Teil mit Null Stunden Kurzarbeit, vermieden werden. Mit den Gewerkschaften waren bereits 1991 Rahmenverträge zur Umschulung und Qualifizierung von Arbeitslosen geschlossen worden. [...] Für mehr als eine Million Arbeitnehmer wurden auf der Grundlage des Arbeitsförderungsgesetzes Sozialpläne entwickelt. Die soziale Abfederung wurde von der Treuhand mit mehr als sieben Milliarden DM finanziert. So gelang es 80 Prozent der aus Treuhandunternehmen ausgeschiedenen Mitarbeiter, ein neues Arbeitsverhältnis aufzunehmen. [...] Birgit Breuel, "Treuhandanstalt: Bilanz und Perspektiven", aus: "Aus Politik und Zeitgeschichte", Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 43-44/94, vom 28. Oktober 1994, S. 14 ff. Die Treuhandanstalt (THA) hat von Anfang an eine Polarisierung der Meinungen ausgelöst: Die einen rühmen sie als effizient arbeitende Privatisierungsagentur, die die schnellste Privatisierung einer Volkswirtschaft hervorbrachte, die es weltweit je gegeben hat - und das unter sehr schwierigen Rahmenbedingungen. Eine zweite Gruppe von Beobachtern kritisiert die Treuhand, weil sie auf die potenziellen Investoren durch Auflagen zu viel Einfluss genommen und zudem zu viel eigenständige Sanierung zur Erhaltung letztlich nicht lebensfähiger "industrieller Kerne" betrieben habe. [...] Für die dritte Gruppe war und ist die Treuhand [...] für die Zerstörung der Wirtschaftssubstanz der neuen Bundesländer verantwortlich. [...] Die Defizite der Treuhandpolitik des Bundes und der Anstalt selbst lassen sich in [folgenden] Punkten resümieren: 1. Unklarer gesetzlicher Auftrag: Zur Bewältigung der Jahrhundertaufgabe, die der THA aufgebürdet wurde, wäre ein präziserer gesetzlicher Auftrag notwendig gewesen. Das Treuhandgesetz enthält keinen beschäftigungs- und strukturpolitischen Auftrag; [...] 2. Die Strategie der schnellen Privatisierung: Da sich die THA - zumindest bis etwa Herbst 1992 - als reine Verkaufsagentur mit dem Ziel der schnellstmöglichen Privatisierung verstand, mussten die Verkaufskonditionen der wenigen westlichen Investoren weitgehend akzeptiert werden. Die aber setzten ganz überwiegend auf Sanierung durch Schrumpfung oder auf "Resteverwertung" und Grundstücksspekulation. [...] Um ihre Unternehmen loszuwerden, musste die THA immer stärker vom Verkauf zur Vergabe mit hohen Zugaben (negative Verkaufspreise) übergehen. Die wichtigste Gegenleistung der Investoren bestand dann in den vertraglichen Zusagen - etwa zum Erhalt oder zur Schaffung von Arbeitsplätzen, die nur sehr schwer kontrollierbar und bei veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen auch gar nicht einhaltbar sind. [...] 3. Privatisierung ohne Regelbindung der Entscheidungen: Die THA hat keine transparenten, einheitlichen Entscheidungsregeln für die Beurteilung der Sanierungsfähigkeit und die Auswahl der Investoren festgelegt. Die Kaufpreisfindung ist nicht nachvollziehbar. [...] 4. Die Vernachlässigung der Sanierung vor der Privatisierung: Die noch nicht privatisierten Unternehmen hat die Treuhand lange Zeit hingehalten; eine Sanierung sollte erst durch die neuen Eigentümer erfolgen. [...] 5. Vernachlässigung der Absatz- und Innovationsförderung: Dass die Absatzprobleme das entscheidende Hindernis für eine offensive Sanierungsstrategie waren, wurde ständig verkannt. Daher versäumte man, absatzfördernde Konzeptionen zu entwickeln. [...] Jan Priewe, "Die Folgen der schnellen Privatisierung der Treuhandanstalt", in: "Aus Politik und Zeitgeschichte", Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 43-44/97 vom 28. Oktober 1994, S. 21 ff. [...] Als die Wende kam, absolvierte Martina gerade eine Lehre als Wirtschaftshilfe im FDGB-Hotel und war schwanger. Der FDGB (die Gewerkschaft der DDR) wurde aufgelöst, das Hotel privatisiert, die neuen West-Besitzer entließen das gesamte Personal. Seitdem ist sie immer noch auf der Odyssee durch Aushilfsjobs, Umschulungen, Weiterbildungen. "Zertifikate und der ganze Quatsch, das hat alles nichts gebracht, weil es ja keine Arbeitsplätze gibt." [...] Seit der Wende hat Bettina Berbig beruflich vor allem Pech gehabt. [...] Der Thüringerin erging es wie vielen qualifizierten Frauen mit kleinen Kindern. Bei der Umstrukturierung der Betriebe landeten sie auf der Straße und mussten sich, um überhaupt eine Arbeit zu finden, mit Aushilfsjobs begnügen. Von einem "Dequalifizierungstrend" spricht die Sozialwissenschaft. [...] Um der Arbeitslosigkeit zu entkommen, haben sich viele ostdeutsche Frauen ihren Arbeitsplatz selbst geschaffen. Ärztinnen, Rechtsanwältinnen, Architektinnen und Bauingenieurinnen, Handwerkerinnen gründeten ihre eigene Existenz. Das Problem der Gründungswilligen ist bis heute: Die bescheidenen Einkommensverhältnisse verhindern die Anhäufung von nennenswertem Eigenkapital. Ohne Besitz, ohne Sicherheiten geben Banken keinen Kredit. So bleibt ein Teil des großen Potenzials ostdeutscher Frauen an Engagement, Fachwissen und sozialer Kompetenz - Schlüsselqualifikationen in der boomenden Dienstleistungsbranche - brach liegen. [...] Doch die Frauen versuchen es immer wieder. Sie lassen sich von ihrem Lebensentwurf nicht abbringen. Zum Mutter-Sein gehört für sie die Berufstätigkeit, wie der Computer zum Internet. - Berufstätigkeit bedeutet für sie: Weiterentwicklung, Selbstverwirklichung, Herausforderung. Bedeutet finanzielle Unabhängigkeit. Wie kann es auch anders sein für die jüngere Generation, die das Managen von Beruf und Familie bereits von ihren Müttern und Großmüttern gelernt hat. [...] Katrin Rohnstock, "Die jungen Seniorinnen sind die Gewinnerinnen", in: Freitag vom 26. November 1999. Zu den Vereinigungsfolgen gehörten jedoch nicht nur die Probleme, die sich im Zusammenhang mit der "Wende" in der DDR stellten, sondern auch die Konsequenzen, die die Wiedervereinigung Deutschlands für die alte Bundesrepublik hatte. Denn die "Bonner Republik", die seit 1949 mit großem Erfolg die Integration der Deutschen in Europa betrieben und sich dabei durch innere Stabilität, wirtschaftliche Prosperität und außenpolitische Berechenbarkeit ausgezeichnet hatte, wich nun der "Berliner Republik", bei der zunächst durchaus unklar war, ob sie die in vier Jahrzehnten gewachsene und bewährte politische Kultur ihrer Vorgängerin zu erhalten vermochte. Tatsächlich gab es 1999, als Parlament und Regierung vom Rhein an die Spree umzogen, nicht wenige, die der alten Bundesrepublik nachtrauerten. Obwohl damit lediglich der am 20. Juni 1991 nach einer spektakulären und hart umkämpften Abstimmung gefasste Beschluss des Bundestages umgesetzt wurde, Berlin seine alte Hauptstadtfunktion zurückzugeben, befürchteten manche, dass der Umzug auch eine Akzentveränderung der Politik mit sich bringen würde. Einige erinnerten sogar an das 1956 erschienene Buch "Bonn ist nicht Weimar" von Fritz René Allemann: Orte standen darin für Inhalte. Bonn war damals ein positives Symbol gewesen, das die Überwindung der Instabilität des Weimarer Staates signalisiert hatte. Die Frage war jetzt, ob der Übergang von der Bonner zur Berliner Republik wiederum eine politische Veränderung bedeutete: diesmal zum Negativen - weg von innerer und äußerer Verlässlichkeit, hin zu mehr Unsicherheit und Unberechenbarkeit? Der Soziologe Niklas Luhmann und der Historiker Ernst Nolte trugen darüber schon im Herbst 1990 einen publizistischen Streit aus. Und der Journalist Johannes Gross unternahm 1995 in seinem Band "Begründung der Berliner Republik. Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts" den Versuch - ähnlich wie Allemann 1956 -, das Thema vergleichend zu behandeln und die Grundzüge der "neuen Republik" zur Bonner Tradition in Beziehung zu setzen. In Wirklichkeit konnte vom Ende dessen, was in Bonn begonnen hatte, keineswegs die Rede sein. Der Fortbestand der Verfassung, die Kontinuität der Wirtschaftsordnung, die Struktur der Eliten und die - in einem umfassenden Sinne verstandene - demokratische politische Kultur, die sich seit 1949 entwickelt hatte, trugen dazu bei, die Stabilität der Bundesrepublik auch nach der Wiedervereinigung zu erhalten. Dennoch gab es Veränderungen: Das geeinte Deutschland rückte aus einer Randlage im Ost-West-Konflikt in das Zentrum des neuen Europas und wurde schon bald zur Übernahme von Verantwortung gedrängt. Das feste Korsett der Bipolarität, das den Handlungsspielraum beschnitten, aber auch Verhaltenssicherheit gewährt hatte, existiert nicht mehr; Deutschland muss sich eigenständig orientieren und bewähren, ohne darauf hinreichend vorbereitet zu sein. In Berlin spiegelten sich zudem wie in einem Brennglas die Probleme eines Kontinents, in dem die Grenzen offener und die sozialen Klüfte tiefer und spürbarer geworden sind und in demwirtschaftliche Fragen eine Dringlichkeit erhielten, die sie im stetigen Aufschwung der Bonner Republik nie besessen hatten. Und auch der politische Stil änderte sich - nicht zuletzt durch eine neue Medienlandschaft, die insbesondere durch die Vervielfachung der Nachrichtensender einerseits zu verbesserten Informationsmöglichkeiten für die Zuschauer, andererseits aber auch zu einem härteren Wettbewerb um Neuigkeiten führte und damit die politischen Akteure zusätzlich unter Druck setzte. Auch wenn sich die Berliner Republik nicht grundsätzlich von ihren Bonner Traditionen verabschiedete, wurde atmosphärisch wie inhaltlich doch manches anders. Auszug aus: Der Weg zur Einheit, Informationen zur politischen Bildung (Heft 250)
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Manfred Görtemaker
2021-12-22T00:00:00
2011-11-29T00:00:00
2021-12-22T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/deutsche-teilung-deutsche-einheit/43787/probleme-der-inneren-einigung/
Für die Deutsche Einheit gab es keinen Präzedenzfall. Es mussten komplexe politische, rechtliche und wirtschaftliche Fragen gelöst werden.
[ "Deutsche Einheit", "Währungsunion", "Wirtschaftsunion", "Sozialunion", "Deutschland" ]
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Durchsichtige Taschen oder schwarze Koffer? | Parteispendenaffäre | bpb.de
I. Einführung 1. Die Unentbehrlichkeit politischer Parteien und die Notwendigkeit funktionssichernder Finanzierung Politische Parteien sind in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes unverzichtbar. Wenn unter der normativen Idee der Volkssouveränität, die in Art. 20 II Grundgesetz (GG) verfassungskräftigen Ausdruck gefunden hat, das Volk die maßgebliche Bestimmungsgröße für die Inhalte der Politik sein soll, so bedarf es dafür der Organisationen. Für diese Vermittlungsaufgabe haben sich in den letzten 150 Jahren die Parteien herausgebildet. Sie erst geben dem Volk politische Handlungsfähigkeit und erlauben ihm, seine Interessen als maßgeblich in den politischen Entscheidungsprozess einzuspeisen. Damit ist auch gesagt, dass der Finanzbedarf der politischen Parteien zu decken ist. Freilich ist bereits hier festzuhalten, dass es nicht darum geht, die Parteien als Selbstzwecke zu finanzieren: Die rechtliche Betrachtung hat immer von der Erfüllung der Parteifunktion, wie sie in Art. 21 I 1 GG zum Ausdruck kommt, auszugehen. Die rechtlichen Vorkehrungen zur Parteienfinanzierung verfolgen in erster Linie das Ziel, die ordentliche Funktionserfüllung der Parteien sicherzustellen, also den freien und chancengleichen Transport von Überzeugungen und Interessen der Bürger in den politischen Entscheidungsprozess. Für die Versorgung der Parteien mit den notwendigen Finanzmitteln kommen mehrere Möglichkeiten in Betracht, zuvörderst natürlich Mitgliedsbeiträge, dann aber auch Spenden, Einkünfte aus Vermögen oder wirtschaftlicher Tätigkeit der Parteien, nicht zuletzt kennt man staatliche Zuwendungen. 2. Verfassungsrechtliche Grundlagen der Parteienfinanzierung Neben der Freiheit der parteipolitischen Betätigung, die in Art. 21 I 2 GG deutlich zum Ausdruck kommt, ist die Chancengleichheit aller Parteien und aller Bürger bei der parteipolitischen Betätigung das zweite Hauptelement der verfassungsrechtlichen Regulierung des Parteiwesens. Alle Parteien, gleichviel, welche Kreise der Bevölkerung und welche Interessen sie vertreten, sollen im politischen Wettbewerb der verschiedenen Auffassungen und Interessen chancengleich sein. Dies hat die Konsequenz, dass die Mitgliedsbeiträge, die einer ersten Betrachtung als die ideale Finanzierung der Parteien erscheinen, in ihrer Bedeutung nicht verabsolutiert werden dürfen, weil damit unterschiedliche Typen von Parteien ungleich behandelt würden. Neben Parteien, die stark von Mitgliedern leben, die das Parteigeschehen tragen und durch Beiträge finanzieren, gibt es andere, die eine Anhängerschaft ansprechen, die weniger zu organisierter Mitarbeit, aber zu Spenden an die Partei ihrer Wahl bereit ist. Beschränkte das Recht die Parteien auf die Finanzierung durch Mitgliedsbeiträge, so läge darin eine Benachteiligung letztgenannter Kreise. Die rechtliche Regulierung der Parteifinanzen ist durch das Verfassungsgebot der politischen Chancengleichheit verpflichtet, nicht einen Typus von Bürger oder Partei von vornherein besser zu behandeln als andere. Die Gleichbehandlung ist also ein integraler Bestandteil der europäischen Verfassungstradition. Alle Bürger sollen die gleiche Chance haben, Politik zu beeinflussen. Dies findet sinnfälligen Ausdruck in der Wahlrechtsgleichheit des Art. 38 I 1 GG, geht aber darüber hinaus: "One man, one vote" ist nicht nur eine Regel des Wahlrechts, sondern ein fundamentales Verfassungsprinzip. Dieses Prinzip begründet eine objektiv-rechtliche Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass die gesellschaftlichen Ungleichheiten nicht die wahlrechtliche Gleichheit unterlaufen. Nicht nur auf dem Papier soll der demokratische Willensbildungsprozess allen Teilen der Bevölkerung die gleichen Chancen bieten. Wer reich an Prestige oder auch finanziellen Mitteln ist, soll diese Potentiale nicht ungehemmt in die Politik übertragen können. Das Recht ist deswegen von Verfassungs wegen gehalten, die Auswirkung gesellschaftlicher Potentiale der Einflussnahme auf die Politik zu neutralisieren. Das Verfassungsprinzip der chancengleichen parteipolitischen Betätigung hat zu mehreren Konsequenzen für die rechtliche Normierung der Parteienfinanzierung geführt: Eine (teilweise) staatliche Finanzierung der Parteien ist eine wichtige Folgerung . Ohne staatliche Mittel zur Parteienfinanzierung wären diejenigen Parteien, die wenig finanzkräftige Interessen vertreten, erheblich benachteiligt. Der Gesetzgeber hat deswegen in den §§ 18 ff. Parteiengesetz (PartG) staatliche Zahlungen an die Parteien eingeführt, die im hier gegebenen Zusammenhang nicht im Einzelnen nachzuzeichnen sind. Damit die Parteien nicht zu in sich selbst ruhender Selbstgefälligkeit auf staatlicher Finanzgrundlage verführt werden, hat das Bundesverfassungsgericht zu Recht eine relative Obergrenze für die Staatsfinanzierung gefordert , die der Gesetzgeber mit § 18 V PartG umgesetzt hat. Gerade die Aufdeckung rechtswidriger privater Parteienfinanzierung sollte daran erinnern, dass ein deutlicher Sockel staatlicher Parteienfinanzierung unverzichtbar ist. Auch unabhängig von der direkten staatlichen Parteienfinanzierung muss das Recht von Verfassungs wegen auf chancengleichheitsverträgliche Auswirkungen seiner Regelungen achten . Dazu zählt etwa, dass steuerliche Begünstigungen für Spenden an politische Parteien in ihrem Umfang sehr begrenzt bleiben, damit das staatliche Recht nicht diejenigen, die zu großen Spenden fähig sind, auch in großem Umfange unterstützt. Ebenso dürfen Spenden von juristischen Personen an Parteien nicht steuerabzugsfähig sein, um zu vermeiden, dass diejenigen Bürger, welche die Finanzentscheidungen von Organisationen treffen können, vom Steuerrecht in ihrer politischen Präferenz stärker unterstützt werden als andere Bürger . Nicht zuletzt gilt es, die privaten Finanzleistungen an die Parteien in einer Weise zu regeln, dass dem Gebot politischer Chancengleichheit möglichst entsprochen wird. Das wesentliche Instrument hierfür ist das in Art. 21 I 4 GG aufgestellte Öffentlichkeitsgebot für die Parteifinanzen. Es erfasst selbstverständlich auch die öffentlichen Mittel, seine hauptsächliche Stoßrichtung zielt aber auf die politische Einflussnahme durch private Zuwendungen. Der Kern der Publizitätsregelungen des Parteiengesetzes (§§ 23 ff.) ist von der Verfassung selbst geboten. Mit dieser Publizitätspflicht für die Parteifinanzen werden mehrere Ziele verfolgt. Das Publizitätsgebot für die Parteifinanzen nach Art. 21 I 4 GG wurde im Blick auf Erfahrungen in der Weimarer Republik in das Grundgesetz aufgenommen, wo Industriekreise die Nationalsozialistische Partei durch wesentliche Spenden unterstützt hatten, ohne dass diese Form der politischen Parteinahme hätte öffentlich kontrolliert werden können. Das Publizitätsgebot für die Einnahmen, hier geht es insbesondere um Spenden, soll sichtbar machen, von wem Parteien finanzielle Zuwendungen erhalten - und wem sie deswegen möglicherweise verpflichtet sind. Damit die Volksweisheit "Wer zahlt, schafft an" sich nicht ungebremst in der Politik durchsetzt, sollen wesentliche Einnahmen einer Partei öffentlich gemacht und damit kontrollierbar werden. Neben dieser äußeren Seite dient die Öffentlichkeit der Parteifinanzen auch der innerparteilichen Demokratie. Das Publizitätsgebot für die Verwendung der Mittel der Partei empfängt seinen Sinngehalt von Art. 21 I 3 GG her . Auch innerparteilich soll die Transparenz der Finanzströme diese als Mittel innerparteilicher Machtsicherung kontrollierbar machen und damit entschärfen. Zahlungen an Untergliederungen der Partei oder auch an einzelne Funktionsträger können Abhängigkeiten begründen, die sich beim innerparteilichen Kampf um die Macht auswirken. Geld soll als Mittel des innerparteilichen Machterwerbs oder der innerparteilichen Machtsicherung weitgehend ausscheiden. Finanztransfers innerhalb von Parteien kann es, ja muss es geben , dieser soll aber von den dazu berufenen, gewählten Parteigremien beschlossen werden und unter öffentlicher Kontrolle stehen. Nur eine Partei, die in diesem Sinne intern demokratisch ist, kann ordnungsgemäß so funktionieren, wie das Grundgesetz dies erwartet, nämlich allen Parteimitgliedern und allen externen Wünschen, die an die Partei herangetragen werden, gleiche Chancen einräumen, sich parteiintern durchzusetzen. Die Transparenz der Parteifinanzen auch im Inneren versetzt erst die Parteien in den Stand, einen chancengleichen Wettbewerb zu organisieren und der Übersetzung finanzieller Macht in innerparteiliche Dominanz zu steuern. Die öffentliche Rechenschaftslegung über die Verwendung der Parteimittel ist also ebenso wichtig wie diejenige über die Herkunft der Mittel einer Partei; erst beide zusammen sichern die verfassungsgemäße Funktionserfüllung durch die Parteien, und dies meint wesentlich eine tatsächliche chancengleiche politische Willensbildung. Schließlich ist die öffentliche Rechenschaftspflicht für die Parteifinanzen auch im Hinblick auf die ordnungsgemäße Amtsführung der staatlichen Instanzen zu sehen. In den Spitzenpositionen der staatlichen Entscheidungen agieren parteipolitisch rekrutierte Amtsträger. Die Offenlegung der Parteifinanzen soll also präventiv wirken gegen die Käuflichkeit staatlicher Entscheidungen und zugleich das - begründete! - Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung staatlicher Stellen bewahren. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Bestimmungen über die Offenlegung der Parteifinanzen von den Verfassungsnormen der Publizität der Parteifinanzen und der innerparteilichen Demokratie getragen werden; sie entsprechen dem funktionellen Zusammenspiel von innerparteilicher Demokratie, Offenlegungspflicht für die Parteifinanzen und politischer Chancengleichheit. Die Qualifizierung dieser Vorschriften als "rein formal" verkennt diese Qualität. Tatsächlich handelt es sich bei wesentlichen Verstößen gegen die einschlägigen Vorschriften des Parteiengesetzes materiell um die Verletzung von Verfassungsrecht. II. Die Regelungen des Parteiengesetzes über die Parteifinanzen 1. Staatliche Teilfinanzierung Das Gesetz kennt zwei Bemessungsgrundlagen für die Zuerkennung staatlicher Mittel an die Parteien: Zum einen erhalten die Parteien nach § 18 I 2 i. V. m. III Nr. 1 und 2, Satz 2 PartG Staatsmittel in Abhängigkeit von den von ihnen errungenen Wählerstimmen (sog. Wählerstimmenanteil), zum anderen wird jede Mark (bis zu 6 000 DM p.a.), die sie aus Beiträgen und Spenden einnehmen, nach § 18 I 2, III 1 Nr. 2 PartG um 50 Pfennig staatlicherseits aufgestockt (sog. Zuwendungsanteil). Beide Ansätze beziehen sich auf den relativen Erfolg der Parteien beim Bürger. Dieser Maßstab für die Zuerkennung staatlicher Mittel ist von der verfassungsrechtlich gewährleisteten Chancengleichheit aller Parteien geboten. Parteien sind Organisationen, die miteinander im Wettbewerb um den Zuspruch des Bürgers stehen. Deswegen ist von Rechts wegen nicht die Gleichbehandlung aller Parteien geboten, sondern die Herstellung der gleichen Chance aller Parteien, Mehrheiten zu erreichen. Die Position, welche die Parteien in ihrer Rivalität und in der Gunst der Bürger erreicht haben, darf von Staats wegen nicht verändert werden, die vorgefundene Wettbewerbslage darf nicht beeinflusst werden. Dass der Wählerstimmenanteil der Staatsfinanzierung dem gerecht wird, leuchtet ohne weiteres ein. Der Mechanismus der Aufstockung der selbst eingeworbenen Zuwendungen von Bürgern durch Staatsmittel stellt einen Anreiz für die Parteien dar, sich intensiv um die Bürger zu kümmern. Eine Partei, die von einem Bürger Mittel - seien es Beiträge, seien es Spenden - einwerben will, muss diesen davon überzeugen, dass sie sich um seine Anliegen kümmert. Dieser Finanzierungsmechanismus soll also die Bürgernähe der Parteien sichern . Zugleich wird mit der sog. relativen Obergrenze, also einer Limitierung der staatlichen Mittel auf die Hälfte der Gesamteinnahmen der Parteien, diese Verwiesenheit der Parteien auf die Bürger bekräftigt. 2. Die rechtliche Regulierung der Parteispenden Spenden an Parteien sind eine legitime Form der parteipolitischen Betätigung, ja sie bilden eine Facette des Rechts des Bürgers, sich parteipolitisch zu betätigen. Sie stellen faktisch einen wichtigen Anteil an den Einnahmen der Parteien dar . Gerade wegen ihrer faktischen Bedeutung bedürfen private Spenden aber der rechtlichen Regulierung. Das Gesetz enthält zwei Arten von Bestimmungen: Nach der grundsätzlichen Zulässigkeitserklärung von Parteispenden stellt das Gesetz eine Liste von Spenden auf, welche die Parteien nicht annehmen dürfen, es begründet also Spendenannahmeverbote, § 25 I 2 Nr. 1-6 PartG. Sodann wird für Großspenden in § 25 II PartG ein Namhaftmachungsgebot der Spender begründet. Die Annahmeverbote nach § 25 I 2 PartG verfolgen mehrere Zwecke. Der politische Einfluss durch Parteispenden soll entsprechend der Volkssouveränität dem deutschen Volke oder den Bürgern der EU vorbehalten sein. Das Verbot, Spenden von politischen Stiftungen oder Parlamentsfraktionen anzunehmen, dient der sauberen Abgrenzung der Fraktionen, die als Teilorgane des Staatsorgans Parlament zu verstehen sind, von den grundsätzlich privaten Parteien. Der Verhinderung von Korruption oder dem Korruptionsverdacht dient das Verbot, Spenden entgegenzunehmen, die erkennbar in Erwartung eines Vorteils gewährt werden. Der Gewährleistung der Chancengleichheit aller Bürger dient das Verbot einer Weiterleitung von steuervergünstigten Spenden an Parteien. Unmittelbar der verfassungsrechtlichen Offenlegungspflicht aus Art. 21 I 4 GG ist das Verbot zuzuordnen, anonyme Spenden oder weitergeleitete Spenden nicht genannter Dritter entgegenzunehmen. Falls eine Partei unter Verletzung dieser Verbotsliste eine Spende angenommen hat, gibt ihr das Gesetz eine weitere Chance, rechtmäßige Verhältnisse herzustellen: Die unverzügliche Ablieferung einer unzulässigen Spende nach § 25 III PartG heilt den Gesetzesverstoß. Die Partei muss dann keine Sanktion erdulden, § 23a I, II PartG. Diese Möglichkeit soll die Parteien dazu anreizen, auf den Pfad des Rechts zurückzukehren. Spenden, die in einem Jahr 20 000 DM übersteigen, müssen unter Angabe von Name und Anschrift des Spenders im Rechenschaftsbericht genannt und damit öffentlich gemacht werden. Diese Pflicht zur Namhaftmachung bildet einen wichtigen Teil des allgemeinen verfassungsrechtlichen Publizitätsgebots. Die Grenze von 20 000 DM stellt einen Kompromiss dar; für die Orts- oder Kreisebene bilden auch Beträge unter 20 000 DM bereits eine Summe, die erheblichen Einfluss verschaffen kann, auf Bundesebene dürfte der Betrag eher von geringerer Bedeutung sein. Bei Verstößen gegen die spendenrechtliche Bestimmung des Parteiengesetzes sind in § 23a PartG spezielle Sanktionen vorgesehen. Wurden verbotswidrig Spenden angenommen oder Großspenden nicht ordnungsgemäß veröffentlicht, so verliert die Partei den Anspruch auf staatliche Mittel in Höhe des doppelten Betrages der Spende. Darüber hinaus muss bei Spenden, deren Annahme verboten ist, der empfangene Betrag selbst an den Bundestagspräsidenten abgeführt werden . Der Spendenbegriff ist in § 27 I PartG präzisiert. Alle freiwilligen Zahlungen an eine Partei, die über die Mitgliedsbeiträge hinausgehen, stellen Spenden dar. Ausdrücklich werden auch alle geldwerten Zuwendungen, soweit sie nicht üblicherweise unentgeltlich von Mitgliedern zur Verfügung gestellt werden, dem Spendenbegriff unterstellt. Mit Sachleistungen können also die Annahmeverbote und Deklarierungspflichten nicht umgangen werden. Der Versuch der hessischen CDU, über die Erfindung von anonymen Vermächtnissen Spenden in den legalen Kreislauf der Partei einzuschleusen, war daher wegen des Spendenbegriffs von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Parteiengesetz möchte in Ausführung des Publizitätsgebots der Verfassung Zuwendungen unabhängig von der Rechtsform als Spenden erfassen, auch wenn von interessierter Seite in der Vergangenheit eine andere Rechtsauffassung hierzu vertreten wurde. Auch mit Zuwendungen von Todes wegen kann nämlich Einfluss auf eine Partei ausgeübt werden: Der Spender kann mit einem Widerruf des Vermächtnisses drohen; nach seinem Tod mögen die Erben oder das Unternehmen des Erblassers auf Dankbarkeit bestehen. 3. Die Pflicht zur öffentlichen Rechenschaftslegung Das Verfassungsgebot zur öffentlichen Rechenschaftslegung über die Parteifinanzen wird durch §§ 23 ff. PartG konkretisiert. Dort wird zunächst der Vorstand der Parteien zur Offenlegung der finanziellen Verhältnisse hinsichtlich der Herkunft und der Verwendung ihrer Mittel und auch über das Vermögen der Partei verpflichtet. Die Anforderungen an diesen Rechenschaftsbericht werden in §§ 24 und 26 ff. PartG im Einzelnen geregelt. Wichtig ist insbesondere die Verpflichtung der Parteien zur Buchführung und zur Aufbewahrung ihrer Rechnungsunterlagen in § 28 PartG; damit werden die Grundlagen für einen korrekten Rechenschaftsbericht gesichert. Der Rechenschaftsbericht bildet das zentrale Instrument für die Publizität der Parteifinanzen, wie die Verfassung sie fordert. Nach welchen Kategorien der Rechenschaftsbericht aufgeschlüsselt sein muss, ist in § 24 PartG geregelt. Der Rechenschaftsbericht selbst ist durch einen Wirtschaftsprüfer zu prüfen, wie es in §§ 23 II, 29 ff. PartG heißt. Die Erfüllung der verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlich ausgestalteten Rechenschaftslegungspflicht durch die Parteien wird dadurch gesichert, dass die rechtzeitige Abgabe eines ordnungsgemäßen Rechenschaftsberichts zur Voraussetzung für die Festsetzung staatlicher Mittel an die Parteien erhoben wird, so die Regelungen in §§ 19 IV 3, 23 IV 1 und 3 PartG. Dabei sind den Parteien Fristen gesetzt für die Abgabe ihrer Rechenschaftsberichte. Wird nicht spätestens bis zum Ablauf des dem Rechnungsjahr folgenden Jahres der Rechenschaftsbericht beim Präsidenten des Deutschen Bundestages eingereicht, so verliert die säumige Partei den sog. Zuwendungsanteil der Staatsmittel, § 19 IV 3 i.V. m. § 18 II 1 Nr. 3 PartG. Hat sie auch bis zum Ende des Folgejahres noch keinen ordnungsgemäßen Rechenschaftsbericht eingereicht, so verliert sie auch den Wählerstimmenanteil, § 23 IV 3 PartG. Die Erhebung eines ordnungsgemäßen Rechenschaftsberichts als Voraussetzung für die Gewährung staatlicher Mittel ist nicht nur ein effektives Instrument, um die Parteien zur Erfüllung ihrer Rechenschaftspflicht anzuhalten, sondern vor allen Dingen auch systemgerecht. Die Parteien erhalten staatliche Mittel nicht um ihrer selbst willen, sondern nur dann und nur dafür, wenn sie und dass sie die verfassungsrechtlich vorausgesetzten Parteifunktionen ordnungsgemäß erfüllen. Staatlich unterstützt werden demgemäß nur Parteien, die nicht in unüberschaubare finanzielle Abhängigkeiten nach außen verstrickt sind und in denen wegen Transparenz der internen Mittelverteilung Finanztransfers nicht zur Erringung und Befestigung innerparteilicher Macht benutzt werden können. Zugunsten der CDU wurde in den letzten Wochen vorgetragen, Voraussetzung für die Gewährung staatlicher Mittel sei nicht ein ordnungsgemäßer Rechenschaftsbericht, sondern lediglich die Abgabe eines Rechenschaftsberichts schlechthin, ungeachtet seiner inhaltlichen Richtigkeit . Nach dieser Auffassung erhielte eine Partei auch dann Staatsmittel, wenn der Rechenschaftsbericht an gravierenden Fehlern leidet, insbesondere im Hinblick auf beachtliche Summen unvollständig ist. Diese Auffassung widerspricht nicht nur offensichtlich dem Wortlaut des Gesetzes, wonach "ein den Vorschriften des 5. Abschnitts entsprechender Rechenschaftsbericht" einzureichen ist (§ 23 IV 1 PartG), sie ist vor allen Dingen sinnwidrig: Nur ein - gerade auch im Hinblick auf heikle Posten - vollständiger Rechenschaftsbericht genügt dem Verfassungsgebot, die Bürger über Einnahmen, Ausgaben und Vermögen einer Partei zu informieren, um dadurch die ordnungsgemäße Funktionserfüllung der Parteien zu sichern. Das verfassungsrechtliche Publizitätsgebot für die Parteifinanzen erlaubt keine andere Auslegung. Im Übrigen verweist § 28 PartG auf den Gesetzeszweck und auch auf die Grundsätze "ordnungsgemäßer Buchführung". Damit ist nach den einschlägigen handelsrechtlichen Bestimmungen jedenfalls der Grundsatz der Vollständigkeit umfasst. Wenn weiter eingewendet wird, der Verlust der Staatsfinanzierung könne eine Partei unverhältnismäßig treffen, weil Fehler kleinerer Art immer vorkommen könnten, so ist dem mit dem allgemeinen Bilanzrecht dadurch zu begegnen, dass man auf die wesentliche Richtigkeit des Rechenschaftsberichts abhebt. Kleinere Fehler bleiben außer Betracht, es geht nur um Unrichtigkeiten in einer Größenordnung, die für die Unterrichtung des Publikums erheblich sind. Vor der schweren Sanktion des Verlusts staatlicher Mittel wird eine Partei bei schlichten Irrtümern dadurch geschützt, dass die Fehlerhaftigkeit des Rechenschaftsberichts vorsätzlich oder fahrlässig verursacht sein muss. Dabei gilt für eine Partei wie für jede andere Organisation auch, dass sie so organisiert sein muss, dass ein ordnungsgemäßer Geschäftsbetrieb gewährleistet ist, man spricht hier vom sog. Organisationsverschulden. Erkennt der Bundestagspräsident vor der Entscheidung über die Zuerkennung der Staatsmittel an die Parteien, dass ein Rechenschaftsbericht an wesentlichen Fehlern leidet, so darf er die betreffende Partei bei der Mittelvergabe nicht berücksichtigen. § 19 IV und § 23 IV PartG sehen dies zwingend vor, ohne dass es hierfür einen Ermessensspielraum gibt. III. Die bei der CDU aufgedeckten illegalen Finanzpraktiken Auf diesem Hintergrund sollen im Folgenden die in den letzten Monaten bekannt gewordenen Finanzpraktiken der CDU in den Blick genommen werden. 1. Verstöße gegen spendenrechtliche Bestimmungen Die CDU hat durch ihren früheren Vorsitzenden Helmut Kohl Spenden in beachtlichem Umfang und auch über der Einzelgröße von 20 000 DM pro Person und Jahr entgegengenommen, ohne dass dies unter Nennung der Spender im Rechenschaftsbericht aufgeführt worden wäre. Dies verletzte das Gebot zur Namhaftmachung von Großspendern aus § 25 II PartG. Gleiches gilt für die auf Schweizer Boden dem damaligen Bundesschatzmeister W.L. Kiep übergebene Barspende in Höhe von einer Million Mark des Rüstungslobbyisten Karlheinz Schreiber. Mit der Entgegennahme durch den Schatzmeister war die Partei in den Besitz dieser Mittel gelangt und hätte sie im Rechenschaftsbericht ausweisen müssen. Der Mitteltransfer von der Bundestagsfraktion der CDU an die Mutterpartei ist hinsichtlich des tatsächlichen Geschehens nicht völlig aufgeklärt. Falls es sich lediglich um die Rückzahlung von Parteimitteln handelte, ist daran rechtlich nichts auszusetzen. Anders aber dann, wenn es sich um Beiträge der Fraktionsmitglieder handelte. Diese Mitgliedsbeiträge sind Fraktionsmittel und fallen damit unter das Spendenannahmeverbot von § 25 I 2 Nr. 1 PartG. Diese Regelung nur auf Mittel staatlichen Ursprungs zu reduzieren begründete mehr Probleme, als durch diese Vorschrift gelöst würden. Man müsste dann nämlich komplizierte Nachforschungen anstellen, woher die Mittel kommen und welche anderen Ausgaben damit erspart worden wären. Vor allem aber würden bei dieser Lesart Parlamentsfraktionen angesichts des Fehlens einer Offenlegungspflicht für Spenden an sie zu idealen Spendenwaschanlagen. 2. Die Vermögensverschleierung der hessischen CDU Die hessische CDU hat nach eigenem Eingeständnis vor langen Jahren Vermögensbestände in zweistelligem Millionenbereich ins Ausland geschafft, dort gehalten und in Teilsummen wieder zur Verwendung für die Partei zurück transportiert, ohne dies im Rechenschaftsbericht auszuweisen. Damit war über all diese Jahre sowohl der Rechenschaftsbericht der hessischen CDU als auch der diesen umfassende Rechenschaftsbericht des Bundesverbandes der CDU - angesichts der erheblichen Summen, um die es dabei ging, wesentlich - fehlerhaft. Die Zuerkennung staatlicher Mittel war insofern trotz fehlender Grundlage ergangen. Lässt man die Herkunft der in Rede stehenden Mittel außer Acht - die hessische CDU behauptet, es handele sich um in früheren Jahren angesparte Mittel unproblematischer Herkunft -, so wird an diesem Komplex zum einen deutlich die Wirksamkeit von Buchführungspflichten, zum anderen die innerparteiliche Bedeutung der Offenlegungspflichten. Parteien sind keine Geldanlageorganisationen, mit ihrem Vermögen möchten sie letztlich politisch handeln, Wahlkämpfe führen, die eigene Organisation stärken. Die bloße Geldanlage macht unter der Geltung der Buchführungspflicht allerdings Schwierigkeiten. Entweder muss man die versteckten Vermögen ebenso versteckt (teilweise) aktivieren und im Geheimen ausgeben, was angesichts offensichtlicher Kosten in größerem Umfang kaum möglich ist. Deswegen stellte sich das Problem, solche Rücktransfers von Teilen des ausländischen Vermögens wieder "buchfähig" zu machen. Dafür wurden verschiedene "Legenden" erfunden. Die Buchführungspflicht erweist sich also als sehr wirksames Mittel, die Parteien zur Erfüllung ihrer Offenlegungspflicht anzuhalten. Die geheim gehaltenen Vermögensmassen der hessischen CDU demonstrieren zugleich die Bedeutung der Offenlegungspflicht für die innerparteiliche Demokratie. Geheimhaltung, also die enge Begrenzung des Kreises der Eingeweihten, bedeutet, dass die für Mittelverteilung zuständigen Parteigremien nicht Bescheid wissen über den Vermögensstand der Partei und damit in ihrer Entscheidungsfreiheit insofern erheblich eingeengt sind. Denjenigen, die vom Geheimvermögen wissen, kommt insofern eine faktische Verhinderungsmacht zu, als kostenträchtige Vorschläge an der vermeintlichen Unfinanzierbarkeit scheitern können - falls nicht die Eingeweihten bedeuten, es ließen sich doch Finanzierungsmöglichkeiten finden. Komplementär zur Verhinderungsmacht gibt es eine Erwirkungsmacht insofern, als bei finanzträchtigen Vorschlägen, die das Gefallen der wissenden Clique besitzen, diese Möglichkeiten findet, sozusagen "aus dem Hut zaubern kann", das Projekt doch zu finanzieren. Nicht zuletzt ermöglichen parteiintern geheim gehaltene Finanzmittel auch die Ausgestaltung der parteiinternen Beziehungen nach dem Don-Corleone-Prinzip, also einem mafiosen Paten-System, in dem ein Gönner finanzielle Wohltaten verteilt in der stillen oder auch ausgesprochenen Erwartung, dafür politische Gegenleistungen zu erhalten. Auch ohne dass solche Erwartungen ausgesprochen werden, liegt es nahe, dass eine Untergliederung oder Funktionäre, die aus diesen Quellen finanzielle Unterstützung erhalten, sich kaum gegen ihre Wohltäter wenden werden. Die schiere Existenz innerparteilich verschleierter Vermögensmassen und die daraus sich ergebenden Handlungsmöglichkeiten gefährden also die innerparteiliche Demokratie und lassen befürchten, dass die Partei nicht nach dem Muster intern gesteuert wird, welches die Verfassung in Art. 21 I 3 GG vorsieht. Die Geheimhaltung von Vermögensmassen durch die hessische CDU hat also formal die Pflicht zur Rechenschaftslegung verletzt und inhaltlich eine Beeinträchtigung der innerparteilichen Demokratie durch Umgehung der für Finanzentscheidungen zuständigen Gremien bewirkt und darüber hinaus zu einer weiter reichenden Gefährdung der innerparteilichen Demokratie geführt. 3. Substantielle Barzahlungen aus geheimen Kassen in der CDU In engem Zusammenhang mit nicht im Rechenschaftsbericht ausgewiesenen Spenden und Vermögenselementen stehen Barzahlungen vonseiten derjenigen, die nicht deklarierte Spenden eingenommen haben oder über nicht ausgewiesene Vermögensbestandteile verfügen können. So wurden etwa Zahlungen des früheren Parteivorsitzenden Kohl an Parteigliederungen oder auch an einzelne Funktionsträger bekannt. Solche Transaktionen widersprechen der den Parteien auferlegten Buchführungspflicht und verletzen entweder bei der Einnahmerechnung oder beim Ausweis des Vermögensbestands die Pflicht zur korrekten Rechenschaftslegung ebenso wie bei der Verwendungsseite. In der Sache werden damit die gerade beschriebenen Verletzungen und Gefährdungen der innerparteilichen Demokratie bewirkt. IV. Die Sanktionen gegenüber der CDU Das Verhalten von Funktionsträgern der CDU hat in einer ganzen Reihe von Punkten das Grundgesetz und die dieses konkretisierenden Bestimmungen des Parteiengesetzes verletzt. Damit ist die Frage nach den Rechtsfolgen dieser Gesetzesverstöße aufgeworfen. Das Parteiengesetz kennt - bislang - keine persönlichen Sanktionen für die Handelnden; das ist im Ansatz insofern richtig, als Parteien kollektive Akteure sind, die in aller Regel einen kollektiven Vorteil für die eigene Organisation anstreben; dem entspricht es, wenn Sanktionen nur die Partei als Organisation treffen. Etliches spricht aber dafür, ein gravierendes Fehlverhalten in Gestalt einer Verletzung der einschlägigen rechtlichen Pflichten mit einer zeitlich befristeten Sperre für die Übernahme politischer Wahlämter zu ahnden durch einen befristeten Verlust des passiven Wahlrechts. In Frankreich wird die Nichteinhaltung von Vorschriften der Parteienfinanzierung auf diese Weise seit einigen Jahren sanktioniert. 1. Die Entscheidung des Bundestagspräsidenten Die CDU hat entgegen ihrer gesetzlichen Pflicht den Rechenschaftsbericht für das Jahr 1998 bis zum 31. Dezember 1999 nicht ordnungsgemäß eingereicht. Der Rechenschaftsbericht enthielt nicht das erhebliche Vermögen, welches die hessische CDU im Ausland unterhielt, und war damit wesentlich fehlerhaft. Das Gesetz macht zur zwingenden Voraussetzung für die Festsetzung staatlicher Mittel das Vorliegen eines dem Gesetz entsprechenden Rechenschaftsberichts, §§ 19 IV 3, 23 IV PartG. Ohne dass ihm ein Ermessensspielraum zur Verfügung gestanden hätte, hat der Bundestagspräsident pflichtgemäß deswegen der CDU den so genannten Zuwendungsanteil der Staatsmittel nicht zuerkannt. Ihr sind dadurch rund 41 Millionen DM nicht zugesprochen worden, die sie andernfalls erhalten hätte. Entsprechend dem System des Parteiengesetzes, wonach für das laufende Jahr die Parteien Abschlagszahlungen aufgrund der für das Vorjahr gewährten Staatsmittel erhalten, wurden auch die Abschlagszahlungen für das Jahr 2000 niedriger festgesetzt und weil die für das Jahr 1999 bereits ausgezahlten Abschlagszahlungen zu hoch ausgefallen waren - berechnet ohne Kürzung auf der Basis des Vorjahres - führt dies zu Überzahlungen, für welche eine Rückzahlungsverpflichtung ausgesprochen wurde, freilich mit dem deutlichen Hinweis darauf, dass der Bundestagspräsident bereit sei, mit der CDU über erträgliche Rückzahlungsmodalitäten ins Gespräch zu kommen . 2. Folgen der Verletzung spendenrechtlicher Bestimmungen Die im § 23a PartG enthaltenen Spezialvorschriften für die Folgen einer Verletzung von Rechtspflichten beim Umgang mit Spenden, nämlich der gesetzeswidrigen Annahme von Spenden aus bestimmten Quellen und der Nichtnennung der Namen von Großspendern, greift nach heutigem Wissensstand bei der CDU auch. Freilich ist im Einzelnen noch nicht alles aufgeklärt, so dass genaue Vorhersagen nicht möglich sind. Im Spendenbereich spielen vor allem die von Kohl zugegebenen Spenden in einer Größenordnung von knapp zwei Millionen DM, die er von nicht genannten Spendern eingeworben haben will, eine Rolle. Wegen der Nichtangabe der Spenden, die sich wohl zum größten Teil aus Beträgen über 20 000 DM pro Jahr zusammensetzen, verliert die CDU nach § 23a I 1 PartG den Anspruch auf "staatliche Mittel" in doppelter Höhe dieser Spenden. Darüber hinaus ist aber durchaus unklar, aus welchen Quellen dieses Geld stammt. Solange die Spender nicht benannt sind, ist es auch möglich, dass diese finanziellen Früchte von einem "verbotenen Baum" kommen, dass die Entgegennahme dieser Spenden also einem Spendenannahmeverbot aus § 25 I PartG widerspricht. Wären die in Rede stehenden Mittel von einem verbotenen Baum gepflückt worden, so müssten über die Sanktion in doppelter Höhe hinaus die empfangenen Spenden selbst nach § 23 I 2 PartG abgeführt werden, die Partei würde also im Ergebnis in dreifacher Höhe gestraft und nicht nur in doppelter. Im Hinblick auf diese Unklarheit darf das Schweigen des früheren Parteivorsitzenden der CDU sich vernünftigerweise nicht zugunsten seiner Partei auswirken: Die Verletzung des verfassungsrechtlichen Publizitätsgebots darf der Partei keinen Vorteil verschaffen gegenüber einer Partei, die offen deklariert, was geschehen ist, seien es auch Rechtsverletzungen. Ganz allgemein soll rechtmäßiges Verhalten gegenüber unrechtmäßigem prämiert werden. Deswegen ist dem verfassungsmäßigen Publizitätsgebot zusammen mit der Buchführungspflicht der Parteien aus § 28 PartG eine Darlegungslast der Partei über die Herkunft ihrer Spenden zu entnehmen. Eine Partei darf eine nicht publizierte Spende nur dann behalten, wenn sie nachweist, dass sie nicht vom Verbotskatalog des § 25 I 2 PartG erfasst wurde. Nach dieser Lesart muss die CDU im Ergebnis also mit einer finanziellen Einbuße in Höhe des Dreifachen der von Kohl eingenommenen Spenden rechnen. Sie kann dies aber dadurch zu vermeiden versuchen, dass sie Kohl auf Auskunft über die Herkunft der Spenden verklagt - und dadurch ihre Rechenschaftspflicht wenigstens nachträglich erfüllt. Die Partei muss weiter mit negativen Auswirkungen der Finanztransfers von ihrer Bundestagsfraktion an sie rechnen. Die rechtliche Würdigung dieses Komplexes leidet zwangsläufig daran, dass dieser Sachverhalt für Außenstehende jedenfalls nicht vollständig aufgeklärt ist. Handelt es sich tatsächlich um Fraktionsmittel, welche der Partei zugewendet wurden, so muss die Partei wiederum einen Verlust in doppelter Höhe an staatlichen Mitteln hinnehmen und obendrein die zugewendete Summe selbst abführen. 3. Rechtsfolgen der Fehlerhaftigkeit früherer Rechenschaftsberichte Angesichts dessen, dass über lange Jahre hinweg das erhebliche Auslandsvermögen der hessischen CDU nicht im Rechenschaftsbericht aufgeführt worden war, waren die Rechenschaftsberichte der CDU in all diesen Jahren wesentlich fehlerhaft. Damit wurden die staatlichen Mittel zugunsten der CDU wegen Nichterfüllung der Voraussetzung für die Staatsfinanzierung, nämlich der Einreichung eines korrekten Rechenschaftsberichts, zu Unrecht bewilligt und ausgezahlt. Der Bundestagspräsident hat jetzt nach allgemeinen Bestimmungen zu entscheiden, ob er die ergangenen Verwaltungsakte über die Festsetzung der Mittel für die CDU der letzten Jahre aufheben möchte, vor allem auch, in welchem Umfang. Anders als bei der primären Zuerkennung von Staatsmitteln kommt bei der Frage der Rückforderung bereits eingenommener und verbrauchter Mittel, bei denen sich im Nachhinein herausstellt, dass sie zu Unrecht ausgezahlt wurden, dem Bundestagspräsidenten Ermessen zu. Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung legt die Rücknahme der Zuerkennung nahe; die Frage, ob nicht zugunsten der Partei der Vertrauensschutz streitet, ist im Ergebnis zu verneinen, weil von der Partei zurechenbar wissentlich ein unvollständiger Rechenschaftsbericht abgegeben wurde, ihr Vertrauen also nicht schützenswert ist. Die Entscheidung über den Umfang der Rücknahme der Bewilligungsbescheide und die Form der Rückforderung haben eine ganze Reihe von Gesichtspunkten zu berücksichtigen, die im hier gegebenen Rahmen nicht aufgezählt werden können. V. Resümee Angesichts der erheblichen Verstöße gegen das Parteiengesetz, die in den letzten Monaten bekannt geworden sind, werden die verschiedensten Forderungen nach einer Änderung des Parteiengesetzes laut. Demgegenüber ist zur Bedachtsamkeit zu raten, zumal dann, wenn vonseiten derjenigen, die für die Gesetzesverstöße mit verantwortlich waren, jetzt nach Gesetzesänderungen gerufen wird. Der Verdacht, es werde nach dem Motto: "Haltet den Dieb" gehandelt und eine Aufgeregtheit erzeugt, in welcher der eigene Beitrag in den Hintergrund rückt, ist nicht von der Hand zu weisen. Ehe über Änderungen des Gesetzes nachgedacht wird, ist auf dessen strikte Einhaltung zu bestehen. Es ist durchaus festzustellen, dass sich das Parteiengesetz gerade auch ausweislich der gegenwärtigen Krise im Großen und Ganzen bewährt hat. Offensichtlich haben die Normen des Parteiengesetzes diejenigen Umstände und Handlungen des Parteibetriebes erfasst und dem Gebot zur öffentlichen Rechenschaftslegung unterworfen, die notwendig sind, damit das verfassungsrechtliche Publizitätsgebot für die Parteifinanzen auch tatsächlich erfüllt wird. Das Gesetz hat in der Tat die heiklen Materien getroffen - ausweislich des indirekten Beweises dadurch, dass, wer das Licht der Öffentlichkeit scheute und ein anderes Parteiverständnis als das des Grundgesetzes pflegte, an den verschiedensten Stellen unvermeidlich mit den Bestimmungen des bestehenden Rechts in Konflikt geriet. Das Zusammenspiel der Normen über Buchführungspflicht und Rechenschaftslegung über Einnahmen, Vermögen und Verwendung der Parteienmittel erwies sich als tauglich und hinlänglich eng geknüpft. Jetzt kommt es auch auf die Bewährung in einem zweiten Teil an, dass nämlich die vom Gesetz vorgesehenen Rechtsfolgen konsequent angewendet werden. Dieses ist aus mindestens zwei Gründen nicht ohne weiteres zu erwarten. Die einschlägigen Regeln des Parteiengesetzes leuchten nicht ohne weiteres in dem Sinne ein, dass ihre Verletzung "intuitives Unrecht" darstellte. Die Gründe für diese Normen des Gesetzes müssen vielmehr erst entfaltet, ihr Gerechtigkeitsgehalt erst dargelegt werden. Beispielhaft ist dies daran sichtbar, dass angesichts der Verschleierung von Vermögenselementen durch die hessische CDU rechtfertigend darauf verwiesen wird, es handelte sich doch schließlich um eigenes Geld - dies verkennt den Unrechtsvorwurf, der in einer völlig anderen Richtung liegt, nämlich der Beeinträchtigung der innerparteilichen Demokratie. Eine repräsentative Demokratie, die als wesentliche Akteure politische Parteien braucht, ist auf ein einigermaßen kompliziertes Regelwerk angewiesen und auf dessen Beachtung, mehr noch darauf, dass darauf vertraut werden kann, dass diese Grundregeln der politischen Auseinandersetzung beachtet werden. Wenn diese Regeln, die wesentlich der politischen Chancengleichheit dienen, nachhaltig verletzt werden, so beeinträchtigt dies die Legitimation der politischen Ordnung überhaupt. Dieser Zusammenhang ist im Auge zu behalten, damit nicht die vorgekommenen Verstöße als "rein formaler Natur" klein geredet werden. Zum anderen ist zu sehen, dass Parteipolitik wesentlich mit dem Kampf um die Macht zu tun hat. Dementsprechend sind auch Parteienrechtsfragen in das Ringen um die Macht einbezogen. Die Anwendung des Parteiengesetzes angesichts der bekannt gewordenen Rechtsverstöße ist durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass diese Rechtsnormen zu großen Teilen erstmalig zu Lasten einer Partei anzuwenden sind und es demgemäß rechtliche Unsicherheiten gibt. Dementsprechend wird in der Öffentlichkeit mit erheblichem publizistischen Aufwand versucht, auf die Handhabung des Rechts Einfluss zu nehmen. Dies gehört zur legitimen öffentlichen Auseinandersetzung. Bei deren Beurteilung sollte der Interessenkern der öffentlich vorgetragenen Rechtsansichten nicht vergessen werden. Der von der Verfassung vorgegebene demokratische Sinn der Offenlegungspflichten für die Parteifinanzen darf nicht in den Hintergrund geraten. Die erste Bewährungsprobe, das "Passen" auf das Handeln der Partei, hat das Gesetz bestanden. Seine zweite, die konsequente Anwendung, hat jetzt begonnen. Für einen Anspruch auf (teilweise) Staatsfinanzierung vgl. Martin Morlok, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 2, 1998², Art. 21 Rn. 44 ff. m. w. N. auch zur Gegenmeinung. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage bislang offen gelassen (BVerfGE 85, 264 [288]). Vgl. BVerfGE 85, 264 (288 ff.). Aus der Rechtsprechung BVerfGE 8, 51 (66); 24, 300 (357 ff.); 52, 63 (91); 85, 264 (313). Vgl. BVerfGE 85, 264 (314 f.). In Reaktion auf die sog. Flick-Affäre wurde 1984 das Grundgesetz und demgemäß auch das Parteiengesetz geändert und die Veröffentlichungspflicht auch auf die Verwendung der Parteimittel und das Vermögen der Parteien erstreckt. Wenn derzeit im Hinblick auf die Millionen, welche die hessische CDU heimlich im Ausland gehalten hat, vom eigenen Vermögen der Partei gesprochen wird, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Nichtaufführung im Rechenschaftsbericht einem ausdrücklichen Verfassungsgebot widersprach. S. auch den ausdrücklichen Hinweis in § 22 PartG. Vgl. dazu BVerfGE 85, 264 (287). Die klassische Mitgliederpartei SPD lebt zu 8 % von Spenden, die F.D.P. als anderer Extremfall erzielt bis zu 34 % ihrer Einnahmen aus Spenden, so die Zahlen für das Rechnungsjahr 1997, www.bundestag.deðadbkfinanzþf_oliag.htm Diese Ablieferungspflicht besteht nicht für Großspenden, die rechtswidrigerweise nicht veröffentlicht wurden. Die Entgegennahme solchen Geldes ist als solche nicht illegal, rechtswidrig ist lediglich ihre Nichtpublikation. Es bleibt damit bei der Strafe in doppelter Höhe. Vgl. Josef Isensee, in: Die Welt vom 30.12.1999; Otto Depenheuer, in: FAZ vom 29.2.2000. Mit Klageerhebung der CDU gegen diese Entscheidung trat die gesetzlich vorgesehene "aufschiebende Wirkung" ein, d. h., einstweilen darf der Partei aus der Entscheidung noch kein Nachteil im Sinne eines Wegnehmens erwachsen. Deswegen kann auch die erste Abschlagszahlung für das Jahr 2000, ggf. gegen Sicherheitsleistung, in ungekürzter Höhe ausgezahlt werden.
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Morlok, Martin
2021-12-07T00:00:00
2011-10-04T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25642/durchsichtige-taschen-oder-schwarze-koffer/
Die politischen Parteien haben unter dem Grundgesetz bestimmte Funktionen zu erfüllen. Grundvoraussetzung dieser Funktionserfüllung sind innerparteiliche Demokratie und Achtung der Wettbewerbsregeln zwischen den Parteien.
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Sektion 12 – Neuere Entwicklung des Kapitalismus - Krise des Kapitalismus? | 13. Bundeskongress Politische Bildung – Ungleichheiten in der Demokratie | bpb.de
Referentinnen und Referenten der Interner Link: Sektion 12: Jens Berger, Journalist und Autor
 Prof. Dr. Dr. Giacomo Corneo, FU Berlin 
Dr. Friederike Habermann, Wirtschaftswissenschaftlerin, Historikerin und Politikwissenschaftlerin 
Prof. Dr. Hartmut Elsenhans, Universität Leipzig r > g r > g – mit dieser Formel hat Jens Berger, Giacomo Corneo und Andreas Kolbe während Sektion 12 - Krise des Kapitalismus? (© bpb/Smilla Dankert) Thomas Piketty, französischer Ökonom, in seinem viel diskutierten Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" ausgedrückt, dass schon seit Längerem die Renditen das Volkseinkommen übersteigen und damit die Ungleichheit in der Vermögensverteilung wächst. 85 Personen auf der Welt halten mittlerweile das gleiche Vermögen wie die untere Hälfte der Menschheit. Für Deutschland wird geschätzt – offizielle Zahlen gibt es nicht –, dass die obersten zehn Prozent über mindestens zwei Drittel des Gesamtvermögens verfügen. Dass diese Entwicklung, aber auch die Finanzkrisen seit 2007/2008 auf eine Krise des Kapitalismus deuten, darin waren sich alle ReferentInnen einig, über Ursachen und Lösungen gingen die Meinungen auseinander. Strukturelles Problem des Kapitalismus? Der Publizist Jens Berger, unter anderem Redakteur der NachDenkSeiten, präsentierte Zahlen zur steigenden Ungleichheit und der Abkoppelung der Finanzmärkte von der Realwirtschaft. Für ihn handelt es sich bei diesen Tendenzen nicht um ein systemimmanentes Problem des Kapitalismus, sondern um Folgen politischer Entscheidungen. Er verwies auf die Nachkriegszeit in den USA und Europa, als die Verteilung ausgeglichener war. Die Staaten hätten in dieser Hinsicht ihr Korrektiv aufgeben, beispielsweise durch Senkung des Spitzensteuersatzes oder Abschaffung der Vermögenssteuer. Als Rezept empfiehlt er, durch eine verstärkte Besteuerung, unter anderem durch Einführung einer Finanztransaktionssteuer und einer Millionärsteuer, die Umverteilung von unten nach oben zu stoppen. Friederike Habermann, Wirtschaftswissenschaftlerin und Autorin, sieht das Problem hingegen als ein strukturelles an, das dem kapitalistischen System zu eigen sei. Alternativen seien möglich, auch wenn sich, wie in der Diskussion geäußert wurde, kaum einer vorstellen kann, wie auf das marktwirtschaftliche Prinzip zu verzichten sei. Die Menschen vergangener Epochen hätten ihr System des Wirtschaftens auch für alternativlos gehalten, und es ist doch anders gekommen. Habermann wirft hoffnungsvolle Blicke auf Formen des kollaborativen Wirtschaftens, auf die Commons-Bewegung und die Null-Grenzkosten-Gesellschaft, wie sie Jeremy Rifkin beschrieben hat. Besitzen wird unwichtiger, die Menschen tragen bei, statt zu tauschen. Solche neuen Mechanismen werden sich Habermanns Meinung nach in einer Mischung aus Evolution und Revolution durchsetzen. Arbeit und Aktienmarkt Hartmut Elsenhans, "Keynesianer mit Respekt für Marx", vertritt die These, dass Arbeit sich gegenüber dem Kapital durchsetzen muss, damit Kapitalismus funktioniert. Abhängigkeit und Unterentwicklung entstünden, wenn dieser Kampf keinen Erfolg hat. Niedrige Löhne und Massenarbeitslosigkeit verursachten eine "unterkonsumptive" Krise: Wer soll die Produkte noch konsumieren, die bei steigender Produktivität hergestellt werden? Die Ursache für die Schwäche der Arbeit liegt für ihn in der Globalisierung und dem politischen Fehlschluss, durch niedrige Löhne könne die Wettbewerbsfähigkeit erhalten bleiben. Die Abwertung der Währungen im globalen Süden ist für Elsenhans das eigentliche Problem. Kollaborative Formen des Wirtschaftens hält er für unattraktiv, da der Grundsatz des egalitären Tausches, eine Errungenschaft bürgerlicher Revolutionen, entfallen würde. Prof. Dr. Dr. Giacomo Corneo im Interview Jens Berger, Giacomo Corneo und Andreas Kolbe während Sektion 12 - Krise des Kapitalismus? (© bpb/Smilla Dankert) Giacomo Corneo vom Lehrstuhl für öffentliche Finanzen an der FU Berlin, verdeutlichte, wohin die von Piketty beschriebene Entwicklung führen könnte: zu einer Plutokratie, zu einer Rentiergesellschaft wie im 19. Jahrhundert. Die für den Ausgleich der fortschreitenden Verteilungsungleichheit notwendigen Steuersätze seien aber zu hoch und würden Investitionen und Initiative verhindern. Corneo präsentierte ein Modell, das auf andere Weise zum gewünschten Ziel führt: Die Umverteilung müsse auf der Ebene der Primäreinkommen aus Kapital einsetzen, ein Kapitalstock im öffentlichen Eigentum gebildet werden, um daraus eine soziale Dividende an die Bevölkerung auszuzahlen. Dafür schlägt er vor, einen staatlichen Investitionsfonds, orientiert am norwegischen Modell, einzurichten sowie einem Bundesaktionär die Kontrolle über große, börsennotierte Unternehmen zu ermöglichen. Letzteres könne über die konstante Mehrheit beim Aktienbesitz erfolgen. Der Rest läge weiterhin in privater Hand und würde auf dem Aktienmarkt gehandelt. Corneo beschloss die Diskussion der Sektion, indem er festhielt: Was im Leben wirklich wichtig ist, hat keinen Preis, ist nicht käuflich – auch wenn die Kapitalisten das gerne so hätten. von Anne Seibring
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2015-03-21T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/13-bundeskongress-politische-bildung-ungleichheiten-in-der-demokratie/203344/sektion-12-neuere-entwicklung-des-kapitalismus-krise-des-kapitalismus/
Das kapitalistische System steckt in einer Krise – hierzu herrschte Einigkeit in dieser zwölften Sektion. Wie die wachsende Ungleichheit in der Vermögensverteilung bekämpft werden kann, ob es sich um ein strukturelles Problem handelt und ob es Altern
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M 01.03.02 Historische Entwicklung der Demoskopie (Material A) | Wahlen nach Zahlen | bpb.de
Hinweis für Lehrkräfte: Der Ablauf dieser Aufgabe und die richtige Auswahl des Materials ist in Interner Link: Info 01.03 erklärt. Dieses Material A entspricht dem Anforderungsbereich 1. Für den Anforderungsbereich 2 gehen Sie zu Interner Link: Material B. Aufgaben: Suche dir eine Partnerin oder einen Partner. Jedes Paar erhält einen Zettel mit einem Zeitpunkt. Recherchiert mit Hilfe der euch zur Verfügung stehenden Materialien sowie einer Online-Recherche, welche Ereignisse zu eurem Zeitpunkt stattfanden. Notiert eure Ergebnisse in Stichpunkten auf eurem Zettel. Tipp: Nutzt als Hilfe auch den Einführungstext aus Interner Link: M 01.03.01 – Was ist Demoskopie und gegebenenfalls die Informationen aus dem Zeitstrahl. (s.u.) Kommt in der Klasse zusammen. Bildet einen Zeitstrahl im Klassenzimmer, in dem ihr euch in zeitlicher Reihenfolge aufstellt. Präsentiert den anderen Schülerinnen und Schülern jeweils euer Ereignis Zeitstrahl Das Arbeitsblatt mit Arbeitsauftrag und formatierten Zeitstrahlkarten können Sie hier als Interner Link: PDF für die Schülerinnen und Schüler herunterladen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-08-24T00:00:00
2021-07-29T00:00:00
2022-08-24T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/wahlen-nach-zahlen/337317/m-01-03-02-historische-entwicklung-der-demoskopie-material-a/
Auf Grundlage des in M 01.03.01 erworbenen Vorwissens erarbeiten sich die Lernenden gemäß dem Anforderungsbereich 1 gemeinsam die historische Entwicklung der Demoskopie mithilfe eines Zeitstrahls.
[ "Demoskopie", "Bundestagswahl 2021", "Wahlforschung", "Wahlumfrage", "Meinungsforschung", "Zeitstrahl", "Umfrage", "historische Entwicklung" ]
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Beteiligung für die digitale Elite? | Netzwerk Bürgerhaushalt | bpb.de
Als "Wirkungslose Wunderwaffe" werden Beteiligungsprojekte über das Internet in einem Artikel der Externer Link: Süddeutschen Zeitung vom 20.05. bezeichnet. Thomas Schmelzer fasst bisherige Erfahrungen mit Online-Beteiligungen zusammen und spricht mit Experten. Die Masse will sich nicht selbst regieren Es ist der alte Traum der Demokratie. Nicht mehr eine Elite soll die Masse regieren, sondern die Masse sich selbst. Jeder soll teilhaben können - unabhängig von Alter, Geschlecht oder Einkommen, schreibt er. Die Wirklichkeit sehe allerdings anders aus: Beim Bonner Bürgerhaushalt hätten sich nur 1.700 Bürger beteiligt - obwohl 324.000 Menschen in der Bundesstadt wohnen. Beim ersten Bürgerhaushalt hatten sich immerhin 12.000 Bürger beteiligt, aber auch dies entspricht nur einem geringen Anteil gemessen an der Gesamtbevölkerung der Stadt. Ähnliche Erfahrungen werden auch auf Bundesebene gemacht: Insgesamt 2769 Bürger hätten sich laut Axel Fischer, dem Vorsitzenden der Enquete-Komission Internet und digitale Gesellschaft bisher an den Diskussionen der Komission beteiligt. Obwohl der Bürger durch die Plattform als 13. Mitglied der Kommission eingebunden werden sollte, ist das Interesse eher überschaubar. Man spreche kein "Massenpublikum" an, so Axel Fischer. Und auch bei den Piraten, den digitalen Vorreitern unter den Parteien, stoßen die Online-Angebote nur auf begrenzte Resonanz. Liquid Feedback, die parteiinterne Diskussionsplattform, wird laut Mario Tants, einem Piraten aus Bremen, bisher kaum genutzt. Nur jeder vierte Pirat sei bei der Plattform registriert, viele hielten das System für technisch unausgereift, heißt es in dem Artikel. Digitale Spaltung Online-Beteiligungen mangele es aber nicht nur generell an den Beteiligten, dazu kommt laut Politikwissenschaftler Markus Linden auch das Problem der digitalen Spaltung: Je anspruchsvoller die Partizipation sei, desto weniger würden sich sozial schwächere Menschen beteiligen. Der Wissenschaftler hat beobachtet, dass sich die meisten Menschen in der Praxis aus direkten Partizipationsangeboten zurückziehen, sobald die Themen zu komplex werden, fasst Schmelzer die Positionen des Politikwissenschaftlers zusammen. Sowohl eine Analyse der Teilnehmerstrukturen als auch Studien über die generelle Internetnutzung in Deutschland bestätigt den Verdacht einer digitalen Spaltung: So nutzen laut (N)Onliner-Atlas zwar mittlerweile rund 75% der Bevölkerung das Internet, der Großteil davon falle aber auf höhere Bildungsschichten und jüngere Menschen. Ältere Bürger und Menschen mit einem formal niedrigeren Schulabschluss nutzen das Internet wesentlich häufiger nicht und sich dementsprechend auch seltener bei Online-Beteiligungen anzufinden. Durch die digitale Spaltung, so Linden und auch Stephan Eisel, einer der schärften Kritiker von Online-Beteiligungen, würde den so genannten Eliten, die Beteiligungsangebote für sich nutzen können, zu viel Macht zu fallen. "Alle die sich viel engagieren, bekommen auf einmal viel Macht - und nutzen die auch für ihre Interessen", sagt Eisel. Deswegen findet er, dass die politische Teilhabe durch die Online-Angebote nicht gerechter sondern ungerechter wird. Bei Online-Haushalten hat er festgestellt, dass Vereine mithilfe von E-Mail-Lawinen besonders viele Unterstützer für ihre Anliegen mobilisierten. Bürgerbeteiligung in den Kinderschuhen Diese Argumente können auch Verfechter der Online-Beteiligung nicht von der Hand weisen. Bürgerbeteiligung, da seien sich aber sowohl Dirk Lahmann von der Stadt Bonn als auch Martin Haase von der Piratenpartei einig, sei aber kein Selbstläufer. Um Menschen dazu zu bewegen, sich auch online zu beteiligen, müssten die nötigen Anreize geschaffen werden. Dies hieße zum einen ausreichende Öffentlichkeitsarbeit, um möglichst viele Menschen mit dem Angebot zu erreichen, zum anderen müsse sich die Beteiligung aber auch lohnen. Nur wenn es Feedback gebe, würden sich die Menschen engagieren, so Haase. Er glaubt, dass sich die digitalen Mitmach-Werkzeuge in den nächsten fünf Jahren überall durchsetzen. Quellen / Literatur Externer Link: Thomas Schmelzer, Süddeutsche Zeitung: Bürgerbeteiligung im Internet - Wirkungslose Wunderwaffe, 20.05.2012 Externer Link: Thomas Schmelzer, Süddeutsche Zeitung: Bürgerbeteiligung im Internet - Wirkungslose Wunderwaffe, 20.05.2012
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Redaktion Netzwerk Bürgerhaushalt
2022-11-18T00:00:00
2022-08-22T00:00:00
2022-11-18T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/stadt-land/buergerhaushalt/512176/beteiligung-fuer-die-digitale-elite/
Als "Wirkungslose Wunderwaffe" werden Beteiligungsprojekte über das Internet in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom Mai 2012 bezeichnet.
[ "Bürgerhaushalt - Bürgerbudget", "Eliten", "Beteiligung" ]
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Tschechien und Slowakei: Eishockey, schlechte Lebensmittel und die Politik | euro|topics-Wahlmonitor | bpb.de
Interner Link: The english version of this article can be found here. Das Gefühl, in Europa benachteiligt zu werden, Misstrauen in die Politik, geringe Wahlbeteiligung: Tschechien und die Slowakei scheinen auch Externer Link: 15 Jahre nach ihrem Beitritt zur EU noch nicht so richtig warm mit der Gemeinschaft geworden zu sein. Seit der Wahl der Pro-Europäerin Zuzana Čaputová zur Präsidentin der Slowakei dreht sich der Wind dort zumindest ein wenig Richtung EU. Doch stimmt dieser Eindruck? Unser Korrespondent Hans-Jörg Schmidt aus Prag erklärt im Video, was die Tschechen und Slowaken im Europawahlkampf wirklich bewegt und warum es Externer Link: auch um schlechte Lebensmittel geht.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2019-05-24T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europawahlen/et-wahlmonitor-2019/291812/tschechien-und-slowakei-eishockey-schlechte-lebensmittel-und-die-politik/
Hans-Jörg Schmidt, euro|topics-Korrespondent in Prag, erklärt im Video, warum die Tschechen derzeit demonstrieren, warum die Politiker das ignorieren und warum die Wahlbeteiligung in der Slowakei so niedrig ist.
[ "eurotopics Wahlmonitor", "Europawahl", "Tschechische Republik", "Slowakei", "Tschechische Republik", "Slowakei" ]
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"Jeder Tag dort war wie die Unendlichkeit." | Ravensbrück – Überlebende erzählen | bpb.de
Kató Gyulai (© privat) Kató (Katalin) Gyulai Geboren am 2. April 1919, in Budapest (Ungarn) Verstorben Ich bin am 2. April 1919 in Budapest in einer jüdischen Familie geboren. Mein Vater Aladár war Oberlehrer und unterrichtete an einem Realgymnasium ungarische und deutsche Sprache. Nach dem ersten Weltkrieg hatte er seine Stelle verloren, weil er sich während der Räterepublik nicht, wie andere Kollegen, zurückgezogen, sondern weitergearbeitet hatte. Erst nach zehn Jahren bekam er wieder eine Stelle in der Jüdischen Lehrerschule. Bis dahin unterrichtete er Kinder, die in der Schule durchgefallen waren, zu Hause. Meine Mutter hatte ein kleines Papiergeschäft, das aber im Jahre 1930 schließen musste. Wie mein Vater wollte auch ich Lehrerin werden, aber wegen der Vorgeschichte meines Vaters wurde ich nicht zur Lehrerschule zugelassen. So habe ich Stenographie gelernt und arbeitete sieben Jahre bei einem Verlag als Stenotypistin. Ich hatte eine zweieinhalb Jahre ältere Schwester. Sie war einen Kopf größer als ich aber wog immer zehn Kilogramm weniger. Sie war auch Beamtin, aber verlor im Jahr 1942 ihre Stelle aufgrund der Judengesetze. Kató Gyulai (© privat) Nachdem Ungarn im März 1944 durch die deutschen Faschisten besetzt worden war, konnte auch ich nicht weiterarbeiten. Die ungarischen Juden, hauptsächlich Frauen und Kinder, denn die Männer fungierten schon lange anstatt als Soldaten als Arbeitsdienstler, wurden außerhalb Budapests ab Mai 1944 deportiert, die aus Budapest ab Oktober. Wir mussten bis zur Grenze zu Fuß laufen und so kamen wir im Konzentrationslager Ravensbrück an, wo uns im Zelt Schreckliches erwartete. Von hier selektierten Beauftragte von verschiedenen Unternehmen Arbeiterinnen. Einer der "Beauftragten" selektierte mich, aber er wollte nicht meine Schwester haben. So mussten wir voneinander Abschied nehmen – für ewig. Das war für mich das Schrecklichste an der Deportation. Wir versuchten alles zu tun, um zusammen zu bleiben – aber es ging nicht. Meine Schwester hat nicht überlebt. Ich kam nach Spandau, wo ich in der Fabrik Deutsche Industriewerke arbeitete: Ich musste die Späne unter den Maschinen herausholen und auf Karren geladen hinausbringen. Ab März 1945 war zu sehen, dass die deutsche Macht langsam zu Ende ging, nur wussten wir nicht, ob wir das erleben würden. Jeden Tag mussten wir Leichen aus der Fabrik hinaustragen. Ich selbst war schon so schwach und mager, dass ich einen "Krankenzettel" erhielt. Aber auch die Fabrik war "krank", es gab oft kein Material oder Gas mehr. Am 21. April 1945 wurden die Kranken und auch die nicht Arbeitenden nach Sachsenhausen gebracht mit der Bemerkung der SS-Frauen: "Nun geht ihr krepieren!" Nachdem wir angekommen waren und gebeten hatten, in die Baracken zu gehen, um unsere Notdurft zu erledigen, und wieder herauskamen, haben wir keine SS-Frauen mehr gesehen. Sie waren weg. Wir waren frei. Ich wollte leben Glücklicherweise stellte sich erst dann heraus, dass ich Tuberkulose hatte. Ich war sehr krank und hatte hohes Fieber – aber ich wollte leben! Ich hatte gar keinen Appetit, aber ich habe doch gegessen, um wieder stark zu werden. Obwohl das, was wir bekamen, sehr armselig war. Es war Ende Juli 1945, als ich wieder geheilt war: Von achtzehn Tuberkulose-Kranken sind nur drei am Leben geblieben. Zurück in Budapest habe ich zuerst in einer Bank gearbeitet, nachher in der Parteizentrale und dann als Diplomat, das heißt als Kulturattaché in Holland. Als ich von dort wegen der Krankheit meiner Mutter zurück nach Hause kam, begann ich im Ministerium für Landwirtschaft, Abteilung Internationale Zusammenarbeit, zu arbeiten bis ich im Jahr 1974 in den Ruhestand ging. Seit 1958 nehme ich Teil an der Arbeit des Ungarischen Komitees der Verfolgten des Nazismus, bin deren Vizepräsidentin und Verantwortliche für die Angelegenheiten mit Ravensbrück und den ehemaligen Ravensbrückerinnen. Kató Gyulai, März 2004 Kató Gyulai (© privat) Kató Gyulai (© privat)
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2012-01-29T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/holocaust/ravensbrueck/60636/jeder-tag-dort-war-wie-die-unendlichkeit/
Kató wird 1919 in Budapest in einer jüdischen Familie geboren. Spätestens mit der deutschen Besetzung Ungarns 1944 ändert sich alles. Kató und ihre Schwester werden deportiert – sie kommen nach Ravensbrück. Als Kató zur Zwangsarbeit in Spandau selekt
[ "Überlebende", "Zeitzeuge", "Konzentrationslager", "Nationalsozialismus", "Frau", "Kató Gyulai", "jüdisch", "Deutschland", "Ungarn", "Uckermark", "Ravensbrück", "Budapest" ]
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Ein transatlantisches Abkommen für den Mittelstand | Globaler Handel | bpb.de
Michael Hüther (© Institut der deutschen Wirtschaft Köln) Zwar können sich für den Freihandel in Deutschland drei Viertel der Bevölkerung begeistern, gegen TTIP hingegen formiert sich eine öffentlich stark präsente Mehrheit. Nicht nur auf den ersten Blick verbirgt sich hier ein Widerspruch, denn auch unter den TTIP-Skeptikern findet sich breite Zustimmung zu Freihandel und Globalisierung. Analysen der TTIP-Skeptiker zeigen interessanterweise, dass diese ihre Kritik an den Institutionen der EU und deren vermeintliches Demokratiedefizit auf das Abkommen projizieren. In gewisser Weise ist damit der Widerstand gegen TTIP in eine Reihe zu stellen mit der Abstimmung der Briten über den Austritt aus der EU. Auch hier wurden Ängste mobilisiert und projiziert. Wichtig ist deshalb, über den Sachverhalt aufzuklären, ohne ihn weder zu verklären noch zu verteufeln. Es ist dabei auch an der Zeit, mit einem der großen Mythen auszuräumen: TTIP sei ein Abkommen, geschrieben von und für Großkonzerne – so eine weitverbreitete Kritik. Kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) würden durch ein Absenken der Qualitätsstandards und eine Verschärfung des Wettbewerbs aus dem Markt gedrängt, selbst vor Schiedsgerichten würde der kleine Mittelständler benachteiligt, heißt es weiter. TTIP ist – das wird bereits hier deutlich – in verschiedener Hinsicht ein besonderes Abkommen. Erstens: Es umfasst mit den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union zwei der stärksten und größten Wirtschaftsräume. Ein Abkommen würde die Weltwirtschaft als Ganzes betreffen, die Folgen für die Entwicklungsländer sind sorgsam zu wägen. Zweitens: Es geht um freien und fairen Handel mit Waren und Dienstleistungen, es geht aber ebenso um freien und fairen Kapitalverkehr. Auf letzteres zielt der Eigentumsschutz ausländischer Investoren, für den bislang die stark kritisierten privaten Schiedsgerichte herangezogen werden. Die Kritik sieht hier einen Hebel, die nationale Gesetzgebung zu schwächen. Drittens: Es geht nicht nur um die Absenkung von Zöllen, sondern ebenso um die Harmonisierung nichttarifärer Handelshemmnisse. Hier vermuten viele einen Abbau des etablierten Umwelt- und Verbraucherschutzes. Sorgen um die deutschen Hidden Champions unbegründet Abgesehen von der generellen Kritik werden Sorgen um den deutschen Mittelstand als Argument gegen TTIP vorgetragen. Der Mittelstand ist weniger international aufgestellt als die Handvoll global tätiger deutscher Großkonzerne, wenngleich wir viele Weltmarktführer aus dessen Reihen in Deutschland haben, und viele Mittelständler als "Hidden Champions" in ihren Märkten eine starke Position aufweisen. Diese Untergruppe der Mittelständler sind hochspezialisierte Exporteure, die Nischenmärkte global dominieren. Daran soll und wird TTIP auch nichts ändern. Deutsche Mittelständler haben es in ihrer teilweise über hundertjährigen Unternehmensgeschichte geschafft, sich ändernde Marktkonditionen frühzeitig zu erkennen und sich ständig an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Der im Schwarzwald ansässige Hersteller von Sanitärkeramik Duravit ist ein Beispiel für einen solchen Mittelständler. In den fast 200 Jahren seit der Unternehmensgründung hat sich die Firma vom lokalen Geschirrproduzenten zum stark internationalisierten Exporteur gewandelt. Andere Beispiele: Der Reinigungstechnikhersteller Kärcher oder der Tunnelbaumaschinenproduzent Herrenknecht. Die Liste ließe sich fast beliebig lang fortsetzen. Zunächst bedürfen die Mittelständler ganz besonders der Rechtssicherheit bei Auslandsinvestitionen, da sie nicht so kapitalstark wie die Multis sind. In den US-Bundesstaaten gelten anders als bei uns nicht automatisch die von Washington unterzeichneten völkerrechtlichen Abkommen. Der Investorenschutz hat deshalb gerade für den Mittelstand eine hohe Bedeutung. Gerade für KMU ist die Prüfung amerikanischer Standards häufig kostspielig Aber: Würden die KMU im Falle von TTIP durch das Harmonisieren von Qualitäts- und Prüfungsstandards von Großkonzernen in einen ruinösen Preiswettbewerb getrieben? Eine Harmonisierung von Anforderungen unterschiedlichster Art schafft für alle Anbieter ein identisches Spielfeld. Eine Bedrohung wäre nur für einen Mittelstand plausibel, der allein preisgetrieben seine Marktposition erringen konnte. Dann mögen Spezialisierungsvorteile entfallen. Der deutsche Mittelständler ist aber gerade dadurch gekennzeichnet, dass er – zu adäquaten Kosten – insbesondere kundenspezifisch hochwertige Produkte und Lösungen erbringt. Er beherrscht besser als andere komplexe Anforderungen, und er würde dabei künftig von Kosten entlastet, denen kein Differenzierungsvorteil entgegensteht, weil doppelte Prüfungen entfallen oder sich ein aufwendiger Umbau bei ansonsten gleicher Funktionalität erübrigt. Gerade für KMU ist eine Prüfung der amerikanischen Standards und Vorschriften häufig zu kostspielig, als dass sich ein Markteintritt lohnen würde. Mittelständler bieten häufig Zwischenprodukte an und vertiefen die Arbeitsteilung. Hier liegt ein großes Potenzial, denn der deutsch-amerikanische Warenhandel entfiel bereits im Jahr 2015 zu 40 Prozent auf eben diese Zwischenprodukte. Über eine noch stärkere Arbeitsteilung können Unternehmen weiterhin ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Am Ende würde so das Qualitätssiegel "Made in Germany" gestärkt werden. Damit auch alle kleinen Unternehmen Gehör finden, wird des Weiteren ein spezieller KMU-Ausschuss gebildet werden. Dieser soll sicherstellen, dass die Interessen des europäischen Mittelstandes auch bei Abschluss des Freihandelsabkommens gewahrt bleiben. Wir brauchen diese Unternehmen – sie bilden schließlich nicht nur bei uns das Rückgrat der europäischen Volkswirtschaft. (© UnternehmensGrün) Standpunkt Katharina Reuter: Interner Link: "Branchenspezifische Abkommen sind zu bevorzugen – damit es nicht dazu kommt, dass schwächere Branchen (in Europa zum Beispiel die Landwirtschaft) den Interessen von stärkeren Branchen (zum Beispiel der Automobilwirtschaft) geopfert werden." Michael Hüther (© Institut der deutschen Wirtschaft Köln) (© UnternehmensGrün) Vgl. Maier, Jürgen: Freihandelsabkommen – Die Entmachtung der Parlamente, hrsg. vom Forum Umwelt und Entwicklung, 24. Februar 2014, S.3. Online unter: Externer Link: http://ttip-unfairhandelbar.de/fileadmin/download/dokumente/Demokratie___Transparenz_in_der_Handelspolitik-final.pdf (Stand: 13. September 2016)
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2016-09-06T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/wirtschaft/freihandel/233515/ein-transatlantisches-abkommen-fuer-den-mittelstand/
Ob beim Investitionsschutz oder bei der Standardisierung: Gerade für kleinere und mittlere Unternehmen birgt TTIP viele Chancen und Vorteile, betont der Kölner Ökonom Michael Hüther.
[ "Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP)", "Handel", "Mittelstand", "Großunternehmen", "Großkonzerne", "Zoll", "Zölle", "Investitionsschutz", "Rechtssicherheit" ]
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Kriegsverlauf und Außenpolitik | Der Erste Weltkrieg | bpb.de
Nach dem Bewegungskrieg der ersten Wochen und Monate zeichnete sich im folgenden Stellungskrieg bald ab, dass in militärischer Hinsicht die Defensive der Offensive überlegen sein würde. Trotzdem hielten die Militärs im Zeichen eines verbreiteten Kultes der Offensive auf allen Seiten an dem Versuch fest, durch großangelegte, ungeheuer verlustreiche Angriffe eine Entscheidung zu erzwingen. Da dies misslang, entwickelte sich der Krieg immer stärker zu einem umfassenden industriellen Abnutzungskrieg. Zugleich bemühten sich die Kriegsparteien auf unterschiedliche Weise darum, ihre Kriegsbündnisse zu erweitern, ihre strategische Stellung zu verbessern und neue Angriffspunkte zu finden. Während sich dabei die Frontlinie im Westen trotz eines bislang nicht für möglich gehaltenen Materialeinsatzes und ungeheurer Verluste bis zum Jahre 1918 kaum veränderte, waren die anderen Kriegsschauplätze von einer höheren Dynamik geprägt. Doch zu kriegsentscheidenden Veränderungen kam es auch hier lange nicht. Diplomatie und Kriegführung Den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn gelang es, kurz nach Kriegsbeginn 1914 die Türkei, im folgenden Jahr auch Bulgarien in ihre Kriegskoalition zu integrieren und so den Kriegseintritt Japans (1914) und Italiens (1915) auf Seiten der Entente zu kompensieren. Militärisch konnten sie in den Jahren 1915 und 1916 mit der Eroberung großer Teile Russisch-Polens und des Baltikums, den Siegen über Serbien und über das schließlich auch auf Seiten der Entente in den Krieg eingetretenen Rumänien beachtliche Erfolge erzielen. Die Mittelmächte beherrschten nun einen geschlossen Raum in Mitteleuropa und Kleinasien, der über eine beträchtliche wirtschaftliche und militärische Kohärenz und Stärke verfügte. Die alliierten Offensiven im Westen blieben demgegenüber ebenso erfolglos wie ihr Flottenangriff auf die Dardanellen und ihre Vorstöße in Arabien gegen Bagdad. Doch auch die militärischen Erfolge der Mittelmächte waren nicht in der Lage, dem Krieg eine entscheidende Wendung zu geben. Während das deutsche Oberkommando Ost unter den Generälen Hindenburg und Ludendorff dafür eintrat, die Hauptmacht gegen Russland zu wenden und erst einmal das Zarenreich entscheidend zu schlagen, hielt die 2. Oberste Heeresleitung (OHL) unter General Falkenhayn an der Auffassung fest, dass der Krieg im Westen entschieden werde. Falkenhayns Versuch, die französische Armee mit dem Angriff auf die strategisch und symbolisch bedeutende Festung Verdun "weißzubluten", scheiterte 1916 jedoch ebenso unter ungeheuren Verlusten auf beiden Seiten wie die englisch-französischen Offensiven an der Somme und die mit ihnen koordinierten Angriffe der russischen Armee in Polen sowie der Italiener an der Alpenfront. Die vielfältigen internationalen Friedensinitiativen vor allem von dänischer, amerikanischer und spanisch-vatikanischer Seite haben immer wieder das Interesse der Forschung gefunden. Gleichwohl ist festzuhalten, dass die Erfolgsaussichten angesichts der immer weiter ausufernden Kriegsziele aller beteiligten Länder zweifellos gering waren. Auf deutscher Seite wurde grundsätzlich das Ziel verfolgt, entweder durch Annexionen oder in der gemäßigteren Variante durch Formen indirekter Herrschaft eine hegemoniale, von den Verbündeten flankierte Stellung auf dem europäischen Kontinent zu erlangen. Zugleich unterlagen alle sog. Friedensbemühungen einem kriegsstrategischen Kalkül: Sie waren auf deutscher Seite unauflöslich mit dem Ziel verbunden, die Belastungen des Zweifrontenkrieges aufzubrechen und mit einer Seite Frieden zu schließen, um auf der anderen Seite umso erfolgreicher einen militärischen Sieg erringen zu können. Die Versuche, Russland durch militärischen Druck einen Verständigungsfrieden aufzuzwingen, scheiterten jedoch immer wieder an der bereits 1914 vom Zarenreich mit England und Frankreich im Londoner Abkommen getroffenen Vereinbarung, keinen Separatfrieden zu schließen. Und alle Verständigungsversuche im Westen mussten schon deshalb erfolglos bleiben, weil die Reichsleitung nicht bereit war, die als Vorbedingung geforderte Wiederherstellung der belgischen Unabhängigkeit zu garantieren. Mit der Ernennung der 3. OHL unter Hindenburg und Ludendorff im August 1916 setzte sich in Deutschland schließlich endgültig die Perspektive durch, den Krieg nur mit einem umfassenden Siegfriedensschluss zu beenden. Revolutionierungsversuche, Englische Seeblockade und U-Boot-Krieg Alfred von Tirpitz, Zur Kriegssituation, 24. Januar 1917 Alfred von Tirpitz, Zur Kriegssituation, 24. Januar 1917 Inhalt Während die Mittelmächte auf dem europäischen Kontinent lange eine strategisch starke Stellung einnehmen konnten, gerieten sie im globalen Kontext bald ins Hintertreffen. Ihre Bemühungen, die von Russland und Großbritannien beherrschten Völker zu revolutionieren, waren kaum von Erfolg gekrönt. Insbesondere in Arabien waren die Briten mit ihrem Versuch, Aufstände gegen die Osmanische Herrschaft zu unterstützen, weit erfolgreicher. Vor allem aber beherrschten sie den maritimen Welthandel. Seit Kriegsbeginn hatte die englische Flotte im Nordatlantik und in der Nordsee, bald ergänzt durch das Mittelmeer, eine großangelegte Seeblockade errichtet, um das Deutsche Reich und seine Verbündeten vom Weltmarkt abzuschließen. Die Blockade galt anfangs nur Kriegsmaterial, wurde aber bald in völkerrechtswidriger Weise auch auf Rohstoffe und Lebensmittel ausgeweitet. Allerdings war die "Hungerblockade" lange nur begrenzt erfolgreich, weil die Mittelmächte über ihre Handelskontakte mit neutralen Nachbarländern weiterhin über Zugänge zum Weltmarkt verfügten, die erst langsam durch diplomatischen Druck der Entente verschlossen werden konnten. Die deutsche Hochseeflotte dagegen musste die strategische Überlegenheit der Grand Fleet (britische Flotte) anerkennen, auch als sie 1916 in der Schlacht am Skagerak zwar gewisse Erfolge, aber letztlich keinen Durchbruch erzielen konnte und sich zurückziehen musste. QuellentextDie militärstrategische Planung der II. OHL unter General Erich v. Falkenhayn Ende 1915 Frankreich ist militärisch und wirtschaftlich – dies durch dauernde Entziehung der Kohlenfelder im Nordosten des Landes – bis nahe an die Grenze des Erträglichen geschwächt. Rußlands Wehrmacht ist nicht voll niedergerungen, aber seine Offensivkraft doch so gebrochen, daß sie in annähernd der alten Stärke nicht wieder aufleben kann. Serbiens Heer kann als vernichtet gelten. Italien hat zweifellos eingesehen, daß es auf Verwirklichung seiner Raubgelüste in absehbarer Zeit nicht rechnen kann, und würde deshalb wahrscheinlich froh sein, das Abenteuer auf irgendeine anständige Weise bald liquidieren zu können. Wenn aus diesen Tatsachen nirgends Folgerungen gezogen wurden, so liegt dies an vielen Erscheinungen, in deren Erörterung man im einzelnen nicht einzutreten braucht. Nur an der hauptsächlichsten darf man nicht vorübergehen. Sie ist der ungeheuerliche Druck, den England noch immer auf seine Verbündeten ausübt. […] Um so notwendiger ist es, daß gleichzeitig alle jene Mittel rücksichtslos zur Anwendung gebracht werden, die geeignet sind, England auf seinem eigensten Gebiet zu schädigen. Es sind dies der Unterseekrieg und die Anbahnung eines politischen und wirtschaftlichen Zusammenschlusses Deutschlands nicht nur mit seinen Verbündeten, sondern auch mit allen noch nicht ganz im Bannkreis Englands gefesselten Staaten. Sich mit diesem Zusammenschluß zu beschäftigen, ist nicht Sache dieser Darlegung. Die Lösung der Aufgabe liegt ausschließlich der politischen Leitung ob. Die Unterseekrieg dagegen ist ein Kriegsmittel wie jedes andere. Die Gesamtkriegsleitung darf sich der Stellungnahme zu ihm nicht entziehen. Er zielt auf die verwundbarste Stelle des Feindes ab, in dem er ihm die Zufuhren über See abzuschneiden versucht. Gehen die bestimmten Zusagen der Marine dahin in Erfüllung, daß der unbeschränkte Unterseebootkrieg England innerhalb des Jahres 1916 zum Einlenken bringen muß, so ist selbst die Annahme einer feindlichen Haltung seitens der Vereinigten Staaten jetzt zu ertragen. Ihr Eingreifen in den Krieg kann nicht so schnell entscheidende Wirkung üben, daß es England, welches das Gespenst des Hungers und viele andere Nöte auf seiner Insel auftauchen sieht, zum Weiterkämpfen bewegen könnte. […] Ein Vorgehen auf Moskau führt uns ins Uferlose. Für keine dieser Unternehmungen verfügen wir über ausreichende Kräfte. Mithin scheidet Rußland als Angriffsobjekt aus. Es bleibt allein Frankreich übrig. […] Hinter dem französischen Abschnitt der Westfront gibt es in Reichweite Ziele, für deren Behauptung die französische Führung gezwungen ist, den letzten Mann einzusetzen. Tut sie es, so werden sich Frankreichs Kräfte verbluten, da es ein Ausweichen nicht gibt, gleichgültig, ob wir das Ziel selbst erreichen oder nicht. Tut sie es nicht und fällt das Ziel in unsere Hände, dann wird die moralische Wirkung in Frankreich ungeheuer sein. Deutschland wird nicht gezwungen sein, sich für die räumlich eng begrenzte Operation so zu verausgaben, daß alle anderen Fronten bedenklich entblößt werden. Es kann mit Zuversicht den an ihnen zu erwartenden Entlastungsunternehmungen entgegensehen, ja hoffen, Kräfte in genügender Zahl zu erübrigen, um den Angriffen mit Gegenstößen begegnen zu können. Denn es steht ihm frei, seine Offensive schnell oder langsam zu führen, sie zeitweise abzubrechen oder sie zu verstärken, wie es seinen Zwecken entspricht. Die Ziele, von denen hier die Rede ist, sind Belfort und Verdun. Für beide gilt das oben Gesagte. Dennoch verdient Verdun den Vorzug. […] Aus: Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellungen, Bd. 8, S. 383-85. Stattdessen setzte die deutsche Seekriegsleitung auf den ebenfalls offen völkerrechtswidrigen U-Boot-Krieg gegen den Seehandel mit England und Frankreich, der nicht zuletzt amerikanische Schiffe traf. Der U-Boot-Krieg wurde nach der Versenkung des Passagierschiffes Lusitania am 7. Mai 1915 mit mehr als 1.000 Toten zwar zeitweilig eingeschränkt, doch auf Druck der Obersten Heeresleitung Anfang 1917 in vollem Umfang wieder aufgenommen, was wenig später zur Kriegserklärung der USA und in deren Gefolge vieler weiterer Länder führte. Die Hoffnung jedoch, Großbritannien auf diesem Weg zum Frieden zwingen zu können, erfüllte sich trotz anfänglicher Erfolge nicht. Mit der Einführung des Konvoi-Systems, der gemeinsamen Fahrt einer großen Zahl von Handelsschiffen unter dem Schutz von Kriegsschiffen, konnten die Verluste begrenzt werden, und der amerikanische Kriegseintritt stärkte zugleich die alliierten Hoffnungen, mittelfristig das Deutsche Reich und seine Verbündeten niederringen zu können. Auf dem europäischen Kriegsschauplatz machte sich die amerikanische Verstärkung allerdings erst langsam bemerkbar, denn die USA mussten erst einmal eine entsprechende Armee aufbauen. Kriegsentscheidung 1917/18 Der Kriegsverlauf im Osten 1915-1917 (© Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) Als PDF herunterladen (1.1MB) Als 1917 die Revolution Russland erfasste und die von der Reichsleitung eingeschleusten bolschewistischen Emigranten unter Führung von Lenin nach der Oktoberrevolution aus der Zusammenarbeit mit den Westmächten ausscherten und einen sofortigen Friedensschluss anstrebten, schien die deutsche Siegfriedensstrategie doch noch aufzugehen. In den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk wurde dem bolschewistischen Russland, gestützt auf einen umfangreichen militärischen Vormarsch, ein Gewaltfrieden mit riesigen Gebietsabtretungen in Mittel- und Osteuropa aufgezwungen. Und im Westen bereitete die Militärführung anschließend eine großangelegte Offensive vor, die auch hier eine militärische Entscheidung zugunsten des Deutschen Reiches erzwingen sollte. Die deutsche Offensive 1918 (© Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) Als PDF herunterladen (1.1MB) In den sog. Frühjahrsoffensiven des Jahres 1918 konnten die deutschen Truppen tatsächlich umfangreiche territoriale Gewinne erzielen. Trotz immer weiter forcierter Angriffsbemühungen an wechselnden Frontabschnitten gelang es jedoch nicht, einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen. Als die nun durch frische amerikanische Truppen verstärkten alliierten Armeen im Sommer 1918 zur Gegenoffensive antraten, hatten ihnen die ausgepowerten deutschen Kräfte nicht mehr viel entgegenzusetzen, mussten sich hinter ihre Ausgangsstellungen zurückziehen und bald auch gravierende Durchbrüche zulassen. Zugleich begann sich auch der militärische Zusammenbruch der verbündeten Armeen von Österreich-Ungarn, der Türkei und Bulgariens immer deutlicher abzuzeichnen. Erst unter diesen Bedingungen entschied sich die OHL, nun doch auf einen Friedensschluss zu setzen. Sie erklärte gegenüber der Reichsleitung, dass die Front nicht mehr lange gehalten werden könne, und forderte sie ultimativ auf, so schnell wie möglich einen Waffenstillstand zu schließen. Dies war allerdings nicht so einfach, denn zu Waffenstillstandsverhandlungen waren die nunmehr vom bevorstehenden Sieg überzeugten Alliierten nur mit den Vertretern eines demokratischen Deutschland bereit. Ausgewählte Literatur: Holger Afflerbach, Falkenhayn. Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich, München 1994. Winfried Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918. Von Brest-Litowsk bis zum ende des Ersten Weltkrieges, München 1966. Lancelot L. Farrar, Devide and Conquer. German Efforts to Conclude a Separate Peace. 1914-1918, Boulder 1978. Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Kronberg i. Ts. 1961. Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, Paderborn u. a. 2009. Erwin Hölzle, Die Selbstentmachtung Europas. Das Experiment des Friedens vor und im Ersten Weltkrieg, Göttingen u.a. 1975. Vejas G. Liulevicius, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg 1914-1918, Hamburg 2002. W. R. Louis, Das Ende des deutschen Kolonialreiches. Britischer Imperialismus und die deutschen Kolonien, Düsseldorf 1971. Melvin E. Page, Africa and the First World War, London 1987. Wolfgang Steglich, Die Friedensversuche der kriegführenden Mächte im Sommer und Herbst 1917. Quellenkritische Untersuchungen, Akten und Vernehmungsprotokolle, Wiesbaden 1984. David Stevenson, 1914-1918. Der Erste Weltkrieg, Düsseldorf 2006. Frank Wende, Die belgische Frage in der deutschen Politik des Ersten Weltkrieges, Hamburg 1969. John W. Wheeler-Bennett, Brest-Litowsk. The Forgotten Peace, March 1918, New York 1971 (zuerst 1938). Egmond Zechling, Krieg und Kriegsrisiko: Zur deutschen Politik im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1979. Alfred von Tirpitz, Zur Kriegssituation, 24. Januar 1917 Alfred von Tirpitz, Zur Kriegssituation, 24. Januar 1917 Inhalt Frankreich ist militärisch und wirtschaftlich – dies durch dauernde Entziehung der Kohlenfelder im Nordosten des Landes – bis nahe an die Grenze des Erträglichen geschwächt. Rußlands Wehrmacht ist nicht voll niedergerungen, aber seine Offensivkraft doch so gebrochen, daß sie in annähernd der alten Stärke nicht wieder aufleben kann. Serbiens Heer kann als vernichtet gelten. Italien hat zweifellos eingesehen, daß es auf Verwirklichung seiner Raubgelüste in absehbarer Zeit nicht rechnen kann, und würde deshalb wahrscheinlich froh sein, das Abenteuer auf irgendeine anständige Weise bald liquidieren zu können. Wenn aus diesen Tatsachen nirgends Folgerungen gezogen wurden, so liegt dies an vielen Erscheinungen, in deren Erörterung man im einzelnen nicht einzutreten braucht. Nur an der hauptsächlichsten darf man nicht vorübergehen. Sie ist der ungeheuerliche Druck, den England noch immer auf seine Verbündeten ausübt. […] Um so notwendiger ist es, daß gleichzeitig alle jene Mittel rücksichtslos zur Anwendung gebracht werden, die geeignet sind, England auf seinem eigensten Gebiet zu schädigen. Es sind dies der Unterseekrieg und die Anbahnung eines politischen und wirtschaftlichen Zusammenschlusses Deutschlands nicht nur mit seinen Verbündeten, sondern auch mit allen noch nicht ganz im Bannkreis Englands gefesselten Staaten. Sich mit diesem Zusammenschluß zu beschäftigen, ist nicht Sache dieser Darlegung. Die Lösung der Aufgabe liegt ausschließlich der politischen Leitung ob. Die Unterseekrieg dagegen ist ein Kriegsmittel wie jedes andere. Die Gesamtkriegsleitung darf sich der Stellungnahme zu ihm nicht entziehen. Er zielt auf die verwundbarste Stelle des Feindes ab, in dem er ihm die Zufuhren über See abzuschneiden versucht. Gehen die bestimmten Zusagen der Marine dahin in Erfüllung, daß der unbeschränkte Unterseebootkrieg England innerhalb des Jahres 1916 zum Einlenken bringen muß, so ist selbst die Annahme einer feindlichen Haltung seitens der Vereinigten Staaten jetzt zu ertragen. Ihr Eingreifen in den Krieg kann nicht so schnell entscheidende Wirkung üben, daß es England, welches das Gespenst des Hungers und viele andere Nöte auf seiner Insel auftauchen sieht, zum Weiterkämpfen bewegen könnte. […] Ein Vorgehen auf Moskau führt uns ins Uferlose. Für keine dieser Unternehmungen verfügen wir über ausreichende Kräfte. Mithin scheidet Rußland als Angriffsobjekt aus. Es bleibt allein Frankreich übrig. […] Hinter dem französischen Abschnitt der Westfront gibt es in Reichweite Ziele, für deren Behauptung die französische Führung gezwungen ist, den letzten Mann einzusetzen. Tut sie es, so werden sich Frankreichs Kräfte verbluten, da es ein Ausweichen nicht gibt, gleichgültig, ob wir das Ziel selbst erreichen oder nicht. Tut sie es nicht und fällt das Ziel in unsere Hände, dann wird die moralische Wirkung in Frankreich ungeheuer sein. Deutschland wird nicht gezwungen sein, sich für die räumlich eng begrenzte Operation so zu verausgaben, daß alle anderen Fronten bedenklich entblößt werden. Es kann mit Zuversicht den an ihnen zu erwartenden Entlastungsunternehmungen entgegensehen, ja hoffen, Kräfte in genügender Zahl zu erübrigen, um den Angriffen mit Gegenstößen begegnen zu können. Denn es steht ihm frei, seine Offensive schnell oder langsam zu führen, sie zeitweise abzubrechen oder sie zu verstärken, wie es seinen Zwecken entspricht. Die Ziele, von denen hier die Rede ist, sind Belfort und Verdun. Für beide gilt das oben Gesagte. Dennoch verdient Verdun den Vorzug. […] Aus: Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellungen, Bd. 8, S. 383-85. Der Kriegsverlauf im Osten 1915-1917 (© Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) Als PDF herunterladen (1.1MB) Die deutsche Offensive 1918 (© Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) Als PDF herunterladen (1.1MB)
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-12-09T00:00:00
2013-02-18T00:00:00
2021-12-09T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/erster-weltkrieg-weimar/ersterweltkrieg/155304/kriegsverlauf-und-aussenpolitik/
Das Schmieden von Allianzen und diplomatisches Geschick sind ebenso wichtige Kriegsmittel wie Waffen und militärische Gewalt. Der Erste Weltkrieg illustrierte dies im Bemühen Deutschlands, zumindest mit einer Seite des Zweifrontenkrieges Frieden zu s
[ "Erster Weltkrieg", "Auslösung und Beginn des Krieges", "deutsche Geschichte", "Diplomatie und Kriegführung", "Englische Seeblockade", "U-Boot-Krieg" ]
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Editorial | Gefängnis | bpb.de
Das Gefängnis verkörpert wie keine andere Institution das staatliche Gewaltmonopol: Mit der Haft entzieht der Staat einem Bürger die Freiheit. In deutschen Gefängnissen sind rund 58.000 Menschen inhaftiert – ihre Vergehen reichen von nicht bezahlten Geldstrafen für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne Fahrschein oder Drogenbesitz über Steuerhinterziehung bis hin zu schweren Gewalttaten. Wie sich ihr Leben in geschlossener Gesellschaft im Zwangskontext gestaltet, bleibt dem Blick der Öffentlichkeit entzogen. So sind es vor allem fiktive Erzähl- und Unterhaltungsformate, die verbreitete Vorstellungen vom Kosmos Gefängnis prägen, der gleichermaßen abschreckt wie fasziniert. In Deutschland fallen der Strafvollzug und mit ihm die rund 200 Justizvollzugsanstalten seit der Föderalismusreform 2006 in die Regelungskompetenz der Bundesländer. Den 16 Landesstrafvollzugsgesetzen gemeinsam ist das Ziel der sogenannten Resozialisierung: Die Gefangenen sollen dazu befähigt werden, künftig in sozialer Verantwortung zu leben, ohne erneut straffällig zu werden. Entsprechend soll der Vollzug so ausgestaltet sein, dass das Leben im Gefängnis den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit wie möglich angeglichen ist, während der Schutz der Allgemeinheit gewährleistet bleibt. Wie gut Resozialisierung im Strafvollzug gelingt beziehungsweise gelingen kann, wird im Lichte von Rückfallstatistiken immer wieder kritisch diskutiert – bis hin zu Forderungen, Gefängnisse abzuschaffen. Im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit werden in diesen Debatten grundsätzliche rechtsstaatliche Fragen verhandelt: Was soll, was kann und was darf der Staat mit der Verhängung einer Freiheitsstrafe leisten? Was bedeutet Menschenwürde im Strafvollzug? Was ist eine gerechte Strafe? Und warum strafen wir überhaupt?
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Anne-Sophie Friedel
2021-12-01T00:00:00
2021-10-11T00:00:00
2021-12-01T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/gefaengnis-2021/341765/editorial/
Das Gefängnis verkörpert wie keine andere Institution das staatliche Gewaltmonopol: Mit der Haft entzieht der Staat einem Bürger die Freiheit. In deutschen Gefängnissen sind rund 58.000 Menschen inhaftiert – ihre Vergehen reichen von nicht bezahlten
[ "Gefängnis", "Justizvollzugsanstalt", "Inhaftierung", "Haft", "Haftstrafe", "Strafvollzug" ]
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dekoder: Neutrale Ukraine – ein Ausweg aus dem Krieg? | Selenskyjs vs. Putins Rhetorik / Gesellschaftlicher Widerstand / Deutschlands Blick auf die Ukraine / Selenskyjs Erfolge / Ukrainische Verhandlungsposition / Russische Kriegsverbrechen | bpb.de
Zusammenfassung Einleitung von dekoder: Inmitten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gab es bereits mehrere Verhandlungsrunden. Viel Hoffnung auf eine schnelle diplomatische Lösung besteht nicht. Und doch fällt immer wieder ein Stichwort: ein "neutraler" Status für die Ukraine und die Verankerung eines solchen Status in der ukrainischen Verfassung. Aber was heißt das überhaupt? Geht das? Und: Könnte der Krieg dadurch wirklich (so einfach) beendet werden? Einleitung von dekoder: Inmitten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gab es bereits mehrere Verhandlungsrunden. Viel Hoffnung auf eine schnelle diplomatische Lösung besteht nicht. Und doch fällt immer wieder ein Stichwort: ein "neutraler" Status für die Ukraine und die Verankerung eines solchen Status in der ukrainischen Verfassung. Aber was heißt das überhaupt? Geht das? Und: Könnte der Krieg dadurch wirklich (so einfach) beendet werden? 1. Neutrale Ukraine – ist doch DIE Lösung, oder? Die Idee klingt tatsächlich nach einer einfachen Lösung: Die russische Führung würde mit einem neutralen Puffer-Staat ("cordon sanitaire") bekommen, was sie verlangt, und der Krieg könnte schnell enden. So einfach ist es aber nicht und zwar aus drei zentralen Gründen: Erstens: Die Ukraine ist kein Objekt von Verhandlungen, sondern ein souveräner Staat. Entscheidend ist also, was die ukrainische Regierung und die Menschen im Land als mögliche Lösung für den Krieg sehen. Präsident Wolodymyr Selensky hat betont, dass Sicherheitsgarantien zum Schutz seines Landes zunächst am wichtigsten sind. Zweitens: Egal, ob es am Ende um einen "neutralen" Status geht oder um einen anderen Kompromiss – Sicherheitsgarantien sind dabei das Kernproblem, wie bisherige Forderungen der Ukraine zeigen. Alles dreht sich in dem, was dazu bislang bekannt ist, um die Frage, wer einer möglichen "neutralen" Ukraine im Fall eines Angriffs militärisch beistehen würde, ohne Wenn und Aber. Andernfalls sähe sich die Ukraine als Nicht-NATO-Mitglied schutzlos einem Angreifer ausgeliefert. Entscheidend sind also Garanten, sprich: (Schutz-)Staaten (USA, Großbritannien etc.) oder internationale Organisationen, die rechtsverbindlich verpflichtet wären einzugreifen, notfalls militärisch. Allen voran müsste sich auch Russland darauf erst einmal einlassen. Und die Ukraine muss sich sicher sein können, dass die Garantien das Papier, auf dem sie stehen, auch wert sind. Drittens: Die jüngere Geschichte der Ukraine mahnt zur größten Vorsicht, weil Russland mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 bereits ein Schutzabkommen gebrochen hat, nämlich das Budapester Memorandum von 1994. Über das Abkommen war der Ukraine territoriale Integrität, Souveränität und Schutz zugesichert worden – von Russland selbst, außerdem von den USA und Großbritannien. Im Gegenzug hat die Ukraine damals die auf ihrem Gebiet aus Sowjetzeiten "geerbten" Atomwaffen abgegeben (aber keine "Neutralität" versprochen). Die Annexion hat gezeigt, dass das Budapester Memorandum keinen effektiven Schutz bot. Der Angriffskrieg seit dem 24. Februar 2022 unterstreicht das nur ein weiteres Mal. Ganz grundsätzlich stellt sich die Frage, ob sich die russische Seite mit einer "Neutralität" allein wirklich zufrieden geben würde. In den TV-Ansprachen vor der Invasion hat Russlands Präsident Wladimir Putin die Existenz der Ukraine als Staat wiederholt und mit Nachdruck generell infrage gestellt. Cindy Wittke, Stefan Wolff 2. Was genau liegt überhaupt auf dem Verhandlungstisch? Momentan fungiert das Stichwort "Neutralität" vor allem als eine Art Türöffner für die ersten Verhandlungsrunden zwischen Russland und der Ukraine – wobei unklar ist, ob das irgendwo hinführen kann. Die zentralen Punkte, sowohl auf der russischen, als auch auf der ukrainischen Seite, zeigen, wie weit die Vorstellungen dabei auseinander liegen. Der russische Präsident Wladimir Putin hat drei zentrale Maximalforderungen genannt. Erstens: Neutralität der Ukraine, verbunden mit einer Entmilitarisierung Zweitens: Anerkennung der Krim als Teil Russlands Drittens: Anerkennung der Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken im Donbass Das Ziel eines Regimewechsels in Kiew, der im russischen Propaganda-Narrativ "Entnazifizierung" impliziert war, ist im Zuge der eigentlichen Verhandlungen kaum noch betont worden. Damit wird nun der ursprünglich angestrebte Regimewechsel in Kiew nicht explizit angesprochen und der Weg für direkte Gespräche zwischen Wladimir Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky offen gehalten. Selensky hat auf die russischen Verlautbarungen bisher deutlich ablehnend reagiert, insbesondere auf die Forderungen zwei und drei, die die territoriale Integrität der Ukraine infrage stellen. Auch eine mögliche Neutralität legt Selensky anders aus. Erstens: Er verwendet eine enge Definition von Neutralität und meint damit den Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft, die mit noch zu definierenden Sicherheitsgarantien durch eine größere Anzahl von Garantstaaten (darunter die USA, Großbritannien, Frankreich, Russland, oder auch die Türkei, Polen, Israel) abgesichert werden soll. Diese Sicherheitsgarantien und die Frage, wie sie durchgesetzt werden können, sind der eigentliche Knackpunkt. Zweitens: Eine Entmilitarisierung wird von der Ukraine abgelehnt. Drittens: Es besteht Selbstbestimmungsrecht in der politischen und wirtschaftlichen Westorientierung der Ukraine (EU-Integration). Die mehrheitliche gesellschaftliche Zustimmung in der Ukraine für die NATO-Mitgliedschaft ist seit 2019 gestiegen und bleibt auch jetzt im Krieg hoch. Daher ist unklar, ob ein möglicher Kompromiss seitens Selenskys überhaupt auf die nötige gesellschaftliche Akzeptanz stoßen würde. Der ukrainische Präsident hat ein Referendum über ein Abkommen angekündigt. Territoriale Fragen der Ukraine würden dabei voraussichtlich noch kontroverser in der Bevölkerung aufgenommen als ein Verzicht auf einen NATO-Beitritt. Gwendolyn Sasse 3. War die Ukraine bislang nicht sowieso neutral? Die Kurzversion: Ja, die Ukraine gehört weder der NATO noch der EU an. Für die Ukraine gab und gibt es mittelfristig auch keine Perspektive, in die NATO aufgenommen zu werden. Was die EU angeht, hat sich dagegen seit dem Assoziierungsabkommen von 2014 eine potentielle Beitrittsperspektive eröffnet, wobei der Weg zum offiziellen Status als Beitrittskandidat noch weit ist. Die Beantwortung dieser Frage ist jedoch etwas komplizierter und hilft zu verstehen, dass es zu einfach ist, eine Art "neutrale" Ukraine als schnelle Lösung für den derzeitigen Krieg anzusehen. Also von vorn: Die Ukraine war und ist bündnisfrei, besaß jedoch nie einen offiziell "neutralen" Status (wie etwa Finnland). Zugleich hatte die Ukraine seit 1994 mit dem Budapester Memorandum einen gewissen Schutzstatus genossen. Die Außen- und Sicherheitspolitik war seither davon geprägt, sowohl in Richtung EU und NATO also auch in Richtung Russland zu blicken – je nachdem, ob der prorussische Viktor Janukowitsch oder prowestliche Kräfte wie Viktor Juschtschenko in Regierungsämtern waren. Unter Juschtschenko erhielt die Ukraine auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 eine grundsätzliche Beitrittsperspektive (neben Georgien). Hintergrund waren Ängste um die territoriale Integrität mit Russland als direktem Nachbarn und seinem Flottenstützpunkt auf der Krim, während ein Konflikt um die Lieferung russischen Gases schwelte. Der Fünf-Tage-Krieg zwischen Russland und Georgien nur kurze Zeit später bestätigte solche Ängste. Damit wurde jedoch die NATO zögerlich. Wegen Bedenken, Länder aufzunehmen, die eine mögliche Konfrontation mit Russland als Bündnisfall mit sich bringen könnten, rückte eine Mitgliedschaft auch für die Ukraine schlagartig in die Ferne. Mit Janukowitsch zurück im höchsten Staatsamt, ab 2011, erklärte sich die Ukraine sogar per Gesetz zu einem Staat ohne militärisches Bündnis. Als Janukowitsch auf Druck aus Moskau EU-Annäherungen stoppte, löste das im Winter 2013/14 die Maidan-Revolution gegen ihn aus. In der Folge annektierte Russland die Krim. Nur wenige Wochen später wurde der politische Kurs, in die NATO und die EU zu streben, von der neuen ukrainischen Regierung umso hartnäckiger wieder aufgenommen. Mit zunehmender Bedrohung wurden Allianzen verstärkt gesucht. Cindy Wittke, Stefan Wolff 4. Was soll das überhaupt sein – ein "neutrales" Land – wenn man es auf dem Reißbrett entwirft? Neutral kann ein Land in zwei Hinsichten sein: Zum einen, wenn ein Land sich nicht in geopolitische Rivalitäten von Großmächten einmischt – was in der Praxis einer Nicht-Paktgebundenheit entspricht. Oder zum anderen auch dann, wenn ein Land grundsätzlich im Kriegsfall seine Neutralität wahrt (abgesichert über einen entsprechenden "völkerrechtlichen Status"). Neutralität bedeutet damit nicht zwangsläufig eine Entmilitarisierung: Es gibt auch eine sogenannte bewaffnete Neutralität. Sie räumt neutralen Staaten zumeist das Recht ein, eigene Streitkräfte zur Landesverteidigung zu unterhalten. Was dann sogar umso wichtiger ist, um sich gegen Angriffe selbst wehren zu können. Traditionell war ein neutraler Status in zurückliegenden Jahrhunderten vor allem zum Schutz kleiner Staaten gedacht, insbesondere in Kriegszeiten. Daraus erklärt sich auch, dass in Bezug auf die Ukraine beim Stichwort "Entmilitarisierung" und/oder "Neutralität" viele, zum Teil sehr verschiedene Schlagworte wie "Finnlandisierung" fallen, beziehungsweise von einem schwedischen oder von einem österreichischen Weg die Rede ist. Cindy Wittke, Stefan Wolff 5. Was ist mit der Idee einer "Finnlandisierung" der Ukraine? Der Begriff "Finnlandisierung" bezieht sich auf den neutralen Status Finnlands, den das Land seit den 1940er Jahren inne hat. Der wurde zwar zu Sowjetzeiten anders mit Leben gefüllt als das seit Ende des Kalten Krieges geschieht. Entscheidend aber ist, dass er weder damals noch heute ein passendes Modell für die Ukraine liefert. Um das vor Augen zu führen, zunächst kurz zu den völkerrechtlich relevanten Prinzipien, auf denen das finnische Modell fußt: Es gibt eine gegenseitige Nichtangriffs-Garantie, eine gegenseitig zugesicherte Bündnisfreiheit und Begrenzungen der finnischen Streitkräfte, die in ihrer Größe und Ausrüstung lediglich Aufgaben der inneren Sicherheit und der Landesverteidigung entsprechen dürfen. Zugleich werden die Souveränität und territoriale Integrität Finnlands bekräftigt. Vertragspartner war einst die Sowjetunion, heute ist es der Rechtsnachfolger Russland. Insofern bestehen die ursprünglich zu Sowjetzeiten geschlossenen Verträge fort. Doch die finnische Regierung hat sich Anfang der 1990er Jahre entschieden, das Land innerhalb des neutralen Status anders aufzustellen: So ist Finnland zwar nicht Mitglied der NATO, wohl aber Teil aller Partnerschaftsprogramme der NATO2 geworden und seit 1995 auch vollwertiges EU-Mitglied. Das Kernproblem bei der Idee einer neutralen Ukraine nach finnischem Vorbild: Die gegenwärtig bekannten russischen Forderungen gehen weit darüber hinaus. Russlands Vorstellung nach dürfte es keinerlei Armee geben, auch keinerlei Assoziierung mit Militärbündnissen wie der NATO. Damit wäre die Ukraine wehrlos. Russland würde sich de facto Einfluss auf den Nachbarn sichern, so wie es der Sowjetunion in Finnland bis zum Ende des Kalten Krieges schon gelang3 – weil die Bedrohung durch eine Atommacht ohne andere Schutzalternativen zu groß war. Zudem bieten die (völkerrechtlichen) Grundlagen zur finnischen Neutralität so oder so nicht die notwendigen Sicherheitsgarantien, die die Ukraine mit Blick auf die Erfahrungen aus Krim-Annexion und laufendem Angriffskrieg erwarten würde. Ob eine Aggression Russlands damit eingehegt werden kann, ist daher fraglich. Cindy Wittke, Stefan Wolff 6. Schweden oder Österreich – sind vielleicht das die passenderen Modelle? Die Modelle von Schweden und Österreich sind ebenfalls in die Diskussion eingebracht worden. Beide sind aber noch weniger als eine "Finnlandisierung" dazu geeignet, um auf die Ukraine angewendet zu werden, weil keine vertraglich verbindlich festgehaltenen Sicherheitsgarantien existieren – die aber bräuchte es jetzt. Schwedens Neutralität war freiwillig, also ohne jegliche Vertragsbindung und geht in die Zeit der napoleonischen Kriege im frühen 19. Jahrhundert zurück. Daher war die Umsetzung auch relativ uneben und besonders im Zweiten Weltkrieg hat Schweden seine neutrale Position nicht gehalten: Die Regierung hat Nazideutschland sowohl wirtschaftlich unterstützt als auch den Transit deutscher Truppen an die Ostfront ermöglicht. Nach 1945 war Schweden zwar weiterhin formell neutral, hat sich aber immer stärker auch militärisch an den Westen angelehnt und ist analog zu Finnland seit 1995 EU-Mitglied, wenngleich in militärischer Hinsicht weiter bündnisfrei. Österreich ist ein weiterer Fall, der in der Diskussion um eine neutrale Ukraine eine Rolle spielt. Im Fokus stehen vor allem die zwischen Österreich und der damaligen Sowjetunion geschlossenen Abmachungen aus den frühen 1950er Jahren, mit denen Österreich seine Souveränität wiedererlangte. Die Neutralität des Landes ist in der Verfassung und in einem separaten Verfassungsgesetz verankert worden. Es gibt hier, wie im Falle von Schweden, keine Sicherheitsgarantien. Außerdem hat Österreich sich über die Jahrzehnte strikt vorbehalten, selbst zu entscheiden, was mit seiner Neutralität vereinbar ist. Das hat unter anderem dazu geführt, dass es 1995 zu einer Novellierung des Verfassungsgesetzes zur Neutralität kam, so dass der Weg in die Europäische Union geebnet werden konnte – einschließlich einer Beteiligung an der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union. Angesichts der russischen Forderungen ist es schon erstaunlich, dass diese Staaten überhaupt als Modelle einer vermeintlich einfachen Lösung herangezogen werden: Denn für sie sind eine EU-Mitgliedschaft und Kooperationen mit der NATO über die vergangenen Jahrzehnte zu einem wesentlichen Teil ihrer Außen- und Verteidigungspolitik geworden. Das zeigt sich auch im russischen Angriffskrieg selbst: Sowohl Finnland als auch Schweden haben Waffen an die Ukraine geliefert; Österreich hat der NATO erlaubt, seinen Luftraum für Überflüge zu nutzen. Gwendolyn Sasse, Stefan Wolff Quellen / Literatur Das FAQ #3 "Neutrale Ukraine – ein Ausweg aus dem Krieg?" erschien am 01.04.2022 auf dekoder.org und ist unter folgendem Link abrufbar: Externer Link: https://www.dekoder.org/de/article/faq-neutralitaet-ukraine-nato-russland-krieg. Der erste Teil der Reihe, "Wie hat Wladimir Putin den Krieg begonnen, und wie rechtfertigt er ihn?", ist unter diesem Link abrufbar: Externer Link: https://www.dekoder.org/de/article/putin-angriffskrieg-ukraine-faq. Der zweite Teil der Reihe, "Wie kann man diesen Krieg beenden?", ist unter diesem Link abrufbar: Externer Link: https://www.dekoder.org/de/article/faq-ukraine-krieg-frieden-diplomatie. Die Redaktion der Ukraine-Analysen dankt unserem langjährigen Partner Dekoder und den Autor:innen für die Erlaubnis zum Nachdruck. Das FAQ #3 "Neutrale Ukraine – ein Ausweg aus dem Krieg?" erschien am 01.04.2022 auf dekoder.org und ist unter folgendem Link abrufbar: Externer Link: https://www.dekoder.org/de/article/faq-neutralitaet-ukraine-nato-russland-krieg. Der erste Teil der Reihe, "Wie hat Wladimir Putin den Krieg begonnen, und wie rechtfertigt er ihn?", ist unter diesem Link abrufbar: Externer Link: https://www.dekoder.org/de/article/putin-angriffskrieg-ukraine-faq. Der zweite Teil der Reihe, "Wie kann man diesen Krieg beenden?", ist unter diesem Link abrufbar: Externer Link: https://www.dekoder.org/de/article/faq-ukraine-krieg-frieden-diplomatie. Die Redaktion der Ukraine-Analysen dankt unserem langjährigen Partner Dekoder und den Autor:innen für die Erlaubnis zum Nachdruck.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-04-28T00:00:00
2022-04-25T00:00:00
2022-04-28T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/nr-266/507513/dekoder-neutrale-ukraine-ein-ausweg-aus-dem-krieg/
Ob die Neutralität der Ukraine zu einem Ende des russischen Angriffskrieges führen könnte, lässt dekoder im dritten Teil ihrer FAQ von Wissenschaftler:innen beantworten.
[ "Ukraine", "Ukraine", "Ukraine", "Russland", "Russland", "Russland", "Schweden", "Schweden", "Schweden", "Österreich", "Österreich", "Österreich", "Finnland", "Finnland", "Beziehungen zu den Staaten der ehemaligen Sowjetunion", "Beziehungen zu sonstigen Staaten", "Beziehungen zur NATO", "Russlands Angriffskrieg 2022" ]
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Jugendproteste – blockierte Statuspassagen als einigendes Band | Protest und Beteiligung | bpb.de
Weltweit haben im Jahre 2011 überwiegend junge Menschen gegen autoritäre Regime, soziale Missstände und die Macht der Banken und Ratingagenturen protestiert. 2011 wurde – in Analogie zu 1968 – deshalb vielfach als Jahr der Jugendproteste tituliert. Allerdings sind diese Proteste nur die medial wahrgenommene Spitze des Eisbergs von jugendlichem Protestverhalten seit der Jahrtausendwende. Erinnert sei an die überwiegend von Jugendlichen getragenen globalisierungskritischen Proteste gegen internationale Gipfeltreffen in Seattle (1999) und Genua (2001) oder die brennenden französischen Vorstädte im Jahre 2006. Trotz der Vielfalt an Aktionsformen und Zielen der Proteste eint die Jugendlichen mehr als das Alter und die damit verbundene Bereitschaft, aufzubegehren und Risiken einzugehen: Die Proteste sind Ausdruck von blockierten Statuspassagen, der Sorge um die eigene Zukunft und um den Platz in der Gesellschaft. Hindernislauf in die Welt der Erwachsenen Weltweit gibt es derzeit 1,2 Milliarden Jugendliche, davon leben 90 Prozent in Ländern des globalen Südens, hiervon mehr als die Hälfte in Indien und China. Jugend ist eine Lebensphase des Übergangs vom Leben im privaten Umfeld primärer Netzwerke (Familie, Clan, Gemeinschaft) in den öffentlichen Raum der Gesellschaft. Dieser Weg ist in allen Gesellschaften mit bestimmten, aber unterschiedlichen Wegmarken oder Ritualen verbunden, in denen Jugendliche aktiver Teil der Gesellschaft werden und ihnen Verantwortung für das eigene Leben, aber auch für das jeweilige Gemeinwesen übertragen wird. Wie Jugendliche diese Statuspassagen bewältigen (sollen), ist abhängig von Mustern der Sozialisation durch Familie, Schule, Nachbarschaft, aber auch Peergruppen, Medien, Normen und Werten. Das private und gesellschaftliche Umfeld produziert sowohl bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen hierzu bestimmte Erwartungen, die vielfach Ursache von Konflikten zwischen den Generationen sind (wie etwa in Bezug auf die Wahrung religiöser Vorschriften oder Lebensweisen). Trotz aller Unterschiede gibt es drei zentrale Statuspassagen ins Erwachsenenleben, die weltweit bedeutsam sind, auch wenn sich ihr konkreter Stellenwert unterscheidet und sie in hohem Maße geschlechtsspezifisch sind. Heirat und Familiengründung. Dies war und ist in den meisten Gesellschaften, insbesondere in den Ländern des globalen Südens, nach wie vor der wichtigste Markstein für das Erwachsensein. In Entwicklungsländern heiratet mehr als ein Drittel der Mädchen, bevor sie das 18. Lebensjahr erreicht haben. Eintritt in den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Unabhängigkeit von den Eltern oder anderen Familiennetzwerken. Obwohl die Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen stets höher ist als bei Erwachsenen, hat die Finanzkrise der vergangenen Jahre vor allem, aber nicht nur, in den entwickelten Industrieländern verheerende Folgen für Jugendliche gehabt. Weltweit waren 2011 fast 75 Millionen Jugendliche (15- bis 24-Jährige) arbeitslos, vier Millionen mehr als 2007. Weit größer als die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen ist die Zahl derjenigen, die zwar arbeiten, davon aber kaum überleben können. Dies betrifft vor allem Jugendliche in Subsahara Afrika und Südasien. Erwerb und Ausüben von Bürgerrechten. Die hiermit verbundenen Marker sind vom politischen System und den spezifischen Möglichkeiten der Partizipation abhängig. Dies umfasst unter anderem das aktive und passive Wahlrecht, aber auch andere Formen der Partizipation an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen, die vielfach stark geschlechtsspezifisch sind. Diese drei Statuspassagen hängen eng miteinander zusammen. Längere und bessere Ausbildung verlängert nicht nur die Lebensphase Jugend in fast allen Weltregionen, sondern verbessert die Chancen auf dem formalen Arbeitsmarkt, führt zu späterer Familiengründung und weniger Schwangerschaften. (Zwar hat sich die Lücke zwischen Jungen und Mädchen beim Besuch der Primarschule weltweit verringert, es bleiben aber gravierende Differenzen im Sekundarschulbereich und darüber hinaus bestehen. Dies spiegelt Unterschiede in Bezug auf Reichtum, den Wohnort (Stadt oder Land) und Geschlecht wider: Mädchen aus den ärmsten Haushalten haben weltweit die geringste Chance in die Schule zu gehen, während Jungen aus den reichsten Haushalten am seltensten Schulabbrecher sind.) Ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Unabhängigkeit ist gleichzeitig eine zentrale Voraussetzung zur Familiengründung. Bürgerrechte und Partizipation eröffnen schließlich Möglichkeiten, sich für Veränderung einzusetzen. Eine neue Studie der International Labour Organization (ILO) weist deshalb zu Recht darauf hin, dass hohe Jugendarbeitslosigkeit nicht nur ein aktuelles Problem für die Betroffenen selbst ist; auch für die Gesellschaften hat sie gravierende Langzeitfolgen, weil die Perspektivlosigkeit von Jugendlichen zu wachsendem Misstrauen in das politische und wirtschaftliche System beiträgt. Die hiermit verbundenen Problemlagen zeigen sich vor allem dort, wo der Übergang ins Erwachsenenleben durch wirtschaftliche, soziale oder politische Entwicklungen blockiert wird. In einigen Gesellschaften Afrikas, des Nahen Ostens, aber auch in Europa gelten nicht selten über 30-Jährige noch als Jugendliche, weil sie ohne eigenes Einkommen bleiben, wirtschaftlich von den Eltern oder Familien abhängig sind und deshalb keine eigene Familie gründen können. Im Nahen Osten spricht man daher von einer „Generation im Wartestand“, in Deutschland von der „Generation Praktikum“. Aber auch in anderen Kontexten gleicht das Erwachsenwerden einem Hindernislauf mit ungewissem Ausgang. Auch wenn dies nicht überall zu Protest führt, zeigt eine Analyse der prekären Lebenswelten von Jugendlichen die strukturellen Ursachen vieler Proteste auf. Prekäre Lebenswelten Drei Prozesse beeinflussen jugendliche Lebenswelten weltweit: demografische Entwicklungen, Urbanisierung und Migration sowie nicht zuletzt die Globalisierung. Demografische Veränderungen sind ein zentraler Bestandteil von Prozessen des sozialen Wandels. Anfang November 2011 haben die Vereinten Nationen den siebenmilliardsten Weltbürger willkommen geheißen. Sowohl die Region, in welcher dieses Kind geboren wurde, als auch die demografischen Gegebenheiten im unmittelbaren Umfeld wirken sich entscheidend auf dessen konkrete Lebensperspektiven aus. Weltweit nimmt der Anteil der Jugendlichen an der Bevölkerung in den nächsten Jahren ab, allerdings sind die Unterschiede zwischen Industriegesellschaften und Entwicklungsländern sowie zwischen den einzelnen Weltregionen sehr groß. Deutschland beispielsweise hat eine stetig älter werdende Bevölkerung, was zumindest theoretisch die Chancen junger Menschen auf dem Arbeitsmarkt verbessert, gleichzeitig aber die politischen Prioritäten zugunsten der Älteren verschiebt und die Sozialversicherungssysteme unter Druck setzt. Dennoch sind Jugendliche auch hier mit einem hohen Maß an „Zukunftsunsicherheit“ konfrontiert. Im Gegensatz hierzu ist in den ärmsten Ländern des globalen Südens mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter 20 Jahre alt. Gerade diese Gesellschaften werden in den kommenden Jahrzehnten weiter wachsen. Auch Migration und Urbanisierung beeinflussen die Lebenswelten und damit die Statuspassagen von Jugendlichen weltweit. In Agrargesellschaften wachsen Jugendliche nach wie vor allmählich in die Erwachsenenwelt hinein und übernehmen sukzessive gesellschaftliche Aufgaben. Allerdings haben sie dort vielfach über den Primarschulbereich hinaus keinen Zugang zu Bildung. Migration und Urbanisierung bieten hier einen Ausweg. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass Jugendliche weltweit ein Drittel der grenzüberschreitenden Migranten stellen. Die Zahl derjenigen, die innerhalb der Landesgrenzen migrieren, ist sicher noch wesentlich höher, auch wenn es hierfür keine international vergleichbaren Daten gibt. 2010 war vermutlich das erste Jahr in der Menschheitsgeschichte, in dem die Mehrheit der Bevölkerung in Städten wohnte. Die am schnellsten wachsenden Städte der Welt liegen in den Ländern des globalen Südens – angeführt von Mumbai und Mexico-City mit etwa 20 Millionen Einwohnern und zahlreichen Metropolen um die zehn Millionen Einwohner (wie etwa Kairo, Manila, Lagos, Jakarta). Migration und Urbanisierung sind für Jugendliche aber nicht nur mit Chancen, sondern auch mit Gefahren verbunden: Sie bleiben in den Städten vielfach sich selbst überlassen, sorgen als Familienoberhaupt für jüngere Geschwister oder müssen arbeiten und zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Die damit verbundenen Konflikte hat bereits Charles Dickens in seinem Roman „Oliver Twist“ für das London des 19. Jahrhunderts eindrucksvoll beschrieben. Das Überleben in den Slums von Kalkutta oder den Favelas von Rio de Janeiro heute ist anders, aber nicht einfacher. Auch hier fehlt die gerade für Kinder und Jugendliche wichtige soziale Infrastruktur vor allem im Gesundheits- und Bildungswesen; informelle Netzwerke ersetzen zumindest teilweise staatliche Institutionen. Die wachsende Vernetzung der Welt im Kontext der Globalisierung führt schließlich dazu, dass sich die Anforderungen an und die Möglichkeiten für die Jugendlichen grundlegend ändern. Dies gilt zum einen für die Nutzung der neuen digitalen Medien. Hier sind Jugendliche der Generation ihrer Eltern weit voraus. Auch wenn vor allem Jugendliche aus der Mittel- und Oberschicht Zugang zu diesen Technologien haben, wächst die Zahl der Internetnutzer weltweit gerade auch in Ländern des globalen Südens: Die Dichte der Internetzugänge in der Bevölkerung ist in Nordamerika am höchsten, gefolgt von Australien/Ozeanien und Europa; in Subsahara Afrika und dem Nahen Osten sind allerdings die Zuwachsraten der Internetnutzung am größten. Die neuen sozialen Medien wie Facebook und Twitter beschleunigen nicht nur die globale Kommunikation, sondern werden – wie im „Arabischen Frühling“ – gerade von jungen Menschen zur Organisation von und Mobilisierung zu Protesten genutzt. Gleichzeitig verändert die Globalisierung die Voraussetzungen für den Eintritt in den Arbeitsmarkt. Dabei ist nicht nur Bildung an sich, sondern die jeweils für die globalisierte Wirtschaft passende Bildung der Schlüssel für den Übergang in die ökonomische Unabhängigkeit. In vielen Gesellschaften sind nicht etwa diejenigen Jugendlichen arbeitslos, die über keinerlei Bildung verfügen, sondern vielfach jene, die einen Sekundär- oder Universitätsabschluss haben. In Ägypten liegt die Arbeitslosigkeit junger Universitätsabsolventen zehnmal höher als die von jungen Menschen, die lediglich einen Grundschulabschluss haben. Neben dem Mangel an Jobs gibt es außerdem vielfach eine starke Diskrepanz zwischen Ausbildung und persönlichen Vorstellungen einerseits und den Erfordernissen des jeweiligen Arbeitsmarktes andererseits. Für Universitätsabsolventen in Lateinamerika und dem Nahen Osten ist beispielsweise die öffentliche Verwaltung nach wie vor der bevorzugte Arbeitgeber. Angesichts leerer Kassen und einer vielfachen Steuerung des Zugangs über persönliche Klientelbeziehungen bleibt diese Arbeitsplatzperspektive aber vielen Absolventen verschlossen. Angesichts solch prekärer Lebenswelten werden junge Menschen vielfach als Risikofaktor für die gesellschaftliche Stabilität oder sogar für die internationale Sicherheit wahrgenommen. Vor allem mit Bezug auf die arabische Welt hat die sogenannte youth-bulge-These an Popularität gewonnen. Von einer Jugendblase (youth bulge) wird gesprochen, wenn der Anteil der 15- bis 24-jährigen Menschen an der Gesamtbevölkerung überproportional (über 20 Prozent) groß ist. Weltweit beträgt der Anteil der Jugendlichen zurzeit 17,6 Prozent. Als konfliktträchtig gilt dabei vor allem eine Kombination aus einem hohen Anteil junger Männer ohne Perspektiven auf eine Integration in den Arbeitsmarkt und das politische System. Diese Debatte fokussiert überwiegend auf die strukturellen Bedingungen, die junge Menschen dazu bewegen, sich an politischer Gewalt zu beteiligen. Die Radikalisierung und die Überschreitung gesellschaftlicher Grenzen wird Jugendlichen meist aufgrund einer höheren Risikobereitschaft und geringeren Einbindung in den Status quo zugeschrieben. Allerdings gibt es hier selbst unter schwierigsten Bedingungen keinen Automatismus zwischen prekären Lebenswelten und Protest oder gar Gewalt. Wäre das der Fall, müssten wesentlich mehr junge Menschen protestieren und gewaltsam agieren. Damit prekäre Lebenswelten zu Protestverhalten führen, sind drei weitere Schritte notwendig: Erstens muss ein Interpretationsrahmen zur Verfügung stehen, der diese prekären Lebenswelten nicht als „normal“ oder „gottgegeben“ erscheinen lässt. Zweitens muss eine Zuweisung der Verantwortlichkeit an konkrete Personen erfolgen. Schließlich benötigt die kollektive Aktion einen Auslöser. Die Jugendproteste des Jahres 2011 zeigen vor allem bei der Zuweisung konkreter Verantwortlichkeit sowie bei den spezifischen Auslösern ein hohes Maß an Varianz. Diese Unterschiede hängen eng mit den Formen der Sozialisation und zentralen gesellschaftlichen Problemen zusammen, beispielsweise mangelnden Kanälen der politischen Partizipation in autoritären Regimen. Mobilisierung und soziale Kohäsion Mobilisierung für gemeinsames Handeln ist eng verbunden mit bestehenden Formen der sozialen Kohäsion und kollektiven Identität, die sich allerdings im Prozess des sozialen Wandels nicht nur verändern, sondern auch vervielfachen. Unter dem Fokus auf Jugendliche ist die Frage entscheidend, ob und wie junge Menschen in diese bestehenden Muster integriert werden. Dabei unterscheidet sich vor allem die Art und Weise, wie Jugendliche und Erwachsene an den Sozialisationsprozessen beteiligt sind. In vielen Fällen werden Jugendliche von Erwachsenen begleitet, angeleitet oder kontrolliert, beispielsweise in den Jugendorganisationen von politischen Parteien, Gewerkschaften oder Religionsgemeinschaften. Sozialisationsprozesse unter Kontrolle der Erwachsenen haben einen konservativen Bias und zielen insbesondere darauf ab, die bestehende soziale Ordnung entweder zu bewahren oder im Sinne der Erwachsenen zu verändern. Der Spielraum für Wandel und Veränderung ist hier begrenzt beziehungsweise abhängig von der Flexibilität und Offenheit der gesellschaftlichen Institutionen. Allerdings gibt es auch Formen der Sozialisation, die von Jugendlichen mehr oder minder autonom organisiert werden. Zwar existieren bisweilen auch hier hierarchische Strukturen; aber zumindest die Altersunterschiede sind wesentlich geringer, was nicht zwingend mit egalitären Machtstrukturen einhergeht. Das Fehlen der Überwachung und Kontrolle durch Erwachsene führt dazu, dass diese Peergruppen-Aktivitäten vielfach skeptisch gesehen werden. Insbesondere wenn Jugendliche im öffentlichen Raum herrschende Regeln und Konventionen überschreiten, werden sie als „außer Rand und Band“ oder „außer Kontrolle“ betrachtet. Die Frage des politischen Regimes spielt hier eine wichtige Rolle. Demokratische Systeme bieten Jugendlichen – zumindest theoretisch – ab Erreichen des Wahlalters gleichberechtigte Teilhabe, während diese in autoritären Regimen auf der Mitgliedschaft in politischen, sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppen oder Klientelnetzwerken basiert. Langzeitstudien zur politischen Partizipation von Jugendlichen zeigen, dass deren frühzeitiges Engagement langfristige Auswirkungen auf die von ihnen vertretenen Normen und Werte hat und ein guter Indikator für ihre politischen Einstellungen als Erwachsene ist. Jugendliche benötigen folglich nicht nur eine Stimme (bei Wahlen oder anderen Entscheidungsprozessen), wenn sie zu verantwortungsvollen Bürgerinnen und Bürgern heranwachsen sollen, sondern darüber hinaus eine aktive Rolle in der Gestaltung ihrer Lebenswelten. Da öffentliche Politik in den meisten Ländern überwiegend von Erwachsenen für Erwachsene gemacht wird, können sich Jugendliche meist nur durch öffentlichen und lautstarken Protest Gehör verschaffen. Proteste 2011 – same but different Jugendliche haben sich 2011 alleine oder gemeinsam mit anderen Gruppen und Organisationen weltweit an Protestbewegungen beteiligt. Vorher gab es überall spezifische Ereignisse oder Entwicklungen, die kollektives Handeln ermöglichten. In Chile wurden durch die Ablehnung der Veränderung des Statuts der Zentraluniversität Proteste belebt, die sich schon in den Jahren davor gegen die Privatisierung von Schulen und Universitäten gerichtet hatten. In Tunesien war es die Selbstverbrennung eines jungen Gemüsehändlers, der von der Polizei schikaniert worden war. In London war es der Tod eines 29-Jährigen bei einem Polizeieinsatz. Die ersten Proteste und Gewaltakte finden vielfach Unterstützer und Nachahmer mit unter Umständen gleichen, teilweise aber auch gänzlich anderen Zielsetzungen. So sieht sich die Occupy-Wallstreet-Bewegung explizit in der Nachfolge der Proteste des „Arabischen Frühlings“, auch wenn ihr Thema der übergroße Einfluss der Banken und Ratingagenturen ist. Gleichzeitig kann sie an die Proteste gegen die internationalen Gipfeltreffen beispielsweise der Welthandelsorganisation anknüpfen. Für den Fortgang und die Eskalation spielte die Reaktion der jeweiligen Regierung und der Sicherheitskräfte eine zentrale Rolle. Der Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Formen des Protests und dem politischen Regime ist bisher nur unzureichend empirisch untersucht, spielte 2011 aber offensichtlich eine wichtige Rolle. Im „Arabischen Frühling“ waren Jugendliche stark politisiert und forderten die Öffnung der autoritären Systeme. In den demokratischen Regierungssystemen Lateinamerikas wird der Protest gegen gesellschaftliche Probleme wie Ungleichheit und fehlende Zukunftsperspektiven dagegen überwiegend als punktuelle Gewalteskalation, Überlebenskriminalität und politische Apathie wahrgenommen. Die politischen Forderungen der chilenischen Studentenbewegung haben dagegen gezeigt, dass es auch anders geht. Letztlich spiegeln die Jugendproteste des Jahres 2011 weltweit zwei eng miteinander verknüpfte Konfliktlagen wider: den blockierten Weg in die ökonomische Unabhängigkeit und die fehlende Beteiligung an der Entscheidung politischer Fragen, welche für die Realisierbarkeit von Zukunftschancen entscheidend sind. In vielen Regionen ermöglichen das Bildungssystem und der Arbeitsmarkt es jungen Menschen nicht, eine zukunftsfähige Ausbildung zu erhalten oder Arbeit zu finden. In Chile richtet sich der Protest gegen ein Bildungssystem, das in höchstem Maße kommerzialisiert und privatisiert ist, weshalb es soziale Mobilität verhindert. In Spanien und auch in vielen Ländern des Nahen Ostens ist die Arbeitslosigkeit gerade bei gut ausgebildeten jungen Menschen besonders hoch. Aber selbst dort, wo Jugendliche Arbeit haben, ist der Anteil derer, die von dieser Arbeit nicht überleben können, beträchtlich. Hier versagen die politischen Systeme offensichtlich und zwar unabhängig davon, ob sie demokratisch oder autoritär sind. Die Probleme der Jugendlichen, die 2011 auf die Straßen gingen, waren lange bekannt. Dennoch wurden keinerlei Maßnahmen zu deren Überwindung eingeleitet. Ob die Proteste gewalttätig werden – wie bislang in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien, Griechenland und Großbritannien –, wird auch davon abhängen, ob Jugendliche nicht nur in Sonntagsreden als zentrale Akteure für die Zukunft ernst genommen werden. Wo dies nicht geschieht, können zunächst punktuelle Proteste durchaus in die Systemfrage münden. Dies gilt für die Gesellschaften des „Arabischen Frühlings“ ebenso wie für Lateinamerika, Afrika und Asien. Überall werden junge Menschen gern für politische Zwecke mobilisiert (und kontrolliert), aber nur selten erhalten sie Spielraum für autonome Organisation oder die Formulierung (geschweige denn die Umsetzung) alternativer Lebenswelten. Die 1,2 Milliarden Jugendlichen in den Ländern des globalen Südens sind schon quantitativ eine zu große Gruppe, als dass sie sich ignorieren ließen. Ihre Probleme sollten dagegen als Seismograf und Frühwarnsystem für grundlegende gesellschaftliche Probleme dienen. Dies würde es ermöglichen, Jugendliche in Gesellschaften zu integrieren, die flexibel und offen auf Reformbedarf reagieren. Eine allgemein gültige Definition von Jugend existiert nicht, da dies ein in hohem Maße historisch und kulturell gebundenes Konzept ist. In der Regel erfolgt eine Definition entlang des Alters, meist die Gruppe der 15- bis 24- oder 29-Jährigen. Vgl. United Nations Department of Economic and Social Affairs (UN DESA), World Youth Report 2003, New York 2003; ders., World Youth Report 2005, New York 2005; ders., World Youth Report 2007, New York 2007; World Bank, World Development Report 2007, Washington, DC 2007. Vgl. zum Begriff Jugendprotest und dessen mangelnder Trennschärfe: Klaus Weinhauer, Urbane Jugendproteste, Jugendbanden und soziale Ungleichheit seit dem 19. Jahrhundert, in: Arne Schäfer/Matthias D. Witte/Uwe Sander (Hrsg.), Kulturen jugendlichen Aufbegehrens, Weinheim–München 2011, S. 25–55. Vgl. Corinna Hauswedell/Sabine Kurtenbach, In War as in Peace?, Rehberg 2008; A. Schäfer/M.D. Witte/U. Sander (Anm. 1). Die Weltbank gab diese Zahl in ihrem Weltentwicklungsbericht 2006 für die Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen an. Vgl. auch: UNICEF, Progress for Children, New York 2012. Vgl. Klaus Hurrelmann, Lebensphase Jugend, Weinheim–München 201010. Vgl. Jeffrey J. Arnett, Broad and narrow socialization, in: Journal of Marriage and the Family, 57 (1993) 3, S. 617–628; Richard E. Dawson/Kenneth Prewitt/Karen S. Dawson, Political Socialization, Boston–Toronto 1973; K. Hurrelmann (Anm. 4), S. 81–156; Jere R. Behrman/Sengupta Piyali, Changing Contexts in Which Youth are Transitioning to Adulthood in Developing Countries, in: Cynthia B. Lloyd et al. (eds.), The Changing Transitions to Adulthood in Developing Countries, Washington, DC 2005, S. 13–55. Vgl. Nancy Foner (ed.), Across Generations, New York–London 2009. Vgl. UNICEF (Anm. 3), S. 4. Vgl. ILO, Global Employment Trends 2012, Genf 2012. Vgl. United Nations, The Millennium Development Goals Report 2010, New York 2010. Vgl. ILO (Anm. 8). Navtej Dhillon/Paul Dyer/Tarik Yousef, Generation in the Waiting, Washington, DC 2009, S. 11–38. Vgl. Sabine Kurtenbach/Rüdiger Blumör/Sebastian Huhn (Hrsg.), Jugendliche in gewaltsamen Lebenswelten, Baden-Baden 2010. Vgl. UNFPA, The State of World Population 2010, New York 2010; ders., State of the World Population 2011, New York 2011. Vgl. Mathias Albert et al., Jugend 2010. 16. Shell Jugendstudie, Frankfurt/M. 2010. Vgl. UN-Habitat, Slums of the World, Nairobi 2003; ders., Global Report on Human Settlements 2007, London 2007; Mike Davis, Planet of Slums, London–New York 2006; John M. Hagedorn, A World of Gangs, Minneapolis–London 2008. Vgl. www.internetworldstats.com/stats.htm (15.5. 2012). Vgl. Arab Social Media Report 2011, online: www.dsg.ae/social.aspwww.dsg.ae/portals/0/ASMR2.pdf (5.12.2011). Vgl. Jack Goldstone, Understanding the Revolutions of 2011, in: Foreign Affairs, 90 (2011) 3, S. 8–16. Vgl. UN DESA, World Youth Report 2009–2010, New York 2010, S. 95; Henrik Urdal, A clash of generations?, in: International Studies Quarterly, 50 (2006) 3, S. 607–629. Vgl. Barrington Moore, Ungerechtigkeit, Frankfurt/M. 1987, S. 178; Sylvia Terpe, Über Ungerechtigkeit, die Schwierigkeit kollektiven Aufbegehrens und die jugendliche (Neu-)Erfindung von Protest, in: A. Schäfer/M. D. Witte/U. Sander (Anm. 1), S. 73–86. Vgl. Miranda Yates/James Youniss (eds.), Roots of Civic Identity, Cambridge, MA–New York 1999, S. 8. Vgl. Wendy Cunningham et al., Youth at Risk in Latin America and the Caribbean, Washington, DC 2008. Vgl. James Youniss/Daniel Hart, Intersection of Social Institutions with Civic Development, in: New Directions for Child and Adolescent Development, 109 (2005), S. 73–81. Vgl. zu anderen Protesten von Kindern und Jugendlichen: Manfred Liebel, Soziale Ungleichheit und Jugendprotest in Lateinamerika, in: A. Schäfer/M.D. Witte/U. Sander (Anm. 1), S. 137–149.
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, Sabine Kurtenbach
2021-12-07T00:00:00
2012-06-11T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/138290/jugendproteste-blockierte-statuspassagen-als-einigendes-band/
2011 sind vor allem junge Menschen für politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel auf die Straße gegangen. Ihre Proteste sind Ausdruck von blockierten Statuspassagen, der Sorge um die eigene Zukunft und den Platz in der Gesellschaft.
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30,515
Geschlechtsspezifische Unterschiede im Umgang mit der Zeit | Zeitverwendung: Männer, Frauen, Kinder | bpb.de
Gesellschaftliche Zeitstrukturen Die Vorstellungen von und die Wahrnehmung der Zeit haben sich in einem langen geschichtlichen Prozess entwickelt. Der Umgang mit ihr ist das Ergebnis des jeweils herrschenden gesellschaftlichen Zeitempfindens, das sich aus der kulturellen Überformung vergangener Zeitbedeutungen speist. In welcher Weise eine Gesellschaft die Zeit zum Gegenstand ihrer Organisation macht, beeinflusst auch den individuellen und sozialen Umgang mit ihr. Die gesellschaftlichen Probleme des aktuellen Zeitstrukturwandels sind offenkundig: Flexibilisierungen der Arbeits- und Betriebszeiten haben zu sozialer Desynchronisation geführt, etwa mit der Folge, dass sich Fahrgemeinschaften auflösen, der Energieverbrauch in privaten Haushalten durch unterschiedliche Aktivitätszeiten ansteigt und es zu einem Verlust an Kontinuität und Stabilität in den zwischenmenschlichen Beziehungen kommt, deutlich zu erkennen an den steigenden Scheidungsraten. Inwieweit Zeitstrukturen die soziale Existenz und die Gesundheit beeinträchtigen, hat Jürgen Rinderspacher untersucht. Er ist zum Ergebnis gekommen, dass die zeitliche Normierung von Tätigkeiten und Bedürfnissen unter der Bedingung beschleunigter Handlungen und Prozesse im Widerspruch zum biologisch-sozialen Rhythmus der Personen stehen kann. Dieser Widerspruch stelle eine permanente Belastung dar, die pathogene Züge trage. Wie wirkt sich nun die aktuelle Zeitstrukturierung unserer Gesellschaft aus, gibt es Unterschiede in der Zeitbedeutung und der Zeitwahrnehmung zwischen den Geschlechtern, und hat sich die sozialstrukturelle Ungleichheit zwischen Mann und Frau gewandelt? Dies waren die zentralen Fragen einer Bevölkerungsbefragung (n = 150) des Gesundheitsamtes des Stadtverbandes Saarbrücken im März 2002 anlässlich des Gesundheitstages "Zeit(t)räume". Sie erfolgte anonym mittels eines standardisierten Fragebogens. Im vorliegenden Beitrag sollen die wichtigsten Ergebnisse referiert werden. Unterschiedliche Zeitbedeutungen Die Zeit als metaphysischer Bedeutungsgehalt, die individuellen Einstellungen und Haltungen zu ihr als nicht fasslichem Realitätskonstrukt standen im Blickpunkt der Frage "Was bedeutet Zeit für Sie?". Dabei wurde zwischen folgenden Haltungen differenziert: hohe Wertschätzung der Zeit, aktive Einstellung, passive, materielle, rationale und depressive Haltungen. Mehr als ein Drittel aller Befragten gab an, eine hohe Wertschätzung von der Zeit zu haben. Unterteilt nach Geschlechtergruppen war dies beinahe jede dritte (2,8) Frau und mehr als jeder dritte (3,4) Mann, d.h., Frauen maßen der Zeit als solche mehr Bedeutung zu als Männer. Ein Drittel der Befragten äußerte, eine aktive Einstellung zur Zeit zu besitzen; Zeit wurde mit etwas Lebendigem, Selbstbestimmtem, Gestaltbarem assoziiert, wobei die geschlechtsspezifische Abweichung hier nur gering war. Der Umgang mit der Zeit scheint für Frauen und Männer eine gleichwertige Bedeutung zu haben. Der metaphysische Bedeutungsgehalt der Zeit hat danach keine Auswirkungen auf die direkte Umsetzung in der Eigenzeit. Das bedeutet, dass die Sinnhaftigkeit der Zeit als solche bzw. ihre Seinserfahrung unabhängig von der eigenen zeitlichen Orientierung ist. 11 Prozent sowohl der Frauen als auch der Männer nahmen eine eher passive Haltung zur Zeit ein. Jeder Zehnte akzeptierte danach Zeitabläufe in ihrer aktuellen Erfahrbarkeit und wertete sie als eine Determinante im Lebenslauf, als etwas Schicksalhaftes. Das aktuelle gesellschaftliche Zeitregime spiegelte sich direkt in der Werthaltung wider, d.h., hier manifestierte sich die Haltung, dass die Person selbst nicht agiert, nur reagieren kann. Einstellungen, die einen materiellen Gegenwert zum Bezugspunkt Zeit haben wie z.B. "Geld" oder "Vermögenswert", wurden als materielle Haltung gewertet. Danach äußerten 10 Prozent der Befragten eine eher materielle Haltung, wobei es hier deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern gab. Nur jede vierzehnte Frau, aber jeder sechste Mann gewann der Zeit eine materielle Bedeutung ab. Einerseits spiegelte sich hier auch die unterschiedliche metaphysische Beziehung zur Zeit wider: Zeit wird von Frauen weniger mit einem Nutzeffekt in Beziehung gebracht. Andererseits wirkte sich die Rollenverteilung deutlich aus: Männer sahen in der Zeit eher einen geldwerten Vorteil, was der Rolle des Ehemannes und Vaters als Ernährer der Familie entspricht. Die Losung "Zeit ist Geld" ist danach eine männliche Konnotation. 3 Prozent der Befragten zeigten eine rationale Haltung zur Zeit. Das äußerte sich in Einstellungen wie "Uhrzeit", "Pünktlichkeit" oder "Maßeinheit", wobei diese Angaben nur von Frauen gemacht wurden. Der sorgfältige Umgang mit der Uhrzeit und Pünktlichkeit ist folglich eher eine Frauendomäne. Angesichts der Tatsache, dass nach den Sozialindikatoren der Befragten 76 Prozent der verheirateten berufstätigen Frauen auch Kinder versorgen und daher ein hohes Maß an Organisationstalent aufbringen müssen, um den Alltag zu regeln, ist dies nicht verwunderlich. Es erklärt jedoch nicht den Unterschied in der Konnotation hinsichtlich der materiellen Einstellung: Wenn Zeit Geld ist, bedarf es hierzu auch des sorgfältigsten Umgangs mit ihr. Die Kategorie depressive Haltung beinhaltet Einstellungen, die über eine distanzierte Subjekt-Objekt-Beziehung hinausgehen. Sie negieren positive Eigenschaften der Zeit unabhängig von ihrer Quantität bzw. Verfügbarkeit und reagieren mit Rückzugstendenzen. Hierunter wurden Einstellungen wie "Langeweile", "sollte man haben", "Vergänglichkeit" oder "mehr als ich brauche" gezählt. Eine eher depressive Haltung nahmen insgesamt sechs Prozent aller Befragten ein, wobei dies geringfügig mehr männliche als weibliche Personen angaben. Insgesamt betrachtet äußerten zwei Drittel der Befragten eine positive Einstellung zur Zeit. Die größte Abweichung bei den Geschlechtern betraf die materielle und rationale Einstellung und die Wertepräferenz insgesamt. Danach nehmen Frauen die Zeit intensiver wahr und gestalten sie bewusster. Männer hingegen werten Zeit eher als Produktionsgröße. Die Wahrnehmung der Zeit als etwas Metaphysisches scheint bei Männern weniger intensiv ausgeprägt zu sein als bei Frauen (Abbildung 1: s. PDF-Version). Zeitnot Die persönliche Zeitwahrnehmung hängt mit der individuellen Eigenzeit eines jeden Menschen zusammen. Ob jemand empfindet, zu viel oder zu wenig Zeit zu haben, misst sich daran, ob er die Dinge, die für ihn Bedeutung haben, in seinem Alltag verwirklichen bzw. ob er die Zeit, die er zur Verfügung hat, mit sinnvollen Dingen ausfüllen kann. Was dabei als sinnvoll verstanden wird, hängt von den individuellen Wertepräferenzen ab. Über Zeitmangel klagten 37,6 Prozent der weiblichen und 44,4 Prozent der männlichen Befragten. Lediglich 8 Prozent hatten weder zuviel noch zu wenig Zeit, wobei es sich hier ausschließlich um weibliche Personen handelte. Unterteilt nach Alterstruktur klagte ein Viertel der 40- bis 49jährigen weiblichen Befragten über Zeitnot, gefolgt von jeweils 18 Prozent der 50- bis 59-Jährigen und 30- bis 39-Jährigen. Die Altersgruppe der 30 bis 50-Jährigen war am stärksten vertreten. Bei den männlichen Befragten klagte ein Drittel der 40- bis 49-Jährigen, jeweils ein Viertel der 30- bis 39-Jährigen und 50- bis 59-Jährigen über Zeitnot. In der Gruppe der 40- bis 49-Jährigen waren mehr Männer als Frauen zu finden. Insgesamt gaben 37 Prozent aller Befragten Zeitmangel an. Unterteilt nach Geschlecht standen demnach doppelt soviel Männer wie Frauen unter großem Zeitdruck. Unter sehr großem Zeitdruck litten Frauen viermal so häufig wie Männer. Betrachtet man die Gesamtgruppe der Befragten, so gaben 51 Prozent Zeitwohlstand, 38 Prozent Zeitnot und 8 Prozent ein ausgeglichenes Zeitverhältnis an. Bezogen auf die Geschlechtergruppe hatten 37,6 Prozent der Frauen und 44,4 Prozent der Männer Probleme mit der Zeiteinteilung. Die Hälfte der Befragten war mit der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit zufrieden. Für sie ist Zeit kein Stressfaktor. Jeder Dritte jedoch hatte Schwierigkeiten, mit der ihm zur Verfügung stehenden Zeit auszukommen. 84 Prozent der zeitgestressten Personen erlebten dabei einen mittleren bis sehr hohen Zeitdruck, was bedeutet, dass Probleme mit der Zeit meist massiv auftreten, wenn sie vorhanden sind. Immerhin verspürten 22 Prozent der Gesamtgruppe einen großen bis sehr großen Zeitdruck. Jeder Fünfte läuft danach Gefahr, seine Gesundheit durch den Stressfaktor Zeit zu beeinträchtigen. Zeitdruck als Stressfaktor Die Frage nach dem Zeitdruck sollte Auskunft über die Bewältigungsformen einer Situation geben. Es ging insbesondere darum, einerseits die Wirkungen von Zeitenge als Stressfaktor mit krankmachenden Auswirkungen und andererseits auch kreative Lösungen herauszuarbeiten. Die Wertungen wurden in zwei Kategorien angeboten: Reaktion auf Zeitdruck in Form von Disstress mit psychosomatischen Symptomen und in Form von Eustress mit Kreativität und Konstruktivität. Es waren Mehrfachwertungen möglich. Zeitdruck als Disstress Unruhe und Nervosität waren die häufigsten Anzeichen bei Zeitdruck, und zwar sowohl in der Häufigkeitsverteilung aller psychosomatischen Reaktionen mit 46 Prozent als auch in den Geschlechtergruppen mit 85 Prozent (w) bzw. 83 Prozent (m) (vgl. Symptomliste Tabelle 1: PDF-Version). Aggression war die zweithäufigste Reaktion mit 19 Prozent aller Symptome. Auch in den Geschlechtergruppen reagierte jeweils ein Drittel der Befragten dann aggressiv, wenn die Zeit knapp wurde. An dritter Stelle wurden sowohl Magenschmerzen als auch Herzklopfen mit jeweils 11 Prozent als Symptom genannt. In den Geschlechtergruppen traten hier jedoch deutliche Abweichungen auf. 26 Prozent der Männer gaben Magenschmerzen als dritthäufigste Reaktion an, d.h. jedem Vierten schlug der Stressfaktor Zeit auf den Magen. Bei den Frauen rangierte an dritter Stelle mit 23 Prozent jedoch Herzklopfen. Zählt man den Schwindel und Kopfschmerzen als vegetative Reaktionen hinzu, waren dies 46 Prozent. Dies bedeutet, dass Zeitdruck bei fast der Hälfte der Frauen das Herz-Kreislauf-System belastete, was auch der Mortalitätsrate der Frauen an akuten Myokardinfarkten entspricht. Das bedeutet, dass Frauen bei Dauerstress eher körperlich erkranken können als Männer. Bezogen auf die Gesamtgruppe wurde mindestens jeder Zweite nervös, jeder Vierte aggressiv, und jeder Siebte bekam Herzklopfen oder Magenschmerzen. Zeitdruck als Eustress Während Disstress von vier Prozent mehr Frauen als Männern angegeben wurde, gaben Eustress sieben Prozent mehr Männer als Frauen an. Männer können danach eher produktiv mit Stresssituationen umgehen als Frauen bzw. Frauen reagieren intensiver auf den Stressfaktor Zeit. Zwei Drittel der Befragten reagierten sowohl mit Di- als auch mit Eustress auf Zeitdruck. Die häufigste Wertung sowohl in der Häufigkeitsverteilung aller produktiven Reaktionen bei Zeitdruck (28 Prozent; vgl. Tabelle 2: PDF-Version) als auch in den Geschlechtergruppen war die Konzentration auf das Wesentliche, und zwar bei Männern mit 42 Prozent, bei Frauen jedoch mit 57 Prozent. Frauen reagierten danach eher rational auf Zeitdruck. Diese Aussage korreliert mit der Wertepräferenz der Zeiteinschätzung, bedeutet jedoch auch, dass psychosomatische Reaktionen und Bewältigungsmuster sich nicht entsprechen müssen bzw. rationale Reaktionen auf der Verhaltensebene somatische Reaktionen nicht unbedingt verhindern. Denn obwohl fast die Hälfte der Frauen vegetative Reaktionen auf Zeitdruck zeigte, gaben mehr als die Hälfte an, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Fast jeder zweite Mann reagierte unter Zeitnot rational, jeder dritte sah darin eine Herausforderung, die seine Gesundheit nicht beeinträchtigt. Mindestens jede zweite Frau reagierte unter Zeitnot rational, jede vierte spürte einen Energiezuwachs, war daran gewöhnt und suchte soziale Lösungen. Bezogen auf die Gesamtgruppe (n = 150) gingen fast zwei Drittel der Befragten produktiv mit Zeitdruck um. Mindestens jeder Dritte konzentrierte sich auf das Wesentliche (vgl. Tabelle 2: PDF-Version). Das aktuelle Zeitregime Die Beschleunigungsgesellschaft ist unschwer an den Maximen ihrer Ökonomie auszumachen. Mobilität, Flexibilität und ständige Erreichbarkeit kennzeichnen erfolgreiche Arbeitnehmer mit Karrierechancen. Was bedeutet dies im Alltag? Das aktuelle Zeitregime war bereits Gegenstand verschiedener Untersuchungen. Nach Claus Offe und Rolf G. Heinze nimmt der Beruf einschließlich Wegezeiten täglich 9,75 Stunden in Anspruch. 9,3 Stunden des Tages werden den reproduktiven Bedürfnissen wie Essen, Körperpflege, Hausarbeit und Schlafen gewidmet. Von den 24 Stunden eines Werktages verbleiben nach einer Studie von Horst W. Opaschowski noch vier Stunden frei verfügbare Zeit, die allerdings zusammenhängend nur an Wochenenden oder zu Urlaubszeiten zur Verfügung stehen. Die Frage "Wie viele Stunden bringen Sie auf für den Beruf, die Familie, Partnerschaft, Hausarbeit, Hobby und sich selbst?" war eine Frage nach dem aktuell praktizierten Zeitregime und sollte eine Aufschlüsselung ermöglichen bzw. einen Vergleich herstellen zwischen dem gelebten Zeitregime und den bereits untersuchten. Außerdem sollte überprüft werden, ob sich bei Aufteilung der Geschlechtsrollen Veränderungen aufzeigen lassen. Die Frage nach der Stundenzeiteinteilung enthielt eine Kategorisierung in Hausarbeit, Beruf, Familie/Kinder, Partnerschaft, Hobby und Zeit für sich selbst. Bezogen auf die Gesamtgruppe wurden 28 Prozent der Tagesstunden für die Familie und die Kinder, 22 Prozent für den Beruf, 18 Prozent für die Hausarbeit, 12 Prozent für den Lebenspartner und jeweils 10 Prozent für das Hobby und sich selbst aufgebracht. Betrachtet man die Geschlechtergruppen getrennt, brachten Männer 33 Prozent der Tagesstunden für den Beruf, 16 Prozent für die Partnerschaft, 15 für die Familie und die Kinder, 14 für das Hobby, 13 für die Hausarbeit und 9 Prozent für sich selbst auf. 7,3 Stunden verblieben täglich für den Schlaf. Frauen brachten 31 Prozent der Tagesstunden für die Familie und die Kinder auf, jeweils 19 für die Hausarbeit und den Beruf, jeweils 11 für den Partner und sich selbst und 9 Prozent für ihr Hobby. Ihnen verblieben 7,9 Stunden für den Schlaf (vgl. Abbildung 2: PDF-Version). Erhalt der traditionellen Familienstrukturen Die Familienarbeit nahm Frauen täglich doppelt so lang in Anspruch wie Männer. Die Aufteilung der Hausarbeit scheint sich jedoch allmählich zu verändern. Nach der Umfrage des Gesundheitsamtes benötigten Frauen hierfür 2,4 Stunden der Tageszeit, Männer setzten 1,7 Stunden dafür ein. Die ganztägige Berufstätigkeit ist immer noch anmännlichen Arbeitnehmern orientiert. Ohne Wegezeiten lag die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit bei 8 Stunden, womit sie etwas über den gültigen Tarifverträgen liegt. Das größte Zeitpotenzial setzte die männliche Personengruppe für den Beruf mit 33 Prozent der Stunden ein. Bei Frauen war dies die Familienarbeit mit 31 Prozent. Sie brachten genauso viel Zeit für die Hausarbeit auf wie für den Beruf. Die Familienarbeit machte bei ihnen jedoch ein Drittel der gesamten Tageszeit aus, d.h. 12 Prozent mehr als beispielsweise für den Beruf oder die Hausarbeit. Damit wurden die sozialen Ungleichheitspotenziale durch die strukturell vorgegebenen gesellschaftlichen Bedingungen bestätigt, was bedeutet, dass sich an den traditionellen Geschlechterrollen nicht viel geändert hat. Deutliche Unterschiede bestanden auch bei der Pflege der Partnerschaft. Männer brachten für ihre Partnerinnen genauso viel Zeit auf wie für die Kinder, Frauen hingegen setzen für die Kinder dreimal so viel Zeit ein wie für die Partnerschaft. Sie investierten außerdem für ihren Partner und sich selbst gleich viel Zeit. Männer nahmen für sich selbst das geringste Zeitpotenzial in Anspruch. Bei den Hobbies konnten sie wiederum 5Prozent mehr an Tageszeit investieren als Frauen. Während sich bei der Übernahme von Hausarbeitspflichten langsam eine Angleichung vollzieht, scheint die Beziehungsarbeit immer noch eine weibliche Domäne zu sein. Die berufliche Arbeitszeit von Frauen verteilte sich durchschnittlich auf sechs Stunden, was bedeutet, dass Teilzeitarbeit bevorzugt wird. Im Vergleich zu den Ergebnissen von Offe und Heinze ergaben sich damit in der Untersuchung des Gesundheitsamtes des Stadtverbandes Saarbrücken mehr oder weniger deutliche Verschiebungen. Der Anteil an reproduktiver Arbeit betrug in der untersuchten Gesamtgruppe 13,2 Stunden (Hausarbeit, Familie/Kinder und Schlaf), d.h. 3,9 Stunden mehr als bei Offe und Heinze. Nach Geschlechtergruppen differenziert betrug diese Zeit beim weiblichen Personenkreis 14,1 Stunden und im männlichen 11 Stunden. Die frei verfügbare Zeit, die laut Opaschowski durchschnittlich 4 Stunden beträgt, wurde mit 4,1 bestätigt. Jedoch traten auch hier deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtergruppen auf. Frauen verblieben nach dieser Umfrage 3,7 Stunden, Männern hingegen 5 Stunden Zeit. Insgesamt kann gesagt werden, dass Frauen mehr Schlaf benötigen als Männer, dass Familienarbeit immer noch zunächst einmal Frauensache ist, dass berufstätige Frauen in der Regel teilzeitbeschäftigt sind und dass Männer für die partnerschaftliche Beziehung mehr Zeit investieren als Frauen. Kommunikationshäufigkeit der Geschlechter Kommunikation ist die Basis jedweder zwischenmenschlichen Beziehung. Wie viel Zeit nehmen sich die Menschen heute füreinander, reicht die Zeit aus, um über alltägliche Dinge hinaus füreinander da sein zu können, oder stimmt der Eindruck von der "Pinnbrettfamilie", in der sich die einzelnen Familienmitglieder per Zettelbotschaften am Pinnbrett in der Küche verständigen? Die zentrale Fragestellung war hier die Kommunikationshäufigkeit. Die Kategorisierung erfolgte nach Familienmitgliedern. Sie sollte aufzeigen, ob Ehepartner noch genügend Zeit für sich als Paar aufbringen können, wie Elternschaft sich heute im gemeinsamen Gespräch niederschlägt und ob Verwandtschaft mehr ist als die bloße Zugehörigkeit zu einer Abstammungslinie (vgl. Abbildung 3: PDF-Version). Ingesamt verteilte sich die Kommunikationszeit auf die Kategorien wie folgt: Partnerschaft 34 Prozent, Kinder 13 Prozent, Eltern 9 Prozent, Verwandte 8 Prozent, Freunde 18 Prozent, Bekannte 10 Prozent und Geschwister 8 Prozent. Betrachtet man die Kategorien nach sozialen Gruppen, wurde in der Kernfamilie insgesamt pro Tag 2,2 Stunden miteinander kommuniziert, mit der Groß- bzw. Herkunftsfamilie 1,2 und mit dem Freundes- und Bekanntenkreis 1,4 Stunden. Das bedeutet, dass die Struktur der Großfamilie weithin nicht mehr existiert und soziale Beziehungen im sozialen Umfeld als gleichwertig zu betrachten sind bzw. dass das Gespräch mit dem Nachbarn, der Freundin, dem Kegelbruder, dem Fußballfreund etc. genauso viel bedeutet wie das Gespräch mit der Verwandtschaft. Die Kernfamilie bildet den Mittelpunkt des persönlichen Austauschs. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern lagen in einer generell deutlich höheren Kommunikationshäufigkeit bei Frauen. Ihre Kommunikationszeit betrug insgesamt 5,1 Stunden, bei den Männern waren es nur 3,84 Stunden täglich. Väter sprachen mit ihren Kindern 20 Minuten täglich, Mütter 48 Minuten. Deutliche Unterschiede bestanden auch im Beziehungsgeflecht zur Großfamilie. Männer redeten mit ihren Eltern, Onkeln, Tanten und Geschwistern insgesamt 26 Minuten am Tag, wobei die Gesprächshäufigkeit mit Geschwistern nur wöchentlich eine sinnvolle Quantität ergab, nämlich 1,1 Stunden. Für den Freundes- und Bekanntenkreis wendeten Frauen genauso viel Zeit auf wie für die Verwandtschaft, nämlich 1,4 Stunden. Dies bedeutet auch, dass die Pflege der Beziehungen in der Großfamilie von den Frauen abhängt. Frauen verfügen danach über eine bessere Kommunikationsfähigkeit als Männer. Sie reden doppelt so lange mit ihren Kindern und dreimal so häufig mit der Verwandtschaft wie ihre Ehepartner. Auch wenn sich die Beschäftigung der Frauen deutlich zugunsten der Berufstätigkeit neben der Familienarbeit verschoben hat, bleiben hier die traditionellen Rollen erhalten. Schlussbemerkung Trotz des rasanten Wandels der gesellschaftlichen Strukturen bleibt die traditionelle Rollenverteilung der Geschlechter aufgrund der sozialstrukturellen Ungleichheitspotenziale erhalten. Der sich daraus ergebende Zeitdruck führt bei Frauen schneller zu Erkrankungen, messbar an der Zunahme akuter Myokardinfarkte. Internetadressen Externer Link: www.univie.ac.at/schroedinger Externer Link: www.zeitverein.com Externer Link: www.angewandte-forschung.de Vgl. Jürgen Rinderspacher, Gesellschaft ohne Zeit. Individuelle Zeitverwendung und soziale Organisation der Arbeit, Frankfurt/M. 1985. Vgl. Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt/M.-New York 1993. 57 Prozent der Todesursachen im Saarland waren 1999 Herz-Kreislauf-Erkrankungen, davon starben 14 Prozent an einem akuten Myokardinfarkt, 45 Prozent davon waren Frauen. Vgl. Statistisches Landesamt Saarland, Statistisches Jahrbuch des Saarlandes, Saarbrücken 2000, S. 20ff. Vgl. Claus Offe/Rolf G. Heinze, Organisierte Eigenarbeit. Das Modell Kooperationsring, Frankfurt/M.-New York 1990. Vgl. Horst W. Opaschowski, Freizeitökonomie: Marketing von Erlebniswelten, Opladen 1995.
Article
Hewener, Vera
2021-12-07T00:00:00
2011-10-04T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/28184/geschlechtsspezifische-unterschiede-im-umgang-mit-der-zeit/
Frauen nehmen Zeit intensiver wahr und gestalten sie bewusster als Männer. Diese werten sie stärker als Produktionsgröße; der metaphysische Aspekt der Zeit ist bei ihnen weniger stark ausgeprägt als bei den Frauen.
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Die Kriege nach dem Krieg | Pariser Friedensordnung | bpb.de
Endete der Erste Weltkrieg am 11. November 1918, als der Waffenstillstandsvertrag von Compiègne in Kraft trat? Die Antwort auf diese Frage hängt von der geografischen Perspektive ab. Für die Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges, insbesondere für Frankreich, begann im Herbst 1918 tatsächlich eine Zeit des Friedens, wobei selbst Paris in den 1920er und 1930er Jahren regelmäßig in Kolonialkonflikte verwickelt sein sollte. Für die Verliererstaaten hingegen ist die Frage eindeutig zu verneinen. Zwischen 1917/18 und 1923 starben auf den Territorien der besiegten und zerfallenen Landimperien Europas über vier Millionen Menschen durch Gewalt – mehr als die zusammengerechneten Weltkriegstoten Frankreichs, Großbritanniens und der USA. Insbesondere in Russland, der Ukraine, Finnland, den baltischen Staaten, Polen, Ungarn, Teilen Deutschlands, Italien, Anatolien und dem Kaukasus gab es ein bemerkenswertes Kontinuum der Gewalt über 1918 hinweg. Seit dem Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert hatte Europa keine solch verheerenden und sich gegenseitig befeuernden Konflikte mehr erlebt wie in dieser Zeit. Mit den Bürgerkriegen, Revolutionen, Gegenrevolutionen, "ethnischen Säuberungen", Pogromen und Grenzkonflikten zwischen neugegründeten Staaten ohne klar definierte Grenzen oder international anerkannte Regierungen war Europa nach dem formellen Ende des Ersten Weltkrieges und bis zum Lausanner Abkommen von 1923 die mit Abstand gewalttätigste Region der Welt. Auch die Periodisierung der Zwischenkriegszeit auf die Jahre 1918 bis 1939 ist somit im Grunde nur für die primären Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges sinnvoll, also für Großbritannien – sieht man vom irischen Unabhängigkeitskrieg ab – und für Frankreich. Für all jene aber, die in Riga, Kiew, Smyrna und anderen Orten Ost-, Mittel- und Südosteuropas lebten, brachte der Waffenstillstand vom 11. November 1918 keinen Frieden. Streitkräfte unterschiedlicher Größe und politischer Ausrichtung prallten in den Folgejahren an vielen Stellen Ost- und Mitteleuropas aufeinander, neue Regierungen kamen und gingen. Allein zwischen 1917 und 1920 gab es in Europa nicht weniger als 27 gewaltsame Regimewechsel, oftmals begleitet von schwelenden oder offenen Bürgerkriegen. Am dramatischsten war die Lage in Russland, wo Lenins bolschewistischer Putsch 1917 rasch einen Bürgerkrieg von historisch nie dagewesenen Ausmaßen nach sich zog. Sieg oder Niederlage? Wer am Ende des Ersten Weltkrieges zu den Verlierern und wer zu den Gewinnern zählte, ist dabei weniger offensichtlich, als man zunächst denken mag. Griechenland etwa gehörte im Herbst 1918 fraglos zu den Siegerstaaten. Wenige Jahre später allerdings verkehrte sich dieser Sieg in eine dramatische Niederlage, als der von 1919 bis 1922 dauernde Griechisch-Türkische Krieg für Athen in einer "Großen Katastrophe" endete. Während Griechenland durch die gescheiterte Militärkampagne in Kleinasien zu einem Verliererstaat wurde, stieg die 1923 gegründete Türkische Republik unter Mustafa Kemal "Atatürk" zu einem Siegerstaat der sogenannten Nachkriegszeit auf, dessen territorialer Anspruch auf das anatolische Kernland nach dem Ende des Osmanischen Reiches nun nicht mehr international angezweifelt wurde. Auch in Italien sollte der militärische Sieg an der Isonzo-Front von 1918 schon bald einen bitteren Beigeschmack bekommen. Denn viele Italienerinnen und Italiener gewannen angesichts der Pariser Friedensverhandlungen von 1919 den Eindruck, für den teuer erkämpften Sieg an der Alpenfront nicht gebührend belohnt worden zu sein. Der Verdruss über die vermeintlich unzureichende Wiedergutmachung für rund 600000 Weltkriegstote, der in der verbreiteten Vorstellung des vittoria mutilata, des "verstümmelten" Sieges, wie er von dem Dichter Gabriele d’Annunzio genannt wurde, seinen Niederschlag fand, war gewaltig. Gleichzeitig erzeugten schwere Arbeitskämpfe und gewaltsame Landnahmen bei vielen den Eindruck, Italien stehe kurz vor einer bolschewistischen Revolution. In mancherlei Hinsicht glich Italiens Nachkriegserfahrung, die 1922 in der Ernennung Benito Mussolinis zum ersten faschistischen Ministerpräsidenten Europas gipfelte, viel mehr jener der mittel- und osteuropäischen Verliererstaaten als der Frankreichs oder Großbritanniens. Ungeachtet dessen haben die Konflikte der unmittelbaren "Nachkriegszeit" in Westeuropa längst nicht so viel Beachtung gefunden wie das Kriegsgeschehen an der Westfront in den vier Jahren davor. Zeitgenössische britische Beobachter wie Winston Churchill haben die Auseinandersetzungen nach 1918 als "Kriege der Pygmäen" abgetan – eine herablassende Bemerkung, die die orientalisierende und implizit koloniale Wahrnehmung Osteuropas offenbarte, die noch Jahrzehnte später in westeuropäischen Schulbüchern anzutreffen sein sollte. Zudem spiegelte sie die seit der Balkankrise der 1870er Jahre und erst recht seit den zwei Balkankriegen von 1912 und 1913 verbreitete Vorstellung, Osteuropa sei im Gegensatz zum zivilisierten und friedliebenden Westen gewissermaßen "inhärent" gewalttätig. Derartige Vorurteile machten die westliche Öffentlichkeit weitgehend blind oder gleichgültig gegenüber den sich in Mittel-, Ost-, und Südosteuropa nach 1918 abspielenden Katastrophen, selbst wenn diese Gegenden erfassten, die vor dem Weltkrieg politisch stabil, kulturell hoch entwickelt und friedlich gewesen waren. Drei Konflikttypen Das komplexe Bild Europas am Ende des Ersten Weltkrieges, der fast zehn Millionen Tote und über zwanzig Millionen Verletzte allein unter den Soldaten gefordert hatte, macht die Kategorisierung oder Definition der darauf folgenden gewaltsamen Erschütterungen ausgesprochen schwierig. Dennoch ist es möglich, zumindest drei unterschiedliche, sich gegenseitig jedoch verstärkende und oftmals überlappende Konflikttypen innerhalb dieses einsetzenden ostmitteleuropäischen Flächenbrandes zu identifizieren. Erstens erlebte Europa in der sogenannten Nachkriegszeit neu aufflammende Auseinandersetzungen zwischen regulären oder im Entstehen begriffenen nationalen Armeen, also zwischenstaatliche Kriege – etwa den Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1919 bis 1921, den bereits erwähnten Griechisch-Türkischen Krieg oder den Einmarsch der Rumänen in Ungarn, der 1919 zum Ende der kurzlebigen Diktatur Béla Kuns führte. Solche Konflikte spielten sich vor allem dort ab, wo der Zerfall der alten Großreiche die Entstehung neuer und oftmals nervös-aggressiver Nationalstaaten begünstigte. Diese suchten ihre Territorien mit aller Macht und Gewalt zu behaupten oder gar zu vergrößern. Der im Zuge solcher Bestrebungen ausgetragene Konflikt zwischen Sowjetrussland und Polen hinterließ 250000 Tote und Vermisste, und im militärischen Ringen zwischen Griechen und Türken dürfte es bis zu 200000 Tote gegeben haben. Zweitens brachen in den wenigen Jahren zwischen 1917 und 1923 allenthalben Bürgerkriege aus – in Finnland, Ungarn, in Teilen Deutschlands, in Russland, aber auch in Irland. Insbesondere auf dem Territorium des ehemaligen Zarenreiches, wo sich verschiedene miteinander verwobene Konflikte überlagerten und dadurch noch verschärften, waren reguläre zwischenstaatliche Kriege von Bürgerkriegen kaum noch zu unterscheiden. Die Rote Armee führte Krieg gegen Polen und versuchte zugleich, die Loslösung der abtrünnigen Republiken in den westlichen Grenzgebieten und dem Kaukasus mit aller Gewalt zu verhindern. Darüber hinaus befand Lenin sich in einem erbitterten Kampf gegen seine "weißen" Widersacher und eine Reihe weiterer realer und eingebildeter Feinde – von den Kulaken bis zu den Anarchisten und den gemäßigten Sozialisten, die er allesamt verdächtigte, die bolschewistische Revolution zu unterwandern. Die Einmischung externer Kräfte machte die Lage in Russland noch unübersichtlicher, egal ob es sich um die alliierte Intervention aufseiten der antibolschewistischen Weißen oder um deutsche Freikorpsmilizionäre handelte, die nach 1918 marodierend durch das Baltikum zogen, wobei sie zunächst an der Seite lettischer und estnischer Nationalisten kämpften und später gegen sie. Drittens waren diese Bürgerkriege, von denen Europa zwischen 1917 und 1923 heimgesucht wurde, in aller Regel die Folge sozial und national motivierter Revolutionen, die diese Periode entscheidend prägten. Nachdem es in der Endphase des Krieges aufgrund von Mangelversorgung und Kriegsmüdigkeit in vielen Ländern bereits zu Arbeitsniederlegungen und Streiks gekommen war, ging das Kriegsende in allen europäischen Verliererstaaten mit offenen Revolutionen und gewaltsamen Machtwechseln einher. Diese zwischen 1917 und 1923 ausbrechenden Revolutionen waren entweder sozioökonomischer Natur, sprich auf die Neuverteilung von Land, Macht und Vermögen ausgerichtet, wie in Russland, Ungarn oder Bulgarien, oder es waren nationale Revolutionen auf den Trümmern der besiegten multiethnischen Reiche der Habsburger, Romanows und Osmanen. Inspiriert vom Diskurs über nationale Selbstbestimmung, wie er unter gänzlich unterschiedlichen Voraussetzungen sowohl von Lenin als auch von US-Präsident Woodrow Wilson vorangetrieben wurde, drängten verschiedenartige nationale Bewegungen auf Selbstverwirklichung. Die Gleichzeitigkeit und regelmäßige Überschneidung dieser zwei revolutionären Diskurse und Strömungen waren eine der Besonderheiten der Jahre 1917 bis 1923. Verrohte Veteranen, brutalisierte Politik? Historiker verschiedener Generationen und Nationalitäten haben eine Reihe von Erklärungsmustern geliefert, um das Kontinuum der Gewalt nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu deuten. Die wohl einflussreichste Deutung dieser Art – zumindest für den deutschen Fall – lieferte der Historiker George Mosse mit seiner "Brutalisierungsthese", der einflussreichen, vieldiskutierten und in den vergangenen Jahren auch auf andere Staaten Europas ausgeweiteten Idee, dass die Gewalterfahrung des Ersten Weltkrieges zu einer Verrohung der Kriegsteilnehmer führte und so eine entscheidende Voraussetzung für den Aufstieg totalitärer Bewegungen wie die Bolschewiki in Russland, die italienischen Faschisten oder die deutschen Nationalsozialisten darstellte. Obwohl sich kaum bestreiten lässt, dass die Erfahrung des Ersten Weltkrieges das Verhältnis der Kombattanten zur Anwendung von Gewalt verändert haben dürfte, sind in den vergangenen Jahren doch zwei zentrale Kritikpunkte gegen die Brutalisierungsthese artikuliert worden: Zum einen kehrte die überwältigende Mehrheit der Veteranen, die den Ersten Weltkrieg überlebt hatten, im November 1918 ins Zivilleben zurück. Ein großer Teil der Veteranenverbände in den meisten europäischen Staaten nach 1918 waren pazifistisch, nicht bellizistisch ausgerichtet. Ihre zentralen Themen waren Versorgungsansprüche von Kriegsversehrten oder Witwenrenten, nicht die Hetze für einen neuen Krieg, um dessen Schrecken die Veteranen, anders als die Kriegsverherrlicher der Heimatfront, nur zu gut wussten. Zum anderen hat die stärker komparativ oder transnational arbeitende Geschichtswissenschaft seit den 1990er Jahren angemerkt, dass sich das Fronterlebnis britischer oder französischer Soldaten nicht fundamental von dem deutscher Kriegsteilnehmer unterschieden hat. Eine Erklärung dafür, warum die Politik sich in einigen der früheren Kombattantenstaaten nach 1918 brutalisierte, in anderen hingegen nicht, kann aus rein nationalen Perspektiven nicht abgeleitet werden. Die Brutalisierungsthese erklärt auch nicht, warum es in Ländern wie Spanien oder Finnland, die nicht am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten, nach 1918 ebenfalls zu einem massiven Anstieg an politischer Gewalt kam. Auch wenn sich die signifikanten Gewaltausbrüche der Nachkriegszeit ohne den Hintergrund des Ersten Weltkrieges kaum erklären lassen, scheint es sinnvoller, den Krieg eher als Katalysator neuer Konflikte zu deuten. Gerade zum Ende hin begann der Charakter des Krieges sich zu verändern, als die Oktoberrevolution von 1917 das Ausscheiden Russlands aus dem Völkerringen zur Folge hatte und die Westalliierten – gestärkt durch den ins selbe Jahr fallenden Kriegseintritt der Vereinigten Staaten – zunehmend die Zerschlagung der europäischen Landimperien als Kriegsziel formulierten. Gerade die Geschehnisse in Russland wirkten sich nun dramatisch aus, und zwar auf zweierlei Weise: Petrograds Eingeständnis der Niederlage im März 1918 schürte bei den Mittelmächten die Hoffnung auf einen baldigen Sieg – und das nur wenige Monate, bevor deren totaler Zusammenbruch im Herbst 1918 eine Suche nach den vermeintlich dafür verantwortlichen "inneren Feinden" auslöste. Daraus erwuchsen neue Auseinandersetzungen, die aufgrund ihrer Logik und Zielsetzung noch weitaus mehr Zündstoff bargen als der Erste Weltkrieg, in dem immerhin noch ein klar definiertes Ziel verfolgt wurde: den jeweiligen Feind zur Annahme von durchaus drastischen Friedensbedingungen zu zwingen. Sobald der Gegner diese akzeptierte, wie das Deutsche Reich die Waffenstillstandsbedingungen vom November 1918, wurde der Krieg beendet. Die Gewalt in den Auseinandersetzungen nach dem Ersten Weltkrieg war dagegen kaum noch beherrschbar. Zum einen maßen sich in Ermangelung funktionstüchtiger Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen europäischen Großreiche Milizen unterschiedlichster politischer Couleur die Rolle von Nationalheeren an, und die Trennlinien zwischen Freund und Feind, Soldaten und Zivilisten verschwammen zusehends – mit fatalen Folgen. Zum anderen drehten sich die Konflikte um vermeintlich existenzielle Fragen – den Fortbestand oder die "Wiederauferstehung" der eigenen Nation beziehungsweise Klasse – oder darum, die Gegner auszulöschen, ganz gleich ob es sich dabei um Mitglieder einer anderen Ethnie oder um "Klassenfeinde" handelte. Diese genozidale Logik sollte in den Jahren zwischen 1939 und 1945 in Mittel- und Osteuropa schließlich die Oberhand gewinnen. Im Gegensatz zu Mosses allumfassender, aber letztlich irreführender Brutalisierungsthese ließe sich somit zusammenfassend argumentieren, dass der Schlüssel zum Verständnis des weiteren gewaltsamen Verlaufs der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert – Russland und die ehemals osmanischen Länder des Nahen Ostens inbegriffen – nicht zwingend in den Kriegserfahrungen von 1914 bis 1918 zu finden ist, sondern in der Art und Weise, wie dieser Krieg für die europäischen Verliererstaaten zu Ende ging: mit Niederlagen und Revolutionswirren. Zerfall der Großreiche Neben den Schrecken des Krieges und der Erfahrung der Niederlage war ein weiterer maßgeblicher Faktor für den Anstieg der Gewalt nach 1918 der plötzliche Zerfall der europäischen Landimperien und die schwierige Geburt ihrer Nachfolgestaaten. Die Pariser Friedensverträge wiesen Millionen von Menschen neugeschaffenen Nationalstaaten zu, die sich einem fundamentalen Widerspruch gegenübersahen: Obgleich sie danach strebten, ethnisch homogen zu sein, handelte es sich bei Polen, Jugoslawien und der Tschechoslowakei um Vielvölkerreiche im Miniaturformat. Der wesentliche Unterschied zwischen ihnen und ihrem Vorgänger, der k.u.k. Monarchie, bestand nicht in der "ethnischen Reinheit", sondern vielmehr darin, dass die ethnischen Hierarchien sich umgekehrt hatten. So befand sich das Epizentrum des territorialen Revisionismus in Europa in den folgenden Jahrzehnten nicht von ungefähr auf dem Gebiet der alten multinationalen Imperien, deren Auflösung neue "Grenzen der Gewalt" schuf. Das "Heimholen" von 1918 verlorenen Volksgruppen und die Rückgewinnung "historischer" Gebiete spielte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und zuweilen auch noch nach 1945 eine entscheidende Rolle in der Außen- und Innenpolitik ostmitteleuropäischer Staaten – insbesondere in Ungarn, Bulgarien und Deutschland. Ebenso galt das für die Sowjetunion, die nicht nur kurzzeitige russische Eroberungen des Ersten Weltkrieges eingebüßt hatte, sondern auch die westlichen Grenzgebiete des Zarenreiches. Moskaus Bemühungen um Wiederaneignung "verlorener" Territorien und die gewaltsame Festigung seines Einflusses in Osteuropa im Allgemeinen sollten sich bis in die 1940er Jahre und darüber hinaus hinziehen. Die diversen Revolutionen, die Niederlage der Mittelmächte und die territoriale Neuordnung eines bis 1918 von imperialen Großreichen beherrschten Kontinents schufen ideale Bedingungen für neue und anhaltende Auseinandersetzungen. Selbstverständlich muss jede Erklärung für deren Eskalation auch die Bedeutung regionaler, oft auf viel ältere Konflikte zurückgehender Traditionen und Umstände im Blick behalten, da aus diesen ebenfalls die Gewalt erwachsen konnte, die sich nach dem Krieg vielerorts Bahn brach. Als typische Beispiele für derartige Einflüsse können hier etwa die Tschetnik-Tradition des Guerillakrieges auf dem Balkan und die revolutionären Spannungen im Russland der Vorkriegszeit gelten oder mit Blick auf Irland die bereits vor 1914 existierende republikanische Bewegung. Zusammengenommen waren aber Revolution, Niederlage und nationale "Wiedergeburt" aus den Trümmern der untergegangenen Reiche Europas die entscheidenden Auslöser der länderübergreifenden Welle bewaffneter Auseinandersetzungen, die sich in einigen Teilen Europas bis 1923 hinzogen. Einen vorläufigen Schlusspunkt der gewaltsamen Auseinandersetzungen markierten das Ende des Russischen Bürgerkrieges 1922 und der Vertrag von Lausanne von 1923. Dieser schrieb 1923 das Staatsgebiet der neuen Türkischen Republik fest und beseitigte die griechischen Gebietsansprüche in Kleinasien durch einen erzwungenen Bevölkerungsaustausch enormen Ausmaßes. Lange Linien Nach Lausanne erfuhr Europa zwischen 1924 und 1929 eine kurze Phase der Stabilisierung. Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 drängten jedoch die zwischen 1917 und 1923 aufgeworfenen, aber nicht gelösten Probleme mit aller Macht auf die außen- und innenpolitische Agenda zurück. Irredentismus, Vertragsrevision und die Anfechtung der 1918/19 gezogenen Grenzen wurden erneut zu einem zentralen Bestandteil der europäischen Politik. Während in der westeuropäischen Wahrnehmung die Zeit des Übergangs vom Krieg zum Frieden in Europa weit weniger präsent ist als die des Weltkrieges selbst, prägen die bitteren Jahre zwischen 1917 und 1923 das kollektive Gedächtnis Ost- und Südeuropas wie auch des Nahen Ostens und Irlands bis heute. Diese Erinnerung überlagert sogar die Geschichte des Ersten Weltkrieges, und bisweilen verdrängen die Erzählungen von Staatsgründungen, Unabhängigkeitskriegen, nationalen Befreiungsbewegungen und revolutionären Umwälzungen sie sogar. In der heutigen Ukraine ist die – ausgesprochen kurze – Phase staatlicher Unabhängigkeit 1918 in den aktuellen politischen Debatten über die geopolitische Gefährdung des Landes durch Russland allgegenwärtig. In Finnland, das im Ersten Weltkrieg seine Neutralität wahrte, überschattet der Bürgerkrieg von 1918, der in weniger als drei Monaten etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung hinwegraffte, noch heute jede politische Diskussion, während in Irland die Allianzen und Dilemmata des Bürgerkrieges von 1922/23 das parteipolitische System bis in die Gegenwart prägen. Nur ihre Gegnerschaft während des Bürgerkrieges vermag zu erklären, warum die zwei programmatisch nahezu identischen konservativen Volksparteien Irlands, Fianna Fáil und Fine Gael, sich bis heute strikt weigern, eine Koalition auf nationaler Ebene einzugehen. Auch im Nahen Osten ist es weniger der Erste Weltkrieg als vielmehr seine Folgen ab 1918, die den Diskurs bis heute bestimmen: das Ende der osmanischen Herrschaft und des Kalifats, die "Erfindung" neuer Staaten, wie der Irak, Jordanien oder Syrien, sowie die vom Völkerbund verhängte Mandatsverwaltung und der Beginn des Konflikts um Palästina. Dieser geht nach Ansicht vieler Araber auf die Deklaration des britischen Außenministers Lord Arthur Balfour von 1917 zurück, in der er Londons Unterstützung für die "Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina" verkündet hatte. Hier, in den einstmals osmanisch beherrschten arabischen Gebieten, sollten sich die postimperialen Konflikte der Jahre nach 1918 als besonders dauerhaft erweisen. Seit über einem Jahrhundert kommt es in der Region mit großer Regelmäßigkeit zum Ausbruch von Gewalt – unter rhetorischem Rückgriff auf die "ungelösten Fragen" und Ungerechtigkeiten seit 1918. Und es darf durchaus als bittere Ironie der Geschichte gelten, dass die hundertsten Jahrestage des Ersten Weltkrieges vom Kriegsausbruch 1914 bis zum offiziellen Kriegsende 1918 von Bürgerkriegen in Syrien und im Irak, einer Revolution in Ägypten sowie gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Juden und Arabern wegen der Palästinafrage begleitet wurden – als gelte es zu beweisen, dass einige der damals aufgeworfenen, aber nie gelösten Streitpunkte ihre Aktualität noch immer nicht verloren haben. Die Entwicklungen der Jahre 1917 bis 1923 sind deshalb nicht nur entscheidend für das Verständnis jener Gewaltzyklen, die den Kontinent in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten, sondern auch für das Verständnis von Denkmustern und Mentalitäten, die in Teilen der Welt bis heute aktuell sind. Vgl. Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2017. Die neuere Literatur zu einigen dieser Konflikte umfasst unter anderem Serhy Yekelchyk, Ukraine: Birth of a Modern Nation, Oxford 2007; Peter Hart, The IRA at War, 1916–1923, Oxford 2003; Michael Reynolds, Native Sons: Post-Imperial Politics, Islam, and Identity in the North Caucasus, 1917–1918, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 2/2008, S. 221–247; ders., Shattering Empires: The Clash and Collapse of the Ottoman and Russian Empires, 1908–1918, Cambridge–New York 2011; Norman Davies, White Eagle, Red Star: The Polish-Soviet War, 1919–20, London 20042. Siehe auch Peter Gatrell, War after the War: Conflicts, 1919–23, in: John Horne (Hrsg.), A Companion to World War I, Oxford 2010, S. 558–575; Alexander V. Prusin, The Lands Between: Conflict in the East European Borderlands, 1870–1992, Oxford 2010, S. 72ff.; Christoph Mick, Vielerlei Kriege. Osteuropa 1918–1921, in: Dietrich Beyrau/Michael Hochgeschwender/Dietrich Langewiesche (Hrsg.), Formen des Krieges: Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 311–326; Piotr Wróbel, The Revival of Poland and Paramilitary Violence, 1918–1920, in: Rüdiger Bergien/Ralf Pröve (Hrsg.), Spießer, Patrioten, Revolutionäre. Militärische Mobilisierung und gesellschaftliche Ordnung in der Neuzeit, Göttingen 2010, S. 281–303. Vgl. Peter Calvert, A Study of Revolution, Oxford 1970, S. 183f. Winston Churchill, zit. nach Davies (Anm. 2), S. 21. Vgl. Robert Gerwarth/John Horne (Hrsg.), War in Peace: Paramilitary Violence after the Great War, Oxford–New York 2012; Gerwarth (Anm. 1). Zum Polnisch-Sowjetischen Krieg siehe neuerdings Jochen Boehler, Civil War in Central Europe, 1918–1921, Oxford–New York 2018. Zur Gewalt gegen Zivilisten in Anatolien siehe etwa Ryan Gingeras, Sorrowful Shores: Violence, Ethnicity, and the End of the Ottoman Empire, 1912–1923, Oxford–New York 2011. Vgl. Reynolds 2011(Anm. 2); Prusin (Anm. 2); Piotr Wróbel,The Seeds of Violence: The Brutalization of an East European Region, 1917–1921, in: Journal of Modern European History 1/2003, S. 125–149; Peter Gatrell, Wars after the War: Conflicts, 1919–1923, in: Horne (Anm. 2), S. 558–75; Richard Bessel, Revolution, in: Jay Winter (Hrsg.), The Cambridge History of the First World War, Bd. 2, Cambridge–New York 2014, S. 126–144, hier S. 138. Siehe auch den Beitrag von Alan Sharp in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Siehe dazu vor allem das Themenheft "1918–19: From War to Peace" des Journal of Contemporary History 4/1968 und die Fortsetzung der Diskussion im Sonderheft "The Limits of Demobilization" des Journal of Contemporary History 1/2015. Vgl. George Mosse, Fallen Soldiers: Reshaping the Memory of the World Wars, Oxford 1990. Anwendung auf andere Staaten West- und Osteuropas fand Mosses Konzept in den vergangenen beiden Jahrzehnten, siehe etwa Enzo Traverso, Fire and Blood: The European Civil War, 1914–1945, New York 2016. Vgl. Richard Bessel, Germany after the First World War, Oxford 1993; ders., The Great War in German Memory: The Soldiers of the First World War, Demobilization and Weimar Political Culture, in: German History 1/1988, S. 20–34; Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914–1923, Essen 1997. Vgl. Bessel (Anm. 9); Benjamin Ziemann, Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933, Bonn 2014; Horne/Gerwarth (Anm. 4). Vgl. Michael Provence, Ottoman Modernity, Colonialism, and Insurgency in the Arab Middle East, in: International Journal of Middle East Studies 2/2011, S. 205–225, hier S. 206; Dietrich Beyrau/Pavel P. Shcherbinin, Alles für die Front: Russland im Krieg 1914–1922, in: Horst Bauerkämper/Elise Julien (Hrsg.), Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918, Göttingen 2010, S. 151–177, hier S. 151. Zum Kontext vgl. Provence (Anm. 11); Eugene Rogan, The Fall of the Ottomans: The Great War in the Middle East, 1914–1920, London 2015.
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, Robert Gerwarth
2022-02-16T00:00:00
2019-04-03T00:00:00
2022-02-16T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/288782/die-kriege-nach-dem-krieg/
In Westeuropa ist der Erste Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis stärker präsent als die Zeit des Übergangs vom Krieg zum Frieden. Im östlichen Europa sind hingegen die bitteren Jahre zwischen 1917 und 1923 prägend, die bis heute in Denkmustern und Me
[ "Erster Weltkrieg", "Bürgerkrieg", "Revolution", "Krieg", "Osteuropa", "Pariser Friedenskonferenz", "Woodrow Wilson", "Völkerbund", "nationale Selbstbestimmung / Selbstbestimmungsrecht der Völker" ]
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Editorial | Barcelona-Prozess | bpb.de
Innerhalb der arabischen Welt werden die Forderungen nach gesellschaftlichen Reformen lauter. Die Reformkräfte haben durch die drei Arab Human Development Reports Unterstützung erfahren. Unter dem Schutzschirm des United Nations Development Programme (UNDP) konnten arabische Wissenschaftler unter Leitung des Ägypters Nader Fergany schonungslos Bilanz ziehen. Im Vergleich zu anderen Regionen hinkt die arabische Welt in der Entwicklung meilenweit hinterher. Diesem Defizit versucht die Europäische Union mit dem 1995 in Barcelona begonnen Kooperationsprozess entgegenzusteuern. Im November 2005 jährt sich die Konferenz von Barcelona zum zehnten Mal. Der so genannte Barcelona-Prozess stellt den institutionellen Rahmen für die Mittelmeerpolitik der EU dar. Diese Initiative beruht auf dem Gedanken einer intensiven Zusammenarbeit der Länder auf beiden Seiten des Mittelmeers auf gleichberechtigter Basis. Ziel dieser "Euro-Mediterranen Partnerschaft" sind Frieden, Stabilität und Wohlstand. Ergänzt wird der Barcelona-Prozess durch das Nachbarschaftskonzept der EU. Es ist auf die Verringerung von Armut, die Schaffung eines Raumes gemeinsamen Wohlstandes und gemeinsamer Werte, wirtschaftliche Integration und die Stärkung der kulturellen und politischen Beziehungen gerichtet. Auch die im Juni 2004 proklamierte US-Initiative "Greater Middle East" zielt auf die Förderung von Demokratie und Good Governance im Nahen und Mittleren Osten, den Aufbau einer Wissensgesellschaft und den Ausbau der wirtschaftlichen Potenziale. Was diese Initiative vom Barcelona-Prozess und dem Nachbarschaftskonzept der EU unterscheidet, ist die mangelhafte Abstimmung mit den betroffenen Regierungen.
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Ludwig Watzal
2021-12-07T00:00:00
2011-10-05T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/28705/editorial/
Im November 2005 jährt sich die Konferenz von Barcelona zum zehnten Mal. Der so genannte Barcelona-Prozess stellt den institutionellen Rahmen für die Mittelmeerpolitik der EU dar.
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Mittelamerika: Einfluss und Rolle der organisierten Kriminalität | Kriege und Konflikte | bpb.de
Mittelamerika ist aufgrund seiner Lage zwischen Süd- und Nordamerika ein wichtiger Korridor für Drogen und andere illegale Güter. Lange Küstenlinien, dichte Regenwälder und unübersichtliche Grenzregionen bieten ideale Voraussetzungen für organisierte Kriminalität. Das in den Andenländern produzierte Kokain erreicht Mittelamerika über den Luft- und Seeweg und wird von dort weiter durch Mexiko in die USA und andere Abnehmerländer transportiert. Schätzungen zufolge sind das jährlich mehrere hundert Tonnen. Allein 2018 haben die USA 254 Tonnen Kokain mit einem Straßenverkaufswert von rund 24,4 Mrd. US$ beschlagnahmt (UNOC 2020). In Honduras, Guatemala und El Salvador – dem "nördlichen Dreieck" – kontrollieren lokale Gruppen und Organisationen die Umschlagplätze für Drogen und organisieren den Weitertransport nach Mexiko. Die Transportistas, die überwiegend in schwer zugänglichen Landesteilen agieren, verfügen häufig über Verbindungen in die Politik, Justiz und Sicherheitsapparate. Auch mexikanische Drogenkartelle sind mit ihrem internationalen Vertriebsnetz in Mittelamerika zu einflussreichen Akteuren geworden. Neben dem Drogenhandel sind die kriminellen Netzwerke auch an anderen illegalen Aktivitäten beteiligt: Waffenschmuggel und Geldwäsche, Menschen- und Kinderhandel, Schleusen von Migranten, Handel mit exotischen Tieren, illegaler Holzeinschlag sowie Raub, Mord und Entführungen (Insight Crime 2019 a u. b). Zusätzlich agieren vor allem in den urbanen Zentren der mittelamerikanischen Staaten kriminelle Straßenbanden. Die verfeindeten Barrio 18 und Mara Salvatrucha (MS13) zählen mit mehreren Zehntausend Mitgliedern zu den größten Gruppen. Obwohl sie in allen Ländern des nördlichen Dreiecks vertreten sind, agieren die einzelnen Verbände weitestgehend unabhängig. Seit den 2000er Jahren verfolgen die Regierungen von Honduras, Guatemala und El Salvador eine "Politik der harten Hand" (mano dura) gegen die Straßenbanden und brachten in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Mitglieder hinter Gitter. Ihren kriminellen Aktivitäten hat dies jedoch keinen Abbruch getan. Die überfüllten Gefängnisse haben sich zu regelrechten Hauptquartieren entwickelt, von wo aus u.a. die Erpressung von Bus- und Taxiunternehmern, Straßenhändlern, Ladenbesitzern und Privatpersonen beauftragt und gesteuert wird. Die Sicherheitslage im nördlichen Dreieck ist katastrophal. Zwar ist in den vergangenen Jahren die Mordrate etwas gesunken, was auf eine leichte Entspannung der Lage hindeuten könnte. Dennoch weist die Region im internationalen Vergleich nach wie vor eine der höchsten Mordraten auf. In El Salvador, Honduras und Guatemala sterben jährlich durchschnittlich mehr als 40 Menschen pro 100.000 Einwohner. Die meisten dieser Morde gehen auf professionelle Auftragsmörder, sogenannte Sicarios, der Banden MS13 und Barrio 18 zurück. In Kostarika, Nicaragua und Panama sind es knapp 10 Tötungen pro 100.000 Einwohner (UNOC 2019). Auswirkung auf Staat und Gesellschaft Das organisierte Verbrechen hat einen großen Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Kriminelle Netzwerke unterwandern die lokalen Institutionen des Staates und übernehmen de facto die Kontrolle in ihren Einflussgebieten. Beispielsweise werden in El Salvador rund 70 % der Privathändler und Unternehmen gezwungen, Schutzgeldzahlungen an die Straßenbanden zu entrichten (Briscoe/Keseberg 2019; International Crisis Group 2017). Die Erpressungen haben ein solches Ausmaß angenommen, dass die honduranische Handelskammer ihr Mitgliederverzeichnis nicht mehr veröffentlicht. Um ihren Einfluss zu sichern, achten die Straßenbanden auf die Einhaltung von Regeln, ahnden Verstöße und treten als Streitschlichter auf. In den von Banden kontrollierten Stadtgebieten liegt deshalb die Kleinkriminalität nicht selten auf einem sehr niedrigen Niveau. Die Behörden können dem kaum etwas entgegensetzen. Kriminelle Netzwerke bestechen auch Politiker, erzwingen Stillschweigeabkommen oder leisten Wahlkampfunterstützung, um der Strafverfolgung zu entgehen oder sich günstige Geschäftsbedingungen zu sichern. Kurz vor den Präsidentschaftswahlen in Guatemala 2019 wurde beispielsweise der Kandidat Mario Estrada von Beamten der amerikanischen Drogenbehörde DEA verhaftet, die sich als mexikanische Kartell-Mitglieder ausgegeben hatten. Estrada hatte ihnen versprochen, als Präsident gegen eine Zahlung von 12 Mio. Euro den Drogenschmuggel von guatemaltekischen Häfen in die USA aus zu erleichtern (Prensa Libre 2020). Die organisierte Kriminalität untergräbt die politische Stabilität und die wirtschaftliche Entwicklung Mittelamerikas. Zum einen mindert der Aderlass der lokalen Wirtschaft infolge der Unsicherheit und der Schutzgeldzahlungen den Umsatz der Unternehmen und das Steueraufkommen des Staates. Zum anderen sind die durch Geldwäsche oder Drogenschmuggel erwirtschafteten enormen Gewinne der Besteuerung entzogen. Die Einnahmen werden wiederum in Immobilien- und anderen Projekten gewaschen und treiben so die Lebenshaltungskosten in die Höhe. Oder die Gewinne werden ins Ausland verbracht und so ganz der nationalen Wirtschaft entzogen. Auch die Arbeitskraft schwindet. Denn es sind vor allem junge und erwerbsfähige Menschen, die sich den Banden anschließen, hinter Gittern sitzen, das Land verlassen oder der Bandengewalt zum Opfer fallen. Darüber hinaus entstehen den Ländern enorme Kosten für den Bau und Unterhalt von Gefängnissen. Besonders die Menschen in den schwer erreichbaren Regionen profitieren aber auch von den Gewinnen, die vor allem mit dem Drogenhandel erzielt werden. Durch die Verbindung zum Drogenhandel hat sich eine neue kaufkräftige Schicht entwickelt, die u.a. den Bau von öffentlichen Einrichtungen vorantreibt. So entstehen Schulen, Krankenhäuser, Sportplätze oder Restaurants in Gebieten, in denen der Staat bisher nur eine mangelhafte Infrastruktur zur Verfügung gestellt hat. Deshalb ist gerade in den strukturschwachen, ländlichen Gebieten die Akzeptanz der organisierten Kriminalität besonders hoch (Briscoe/Keseberg 2019). Organisierte Kriminalität bedroht und gefährdet massiv die Sicherheit der Bevölkerung. In El Salvador und Honduras sind die Opferzahlen ähnlich hoch wie sonst nur in Bürgerkriegsländern. Zwischen den Banden kommt es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen, bei denen auch Unbeteiligte in die Schusslinie geraten. Schutzgeldzahlungen werden zudem unter Androhung von Gewalt oder Mord eingetrieben. Insbesondere Frauen sind von sexueller Gewalt betroffen. Auch das z.T. massive Vorgehen der staatlichen Sicherheitsbehörden gegen die Banden treibt die Todeszahlen in die Höhe. Die Angst vor der Gewalt ist neben Armut und Perspektivlosigkeit zu einer zentralen Fluchtursache für viele Menschen geworden. Rund 7,5 Mio. illegal Eingewanderte aus Mexiko und Zentralamerika leben in den USA. Die Internationale Organisation für Migration schätzt zudem, dass jährlich rund 100.000 Migranten aus El Salvador, Honduras und Guatemala in den Vereinigten Staaten Asyl beantragen. Um nicht festgenommen zu werden, müssen die Flüchtlinge Schlepper und korrupte Grenzbeamte bezahlen und riskante Fluchtrouten nehmen. Während ihrer Flucht werden Migranten immer wieder verschleppt, misshandelt und sexuell missbraucht. Viele gelten als vermisst. Ende 2018 bildete sich daher in Honduras ein großer Migrationstreck, dem sich tausende Menschen aus El Salvador und Guatemala anschlossen, um im Schutz der Masse und zu Fuß durch Mexiko in die USA zu gelangen. Der Grenzübertritt wurde ihnen jedoch mit der Begründung verweigert, dass sie nicht aus einem Kriegsland kommen und deshalb keinen Anspruch auf Asyl haben. Dass die schwachen staatlichen Institutionen in Mittelamerika nur wenig gegen den Drogenschmuggel und die organisierte Kriminalität ausrichten können, belastete auch die politischen Beziehungen zu den USA unter der Präsidentschaft von Donald Trump. Er hatte mit massiven Kürzungen der finanziellen Hilfen an die mittelamerikanischen Länder gedroht, falls sie die Migrationstrecks nicht stoppen. Joe Biden hat derweil angekündigt, die Beziehungen zu Lateinamerika wieder zu stärken. Seinen Schwerpunkt setzt er dabei auf die Fluchtursachenbekämpfung in Mexiko und dem Nördlichen Dreieck. Trotz der milliardenschweren Zusagen zur Bekämpfung von Kriminalität und Armut zeichnet sich jedoch auch unter der Regierung Biden ab, dass die Region auf der außenpolitischen Agenda weiterhin keine Priorität genießt (GIGA 2021). Ursachen und Hintergründe Eine zentrale Ursache für die organisierte Kriminalität ist eine Kultur der Gewalt und des Rechtsbruchs, die sich unter den Bedingungen oft jahrzehntelanger politischer Instabilität etabliert hat. So sind in der Vergangenheit immer wieder bewaffnete Konflikte ausgebrochen. Über Jahrzehnte erschütterten Bürgerkriege, Militärputsche und gewaltsame Aufstände die Region. In diesen langen Phasen politischer Unruhen florierte die organisierte Kriminalität. Rebellengruppen und paramilitärische Einheiten, aber auch die Militärregime haben sich mit dem Handel illegaler Güter finanziert. Viele der damals etablierten Schmuggelrouten und Netzwerke bestehen bis heute. Aufgrund der hohen Nachfrage nach illegalen Drogen in den USA forcierte die Regierung in den 1980er Jahren einen "War on Drugs" gegen die kolumbianischen Drogenkartelle. Dabei wurden u.a. massive Kontrollen von Leichtflugzeugen durchgeführt, um den Schmuggel über karibische Inseln zu stoppen. In der Folge verlagerten sich die Schmuggelrouten auf den Landweg, wo die Kartelle ideale Bedingungen vorfanden. Zudem deportierten die US-Behörden Mitte der 1990er Jahre straffällig gewordene Einwanderer zurück in ihre Herkunftsländer. Darunter befanden sich zahlreiche Mitglieder der in Los Angeles gegründeten Banden MS-13 und Barrio 18. Inmitten der politischen Unruhen und den bereits vorhandenen kriminellen Strukturen konnten die Bandenmitglieder in Interner Link: Honduras, Guatemala und Interner Link: El Salvador schnell Fuß fassen und eigene Ableger aufbauen. Schwache politische Institutionen und weit verbreitete Korruption begünstigen bis heute das organisierte Verbrechen. Denn obwohl in den Ländern Mittelamerikas nach den politischen Unruhen die Sicherheitsapparate reformiert wurden, weisen diese nach wie vor erhebliche Mängel auf. So führen beispielsweise die schlechte Ausbildung und chronische Unterfinanzierung der Polizeieinheiten zu einer hohen Anfälligkeit für Korruption. Immer wieder tauchen Waffen aus Polizei- und Armeebeständen auf dem Schwarzmarkt oder in den Händen von kriminellen Gruppen auf. Zudem sind die Grenzen zwischen Politik und organisiertem Verbrechen fließend. Gegen zahlreiche hochrangige Politiker wird ermittelt, oder sie sind bereits verurteilt worden. So wurde beispielsweise der Sohn des ehemaligen honduranischen Präsidenten Porfirio Lobo (2010-2014) in den USA wegen Drogenschmuggels zu 24 Jahren Haft verurteilt. Auch der ehemalige guatemaltekische Finanzminister Valladares Urruela wurde in den USA wegen Geldwäsche im Umfang von 10 Mio. US-Dollar aus dem Drogenhandel und Bestechung von Politikern angeklagt (Washington Post 2020). Ein weiterer wesentlicher Faktor ist die verbreitete Straflosigkeit. Die Justiz ist häufig korrupt und wird von der Politik beeinflusst. Im Rule of Law Index rangieren El Salvador, Guatemala, Nicaragua und Honduras bei der Verurteilung krimineller und korrupter Machenschaften auf den letzten Plätzen (World Justice Project 2020). Nur ein kleiner Teil der zur Anzeige gebrachten Vorfälle landet auch tatsächlich vor Gericht. Dabei werden Schätzungen zufolge 80 % aller Straftaten aufgrund des mangelnden Vertrauens in die Justiz gar nicht erst zur Anzeige gebracht. Nach massiven Protesten der Bevölkerung gegen die verbreitete Straflosigkeit und auf Druck der UNO haben Guatemala und Honduras Kommissionen zur Bekämpfung der Straflosigkeit in Fällen von organisierter Kriminalität eingerichtet. Obwohl international gelobt, wurden in beiden Fällen die Mandate 2020 nicht verlängert, wohl weil der Politik die Arbeit der Kommissionen ein Dorn im Auge ist. Schließlich begünstigt auch die Armut, von der ein Großteil der mittelamerikanischen Bevölkerung betroffen ist, die Verbreitung und Akzeptanz der organisierten Kriminalität. Junge Menschen haben aufgrund geringer Schulbildung und schlechter Jobaussichten kaum eine Perspektive. Die Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation verspricht ein stabiles Einkommen, Rückhalt in der Gruppe, soziales Ansehen und eine gemeinsame Identität als "Ausgestoßene". Sie vermittelt das Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit. Dies erklärt, warum sowohl kriminelle Banden als auch transnationale Drogennetzwerke einen steten Zulauf an neuen Mitgliedern verzeichnen. Ausblick Die Regierungen der betroffenen Länder haben mehrere Anläufe genommen, um die organisierte Kriminalität einzudämmen. In Mexiko hatte über viele Jahrzehnte ein Stillhalteabkommen zwischen den Drogenkartellen und den regierenden Parteien eine relativ friedliche Phase ermöglicht. Die im Jahr 2006 von dem neu gewählten konservativen Präsidenten Felipe Calderón ausgerufene Militäroffensive gegen die Kartelle setzte jedoch eine Spirale der Gewalt in Gang. Ihr fielen innerhalb von fünf Jahren rund 120.000 Menschen zum Opfer (Heinle et. al. 2017; ICG 2020). Vergleichbares ließ sich auch in El Salvador beobachten, als die Regierung 2012 mit den Straßenbanden zuerst einen Waffenstillstand aushandelte, diesen dann aber 2014 wieder aufkündigte. Es bleibt abzuwarten, wie nachhaltig der Erfolg der "Politik der harten Hand" des aktuellen salvadorianischen Präsidenten, Nayib Bukele, sein wird. In den ersten zwei Jahren seiner Amtszeit ist die Mordrate auf ein Rekordtief gesunken, was wohl sowohl auf die massiv verstärkten Sicherheitsmaßnahmen der Regierung als auch auf einen erneuten informellen Pakt mit den Gangs zurückzuführen ist (vgl. epd 2020). Nicaragua und Kostarika konzentrieren sich mit scharfen Kontrollen und der Beschlagnahmung von Drogen auf eher traditionelle Maßnahmen. Große Drogenfunde in den vergangenen Jahren belegen, dass beide Länder, entgegen den öffentlichen Bekundungen ihrer Regierungen, nach wie vor wichtige Teile der Schmuggelrouten sind. Nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte lässt sich der tief verwurzelten Organisierten Kriminalität langfristig weder mit Stillhalteabkommen noch mit militärischen Offensiven oder harten Strafen beikommen. Eine wichtige Voraussetzung für dauerhafte Erfolge wäre die nachhaltige Stärkung der staatlichen Institutionen, um Straflosigkeit und Korruption wirksam zu bekämpfen, sowie die Bekämpfung der sozialen und wirtschaftlichen Ursachen der Kriminalität. Quellen / Literatur Literatur Externer Link: Arnson, Cynthia J./ Olson, Eric L. (2011): Organized Crime in Central America: The Northern Triangle, Woodrow Wilson Centre Reports on the Americas, Nr.29. Externer Link: Briscoe, Ivan/ Keseberg, David (2019): Only Connect: The Survival and Spread of Organized Crime in Latin America, PRISM Band 8, Nr. 1. Externer Link: Corporación Latinobarómetro (2018): Informe 2018. Externer Link: Deutsche Welle (2019): US cuts Aid to three Central American Countries over Migration. 01.04.2019. Externer Link: German Institute for Global and Area Studies (2021): Wenn der Ton nicht alles ist: Joe Biden und Lateinamerika, GIGA Focus Lateinamerika, Nr. 1. Externer Link: Heinle, Kimberly/ Rodriguez Fereira, Octavio/ Shirk, David A. (2017): Drug Violence in Mexico. Data and Analysis Through 2016. University of San Diego. Externer Link: InSight Crime (2019a): Extortion and Sexual Violence: Women’s Unspoken Suffering. Externer Link: InSight Crime (2019b): Street Gangs. Externer Link: Inter-American Development Bank (2017): The Costs of Crime and Violence: New Evidence and Insights in Latin America and the Caribbean. Externer Link: International Crisis Group (2011): Guatemala: Drug Trafficking and Violence, Latin America Report Nr. 39. Externer Link: International Crisis Group (2016): Easy Prey: Criminal Violence and Central American Migration, Latin America Report Nr. 57. Externer Link: International Crisis Group (2017a): El Salvador’s Politics of Perpetual Violence, Latin America Report Nr. 64. Externer Link: International Crisis Group (2017b): Mafia of the Poor: Gang Violence and Extortion in Central America, Latin America Report Nr. 62. Externer Link: International Crisis Group (2020): Miracle or Mirage? Gangs and Plungig Violence in El Salvador, Latin America Report Nr. 81. Externer Link: Internationale Organisation für Migration (2020): World Migration Report 2020. Externer Link: Maihold, Günter (2020): Rückschläge für Rechtsstaat und Korruptionsbekämpfung in Lateinamerika. SWP-Aktuell Nr.9. Externer Link: Migration Policy Institute (2020): Unauthorized Immigrants in the United States Stable Numbers, Changing Origins. Factsheet December 2020. Externer Link: Prensa Libre (2020): Mario Estrada es condenado a 15 años de prisión en EE. UU. por narcotráfico. 11.02.2020. Externer Link: Reuters (2019): U.S. Restores Aid to Central America after reaching Migration Deals. 17.10.2019. Externer Link: Sabet, Daniel M. (2020): When Corruption Funds the Political System: A Case Study of Honduras, Wilson Center Latin American Program. Externer Link: United Nations Office on Drugs and Crime (2020): Heroin and Cocaine Prices in Europe and USA. Externer Link: United Nations Office on Drugs and Crime (2020): World Drug Report 2020. Externer Link: United Nations Office on Drugs and Crime (2019): Global Study on Homicide 2019. Externer Link: Washington Post (2020): US charges ex-Guatemala economy chief with money laundering. 06.08.2020. Externer Link: World Justice Project (2020): The WJP Rule of Law Index 2020. Links Externer Link: epd (2020): Ermittlungen gegen Präsident in El Salvador wegen Banden-Kontakten Externer Link: International Crisis Group: Analysen und Berichte zu Mittelamerika Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung /Zentralamerika und Karibik Externer Link: Insight Crime: Nachrichten, Analysen und Berichte zur Organisierten Kriminalität in Mittelamerika Externer Link: World Justice Project (2020): The WJP Rule of Law Index 2020 Literatur Externer Link: Arnson, Cynthia J./ Olson, Eric L. (2011): Organized Crime in Central America: The Northern Triangle, Woodrow Wilson Centre Reports on the Americas, Nr.29. Externer Link: Briscoe, Ivan/ Keseberg, David (2019): Only Connect: The Survival and Spread of Organized Crime in Latin America, PRISM Band 8, Nr. 1. Externer Link: Corporación Latinobarómetro (2018): Informe 2018. Externer Link: Deutsche Welle (2019): US cuts Aid to three Central American Countries over Migration. 01.04.2019. 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Links Externer Link: epd (2020): Ermittlungen gegen Präsident in El Salvador wegen Banden-Kontakten Externer Link: International Crisis Group: Analysen und Berichte zu Mittelamerika Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung /Zentralamerika und Karibik Externer Link: Insight Crime: Nachrichten, Analysen und Berichte zur Organisierten Kriminalität in Mittelamerika Externer Link: World Justice Project (2020): The WJP Rule of Law Index 2020
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-04-12T00:00:00
2021-07-08T00:00:00
2022-04-12T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/dossier-kriege-konflikte/336263/mittelamerika-einfluss-und-rolle-der-organisierten-kriminalitaet/
In Mittelamerika erzielen grenzüberschreitend organisierte Gruppen mit Schmuggel enorme Gewinne. Dies geht mit einer der weltweit höchsten Mordraten einher. Die schwachen staatlichen Institutionen haben den kriminellen Strukturen nur wenig entgegenzu
[ "Mittelamerika", "Konfliktbearbeitung" ]
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Ein Reich für alle? | 150 Jahre Reichsgründung | bpb.de
"Wir haben Italien gemacht. Jetzt müssen wir die Italiener schaffen", soll der italienische Politiker Massimo d’Azeglio nach der Staatsgründung 1861 gesagt haben. Wenn es auch eine Ex-post-Zuschreibung war, so charakterisierte es doch gut die Situation. Eine Reihe von kleineren Fürstentümern war im neuen Königreich Italien aufgegangen. Ähnlich lagen die Dinge in Deutschland: Hier zerfiel 1866 der Deutsche Bund. Auch das Königreich Hannover, das Kurfürstentum Hessen-Kassel, das Herzogtum Nassau und die Freie Reichsstadt Frankfurt am Main fanden sich nun in Preußen wieder. "Deutsche" aber waren sie dadurch noch nicht. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 kamen die Elsässer und Lothringer zu Deutschland. Diese Erfahrung hatten die Dänen, die in Schleswig wohnten, bereits 1864 gemacht. Die alte Ordnung des Wiener Kongresses von 1815 löste sich auf. Würde eine neue Ordnung entstehen? Würde der äußeren eine innere Reichseinigung folgen? Und würde die deutsche Bevölkerung dem neuen Staat gegenüber loyal sein? Probleme, die bei der Staatsgründung nicht gelöst wurden, konnten langfristige Folgen haben. Das hatte sich in den Vereinigten Staaten gezeigt. Dort war die Sklavenfrage in der Verfassung von 1787 ausgeklammert worden; sie kehrte im Bürgerkrieg zwischen 1861 und 1865 mit Gewalt zurück. In Italien rächte sich, dass der Piemontese Camillo Benso von Cavour sein einiges Italien 1861 über die Köpfe der Bewohner des Südens hinweg gezimmert hatte, anstatt sich ihrer Loyalität zu versichern. Eine dringend nötige Landreform unterblieb, verarmte Bauern und ehemalige Soldaten bekämpften daraufhin als Briganten in den Wäldern die Grundbesitzer und die neue Obrigkeit aus dem Norden. Der Süden wurde faktisch vom Norden besetzt. Schon Zeitgenossen wiesen auf die Gemeinsamkeiten der Nationalstaatsgründungen in Italien und Deutschland hin. In beiden Fällen handelte es sich um eine Vereinigung vorher getrennter Staaten. Bismarck wurde mit Cavour, Preußen mit dem Königreich Sardinien-Piemont verglichen. Beide Staaten entstanden nach einem militärischen Sieg. Die politischen Ordnungen unterschieden sich jedoch: Während das Deutsche Reich ein monarchischer Bundesstaat war, wurde Italien zu einem aus der Hauptstadt straff geführten Zentralstaat. Es hat sich heute durchgesetzt, von der deutschen Reichsgründung als einem Ereignis zu sprechen, das ein Vorher und ein Nachher kannte: Zuerst gab es kein Kaiserreich, 1871 existierte es. Prozessbegriffe wie "Einigung" beschreiben dagegen den Vorgang nicht nur für Deutschland, sondern auch für Italien besser. Tatsächlich steckte die innere Einigung voller Widersprüche, und sie vollzog sich allmählich, über einen längeren Zeitraum hinweg, von 1867 bis etwa 1890, wenn nicht darüber hinaus. Das neue Bürgerliche Gesetzbuch für alle Deutschen trat zum Beispiel erst am 1. Januar 1900 in Kraft. 1871 wurden lediglich die Weichen gestellt, die zur inneren Gründung des Reiches führen sollten. Grundkonflikte der Reichseinigung Mehrere Grundkonflikte waren zwischen 1867 und 1871 sichtbar geworden, die den Prozess der inneren Einigung prägten. Was war das Reich überhaupt, ein Bund der Fürsten oder eine auf Verfassung und Parlament gestützte Ordnung? Wie würde sich das große Preußen mit seinem Militarismus gegenüber dem Rest des Reiches verhalten? Konnte aus der Gemeinsamkeit im Krieg gegen einen äußeren Feind ein friedliches Miteinander entstehen? Die innere Einheit des Reiches gründete nicht auf Gleichheit, sondern allein auf der Loyalität der Bevölkerung, gerade auch der Unterlegenen von 1866 und der beigetretenen Süddeutschen. Nationale Einheit bedeutete also nicht Homogenität, sondern beruhte auf dem Entschluss, zusammenzubleiben und Konflikte untereinander zu regeln. Alle Sieger des Reichseinigungskrieges gegen Frankreich erhielten ihre symbolische Anerkennung: In Bayern feierte man die Schlacht bei Weißenburg, in Sachsen die bei Gravelotte als eigenen Triumph und Beitrag zur Gründung. Diese Erfolge fanden ebenso Eingang in Schulbücher und Gedenkkalender wie der Sieg bei Sedan durch preußische Truppen. So wurde die Erzählung gestärkt, dass die Bundesstaaten und ihre Armeen, letztlich also die Fürsten, das Reich gegründet hatten. Entstanden war es nach dieser Lesart durch Verträge zwischen souveränen Staaten – wenn auch unter tatkräftiger Mithilfe Bismarcks, der beim Kaiserbrief die Feder führte und auch sonst mit Drohungen, Lockungen oder, wenn nichts mehr half, mit Geld den Vorgang beschleunigte, wie beim chronisch klammen Ludwig II. aus Bayern. Im Landtag in München stellte sich allerdings die Patriotenpartei, die über die Mehrheit der Sitze verfügte, zuerst gegen eine von Preußen angeführte Reichseinigung. Unter den Abgeordneten entbrannte eine Diskussion: Würde Bayern seine Selbstständigkeit retten, indem es nicht beitrat – oder sicherte nur ein Beitritt sein Fortbestehen? Der bayerische Außenminister Otto Graf von Bray-Steinburg hatte schon am 30. März 1870 bekannt: "Wir wollen Deutsche, aber auch Bayern sein." Selbst bei jenen bayerischen Abgeordneten, die eingefleischte Preußenfeinde waren, regten sich langsam Zweifel am Separatismus. Die bayerische Patriotenpartei spaltete sich über diese Frage. Eine Gruppe um den Augsburger Verleger Max Huttler befürchtete, dass die linksrheinische Pfalz und auch Franken den Bayern verloren gehen und der Staat der Wittelsbacher zerbrechen könnte, wenn man nicht beitrat. Schon deswegen war eine Vereinigung richtig, lautete nun die Logik vieler Patrioten. Am 21. Januar 1871 erreichten die Vertreter dieser Richtung ganz knapp die nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament. Das Argument der bayerischen Patrioten galt auch für andere Landesfürsten: Wollten sie ihre Stellung wahren, mussten sie einen monarchischen deutschen Bundesstaat unter preußischer Führung akzeptieren. Auch in den übrigen süddeutschen Staaten setzte sich diese Überzeugung durch: Die Selbstständigkeit ließ sich nicht mehr gegen den Norddeutschen Bund, sondern nur im Deutschen Reich sichern – durch Mitarbeit im Bundesrat und durch Parteien, welche die eigenen Interessen vertraten. War es bei der Wiedervereinigung 1990 so viel anders? Auch den fünf ostdeutschen Ländern, die wie im Fall Sachsens zum Teil sehr viel älter waren als die westdeutschen, ging es darum, ihre Selbstständigkeit in einer föderalen Bundesrepublik zu wahren. Ähnliches wiederholte sich auf europäischer Ebene: Für viele Polen oder Ungarn zum Beispiel garantierte in den politischen und ökonomischen Stürmen nach 1990 nur der Beitritt zur Europäischen Union die Fortexistenz des eigenen Landes. Staatspolitische Modernisierung Staatspolitisch führte die Einigung von 1870/71 zu einer Modernisierung: Die norddeutsche Verfassung wurde umgebaut, den süddeutschen Staaten mehr Mitsprache gewährt. Das Kaiserreich war insgesamt föderaler als der Norddeutsche Bund, weil der Bundesrat das politische Entscheidungszentrum bildete und Preußen hier keine Mehrheit besaß. Eine Koalition der süddeutschen Staaten konnte jederzeit ihr Veto gegen Verfassungsänderungen einlegen. Das entschärfte die Spannungen zwischen dem politischen Machtzentrum Berlin und den neu hinzugekommenen Staaten. Im neuen monarchischen Bundesstaat musste Preußen verhandeln und andere Regierungen überzeugen. Dieses Prinzip, das 1871 festgeschrieben wurde, spurte sogar noch das ausgedehnte föderale Verhandlungssystem der Bundesrepublik nach 1949 vor. Zwischen 1867 und 1871 entstand eine zentrale föderale Institution, die von erstaunlicher Dauer sein sollte: der Bundesrat, in dem die Stimmen bis heute nach Bevölkerungszahl gewichtet werden und der die Vertretung der Länderexekutiven ist, nicht der Landtage. Anders als der Reichs- und heute der Bundestag mit seinen Legislaturperioden war und ist der Bundesrat ein kontinuierliches Gremium. Der Staatsrechtler Paul Laband beschrieb das Reich als Bundesstaat, bei dem die Souveränität beim Gesamtstaat lag, und grenzte es so vom Deutschen Bund als einem Staatenbund mit souveränen Einzelstaaten ab. Juristen diskutierten mit einer gewissen Obsession ebendiese Souveränität: Sie erörterten die "Kompetenzen setzende Kompetenzkompetenz" oder die "Bundestreue", die stets als Treue der Einzelstaaten gegenüber dem Reich verstanden wurde, nie umgekehrt. Wenn von "innerer Einheit" die Rede war, meinte dies meist, dass andere deutsche Staaten nachahmten, was Preußen vormachte. Der stärkste Staat im Bund wirkte durch seine schiere Größe und die Erfahrung seiner Verwaltung unitarisierend. Der Föderalismus schloss den Unitarismus also gerade nicht aus, sondern schien ihn voranzutreiben. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war es die preußische Verwaltung, die Gesetzentwürfe für den Reichstag ausarbeitete, nicht der Bundesrat. Der württembergische Minister Hermann von Mittnacht meinte 1872 im Reichstag, "dass die Rechtsanschauungen und die Rechtsbildung eines Staates [Preußen] doch vorzugsweise bestimmt sind, nationales Recht zu werden". Wenn Preußen und Bayern übereinstimmten, war dies eine vorweggenommene Entscheidung. Preußens Einfluss reichte bis in die Organisation von Universitäten und Schulen, klassischen Domänen der Länder. Dennoch bestand ein Dualismus zwischen Preußen und dem Reich: Gerade die Anhänger eines spezifischen preußischen Staatsbewusstseins blieben skeptisch bis ablehnend gegenüber Bismarcks Politik. Ihr Horrorszenario war, dass Preußen einmal in Deutschland aufgehen könnte. "Der Bismarck ruiniert noch den ganzen preußischen Staat", war unter Beamten zu hören. Am schärfsten kritisierten ostelbische Rittergutsbesitzer den Reichskanzler, denn dieser bedrohte mit der preußischen Kreisreform 1872 deren lokale Vormachtstellung, um sie gefügig zu machen. Die Zollgesetzgebung schuf von 1879 an die Basis für eine neue Zusammenarbeit zwischen der Reichsführung und den Konservativen in Industrie und Landwirtschaft. Sie wurde gern als Koalition von "Roggen und Eisen" oder "Rittergut und Hochofen" bezeichnet. Nach 1871 wuchsen die deutschen Staaten tatsächlich zusammen. Man war nicht mehr entweder Bayer oder Deutscher, sondern man war Deutscher, weil man Bayer war (und man war Bayer, weil man Nürnberger war). Heimat war nichts Exklusives mehr, sondern jeder Deutsche besaß seine Heimat und seinen Bundesstaat. Integration durch Demokratie Die zweite Erzählung der Einheit kreiste um Volk, Reichstag und Verfassung. Das Reich beruhte demnach auf der Souveränität des deutschen Volkes. Entsprechend bot der Reichstag, vertreten durch seinen Präsidenten Eduard Simson, Wilhelm I. die Kaiserkrone an. Simson hatte dies bereits 1849 bei Wilhelms Bruder Friedrich Wilhelm IV. versucht, ohne Erfolg. Diesmal nahm der König zwar an, jedoch nur, weil ihm auch die deutschen Fürsten die Krone angetragen hatten. Als offiziellen Reichsgründungsakt feierten die Deutschen jährlich die Proklamation durch die Fürsten und Könige am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles – darum hatten die Sozialdemokraten allen Grund für bissige Kritik: Das Kaiserreich sei ein Fürstenstaat, kein Volksstaat. Und dennoch, auch wenn sie in den Dezember- und Januartagen 1870/71 in der zweiten Reihe hatten stehen müssen, entfalteten Reichstag, Parteien und Wahlen eine integrative Kraft. Der Reichstag vereinheitlichte Münzen, Maße und Gewichte, führte ein neues Handelsgesetzbuch ein und begann die Arbeit am Bürgerlichen Gesetzbuch. Jeder Deutsche konnte sich im Reich niederlassen, wo er wollte, Zuzugsbeschränkungen wurden aufgehoben. Für Unterstützung bei Krankheit und Verarmung war der Wohnort zuständig, nicht wie früher der Heimatort. Die Reichsjustizgesetze von 1877, insbesondere das Gerichtsverfassungsgesetz, garantierten Rechtsgleichheit für alle Deutschen, ein kaum zu überschätzendes Moment der Egalisierung. In dieselbe Richtung wirkten die Anfänge der Sozialgesetzgebung: die Krankenversicherung 1883, die Unfallversicherung 1884, die Alters- und Invaliditätsversicherung 1889 und die Rentenversicherung 1891. Das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht war ebenfalls integrativ: Süddeutsche Gegner Preußens gingen ebenso zur Wahl wie bayerische Patrioten und großdeutsche Demokraten aus Württemberg. Ihre Vertreter setzten sich dann im Reichstag für ihre Belange ein. Auf der Hand liegt der Vergleich mit 1990, als die Nachfolgepartei der SED, die PDS, bei den gesamtdeutschen Bundestagswahlen antrat und in den Bundestag einzog. Die KPD hatte das 1919 nicht getan und damit signalisiert, dass sie ihren Widerspruch gegen die Weimarer Republik nicht im Reichstag, sondern gegen ihn erheben würde. Im jungen Kaiserreich formierte sich ein mehr oder weniger einheitliches Parteiensystem, das die reichsweiten politisch-sozialen Spannungen im Parlament abbildete. Die Integrationswirkung des Reichstags ist ablesbar an der hohen Wahlbeteiligung, besonders in den neu zu Preußen gekommenen Gebieten, in Sachsen und in Süddeutschland: In Bayern etwa lag sie 1871 mit 60 Prozent deutlich über dem Reichsdurchschnitt von knapp 53 Prozent. Überall stieg die Wahlbeteiligung, was auch den ausgeprägten Konflikten im Reich geschuldet war. Der Kulturkampf gegen die katholische Kirche nach 1872 schuf Gemeinsamkeiten zwischen dem Passauer und dem ermländischen, dem Aachener und dem schlesischen Katholiken: Sie alle wehrten sich, indem sie die katholische Zentrumspartei wählten. 1874 erreichte diese fast 28 Prozent aller Stimmen, neun Prozentpunkte mehr als 1871. Sie errang 91 Mandate und wurde erneut zweitstärkste Fraktion nach den Nationalliberalen. Ähnlich wirkten sich die Sozialistengesetze von 1878 bis 1890 auf die Sozialdemokraten aus: 1912 bekamen sie fast 35 Prozent der Stimmen und bildeten mit 110 Abgeordneten die bei Weitem stärkste Fraktion im Reichstag. Die Parteien aggregierten ähnlich gelagerte Interessen aus den verschiedenen Teilen des Reiches zu einem einheitlichen Programm. Das traf auf Liberalismus, Konservativismus, politischen Katholizismus wie auch den Sozialismus zu. Auch die nationalen Minderheiten – 2,5 Millionen Polen, 200.000 Dänen sowie 1,5 Millionen Elsässer und Lothringer – waren im Parlament vertreten. Der Reichstag wurde zur Arena innerdeutscher Konflikte, die nicht mehr auf der regionalen Ebene verblieben, sondern auf nationaler Ebene ausgehandelt werden konnten. Die wachsende Bedeutung der Presse flankierte diesen Prozess: Die meisten Blätter rechneten sich jeweils einer politischen Richtung zu; die Weltanschauungsparteien versorgten ihre Anhänger mit eigenen Nachrichten, die deren Ansichten untermauerten. Die wachsende nationale Partizipation ging jedoch mit wachsender Ausgrenzung und Aggression einher. Bismarcks Bündnis mit den Konservativen durch die Schutzzollgesetze von 1879 leitete einen konservativen Umbau des Nationalstaates ein: Den Gegnern der Ideen von 1848 gelang es, die Deutungshoheit über alles Nationale zu gewinnen. Fast vergessen schienen die Ideale der Paulskirche. Es ist kein Zufall, dass ebenfalls 1879 Heinrich von Treitschke seine Hasstiraden gegen Juden abließ und sie als polnische Hosenverkäufer und grundsätzlich undeutsch diffamierte. Der Antisemitismus stieg zur politischen Kraft auf; immer mehr Deutsche sprachen ihren jüdischen Nachbarn ab, Deutsche zu sein. Ambivalente Einheit Die deutsche Nation wirkte als "Wertegemeinschaft" und "Machtmaschine" zugleich, wie der Historiker Dieter Langewiesche es formulierte: Machtmaschine war das Reich durch die Kraftentfaltung seiner Wirtschaft, mehr noch durch das Militär zu Lande, später durch die Flotte auch zu Wasser. Aus Kriegen war das Kaiserreich geboren, und der Krieg blieb ihm eingeschrieben. Die Befehlsgewalt über das Militär lag beim Kaiser, nicht beim Reichstag. Des Kaisers Regierung kontrollierte den Heeresetat und ließ sich auch vom Bewilligungsrecht des Reichstags nicht zügeln. Im Gegenteil: Wurde seine militärische Kontrollgewalt auch nur entfernt infrage gestellt, suchte der Oberbefehlshaber den Konflikt mit dem Parlament. Als der Reichstag 1887 Bismarcks Pläne für einen siebenjährigen Wehretat ablehnte, löste der Kanzler ihn auf und schrieb Neuwahlen aus. "Parlamentsheer" oder "kaiserliches Heer" lauteten nun die Wahlparolen von Sozialdemokraten und Linksliberalen auf der einen Seite sowie Konservativen und Nationalen, bekannt als Kartellparteien, auf der anderen. Das "kaiserliche Heer" errang einen deutlichen Sieg. Und an den Rockschößen des Bismarck-Kartells zog der erste offene Antisemit in den Reichstag ein, der "hessische Bauernkönig" Otto Böckel. Die aggressive Machtentfaltung der kaiserlichen Obrigkeit traf im Inneren die Sozialdemokraten und alle Linken, auch die Katholiken, doch vor allem die Juden. Eine Machtmaschine war das Reich aber auch nach außen. Der anfangs gebremste, dann sehr offene Wunsch nach Kolonien und einer Flotte mündete in eine imperiale Außenpolitik. Bezeichnenderweise war die neue Flotte die einzige Waffengattung, die dem Reich unterstand, nicht den Ländern. Als 1913 ein neues Staatsbürgerschaftsrecht erlassen werden sollte, entbrannte ein Streit darum, ob die Ausbreitung des Deutschtums oder die Ableistung der Wehrpflicht im Reich der leitende Gesichtspunkt dafür sein sollte, wer deutscher Staatsbürger war. Das Auswärtige Amt und das preußische Kriegsministerium hielten Distanz zur ethnischen Definition eines Deutschen, was Deutschtum zu einem unverlierbaren Merkmal machte. Sie koppelten die Volksgemeinschaft an den staatlich abzuleistenden Wehrdienst, die Wehrgemeinschaft. Bei der Flotte folgte man dagegen dem Grundsatz: einmal Deutscher, immer Deutscher. Die Haltung des Militärs in dieser Frage zeigte die ganze Ambivalenz von deutscher Einheit und deutscher Machtmaschine. Dieser Text ist eine um Literaturverweise erweiterte, leicht veränderte Fassung desselben Beitrags in: ZEIT Geschichte 4/2020. Alle Rechte verbleiben beim ZEIT Verlag. Franz J. Bauer, Nation und Moderne im geeinten Italien (1861–1915), in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1/1995, S. 16–31. Vgl. Daniel Ziblatt, Structuring the State: The Formation of Italy and Germany and the Puzzle of Federalism, Princeton 2006; Lucy Riall, Risorgimento: The History of Italy from Napoleon to Nation State, New York 2009; Francesco Traniello/Gianni Sofri (Hrsg.), Der lange Weg zur Nation: Das italienische Risorgimento, Stuttgart 2012. Vgl. Hans-Michael Körner, Staat und Geschichte in Bayern im 19. Jahrhundert, München 1992; Siegfried Weichlein, Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich, Düsseldorf 20062. Michael Doeberl, Bayern und die Bismarckische Reichsgründung, München–Berlin 1925, S. 88. Vgl. Dirk Götschmann, Der Funktionswandel des Föderalismus im Kaiserreich am Beispiel Bayerns, in: Gerold Ambrosius/Christian Henrich-Franke/Cornelius Neutsch (Hrsg.), Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive, Bd. 6: Integrieren durch Regieren, Baden-Baden 2018, S. 243–260. Vgl. Alan Steele Milward, The European Rescue of the Nation-State, London 1992. Vgl. Gerhard Lehmbruch, Der Entwicklungspfad des deutschen Bundesstaats – Weichenstellungen und Krisen, in: Gerold Ambrosius/Christian Henrich-Franke (Hrsg.), Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive, Bd. 2: Föderale Systeme: Kaiserreich – Donaumonarchie – Europäische Union, Baden-Baden 2015, S. 327–370. Vgl. Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871–1918), Frankfurt/M. 1997. So schon Arnold Brecht, Föderalismus, Regionalismus und die Teilung Preussens, Bonn 1949. Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat. Regelsysteme und Spannungslagen im Institutionengefüge der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 1998, S. 63. Vgl. Hans-Peter Goldberg, Bismarck und seine Gegner: Die politische Rhetorik im kaiserlichen Reichstag, Düsseldorf 1998. Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund: 1867–1870, Düsseldorf 1985, S. 433ff. Vgl. Wolfgang Hardtwig, Nation – Region – Stadt. Strukturmerkmale des deutschen Nationalismus und lokale Denkmalskulturen, in: Gunther Mai (Hrsg.), Das Kyffhäuser-Denkmal 1896–1996. Ein nationales Monument im europäischen Kontext, Köln 1997, S. 54–84. Vgl. Andreas Biefang, Die andere Seite der Macht: Reichstag und Öffentlichkeit im "System Bismarck" 1871–1890, Düsseldorf 2009. Vgl. Michael Stolleis, "Innere Reichsgründung" durch Rechtsvereinheitlichung 1866–1880, in: Christian Starck (Hrsg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze. Bedingungen, Ziele, Methoden, Göttingen 1992, S. 15–41. Vgl. Helmut Dubiel, Integration durch Konflikt, in: Soziale Integration 39/1999, S. 132–143. Das Argument geht schon zurück auf Georg Simmel, Der Streit (1908), in: ders./Otthein Rammstedt (Hrsg.), Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt/M. 1992, S. 284–382. Vgl. Dieter Langewiesche, Was heißt "Erfindung der Nation"? Nationalgeschichte als Artefakt – oder Geschichtsdeutung als Machtkampf, in: Historische Zeitschrift 277/2003, S. 593–617. Vgl. Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001, S. 310–327.
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, Siegfried Weichlein
2022-02-09T00:00:00
2021-01-04T00:00:00
2022-02-09T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/reichsgruendung-2021/325041/ein-reich-fuer-alle/
Es hat sich durchgesetzt, von der Gründung des Deutschen Reiches als einem Ereignis zu sprechen, das ein Vorher und ein Nachher hatte. Tatsächlich steckte die innere Einigung voller Widersprüche, und sie vollzog sich allmählich, über einen längeren Z
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Föderalismus und Regionalismus in Österreich | Österreich | bpb.de
Das Gedenkjahr 2018 hat auch für den österreichischen Föderalismus Relevanz. Zwar erfolgte die Konstituierung Österreichs als Bundesstaat erst mit dem Inkrafttreten der Bundesverfassung am 1. Oktober 1920, die Weichen wurden jedoch bereits in den ersten Novembertagen des Jahres 1918 gestellt. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie im Oktober/November 1918 erklärten die meisten deutschsprachigen Kronländer Cisleithaniens, also des österreichischen Teils der Habsburgermonarchie, ihren Beitritt zum Deutsch-Österreichischen Staat, wie es in den Erklärungen jeweils gleich lautete. Daraus resultiert der Gründungsmythos der Republik, der von föderalistischer Seite gerne vertreten wird: Die Länder hätten den Bundesstaat begründet (und nebenbei gesagt, dies 1945 gleich ein zweites Mal). Freilich deutet schon der Gleichklang der Beitrittserklärungen darauf hin, dass sie koordiniert waren. Tatsächlich muss die Gründung der Republik, die am 12. November 1918 ausgerufen worden war, als ein paralleler Vorgang zwischen Bund und Ländern verstanden werden. Die Frage, wer zuerst da war, ist müßig, es hätte den österreichischen Bundesstaat nicht ohne die gleichzeitige Existenz der Zentralregierung und der Landesebene gegeben. Staatsrechtliche Grundlagen des Föderalismus in Österreich Die Bundesverfassung (B-VG) erklärt Österreich in Art. 2 B-VG als Bundesstaat. Damit ist noch nichts über die institutionelle Ausgestaltung ausgesagt. "Die Beantwortung der Frage, ob es dieser Verfassung gelungen ist, aus Österreich einen Bundesstaat zu machen, wird von der jeweiligen Bestimmung des Bundesstaatsbegriffs abhängen", schrieben die Verfassungsrechtler Hans Kelsen, Georg Fröhlich und Adolf Merkl 1922. Der österreichische Bundesstaat weist alle Merkmale auf, die in der Staatstheorie mit einem solchen Gebilde verbunden sind: Dazu gehört erstens, dass die Gesetzgebung und die Vollziehung auf zwei Ebenen, Bund und Länder, aufgeteilt sind. Das zweite Kriterium eines Bundesstaates ist die Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung: In Österreich erfolgt diese – wie in Deutschland – im Wege des Bundesrates als der zweiten Kammer des Parlaments, das somit aus Nationalrat und Bundesrat besteht. Die Rechtsstellung des österreichischen Bundesrates ist im Vergleich mit seinem deutschen Pendant schwach: Er hat im Wesentlichen lediglich Zustimmungsrechte zu Verfassungsänderungen zulasten der Länder (Art. 44 Abs. 2 B-VG) und zu Staatsverträgen (Art. 50 Abs. 1 Z. 2 B-VG), die den Zuständigkeitsbereich der Länder regeln. Im Übrigen verfügt der Bundesrat nur über ein suspensives Veto, über das sich der Nationalrat mit Beharrungsbeschluss hinwegsetzen kann (Art. 42 B-VG). Zur rechtlichen Schwäche kommt die politische hinzu: Die Mitglieder des Bundesrates orientieren ihr Abstimmungsverhalten nicht an artikulierten Länderinteressen, sondern an dem Abstimmungsverhalten ihrer jeweiligen Parteikolleginnen und -kollegen im Nationalrat. Zum Wesen eines Bundesstaates zählt außerdem die sogenannte Verfassungsautonomie der Länder, also ihre Befugnis, ihre innere Organisation und Struktur im Rahmen der gesamtstaatlichen Verfassung selbst zu regeln. Eine solche Verfassungsautonomie der österreichischen Länder existiert. Schließlich ist die eigenständige Finanzhoheit der Länder ein Kriterium des Bundesstaates. Die österreichischen Länder verfügen zwar über eine Budgethoheit, beziehen ihre Einnahmen aber weitgehend aus dem Finanzausgleich und erheben insbesondere keine eigenen Steuern. Der damalige Vorarlberger Landeshauptmann Otto Ender (1875–1960) sprach in einer der letzten Diskussionsrunden zwischen Vertretern der Zentralregierung und den Ländern im Jahre 1920 von einem dreifach getöteten, erschlagenen Föderalismus. Er meinte damit die geringe Kompetenzausstattung der Länder, die fehlende Steuerautonomie und den hohen Zentralisierungsgrad der Vollziehung durch eigene Bundesbehörden. Daran hat sich in den vergangenen nahezu hundert Jahren kaum etwas geändert. Im internationalen Vergleich ist der österreichische Föderalismus ein sogenannter Verbundföderalismus, auch kooperativer Föderalismus genannt: Bundes- und Landesebene sind im Wege der Kompetenzverteilung, vor allem aber auch in der Vollziehung von Gesetzen eng miteinander verflochten. Insoweit ähnelt der österreichische Föderalismus durchaus dem deutschen Modell. Im Gegensatz dazu steht ein dualer Föderalismus, in dem die Funktionen der Bundes- und der Landesebene streng getrennt sind, wie dies etwa in den USA der Fall ist. Mit der schwachen legislativen Kompetenzausstattung Hand in Hand geht die Schwäche der Landtage. Während es den Landesexekutiven gelingt, im Rahmen des kooperativen Föderalismus die verfassungsrechtlich und unionsrechtlich eingeschränkte Gestaltungsmacht zu kompensieren und auch an der Europäisierung teilzuhaben, sind die Landtage marginalisiert. Realien des Föderalismus in Österreich Neun selbstständige Länder Art. 2 Abs. 2 B-VG bestimmt, dass der Bundesstaat aus den neun selbstständigen Ländern Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol, Vorarlberg und Wien gebildet wird. Die Unterschiede zwischen den Ländern in territorialer und bevölkerungsmäßiger Hinsicht sind beträchtlich, wenngleich die Disparitäten insgesamt nicht so stark wie in anderen Bundesstaaten sind: Wien, das gleichzeitig Stadt und Gemeinde ist, ist das bevölkerungsreichste (1,86 Millionen Einwohner, 415km²) und gleichzeitig flächenmäßig kleinste Bundesland, das bevölkerungsmäßig kleinste Bundesland ist das Burgenland mit etwa 292.000 Einwohnern, das in territorialer Hinsicht größte Bundesland ist Niederösterreich mit 19.186km², das mit 1,65 Millionen Einwohnern nur knapp hinter Wien liegt. Auch Österreich ist derzeit stark von Urbanisierung geprägt, was zu einer wachsenden Bedeutung Wiens und seines niederösterreichischen Umlandes führt. Dies verstärkt die schon aus historischen Gründen (Wien war die Hauptstadt des Habsburgerreiches) bestehende Dominanz der Hauptstadt in vielerlei Hinsicht. So sind im Gegensatz etwa zu Deutschland praktisch alle Institutionen von gesamtstaatlicher Bedeutung wie der Verfassungsgerichtshof, der Verwaltungsgerichtshof oder der Rechnungshof, von den Ministerien ganz abgesehen, in Wien angesiedelt. Bedeutung des kooperativen Föderalismus Die Bedeutung des kooperativen Föderalismus im österreichischen Bundesstaat ist unbestritten. Wichtig ist insbesondere die Landeshauptleutekonferenz, wo Länderpositionen sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene koordiniert werden. Das Gremium wird in der Bundesverfassung selbst nicht erwähnt und arbeitet informal. Diese Informalität ist einerseits Stärke, weil es Flexibilität in der Formulierung der Positionen ermöglicht, andererseits aber ebenso Schwäche, weil nur dann, wenn die Landeshauptleute in der Lage sind, die jeweiligen Positionen ihrer Parteien auch auf Bundesebene zu beeinflussen, ihre Standpunkte Gewicht haben. Die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte war insgesamt von einer zunehmend mächtigeren Position der Landeshauptleutekonferenz geprägt. Inwieweit die gegenwärtige ÖVP/FPÖ-Koalition den Einfluss der Landeshauptleutekonferenz reduzieren wird, ist noch ungewiss. Föderalistisches Bewusstsein in Österreich Föderalismus ist in Österreich, dem Staatsrechtler Ewald Wiederin zufolge, "eine Sache für das Gemüt". Föderalismus ist zwar im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger weitgehend positiv verortet, aber die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und regionale Rechtsdifferenzierung zu akzeptieren, vergleichsweise wenig stark ausgeprägt. Dieses auch in Deutschland zu beobachtende Phänomen hat der deutsche Politologe Roland Sturm als "Föderalismus-Paradox" bezeichnet. Die empirischen Befunde bestätigen diese These: In Umfragen wird der Landesebene von den Bürgerinnen und Bürgern ein deutlich höheres Vertrauen entgegengebracht als der Bundesebene oder gar der europäischen Ebene. Geschlagen werden die Länder im Vertrauensbonus allerdings von den Gemeinden, was durch deren Nähe zu den Bürgerinnen und Bürgern zu erklären ist. Detailreichere Befunde liegen aus verschiedenen Studien für die Jahre 2009 und 2010 vor. Die Aussage "Wir brauchen die Länder nicht mehr" wurde österreichweit von 79,3 Prozent der Befragten abgelehnt. Die Arbeit der Länder (und Gemeinden) wird deutlich besser bewertet als jene des Bundes und der EU. Die Bandbreite der Unterstützung schwankt unter den Ländern nur wenig. Dem steht gegenüber, dass sich die Menschen mehr Einheitlichkeit in den Lebensbedingungen wünschen und bezüglich eines Wettbewerbs unter den Ländern kritisch eingestellt sind. Dessen ungeachtet möchten die Bürgerinnen und Bürger "mehr Macht" für die Länder gegenüber der Bundesebene. Föderalismus und Grenzüberschreitung Die Länder im europäischen Mehrebenensystem Die Europäische Union hat auch auf den österreichischen Föderalismus beträchtliche Auswirkungen. Die Beteiligungsrechte der Länder am Willensbildungsprozess in der Europäischen Union sind mit jenen der deutschen Länder durchaus vergleichbar. Ganz dem Geist des kooperativen Föderalismus österreichischer Prägung entsprechend erfolgt jedoch Ländermitwirkung nicht über den Bundesrat, sondern faktisch im Wege von innerhalb der Länderexekutiven abgestimmten Beschlüssen. Die Länder sind befugt, durch sogenannte einheitliche Länderstellungnahmen den Bund in Beratungen und Abstimmungen auf der europäischen Ebene zu binden, wenn es sich um Angelegenheiten handelt, die in den selbstständigen Wirkungsbereich der Länder fallen. Der Bund ist allerdings gemäß Art. 23d B-VG ermächtigt, aus zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen von einer solchen Stellungnahme abzuweichen. Die Länder haben bisher insgesamt 122 einheitliche Länderstellungnahmen auf der Grundlage von Art. 23d B-VG erstattet. Der Bund hat sich in den meisten Fällen daran gehalten, offene Konflikte zwischen Bund und Ländern in europäischen Angelegenheiten gab es praktisch keine. Der Nationalrat verfügt gemäß Art. 23e Abs. 3 B-VG ebenfalls über das Recht, bindende Stellungnahmen gegenüber der Bundesregierung zu formulieren, übt dieses aber nur selten aus. Im Verfahren der Subsidiaritätskontrolle auf der Grundlage des Vertrags von Lissabon ist der Bundesrat sehr engagiert, auch im Vergleich mit anderen nationalen Parlamentskammern. Die Länder als Akteure der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit Die österreichischen Länder verfügen gemäß Art. 16 B-VG über die Kompetenz, mit anderen Staaten oder deren Teilstaaten sogenannte Länderstaatsverträge abzuschließen. Diese 1988 den Ländern übertragene Zuständigkeit beruhte auf einer langjährigen Forderung derselben, von der sie allerdings bis heute keinen Gebrauch machten. Grund dafür ist nicht nur das umständliche Verfahren, das den Landeshauptmann als Vertreter des Landes gegenüber dem Bundespräsidenten zu einem untergeordneten Organ macht, sondern auch der Umstand, dass die Länder in der Praxis lieber informellere Wege gehen. Die Länder unterhalten eine Vielzahl grenzüberschreitender Kontakte, mit einer besonderen Verdichtung in Tirol mit dem EVTZ (Europäischer Verbund territorialer Zusammenarbeit) Europaregion Tirol – Südtirol – Trentino, in Vorarlberg mit der Internationalen Bodenseekonferenz (IBK), in Kärnten mit dem EVTZ Euregio "Senza Confini" Kärnten, Friaul Julisch Venetien und Veneto. Daneben gibt es zwischen den Ländern und ihren Nachbarregionen noch zahlreiche weitere Gesprächsrunden und Kooperationsplattformen. Im Rahmen dieser Kooperationen können bestimmte Politikbereiche sowie gemeinsame Maßnahmen im Rahmen der Zuständigkeiten der Partner abgestimmt werden. Warum also sollten sie einen Staatsvertrag abschließen müssen, der letzten Endes nach den Bestimmungen des Art. 16 B-VG nicht vom Landeshauptmann, sondern vom Bundespräsidenten unterzeichnet würde? Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Länder stellt sich vielfältig dar, auch wenn sie aufgrund ihrer beschränkten Zuständigkeiten beziehungsweise der noch geringeren Schnittmenge der gemeinsamen Zuständigkeiten der jeweiligen Partner der Kooperation mitunter rasch an ihre Grenzen stößt. Dies gilt auch für die beiden bereits erwähnten EVTZ. Die Möglichkeit der Partner eines solchen EVTZ, grenzüberschreitend zusammenzuarbeiten, ist eine beachtliche Leistung des EU-Rechts, weil damit für subnationale Entitäten die Möglichkeit geschaffen wurde, über die Staatsgrenzen hinweg institutionalisiert zu kooperieren, ohne dazu einer verfassungsrechtlichen Grundlage zu bedürfen. Föderalismus im Regierungsprogramm der ÖVP/FPÖ-Koalition In dem am 16. Dezember 2017 vorgestellten Regierungsprogramm von ÖVP und FPÖ ist insbesondere das erste Großkapitel "Staat und Europa" mit den Unterkategorien "Verwaltungsreform und Verfassung" beziehungsweise in weiterer Folge "Moderner Bundesstaat" von föderalistischer Bedeutung. In Summe überwiegen die zentralistischen Tendenzen trotz vereinzelter Bekenntnisse zu Subsidiarität deutlich. Letztere werden in erster Linie im Kontext der Europäischen Union geäußert. Die Wortwahl des Programms lässt eine Wertschätzung föderaler Strukturen und ihrer Vorzüge eher vermissen. Mitunter wird darauf hingewiesen, veraltete Strukturen überwinden zu müssen, und damit auch angedeutet, wohin die Reise gehen soll. Wie in früheren Regierungsprogrammen wird hingegen das angestrebte Einvernehmen zwischen Bund und Ländern betont. Dies ist alles nichts Neues und geradezu typisch für kooperativen Föderalismus im unitarischen Bundesstaat. Zu verschiedenen Themenbereichen des Regierungsprogramms liegen bereits Positionierungen der Regierung vor. Im Zusammenhang mit einer angepeilten Entflechtung der Kompetenzverteilung ist unter dem Titel "Moderner Bundesstaat" die Abschaffung des Kompetenztypus der Grundsatz- und Ausführungsgesetzgebung in Art. 12 B-VG vorgesehen. Hier verfügt der Bund über die Zuständigkeit, allgemeine Grundsätze aufzustellen, die von den Ländern in Form von Ausführungsgesetzen näher konkretisiert werden müssen. In der Theorie könnte eine derartige Form der Gesetzgebung ein durchaus wirkungsvolles bundesstaatliches Instrument sein. Die Konsequenz einer funktionierenden Grundsatz- und Ausführungsgesetzgebung, die darin liegt, regionale Differenzierungen bei gleichzeitiger Wahrung gewisser von zentraler Stelle festgelegter "Mindeststandards" zuzulassen, würde letztendlich der bundesstaatlichen Idee, Vielfalt mit Einheit zu verbinden, am besten entsprechen. Die österreichische Praxis konnte diese Ansprüche nicht einlösen. Die Grundsatzgesetze des Bundes sind viel zu detailliert. Hinzu kommt noch, dass die Länder sich ihnen eröffnende Spielräume mitunter nicht ausnützen. Dieser Befund deckt sich zudem mit internationalen Entwicklungen: Zwar finden sich vergleichbare Kompetenztypen auch in anderen europäischen Staaten, diese sind allerdings entweder mit ähnlichen Problemen behaftet (Grundlagengesetzgebung in Spanien), wurden bereits beseitigt (Rahmengesetzgebung gemäß Art. 75 GG alt in Deutschland) oder hätten beseitigt werden sollen, wie in Italien (konkurrierende Gesetzgebung gemäß Art. 117 Abs. 3 italienische Verfassung), was allerdings am negativen Ausgang der Volksabstimmung vom 4. Dezember 2016 zur Verfassungsreform gescheitert ist. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wurde die Grundsatz-/Rahmengesetzgebung in der Literatur als wenig zukunftsträchtiges Konzept betrachtet. In einem vorgelegten Entwurf einer Verfassungsänderung ist eine weitgehende Abschaffung des Art. 12 B-VG vorgesehen. Die meisten der darin angesiedelten Kompetenzen würden nunmehr in die Allgemeinzuständigkeit der Länder übertragen, auch so wichtige Materien wie etwa die Kinder- und Jugendhilfe. Allerdings wurde die Abklärung der umstrittenen Kompetenzen für Spitäler, die Sozialhilfe (Mindestsicherung) sowie Elektrizitätswesen in eine Arbeitsgruppe vertagt, die im Verlauf dieses Jahres ihre Vorschläge erstatten soll. Unter dem Titel "Moderner Bundesstaat" wird auf S. 17 des Regierungsprogramms ein "Abschaffen gegenseitiger Blockademöglichkeiten" angekündigt. Der schon erwähnte Entwurf einer Verfassungsänderung sieht unter anderem den Entfall des Zustimmungsrechts der Landesregierung zu Verordnungen der Bundesregierung über die Änderungen von Bezirksgerichtssprengeln vor. Dieses unspektakulär anmutende Recht hat sich in der Vergangenheit aus Sicht des Bundes als wesentliches Hindernis bei einer Reform der Gerichtsorganisation auf Bezirksebene dargestellt. Österreich weist im internationalen Vergleich eine besonders hohe Zahl von Bezirksgerichten auf. Die Landesregierungen sahen sich häufig unter dem Druck lokaler Interessen genötigt, die Zustimmungen zur Fusionierung von Bezirksgerichten zu verweigern. Aus diesem Grund hat die Beseitigung der Norm für den Bund besondere Relevanz. Im Gegenzug sieht der Entwurf den Entfall von mehreren Zustimmungsrechten des Bundes in Landesangelegenheiten vor (so beispielsweise bei Änderungen in den Sprengeln der politischen Bezirke durch Verordnung der Landesregierung). Aus föderalistischer Sicht wäre die Reform begrüßenswert, da eine sinnvolle Entflechtung wechselseitiger Einflussnahmen erreicht werden könnte. Ein Reformprojekt, das für den Föderalismus in Österreich von großer Bedeutung ist, auch wenn es sich ironischerweise ausschließlich im Bereich der Bundesgesetzgebung abspielt, ist die Reform der Sozialversicherungen. Österreich verfügt über 21 Sozialversicherungsträger, die die Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung der verschiedenen Gruppen von Versicherten regeln. Von besonderer Bedeutung sind dabei die neun Gebietskrankenkassen in den Ländern, die zwar keine Landeseinrichtungen darstellen, weil der Bund die Regelungs- und Vollziehungskompetenz für die Sozialversicherung (Art. 10 Abs. 1 Z. 11 B-VG) besitzt, aber, da es sich um Selbstverwaltungskörper handelt, von starker regionaler Bedeutung sind. Die Bundesregierung plant, diese neun Gebietskrankenkassen zu einer einzigen österreichischen Gesundheitskasse zu verschmelzen. Die Länder werden nach derzeitigem Stand aus ihrer Sicht nur Schadensbegrenzung leisten können und darauf dringen müssen, dass die von der Bundesregierung als Kompensation vorgesehenen Landesstellen dieser Gesundheitskasse möglichst weitreichende Kompetenzen im Bereich der regionalen Gesundheitsversorgung erhalten. Wichtig sind in diesem Zusammenhang insbesondere eine gewisse Budgetautonomie und die Zuständigkeit zum Abschluss von Gesamtverträgen mit der regionalen Ärztekammer über die ärztliche Versorgung in den Regionen. Wie schon erwähnt, leidet der österreichische Föderalismus unter einer verwaltungswissenschaftlich unvorteilhaften Ausdifferenzierung von Verwaltungsbehörden des Bundes in den Ländern. Eine Zusammenführung mit den Behörden der allgemeinen staatlichen Verwaltung in den Ländern, die organisatorisch Landesbehörden sind, aber sowohl Aufgaben der Landes- als auch Bundesverwaltung erfüllen, wäre sinnvoll. Im Punkt "Effizienzgewinnung bei der mittelbaren Bundesverwaltung" auf S. 17 des Programms wird dieses Thema angesprochen. Demnach sollen Aufgaben einzelner Bundesbehörden organisatorisch in die allgemeine staatliche Verwaltung der Länder eingegliedert, jedoch weiterhin unter Verantwortung und Leitung des Bundes geführt werden (sogenannte mittelbare Bundesverwaltung). Beispielhaft werden das Bundesdenkmalamt, das Sozialministeriumservice sowie die Wildbach- und Lawinenverbauung angeführt. Ob die Ankündigung allerdings tatsächlich ernst gemeint ist, ist offen. Bisher hat die Regierung jedenfalls keine Schritte zur Umsetzung dieses Punktes unternommen. Ebenfalls erwähnt wird im Regierungsprogramm eine Ansiedelung von nachgelagerten Dienststellen des Bundes in strukturschwachen Regionen in Abstimmung mit Ländern und Gemeinden (S. 163). Dabei handelt es sich um die einzige Erwähnung einer Dezentralisierung von Bundesdienststellen im Sinne einer territorialen Verlagerung. Ob die Bundesregierung eine besondere Energie entfaltet, dieses Projekt auch nachhaltig weiter zu verfolgen, bleibt abzuwarten. Zusammenfassung Der österreichische Föderalismus hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verfassungsrechtlich trotz und gerade wegen einiger inkrementalen Anpassungen wenig verändert. Ihn kennzeichnet ein hohes Maß an Verflechtung, das in der Vergangenheit zunehmend intensiviert wurde. Politologisch ist diese Verflechtung zum kooperativen Föderalismus geradezu das prägende Merkmal des österreichischen Föderalismus. Im Rahmen dieses Prozesses ist es den Ländern gelungen, ihre verfassungsrechtliche Marginalisierung durchaus zu kompensieren und im Wege der Landeshauptleutekonferenz Einfluss auf die Bundespolitik zu nehmen. Das Regierungsprogramm der gegenwärtigen ÖVP/FPÖ-Koalition sieht verschiedene Reformen im österreichischen Föderalismus vor. Es wäre schon viel erreicht, wenn sie ihr Vorhaben, den Bundesstaat im Bereich der Grundsatzgesetzgebung zu entflechten, umsetzen könnte. Ob und inwieweit die Länder von einer solchen Änderung profitieren werden, bleibt dahingestellt. Vgl. Peter Bußjäger, Landesverfassung und Landespolitik in Vorarlberg. Die Verfassungsgeschichte Vorarlbergs und ihre Auswirkungen auf die Landespolitik 1848–2002, Graz 2004, S. 39. Der Autor bedankt sich bei Mag. Julia Oberdanner, Institut für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre der Universität Innsbruck, für die Unterstützung. Dazu ders., Stunde Null: Die staatsrechtlichen Perspektiven 1945 aus der Sicht der Länder, in: ders. (Hrsg.), 60 Jahre Länderkonferenzen 1945 – Die Länder und die Wiederbegründung der Republik, Wien 2006, S. 1–15. Das B-VG ist die Stammurkunde der Bundesverfassung in der Fassung der seither erfolgten (zahlreichen) Novellierungen. Da das B-VG anders als das Grundgesetz kein Inkorporationsgebot kennt, gibt es zahlreiche weitere Bundesverfassungsgesetze (BVG) sowie Verfassungsbestimmungen in einfachen Bundesgesetzen, Staatsverträge in Verfassungsrang und einzelne Bestimmungen in Staatsverträgen in Verfassungsrang. Hans Kelsen/Georg Fröhlich/Adolf Merkl (Hrsg.), Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920, Wien 1922, S. 66. Siehe zu Hans Kelsen auch den Beitrag von Thomas Olechowski in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Es gibt eine Generalklausel zugunsten der Länder (Art. 15 Abs. 1 B-VG), die jedoch durch zahlreiche explizit genannte Bundeskompetenzen, insbesondere Art. 10 bis 14b B-VG, aber auch zahlreiche weitere Bestimmungen im B-VG und außerhalb des B-VG, stark ausgehöhlt ist. Die Mitglieder werden von den Landtagen, also den Landesparlamenten gewählt. Vgl. Heinz Schäffer, Alternative Modelle zur Wahrnehmung der Länderinteressen an der Bundesgesetzgebung, in: Peter Bußjäger/Jürgen Weiss (Hrsg.), Die Zukunft der Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung, Wien 2004, S. 43–82, hier S. 49; Günther Hummer, Der Bundesrat und die Gesetzgebung, in: Herbert Schambeck (Hrsg.), Bundesstaat und Bundesrat, Wien 1997, S. 367–398, hier S. 374f.; Jürgen Weiss, Der Bundesrat und die Bundesstaatsreform, in: ebd., S. 497–525, hier S. 522f.; Gerhart Holzinger, Der österreichische Bundesstaat und seine Reform, in: Metin Akyürek et al. (Hrsg.), Staat und Recht in europäischer Perspektive. Festschrift Heinz Schäffer, Wien 2006, S. 277–294, hier S. 279. Vgl. Bußjäger (Anm. 1), S. 44. Vgl. Peter Bußjäger, Die Beteiligung nationaler und regionaler Parlamente an der EU-Rechtsetzung – Chance oder Vortäuschung von Partizipation?, in: Anna Gamper/ders. (Hrsg.), Subsidiarität anwenden: Regionen, Staaten, Europäische Union – La Sussidiarieta Applicata: Regioni, Stati, Unione Europea, Wien 2006, S. 33–60, hier S. 33; ders., Mitwirkung der Länder an der Rechtsetzung in der Europäischen Union, in: Stefan Griller et al. (Hrsg.), 20 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs, Wien 2016, S. 359–381, hier S. 377f. Vgl. Ferdinand Karlhofer, A Federation without Federalism? Zur Realverfassung der Bund–Länder–Beziehungen, in: Peter Bußjäger (Hrsg.), Kooperativer Föderalismus in Österreich. Beiträge zur Verflechtung von Bund und Ländern, Wien 2010, S. 131–146; Theo Öhlinger, Die Bedeutung von Koordination und Kooperation im Systems des österreichischen Föderalismus – Allgemeine Einschätzung und Ausblick in die Zukunft, in: ebd., S. 19–28, hier S. 19; Georg Lienbacher/Erich Pürgy, Kooperativer Bundesstaat, in: Erich Pürgy (Hrsg.), Das Recht der Länder I, Wien 2012, S. 561–592. Vgl. Peter Bußjäger, Föderalismus durch Macht im Schatten? Österreich und die Landeshauptleutekonferenz, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2003, Baden-Baden 2003, S. 79–99; Ferdinand Karlhofer, Gestaltungskraft und Vetomacht. Funktion und Praxis der Landeshauptleutekonferenz, in: Andreas Rosner/Peter Bußjäger (Hrsg.), Im Dienste der Länder – im Interesse des Gesamtstaates. Festschrift 60 Jahre Verbindungsstelle der Bundesländer, Wien 2011, S. 311–326; Karl Weber, Macht im Schatten? (Landeshauptmänner-, Landesamtsdirektoren- und andere Landesreferentenkonferenzen), in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1992, S. 405–418, hier S. 414. Vgl. Ewald Wiederin, Bundesstaat neu, in: Österreichische Juristenkommission (Hrsg.), Der Österreich-Konvent. Zwischenbilanz und Perspektiven. Festgabe für Herbert Schambeck, Wien 2004, S. 49–77, hier S. 58. Vgl. ebd., S. 57f. Roland Sturm et al., Landesbewusstsein und Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse: Das Föderalismus-Paradox, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2010, Baden-Baden 2010, S. 29–40. Vgl. Peter Bußjäger/Ferdinand Karlhofer/Günther Pallaver (Hrsg.), Föderalistisches Bewusstsein in Österreich. Regionale Identitätsbildung und Einstellung der Bevölkerung zum Föderalismus, Wien 2010. Vgl. Franz Fallend, Regionale Identität, Partizipation und Solidarität: Ausgewählte österreichische Regionen im internationalen Vergleich, Vortrag, 18.1.2011, Innsbruck, foederalismus.at/contentit4/uploads/Praesentation.pdf. Vgl. Peter Bußjäger/Gilg Seeber, Zwischen Föderalismus und Unitarismus – das föderalistische Bewusstsein der Österreicherinnen und Österreicher nach der Föderalismusumfrage 2009, in: Bußjäger/Karlhofer/Pallaver (Anm. 15), S. 27–49, hier S. 32. Vgl. ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 44f. Vgl. ebd., S. 42ff. Fallend (Anm. 16), Folien 9 und 11. Vgl. Bußjäger (Anm. 9), S. 377f. Siehe Föderalismusdatenbank des Instituts für Föderalismus, November 2017, Externer Link: http://foederalismus.at/contentit4/uploads/foederalismus_datenbank.pdf. Vgl. Europäische Kommission, Jahresberichte über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismässigkeit, 2010–2016. Vgl. Stefan Hammer, Länderstaatsverträge: Zugleich ein Beitrag zur Selbständigkeit der Länder im Bundesstaat, Wien 1992, insb. S. 40ff., S. 121ff.; Teresa Weber, Art 16 B-VG, in: Benjamin Kneihs/Georg Lienbacher (Hrsg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht, 19. Lieferung, Wien 2017, Randzeichen 24ff. Vgl. Peter Bußjäger, EVTZ: Placebo oder doch tragfähige Grundlage zur Bewältigung neuer Herausforderungen?, in: Walter Obwexer et al. (Hrsg.), Integration oder Desintegration? Herausforderungen für die Regionen in Europa, Baden-Baden 2018, S. 153–170; Peter Bußjäger et al. (Hrsg.), Der Europäische Verbund territorialer Zusammenarbeit (EVTZ): Neue Chancen für die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino, Wien 2011. Zusammen. Für unser Österreich. Regierungsprogramm 2017 bis 2022, Externer Link: http://www.bundeskanzleramt.gv.at/regierungsdokumente. Ebd., S. 3ff. Ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 13, S. 17. Vgl. Peter Bußjäger, "Change" auf Österreichisch: Föderalistische Bemerkungen zum Regierungsprogramm der SPÖ-ÖVP-Koalition vom November 2008, in: Kärntner Verwaltungsakademie (Hrsg.), Bildungsprotokolle Bd. 7. 6. Klagenfurter Legistik Gespräche 2008, Klagenfurt 2009, S. 135–146, hier S. 144f. Vgl. Regierungsprogramm (Anm. 27), S. 17. Vgl. Peter Bußjäger/Christoph Schramek, Catch22: Das föderalistische Paradoxon in Österreich, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2017, Baden-Baden 2017, S. 336–346, hier S. 339. Vgl. Peter Pernthaler/Fried Esterbauer, Der Föderalismus, in: Herbert Schambeck (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, Berlin 1980, S. 325–345, hier S. 342; zu einer derartigen "vermittelnden Funktion" von Art. 12 B-VG auch Klaus Wallnöfer, Bundesstaatlicher Wert und Unwert von Art 12 B-VG am Beispiel des Elektrizitätsrechts, in: Michael Holoubek/Andrea Martin/Stephan Schwarzer (Hrsg.), Die Zukunft der Verfassung – Die Verfassung der Zukunft? Festschrift für Karl Korinek, Wien–New York 2010, S. 287–309, hier: S. 292f. Vgl. Erich Pürgy, Bundesverfassungsrecht und Landesrecht, in: ders. (Anm. 10), S. 1–60, hier S. 23; Wallnöfer (Anm. 34), S. 293f. Vgl. César Colino/Angustias Hombrado, Machtteilung in Spanien – Formelle und informelle Prozesse, gegenwirkende Kräfte und impliziter Wandel, in: Anna Gamper et al. (Hrsg.), Föderale Kompetenzverteilung in Europa, Baden-Baden 2016, S. 349–376, hier S. 359. Vgl. Peter Bußjäger, Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen für die Diskussion über die Reform der bundesstaatlichen Kompetenzordnung in Österreich, in: ebd., S. 807–820, hier S. 813f. Siehe ME B-VG, Übergangsgesetz vom 1. Oktober 1920 u.a., 57/ME 26 GP; 57/ME 26. GP Erläut 1f. In der Terminologie des B-VG: "Armenwesen" (Art. 12 Abs. 1 Z. 1 B-VG). Vgl. Entfall des §8 Abs. 5 lit. d Übergangsgesetz vom 1. Oktober 1920 in der Fassung des BGBl Nr. 368 des Jahres 1925 (ÜG 1920, BGBl 369/1925 idF BGBl I 77/2014). Vgl. Institut für Föderalismus, 41. Bericht über den Föderalismus in Österreich, Wien 2017, S. 16. Vgl. ebd. Vgl. Peter Bußjäger, Unterlage zum Positionspapier über die Reform der Sozialversicherungen, 2017, Externer Link: http://www.foederalismus.at/contentit4/uploads/Reform%20der%20Sozialversicherungen.pdf. Ders./Georg Keuschnigg/Marija Radosavljevic, Der Bund und seine Dienststellen. Die Standorte der Bundesvollziehung als Wirtschaftsfaktor und Potenzial der Verwaltungsreform, Innsbruck 2015, S. 1f. Vgl. Peter Bußjäger/Christoph Schramek, Föderalismus durch Behördendezentralisierung?, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Anm. 33), S. 172–183.
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, Peter Bußjäger
2022-02-17T00:00:00
2018-08-16T00:00:00
2022-02-17T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/274251/foederalismus-und-regionalismus-in-oesterreich/
Der österreichische Föderalismus hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verfassungsrechtlich trotz und gerade wegen einiger inkrementalen Anpassungen wenig verändert. Ihn kennzeichnet ein hohes Maß an Verflechtung, das in der Vergangenheit zunehmend
[ "Österreich", "Föderalismus", "Regionalismus" ]
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Themenraum: Go West? Osteuropa aktuell | Presse | bpb.de
Die Situation in der Ukraine und die Beziehungen zwischen Russland und der EU dominieren seit Monaten die Schlagzeilen: Gewaltsame Proteste in der Ukraine, die Annexion der Krim durch Russland, eine bürgerkriegsähnliche Situation im Osten des Landes und Wirtschaftssanktionen sind nur einige der Nachrichten. Informationen hierzu bietet der nächste Themenraum in der Amerika-Gedenkbibliothek. Die verschiedenen kontroversen Positionen und Hintergründe werden in Monografien, Zeitschriften und digitalen Medien im "Themenraum: Go West? Osteuropa aktuell" abgebildet. Die Zentral- und Landesbibliothek Berlin und die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb stellen im Themenraum dafür umfassende Hintergrundinformationen, Literatur und Filme aus und über Osteuropa bereit. Neben einer differenzierten Betrachtung zum Konflikt lädt der Themenraum die Besucher ein, sich näher mit der Region auseinanderzusetzen. Aktuelle politische und gesellschaftliche Fragen und diskutierte Kulturthemen stehen im Zentrum des "Themenraums" in der Amerika-Gedenkbibliothek, organisiert von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) und der Bundeszentrale für politische Bildung. Jedes Thema ist rund sechs Wochen präsent. Der Themenraum ist ein Informationsangebot. Dabei stellt die Bibliothek alle Medien zum Thema in einem Raum zusammen und präsentiert diese, angereichert durch weitere digitale Angebote und eine App der Bibliothek. Bis auf einige Präsenzexemplare sind alle Medien ausleihbar. Auch eine ausführliche Bibliografie zum Mitnehmen erscheint zu jedem Themenraum. Begleitet wird der Themenraum von weiteren Veranstaltungen, wie der "Themenzeit: Nach der Sowjetunion" am 11.05.2015 um 19 Uhr in den Räumen der Bundeszentrale für politische Bildung. Auf einen Blick: Themenraum: Go West? Osteuropa aktuell Zeit: 21.04. – 28.05.2015, Öffnungszeiten: Mo – Fr: 10.00 – 21.00 Uhr, Sa: 10.00 – 19.00 Uhr Ort: Amerika-Gedenkbibliothek der ZLB, Blücherplatz 1, 10961 Berlin, Eintritt frei Führungen am 23.04. und 04.05.2015, jeweils 16.00 Uhr, kostenfrei Themenzeit: Nach der Sowjetunion Zeit: 11.05.2015 um 19.00 Uhr, Eintritt frei Ort: Bundeszentrale für politische Bildung, Friedrichstr. 50, 10117 Berlin, 4. Etage Anmeldung: Bitte per E-Mail bei Kristina Mencke: E-Mail Link: kristina.mencke@bpb.bund.de Mehr zu Themenraum und Themenzeit unter Externer Link: www.zlb.de/themenraum und Interner Link: www.bpb.de/themenzeit Pressemitteilung als Interner Link: PDF. Pressekontakt: Bundeszentrale für politische Bildung Miriam Vogel Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de Externer Link: www.bpb.de/presse
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2015-04-16T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/204913/themenraum-go-west-osteuropa-aktuell/
Die Zentral- und Landesbibliothek Berlin und die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb stellen im „Themenraum: Go West? Osteuropa aktuell“ umfassende Hintergrundinformationen, Literatur und Filme aus und über die Situation in Osteuropa bereit.
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Hintergrundinformationen | Brasilien | bpb.de
Brasilien, das in Bezug auf Fläche und Bevölkerung fünftgrößte Land der Erde, ist in Europa vor allem als attraktives Reiseland und ehemaliges Einwanderungsland bekannt. Von der ersten portugiesischen Besiedlung im 16. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg wanderten über vier Millionen Menschen ein, überwiegend Europäer. In den 1980er Jahren haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Schätzungsweise drei Millionen Brasilianer haben bis heute ihr Land verlassen, zunächst mit dem Hauptziel USA, zunehmend aber auch in Richtung Europa und Japan. InfoBrasilien Hauptstadt: Brasília Sprachen:Portugiesisch Fläche: 8.511.965 km2 Bevölkerungszahl (2007): 185.998.215 (Brasilianisches Statistikinstitut IGBE) Bevölkerungsdichte: 23 Einwohner pro km2 Bevölkerungswachstum (2007): 1,2 % für 2007 (IGBE 2006) Erwerbsbevölkerung (8/2008): 57 % (IBGE) Ausländische Bevölkerung (2006): 0,7 % (Schätzung, siehe Text) Arbeitslosenquote: 7,6 % (8/2008), 9,5 % (8/2007), 10,6 (8/2006) (IBGE) Religionen: römisch-katholisch (73,6 %), protestantisch (15,4 %), spiritualistisch (1,3 %),Umbanda und Candomblé (0,3 %), andere (1,8 %), keine (7,4%) (Zensus 2000) Doch aufgrund der im letzten Jahrzehnt stabilisierten wirtschaftlichen Situation ist Brasilien nunmehr ein lohnenswertes Migrationsziel für Arbeitsmigranten und Flüchtlinge geworden. Diese Zuwanderung verläuft zu großen Teilen irregulär. Obgleich Brasilien die neuntgrößte Volkswirtschaft der Erde ist, ist das Land von sozialer Ungleichheit geprägt wie kaum ein anderes auf der Welt: 2005 verdienten die reichsten 10 % der Bevölkerung 48 % des nationalen Einkommens und über 40 Millionen Brasilianer hatten weniger als zwei Dollar pro Tag zum Leben. Die extreme sozialstrukturelle Spaltung Brasiliens hat sich seit Mitte der 1990er Jahre zunächst verlangsamt, dann aber beschleunigt fortgesetzt (3). Viele gut ausgebildete junge Brasilianer sehen daher in naher Zukunft keine beruflichen Chancen in ihrer Heimat und verlassen das Land in Richtung USA, Japan und Europa. Hauptstadt: Brasília Sprachen:Portugiesisch Fläche: 8.511.965 km2 Bevölkerungszahl (2007): 185.998.215 (Brasilianisches Statistikinstitut IGBE) Bevölkerungsdichte: 23 Einwohner pro km2 Bevölkerungswachstum (2007): 1,2 % für 2007 (IGBE 2006) Erwerbsbevölkerung (8/2008): 57 % (IBGE) Ausländische Bevölkerung (2006): 0,7 % (Schätzung, siehe Text) Arbeitslosenquote: 7,6 % (8/2008), 9,5 % (8/2007), 10,6 (8/2006) (IBGE) Religionen: römisch-katholisch (73,6 %), protestantisch (15,4 %), spiritualistisch (1,3 %),Umbanda und Candomblé (0,3 %), andere (1,8 %), keine (7,4%) (Zensus 2000) Die Inflationsrate liegt seit 2007 bei 4,5 %. Ende des Jahres 2005 war Brasilien in der Lage, seine gesamten Schulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF) in Höhe von umgerechnet 15,5 Mrd. US-Dollar vorzeitig zurückzuzahlen. Damit verlor der IWF seinen weltweit größten Kreditnehmer. (Vgl. New York Times, 02.06.2008). Der Gini-Koeffizient, der die Verteilungsungleichheit im Einkommen misst, betrug für Brasilien 2005 56,7. Damit ist Brasilien unter den Ländern mit der höchsten Einkommensungleichheit weltweit. Siehe Central Intelligence Agency (CIA): CIA-Worldfactbook, Externer Link: . Siehe Arbix (2007).
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Sabrina Stelzig
2022-01-05T00:00:00
2012-01-25T00:00:00
2022-01-05T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/57509/hintergrundinformationen/
Brasilien, das in Bezug auf Fläche und Bevölkerung fünftgrößte Land der Erde, ist in Europa vor allem als attraktives Reiseland und ehemaliges Einwanderungsland bekannt. Von der ersten portugiesischen Besiedlung im 16. Jahrhundert bis zum Zweiten Wel
[ "Brasilien", "Einwanderungsland", "Migration", "gesellschaftliche Entwicklung Brasiliens" ]
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Barack Obama und der Traum Martin Luther Kings | USA | bpb.de
Vorbemerkung: Das Wort "Rassenbeziehungen" ist eine direkte Übersetzung des im Englischen üblichen Ausdrucks "race relations". "Rasse" wird in diesem Artikel als Übersetzung des Begriffes "race" verstanden und nicht als der im deutschen Sprachgebrauch aus historischen Gründen negativ konnotierte Begriff. "Barack Obama Fulfilling Dr. King´s Dream" stand groß auf einem Plakat, das ein begeisterter Teilnehmer am Parteitag 2008 der Demokraten in Denver hochhielt, wo Obama – nicht zufällig genau am 45sten Jahrestag der berühmten "I Have a Dream"-Rede vom 28. August 1963 – seine offizielle Nominierung zum Präsidentschaftskandidat akzeptierte. Der Sohn eines nigerianischen Gaststudenten und einer weißen Amerikanerin, der sich selbst aus einfachen Verhältnissen hocharbeitete und jahrelang als "community organizer" im schwarzen Ghetto von Chicago arbeitete, ist der erste Afroamerikaner in der Geschichte der USA, der eine reale Chance auf das höchste politische Amt der Nation hat. Allein diese Tatsache ist sicher ein historisch bedeutender Fortschritt. Aber wie weit ist Amerika tatsächlich auf dem Weg der Rassengleichberechtigung gekommen, von der King in den 1960er Jahren träumte? Der folgende kurze Überblick soll hierzu einige Antworten geben. Von der Sklaverei zur politischen Partizipation Nach rund 250 Jahren der Sklaverei und einem weiteren Jahrhundert der Rassentrennung und Diskriminierung konnte die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den 1950er und 1960er Jahren endlich entscheidende Erfolge im Kampf um die soziale und politische Gleichberechtigung in Amerika erringen. Der erste wichtige Schritt war die Brown v. Board of Education-Entscheidung von 1954, mit welcher der Oberste Gerichtshof der USA die Rassentrennung an öffentlichen Schulen für verfassungswidrig erklärte. Eine Dekade später folgten die beiden großen Bürgerrechtsgesetze, der Civil Rights Act (CRA) von 1964 und der Voting Rights Act (VRA) von 1965, deren Verabschiedung nicht zuletzt aufgrund der von King und anderen Aktivisten organisierten Proteste erfolgte. Der CRA hob die bis dahin legale Rassentrennung auf und verbot die Diskriminierung von Schwarzen (sowie anderer Minderheiten und Frauen) in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, in Regierungsprogrammen und auf dem Arbeitsmarkt. Dieses Gesetz stellte ohne Zweifel den bis dahin größten Fortschritt für die Gleichberechtigung schwarzer Amerikaner seit Abschaffung der Sklaverei dar. Allerdings zielte es vor allem auf eine Abschaffung von Diskriminierung im sozialen und im wirtschaftlichen Bereich, weniger auf den Aspekt der politischen Gleichberechtigung, und vielen schwarzen Bürgern im Süden blieb das Stimmrecht verwehrt. Nach einer Reihe weiterer Protestaktionen (vor allem Kings berühmtem Voting Rights March von Selma nach Montgomery, Alabama), wurde schließlich im Sommer 1965 der Voting Rights Act (VRA) verabschiedet, der mit sofortiger Wirkung alle Arten von Wahlsteuern, Tests und Sonderregelungen aufhob, die zur politischen Entmündigung der Schwarzen im Süden beigetragen hatten. Darüber hinaus wurden Inspektoren der US Commission on Civil Rights in die Südstaaten gesandt, um den Wahleinschreibungsprozess dort genau zu überwachen. Als Folge des VRA verdoppelte sich die Anzahl aktiver schwarzer Wähler in weniger als vier Jahren, und die Zahl der gewählten schwarzen Amtsinhaber in den Südstaaten stieg zwischen 1965 und 1970 von 72 auf 711; heute sind es über 5.000. Gab es im gesamten Bundesgebiet 1965 weniger als 300 schwarze Amtsinhaber, so sind es heute mehr als 9.000. Nicht nur auf lokaler und einzelstaatlicher Ebene, sondern auch auf nationaler Ebene hat die afroamerikanische Repräsentanz seit den 1960er Jahren beeindruckende Fortschritte gemacht: Im US-Kongress gibt es heute 43 schwarze Abgeordnete (immerhin 8% aller Kongressmitglieder bei einem schwarzen Bevölkerungsanteil von rund 12,5%; zum Vergleich: Die sogenannten Hispanic Americans, die mittlerweile 13% der Bevölkerung ausmachen, verfügen nur über 5% der Sitze im Kongress); zahlreiche amerikanische Großstädte werden von schwarzen Bürgermeistern regiert, und seit März 2008 gibt es erstmals zwei schwarze Gouverneure in den USA (in Massachusetts und New York). Außerdem wurden seit den 1990er Jahren zahlreiche Ministerposten mit Afroamerikanern besetzt, darunter 2000 sogar das mächtige Amt des US-Außenministers, das zunächst von Colin Powell und seit 2005 von Condoleezza Rice ausgeübt wurde. Dass nun ein Mann mit der Hautfarbe Barack Obamas ein veritabler Kandidat für das Präsidentenamt ist und 70% der an einer Meinungsumfrage teilnehmenden weißen Amerikaner im Juli 2008 meinten, Amerika sei durchaus bereit dazu, einen schwarzen Präsidenten zu wählen (wenn auch nicht unbedingt Obama), scheinen überzeugende Indizien für eine weitgehende Realisierung von Kings Traum der Rassengleichberechtigung zu sein. Ökonomische und soziale Aufholjagd Heute gehören fast 40% der Afroamerikaner zu einer wachsenden, erfolgreichen schwarzen Mittelschicht, und während 1960 nur weniger als 3% aller Afroamerikaner einen Hochschulabschluss erreichten, sind es heute rund 18%. Die schwarze Kindersterblichkeitsrate hat sich halbiert. Und während in den 1960er Jahren noch über die Hälfte aller Afroamerikaner unterhalb der Armutsgrenze lebte, ist es heute "nur" noch ein Viertel. Es gibt viele prosperierende schwarze Unternehmen, und die Anzahl der schwarzen Topmanager in anderen Unternehmen ist ebenfalls um über 50% gestiegen. Schwarze Musik-, Medien- und Sport-Superstars erfreuen sich größter Popularität und sind künstlerisch sowie finanziell immens erfolgreich (die Moderatorin Oprah Winfrey verfügt zum Beispiel über ein Jahreseinkommen von 275 Millionen Dollar). Zwar gibt es nach wie vor Fälle von Rassismus in den USA, man denke z.B. an das chronische Problem weißer Polizeibrutalität gegenüber Schwarzen, aber insgesamt gesehen hat sich die Integrationsbereitschaft der amerikanischen Gesellschaft seit den 1960er Jahren enorm gesteigert, und in der jüngeren Generation finden sich kaum noch Anhänger der damals noch weit verbreiteten Ideologie der inhärenten Minderwertigkeit schwarzer Menschen. Trotz aller Fortschritte – es gibt nach wie vor auch noch gravierende Unterschiede zwischen schwarz und weiß.Im Bildungsbereich ist zum Beispiel die de facto Rassentrennung an Schulen immer noch ein Problem, das seit dem Nachlassen staatlicher Förderungsmaßnahmen zur Integration sogar wieder größer geworden ist. So besuchen heute fast 70% der afroamerikanischen Kinder chronisch unterfinanzierte Schulen, auf denen es keine oder kaum weiße Mitschüler gibt, und die Rate schwarzer Hochschulabsolventen ist trotz der o.g. Fortschritte auch heute nur halb so hoch wie die weißer Amerikaner. Die schwarze Kindersterblichkeitsrate beträgt dagegen das Doppelte der weißen, nicht zuletzt weil über die Hälfte aller Afroamerikaner über keinerlei Krankenversicherung verfügt, und die Lebenserwartung schwarzer Amerikaner liegt zurzeit sechs Jahre unter derjenigen ihrer weißen Mitbürger. Weiter beträgt trotz der insgesamt gestiegenen Verdienstmöglichkeiten für Schwarze das Durchschnittseinkommen einer vierköpfigen schwarzen Familie nur 64% dessen einer gleichgroßen weißen Familie, und der durchschnittliche Gesamtbesitz einer schwarzen Familie macht gerade einmal 25% des Besitzes einer weißen Familie aus. Es gibt deutliche Benachteiligungen schwarzer Amerikaner auf dem Arbeitsmarkt, nicht nur bei der Einstellung, sondern auch bei der Beförderung, Urlaubs- und Pensionsansprüchen, Krankenversicherung usw., und die schwarze Arbeitslosenquote ist seit den 1960er Jahren konstant doppelt so hoch wie die weiße. Neben anderen Faktoren führt mangelnde Ausbildung zu Arbeitslosigkeit und oft zu Armut, Drogensucht und Kriminalität. Heute befindet sich fast ein Viertel aller schwarzen Männer zwischen 18 und 28 Jahren in Untersuchungshaft und im Gefängnis oder verbüßt eine Bewährungsstrafe. Dies liegt zum einen an der bedauerlich hohen Kriminalitätsrate der schwarzen Jugendlichen, aber auch daran, dass Schwarze sich meist keine guten Anwälte leisten können und dass in den USA auch nicht-gewalttätige Drogendelikte oft mit langen Gefängnisstrafen geahndet werden. Außerdem kann man das amerikanische Justizsystem nicht gerade als "farbenblind" bezeichnen, denn die Hautfarbe von Opfer und Täter spielt immer noch eine nachweisliche Rolle bei Verurteilungen, insbesondere im Süden der USA, wo schwarze Mörder mit einem weißen Opfer viermal so oft zum Tode verurteilt werden wie weiße Mörder mit schwarzen Opfern. Nicht zuletzt infolge der Kombination der o.g. Faktoren liegt der Anteil schwarzer Kinder, die bei nur einem Elternteil aufwachsen, in den USA mittlerweile bei 65%, und über die Hälfte dieser Kinder schwarzer Alleinerziehender lebt unterhalb der Armutsgrenze. Status Quo Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Amerika trotz all der genannten Fortschritte zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch von der Erfüllung des Traumes von Martin Luther King entfernt ist, für den soziale Gerechtigkeit ein ebenso großes Anliegen wie die Rassengleichberechtigung war. Das Problem der schwarzen Armut insbesondere der sogenannten "urban underclass" hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend verkompliziert, da seit der gesetzlichen Gleichstellung der Schwarzen der Einfluss der Faktoren "Rasse" und "soziale Klasse" kaum noch voneinander zu trennen sind. Zudem gibt es neben der realen Benachteiligung der schwarzen Ghettojugend mancherorts auch kulturell bedingte Verhaltensmuster, die sehr destruktiv sind, beispielsweise die Geringschätzung guter schulischer Leistungen, die im Gegensatz zu gefährlichen Dealertätigkeiten von den Jugendlichen als "uncool" angesehen werden. Der Kampf gegen Armut und Hoffnungslosigkeit bleibt in den schwarzen Ghettos zusammen mit dem Kampf gegen Rassismus die größte Herausforderung für alle Bürgerrechtler und Politiker, die sich als Erben von Martin Luther King verstehen. Um in diesem Bereich wirklich nachhaltige Verbesserungen zu erzielen, wären allerdings fundamentale Veränderungen in der wirtschaftlichen und sozialen Struktur der USA nötig bzw. eine echte "Revolution der Werte", so wie King sie schon 1967 gefordert hatte. Eine solche radikale Neuausrichtung der gesellschaftlichen Prioritätensetzung würde jedoch von der großen Mehrheit der (mehrheitlich weißen) amerikanischen Wähler, die die Nutznießer des gegenwärtigen Systems sind, nicht gebilligt werden. Darum wird keine amerikanische Regierung – egal welcher Präsident ihrer Exekutive vorsteht – in absehbarer Zeit die Durchsetzung solch radikaler Maßnahmen befürworten. Nichtsdestoweniger ist die Kandidatur Barack Obamas ein enormer Meilenstein auf dem Weg einer Normalisierung der Rassenbeziehungen, denn aufgrund seines persönlichen Hintergrunds verfügt er über ein besonderes Potential, die Frustrationen, Wut und Ängste schwarzer und weißer Amerikaner zu verstehen und für mehr gegenseitiges Verständnis zu werben. In jedem Fall besteht das Vermächtnis von Martin Luther King weiter, die gesellschaftliche Herausforderung, Rassenhass, Diskriminierung, Armut und Krieg ganz zu überwinden – und dies nicht nur in den USA.
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Britta Waldschmidt-Nelson
2022-02-05T00:00:00
2011-11-24T00:00:00
2022-02-05T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/nordamerika/usa/10722/barack-obama-und-der-traum-martin-luther-kings/
100 Jahre nach Ende der Sklaverei sorgten Schwarzenführer Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren endlich für rechtliche und politische Gleichstellung der Schwarzen in Amerika. Ist mit der ersten Kandidatur eines Schwarze
[ "USA", "Bürgerrechtsbewegung", "Martin Luther King", "Barack Obama", "USA" ]
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Corona-Angst und die Geschichte der Bundesrepublik | Corona-Krise | bpb.de
Die Katastrophe kam nicht völlig überraschend. Sie war in der für den modernen Staat charakteristischen Präventionsplanung bereits imaginiert. In einem Bericht zur Risikoanalyse für den Bevölkerungsschutz entwickelte die Bundesregierung unter Federführung des Robert Koch-Instituts und weiterer Bundesbehörden wie dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Ende 2012 folgendes Szenario: Durch eine zoonotische Übertragung von Tieren auf Menschen auf einem Wildtiermarkt wird ein neuartiges Corona-Virus von zwei Reisenden aus China nach Deutschland eingeschleppt. Eine der Personen betreut einen Messestand in einer norddeutschen Großstadt, die andere nimmt nach einem Auslandssemester ihr Studium in einer süddeutschen Universitätsstadt wieder auf. Das Virus verbreitet sich schnell und verursacht Fieber, trockenen Husten, Atemnot sowie durch Röntgenaufnahmen sichtbare Veränderungen in der Lunge. Die Inkubationszeit beträgt in der Regel drei bis fünf, in manchen Fällen bis zu 14 Tage. Während jüngere Patientinnen und Patienten die Infektion oft schon nach einer Woche überwinden, beträgt die Letalität bei über 65-Jährigen fast 50 Prozent. Nachdem zehn Personen an dem Virus verstorben sind, beschließt die Bundesregierung die Einleitung antiepidemischer Maßnahmen wie Schulschließungen und Quarantänemaßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz. Begünstigt durch Mutation des Virus, durch die auch bereits infizierte Personen ihre Immunität verlieren, breitet sich dieses in drei Wellen aus. Insgesamt infizieren sich 78 Millionen Menschen in Deutschland, die Letalität beträgt etwa zehn Prozent. Das Gesundheitssystem wird überlastet, es sterben mindestens 7,5 Millionen Menschen an den direkten Folgen des Virus. Ein Impfstoff ist erst nach drei Jahren verfügbar. Dies war die Entwicklung, die es Anfang 2020 beim Ausbruch einer tatsächlichen, durch ein Corona-Virus verursachten Pandemie zu verhindern galt. Ob die zur Bekämpfung des Virus notwendigen Maßnahmen in der Bundesrepublik "nicht oder nur sehr spät" eingeleitet wurden, wie die Philosophen Nikil Mukerji und Adriano Mannino in einer der ersten Analysen der Pandemie kritisierten, muss dahingestellt bleiben. Festzuhalten bleibt, dass das 2012 entwickelte Szenario nicht Wirklichkeit wurde. Dies lag auch an der deutlich geringeren, unter ein Prozent liegenden Letalität von Sars-CoV-2. Aber auch im internationalen Vergleich schnitt die Bundesrepublik bei der Bekämpfung des Virus – zumindest bisher – relativ gut ab. Dieser Aufsatz zielt darauf, die historische Spezifik der Corona-Krise genauer zu bestimmen und gleichzeitig den relativen Erfolg der Bundesrepublik in der Pandemiebekämpfung zu erklären. Dies geschieht durch die Verortung der Corona-Krise in zwei unterschiedlichen historischen Kontexten: der längeren Angstgeschichte der Bundesrepublik seit 1945 sowie den Globalisierungskrisen seit der Jahrtausendwende. Da die Corona-Krise noch nicht beendet und die Zukunft offen ist, müssen historische Wertungen notgedrungen provisorisch bleiben. Historisch gewachsene Krisenkompetenz Spätestens ab Mitte März 2020 war sich die Bundesregierung der Ernsthaftigkeit der Krise bewusst. Am 18. März beschwor Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer ihrer wenigen Fernsehansprachen die historische Einzigartigkeit der Situation. "Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg" habe die Bundesrepublik keiner ähnlichen "Herausforderung" gegenübergestanden, bei der "es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln" ankomme. Die Fernsehansprache markierte einen Wendepunkt in der offiziellen Reaktion auf die Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus. Nur wenige Tage später, am 22. März, erließ die Bundesregierung eine umfassende Kontaktsperre für das gesamte Bundesgebiet. Es kam zu einem weitgehenden Erliegen des öffentlichen Lebens. Die von Angela Merkel, aber auch in der Berichterstattung propagierte These der Corona-Krise als historisch einzigartig war für die Legitimation der ergriffenen Maßnahmen notwendig. Eine weiter gefasste historische Tiefenschärfe erlaubt es jedoch, besser zu erkennen, was genau "neu" an der Krise war und ist. Das Virus traf nicht auf eine heile "Welt von Gestern", wie sie ohnehin nur in der nostalgischen Rückschau erscheinen kann, sondern auf eine Gesellschaft mit einer ausgesprochenen Krisenerfahrung. Die Geschichte der Bundesrepublik ist geprägt von einer Abfolge existenzieller Krisen und daraus entstehenden Angstzyklen – von den Gründungskrisen des Anfangs, der Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre, der Konfrontation mit Links- und (oft vergessen) Rechtsextremismus, der Vereinigungskrise nach 1990 bis hin zur Finanz-, Euro- und sogenannten Flüchtlingskrise in jüngerer Zeit. Die Corona-Krise steht in der Kontinuität dieser Krisen, ihre bisher relativ erfolgreiche Bewältigung war auch ein Produkt dieser historisch verankerten Krisenkompetenz. Die Bekämpfung der Pandemie basierte auf einer bemerkenswert hohen Zustimmung der Bevölkerung zu den massiven Einschränkungen der Grundrechte. So erklärten am 27. März 2020 beispielsweise 75 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger, dass die staatlichen Einschränkungen "genau richtig" seien, 20 Prozent gingen sie nicht weit genug, nur vier Prozent hielten sie für übertrieben. Noch Anfang Juni 2020 waren 84 Prozent der Deutschen der Meinung, Bundeskanzlerin Merkel mache ihre Arbeit "eher gut". In einer Gesellschaft, in der noch kurz vor der Corona-Krise eine immer größere Fragmentierung beklagt und die Formierung handlungsfähiger politischer Mehrheiten zunehmend schwierig wurde, war das Ausmaß dieses gesellschaftlichen Konsensus durchaus bemerkenswert. Es war auch vor dem Hintergrund der bundesrepublikanischen Geschichte keineswegs selbstverständlich. Denn in der Vergangenheit erschien der bundesdeutsche Staat vielen Bundesbürgerinnen und -bürgern entweder als zu schwach oder aber als zu stark und potenziell autoritär. Kritische Stimmen sahen in den Corona-Einschränkungen eine autoritäre Politik der Angst und bewerteten die zivilgesellschaftliche Kooperation als Indiz einer latenten Autorität- oder Staatshörigkeit in der deutschen Gesellschaft. Das der Bundesregierung entgegengebrachte Vertrauen war aber auch die emotionale Kehrseite der Angst vor dem Virus: In der Pandemie konstituierte sich die bundesdeutsche Gesellschaft als Angstgemeinschaft. Diese intensive emotionale Reaktion war in einem historisch spezifischen Gefühlsregime begründet. Dies zeigt sich im Vergleich mit vergangenen Gesundheitskrisen. An der "Asiatischen Grippe" 1957/58 und der "Hongkong Grippe" von 1968 bis 1970 starben in Deutschland nach Schätzungen jeweils zwischen 20.000 und 30.000 Menschen, weltweit eine bis zwei Millionen Menschen. Dennoch verliefen beide Pandemien ohne größere öffentliche Aufmerksamkeit, ganz im Gegensatz zur derzeitigen Corona-Pandemie. Die vergangenen Grippe-Pandemien standen im Zeichen eines Emotionsregimes, das geprägt war von dem Bemühen, eine Panik zu vermeiden: Es dominierte die "Angst vor der Angst." Seit den 1970er Jahren kam es jedoch zu einer deutlichen kulturellen Aufwertung der Angst. Sowohl die normative Bewertung der Angst als einer grundsätzlich funktionalen Emotion wie auch die emotionale Praxis, Angst in privaten und öffentlichen Zusammenhängen offen auszudrücken, nahm deutlich zu. Die Umwelt- und Friedensbewegung der 1970er und 1980er Jahre beruhte auf einem positiven Angstverständnis, das diesem Gefühl eine zentrale Rolle bei der Perzeption gesellschaftlicher Missstände wie der Umweltverschmutzung oder auch dem Wettrüsten beimaß. In der Corona-Krise manifestierte sich diese etablierte Sichtweise, die der Angst eine durchaus nützliche Funktion bei der Eindämmung der Pandemie zuwies. Die Merkelsche Ermahnung, die Gefahr ernst zu nehmen, erwies sich in der Krise als deutlich hilfreicher, als der Appell an Mut und Männlichkeit angesichts des Virus, wie er von Rechtspopulisten wie dem US-Präsidenten Donald Trump oder Brasiliens Staatschef Jair Bolsonaro artikuliert wurde. Die Denunziation der Angst ist nach wie vor insbesondere in der politischen Rechten zu Hause. Das zeigt auch die Beschimpfung von Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow durch den AfD-Rechtsaußen Bjorn Höcke als "Ministerpräsident[en] der Angst." Ein weiterer kultureller Kontext erklärt die unterschiedlichen Reaktionen auf vergangene Grippe-Pandemien und das Corona-Virus: das gewandelte Verhältnis zum vorzeitigen Tod. Die Grippe-Pandemien trafen auf eine Gesellschaft des Nachkrieges, die noch im Bann des massenhaften gewaltsamen Todes während des Zweiten Weltkrieges stand. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag Ende der 1950er Jahren noch unter 70 Jahren, die Kindersterblichkeit war relativ hoch – auf 1.000 Geburten starben 1955 noch knapp über 45 Kinder in den ersten fünf Jahren, 2019 nur noch vier. Der vorzeitige Tod eines Familienmitgliedes war somit noch Teil eines Erfahrungsraumes der deutschen Gesellschaft, die in die Kriegszeit zurückreichte. Leid und Trauer konnten in der Nachkriegsgesellschaft nur schwer artikuliert werden, existenzielle Verlusterfahrungen lagen jenseits des Sagbaren. Diese Gefühle erschienen allenfalls als Teil einer schicksalshaften Welt, der man hilflos ausgeliefert war. Diese Erinnerung an die NS-Zeit als von außen oktroyiertem Schicksal war natürlich zutiefst apologetisch. Sie zementierte den deutschen Opfermythos und minimierte die eigene Verantwortlichkeit. Aber die Erinnerung an die eigene Viktimisierung hatte auch eine vorausschauende Funktion: Sie prägte die Wahrnehmung von Krisensituationen in der Gegenwart und die Imagination möglicher Katastrophen in der Zukunft. Ganz im Gegensatz dazu traf die Corona-Pandemie auf eine Gesellschaft, für die der vorzeitige Tod generell unakzeptabel war. Im Zuge des medizinischen Fortschritts und steigender Lebenserwartung, aber auch angesichts der fehlenden Erfahrung von Massentod im historischen Bewusstsein, wird jedem einzelnen Mitglied der Gesellschaft das Recht auf ein erfülltes Leben und einen natürlichen Tod zugestanden. Dies ist zu Recht als einer der großen Verdienste der Moderne gewürdigt wurden. Die in Frankreich oder auch den USA schnell mobilisierte Kriegsrhetorik im Kampf gegen das Virus lehnte beispielsweise Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier explizit ab. Tatsächlich funktioniert historische Erinnerung nun in geradezu gegenteiliger Richtung. So bewirkte eine kritische Erinnerung an die NS-Zeit, einschließlich der Erinnerung an die sogenannten Euthanasieprogramme, dass die Rede vom "lebensunwerten Leben" in Deutschland, mehr noch als anderswo, als Skandal gilt. Vielmehr schien ein grundsätzlicher Konsens darüber zu existieren, dass die sogenannten Risikogruppen, also vor allem ältere Menschen, trotz hoher gesamtgesellschaftlicher Kosten zu schützen seien. So fragte der Philosoph Jürgen Habermas, ob nicht der "Kerngehalt des Lebensschutzes vielleicht aufgrund des individualistischen Charakters unserer Rechtsordnung einen Sperrklinkeneffekt [habe], den andere Grundrechte nicht" hätten. Er ging von einer "unbedingte[n] Schutzverpflichtung des Staates" aus, die sich auch "auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie auf die Bewegungs- und Handlungsfreiheit dieser Person selbst" beziehe. Auch wenn diese Position im öffentlichen Diskurs nicht unwidersprochen blieb, so verwies sie doch auf eine historisch gewachsene Hochachtung des individuellen Lebens, die in der Nachkriegskultur der Bundesrepublik noch nicht im gleichen Maße verankert war. Schließlich unterscheidet sich die Gegenwartskultur von der frühen Bundesrepublik auch durch eine voranschreitende Individualisierung. Die Pandemie traf auf eine Gesellschaft, in der spätestens seit den 1990er Jahren die individuelle Selbstentfaltung zu einer wichtigen kulturellen Norm geworden war. Gerade in der neuen Mittelklasse der urbanen, gebildeten Schichten nahm das Streben nach Selbstverwirklichung eine besondere Bedeutung ein. In einer "Gesellschaft der Singularitäten" definierte sich das "spätmoderne Subjekt" über das "Individuelle, Besondere, Nichtaustauschbare". Die Pandemie konterkarierte diese Sehnsucht nach dem Singulären. Das Virus attackiert den Menschen als Gattungswesen. Die betroffenen Gesellschaften streben genau das Gegenteil des Singulären an, nämlich die sogenannte Herdenimmunität. Um es pointiert zu sagen: Die Pandemie reduziert uns von dem singulären Individuum, als dass wir uns qua Lebensweise definieren, zu einem reinen Gattungswesen in Analogie zur Schafherde. Das sichtbarste äußere Merkmal der Pandemie – das Tragen einer Maske – verhüllt genau jenen Teil unseres Körpers, der wie kein anderer für unsere Individualität steht: das Gesicht. Moderne Unsicherheiten Die Corona-Angst war und ist eine dezidiert moderne Angst. Ähnlich wie Radioaktivität ist das Virus (ohne Elektronenmikroskop) weder sichtbar noch anderweitig sinnlich wahrnehmbar. Die Gefahr bedarf somit der Vermittlung durch Experten und Expertinnen. Die Krise wurde zur Stunde der Virologen und Virologinnen. Deren Wissenstand im Hinblick auf Ursprung, Übertragungswege und Gefährlichkeit des Virus entwickelte sich dynamisch und hat bis heute zu keiner endgültigen Sicherheit geführt, reichte aber deutlich weiter als dies während der Grippe-Pandemien der Nachkriegszeit der Fall war. Dennoch stellte sich auch in der Corona-Pandemie das klassische Problem der Risikogesellschaft: Gerade, weil gesellschaftliche Risiken nur noch über Expertinnen und Experten wahrgenommen werden, werden sie Teil des gesellschaftlichen Diskurses und verlieren ihre Monopolstellung. Unterschiedliche politische Positionen werden mit jeweils konfligierenden wissenschaftlichen Positionen begründet und abgesichert. Die politische Diskussion wird auch zur Diskussion um die Geltungsansprüche konträrer wissenschaftlicher Einschätzung, wie dies beispielsweise im Konflikt um die Atomenergie der Fall war. Es kommt zur "Feudalisierung der Erkenntnispraxis". Die breite Verunsicherung resultierte nicht nur aus dem Expertendissens beispielsweise hinsichtlich des Maskentragens oder der Notwendigkeit von Schulschließungen. Expertinnen und Experten sahen sich auch mit der Aufgabe konfrontiert, die Reichweite ihrer Expertise zu definieren. So bemühte sich Christian Drosten von der Berliner Charité beispielsweise dezidiert, die eigene virologische Expertise abzugrenzen von genuin politischen Entscheidungen. Darüber hinaus waren die Virologinnen und Virologen insbesondere in den Sozialen Medien mit einer Art von "Gegenexpertise" konfrontiert, die die gesamte Realität der Pandemie in Frage stellte. Trotz wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Unsicherheit offenbarte die Pandemie jedoch auch die Grenzen der Manipulierbarkeit von Wahrheit. Die biologische Realität des Virus wurde zu einer "Tatsachenwahrheit", die der "Mensch nicht ändern kann". Die eskalierenden Infektionszahlen in den USA, in Brasilien und in Russland, wo rechtspopulistische Regierungen die Pandemie herunterspielen oder gar leugnen, belegen diese Feststellung eindrucksvoll. Wenngleich die etablierte Gefühls- und Angstkultur der Bundesrepublik vielfältige Anknüpfungspunkte für die spezifische Corona-Angst bot, blieb die politische Bedeutung und potenzielle Funktion dieser Angst zunächst ambivalent. Einerseits führte sie zum Anwachsen von Angst eindämmenden Emotionen, also vor allem Vertrauen in staatliche Handlungs- und Problemlösungskapazität und gesellschaftliche Solidarität. Andererseits begann der anfängliche Vertrauensvorschuss gegenüber den staatlichen Maßnahmen Anfang Mai 2020 zu bröckeln. Allerdings scheinen sich die kurzfristig aufflackernden Corona-Demonstration nicht in eine nachhaltige Protestbewegung zu verstetigen. Rechtspopulistische Bewegungen scheiterten, anders als während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015, mit dem Versuch, ein wachsendes Unzufriedenheitspotenzial zu mobilisieren und politisch zu binden. Darüber hinaus stand die Angst vor den wirtschaftlichen Auswirkungen der epidemiologischen Maßnahmen zunehmend in Konkurrenz zur Angst vor dem Virus. Diese emotionale Dynamik konkurrierender Ängste war immer schon Teil der Geschichte der Bundesrepublik. Im Kalten Krieg neutralisierte die Angst vor dem Kommunismus die Angst vor einem neuen Krieg, eine Dialektik linker und rechter Ängste prägte lange die innenpolitische Auseinandersetzung. Allerdings entsprach die im öffentlichen Diskurs oft behauptete Unvereinbarkeit konkurrierender Ängste nicht den Tatsachen: Im Mai 2020 zeigte eine gemeinsame Studie des Ifo-Instituts und des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung, dass eine effektive Bekämpfung des Virus auch wirtschaftlich sinnvoll ist. Studien zu den Erfahrungen unterschiedlicher Städte während der Spanischen Grippe kamen zu einem ähnlichen Ergebnis. Sowohl bei der Bekämpfung des Virus wie bei der Analyse der historischen Bedeutung der Pandemie ist eine rein nationale Perspektive allerdings unzureichend. Die Pandemie war vielmehr auch Teil einer verstärkten und beschleunigten Krisenhaftigkeit der Globalisierung seit der Jahrtausendwende, die Corona-Angst war mithin auch eine Globalisierungsangst. Corona-Angst als Globalisierungsangst Globalisierungsängste zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie die in der Geschichte der Bundesrepublik wichtige Unterscheidung von "inneren" und "äußeren" Ängsten überwinden. Anders als den Atom- oder Umweltängsten fehlt ihnen ein konkreter Ort, sie sind entterritorialisiert. Im jährlich neu erstellten Angstindex der R&V Versicherung nehmen solche entterritorialisierten Ängste seit 2011 die Spitzenposition in Deutschland ein. Ängste vor "Kosten für Steuerzahler durch EU-Schuldenkrise" (2011 bis 2015), "Terrorismus" (2016/17), einer "gefährlichere[n] Welt durch Trump-Politik" (2018) oder einer "Überforderung durch Flüchtlinge" (2019) hatten allesamt ihren Ursprung in einer zunehmenden Vernetzung der Welt. Diese Ortlosigkeit bestimmte auch die Corona-Angst. Das Virus kam von außen, veränderte aber massiv das innere Leben der Gesellschaften. Es war potenziell allgegenwärtig in der Welt, drohte aber durch das Einatmen – und damit durch unser lebensnotwendiges Verhältnis zur Welt – in unseren Körper einzudringen und diesen von innen zu vernichten. Gerade die Unmöglichkeit, das Virus zu lokalisieren, war ein Grund für die wachsende Popularität von Verschwörungstheorien. Denn diese behaupteten, den Ursprungsort wie auch die Verantwortlichen für die Pandemie identifizieren zu können: Bill Gates, das Wuhan-Labor, die Pharmaindustrie. Neue Infektionskrankheiten bilden die perfekte Metapher für die unsichtbaren und ortlosen Gefahren der Globalisierung. Bereits die Aids-Pandemie der 1980er Jahre unterlief den weitverbreiteten epidemiologischen Optimismus der Zeit nach 1945, demzufolge sich die tödlichen Krankheitsursachen von natürlichen auf menschengemachte verschoben hätten. Immunologische Erfolge wie die Polio-Schutzimpfung oder die Ausrottung der Pocken nährten die Vorstellung einer Stabilität der mikrobischen Welt. Neue Krankheitserreger seien nicht zu erwarten, existierende Viren würden zunehmend weniger virulent werden. Aids enthüllte diese Vorstellungen als trügerisch. Denn das HI-Virus war ein neues, bisher unbekanntes Virus, gegen das es weder Therapie noch Impfschutz gab. Allerdings wurde die öffentliche Wirkung von Aids dadurch abgeschwächt, dass die Krankheit lange als spezifische "Homosexuellen-Seuche" denunziert wurde. Selbst als das Übergreifen auch auf Heterosexuelle zunehmend bekannt wurde, haftete der Krankheit dennoch der moralische Makel sexueller Promiskuität an. Die neu auftauchenden Epidemien und Pandemien seit der Jahrtausendwende haben den epidemiologischen Optimismus des späten 20. Jahrhunderts beendet. Sie transformierten die Krisenhaftigkeit der Globalisierung in sinnlich erfahrbare Körperängste. Mit anderen Worten, die Sars-Pandemie ab 2002, die sogenannte Schweinegrippe ab 2009 oder die Ebola-Epidemie ab 2014 evozierten die Gefahr, die Risiken der Globalisierung am eigenen Körper zu erfahren. In diesen Bedrohungen verband sich das – wenn auch nur vage – Unbehagen an der Globalisierung mit der Angst um die Integrität des eigenen Körpers. Zwar gelang es in diesen Fällen, die Krankheiten relativ schnell lokal zu begrenzen oder sie erwiesen sich, wie im Fall der "Schweinegrippe", als weniger gefährlich als zunächst vermutet, auch aufgrund von bestehenden Immunitäten bei der älteren Bevölkerung. Doch insbesondere in der rechtspopulistischen Imagination vermischte sich die Bedrohung durch grenzüberschreitende Viren mit der durch unregulierte "Migrantenströme". Vor diesem Hintergrund offenbart sich in der Corona-Krise auch eine "zivilisatorische Kränkung". Im Gegensatz zu vergangenen Pandemien war es nämlich nicht mehr möglich, die Ausbreitung des Virus als Phänomen in einer räumlich und mental weit entfernten und vermeintlich unterentwickelten Welt in Asien oder Afrika zu verorten. Vielmehr wurde der industrielle Westen, also Europa und Nordamerika, schnell zum Epizentrum der Corona-Pandemie. Darin manifestierte sich auch eine globale Aufmerksamkeitsstruktur, die generell den Westen betreffende Ereignisse privilegiert. So war beispielsweise die Ebola-Epidemie 2014 erst dann in den Blickpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt, als Amerikanerinnen und Amerikaner in den USA mit dem Virus diagnostiziert wurden. In weit größerem Maße als die vorangegangen Globalisierungskrisen wirkte sich die Corona-Pandemie auf das Alltagsleben und das subjektive Empfinden der Menschen aus. Die Pandemie repräsentierte ein kaum zu übertreffendes Beispiel für jene "Unverfügbarkeiten", die laut dem Soziologen Hartmut Rosa für das spätmoderne Subjekt zunehmend schwerer zu ertragen sind. Während das sukzessive Verfügbarmachen der Welt zur Grunderfahrung der Moderne gehört, zwingt uns das Virus zum Zurückweichen. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie wie Quarantäne, Schulschließungen, das Herunterfahren des öffentlichen Lebens oder Verbote von Massenansammlungen schränken unseren Weltzugang radikal ein, sie sind rein defensiv und rekurrieren auf Modelle, die schon die Bekämpfung der Pest in der Frühen Neuzeit oder die Epidemiologie des 19. Jahrhunderts prägten. Im Vergleich mit anderen Globalisierungskrisen unterschieden sich auch die betroffenen Gruppen. Während die Klima-Angst vor allem von der jüngeren Generation, die um ihre Zukunft fürchtet, artikuliert wurde, betrifft die Corona-Angst vor allem ältere Menschen. Und anders als die Klima-Angst als Angst "ohne Ereignis", deren Ursprung gerade in unserer alltäglichen Lebensweise liegt, war die Corona-Krise ein einschneidendes Ereignis, dass gerade diese Alltäglichkeit massiv veränderte. Natürlich akzentuierte die Krise bestehende soziale Unterschiede. Das Virus wirkte keinesfalls demokratisierend. Soziale Distanzierung war und ist immer auch ein Mittelklasseprivileg, die Opferzahlen unter sozial Schwachen und Minderheiten sind um ein Vielfaches höher. Dennoch: Mehr als die vergangenen Krisen, die in vielerlei Hinsicht Eliten- und Medienphänomene waren – wessen Alltag veränderte sich wirklich einschneidend durch die Flüchtlinge? – transformierte das Virus unsere elementare Erfahrung des In-der-Welt-Seins. Ausblick Es ist diese subjektive Erfahrung der Corona-Krise, in der möglicherweise ihre Langzeitwirkung begründet liegt. Selten schlug die Krisenhaftigkeit der Globalisierung so massiv auf die Alltagserfahrung der Menschen durch. Zu Beginn der Pandemie offenbarte sich beispielsweise die Abhängigkeit von globalen Lieferketten im Hinblick auf plötzlich essenzielle Güter wie Masken, Schutzkleidung oder Beatmungsgeräte. Historisch bietet sich hier die Analogie zur Erfahrung der ersten Globalisierungskrise nach dem Ersten Weltkrieg an. So führte auch die durch die britische Seeblockade provozierte Hungersnot während des Ersten Weltkrieges in Deutschland zu einer neuen Sehnsucht nach Autarkie und "Lebensraum im Osten". Die Erfahrung der Spanischen Grippe stärkte womöglich ebenso die Tendenzen zur Deglobalisierung in der Zwischenkriegszeit. Auch während der Corona-Krise ließ sich bisher eine neue Wertschätzung des Nationalen beobachten. Dies lag nicht nur an den vielen Grenzschließungen, sondern manifestierte sich auch in nationalen Statistiken der Fall- und Todeszahlen, die – trotz der Unzuverlässigkeit der Daten – die jeweiligen Stärken und Schwächen nationaler Bewältigungsstrategien reflektieren. Andererseits unterstrich die Corona-Krise jedoch auch die Notwendigkeit internationaler Solidarität und Koordination in der Pandemie-Bekämpfung, gerade angesichts der zunehmenden Vernetzung der Welt. Schließlich wirft die Corona-Pandemie und die damit zusammenhängende Angstwelle auch die Frage nach dem Status des Ereignisses in der globalen Moderne auf. Denn unsere Erwartungen für die Zukunft werden nicht nur durch vergangene Erfahrungen geprägt, sondern auch durch auf einschneidenden Ereignissen basierenden Zukunftsprojektionen. Es mag sein, dass die Resistenz gesellschaftlicher Strukturen letztlich über den durch das Ereignis provozierten Veränderungsdruck triumphieren wird. Dennoch sollte in einer globalen Medienlandschaft das einem Ereignis innewohnende Veränderungspotenzial nicht unterschätzt werden – die durch den Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem Polizeieinsatz ausgelösten Proteste in den USA und in Europa sind dafür das beste Beispiel. Globale Ereignisse wie die Corona-Pandemie unterlaufen selbstzufriedene Fortschrittsnarrative und lassen die Ungewissheit der Welt erscheinen. In der Bundesrepublik war diese Kontingenzwahrnehmung lange eine negative – sie bestand aus einem dezidierten Krisen- und Katastrophenbewusstsein, dass auf die Gewalterfahrung der ersten Hälfte des Jahrhunderts zurückging. Doch die dem Ereignis inhärente Kontingenzerfahrung ermöglicht auch die Zukunftsprojektion einer grundsätzlichen Veränderbarkeit der Welt. Immerhin provozierte die Corona-Krise Reaktionsmuster, die in den vorangegangen Krisen noch explizit ausgeschlossen waren: die temporäre Aussetzung von Grundrechten, wie sie auch in Zeiten der Bedrohung durch den Terrorismus von liberalen Staaten dezidiert abgelehnt wurden; massive Konjunkturprogramme unter Inkaufnahme hoher Staatsverschuldung, einschließlich einer Europäisierung von Schulden, die in der Euro- und Finanzkrise kaum denkbar gewesen wären; umfassende Grenzschließungen, die in der sogenannten Flüchtlingskrise aus gutem Grund unmöglich erschienen. Wie immer man im Einzelnen diese Maßnahmen bewerten mag, in der Krise offenbaren sich neue Möglichkeitsräume der Politik, die auch für die Zukunft bedeutsam sein könnten. Aus dem Gefühl, einer potenziell allgegenwärtigen und unsichtbaren Gefahr ausgeliefert zu sein, erwuchs somit paradoxerweise ein neues Bewusstsein politischer Handlungsfähigkeit. Die Krise wurde im eigentlichen Sinn des Wortes zu einer Entscheidungssituation. Die bisher relativ erfolgreiche Bewältigung der Pandemie in der Bundesrepublik scheint weitgehend Konsens zu sein, auch wenn ein abschließendes Urteil angesichts wieder steigender Infektionszahlen hier noch nicht möglich ist. Die Diskussion über ihre langfristigen Folgen hier und anderswo hat dagegen gerade erst begonnen. Vgl. Bundestagsdrucksache (BT-Drs.) 17/12051, 3.1.2013, insb. S. 55–87. Nikil Mukerji/Adriano Mannino, Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit, Ditzingen 2020, S. 41. Fernsehansprache von Angela Merkel, 18.3.2020, Externer Link: http://www.bundeskanzlerin.de/-1732134. Vgl. Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt/M. 2010 [1942]. Vgl. hierzu Frank Biess, Die Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek 2019. Vgl. Corona: Drei Viertel finden Maßnahmen richtig, 27.3.2020, Externer Link: http://www.zdf.de/politik/politbarometer/corona-krise-grosse--massnahmen-regierung-100.html. Siehe Externer Link: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/675140/umfrage/bewertung-der-arbeit-von-angela-merkel-als-bundeskanzlerin. Vgl. z.B. René Schlott, Um jeden Preis?, 17.3.2020, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/1.4846867; "Die Bestrafungstaktik ist bedenklich". Interview mit Juli Zeh, 5.4.2020, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/1.4867094. Vgl. Bettina Hitzer, Angst, Panik? Eine vergleichende Gefühlsgeschichte von Grippe und Krebs in der Bundesrepublik, in: Malte Thießen (Hrsg.), Infiziertes Europa? Seuchen im langen 20. Jahrhundert, München 2014, S. 137–156; Hartmut Berghoff, Hingenommen und Vergessen. Die "Asiatische" Grippeepidemie 1957/58, digitaler Vortrag, 27.5.2020, Externer Link: http://www.youtube.com/watch?v=xoJcdTvrHTc&list=PLgoiCMgV-zrcnrrYsoaxxD10d8h4Mgg2F&index=8&t=0s. Zit. nach Thüringer Landtag, Plenarprotokoll 7/11, 8.5.2020, S. 693, Externer Link: http://www.thueringer-landtag.de/uploads/tx_tltcalendar/protocols/zzDruckfassung11.pdf. Vgl. Statistisches Bundesamt, Lebenserwartung von Männern und Frauen in Deutschland, 2020, Externer Link: http://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/_inhalt.html;, United Nations Inter-agency Group for Child Mortality Estimation, Germany. Under-five Mortality Rate, 2019, Externer Link: https://childmortality.org/data/Germany; Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart–Mainz 1959, S. 54, Externer Link: http://www.digizeitschriften.de/dms/toc/?PID=PPN514402342_1959. Vgl. auch Berghoff (Anm. 9). Vgl. Elisabeth von Thadden, Vom guten Recht zu überleben, 9.4.2020, Externer Link: http://www.zeit.de/2020/16/corona-pandemie-statistik-covid-19-todesfaelle. Vgl. Bundespräsidialamt, Fernsehansprache des Bundespräsidenten zur Corona-Pandemie, 11.4.2020, Externer Link: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2020/04/200411-TV-Ansprache-Corona-Ostern.html. Vgl. Shimon Stein/Moshe Zimmermann, Vor steilen Abhängen, 25.4.2020, Externer Link: http://www.tagesspiegel.de/25773700.html. Jürgen Habermas/Klaus Günther, "Kein Grundrecht gilt grenzenlos", 9.5.2020, Externer Link: http://www.zeit.de/2020/20/grundrechte-lebensschutz-freiheit-juergen-habermas-klaus-guenther. Vgl. z.B. Wolfgang Schäuble stellt Lebensschutz als oberstes Ziel infrage, 26.4.2020, Externer Link: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-04/corona-krise-wolfgang-schaeuble-schutzmassnahmen. Ähnlich, aber deutlich undifferenzierter argumentierte Boris Palmer, vgl. "Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären", 28.4.2020, Externer Link: http://www.tagesspiegel.de/25782926.html. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017; ders., Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019, S. 215. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986, S. 274. Hannah Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München 2013, S. 92. Vgl. Florian Dorn et al., Das gemeinsame Interesse von Gesundheit und Wirtschaft: Eine Szenarienrechnung zur Eindämmung der Corona-Pandemie, 12.5.2020, Externer Link: http://www.ifo.de/DocDL/sd-2020-digital-06-ifo-helmholtz-wirtschaft-gesundheit-corona_1.pdf. Zur Spanischen Grippe vgl. Emily Badger/Quoctrung Bui, Cities That Went All in on Social Distancing in 1918 Emerged Stronger for It, 3.4.2020, Externer Link: http://www.nytimes.com/interactive/2020/04/03/upshot/coronavirus-cities-social-distancing-better-employment.html. Vgl. R+V Allgemeine Versicherung, Die Top-Ängste der vergangenen 15 Jahre, 2019, Externer Link: http://www.ruv.de/static-files/ruvde/downloads/presse/aengste-der-deutschen/grafiken/StaticFiles_Auto/ruv-top-aengste-15-jahre.jpg. Vgl. Hartmut Rosa zit. nach Helene Endres et al., Das Krisengefühl, 10.4.2020, Externer Link: http://www.spiegel.de/kultur/a-00000000-0002-0001-0000-000170435631. Vgl. Jörg Vögele, Vom epidemiologischen Übergang zur emotionalen Epidemiologie. Zugänge zur Seuchengeschichte, in: Thießen (Anm. 9), S. 29–49. Vgl. Frank M. Snowden, Epidemics and Society. From the Black Death to the Present, New Haven 2019, S. 458. Zur Entwicklung der Aids-Pandemie vgl. Peter Baldwin, Disease and Democracy. The Industrialized World Faces Aids, Berkeley 2007. Vgl. Snowden (Anm. 24), S. 459–490. Zu den Gründen für die Fehleinschätzung der Schweinegrippe von 2009 vgl. Bei der Schweinegrippe kam alles anders. Podcast mit Christian Drosten, 19.5.2020, Externer Link: http://www.ndr.de/audio684806.html. Mark Siemons, Die zivilisatorische Kränkung. Corona und der Westen, 29.3.2020, Externer Link: http://www.faz.net/-16700907.html. Vgl. Snowden (Anm. 24), S. 490. Vgl. hier und im Folgenden Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Wien 2018. Vgl. Ivan Krastev, Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa veränderte, Berlin 2020, S. 43. Eva Horn, Zukunft als Katastrophe, Frankfurt/M. 2014, S. 111. Vgl. Laura Spinney, Pale Rider. The Spanish Flu of 1918 and How It Changed the World, London 2017. Vgl. Michael Geyer, Die Welt als Ereignis, in: Mittelweg 36 2/2020, S. 81–103. Vgl. "Ausnahmezustand". Interview mit Armin Nassehi, 27.3.2020, Externer Link: http://www.spiegel.de/kultur/a-00000000-0002-0001-0000-000170213716. Vgl. Krastev (Anm. 29).
Article
, Frank Biess
2021-12-07T00:00:00
2020-08-20T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
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Kleine Geschichte Jugoslawiens | Jugoslawien | bpb.de
Am 20. Juli 1917 wurde mit der Deklaration von Korfu die Gründungsurkunde Jugoslawiens unterschrieben. Vertreter der Südslawen aus der Habsburgermonarchie sowie Serbiens erklärten darin, "die vereinte Nation der Serben, Kroaten und Slowenen" werde einen gemeinsamen südslawischen Staat schaffen. Nach Ende des Ersten Weltkrieges rief der serbische Prinzregent Alexander Karađorđević am 1. Dezember 1918 feierlich den Staat der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) aus. Die seit 1878 unabhängigen Königreiche Serbien und Montenegro vereinigten sich mit den von Slowenen, Kroaten, Serben und slawischen Muslimen besiedelten Ländern, die bis dahin zu Österreich-Ungarn gehört hatten. Im Mai 1919 wurde das südslawische Königreich auf der Pariser Friedenskonferenz völkerrechtlich anerkannt. 1929 wurde es in "Jugoslawien" (von südslawisch jug für "Süden") umbenannt. Jugoslawien als Idee Ein politisches Gebilde dieses Namens hatte es vor dem Ersten Weltkrieg nie gegeben. Seit Jahrhunderten lebten katholische, orthodoxe und muslimische Südslawen, die Slowenen, Kroaten, Serben, Bosniaken, Montenegriner und Mazedonier, in verschiedenen Großreichen unter fremder Herrschaft, also unter jeweils ganz unterschiedlichen Politik- und Kultureinflüssen. Jedoch existierten aufgrund sprachlicher und kultureller Gemeinsamkeiten Gefühle von Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit, die sich bis in die Renaissance zurückverfolgen lassen. Im 19. Jahrhundert, als auch Deutsche, Italiener, Polen und andere europäische Völker Einheit und Selbstbestimmung forderten, formierte sich ein südslawischer Nationalismus. Die Vorkämpfer der südslawischen Nationalbewegung waren die kroatischen "Illyristen", die um 1830 in der Habsburgermonarchie aktiv wurden. Sie betrachteten Kroaten, Serben, Montenegriner, Slowenen und Bosnier als Nachfahren eines vermeintlich südslawischen Urvolkes, der antiken Illyrer, und mithin als Angehörige einer Abstammungs- und Kulturgemeinschaft, die es wiederzubeleben gelte. Kernforderungen waren unter anderem die Schaffung einer einheitlichen illyrischen, also kroatischen oder südslawischen Literatursprache sowie die politische Vereinigung von Kroatien, Slawonien, Dalmatien, Slowenien und Bosnien zu einem autonomen und fortschrittlichen "Großillyrien". Auch im benachbarten Fürstentum Serbien, das 1830 unter osmanischer Oberherrschaft autonom geworden war, kursierten Vereinigungsideen. Mit dem 1844 verfassten Entwurf "Načertanije" des Politikers Ilija Garašanin entstand das Programm, Serbien zum "Piemont" einer grenzübergreifenden südslawischen (oder auch nur "großserbischen") Staatsbildung zu machen. Anfangs war die südslawische Idee in Kroatien und Serbien ein rein intellektuelles Unterfangen. Nationalbewegte Schriftsteller und Gelehrte forschten nach Sprichwörtern, Epen und Märchen, um die Wiedergeburt jenes urzeitlichen südslawischen Volkes voranzutreiben, das sie sich vorstellten. Als tragende Säule der nationalen Einheit galt die Entwicklung einer gemeinsamen Standardsprache, denn in den kroatischen Ländern, in Bosnien und der Herzegowina, Serbien und Montenegro sprach man ähnliche, zum Teil sogar die gleichen Dialekte. Im Wiener Abkommen legten der Serbe Vuk Karadžić und der Kroate Ljudevit Gaj 1850 die Grundlagen des Serbo-Kroatischen beziehungsweise Kroato-Serbischen. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg ging man von zwei Varianten eines gemeinsamen Sprachstandards aus. Heute wird – mehr aus politischen denn linguistischen Gründen – zwischen Kroatisch, Serbisch, Bosnisch und Montenegrinisch unterschieden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging der habsburgische Illyrismus in den Jugoslawismus über. Der Patriotismus der Gelehrten verwandelte sich in eine politische Bewegung mit dem Ziel, einen vereinten südslawischen Staat zu gründen. Die führenden Köpfe der Bewegung, der Bischof von Đakovo, Josip Juraj Strossmayer, und der Historiker und Theologe Franjo Rački, behaupteten, dass katholische Kroaten (und eventuell auch Slowenen) sowie orthodoxe Serben trotz unterschiedlicher Konfessionen eine Nation bildeten. Als deren historisch verbürgte Nationalreligion betrachteten sie das vorschismatische Christentum. Die Südslawen waren im 9. Jahrhundert durch die byzantinischen Slawenapostel Kyrill und Method missioniert worden. Erst im 11. Jahrhundert hatten sich die westliche (lateinische) und die östliche (orthodoxe) Kirche offiziell gespalten und dadurch die Entwicklung unterschiedlicher Konfessionsnationen eingeleitet. Die kroatischen Jugoslawisten forderten zunächst ein autonomes südslawisches Königreich als dritte Entität neben Österreich und Ungarn innerhalb der Habsburgermonarchie. Kaiser Franz Joseph und sein Thronfolger Franz Ferdinand waren allerdings strikt dagegen, einen solchen "Trialismus" ernsthaft in Erwägung zu ziehen oder den auf unterschiedliche Reichsteile zerstreuten Südslawen wenigstens mehr Rechte zuzugestehen. Immer mehr nationalbewegte Kroaten und Slowenen wandten sich deswegen von der Monarchie ab. Nach 1900 begannen serbische und kroatische Politiker zusammenzuarbeiten, um einen unabhängigen jugoslawischen Staat zu gründen. Im Gegensatz dazu forderten Anhänger exklusiver großkroatischer und großserbischer Nationalstaatsideen, die mittelalterlichen Königreiche in ihren historischen Grenzen wiederherzustellen. Dadurch wurde die Frage virulent, wem Bosnien und die Herzegowina zustehe, das mal hier- und mal dorthin gehört hatte. Der integrative Jugoslawismus löste diese Konkurrenz auf, erklärte das multireligiöse Land später sogar zum "Herzen Jugoslawiens". Wissenschaftler, Literaten, Bildhauer und Maler gingen folglich daran, die vorgestellte südslawische Nation künstlerisch und literarisch auszugestalten, unter ihnen der bosnische Schriftsteller und spätere Nobelpreisträger Ivo Andrić, der kroatische Bildhauer Ivan Meštrović und der serbische Geograf Jovan Cvijić. Aus der anfangs nur von wenigen Gelehrten getragenen südslawischen Idee entwickelte sich ab der Jahrhundertwende eine nationalistische Massenbewegung. Aber erst der Erste Weltkrieg, durch den die Habsburgermonarchie unwiderruflich unterging, schuf die Voraussetzungen für die Gründung des südslawischen Staates. Am 28. Juni 1914 ermordete Gavrilo Princip von der Geheimorganisation "Junges Bosnien" den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in Sarajevo. Als bekennende "jugoslawische Nationalisten" wollten deren Anhänger die österreichisch-ungarische Herrschaft zerstören, um die politische Vereinigung mit Serbien voranzutreiben. Die Waffen erhielten sie von der serbischen Untergrundorganisation "Schwarze Hand". Wien nahm den Mord zum Anlass, Serbien ein kaum erfüllbares Ultimatum zu stellen und ihm einen Monat später den Krieg zu erklären. Die Regierung in Belgrad, der bis heute keine Urheberschaft an dem Attentat nachgewiesen werden kann, verkündete nun das Ziel, einen "starken südwestlichen slawischen Staat, in den alle Kroaten, und alle Serben und alle Slowenen eintreten", zu gründen. Allerdings konnte Serbien den Armeen der Mittelmächte nicht dauerhaft standhalten. Während die Angreifer das Land unter sich aufteilten, zogen sich König Peter, seine Regierung und das Oberkommando der Armee, gefolgt von mehr als 150000 Soldaten und Zivilisten, im Winter 1915/16 an die Adriaküste zurück. Nach dem verlustreichen Marsch durch die albanischen Berge wurden sie von den Alliierten auf die "Rettungsinsel" Korfu evakuiert. Unterdessen hatten serbische, kroatische und slowenische Politiker aus der Habsburgermonarchie im November 1914 im Londoner Exil den "Jugoslawischen Ausschuss" gegründet. Sie erklärten Serben, Kroaten und Slowenen zu "ein- und demselben Volk (…) mit drei verschiedenen Namen" und forderten einen jugoslawischen Staat. Während Hunderttausende habsburgische Südslawen noch in der k.u.k. Armee kämpften, unterzeichneten der Vorsitzende des Ausschusses, der Kroate Ante Trumbić, und der Ministerpräsident und Außenminister Serbiens, Nikola Pašić, am 20. Juli 1917 die Deklaration von Korfu. Sie kündigte eine konstitutionelle, demokratische und parlamentarische Monarchie unter der in Serbien herrschenden Dynastie Karađorđević an. Während die unterschiedlichen Volksnamen, Religionen, Schriften und nationalen Symbole gleichberechtigt sein sollten, blieb vorerst offen, wie historische, kulturelle und religiöse Eigenheiten der verschiedenen südslawischen Gruppen innerhalb der vorgestellten Einheitsnation berücksichtigt werden würden. Einheit in Vielfalt Aufseiten der Siegermächte setzte sich gegen Ende des Krieges die Einsicht durch, dass ein demokratisches und liberales Jugoslawien besser in die Nachkriegsordnung passen würde als ein Flickenteppich kleinerer Nationalstaaten. Infolge der Pariser Friedensschlüsse 1919/20 sollten daher sieben historische Entitäten mit ganz unterschiedlichen Traditionen, Währungs-, Bildungs-, Infrastruktur- und Rechtssystemen zum "Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen" verschmelzen. Die Friedensmacher übernahmen die Deutung, die südslawische Einheitsnation bestehe aus drei "Stämmen" und trage drei Namen. Im Unterschied zu heute waren die Montenegriner, bosnischen Muslime (Bosniaken) und "Südserben" (Mazedonier) nicht als eigenständige Subjekte oder gar als Nationen anerkannt. Sie alle sollten zur "dreinamigen" Titularnation der Serbo-Kroato-Slowenen zählen, die rund 82 Prozent von 12 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern stellte. Magyaren, Deutsche, Albaner und weitere ethnische Gruppen wurden als Minderheiten mit verbrieften Rechten anerkannt. Nach dem Vorbild Großbritanniens und Frankreichs erhielt der SHS-Staat 1921 eine zentralistische Verfassung. Sie wurde am Veitstag verabschiedet, dem Jahrestag der mythenumwobenen Schlacht gegen die Türken auf dem Amselfeld 1389 und gemeinsamen Symbol für Freiheit und Einheit aller Südslawen. Es galt der Unitarismus nach dem Motto "ein Volk, ein König, ein Staat". Das Staatswappen verschmolz die unterschiedlichen historischen Hoheitszeichen der drei "Stämme": das Kreuz mit den vier Feuerstählen (serbisch), das rot-weiße Schachbrett (kroatisch) sowie die Mondsichel mit den drei Sternen (slowenisch). Die Religionen sollten gleichberechtigt sein und ebenso die kyrillische und die lateinische Schrift. Die vorgestellte Einheit der jugoslawischen Nation stand allerdings auf tönernen Füßen. Zum einen besaßen Slowenen, Kroaten, Bosniaken, Mazedonier, Montenegriner und Serben bereits ein gewisses nationales Eigen- und Abgrenzungsbewusstsein, das die Idee vom "dreinamigen Volk" überging. Zum anderen waren Serben in Regierung und Verwaltung, bei Militär und Polizei deutlich überrepräsentiert. Die Vertreter der habsburgischen Landesteile, die schon bei der Staatsgründung für eine föderale Ordnung votiert hatten, sahen ihren Argwohn gegenüber großserbischer Hegemonie nun durch die politische Praxis bestätigt. Als der kroatische Oppositionsführer Stjepan Radić 1928 im Parlament ermordet wurde, installierte König Alexander im Januar 1929 ein diktatorisches Regime. Um dem spalterischen "Tribalismus" entgegenzuwirken und die nationale Einheit zu stärken, verbot er alle Parteien und Vereine, die ethnisch oder konfessionell ausgerichtet waren. Am 3. Oktober 1929 ließ er den Staat in "Königreich Jugoslawien" umbenennen und nach dem Vorbild der französischen Departements neu gliedern, um, wie er sich ausdrückte, die "nationale Synthese und Einheit" weiter zu festigen. 1931 oktroyierte er eine Verfassung, die es ihm erlaubte, durch Erziehung, Propaganda, Verordnungen und Repression den integralen Jugoslawismus nach dem Motto "ein Volk – ein Nationalgefühl" mit quasidiktatorischen Vollmachten durchzusetzen. König Alexander und der französische Außenminister Louis Barthou fielen im Oktober 1934 einem Attentat kroatischer Faschisten in Marseille zum Opfer. Unter Prinzregent Paul, der anstelle des minderjährigen Thronfolgers Peter die Staatsführung antrat und eine Koalitionsregierung ernannte, kam die Königsdiktatur zum Ende. Um dem kroatischen Separatismus entgegenzuwirken, schuf die jugoslawische Regierung im August 1939 ein autonomes kroatisches Verwaltungsgebiet, die Banovina (Banschaft). Daraufhin forderten dann aber auch Serben, Slowenen und bosnische Muslime eigene Autonomien. Zu einer umfassenden Staatsreform kam es jedoch nicht mehr. Sozialistische Revolution Am Morgen des 6. April 1941 griff Hitler-Deutschland an, um Jugoslawien "zu zerschlagen". Anlass war ein Putsch serbischer Generäle, die aus Protest gegen den erzwungenen Beitritt Jugoslawiens zum Dreimächtepakt die jugoslawische Regierung gestürzt hatten. Die Armee musste infolge des deutschen Einmarsches nach wenigen Tagen kapitulieren, König und Regierung flohen ins Exil. Jugoslawien wurde in Besatzungsgebiete aufgeteilt und einer Terrorherrschaft unterworfen. Auf dem Gebiet Kroatiens sowie in Teilen Bosniens und der Herzegowina entstand der nur dem Namen nach "Unabhängige Staat Kroatien". Hitler übergab die Regierung des von deutschen und italienischen Truppen besetzten Landes der faschistischen Ustascha-Bewegung. Sie baute einen Führer-Staat nach NS-Vorbild auf und ließ auf deutsches Geheiß Juden und Roma ermorden. Ihre eigene rassistische Agenda betraf hingegen vor allem die orthodoxen Serben: Hunderttausende wurden zwangsweise katholisiert, in Konzentrationslager gesperrt, vertrieben oder ermordet. Serbien kam unter deutsche Militärverwaltung, assistiert durch die ultranationalistische Kollaborationsregierung von General Milan Nedić. Den Rest Jugoslawiens teilten die Revisionsmächte Italien, Bulgarien, Ungarn und Deutschland unter sich auf. Überall wurde die Wirtschaft auf die deutschen Kriegsziele ausgerichtet. Zehntausende wurden als Zwangsarbeiter ins Reich deportiert. Die Bevölkerung Jugoslawiens wurde zudem Opfer der rassischen "Neuordnungspläne" Hitlers und seiner Verbündeten. Juden und Roma wurden stigmatisiert, entrechtet, in Lager gepfercht und systematisch ermordet oder bei "Sühneaktionen" zuerst erschossen. In Serbien setzte die SS dafür bereits im Frühjahr 1942 einen Gaswagen ein. Insgesamt fielen bis zu 60.000 von etwa 72.000 Juden der Vernichtung anheim, davon ein Drittel in deutschen Konzentrationslagern. Bereits im Sommer 1941 traten zwei rivalisierende Widerstandsgruppen auf den Plan: die kommunistischen Partisanen und die nationalserbischen Tschetniks. Kämpften beide anfangs gemeinsam gegen die Besatzer, entwickelten sich bald bürgerkriegsähnliche Zustände zwischen den ideologischen Gegnern. Die Tschetniks unter Oberst Dragoljub-Draža Mihailović kämpften für ein monarchisches und ethnisch homogenes Großserbien, wofür sie massenhaft nichtserbische Bevölkerung aus ihren angestammten Siedlungsgebieten vertrieben. Im Gegensatz dazu propagierte Josip Broz Tito mit seinen multinationalen Partisanen das Prinzip von "Brüderlichkeit und Einheit", um einen sozialistischen Föderalstaat aufzubauen. Wehrmacht und SS-Einsatzgruppen gingen erbarmungslos gegen beide Gruppen und die Zivilbevölkerung vor. So befahl der Oberbefehlshaber der 2. Armee, Generaloberst Maximilian von Weichs, bereits am 28. April 1941, als Sühne für jeden deutschen Soldaten, der durch Überfall zu Schaden kam, 100 Zivilisten aller Bevölkerungsschichten "rücksichtslos" zu erschießen und die Leichen öffentlich aufzuhängen. Zehntausende fielen Straf- und Vergeltungsaktionen zum Opfer. Nachdem Tschetnik-Führer Mihailović aus Angst vor Repressalien seine Aktionen eingestellt hatte und streckenweise sogar zur Kooperation mit den Besatzern übergegangen war, stieg Marschall Tito zum alleinigen politisch-militärischen Widerstandsführer auf. Der kroatische Maschinenschlosser und Gewerkschafter hatte als Kommunist Jahre in jugoslawischen Gefängnissen gesessen, als Funktionär der Kommunistischen Partei eine Schulung in der Sowjetunion durchlaufen und 1937 als Generalsekretär die Spitze der KPJ erklommen. Während die königliche Familie, die ehemalige Regierung und die wichtigsten Oppositionspolitiker im sicheren Exil saßen, brachte seine multinationale "Volksbefreiungsarmee" immer größere Gebiete unter Kontrolle. Obwohl die Alliierten den Kommunisten Tito 1943 offiziell als Verbündeten anerkannten, leisteten weder Stalin noch die Westmächte nennenswerte Militärhilfe. Die Partisanen, die bis Mai 1945 auf 800.000 Männer und Frauen aller Nationalitäten angewachsen waren, konnten Jugoslawien trotz höchster Verluste dennoch befreien. Bei Kriegsende besaß keine politische Kraft mehr die Glaubwürdigkeit, die Autorität und die Macht, Tito die Führungsrolle im künftigen Jugoslawien streitig zu machen. Tito betrachtete den "Volksbefreiungskampf" von Anfang an auch als Motor, um die sozialistische Revolution voranzutreiben. Im November 1943, als die Wehrmacht auch in Jugoslawien bereits unter erheblichem militärischen Druck stand, fasste der Antifaschistische Rat der Volksbefreiung Jugoslawiens, eine Art Partisanenparlament, im bosnischen Jajce den Beschluss, Jugoslawien nach Kriegsende als sozialistische Bundesrepublik gleichberechtigter Völker wieder aufzubauen. Auf dem Weg dahin rechneten die Partisanen in den letzten Kriegsmonaten mit den Truppen der Kollaborateure und antikommunistischen "Banden" systematisch ab. Zehntausende wurden durch Standgerichte als Kriegsverbrecher verurteilt und hingerichtet. Als im November 1945 die ersten, kaum als frei und fair zu bezeichnenden Wahlen stattfanden, erhielt Titos "Volksfront" eine überwältigende Mehrheit. Am 29. November 1945 rief das Parlament die Republik aus. Titos Jugoslawien Jugoslawien wurde nun zu einer Föderation aus sechs Republiken und zwei autonomen Regionen (später: Provinzen). Slowenen, Kroaten, Serben, Mazedonier und Montenegriner waren als staatsbildende Nationen anerkannt; in den 1960er Jahren traten noch die Bosniaken als sechste Nation hinzu. Mehr als 20 weitere Nationalitäten und religiöse Gruppen erhielten Minderheitenrechte. Die Republiken waren im Präsidium und allen Bundesorganen paritätisch vertreten; in allen wichtigen Funktionen galt ein "ethnischer Schlüssel". Tito wurde später Staatspräsident auf Lebenszeit. Tito war die Personifizierung des neuen Jugoslawien. Sein außergewöhnliches politisches Talent und sein Charisma, das auch viele ausländische Beobachter rühmten, begründeten eine von breiten Teilen der Gesellschaft, der politischen Klasse und der internationalen Gemeinschaft anerkannte Legitimität. Zugleich war er als Übervater immens populär: Viele Menschen projizierten ihre ganz persönlichen Wünsche, Hoffnungen und Fantasien auf den Partisanenmarschall, den sie seit Kriegszeiten bewunderten, verehrten und liebten. Dieser ließ sich nach allen Regeln des modernen Personenkults als mutiger, kluger, gütiger, humorvoller, gerechter und unfehlbarer Staatsführer inszenieren. Systemkritiker, die Josip Broz verachteten, vermochten ihn insoweit zu respektieren, als er mal als gerechter Makler, mal als autoritärer Autokrat auftrat, um "Brüderlichkeit und Einheit" "wie seinen Augapfel zu hüten". Im Gegensatz zum ersten musste das zweite Jugoslawien die Hypothek eines während der Okkupation ausgefochtenen Bruderkrieges bewältigen. Um das zerrissene Land zu befrieden, wurde der multinationale Partisanenkampf als Gründungsmythos eines neuen, friedlichen Jugoslawien inszeniert. Tatsächlich schien der Hass bald vergessen: Fast drei Viertel der befragten Jugoslawen erklärten 1964, ihr Verhältnis zu Angehörigen anderer Nationalitäten sei gut, weitere acht Prozent hielten es für befriedigend. Nur 5,3 Prozent äußerten sich negativ, der Rest war unentschieden. Immer mehr Menschen wollten sich schließlich auch gar nicht mehr ethnisch zuordnen, sondern allein als "Jugoslawe" im staatsbürgerlichen Sinn verstehen. In den 1980er Jahren waren das bis zu 1,2 Millionen, also über fünf Prozent der Bevölkerung. Andererseits blieben vor allem auf dem flachen Land die alten ethnischen Barrieren noch erhalten. So wurden selbst in den 1980er Jahren noch 87,5 Prozent aller Ehen zwischen Partnern ein- und derselben Nationalität geschlossen. Titos Stellung galt auch deshalb als nahezu unangreifbar, weil er Jugoslawien dem sowjetisch dominierten Ostblock entwunden hatte. Genauer gesagt ließ Stalin Jugoslawien 1948 aus dem Kommunistischen Informationsbüro und Anfang 1949 auch von der Gründung des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe ausschließen. Denn Tito, der sich Moskaus Vorgaben nie ganz unterworfen hatte, hatte nun sogar begonnen, mit Bulgarien und Albanien einen Balkanbund zu schmieden. Stalin, der seinen Einfluss in Südosteuropa gefährdet sah, brandmarkte die jugoslawischen Kommunisten als "Abweichler". Tito reagierte seinerseits mit Säuberungen gegen moskautreue Kommunisten. Tausende angebliche Stalin-Anhänger wurden aus der Partei ausgeschlossen oder auf der berüchtigten Insel Goli otok zur Umerziehung interniert. Der Rauswurf aus dem Ostblock öffnete dem jugoslawischen Regime neue Spielräume. So boten die USA militärische und wirtschaftliche Hilfen an, um Tito "über Wasser zu halten". Dieser knüpfte neue Handelsbeziehungen nach Westen, vermochte es nach Stalins Tod 1953 aber auch, sein Verhältnis zu Moskau wieder zu normalisieren. Er wollte keinem der beiden antagonistischen Bündnissysteme beitreten. Gemeinsam mit seinen ägyptischen und indischen Amtskollegen, Gamal Abdel Nasser und Jawaharlal Nehru, verschrieb Tito sich in den 1950er Jahren der "aktiven friedlichen Koexistenz". 1961 wurde in Belgrad die Organisation der Blockfreien formal gegründet, die fortan unter Jugoslawiens Führung für Dekolonisierung, Abrüstung sowie eine gerechte Weltwirtschafts- und Weltkommunikationsordnung warb. Sie wurde zu einer tragenden Säule der Identität und Stabilität im Vielvölkerstaat. Im Inneren schufen die jugoslawischen Kommunisten mit der sozialistischen Arbeiterselbstverwaltung nach 1948 einen Sozialismus eigener Prägung. Nicht anonyme Staatsorgane wie im Ostblock, sondern demokratische Arbeiterräte sollten die Unternehmen und alle gesellschaftlichen Organisationen lenken. Im Zuge zahlreicher Reformen wurden marktwirtschaftliche Elemente und Privatbetriebe zugelassen. Viele westliche Linke priesen den jugoslawischen Sozialismus "mit menschlichem Antlitz" als ihr Vorbild. Unterstützt durch eine sehr günstige globale Konjunktur erlebten die Jugoslawen nach 1945 ein "Wirtschaftswunder". Die Führung trieb die sozialistische Modernisierung voran, investierte massiv in die Industrialisierung, in den Tourismus und in die Bildung. Bis Mitte der 1960er Jahre verwandelte sich das ehemalige Agrarland in einen Industriestaat: mehr Menschen arbeiteten im sekundären und tertiären Sektor als in der Landwirtschaft, die Städte wuchsen, das Bildungsniveau und die Mobilität stiegen, die Frauen emanzipierten sich aus den patriarchalischen Geschlechterrollen. Pro Kopf wuchs das Bruttosozialprodukt zu konstanten Preisen zwischen 1950 und 1977 um 6,1 Prozent jährlich, die Realeinkommen stiegen in diesem Zeitraum um 150 Prozent. Der zunehmende Wohlstand ermöglichte mehr Konsum und Freizeit, was die Lebensweisen und Werte von Grund auf veränderte. Im Gegensatz zum Ostblock tolerierte das jugoslawische System schließlich auch einen gewissen Pluralismus in Literatur, Wissenschaften und Künsten. Zwar herrschte das Regime mit Geheimpolizei, Pressezensur und Berufsverboten, jedoch duldete es in gewissen Nischen auch abweichende Meinungen, etwa in Universitäten, Akademien und Religionsgemeinschaften. Das am höchsten geschätzte Privileg der Jugoslawen aber war die Reisefreiheit. So waren die Bürgerinnen und Bürger Jugoslawiens durchaus stolz auf Fortschritte und Freiheiten, und nur wenigen dämmerte, dass das System möglicherweise auch für Misswirtschaft, Bürokratisierung und Korruption verantwortlich war. Trotz diverser Mechanismen zur Umverteilung und Regionalförderung misslang das zentrale Vorhaben der Kommunisten, die Entwicklungs- und Einkommensunterschiede zwischen den Republiken Jugoslawiens zu verringern. Im Gegenteil: Die Disparitäten wurden immer größer. Waren die Slowenen pro Kopf bei Kriegsende etwa dreimal wohlhabender als die Kosovaren, waren sie Mitte der 1960er Jahre etwa sechsmal und Ende der 1980er Jahre sogar neunmal reicher. Ungewollt förderte das System damit Verteilungskonflikte, bestärkte Nationalismus und ethnische Intoleranz. Als sich Ende der 1960er Jahre erste wirtschaftliche Krisenerscheinungen bemerkbar machten, meldeten sich in allen Landesteilen Politiker und Intellektuelle zu Wort, die in der gleichmacherischen Politik von "Brüderlichkeit und Einheit" einen Angriff auf nationale Identitäten und Interessen sahen. Kroatische Intellektuelle und Kulturorganisationen verlangten 1967 eine kroatische Literatursprache, während die Albaner im Kosovo 1968 bei gewaltsamen Demonstrationen eine eigene Teilrepublik und Anschluss an Albanien forderten. Während des "Kroatischen Frühlings" 1971 riefen die kroatische Parteispitze, die Kulturorganisation Matica hrvatska, Studentenvertreter und Medien nach mehr Eigenständigkeit für Kroatien, einer eigenen Armee sowie "großkroatischen" Republikgrenzen. Tito warf die kroatische Parteiführung daraufhin aus dem Amt; die Anführer kamen vor Gericht. Auch in Serbien und Bosnien-Herzegowina ging der Staat nun verstärkt gegen nationalistische Umtriebe und Regimekritik vor. In Bosnien-Herzegowina kamen die Verfasser einer "Islamischen Deklaration", darunter der spätere bosnische Präsident Alija Izetbegović, ins Visier, weil sie die "Vereinigung der islamischen Welt in einem riesigen Staat" gefordert und Kontakte zum iranischen Ajatollah-Regime aufgebaut hatten. Vom Jugoslawismus zum Nationalismus Nachdem Tito 1980 in hohem Alter gestorben war, fehlte dem Vielvölkerstaat seine wichtigste Integrationsfigur gerade in dem Moment, als das Land auf eine tiefe Wirtschaftskrise zusteuerte. Identitäts- und Sinnsuche, aber auch sozialökonomische Probleme und Zukunftsängste, brachten nationalistischen Politikern und religiösen Führern Zulauf. Ausgelöst durch die Ölkrise war 1973 das internationale Währungssystem zusammengebrochen. Die Weltwirtschaft war in schwere Turbulenzen geraten, und auch Jugoslawien war in eine Krise geschlittert. Der Staat hatte damals zunächst versucht, die sinkende Wirtschaftsleistung durch ausländische Kredite auszugleichen, verfing sich aber in der Schuldenfalle. Zwischen 1973 und 1981 waren die Verbindlichkeiten von 4,6 auf 21 Milliarden US-Dollar gestiegen. Als die Geber in den 1980er Jahren ihre Gelder zurückforderten, drohte dem Staat die Zahlungsunfähigkeit. Viele Menschen wurden von wachsender Arbeitslosigkeit erfasst, und der Lebensstandard sank. Zwischen 1980 und 1986 stieg das Bruttoinlandsprodukt nur noch um 0,6 Prozent im Jahr; die Realeinkommen lagen 1985 um 27 Prozent niedriger als 1979. In den 1980er Jahren änderten sich zudem die internationalen Rahmenbedingungen, die Jugoslawiens einzigartige Stellung zwischen Ost und West gewährleistet hatten. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus verschwand nach Tito auch die verbindende Ideologie von "Brüderlichkeit und Einheit" als maßgeblicher integrativer Faktor. Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde auch Jugoslawiens "dritter Weg" hinfällig. Die tragenden Säulen von Titos Modell – Völkerfreundschaft, Arbeiterselbstverwaltung und Blockfreiheit – ergaben keinen Sinn mehr. Aus der Wirtschaftskrise entwickelte sich bald eine Legitimitäts-, System- und schließlich umfassende Staatskrise. Letzte Reformbemühungen scheiterten, darunter auch eine von den internationalen Finanzinstitutionen verordnete "Schocktherapie". Die Wachstums- und Produktionsraten stürzten weiter in den Keller, und die Inflation galoppierte mit 2700 Prozent davon. Im Konflikt über Reformen zerfiel Anfang 1990 die Einheitspartei, der Bund der Kommunisten Jugoslawiens. Die gesamtstaatlichen Institutionen, der gemeinsame Wirtschaftsraum, die Medien und der Sicherheitsapparat erodierten. 1990/91 fanden in den Republiken Jugoslawiens Mehrparteienwahlen statt, die im Ergebnis zu ethnischer Versäulung der politischen Landschaft und nationalistischen Polarisierungen führten. In Serbien behauptete sich der ehemalige Kommunist Slobodan Milošević, der seit 1989 an der Staatsspitze stand und auf Großveranstaltungen mit nationalistischen Parolen für ein starkes Serbien warb. In Slowenien trat Milan Kučan und in Kroatien Franjo Tuđman, einer der Protagonisten des "Kroatischen Frühlings", die Präsidentschaft an. Da die neuen, national ausgerichteten Republikführungen noch weniger kompromissbereit waren als ihre Vorgänger, das Prinzip der kollektiven Führung aber Einstimmigkeit voraussetzte, wurde die jugoslawische Bundespolitik handlungsunfähig. Scheinbar unvereinbare Interessen trafen in den Institutionen aufeinander. Einerseits wollten Slowenien und Kroatien um jeden Preis mehr Handlungsfreiheit durchsetzen, um Demokratisierung, Marktwirtschaft und die Annäherung an die Europäische Gemeinschaft voranzubringen. Andererseits gefährdete dies aber die nationale Einheit der Serben, von denen mehr als ein Viertel in Kroatien und Bosnien-Herzegowina lebte. Belgrad wollte den Vielvölkerstaat, in dem alle Nationsangehörigen vereint waren, durch Zentralisierung zusammenhalten oder, wenn dies nicht möglich war, zumindest die von Serben bewohnten Gebiete. Als Slowenien und Kroatien die Unabhängigkeit vorbereiteten, gründeten die kroatischen und die bosnischen Serben 1991/92 ihre eigenen Staaten: die Serbische Republik Krajina in Kroatien und die Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina. Diese sprachen sich für den Verbleib in Jugoslawien aus. Ermuntert durch den deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, erklärten Slowenien und Kroatien am 25. Juni 1991 ihre Unabhängigkeit. Daraufhin votierten auch die Parlamente Bosnien-Herzegowinas (allerdings ohne die Stimmen der Serben) und Mazedoniens für die Unabhängigkeit, während Montenegro und Serbien die "Bundesrepublik Jugoslawien" bildeten, später "Staatenunion Serbien und Montenegro". Diese zerfiel erst 2006. Krieg ums Erbe Die Auflösung Jugoslawiens in seine Teilrepubliken bildete den Auslöser für den Krieg um sein Erbe. Während in Slowenien, wo keine Serben beheimatet waren, der bewaffnete Konflikt nach wenigen Tagen zu Ende ging, begann die Jugoslawische Volksarmee im Herbst 1991 in Kroatien eine Großoffensive. Streitkräfte der kroatischen Serben brachten ein Drittel Kroatiens unter ihre Kontrolle und vertrieben etwa eine halbe Million Menschen. Nach etlichen gescheiterten internationalen Vermittlungsversuchen gelang erst im Januar 1992 ein Waffenstillstand. In Bosnien-Herzegowina gab die Anerkennung im April 1992 den bosnisch-serbischen Streitkräften den Anlass, binnen Wochen rund 70 Prozent des Territoriums zu erobern. Hunderttausende wurden im Zuge "ethnischer Säuberungen" vertrieben. Währenddessen begannen Ende 1992 Kroaten und Bosniaken, die anfangs gemeinsam gegen die Serben gekämpft hatten, einen "Krieg im Krieg" gegeneinander. Infolge der eskalierenden Kämpfe zwischen den regulären Armeen von drei Kriegsparteien und zahlreichen paramilitärischen Gruppen begaben sich über zwei Millionen Menschen aller ethnischen Gruppen, die Hälfte der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas, auf die Flucht. Viele wurden planmäßig vertrieben. Im Juli 1995 ermordeten bosnisch-serbische Streitkräfte beim Sturm auf die UNO-Schutzzone Srebrenica mehr als 8.200 bosniakische Männer – das Ereignis gilt als der erste Genozid auf europäischem Boden seit 1945. Insgesamt wurden während des Krieges mehr als 100.000 Menschen unterschiedlicher Volkszugehörigkeit getötet, wobei die Bosniaken bei Weitem die höchsten Opferzahlen zu beklagen hatten. Für die Staatengemeinschaft war mit Srebrenica eine rote Linie überschritten. Während die Nato begann, bosnisch-serbische Stellungen zu bombardieren, nutzte die kroatische Armee im August 1995 die Gunst der Stunde, um mit der Operation "Sturm" die Krajina zurückzuerobern und die dort ansässigen Serben in die Nachbarstaaten zu vertreiben. In Bosnien-Herzegowina bildete sich infolge der Intervention eine militärische Pattsituation, die es ermöglichte, den Krieg im November 1995 durch das Abkommen von Dayton zu beenden und das versehrte Land unter internationale Verwaltung zu stellen. Im Frühjahr 1999 unternahm die Nato erneut einen Luftkrieg, diesmal gegen Serbien, das im Kosovo gegen die nach Unabhängigkeit strebende albanische Guerilla gewaltsam vorging. Kosovo wurde zu einem UNO-Protektorat, ehe es sich 2008 unilateral für unabhängig erklärte. Somit zerfiel Jugoslawien nacheinander in sieben Nachfolgestaaten, von denen heute bereits zwei – Slowenien und Kroatien – Mitglieder der Europäischen Union sind. Serbien, Montenegro und Mazedonien besitzen einen offiziellen, Bosnien-Herzegowina und Kosovo einen potenziellen Kandidatenstatus. Ob und wann sie je der EU beitreten werden, ist allerdings gänzlich offen. Schluss Seit dem 19. Jahrhundert strebten kroatische, serbische und slowenische Gelehrte, Politiker und einfache Bürger nach einem vereinigten südslawischen Staat. Für Jugoslawien sprachen aus ihrer Sicht viele Argumente: sprachlich-kulturelle Gemeinsamkeiten, das erprobte Zusammenleben in den multiethnischen Regionen, die einigende Erfahrung jahrhundertelanger Fremdherrschaft, der Wunsch nach Selbstbestimmung und Teilhabe sowie die Sicherheit in einem starken Gemeinwesen. Jedoch erforderte das Zusammenleben in der staatlichen Gemeinschaft angesichts der hochgradigen Diversität der von Südslawen bewohnten Länder von allen Seiten beträchtliche Zugeständnisse. Trotz ganz unterschiedlicher auf nationale Einheit ausgerichteter Ideologien und Politikansätze – unitarischer Zentralismus im ersten und multinationaler Föderalismus im zweiten Jugoslawien – sind die Entwicklungs- und Interessenunterschiede und damit die Konflikte im Verlauf des 20. Jahrhunderts stetig gewachsen. Am Ende scheiterte der Vielvölkerstaat am Unvermögen, die wachsende Komplexität der Herausforderungen zu meistern, beziehungsweise an dem Unwillen der Eliten, die historischen Kompromisse von Korfu 1917 und Jajce 1943 fortzusetzen. Anstelle der integrativen südslawischen Idee trat der ethnisch homogene Nationalstaat als Ordnungsprinzip und mit ihm die Erfahrung von Krieg, Vertreibung und Massenmord. Ein Vierteljahrhundert nach dem Zerfall Jugoslawiens sind Identitäts-, Grenz- und Statusfragen, zumal die serbische, bosnische, mazedonische und albanische nationale Frage, noch immer ungelöst. Vgl. Marie-Janine Calic, Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region, München 2016; dies., Geschichte Jugoslawiens, München 20142. Vgl. Dejan Djokić (Hrsg.), Yugoslavism, London 2003. Das Gegenteil behauptet Christopher Clark, Die Schlafwandler, München 2013. Vgl. Andrew B. Wachtel, Literature and Cultural Politics in Yugoslavia, Stanford 1998. Vgl. Vladimir Dedijer, Sarajewo 1914, Wien u.a. 1967, S. 335ff. Vgl. Andrej Mitrović, Serbia’s Great War, West Lafayette 2007. Vgl. Ivo Banac, The National Question in Yugoslavia, Ithaca 1984, S. 217. Vgl. Christian Axboe Nielsen, Identity in King Aleksandar’s Yugoslavia, Toronto u.a. 2014, S. 203. Vgl. Jozo Tomasevich, War and Revolution in Yugoslavia. Occupation and Collaboration, Stanford 2001, S. 366ff. Vgl. Calic 2016 (Anm. 1), S. 498. Vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Verbrechen der Wehrmacht, Hamburg 2002, S. 508ff., S. 550. Vgl. Jože Pirjevec, Tito. Die Biografie, München 2016. Siehe dazu auch den Beitrag von Marc Halder in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Vjekoslav Perica, Balkan Idols: Religion and Nationalism in Yugoslav States, Oxford u.a. 2002, S. 101. Vgl. Calic 2014 (Anm. 1), S. 216. Vgl. Holm Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011, Wien u.a. 2012. Vgl. Derek Howard Aldcroft, The European Economy 1914–2000, London–New York 2001, S. 163ff. Vgl. Dijana Pleština, Regional Development in Communist Yugoslavia, Boulder 1992, S. 118ff. Vgl. Calic 2014 (Anm. 1), S. 265f. Vgl. Susan Woodward, Balkan Tragedy, Washington, D.C. 1995, S. 127f.
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, Marie-Janine Calic
2022-06-01T00:00:00
2017-09-27T00:00:00
2022-06-01T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/256921/kleine-geschichte-jugoslawiens/
Die beiden Jugoslawien – das königliche und das sozialistische – standen vor ähnlichen Heraus-forderungen, wählten aber unterschiedliche Ansätze zur Herstellung nationaler Einheit. Beide scheiterten schließlich an einer wachsenden Diskrepanz zwischen
[ "APuZ", "APuZ 40-41/2017", "Jugoslawien", "Vielvölkerstaat", "Zweiter Weltkrieg", "Deklaration von Korfu", "Tito", "Sozialismus", "Kalter Krieg", "Slowenien", "Kroatien", "Bosnien-Herzegowina", "Serbien", "Mazedonien", "Kosovo", "Montenegro", "postjugoslawischer Raum", "Westbalkan", "Genozid" ]
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Die Frau, die Mut zeigt | Afrikanische Diaspora in Deutschland | bpb.de
Gründung des Vereins ADEFRA Die Interessensgemeinschaft ADEFRA, deren Name ursprünglich die Abkürzung für AfroDEutsche FRAuen war, wurde Mitte der 1980er Jahre gegründet und ist seit 1994 ein bundesweiter, gemeinnütziger Verein. ADEFRA ist ein Forum, in dem sich Schwarze Frauen und Women of Color mit ihren Belangen auseinander setzen und in dem zugleich ihre Vielfalt repräsentiert ist. Alle verbindet auf die eine oder andere Weise – unabhängig von Weltanschauung, Glauben, Nationalität, Beruf und Sozialisation – die Erfahrung, Schwarz und eine Frau zu sein. "Erhebt euch und schweigt nicht mehr" schrieb die afro-amerikanische Dichterin Audre Lorde 1986 in ihrem Vorwort zu dem Buch "Farbe bekennen" an ihre afro-deutschen Schwestern. Ihrer Aufforderung sind damals einige gefolgt. Viele Schwarze Frauen in der damaligen BRD fühlten sich angesprochen von dieser starken, begabten, kämpferischen Frau, die ihre Liebe zu Frauen auch in ihren Texten niemals verbarg. So brachen Schwarze Frauen ab Mitte der 1980er Jahre auf, trafen sich, trauten sich länger hinzuschauen und einander zu erkennen. Erstes Ergebnis dieses Aufbruchs war die Gründung von ADEFRA, einer Gruppe, in der zunächst afro-deutsche Frauen, später Schwarze Frauen unterschiedlichster Herkunft zusammenfanden. Als Ausdruck der Entwicklung und wachsenden Vielfalt wurde der Name der Gruppe erweitert. Im Amharischen, einer äthiopischen Sprache, bedeutet ADEFRA: Die Frau, die Mut zeigt. Die ersten bundesweiten ADEFRA-Treffen in München und Berlin bedeuteten Begegnung und Austausch. Angesichts der in der Dominanzkultur vorherrschenden rassistischen Strukturen sehnten sich viele Schwarze Frauen nach Räumen, wo ihnen diese nicht begegneten. Einen solchen Frei- und Schutzraum bot ADEFRA. ADEFRA war einer der ersten Zusammenschlüsse von Schwarzen Deutschen. Etwa zur selben Zeit entstand auch die aus Männern und Frauen bestehende Initiative "Schwarze Deutsche", aber festzuhalten ist, dass es Frauen und insbesondere Lesben waren, die die Schwarze Bewegung in Deutschland in Gang brachten. Die Gründerinnen von ADEFRA einte die Überzeugung, dass Schwarzen Frauen ein eigener Raum zusteht, weil sie durch das Zusammenwirken von Rassismus und Sexismus in dieser Gesellschaft doppelt benachteiligt sind. Heraus aus der Isolation Das Zusammenkommen bei ADEFRA bedeutete für Schwarze Frauen in Deutschland ein Heraustreten aus der Isolation. Die meisten waren während ihrer gesamten Kindheit und auch später als Erwachsene immer die einzigen Schwarzen in einem weißen Umfeld gewesen – in ihren Familien, in der Schule und später im beruflichen Setting. Besonders afro-deutsche Frauen bi-nationaler Herkunft, die meist bei ihren weißen deutschen Müttern aufgewachsen waren, hatten sich lange gar nicht als Schwarze identifizieren können. So erlebten sie das Sich-Beziehen auf andere Schwarze Frauen wie eine Art Coming out. Ria Cheatom, eine der Gründerinnen von ADEFRA formulierte es in einem Interview so: "Ich habe mein Black Coming out unglaublich stark erlebt (...). Es hat mich verletzbarer, aber gleichzeitig stärker und kämpferischer gemacht. Als ich zum ersten Mal Kontakt mit mehreren schwarzen Menschen hatte, hat das total mein Leben verändert. Zum ersten Mal konnte ich für Stunden durchatmen. Zum ersten Mal war da die Möglichkeit, uns selber zu sehen." Die Arbeitsebenen ADEFRA arbeitete von Anfang an auf mehreren Ebenen. Eines der wesentlichen Ziele des Vereins war und ist Empowerment, d.h., das Selbstbewusstsein, die Selbstbestimmung und die Selbstorganisation Schwarzer Frauen zu stärken und zu unterstützen. Dafür war es wichtig, sich regelmäßig und in unterschiedlicher Zusammensetzung zu treffen. Bis 1994 organisierte ADEFRA deshalb jährlich Bundestreffen Schwarzer Frauen, bei denen zunächst Identitätsfindung und die Entdeckung der eigenen Geschichte im Mittelpunkt standen. Das eingangs erwähnte Buch "Farbe bekennen" lieferte hierzu wichtige Anstöße. Das Werk basierte auf der Diplomarbeit der afro-deutschen Pädagogin und Autorin May Ayim und dokumentierte erstmals die historische Kontinuität Schwarzer Menschen in Deutschland von der Kolonialzeit bis in die westdeutsche Gegenwart der 1980er Jahre. Auf einer anderen Ebene setzte sich ADEFRA für gesellschaftliche Veränderung ein. Besonders durch Anti-Rassismus- und Aufklärungsarbeit, aber auch durch die Bildung von Bündnissen mit weißen Frauengruppen trugen engagierte Schwarze Frauen zu einer gewissen Bewusstseinsveränderung bei. Die Auseinandersetzungen mit weißen Feministinnen über Rassismus führten in späteren Jahren aber dazu, dass man sich wieder stärker voneinander entfernte. Über die Jahre entwickelte sich unter den ADEFRA-Mitfrauen so etwas wie ein Expertinnen-Pool, auf den sowohl die Schwarze Community als auch weiße deutsche Organisationen und Institutionen immer wieder zurückgreifen: Von Historikerinnen über Literaturwissenschaftlerinnen, Fachfrauen in Gesundheitsberufen, (Sozial-)Pädagoginnen, Künstlerinnen bis zu Medienarbeiterinnen ist alles vertreten. Engagement Das Engagement ADEFRAs innerhalb der wachsenden Schwarzen Community in Deutschland ist eine dritte Ebene der Vereinsarbeit. Die bei ADEFRA aktiven Frauen sahen sich schon immer als ein Teil der größeren Community und hatten beispielsweise von Anfang an ihren Platz auf den jährlich stattfindenden Bundestreffen Schwarzer Menschen in Deutschland oder auch auf dem Black History Month in Berlin, der über einen Zeitraum von zehn Jahren regelmäßig veranstaltet wurde. Heute ist ADEFRA eine treibende Kraft beim "Black Community Congress" und trägt maßgeblich zum Entstehen eines bundesweiten Netzwerks Schwarzer Aktivistinnen und Aktivisten in Deutschland bei. Schließlich ist bei ADEFRA der Blick über den bundesdeutschen Tellerrand schon früh von zentraler Bedeutung gewesen. Während Mitte der 1980er Jahre noch afro-amerikanische Feministinnen und Schriftstellerinnen prägend waren, rückten später die europäischen Nachbarländer stärker in den Fokus des Interesses für einen Austausch mit anderen Schwarzen Frauen. Nach dem Fall der Mauer waren es dann die Schwarzen Schwestern aus den neuen Bundesländern, mit denen es sich erst einmal auszutauschen und zusammenzufinden galt. ADEFRA ist heute mit Schwarzen Frauengruppen überall auf der Welt vernetzt und begreift sich auch hier wieder als Teil der größeren internationalen Community Schwarzer Frauen/Menschen. Organisationsstrukturen In den Anfangsjahren war ADEFRA zunächst informell organisiert. Noch lange vor der Gründung des bundesweiten Vereins hatte es jedoch eine Gruppe von Frauen in München geschafft, ein von der Stadt gefördertes ADEFRA-Büro einzurichten. Dieses Büro fungierte über zehn Jahre lang als "Zentrale". Hier fanden kleine Treffen statt, von hier aus wurden die meisten Frauenbundestreffen organisiert, Kontakte geknüpft und Informationen versandt. ADEFRA-Frauen schrieben regelmäßig Beiträge für die Zeitschriften "Afrekete", und "afro-look" und gaben selbst Rundbriefe heraus, zuletzt die "ADEFRA-News". In diesen Jahren wurde auch der Grundstein für ein ADEFRA-Archiv gelegt, das aus eigenen Publikationen sowie einer extensiven Sammlung von Büchern, Zeitungsausschnitten und Videos besteht. Ende der 1990er Jahre musste das Büro leider geschlossen werden, da sich der harte Kern der ADEFRA-Aktivistinnen in München aufzulösen begann. ADEFRA als Vorbild Parallel zu der Gruppe in München gab es in anderen Städten ADEFRA-Gruppen, die sich über die Jahre gebildet hatten, beispielsweise in Hamburg und Erfurt. ADEFRA war 1994 ausdrücklich als bundesweiter Verein gegründet worden, um die Möglichkeit zu haben, viele regionale Schwarze Frauengruppen unter einem Namen zusammenzufassen. Die regionalen ADEFRA-Gruppen waren miteinander vernetzt und arbeiteten punktuell zusammen. Inzwischen gibt es in Berlin die größte ADEFRA-Community in Deutschland, so dass sich die Vereinsarbeit seit Ende der 1990er Jahre auf die Hauptstadt konzentriert. Im Jahr 2004 soll hier erneut ein Büro eröffnet werden, um eine Basis für die konkretere Arbeit zu schaffen. Diese soll in den nächsten Jahren folgende Schwerpunkte haben: Bildungsarbeit für Schwarze Frauen und Mädchen Flucht und Migration Reparationen für Schwarze Frauen Schwarze Frauen in psychischen Krisensituationen 20 Jahre ADEFRA 17 Jahre später ... 17 Jahre nachdem Schwarze Frauen in Deutschland erstmals als ADEFRA zusammenkamen, hat sich gleichzeitig viel und wenig verändert. Die deutsche Gesellschaft krankt noch immer an institutionalisiertem Rassismus, rassistischen und sexistischen Stereotypen und einer geringen Bereitschaft, Schwarze Menschen als einen integralen Teil dieser Gesellschaft anzusehen. Doch Schwarze Menschen, Schwarze Frauen haben sich ihre eigenen Räume geschaffen und damit zumindest füreinander Sichtbarkeit erlangt. Wir haben Rassismus, Sexismus und Homophobie heute mehr entgegenzusetzen, vor allem das Wissen darum, viele zu sein. Literatur Ayim, May/Nivedita Prasad (Hg.): Wege zu Bündnissen (Eine Kongressdokumentation in Kooperation mit der Frauenanstiftung Hamburg), Berlin 1992. Ayim, May: Blues in Schwarz Weiß: Gedichte, 3. Aufl., Berlin 1996. Dies.: Nachtgesang: Gedichte, Berlin 1997. Dies.: Grenzenlos und unverschämt: Politische Texte, Momentaufnahmen, Gespräche, Berlin 1997; Frankfurt/M. 2001. Boyce Davies, C./M. Ogundipe-Leslie (Hg.): International Dimensions of Black Women's Writing, London 1995. Busby, Margaret (Hg.): Daughters of Africa: An international anthology of words and writings by women of African descent from the ancient Egyptian to the present, London 1992. Hügel, Ika u.a. (Hg.): Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung, 2. Aufl., Berlin 1999. Hügel-Marshall, Ika: Daheim unterwegs: Ein deutsches Leben, Berlin 1998; Frankfurt/M. 2002 (Englische Übersetzung: 2001). Gelbin, Cathy S. u.a. (Hg.): AufBrüche: Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen in Deutschland, Königstein 2000. Joseph, Gloria I: (Hg.): Schwarzer Feminismus: Theorie und Politik afro-amerikanischer Frauen, Berlin 1993. Kraft, M./R.S. Ashraf-Kahn (Hg.): Schwarze Frauen der Welt: Europa und Migration, Berlin 1994. Lorde, Audre: Die Quelle unserer Macht: Gedichte, Berlin 1994. Popoola, Olumide/Beldan Sezen (Hg.): Talking Home: Heimat aus unserer eigenen Feder: Frauen of Color in Deutschland, Amsterdam 1999. Schultz, Dagmar (Hg.): Macht und Sinnlichkeit: Ausgewählte Texte von Audre Lorde und Adrienne Rich, 4. Aufl., Berlin 1993.
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Ekpenyong Ani
2022-02-03T00:00:00
2012-01-25T00:00:00
2022-02-03T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/afrikanische-diaspora/59487/die-frau-die-mut-zeigt/
Eines der wesentlichen Ziele von ADEFRA ist Empowerment, also das Selbstbewusstsein, die Selbstbestimmung und die Selbstorganisation Schwarzer Frauen zu stärken. Der Verein kümmert sich vorrangig um internationalen Austausch, Bildung, Beratung und Un
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Arbeitsaufträge | Unterricht am Whiteboard | bpb.de
Stunde 1 Wählen Sie aussagekräftige Daten der Statistik aus. Übertragen Sie diese in ein Diagramm und verwenden dazu das vorhandene Officeprogramm. Überlegen Sie, welche Diagrammform sich zur Visualisierung am besten eignet und präsentieren Sie die Ergebnisse abschließend am Whiteboard der Klasse. Links zu den Statistiken Externer Link: chronik-der-mauer.de: Fluchtbewegung aus der DDR und dem Ostsektor von Berlin - 1949-1961Externer Link: chronik-der-mauer.de: Fluchtbewegung aus der DDR und dem Ostsektor von Berlin - Juni bis August 1961 Stunde 2 Bearbeiten Sie entweder die offizielle DDR- oder die Westperspektive auf einem der beiden Arbeitsblätter (diese in Kopie ausgeben oder Schülern als Link geben) in Partnerarbeit oder Kleingruppen. Externer Link: Arbeitsblätter 6 und 7Setzen Sie sich anschließend mit jemandem zusammen, der die jeweils andere Perspektive bearbeitet hat. Stellen Sie sich gegenseitig Ihre Ergebnisse vor und vergleichen Sie die beiden Perspektiven miteinander.Diskutieren Sie abschließend die Frage: Hat Kennedy, hat der Westen "Berlin verkauft" oder einen Dritten Weltkrieg verhindert? Unter den Berlinern war damals das Gefühl weit verbreitet, der Westen habe sie, also die Berliner, verkauft. Warum?Alternativ: Was bedeutet dies für die Bevölkerung (in Ost und West) und welche Möglichkeiten hat sie, darauf zu reagieren? Stunde 3 Wählen Sie einige aussagekräftige Fotos aus den beiden Fotogalerien zum "Mauerbau" und "Nach dem Mauerbau" auf der Webseite Jugendopposition.de aus. Arbeiten Sie dazu in Kleingruppen. Externer Link: Bildergalerie zum MauerbauExterner Link: Bildergalerie "Nach dem Mauerbau" Fügen Sie mit Hilfe der Whiteboard-Software den Bildern Sprech- und Denkblasen hinzu, welche die unterschiedlichen Perspektiven auf den Mauerbau widerspiegeln. Am Ende können Sie daraus eine Fotocollage zusammenstellen. Präsentieren Sie Ihre Collage am Whiteboard. Erklärten Sie, warum Sie gerade diese Bilder ausgewählt haben.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2012-02-29T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/unterricht-am-whiteboard/71259/arbeitsauftraege/
Hier finden Sie die Arbeitsaufträge zum bpb-Dossier "Unterricht am Whioteboard": Mauerbau: drei Perspektiven.
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Kunst: Erarbeitung strafrechtlich relevanter Beweise | Stasi | bpb.de
Erst nach dem Mauerbau begann sich das Ministerium für Staatssicherheit verstärkt für den Kulturbetrieb zu interessieren. Am 9. März 1964 wird die Hauptabteilung XX (HA XX) für den „gesellschaftlichen Überbau“ eingerichtet. Nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 tauchten in den Dienstanweisungen und Befehlen erstmals der Kampf gegen alle Erscheinungen der „politisch-ideologischen Diversion“ (PiD) und die Bekämpfung der „staatsfeindlichen Hetze“ als zentrale Aufgaben im Kulturbereich auf. Im Juni 1969 wurde die Abteilung 7 der HA XX eingerichtet mit der Zuständigkeit für die Sicherung der Bereiche „Kultur“ und „Massenkommunikationsmittel“. Für die bildende Kunst waren das z.B. die Akademie der Künste, die Kunsthochschulen, Kultur- und Klubhäuser und vor allem der Verband der bildenden Künstler, von Vertrauenspersonen von SED und Stasi durchsetzt. Der Einschnitt 1968 Ausgangspunkt der von nun an entwickelten MfS-Strategien gegen "negative Kräfte im Bereich Kunst/Kultur" war eine umfangreiche "Analyse der politisch-operativen Situation in den Bereichen Kultur und Massenmedien in den Bezirken der DDR", vorgelegt von der Abteilung 1 der HA XX mit Datum vom 24. Juni 1969 (BStU, MfS, HA XX/AKG 1494). Sie nahm landesweit Kunstschaffende aller Genres ins Visier, die "im Rahmen der politisch-ideologischen Diversion des Feindes" beeinflusst seien oder "im Zusammenhang mit der konterrevolutionären Entwicklung in der CSSR" auffällig wurden. Erwähnt werden nicht nur Prominente, wie zum Beispiel der Generalmusikdirektor der Dresdener Philharmonie, Kurt Masur, "der zu den Maßnahmen am 21.8.68 eine labile Haltung einnimmt und zum Ausdruck brachte, er selbst würde diese Geschehnisse bedauern" (S.34). Lehrende und Lernende im gesamten DDR-Kulturbetrieb werden erfasst, die einen "ungenügend gefestigten Klassenstandpunkt vertreten". Zum Beispiel auf S. 66 Dozenten der Fachhochschule für angewandte Kunst Heiligendamm. Dort heißt es: "Die Dozenten S., M.,B., (alle SED) G.,, L., u.a. sind politisch schwankend und durch negative Auffassungen aufgefallen". Ein Student K., "dessen negative politische Einstellung bekannt ist", sei sogar vom Dozenten M. für das höchste Leistungsstipendium vorgeschlagen worden. "Ein Teil der Studenten hält die konterrevolutionäre Entwicklung in der CSSR für richtig und verurteilt die militärischen Hilfsmaßnahmen der Sozialistischen Länder." Diese Akte komplett zum Nachlesen: Interner Link: PDF MfS-Analyse der DDR-Kunst- und Kulturszene 1969 (nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, 80 Seiten) Aus allen Bezirken wird in der Stasi-Analyse die Zahl bislang aktiver IM in der Kulturszene aufgelistet, die bereits zur Verfügung stehen, um solche "negativen Gruppen" (S.42) zu erfassen und unter Kontrolle zu bringen (S.79). Insgesamt 497 IM sind es bereits Anfang 1969, davon in Groß-Berlin 35, Cottbus 34, Dresden 128, Erfurt 41, Potsdam 60 und Rostock 98. Doch der konsequente Ausbau dieser Netze fängt jetzt erst an. Ausgrenzung kritischer Künstler Die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS unterhielten, neben dieser wachsenden Zahl von Inoffiziellen MitarbeiterInnen (IM), ein weitgespanntes Netz zu sogenannten „Kontaktpersonen“ (KP) in den Kultureinrichtungen. Roger David Servais z.B., ein belgischer Künstler, der 1961 von West-Berlin nach Ost-Berlin übersiedelte, um dort seine Freundin zu heiraten, erlebte die Doppelrolle dieser Kontaktpersonen bzw. IM. Das Dokument vom 2. Oktober 1964 über die Aufnahme in den Verband als Kandidat war vom Vorsitzenden der Bezirks-Sektionsleitung, Frank Glaser, der zugleich als IM "Joachim“ tätig war, unterzeichnet. In diese undurchsichtige Gemengelage von Amtsträgern des Verbandes und des Staates, die zugleich einer Parteihierarchie angehören und Stasi-Zuträger sind, wurde Servais zunehmend verwickelt, verunsichert, bedroht und gedemütigt, da dessen Kunstansatz den Kulturfunktionären und der Stasi als zu abstrakt und aufmüpfig erschien. Im Rahmen ihrer offiziellen ‚Befugnis’ schickten Funktionäre ihm Mahnschreiben und Anweisungen, in der anderen, geheimen Funktion versuchten sie, ihn zugleich mit Maßnahmeplänen einzuschüchtern und zu kriminalisieren. Nachdem der Plan, Servais als IM anzuwerben, an dessen Weigerung gescheitert war, begann die Staatssicherheit operative Maßnahmen gegen ihn einzuleiten. Mehrfach versuchte sie, ihn in eine Falle zu locken mit dem Vorschlag, eine „illegale Kulturzeitung für die DDR“ zu gründen. Eine andere, ebenfalls fehlgeschlagene Provokation bestand darin, ihn immer wieder in Briefen, die gefälschte Unterschriften von Freunden trugen, zu illegalen Aktionen aufzufordern. Obwohl Servais bereits von Bert Heller als Meisterschüler an der AdK angenommen worden war, verhinderte die Partei und die Staatssicherheit diese Berufung. Diese Maßnahme vollzog der Sekretär der Sektion Bildende Kunst der AdK, Werner Klemke, der zugleich als „GI Künstler“ tätig war. Die Absage vom 28. Juni 1968 begründete er mit der vorgeschobenen Regel, die besagte, dass „die Voraussetzung für die Aufnahme von Meisterschülern der erfolgreiche Abschluss des Studiums an einer Kunsthochschule der DDR“ sei. Der von den Richtlinien der Parteigremien unbeeinflussbare, seinen eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen folgende Servais, reagierte immer kritisch auf seine Umwelt. Sozialisiert in einer freien Gesellschaft, ließ er sich nicht einschüchtern. Daher musste er durch Ausschluss aus allen Gremien, Verweigerung von Aufträgen, Ankäufen und der Beteiligung an Ausstellungen isoliert werden. In der „Operativen Information Nr. 1213“ vom 21. November 1968, wird als der eigentliche Grund für die Verweigerung des Meisterschülerstatus formuliert, ihm fehle „eine konkrete parteimäßige Durchdringung“, daher müsse man ihn „aus dem Kollektiv“ entfernen. Kontrolle durch "Bewährungshelfer" von der Stasi Im Zuge der von Erich Honecker und Kurt Hager auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 angekündigten neuen Kulturpolitik bekamen viele Künstler wie die Maler Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, aber auch Karl Georg Müller und Werner Tübke eine zweite Chance. Noch Ende der 1960er Jahre führten sie eine Randexistenz: „Die drei problematischsten Künstler sind zur Zeit a) Werner Tübke, b) Bernhard Heisig, c) Wolfgang Mattheuer“, stellte Joachim Uhlitzsch 1969 fest, der SED-Kulturfunktionär gehörte dem Vorstand des Verbands Bildender Künstler in der DDR an und war von 1963 bis 1984 Direktor der Galerie Neue Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. 1972 begann Bernhard Heisigs zweite Karriere mit der Verleihung der Kunstpreise der Stadt Leipzig und des FDGB, dem Nationalpreis II. Klasse, der erneuten Übernahme des Vorsitzes des Leipziger Bezirks des Verbandes Bildender Künstler. Heisig wurde Mitglied der Akademie der Künste der DDR, erhielt 1974 den Vaterländischen Verdienstorden in Gold und den Theodor-Körner-Preis der Nationalen Volksarmee, wurde Vizepräsident des VBK-DDR und erhielt 1975 die Johannes R. Becher-Medaille in Gold. Mit der Übernahme seines zweiten Rektorats an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) endete 1976 eine achtjährige Periode freiberuflichen Schaffens. Die erneute Investitur stellte für Bernhard Heisig nach den Maßregelungen von 1964 bis 1968 zugleich den Abschluss seines zweiten Aufstiegs in hohe Ämter und einflussreiche Positionen dar. In diesem Zusammenhang wurde er 1976 auch Kandidat der SED-Bezirksleitung Leipzig. Für sein Wandbild „Ikarus“ (1975) erhielt er 1976 innerhalb des Künstlerkollektivs der Wandbildgalerie im „Palast der Republik“ den Orden „Banner der Arbeit“ (1. Stufe). Seine Teilnahme an der ebenfalls 1976 statt findenden „documenta 6“ – zusammen mit Werner Tübke, Wolfgang Mattheuer, Willi Sitte und dem Bildhauer Jo Jastram – eröffnete eine neue Periode der Kunstpolitik, die im Zeichen einer deutsch-deutschen Annäherung stand. Bei diesem Aufstieg in leitende Ämter standen Heisig als „Bewährungshelfer“ zwei informelle Mitarbeiter zur Seite. Oskar Erich Stephan arbeitete bis 1953 als Dekorationsmaler für politische Großflächenagitation, danach als Instrukteur bzw. Bezirkssekretär des Bezirksvorstandes des VBK Leipzig. 1972 legte er angeblich aus gesundheitlichen Gründen sein Amt nieder und wurde Vorsitzender der Zentralen Revisionskommission des Zentralvorstandes des VBK-DDR. Damit wurde er hinter Sitte und Heisig als Präsident und Vizepräsident zur grauen Eminenz des Verbandes, bei der alle Fäden zusammenliefen. In dieser Funktion berichtete er gleichzeitig als GMS/IMS "Bertallo" über Heisigs Aktivitäten, pünktlich mit dem Beginn von dessen zweiter Karriere ab 1972 (GMS seit 1970, 1972 IMS, 1974 schriftliche Verpflichtung) für die Bezirksverwaltung Leipzig des MfS. Stolz erklärte er, dass Heisig mit „meiner Hilfe“ seine „künstlerische, wie ideologische Position“ (angeführt werden Bilder von Heisig aus dem „Leninjahr wie Lenin-Dimitroff, Brigadier“) voranbringen konnte. Die intellektuelle Führung aber übernahm seit 1974 der Kunstwissenschaftler Karl Max Kober als IMS „Dr. Werner“. Auch der damalige wissenschaftliche Oberassistent an der Karl-Marx-Universität Leipzig machte jetzt plötzlich Karriere und wurde zum Professor und zweiten Vizepräsidenten des VBK-DDR, neben Heisig, ernannt. Kober verstand es in kurzer Zeit zum vertrauten Gesprächspartner - und Beeinflusser - zu werden. Die Familien Kober und Heisig machten regelmäßig gemeinsam Urlaub. In Kobers Nachlass fanden sich dutzende Tonbandkassetten mit aufgezeichneten Gesprächen, die sich inzwischen mit dem Nachlass von Kober in der Akademie der Künste befinden. Das Vertrauen von Heisig hatte sich Kober bei der Arbeit an seinem Katalogtext für eine Wanderausstellung, die 1973 in Dresden und Leipzig gezeigt wurde, erworben. 1977 beauftragte ihn Heisig mit der Abfassung einer Monographie. „Dies bedeutet, dass er in der nächsten Zeit umfangreichen Kontakt mit dem H. haben wird“, berichtete Kober stolz seinem Führungsoffizier. Er werde ihn nun auch auf Auslandsreisen, z.B. nach Paris, regelmäßig begleiten und seine Auftraggeber über die positive politisch-ideologische Grundeinstellung seines temperamentvollen und machtbewussten, zu spontanen Aktionen neigenden Schutzbefohlenen auf dem laufenden halten. So lobt er Heisig immer wieder für sein „klares und eindeutiges Auftreten bei Aufenthalten im KA (kapitalistisches Ausland)" - nicht gegen die DDR, sondern in ihrem Sinne. Neuer Einschnitt Biermann-Ausbürgerung In seinem zweiten Rektorat versuchte Heisig sich für ein offenes Klima an der Hochschule einzusetzen. Natürlich blieb das Erlernen figürlicher Kompositionstechniken für alle Studierenden eine „Pflicht“, aber trotz aller Ideologie, war die Malerei für Heisig „keine Illustration philosophischer Konzeptionen“, weil ihre Bedingung eben „die Wut der Sinne“ (Max Beckmann) sei. Diese Freiraumerweiterungen an der Hochschule in Leipzig und im Kunsttransfer zwischen beiden deutschen Teilstaaten wurden im selben Jahr überschattet durch die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann am 16. November 1976. In der folgenden kulturpolitischen Auseinandersetzung verhielt sich Heisig zurückhaltend; er unterschrieb weder die Petition gegen die Ausbürgerung, noch befürwortete er diese in einer von der SED eingeforderten Resolution. Die Disziplinierungsmaßnahmen und die von Heisig geforderte Selbstkritik 1964 zeigten aber ihre Langzeitwirkung als tiefsitzender Reflex, wie aus einem Bericht des IMS Dr. Werner von 1976 über Heisigs Verhalten zur Ausbürgerung Wolf Biermanns hervorgeht: Heisig habe „zwei Anrufe, anonym, erhalten, wo er gefragt worden ist, ob er nicht unterzeichnen wolle. [...] Heisig habe abgelehnt. Heisig aber, so Dr. W., sei mit sich selbst nicht ins Reine gekommen. Er hat von seiner Maßregelung damals gesprochen und zu Dr. W. gesagt, er wisse, in welche Mühle man da komme. Plötzlich habe man keine Freunde mehr. Erst Ulbricht hat dann gesagt: Macht mal keinen Märtyrer aus ihm. Sodann habe er wieder Ruhe gefunden. Wohl wegen dieser Erfahrung habe Heisig keine Stellungnahme abgegeben.“ Nach Aussagen seiner Frau, der Malerin Gudrun Brüne, habe er aber auch die von der SED geforderte schriftliche Zustimmung des Rektors zur Ausbürgerung Biermanns abgelehnt. Künstlernachwuchs steuern und zersetzen Das Versprechen einer neuen Kulturpolitik der „Weite und Vielfalt“ erwies sich sehr bald als trügerisch. Noch vor der Maßnahme gegen Biermann veranlasste die Ratifizierung der KSZE-Schlussakte in Helsinki am 1. August 1975 das MfS zu einer massiven Verstärkung von vorbeugenden Abwehrmaßnahmen gegen die Einflussnahme des „Klassengegners“ auf die heimischen Künstler. 1976 sah sich das MfS nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann mit einer nie zuvor erlebten breiten Protestbewegung konfrontiert. Bereits im Januar 1976 war eine Operativgruppe (HA XX/OG) gebildet worden. Die IM’s der neuen OG wurden auf die Bekämpfung der vermuteten „politischen Untergrundtätigkeit“ (PUT) spezialisiert, aus der 1981 im Hinblick auf die Befürchtung, die polnische Gewerkschaftsbewegung könnte auf die DDR übergreifen, die HA XX/9 entstand. Das neue intelligente Konzept der Stasi sah für die von ihr geführten IM nicht mehr nur die Beobachtung und Berichterstattung bzw. das Zerschlagen von Künstlergruppen, sondern das Beherrschen und Umprofilieren von innen heraus vor. Sie sollten in den Gruppen „tonangebend“ werden und dann deren Aktivitäten und politischen Ziele „paralysieren“ oder die Gruppe insgesamt „zersetzen“. Die IM wurden zu diesem Zweck systematisch psychologisch geschult. Besonders erfolgreich war in dieser Doppelrolle als Protagonist der Szene und zugleich ihr "Verräter", der Dresdener Schriftsetzer und Lyriker Sascha Anderson. Im Sommer 1979 hatten die Malerin Cornelia Schleime und der Maler Ralf Kerbach, damals noch Studenten an der Dresdner Hochschule für Bildende Künste, angeregt von britischen Rock-Rebellen wie „Stranglers“ und „Sex Pistols“ eine Künstlerband gegründet, die sie nach einer Zeichnung von Paul Klee hintergründig ironisch „Vierte Wurzel aus Zwitschermaschine“ nannten. Kerbach gab als Gitarrist den Ton an, Cornelia Schleime und der Dichter Michael Rom sangen eigene Texte. Sascha Anderson drängte sich als dritter Texter und Sänger und Freund der Künstler auf. Kerbach: „Anderson kam zu uns und wollte mitspielen. Aus der Stasiakte weiß ich jetzt, er sollte die Band zersetzen durch Streitereien. Er brachte die Free-Jazz-Komponente ein, die mich überhaupt nicht interessierte. Ich hatte über Achtel- und Vierteltakte eine durchkomponierte Musik gemacht. Die Form war weg.“ Zugleich verhinderte Anderson gezielt Auftritte der eigenen Band und sorgte dafür, dass der Auftrag im Rahmen des operativen Vorgangs („OV Grund“ nach der Adresse Grundstraße des Künstlertreffs Leonhardi-Museum) erfüllt wurde: Erarbeitung von „strafrechtlich relevanten“ Beweisen, „Erarbeitung eines umfassenden Persönlichkeitsbildes. [...] Erkennen geplanter negativer, oppositioneller und provokatorischer Aktionen sowie deren vorbeugender Verhinderung.“ Kerbach habe als „Leiter einer illegalen Punck-Rock-Gruppe“ offen gegen die DDR gewirkt. Die Zielstellung des OV sei es, „K. aus dem Kreis der bearbeiteten Personen herauszubrechen und die o.g. Punck-Gruppe zu zersetzen und aufzureiben.“ Dies sei durch die Verhinderung der gemeinsamen Ausreise von Kerbach und Schleime und die Übersiedlung von Kerbach am 27.9. 1982 nach West-Berlin ohne seine Lebensgefährtin erreicht worden. „Auf der Grundlage der geführten Verunsicherung und Zersetzungsmaßnahmen durch das MfS entstand in der Punck-Rock-Gruppe Misstrauen, welches zum Zerfall der Gruppe führte. [...] Kerbach wurde gegenüber seinem Freundeskreis als Informant des MfS hingestellt, was Rückverbindungen zu Kerbach (von Dresden nach West-Berlin) weitestgehend einschränkte.“ Dieser Erfolg für das MfS basierte auf den detaillierten ‚psychologischen’ Ratschlägen zum Umgang mit Kerbach, die Anderson der Staatsmacht übermittelte. Sie erhielt 1981 intimes Wissen über einen ‚Freund’, das zur Manipulation des Observierten direkt genutzt werden konnte. Die Dringlichkeit des Ausreisewunsches von Kerbach erklärt Anderson mit der Schwierigkeit, dass „er die radikale Kunst mit Überschreitungen der Mediengrenzen der Malerei (Musik, Musiktheater) hier nicht ausführen kann [...]. K. hat in der BRD als Vorbilder die sogen. 'Neuen Wilden'. [...] Kerbach möchte eine noch aggressivere Musik selbst nicht nur im kleinen Kreis, sondern mit großer öffentlicher Wirkung machen. [...] Es ist zu erwarten, daß sich bei ihm die aggressiven Haltungen steigern.“ Ganz offensichtlich hatte der Auftrag an Anderson, die Künstlerband und den inneren Zusammenhalt der Dresdner Künstlergruppe aufzulösen, Erfolg. Entpolitisierung junger Kunst Nach seinem Wechsel von Dresden nach Ost-Berlin profilierte sich Sascha Anderson dort zum Dreh- und Angelpunkt der Prenzlauer Berg Szene. Seine Hauptaufgabe war es, die sich bereits abzeichnende Trennung zwischen einer Gruppe politisch interessierter oder gar aktiver Autoren wie Lutz Rathenow, Rüdiger Rosenthal, Uwe Kolbe, die noch von Wolf Biermann und Bettina Wegner beeinflusst waren, und einer auf Autonomie bedachten Gruppierung um Stefan Döring, Egmont Hesse, Bert Papenfuß, die Sprachkritik als Machtkritik verstanden, zu verstärken. Die ersteren sollten nach Möglichkeit systematisch ausgegrenzt und intern diffamiert werden. Der Kunstwissenschaftler Christoph Tannert, einer der Ostberliner Aktivisten damals, nannte die Prenzlauer Berg-Avantgarde eine „Gummizelle für Formalisten“, die sich die Mächtigen geleistet hätten. „Sascha Andersons Wirkrichtung, die er für die Berliner und Dresdner ‚Szene’ vorgab, sei gewesen: ‚Nicht für, nicht gegen, sondern außerhalb' und noch heute ist ihm die STASI dankbar für dieses Bekenntnis zum Labyrinthischen [...] Die [...] deutliche Trennung der ‚Szene’ von den politischen Aktivisten auch Kirche und Bürgerbewegung ist das Schlüsselmoment für das Verständnis einer schwer deutbaren Situation, um die es hier geht.“ 1986 folgte Anderson seinen ‚Freunden’ Kerbach und Schleime als IMB „Peters“ nach West-Berlin, um dort seine Spitzeltätigkeit fortzusetzen, nicht nur gegen die Künstler und ihre Rückverbindungen in die DDR, sondern auch gegen die mit Ihnen verbundenen Diplomaten und Journalisten. Ein Gemälde Kerbachs mit dem Titel „Sascha“ aus dem gleichen Jahr zeigt Anderson mit Koffer barfuß beim Grenzübergang von Ost nach West, Schwarze Krähen verfolgen ihn. Er versucht, ihnen im Sturmschritt zu entkommen. Eine ist gerade dabei, auf seinem Kopf zu landen und mit ihrem Schnabel auf seinen Schädel einzuhacken. Den Überflieger Anderson, der glaubte, den Spagat zwischen der Macht und der Kunst spielerisch meistern zu können, haben die Raben eingeholt. Von allen Seiten, von oben und unten attackieren sie ihn mit ihren verletzenden Bissen, die schmerzen wie möglicherweise die Gewissensbisse, die der "Verräter", der zugleich bester Freund war, empfunden haben mag. Zu diesem Zeitpunkt konnte Kerbach nicht wissen, dass Anderson als "IM mit Feindberührung" im Auftrag der Staatssicherheit die Ausreise nach Westberlin bewilligt bekam - auch um ihn im Westen weiterhin zu observieren. Über die Macht des Spitzels, der sich als bester Freund ausgab, erfuhr er erst später - ausführlich dokumentiert in den Ausgaben der Aufarbeitungszeitschrift "Horch und Guck" des Berliner Vereins Bürgerkomitee 15. Januar e.V. 28/1999 und 29/2000. Darin stellten sich viele erlebte Details aus ganz neuen Blickwinkeln dar. Als etwa am 27. Juni 1982 in der Berliner Erlöserkirche Pfarrer Eppelmann zu einer Schriftstellerwerkstatt einlud, sorgte Anderson laut Stasi-Akten dafür, "dass die ihm bekannten Dresdener Personen nicht nach Berlin reisen wollen. Durch geeignete Maßnahmen wird der IMB die Personen Kerbach, Schleime, Zeidler und Rom am 27. Juni 1982 bis 16 Uhr bei einem Malerpleinair in Eichsfeld (Bez. Erfurt) binden" heißt es in einem Schreiben der Dresdener Staatssicherheit vom 26.6.82. Auf diese Weise wurde die aus Sicht der Stasi risikoreiche Gruppenbildung in Zaum gehalten und Anderson zum überzeugten Kunst-Entschärfer des Systems. Auch als Kerbachs Ausreiseantrag im August 1982 genehmigt wird, erteilt das MfS Anderson gleich einen neuen Auftrag: "Kerbach bis Übersiedlung unter Kontrolle halten / sofortige Kontaktaufnahme nach der Übersiedlung". Unbewusst irritierte aber schon vor dieser Akten-Lektüre Kerbach etwas an seinem Freund Anderson, der vorgab, er sei ausgereist, um seinen Freunden nahe zu sein. So porträtierte der Maler bereits 1983, ein Jahr nach seiner Ausreise, Anderson als Wortfäden produzierendes insektenhaftes Ungeheuer, dessen Brillengestell tentakelhaft in den Raum greift: „Metaphernflut Dichter sich auflösend“. Eine seelenlose Metaphernmaschine zielt auf seine Opfer. Ironie der Geschichte. Ralf Kerbach lehrt inzwischen wieder in der Stadt, die er 1982 durch Stasi-Einfluss verlassen musste - als Professor für Malerei und Grafik an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden. Sein Leitsatz entspricht auch einer Befreiung vom gestern, obwohl das Thema Freundesverrat ihn nach wie vor aufwühlt: "Die Kunst im 21. Jahrhundert hat den Ballast der Ismen abgelegt; sie steht vor neuen Fragen und Antworten, die bisher in so einer Form noch nicht gestellt worden sind." QuellentextGezielt unter falschem IM-Verdacht Die Stasi versuchte auch, gezielt Gerüchte zu verbreiten, dass unliebsame Künstler oder Galeristen für die Stasi aktiv seien. Das ergibt sich beispielsweise aus Externer Link: Stasi-Akten des ehemaligen Privatgaleristen Jürgen Schweinebraden, der ab 1974 in seiner Wohnung in der Dunckerstraße 17 im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg zu Ausstellungen alternativer Künstlern einlud, die dem SED-Staat nicht passten. Der Druck auf ihn wurde in den Folgejahren so groß, dass er sich gezwungen sah, 1980 die DDR zu verlassen. In den Stasi-Maßnahmeplänen gegen ihn heißt es: "Hauptziel" sei es, ihn "durch Zersetzungsmaßnahmen offensiv zu bekämpfen", und zwar "so, dass alle Personen des engeren Kreises zu der Annahme kommen, dass Schweinebraden inoffizieller Mitarbeiter des MfS ist" und sich deshalb von ihm zurückziehen. Der Galerist hat diese Akten später selber in seinem Buch "Die Gegenwart der Vergangenheit", Band 1 "Blick zurück im Zorn?" veröffentlicht (EP Galerie & Edition, Berlin), eine Auswahl Akten als Externer Link: PDF auch online gestellt und Externer Link: kommentiert. Komplette Stasi-Akten zum Nachlesen: Interner Link: PDF MfS-Analyse der DDR-Kunst- und Kulturszene 1969 (nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, 80 Seiten) PDF MfS-Analyse über „feindlich-negativ“ beeinflusste „Kulturschaffende“ der DDR 1980 Interner Link: PDF MfS-Einschätzung "zur Lageentwicklung im künstlerischen Bereich" 1989 Ergänzender Film: Interner Link: Die Krake und die Kunst - Vier Wege, wie Künstlerinnen und Künstler das Thema Stasi aufarbeiten (3-sat 1994) Die Stasi versuchte auch, gezielt Gerüchte zu verbreiten, dass unliebsame Künstler oder Galeristen für die Stasi aktiv seien. Das ergibt sich beispielsweise aus Externer Link: Stasi-Akten des ehemaligen Privatgaleristen Jürgen Schweinebraden, der ab 1974 in seiner Wohnung in der Dunckerstraße 17 im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg zu Ausstellungen alternativer Künstlern einlud, die dem SED-Staat nicht passten. Der Druck auf ihn wurde in den Folgejahren so groß, dass er sich gezwungen sah, 1980 die DDR zu verlassen. In den Stasi-Maßnahmeplänen gegen ihn heißt es: "Hauptziel" sei es, ihn "durch Zersetzungsmaßnahmen offensiv zu bekämpfen", und zwar "so, dass alle Personen des engeren Kreises zu der Annahme kommen, dass Schweinebraden inoffizieller Mitarbeiter des MfS ist" und sich deshalb von ihm zurückziehen. Der Galerist hat diese Akten später selber in seinem Buch "Die Gegenwart der Vergangenheit", Band 1 "Blick zurück im Zorn?" veröffentlicht (EP Galerie & Edition, Berlin), eine Auswahl Akten als Externer Link: PDF auch online gestellt und Externer Link: kommentiert. Vgl. Joachim Walther, Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin, 1996, S. 151 Ebd. S. 152. Ebd., S. 157f. „In seinen Anschauungen gibt es gewisse Anknüpfungspunkte die auf eine gewisse pazifistische Einstellung beruhen. Diese Meinungen zur Überzeugung für eine Zusammenarbeit mit dem MfS auszunutzen schlugen fehl. S. lehnte jedigliche Zusammenarbeit mit dem MfS ab. [...] Eine weitere op. Bearbeitung des Material mit dem Ziel des Anwerbung des S. ist zwecklos.“ (Detzer, Ltn., BStU 000046, Bl. 53, zit.n.: Servais 2014, a.a.O., S. 16). GI bedeutet gesellschaftlicher Informant, das waren vor allem Zuträger, die in Institutionen saßen Siehe Protokoll der Sektionssitzung vom 23.05.1968, in: Roger David Servais: Unbekannte Bilder. Unbekannte Dokumente. 1961–1974, Typoskript, Eigenverlag, Berlin 2014, S. 55-59. BStU 000068, Bl. 72, zit.n.: Servais 2014, a.a.O., S. 97. An anderer Stelle in dieser Information heißt es: „Einige - wie z.B. der Roger Servais - gefallen sich in der Rolle von Halbanalphabeten und lehnen sogar ziemlich kategorisch das Lesen unserer Zeitungen ab.“ (Ebd., Bl. 73, S. 98). Joachim Uhlitzsch, „Zur Einschätzung der Abteilung 1 der Bezirkskunstausstellung“, Leipzig, den 28.5.1969, SStA, SED-BL Lpz IV B-2/9/02/607. Das documenta-Projekt wurde vom IM Lothar Lang betreut, der die Künstler nach Kassel begleitete und den Katalogtext schrieb. BStU, MfS, BV Leipzig, AGMS 1295/89 und AIM 2158/82, Bd. I, 1 Bd., II, 1-3: Akte GMS/IMS Bertallo. BStU, MfS BV Leipzig, AP 82616/92, Bl. 71-78. BStU, BV Leipzig, AGMS 1295/89 und AIM 2158/82, Bd. I, 1, Bl. 40: Bericht zur Werbung, Leipzig, 19.5.74., und Bl. 43: „Erklärung“ (d.i. Verpflichtung), 16.3.74. Bernhard Heisig. Gemälde, Zeichungen, Lithographien, Ausst.-Kat. Gemäldegalerie Neue Meister Dresden und Museum der bildenden Künste Leipzig, Dresden/Leipzig 1973. BStU, BV Leipzig, ZMA 3098/1, Bl. 6: Dieter Claus, Leutnant, 16.6.77. Ebd., Bl. 36, 25.8.1980. Die ab 1974 geplante Anwerbung von Heisig als IMS mit dem Decknamen „Künstler“ erwies sich als überflüssig, denn der Rektor, Vizepräsident des VBK-DDR und Kandidat der Bezirksleitung war als Führungskader per se verpflichtet dem seiner Institution zugeordneten Stasi-Offizier regelmäßig über alle Vorkommnisse zu informieren. Karl Max Kober: Mit großem Einsatz für unsere Kunst. Interview mit Bernhard Heisig. In: Neues Deutschland vom 16.3.1977. Unter den 150 Unterzeichnern des Protestbriefes gegen die Ausbürgerung, befanden sich nur 11 bildende Künstler, von denen Fritz Cremer seine Unterschrift zurückzog. Aus Dresden waren es Peter Herrmann und Peter Graf, aus Halle Wasja Götze, aus Berlin Jürgen Böttcher, Horst Hussel, Charlotte E. Pauly, Nuria Quevedo, Lothar Reher und Christa Sammler. Kein Künstler aus Leipzig hatte unterschrieben. Treffbericht Dr. Werner am 13.12.76, 10 Uhr 30 - 11 Uhr 30, Mitarbeiter Rolf Sandner. Unterschrieben R. Sandner 14.12.76. Akte Kober, BStU, ASt. Leipzig, AIM 1011/88, Bd.I, 1, Bl. 84. Walther, a.a.O., S. 171ff. Alison Lewis, Die Kunst des Verrats. Der Prenzlauer Berg und die Staatssicherheit, Würzburg 2003, S. 47ff. Vgl. auch Walther, a.a.O., S. 321ff. und S. 639ff. Paul Klee, Die Zwitschermaschine, 1922, Ölfarbe, Aquarell auf Papier, 21 x 35 cm. In einer Information (Bl.117/108), gez. Tzscheutschler, Oberstleutnant, wird die Band wie folgt charakterisiert: „Bei der Punk-Rock-Gruppe handelt es sich um eine nicht eingestufte bzw. genehmigte Formation von jungen oppositionellen Künstlern, welche die westliche dekadente Punk-Rock-Bewegung in der DDR publizieren. Ihre Auftritte sind schwerpunktmäßig bei Veranstaltungen der Kirche, zu Veranstaltungen mit pazifistischem Charakter und in oppositionellen Künstlerkreisen.“ Gespräch des Vf. mit Ralf Kerbach am 23.2.2002 in Biesenthal. Ein geplanter Auftritt der Gruppe in der Kunsthochschule Berlin-Weißensee am 10. 7. 81 sei, so der Bericht der HA XX/9, mit Hilfe des IM (David Menzer) und der BV Berlin verhindert worden. Vgl. Bericht „Dresdner Punk-Gruppe - Kerbach, Schleime, [geschwärzt], in Weißensee Kunsthochschule am 10.7.81“ (Bl. 81/82) Dresden 27.10. 82, Bl. 66/67. Bl. 79/87. Aus Furcht vor „Demonstrativhandlungen“ von Kerbach wird laut Information (Bl.117/108), gez. Tzscheutschler, Oberstleutnant, Leiter der Abteilung, die Übersiedlung in den Westen kurzfristig angeordnet: „Es ist eine Zunahme negativ-feindlicher Aktivitäten des Kerbach zur Durchsetzung seiner Antragsstellung zu verzeichnen. Durch seine oppositionellen Aktivitäten und die Neigung zu Demonstrativhandlungen ist die Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gegeben. Sein negativer Einfluß auf andere Künstler und kirchliche Kreise sowie die öffentliche Wirksamkeit seiner Einflußnahme nimmt zu.“ (Bl. 118/109) Am 20.8.1982 erhält Kerbach die Ausreiseunterlagen (sogen. „Laufzettel“ zur Abmeldung bei den Ämtern). Sein ‚Freund’ Sascha Anderson sei, so ein IM der KD Dresden Stadt (2.9.82, Bl. 131/122), extra aus Berlin nach Dresden gekommen, um ihm beim Umzug zu unterstützen. Christoph Tannert, „Nach realistischer Einschätzung der Lage...“ - Absage an Subkultur und Nischenexistenz in der DDR. In: Riss im Raum. Positionen der Kunst seit 1945 in Deutschland, Polen, der Slowakei und Tschechien, Ausst.Kat. Dresden 1994, S. 44
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Dr. Eckhart J. Gillen
2022-01-07T00:00:00
2016-09-19T00:00:00
2022-01-07T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/stasi/234277/kunst-erarbeitung-strafrechtlich-relevanter-beweise/
Drei Fallbeispiele zum Verhältnis von Staatssicherheit und Bildenden Künstlern in der DDR zwischen 1964-1982. Erfahrungen der Maler Roger David Servais, Bernhard Heisig und Ralf Kerbach.
[ "Kunst", "Stasi" ]
30,529
Kultur und Kulturpolitik in Polen nach 1989 | Polen | bpb.de
Umbruch und Transformation: die neue Kulturpolitik Parallel zu dem seit Herbst 1989 einsetzenden Umbruch zeichnete sich eine lebhafte Diskussion über die Ausgestaltung einer pluralistisch ausgerichteten Kulturpolitik ab. Die Erfahrungen mit der "Kulturpolitik" im sozialistischen Polen, in dem Kunst und Kultur im Wesentlichen als Dienstleistung für die Durchsetzung des Marxismus-Leninismus bewertet worden waren, beeinflussten die Bemühungen um eine Neugestaltung. Dabei ging es um die Demokratisierung des kulturellen Lebens, vor allem um die Förderung aller Minderheitenkulturen in der Republik Polen, die Bewahrung der Bürgerrechte und der religiösen Freiheit, die Schaffung einer pluralistischen Kulturpolitik, die als Wirtschaftsfaktor in die kommunalen Haushalte integriert werden sollte, und den internationalen Austausch von Kulturgütern. Solche an die programmatischen Forderungen der UNESCO angelehnten Zielvorstellungen zeichneten sich in den Parteiprogrammen zu den ersten freien Wahlen nach 1989 ab. Allerdings erwies sich deren Umsetzung als schwierig. Drei grundsätzliche Ursachen kristallisierten sich als Hemmnisfaktoren heraus und sorgten für Verzögerungen: Der von der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei (PZPR) manipulierte Begriff der "Kulturpolitik" wurde von den meisten entstehenden Parteien mit diffusen Zielsetzungen und Inhalten besetzt. Die kulturpolitischen Programme der ersten Koalitionsregierungen erlaubten keine konstruktive Verarbeitung grundlegender kulturpolitischer Überlegungen. Die als Erbe des kommunistischen Regimes übernomme-nen immensen Staatsschulden und die schwache Effizienz der Wirtschaft zwangen den Sejm und die oft wechselnden Regierungen Anfang der 1990er Jahre zu einer Absenkung des prozentualen Kulturanteils im Staatshaushalt auf etwa ein Prozent (1991) und im Jahr 1993 auf 0,76 Prozent. Erst die allmähliche Aufstockung der Grundfinanzierung für den Kulturhaushalt zwischen 2001 und 2008 um etwa 45 Prozent, was einer Steigerung von 938 Millionen Zloty auf 1,487 Milliarden Zloty entsprach, führte zu einer gewissen Entspannung der Haushaltslage. Gegenwärtig sind rund 0,5 Prozent aller Ausgaben im Staatshaushalt pro Jahr für Kultur vorgesehen. Im Vergleich dazu erweist sich in Deutschland der Kulturanteil an den Haushalten in Bund und Ländern mit 1,9 Prozent (2009) bzw. einem Betrag von rund 1,1 Milliarden Euro als weitaus höher. Allerdings fließt in Polen neben der staatlichen Förderung ein nicht spezifizierbarer Betrag zusätzlich in die Finanzierung des Kulturbetriebes: von Seiten öffentlicher und privater Stiftungen, staatlicher und transnationaler Fonds sowie aufgrund der Dezentralisierung der institutionellen Kulturförderung. Zwanzig Jahre nach dem politischen Umbruch zeichnen sich in diesem Bereich größere Ungleichheiten ab: Die Haushalte in den Großstädten weisen die höchsten Ausgaben pro Kopf auf, während die Kultureinrichtungen in den mittelgroßen Städten (50000 bis 100000 Einwohner) erheblich unterfinanziert sind. Nur rund 60 Prozent aller Ausgaben werden subventioniert. Deshalb setzen die kommunalen Selbstverwaltungseinrichtungen seit 2000 immer mehr auf die Zusammenarbeit mit NGOs (Non-Governmental Organizations, dt.: Nichtregierungsorganisationen), deren Leistungen auf der Grundlage von nationalen Kulturfonds, transnational funktionierenden Kulturgesellschaften und des persönlichen, meist unterbezahlten Engagements ihrer Mitglieder erbracht werden. Finanzielle Förderung und Kooperation Das Ministerium für Kultur und Nationales Erbe (bis 1999 Ministerium für Kultur und Kunst) hat sich seit Beginn der 1990er Jahre aus der unmittelbaren Lenkung von Kultur zurückgezogen. Es ist in finanzieller Hinsicht nur noch verantwortlich für die allerwichtigsten Kulturinstitutionen auf nationaler Ebene und für die Zusammenarbeit mit den Institutionen der kulturellen Selbstverwaltung in den Kommunen. Im Zusammenhang mit der institutionellen Transformation wurden auch die Finanzmittel von der zentralen auf die lokale Ebene umverteilt. Die Finanzierung von Kultur in den Selbstverwaltungen der Gemeinden erfolgt nunmehr durch eigene Budgets und durch staatliche Mittel. Seit Mitte der 1990er Jahre zeichnete sich ein markanter Wandel ab: Schon im Haushaltsjahr 1996 übertrafen die Ausgaben der polnischen Gemeinden im Bereich der Kultur mit 51 Prozent die staatlichen Budgetmittel zum ersten Mal. Seit dem 1. Januar 1999 setzte eine weitergehende Dezentralisierung ein: Aufgaben, die das Ministerium und die Kulturabteilungen in den 16 Woiwodschaften ausgeübt hatten, wurden von den Selbstverwaltungsorganen in den Gemeinden übernommen. Sie entwickelten je nach regionalen Bedürfnissen unterschiedliche kulturpolitische Aufgabenstellungen: In den östlichen Woiwodschaften und in Kleinstädten ging es um die Durchsetzung zivilgesellschaftlicher Rahmenbedingungen (Einübung elementarer demokratischer Grundregeln); wirtschaftliches Wachstum stand im Mittelpunkt der Kulturpolitik in den südöstlichen Regionen; der sozioökonomische Rekonstruktionsfaktor bildete das wesentliche Strukturelement in den oberschlesischen Kommunen, während die Förderung regionaler Identität in der Woiwodschaft Wroclaw/Breslau im Vordergrund aller Bemü- hungen stand. Für die sechs polnischen Großstädte Warszawa, Poznan, Wroclaw, Kraków, Lublin und Gdansk ging es um die Absicherung des hohen kulturellen Niveaus ihrer Infrastrukturen, die mittelpolnische Großstadt ?ódz´ hingegen strebte, einschließlich ihrer gleichnamigen Woiwodschaft, seit Beginn der 1990er Jahre eine strukturelle Integration an, von der vor allem ihre Kulturpolitik profitieren sollte. Ungeachtet der Vielfalt an kulturpolitischen Strategien zeichnete sich jedoch ein Mangel an Kooperation und Koordinierung sowohl in der Konzeptionsphase als auch bei der konkreten Umsetzung ab. Dies galt auch für die uneinheitliche und unklar ausformulierte Kulturpolitik von Seiten des Staates. Auf der Ebene der kommunalen Selbstverwaltungen haben sich deshalb – auch mit Blick auf westeuropäische kulturpolitische Erfahrungen – vielfältige, pragmatisch begründete Modelle herausgebildet. Dazu gehört die Transformation von Kulturinstitutionen in Körperschaften, die von Sponsoren gefördert werden, gemeinsame institutionelle Aktivitäten von Galerien und Theatern oder die funktionale Einbeziehung von lokalen politischen Autoritäten in den Transformationsprozess von Kultureinrichtungen, die von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen und Fachkreisen genutzt werden. In besonders finanzschwachen Regionen übernehmen sogenannte QUANGOs, Quasi-non-Governmental Organizations, oft Teilbereiche der Kulturförderung, indem sie Kulturprogramme entwickeln und umsetzen. Sie verbinden ihr kulturpolitisches Engagement mit der Forderung nach Erhöhung des prozentualen Anteils für Kulturförderung im Staatshaushalt auf ein Prozent, wie zum Beispiel die Organisation "Kulturbürger". Einen großen Anteil an der Förderung von Kultur im Austausch mit benachbarten Ländern haben auch die Deutsch-Polnischen Gesellschaften. Auf der Grundlage der deutsch-polnischen Verträge über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 14. November 1990 und 17. Juni 1991 kam es in den vergangenen 20 Jahren zu einem intensiven Ausbau kultureller Beziehungen. Neben den Beziehungen auf der höchsten staatlichen Ebene und den Verträgen zwischen Bundesländern und Woiwodschaften auf der mittleren Ebene entfalteten sich auf der untersten Ebene besonders produktive Kontakte: Schulen, künstlerische Institutionen und Verbände organisieren den direkten Austausch von Ausstellungen, Film-, Musik- und Theaterproduktionen wie auch die gegenseitige Beteiligung an Festivals. Vor allem nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union hat die bilaterale Vernetzung der kulturellen Beziehungen dazu beigetragen, das deutsch-polnische Verhältnis zu verbessern. Kulturelle Infrastruktur Die Transformation des staatlich gelenkten Kultursektors erfolgte zwischen 1989 und 1993 in einer Reihe durchgreifender Maßnahmen. Das staatliche Verlagswesen wurde grundlegend privatisiert, die Anzahl der rasch entstandenen privaten Buch- und Zeitungsverlage übertraf bereits Anfang 1990 die der ehemaligen Staatsverlage. Viele der entstandenen Miniverlage, die auch aus den Reihen der ehemaligen Untergrundverlage stammten, konnten sich trotz anfänglicher Erfolge nicht halten. Das polnische Film- und Kinowesen erlebte tief greifende Veränderungen, die sich in der Gründung neuer Institutionen (z. B. Institut für Filmkunst), neuer Filmförderungsmethoden (staatliches, gesellschaftliches Stiftungs- und ausländisches Kapital) wie auch der Privatisierung des Filmvertriebs niederschlugen. Im Galerie- und Museumsbereich war die finanzielle Situation zum Zeitpunkt des politischen Umbruchs besonders schwierig. Die bereits Mitte der 1980er Jahre entstandenen privaten Galerien erhielten hohe steuerliche Auflagen, die sie in der ersten Hälfte der 1990er Jahre, nicht zuletzt aufgrund fehlender Käufer, oft zur Geschäftsaufgabe zwangen. Die miserable finanzielle Lage der staatlichen Museen verhinderte den Aufkauf zeitgenössischer Kunst wie auch die Förderung des Kunstbetriebs. Trotz dieser Hindernisse entstanden Anfang der 1990er Jahre einige renommierte Auktionshäuser, wie in Warschau "Rempex", "Unicum" oder "Agra-Art". Mit einer ebenso schwierigen Situation waren die Schauspielhäuser, Kindertheater und Musiktheater konfrontiert. Aufgrund der bis 1995 abnehmenden staatlichen Subventionen waren die meisten gezwungen, sich mit Hilfe von Kommerzialisierungsstrategien (Vermietung von Räumen, Gaststättenbetrieb, Werbeagenturen) und radikaler Senkung der laufenden Kosten (beispielsweise Einschränkung des Personalbestandes, Minimierung der Ausgaben für die Infrastruktur, Nutzung von Förderungsanträgen bei Stiftungen) über Wasser zu halten. Auch der phonographische Markt entwickelte sich nach 1990 unter schwierigen Bedingungen. Weil kein Schutz von Urheberrechten durchgesetzt wurde, eroberte der Piratenmarkt bis zum Jahr 1992 einen Anteil von 95 Prozent im Musikbereich. Bis 1997 sank dieser Anteil auf etwa zwölf Prozent. Internationale Musikkonzerne hatten zu diesem Zeitpunkt bereits 49 Prozent der Marktanteile erobert, während die einheimischen privaten Musik-Agenturen noch 39 Prozent des Marktes abdeckten. Schwerwiegende Einschnitte ihres Bestandes erlebte die Kinobranche. 1980 hatte sie noch über 2228 Abspielstätten verfügt, 1990 nur noch über 1589, um innerhalb von rund 20 Jahren ihren Bestand auf 492 (2008) Kinotheater herunter zu fahren. Dieser quantitative Verlust war vor allem auf die Entstehung von Multiplex-Kinoketten in Groß- und mittleren Städten bei gleichzeitiger Schließung von mehr als 1000 veralteten Lichtspielhäusern zurückzuführen. Trotz dieses Verlustes an kultureller Substanz stieg die Zahl der Kinobesucher zwischen 1995 (22,6 Millionen) und 2006 (32,3 Millionen) um fast zehn Millionen. Diese überraschende Bilanz war vor allem dem erfolgreichen Vertrieb amerikanischer und westeuropäischer Spielfilme, der wachsenden Begeisterung Jugendlicher für Animations- und Zeichentrickfilme und der Anziehungskraft der modernen Kinoketten zuzuschreiben. Weitaus weniger Zulauf erlebten die polnischen Spiel- und Dokumentationsfilme, die – mit wenigen Ausnahmen – meist nur in Programmkinos liefen. Eine Aufwärtstendenz verzeichnete der Bestand an Sprech- und Musiktheatern: von 143 Spielstätten im Jahr 1990 auf 187 im Jahr 2008. Die Steigerungsrate um mehr als 25 Prozent war vor allem auf die Etablierung von Musik- und Varietétheatern zurückzuführen, um den wachsenden Bedarf an allen Ausdrucksformen von Rockmusik und Musicals für ein breites, nicht nur jugendliches Publikum zu befriedigen. Eine ähnlich positive Bilanz konnte die Museumssparte nach 1989 aufweisen. Der sich seit Mitte der 1990er Jahre entwickelnde Kunstmarkt und die trotz steuerlicher Belastungen florierenden Galerien erweckten das Interesse vor allem an Kunst aus westeuropäischen Ländern. Die Gründung historischer Museen folgte dem Ziel, pluralistische Deutungen der polnischen Geschichte zu ermöglichen, die bis 1989 unterdrückt wurden. Zwischen 1990 und 2009 entstanden in Polen mehr als 140, zum großen Teil modern ausgestattete Museen. Eine leichte Aufwärtstendenz zeichnete sich bei Kulturhäusern und Vereinsheimen ab. Dieser bis 1989 hoch subventionierte Bereich der Massenkulturförderung (Film- und Musikveranstaltungen, Freizeitgestaltung) hat sich auch im demokratischen Polen mit einer Anzahl von rund 4100 Einrichtungen (2008) bewährt. Starke Impulse für die Belebung der Freizeitkultur und für die Förderung individueller Interessen gehen seit Beginn der 1990er Jahre auch von den mehr als 1000 gemeinnützigen Vereinen und Kulturgesellschaften aus. Abgebaut wurde hingegen der Bestand der Bibliotheken. Der Verlust von 1780 Institutionen zwischen 1990 (10 200) und 2008 (8420) ist sowohl auf fehlende finanzielle Ressourcen als auch auf den rapiden Wandel der Lesegewohnheiten zurückzuführen. Dieser Abwärtstrend widerspricht der nach 1990 rasant gestiegenen Produktion von Bücher- und Broschürentiteln: von 10 200 Titeln im Jahr 1990 auf 28 248 im Jahr 2008 bei zugleich sinkender Auflage von 115 Millionen auf rund 80 Millionen Exemplare. Auch auf dem Zeitungsmarkt fand in diesem Zeitraum eine starke Ausdifferenzierung statt: Die Zahl der 1990 existierenden 130 Titel sank auf 58 (2008), während die Zeitschriftentitel auf 7171 im gleichen Zeitraum anstiegen (alle Angaben: Statistisches Jahrbuch Polen, 2009). Künstlerisches Schaffen in der Marktwirtschaft Welche Auswirkungen haben diese Veränderungen in der kulturellen Infrastruktur auf den Prozess der ästhetischen Wertschöpfung? Wie in allen ehemaligen sozialistischen Ländern hat sich auch in Polen der Stellenwert künstlerischer Produkte im gesellschaftlichen Kontext stark verändert. Nicht mehr das staatliche Mäzenatentum mit ideologisch-politischen Auflagen, sondern die Marktmechanismen bestimmen meist über den Erfolg neuer Produkte in den einzelnen Kunstbereichen. Auch ästhetisch innovative, religiöse und andere kulturhistorische Inhalte sind vertreten und können unterschiedlichen Konsumentengruppen angeboten werden – wenngleich dies unter dem Druck ökonomischer Erwartungen zum Teil nur durch Subventionen gelingt. Auch in der polnischen Bevölkerung zeichnet sich, in Abhängigkeit von dem gestiegenen Bildungsniveau, ein starker Wandel im kulturellen Wertesystem ab. Konsumenten älterer Jahrgänge schätzen tradierte und wieder gewonnene kulturhistorische Güter, während die Generation der 20- bis 40-Jährigen einem tief greifenden Wandel ihrer kulturellen Werte ausgesetzt ist. Sie reagieren auf innovative Kultur- und Kunstproduktionen mit dem vergleichenden Blick auf andere Welten, mit denen sie aufgrund von Arbeitsmigration, neuer Ausbildungsinhalte und medialer Erfassung fremder Kulturen in den vergangenen 20 Jahren konfrontiert wurden. Für die Architekten der neuen Kulturpolitik bedeutet diese Aufspaltung in der Wahrnehmung und Verarbeitung kultureller Werte im Massenbewusstsein eine doppelte Herausforderung: Zum einen sollen alle Produktionen gefördert werden, die die polnische kulturelle Identität stärken, und anerkannte polnische Werke sollen einem internationalen Publikum so präsentiert werden, dass sie einen markanten Platz in der globalen Kulturgesellschaft finden – wie zum Beispiel die Veranstaltungen im polnischen Pavillon auf der EXPO in Shanghai (Juni 2010), wo die Besucher polnische Folklore in Kombination mit der Musik von Frédéric Chopin in raffinierter medialer Aufbereitung begeistert aufnahmen. Zum anderen sollen neben der Pflege nationaler kultureller Werte, etwa auf Buchmessen oder transnationalen Kunstausstellungen, auch die experimentellen Theater- und Kunstszenen gefördert werden, die den Ruf der polnischen Kultur auch über die Grenzen Europas hinaus gestärkt haben. Erfolgreich kann eine vielseitige Kulturpolitik nur dann sein, wenn nicht nur die Werke bedeutender Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Czeslaw Milosz oder Wislawa Szymborska, Künstlerinnen und Künstler wie Tadeusz Kantor und Magdalena Abakanowicz oder Filmregisseure wie Andrzej Wajda oder Krzysztof Kieslowski vermarktet werden, sondern auch die schöpferische Schubkraft der jungen Künstler und Literaten.
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Wolfgang Schlott
2021-12-07T00:00:00
2011-09-13T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/polen-311/23353/kultur-und-kulturpolitik-in-polen-nach-1989/
Nach 1989 wurden die Künstler frei von staatlicher Bevormundung, sahen sich aber auch stärker den Unwägbarkeiten des Marktes ausgesetzt. In den Großstädten gedeihen neben innovativen Kunstszenen die kommerziellen Angebote.
[ "Informationen zur politischen Bildung", "311", "Polen", "Kultur", "Kulturpolitik", "Marktwirtschaft", "Demokratisierung", "Ministerium für Kultur und Nationales Erbe", "Kulturförderung" ]
30,530
Unverletzlichkeit der Wohnung | Grundrechte | bpb.de
Artikel 13 (1) Die Wohnung ist unverletzlich. (2) Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden. (3) Begründen bestimmte Tatsachen den Verdacht, dass jemand eine durch Gesetz einzeln bestimmte besonders schwere Straftat begangen hat, so dürfen zur Verfolgung der Tat auf Grund richterlicher Anordnung technische Mittel zur akustischen Überwachung von Wohnungen, in denen der Beschuldigte sich vermutlich aufhält, eingesetzt werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos wäre. Die Maßnahme ist zu befristen. Die Anordnung erfolgt durch einen mit drei Richtern besetzten Spruchkörper. Bei Gefahr im Verzuge kann sie auch durch einen einzelnen Richter getroffen werden. (4) Zur Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr, dürfen technische Mittel zur Überwachung von Wohnungen nur auf Grund richterlicher Anordnung eingesetzt werden. Bei Gefahr im Verzuge kann die Maßnahme auch durch eine andere gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden; eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen. (5) Sind technische Mittel ausschließlich zum Schutze der bei einem Einsatz in Wohnungen tätigen Personen vorgesehen, kann die Maßnahme durch eine gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden. Eine anderweitige Verwertung der hierbei erlangten Erkenntnisse ist nur zum Zwecke der Strafverfolgung oder der Gefahrenabwehr und nur zulässig, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit der Maßnahme richterlich festgestellt ist; bei Gefahr im Verzuge ist die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen. (6) Die Bundesregierung unterrichtet den Bundestag jährlich über den nach Absatz 3 sowie über den im Zuständigkeitsbereich des Bundes nach Absatz 4 und, soweit richterlich überprüfungsbedürftig, nach Absatz 5 erfolgten Einsatz technischer Mittel. Ein vom Bundestag gewähltes Gremium übt auf der Grundlage dieses Berichts die parlamentarische Kontrolle aus. Die Länder gewährleisten eine gleichwertige parlamentarische Kontrolle. (7) Eingriffe und Beschränkungen dürfen im Übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter Jugendlicher vorgenommen werden. Jeder Mensch hat das Bedürfnis, einen Ort zu haben, an den er sich ungestört zurückziehen und an dem er sich frei entfalten kann. In diesen eigenen "vier Wänden" soll der Mensch grundsätzlich frei von staatlichen Eingriffen sein. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Wohnung nun im Eigentum des Bewohners steht oder nicht. Entscheidend ist, dass sie nach dem Willen des Bewohners der Öffentlichkeit entzogen ist. Geschützt ist also nicht bloß die Wohnung, sondern auch beispielsweise ein Hotelzimmer, ein Zimmer im Studentenwohnheim, im Seniorenheim oder im Krankenhaus. Das Recht, in seiner Privatsphäre in Ruhe gelassen zu werden, hat einen sehr starken Bezug zur Menschenwürde. Die hohe Bedeutung dieses Grundrechts erklärt auch die hohen Schranken, die gegen Beeinträchtigungen des Grundrechts bestehen: Durchsuchungen einer Wohnung stellen einen schweren Eingriff in die Privatsphäre des Betroffenen dar. Deshalb soll sichergestellt werden, dass dieser Eingriff durch eine unabhängige, neutrale Instanz bewertet wird. So sieht Art. 13 Abs. 2 GG vor, dass Durchsuchungen grundsätzlich nur durch einen Richter angeordnet werden dürfen. Der Richter hat also zu prüfen, ob die gesetzlich vorgeschriebenen Vo­raussetzungen einer Durchsuchung vorliegen. Er muss auch prüfen, ob nicht mit weniger einschneidenden Mitteln das erstrebte Ziel – etwa Beweismittel für die Verfolgung von Straftaten zu finden – erreicht werden kann. Er muss ferner dafür sorgen, dass nicht mehr oder weitergehend durchsucht wird als unbedingt erforderlich. Auch hier ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strengstens zu beachten. In der Entscheidung, mit der er die Durchsuchung anordnet, muss der zuständige Richter deshalb genau angeben, was aufgefunden werden soll, um damit zu verhindern, dass die Durchsuchung zu unnötigen Erforschungen der Privatsphäre führt. Der Schutz der Wohnung wird auch beeinträchtigt, wenn Vorgänge in der Wohnung überwacht werden. Dies kann durch technische Vorrichtungen wie etwa Kameras oder Mikrofone geschehen, wobei es keine Rolle spielt, ob diese Geräte von außen auf die Wohnung gerichtet oder in ihr installiert werden. Für solche Eingriffe stellen Art. 13 Abs. 3 bis 5 GG besonders hohe Anforderungen. Für den sogenannten großen Lauschangriff zur Aufklärung von Straftaten sieht Art. 13 Abs. 3 GG vor, dass die Maßnahme nur zur Aufklärung besonders schwerer Straftaten, also etwa Mord, schwerer Raub oder Geiselnahme, zulässig ist. Auch darf der große Lausch­angriff nur dann angeordnet werden, wenn der Sachverhalt ohne die akustische Wohnraumüberwachung gar nicht oder nur unter unverhältnismäßig großen Erschwernissen aufgeklärt werden könnte. Auch diese Maßnahme dürfen nur Richter anordnen, grundsätzlich ein mit drei Richtern besetzter Spruchkörper. Weil aber das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung einen starken Bezug zur Menschenwürde aufweist, dürfen Maßnahmen wie der Lauschangriff selbst unter all diesen Voraussetzungen dann nicht stattfinden, wenn sie den Kernbereich privater Lebensgestaltung berühren. Das Bundesverfassungsgericht hat den Schutz des sogenannten Kernbereichs unmittelbar aus der Menschenwürde abgeleitet. Da die Menschenwürde nicht, auch nicht durch anderweitiges Verfassungsrecht, eingeschränkt werden kann, ist jeder Eingriff in die Menschenwürde ausnahmslos verboten. QuellentextDer Kernbereich privater Lebensgestaltung Zum Kernbereich privater Lebensgestaltung, der für staatliche Überwachungsmaßnahmen absolut tabu ist, gehört sicherlich nicht schon jeder Aufenthalt in der Wohnung, jede Tätigkeit in der Küche oder jede sonstige Verrichtung im Haushalt. Das Bundesverfassungsgericht hat den Kernbereich nicht abschließend definiert, es hat lediglich bestimmte Beispiele genannt: Dazu gehören die Äußerung innerster Gefühle und die sexuelle Sphäre. Wo es also intim wird, dürfen Ermittler nicht mehr zuhören. Für das Bundesverfassungsgericht folgten der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung und das Verbot, ihn anzutasten, unmittelbar aus der Menschenwürde. Für den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung verschiedene Maßgaben entwickelt: Die Unantastbarkeit der Menschenwürde verbietet uneingeschränkt gezielte Eingriffe in den Kernbereich privater Lebensgestaltung. Selbst wenn dadurch verwertbare Informationen erlangt werden könnten, scheidet ein Eingriff aus. Insbesondere darf der Kernbereichsschutz nicht unter den Vorbehalt einer Abwägung gestellt werden. Es sind nach Möglichkeit schon auf der Ebene der Daten­erhebung Vorkehrungen zum Schutz des Kernbereichs zu treffen, damit die unbeabsichtigte Erfassung von kernbereichsrelevanten Informationen weitgehend vermieden wird. Wird der Kernbereich dennoch (versehentlich) verletzt (etwa indem bei einer Wohnraumüberwachung zufällig kernbereichsrelevante Äußerungen erfasst werden), ist die Überwachung unverzüglich zu unterbrechen. Auf der Ebene der Auswertung der erhobenen Daten sind versehentlich erfasste Daten, die den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffen, unverzüglich zu löschen. Die Folgen eines Eindringens in den Kernbereich sind zu minimieren. Wie die Verwirklichung der vorgenannten Maßgaben zu erfolgen hat, richtet sich nach der Art der in Frage stehenden Eingriffsbefugnis und deren Nähe zum geschützten Kernbereich. Besteht ein hohes Risiko, dass der Kernbereich verletzt werden könnte (wie bei der Wohnraumüberwachung), muss der Staat schon im Vorfeld Maßnahmen zum Schutz der innersten Persönlichkeitssphäre ergreifen. Wegen der besonderen Bedeutung der Unverletzlichkeit der Wohnung sind im Bereich von Artikel 13 GG die Anforderungen an den Schutz des Kernbereichs am höchsten. Daher sind Überwachungsmaßnahmen nur dann erlaubt, wenn zu erwarten ist, dass sich die bei der Ausforschung von Wohnraum greifbare Gefahr der Kernbereichsverletzung nicht verwirklicht. Dies muss der Gesetzgeber durch Gesetz regeln, eine Regelung durch Verordnung genügt nicht. Auch bei Eingriffen in das Post- und Fernmeldegeheimnis (etwa wenn ein Telefon abgehört wird), kann es dazu kommen, dass Intimstes und damit kernbereichsrelevante Gesprächsinhalte aufgezeichnet werden. Schließlich hören die Beamten in aller Regel nicht direkt mit, sondern die Gespräche werden aufgezeichnet. Das Bundesverfassungsgericht hat hier nicht ganz so strenge Maßstäbe aufgestellt wie bei der Wohnraumüberwachung. Es genügt, wenn später die Aufzeichnung daraufhin abgehört wird, ob der intimste Bereich verletzt wurde und entsprechende Passagen gelöscht werden. Das Bundesverfassungsgericht hat dies letztlich damit begründet, dass der Mensch zur höchstpersönlichen Kommunikation nicht in gleicher Weise auf die Telekommunikation angewiesen ist wie auf die Wohnung. Mit anderen Worten: Eine (von Eingriffen ungestörte) Wohnung braucht jeder Mensch, ein Telefon aber nicht. Ähnlich wie bei Art. 10 Abs. 1 GG ist der Kernbereichsschutz bei dem aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleiteten Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme ausgestaltet. Anders als im Rahmen der Wohnraumüberwachung verschiebt sich hier der Schutz des Kernbereichs von der Erhebungsebene hin auf die nachfolgende Verwertungsebene. Zwar ist auch hier grundsätzlich vorzusehen, dass eine Erhebung unterbleibt, wenn die Informationen erkennbar dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzuordnen sind. Regelmäßig wird aber ein Datenbestand in digitaler Form nicht schon für sich genommen einen privaten Charakter wie etwa das Verhalten in einer Wohnung aufweisen. Auch erfolgt die Datenerhebung bei Eingriffen in informationstechnischen Systemen aus technischen Gründen in der Regel automatisiert, wodurch es erschwert wird, schon bei der Erhebung der Daten einen Bezug zum Kernbereich privater Lebensgestaltung zu erkennen. Daher ist ein Zugriff auf ein informationstechnisches System auch dann zulässig, wenn nicht auszuschließen ist, dass am Rande auch höchstpersönliche Daten erfasst werden. Dass Bundesverfassungsgericht hat jedoch auf der Ebene der Verwertung der Daten eine Sichtung der erfassten Daten durch eine unabhängige Stelle gefordert, bevor die Daten endgültig ausgewertet und verwendet werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 20.04.2016 – 1 BvR 966/09 -, Rdnr. 220). Mathias Metzner Zum Kernbereich privater Lebensgestaltung, der für staatliche Überwachungsmaßnahmen absolut tabu ist, gehört sicherlich nicht schon jeder Aufenthalt in der Wohnung, jede Tätigkeit in der Küche oder jede sonstige Verrichtung im Haushalt. Das Bundesverfassungsgericht hat den Kernbereich nicht abschließend definiert, es hat lediglich bestimmte Beispiele genannt: Dazu gehören die Äußerung innerster Gefühle und die sexuelle Sphäre. Wo es also intim wird, dürfen Ermittler nicht mehr zuhören. Für das Bundesverfassungsgericht folgten der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung und das Verbot, ihn anzutasten, unmittelbar aus der Menschenwürde. Für den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung verschiedene Maßgaben entwickelt: Die Unantastbarkeit der Menschenwürde verbietet uneingeschränkt gezielte Eingriffe in den Kernbereich privater Lebensgestaltung. Selbst wenn dadurch verwertbare Informationen erlangt werden könnten, scheidet ein Eingriff aus. Insbesondere darf der Kernbereichsschutz nicht unter den Vorbehalt einer Abwägung gestellt werden. Es sind nach Möglichkeit schon auf der Ebene der Daten­erhebung Vorkehrungen zum Schutz des Kernbereichs zu treffen, damit die unbeabsichtigte Erfassung von kernbereichsrelevanten Informationen weitgehend vermieden wird. Wird der Kernbereich dennoch (versehentlich) verletzt (etwa indem bei einer Wohnraumüberwachung zufällig kernbereichsrelevante Äußerungen erfasst werden), ist die Überwachung unverzüglich zu unterbrechen. Auf der Ebene der Auswertung der erhobenen Daten sind versehentlich erfasste Daten, die den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffen, unverzüglich zu löschen. Die Folgen eines Eindringens in den Kernbereich sind zu minimieren. Wie die Verwirklichung der vorgenannten Maßgaben zu erfolgen hat, richtet sich nach der Art der in Frage stehenden Eingriffsbefugnis und deren Nähe zum geschützten Kernbereich. Besteht ein hohes Risiko, dass der Kernbereich verletzt werden könnte (wie bei der Wohnraumüberwachung), muss der Staat schon im Vorfeld Maßnahmen zum Schutz der innersten Persönlichkeitssphäre ergreifen. Wegen der besonderen Bedeutung der Unverletzlichkeit der Wohnung sind im Bereich von Artikel 13 GG die Anforderungen an den Schutz des Kernbereichs am höchsten. Daher sind Überwachungsmaßnahmen nur dann erlaubt, wenn zu erwarten ist, dass sich die bei der Ausforschung von Wohnraum greifbare Gefahr der Kernbereichsverletzung nicht verwirklicht. Dies muss der Gesetzgeber durch Gesetz regeln, eine Regelung durch Verordnung genügt nicht. Auch bei Eingriffen in das Post- und Fernmeldegeheimnis (etwa wenn ein Telefon abgehört wird), kann es dazu kommen, dass Intimstes und damit kernbereichsrelevante Gesprächsinhalte aufgezeichnet werden. Schließlich hören die Beamten in aller Regel nicht direkt mit, sondern die Gespräche werden aufgezeichnet. Das Bundesverfassungsgericht hat hier nicht ganz so strenge Maßstäbe aufgestellt wie bei der Wohnraumüberwachung. Es genügt, wenn später die Aufzeichnung daraufhin abgehört wird, ob der intimste Bereich verletzt wurde und entsprechende Passagen gelöscht werden. Das Bundesverfassungsgericht hat dies letztlich damit begründet, dass der Mensch zur höchstpersönlichen Kommunikation nicht in gleicher Weise auf die Telekommunikation angewiesen ist wie auf die Wohnung. Mit anderen Worten: Eine (von Eingriffen ungestörte) Wohnung braucht jeder Mensch, ein Telefon aber nicht. Ähnlich wie bei Art. 10 Abs. 1 GG ist der Kernbereichsschutz bei dem aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleiteten Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme ausgestaltet. Anders als im Rahmen der Wohnraumüberwachung verschiebt sich hier der Schutz des Kernbereichs von der Erhebungsebene hin auf die nachfolgende Verwertungsebene. Zwar ist auch hier grundsätzlich vorzusehen, dass eine Erhebung unterbleibt, wenn die Informationen erkennbar dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzuordnen sind. Regelmäßig wird aber ein Datenbestand in digitaler Form nicht schon für sich genommen einen privaten Charakter wie etwa das Verhalten in einer Wohnung aufweisen. Auch erfolgt die Datenerhebung bei Eingriffen in informationstechnischen Systemen aus technischen Gründen in der Regel automatisiert, wodurch es erschwert wird, schon bei der Erhebung der Daten einen Bezug zum Kernbereich privater Lebensgestaltung zu erkennen. Daher ist ein Zugriff auf ein informationstechnisches System auch dann zulässig, wenn nicht auszuschließen ist, dass am Rande auch höchstpersönliche Daten erfasst werden. Dass Bundesverfassungsgericht hat jedoch auf der Ebene der Verwertung der Daten eine Sichtung der erfassten Daten durch eine unabhängige Stelle gefordert, bevor die Daten endgültig ausgewertet und verwendet werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 20.04.2016 – 1 BvR 966/09 -, Rdnr. 220). Mathias Metzner
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-19T00:00:00
2017-08-15T00:00:00
2022-01-19T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/grundrechte-305/254396/unverletzlichkeit-der-wohnung/
Jeder Mensch hat das Bedürfnis, einen Ort zu haben, an den er sich ungestört zurückziehen und an dem er sich frei entfalten kann. In diesen eigenen "vier Wänden" soll der Mensch grundsätzlich frei von staatlichen Eingriffen sein. Dabei kommt es nicht
[ "Unverletzlichkeit der Wohnung", "Grundrechte" ]
30,531
Funktionen des Rechts | Deutsche Demokratie | bpb.de
In der Bundesrepublik Deutschland leben die Menschen friedlich zusammen. Es herrschen Recht und Gesetz, wenn es auch keine perfekte Sicherheit vor dem Verbrechen gibt. Das ist keineswegs selbstverständlich. In vielen Ländern der Welt herrschen keine rechtsstaatlichen Verhältnisse. In einigen Staaten hat sich die Rechtsordnung förmlich aufgelöst. In sinnlosen Kriegen wird keine Rücksicht auf die wehrlose Zivilbevölkerung genommen. Frauen, Kinder und alte Menschen werden vertrieben, terrorisiert oder getötet. Das war in früheren Jahrhunderten in Europa nicht anders. Das ganze Mittelalter war gekennzeichnet durch Friedlosigkeit, der die "Friedensbewegungen" jener Zeit, die Gottesfriedens- und die Landfriedensbewegung, nur mit geringem Erfolg entgegenzuwirken vermochten. Die Erfahrungen der mörderischen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts führten schließlich zu der Einsicht, dass die Wahrung des Friedens die wichtigste Aufgabe des Gemeinwesens sei und dass allein der Staat die Befugnis zur Gewaltausübung haben dürfe. Das staatliche Gewaltmonopol ist ein Wesensmerkmal des neuzeitlichen Staates. Später trat die Bindung der Staatsgewalt an das Gesetz hinzu. Beide zusammen begründen den Rechtsstaat. Das Recht sichert den Frieden Die wichtigste Funktion des Rechts ist offenkundig die Sicherung des inneren Friedens. In einer Gesellschaft gibt es unterschiedliche Interessen, die unausweichlich zu Konflikten führen. Das Recht sorgt dafür, dass sie auf friedliche Weise in einem geregelten Verfahren ausgetragen werden. Die Rechtsordnung verbietet, privat Vergeltung zu üben oder das Recht auf eigene Faust durchzusetzen. Das Opfer einer Straftat darf an dem Täter keine Rache nehmen. Ein Gläubiger darf nicht das Auto des säumigen Schuldners entwenden, um es bis zur Zahlung der Schuld als Pfand zu behalten. Der Bürger muss sich an die Gerichte wenden und sein Recht mithilfe der Staatsgewalt durchsetzen. Bei Straftaten steht die Strafgewalt allein dem Staat zu, Anklage erhebt der Staatsanwalt. Auch bei einem zivilrechtlichen Streit setzt das Recht an die Stelle der gewaltsamen, ungeregelten Auseinandersetzung das geregelte Verfahren. Es kann seine befriedende Wirkung nur entfalten, wenn es für einen gerechten Ausgleich der Interessen sorgt. Der Gesetzgeber muss beim Erlass der Gesetze die unterschiedlichen Interessen und möglichen Konflikte vorwegnehmen. Das Recht dient so der Vorbeugung von Konflikten. Das Mietrecht beispielsweise legt Rechte und Pflichten von Mietern und Vermietern unter Abwägung ihrer Interessen genau fest. Es regelt Voraussetzungen und Fristen einer Kündigung, Fristen und Umfang einer Mieterhöhung, Höhe und Verzinsung einer Kaution und anderes mehr. Kommt es dennoch zum Streit, muss ein gerichtliches Verfahren eine Lösung des Konflikts herbeiführen. Sie soll möglichst von allen Beteiligten als gerecht empfunden werden. In jedem Fall setzt sie dem Konflikt ein Ende und stellt den Rechtsfrieden wieder her. Das Recht gewährleistet die Freiheit Das Recht sichert nicht nur den inneren Frieden, sondern gewährleistet auch die Freiheit des Einzelnen. Das erscheint auf den ersten Blick paradox, denn das Recht schränkt gerade die Freiheit auf vielfältige Weise ein. In einer Gesellschaft, in der viele Menschen auf engem Raum zusammenleben, kann es aber keine uneingeschränkte Freiheit geben. Freiheit endet dort, wo das Recht des anderen beginnt. Die französische "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789 hat das so ausgedrückt: "Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. So hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen nur die Grenzen, die den anderen Gliedern der Gesellschaft den Genuss der gleichen Rechte sichern. Diese Grenzen können allein durch Gesetz festgelegt werden." Wenn das Recht diese Funktion nicht erfüllt, entstehen "rechtsfreie Räume", es herrscht Willkür, unter der die Schwachen leiden. Das Recht regelt die privaten Rechtsbeziehungen Das Recht schützt nicht nur Frieden und Freiheit in der Gesellschaft, es stellt auch ein System von rechtlichen Regeln bereit, in dem der Einzelne seine Rechtsbeziehungen in eigener Verantwortung (autonom) gestalten kann. Die Juristen nennen das Privatautonomie. Wenn jemand beispielsweise ein Haus bauen will, erwirbt er per Kaufvertrag zunächst ein Grundstück. Er wird als neuer Eigentümer in das Grundbuch eingetragen, damit ist sein Eigentum gesichert. Dann schließt er Verträge mit dem Architekten und den verschiedenen Handwerkern über die Bauausführung. Ihre Leistungen kann der Bauherr mit den Mitteln des Rechts einfordern, ebenso wie seine Vertragspartner ein Recht auf die vereinbarte Bezahlung ihrer Leistungen haben. Solche Vereinbarungen sind "rechtswirksam", die Rechtsordnung garantiert, dass sie eingehalten werden. Derartige rechtliche Regelungen sind Bestandteil des täglichen Lebens. Jeder Kauf kommt durch einen Kaufvertrag zustande. Das Mietrecht ist ein weiteres Beispiel für rechtlich geregelte Beziehungen zwischen Vertragspartnern. Das Erbrecht sieht sogar Verfügungen über den Tod hinaus vor. Das Recht gestaltet die Gesellschaft Die Sicherung des Friedens und der Freiheit und die Gewährleistung der Privatautonomie sind Kernbestandteile des liberalen Rechtsstaates. Der soziale Rechtsstaat greift darüber hinaus aktiv in alle Bereiche des persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens ein. Gesetzliche Regelungen schützen die Schwächeren und sorgen für den Ausgleich sozialer Gegensätze. Das Arbeitsrecht beispielsweise enthält zahlreiche Regelungen zum Schutz der Arbeitnehmer: Kündigungsschutz, Arbeitszeitbegrenzung, Lohnfortzahlung, Schutz vor den Gefahren des Arbeitslebens, Mutter- und Jugendschutz, Mitbestimmung. Das Kartellrecht sichert den wirtschaftlichen Wettbewerb. Es verbietet beispielsweise Preisabsprachen von Unternehmern und soll verhindern, dass sich einzelne Unternehmen eine marktbeherrschende Position verschaffen können. Der rasche gesellschaftliche Wandel, die begrenzten natürlichen Lebensgrundlagen, die Entwicklung neuer Technologien zwingen den Staat, steuernd und gestaltend in immer neue Lebensverhältnisse einzugreifen. Auch hier bedient sich der Staat vor allem des Rechts. Dem Schutz der Umwelt beispielsweise dienen das Immissionsschutzgesetz, das Atomgesetz, das Chemikaliengesetz und andere mehr. Das Gentechnikgesetz von 1990 legt den rechtlichen Rahmen für die Anwendung der Gentechnik fest und soll vor deren Gefahren schützen. Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 131-133.
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Horst Pötzsch
2021-06-23T00:00:00
2011-11-06T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/politisches-system/deutsche-demokratie/39388/funktionen-des-rechts/
Das Recht sichert Frieden und gewährleistet Freiheit. Es verbietet Vergeltung und Faustrecht und dient so der Vorbeugung von Konflikten. Die Rechtsordnung sorgt dafür, dass Streitigkeiten friedlich in einem geregelten Verfahren ausgetragen werden.
[ "Deutschland", "Demokratie", "Rechtsprechung", "Rechtsstaat", "Friedenssicherung", "Freiheit" ]
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Auszeichnung für YouTuber Tense | Presse | bpb.de
Der YouTuber Tense ist am 21. Januar 2016 im Rahmen der Gala „TON ANGEBEN. Gegen rechte Gewalt“ im Schauspielhaus Magdeburg mit dem Sonderpreis des Journalistenpreises „Rechtsextremismus im Spiegel der Medien“ ausgezeichnet worden. Den vom Ministerium für Justiz und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt und dem Deutschen Journalisten-Verband (DJV) - Landesverband Sachsen-Anhalt vergebenen Preis erhielt er für sein Format „TenseInforms“. Der YouTuber Tense (Nicolas Lindken) veröffentlicht in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und MESH Collective seit 2014 auf seinem YouTube-Kanal „TenseMakesSense“ das Newsformat “TenseInforms”. Er unterhält und informiert seine über 60.000 Abonnenten alle 14 Tage mit aktuellen Themen aus dem Newsbereich. Der Journalistenpreis „Rechtsextremismus im Spiegel der Medien“, dessen Sonderpreis Tense nun erhalten hat, wird in diesem Jahr zum fünften Mal vergeben. Das Ministerium für Justiz und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt und der DJV-Landesverband Sachsen-Anhalt würdigen damit herausragende Justizreportagen und Berichterstattungen, die sich mit dem Themenkreis rechter Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit befassen. Thomas Krüger, Präsident der bpb, verwies auf die Notwendigkeit von passgenauen Informationsangeboten gerade für Jugendliche: „Für uns ist es besonders wichtig, dass Jugendliche und junge Erwachsene - abseits der konventionellen Pfade - Informationen und Nachrichten in einer Form vorfinden, die sie ansprechen und die für sie verständlich und authentisch sind. Die Sozialen Medien, als fester Bestandteil des Alltags der jungen Generation, bieten hier eine große Chance für die Prävention von Extremismus.“ Die bpb unterstützt daher neben Tense auch den YouTuber DarkViktory, der auf dem gleichnamigen YouTube-Kanal zusammen mit MESH Collective das Newsformat „BrainFed“ veröffentlicht. Gemeinsam haben beide Formate bereits über 4,7 Millionen User angesprochen. Weitere Informationen und der Link zum ausgezeichneten Video: Externer Link: www.youtube.com/watch?v=pbPod1V01Xw Offizielle Pressebilder der Preisverleihung stehen zur Verfügung: E-Mail Link: presse@bpb.de Pressemitteilung als Interner Link: PDF. Pressekontakt: Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2016-01-22T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/219276/auszeichnung-fuer-youtuber-tense/
Der YouTuber Tense ist am 21. Januar 2016 im Rahmen der Gala „TON ANGEBEN. Gegen rechte Gewalt“ im Schauspielhaus Magdeburg mit dem Sonderpreis des Journalistenpreises „Rechtsextremismus im Spiegel der Medien“ ausgezeichnet worden. Den vom Ministeriu
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Kontakt | Europe 14|14 | bpb.de
Inhaltliche Fragen Bundeszentrale für politische Bildung Adenauerallee 86 53113 Bonn Externer Link: www.bpb.de Nina Schillings Tel +49 (0)228 99515-265 E-Mail Link: nina.schillings@bpb.de Hanna Huhtasaari Tel +49 (0)228 99515-226 E-Mail Link: hanna.huhtasaari@bpb.de Presse Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de Information/Teilnehmermanagement lab concepts - Das Laboratorium für Konzeption und Realisation in Politik, Bildung, Kultur GmbH Friedrichstraße 206 10969 Berlin Tel +49 (0)30 259 429-10 Fax +49 (0)30 252 932-61 E-Mail Link: history-campus@lab-concepts.de Externer Link: www.lab-concepts.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2013-11-04T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/histocon/171626/kontakt/
[ "Europe 14|14" ]
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Dokumentation: Das Thema Binnenvertriebene in den regionalen Medien (Auszüge) | Ukraine-Analysen | bpb.de
This is the final of the media monitoring reports which were published in the framework of the project ‘Regional Voices: Strengthening conflict sensitive coverage in Ukraine’s regional media,’ funded by the European Union. The project was implemented by a media consortium led by the Thomson Foundation, and consisted of the European Journalism Centre, ‘Spilnyi Prostir’ Association, MEMO 98 and the International Institute for Regional Media and Information. The total 24 regional monitoring reports on coverage of IDPs in the local Ukrainian media (regional monitoring reports, comparative cross-regional monitoring reports, comparative monitoring reports by monitoring periods and final report) will be prepared in between 2015 – 2017. The first media monitoring report assessed the findings from 1 to 23 October 2015, the second monitoring report assessed the findings from 15 to 28 February 2016, the third monitoring report evaluated the findings from 1 to 14 June 2016, and the fourth monitoring report assessed the findings from 10 to 23 October 2016. (…) The monitoring sample consisted of a total of 204 monitored media (51 TV channels, 65 print media, and 88 online media outlets), in 24 regions of Ukraine divided into four main parts. (…) Executive Summary The monitoring of four different periods in all regions of Ukraine showed a lack of IDP-related stories in general and those with a more analytical and investigative approach in particular. In most of their stories, journalists merely reflected on the current situation with IDP, without aiming for a longterm vision or more profound public discussion on how to resolve problems of IDPs in a particular region. There were a few examples of materials that looked like they were paid for as they lacked some basic journalistic standards. Moreover, there were instances of using somebody else’s stories and their republishing in some local media. Journalists did not question official statements by authorities or ask them probing questions and avoided verification of the information submitted by the state authorities. Media, in general, avoided sensationalism when reporting on IDPs. In general, they used correct language and terminology when addressing internally displaced persons, without any apparent attempt to discriminate and used picture and videos in a proper way, in line with the portrayed topics and issues. There were, however, a few examples when media discriminated IDPs, featuring them in a negative way or referring to them as ‘refugees’. Media, in general, avoided sensationalism when reporting on IDPs. There were some positive examples when media focused on the human side of IDP stories. The third monitoring revealed that while the general lack of IDP-related stories was visible in all periods, there were a few instances of a more systemic coverage of IDPs. Some publications were initiated in the framework of different international projects. Especially in the last two monitoring periods, there were a few instances of better quality stories on IDP-related issues as well as materials that provided useful information to IDPs on social benefits. Anmerkung: Die Daten aller fünf Wellen der Medienauswertung dieses Projekts sind unter Externer Link: http://www.prostir-monitor.org/reports/en/ aufrufbar. Quelle: "Media coverage of Internally Displaced Persons in the Ukrainian mass media”, Final Media Monitoring Report, February 2017, Externer Link: http://memo98.sk/uploads/content_galleries/source/memo/ukraine/editorial-forum-2017/final-summary-media-monitoring-report_ukraine_2017.pdf
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2017-04-27T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/247333/dokumentation-das-thema-binnenvertriebene-in-den-regionalen-medien-auszuege/
In komprimierter Form finden Sie hier die Ergebnisse einer Medienauswertung über das Thema „Binnenvertriebene in den regionalen Medien“ zwischen Oktober 2015 und Oktober 2016.
[ "Medien", "Ukraine", "Binnenvertriebene", "Ukraine" ]
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Finanzierungsstruktur G-7-Staaten | Globalisierung | bpb.de
Fakten Die Finanzierungsstruktur des Unternehmenssektors in den G-7-Staaten hat sich seit den 1970er-Jahren zunächst weg von der Kredit- und hin zur Wertpapierfinanzierung verschoben. Seit 2000 kehrte sich dieser Trend ein Stück weit um. Verantwortlich für diesen Verlauf sind zwei sich überlagernde Entwicklungen. Zunächst wurde der Trend dadurch beeinflusst, dass sich die ehemals stark bankbasierten Finanzsysteme Europas nach und nach zu stärker marktbasierten Finanzsystemen wandelten. Die Bedeutung der Aktienfinanzierung nahm daher zu. Im letzten Jahrzehnt führte allerdings eine von den Investoren eingeforderte Erhöhung der Eigenkapitalrentabilität dazu, dass der Einsatz von Fremdkapital wieder an Bedeutung gewann. Durch eine zusätzliche Kreditaufnahme lässt sich die Eigenkapitalrentabilität eines Unternehmens steigern, wenn der Zinssatz für das neu aufgenommene Fremdkapital unterhalb der Gesamtkapitalrentabilität liegt (sogenannter 'Leverage-Effekt'). Die prinzipiell als Alternative zur Kreditaufnahme nutzbaren Unternehmensanleihen spielen in Europa mit unter zehn Prozent – in Kontinentaleuropa mit unter fünf Prozent – eine untergeordnete Rolle. In den USA hat die Anleihefinanzierung hingegen eine vergleichsweise große Bedeutung (2008: 20 Prozent). Die Finanzierungsstrukturen der Unternehmenssektoren der einzelnen Länder unterscheiden sich weiterhin erheblich. Bei den G-7-Staaten lag der Aktienanteil im Jahr 2008 in drei Staaten (Frankreich, USA und Kanada) bei mindestens 50 Prozent. In Deutschland, Japan (2007) und Italien lag dieser Wert hingegen bei etwa 40 Prozent. Auf der anderen Seite lag der Kreditanteil in Kanada und den USA mit 12 bzw. 9 Prozent unter dem Durchschnitt und in Deutschland, Japan (2007) und Großbritannien war er mit 37 Prozent sowie in Italien mit 36 Prozent überdurchschnittlich hoch. Datenquelle Davis, E. Philip: Institutional investors, financial market efficiency, and financial stability, in: European Investment Bank (EIB): EIB-Papers, Vol. 8, No 1, 2003; Office for National Statistics (ONS): Financial Statistics; Federal Reserve Board: Statistical Release; Statistics Canada: Externer Link: www.statcan.gc.ca; Statistics Bureau and the Director-General for Policy Planning Japan: Externer Link: www.stat.go.jp/english; Deutsche Bundesbank: Externer Link: www.bundesbank.de; Banque de France: Externer Link: www.banque-france.fr; Banca d'Italia: Externer Link: www.bancaditalia.it Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen Die Finanzierungsstruktur setzt sich aus Eigenkapital (bei Aktiengesellschaften überwiegend Aktien und einbehaltene Gewinne) und Fremdkapital (vor allem Bankkredite oder Anleihen) zusammen. Zu den sonstigen Posten gehören vor allem Verbindlichkeiten aus Handelsgeschäften und Rückstellungen. Die Daten wurden jeweils den nationalen Finanzierungsrechnungen für den Unternehmenssektor entnommen. Die Angaben zur Finanzierungsart beziehen sich auf den Bereich der Nichtfinanzunternehmen, wobei Unternehmen in öffentlicher Hand ebenfalls ausgenommen wurden. Da sich die Bilanzierungsvorschriften in den einzelnen Staaten teilweise unterscheiden, ist die Zusammenfassung mehrerer Staaten in einer Kennziffer mit Ungenauigkeiten verbunden. Für Japan lagen keine Werte für das Jahr 2008 vor. Für die Berechnung des Durchschnitts der G-7-Staaten wurden daher die Vorjahreswerte dieses Landes mit einbezogen. Tabelle: Finanzierungsstruktur des Unternehmenssektors der G-7-Staaten Finanzierungsarten in Prozent der Gesamtfinanzierung, 1970 bis 2008   G-7-Staaten 1970 1980 1990 2000 2008 Aktien 38 36 43 55 46 Kredite 36 37 32 24 28 Anleihen 7 5 7 8 8 sonstige 19 22 18 13 18   USA 1970 1980 1990 2000 2008 Aktien 55 49 39 63 52 Kredite 15 13 18 10 9 Anleihen 14 17 18 14 20 sonstige 16 21 25 13 19   Japan 1970 1980 1990 2000 2008 Aktien 16 22 29 29 41 Kredite 48 45 45 40 37 Anleihen 2 3 6 10 9 sonstige 33 30 20 21 13   Deutschland 1970 1980 1990 2000 2008 Aktien 27 20 31 49 41 Kredite 47 52 42 37 37 Anleihen 3 2 2 1 4 sonstige 23 26 25 13 18   Großbritannien 1970 1980 1990 2000 2008 Aktien 49 37 53 67 48 Kredite 15 22 21 21 37 Anleihen 7 2 0 7 9 sonstige 29 39 29 15 6   Frankreich 1970 1980 1990 2000 2008 Aktien 41 34 56 70 53 Kredite 54 60 38 14 28 Anleihen 3 4 4 4 2 sonstige 2 2 2 12 17   Italien 1970 1980 1990 2000 2008 Aktien 32 52 48 52 40 Kredite 60 43 41 30 36 Anleihen 8 4 3 1 2 sonstige 0 1 8 17 23   Kanada 1970 1980 1990 2000 2008 Aktien 46 41 41 54 50 Kredite 15 22 22 12 12 Anleihen 12 8 13 18 10 sonstige 27 29 24 16 28 Quelle: Davis, E. Philip: Institutional investors, financial market efficiency, and financial stability, in: European Investment Bank (EIB): EIB-Papers, Vol. 8, No 1, 2003; Office for National Statistics (ONS): Financial Statistics; Federal Reserve Board: Statistical Release; Statistics Canada: www.statcan.gc.ca; Statistics Bureau and the Director-General for Policy Planning Japan: www.stat.go.jp/english; Deutsche Bundesbank: www.bundesbank.de; Banque de France: www.banque-france.fr; Banca d'Italia: www.bancaditalia.it
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2012-01-10T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/globalisierung/52587/finanzierungsstruktur-g-7-staaten/
Die Finanzierungsstruktur des Unternehmenssektors in den G-7-Staaten hat sich seit den 1970er-Jahren zunächst weg von der Kredit- und hin zur Wertpapierfinanzierung verschoben. Seit 2000 kehrte sich dieser Trend um.
[ "Zahlen und Fakten", "Globalisierung", "Unternehmen", "Finanzierung" ]
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"Wir müssen unbedingt debattenfähig bleiben" | Öffentlich-rechtlicher Rundfunk | bpb.de
Nach dem Programmauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks soll dieser Information, Bildung und Unterhaltung gleichermaßen bieten, dabei unabhängig von staatlichen Eingriffen sein und eine freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung ermöglichen. Wie gut gelingt ihm das? – Das ist ein großer Auftrag und insofern auch eine große Frage. Es wird Sie vermutlich nicht überraschen, dass ich als Mitarbeiter dieses öffentlich-rechtlichen Systems erst einmal sagen würde: Es gelingt uns grundsätzlich ganz gut. Das gilt insbesondere für den Bereich der Information. Wer die öffentlich-rechtliche nachrichtliche Grundversorgung wahrnimmt und konsumiert, ist sehr gut gerüstet, an den öffentlichen Debatten teilzunehmen. Das gilt zweifellos für die klassische Verbreitung via Radio und TV, aber auch weitgehend im Internet. Hier sind neben den Öffentlich-Rechtlichen vor allem die klassischen Printmedien mit hervorragenden Angeboten vertreten, allerdings zunehmend hinter der Bezahlschranke – was nachvollziehbar ist, denn das ist ihr Geschäftsmodell. Auf der anderen Seite sehen wir gerade im Feld von Social Media eine höchst beunruhigende Dominanz privater Konzerne. Die Entwicklungen bei Twitter stehen exemplarisch dafür, aber auch dem Meta-Konzern, also Facebook und Instagram, möchte ich die Strukturierung öffentlicher Debatten nicht allein überlassen. Dieser monopolisierte Markt ist – so hart muss man das formulieren – demokratiegefährdend. Hier sind wir als Öffentlich-Rechtliche strukturell besser aufgestellt, aber leider nicht als echte Alternative präsent. Sicher kann man darüber diskutieren, wie weit das öffentlich-rechtliche Unterhaltungsprogramm gehen muss und ob man nicht das ein oder andere eher den Privaten überlassen sollte. Aber ich glaube, das ist letztlich eine Frage der Mischung. Deutschlandfunk oder Deutschlandfunk Kultur sind ja keine reinen Informationssender. Wir bieten auch viel Unterhaltung an, wenn man etwa Konzerte oder Hörspiele dazuzählt – und diese Mischung aus Information und Unterhaltung suchen die Menschen. Wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk – im Fernsehen, im Radio, auch im Internet – eine Breitenwirkung in die Gesellschaft hinein haben will, dann muss er auch Unterhaltung bieten. Wie gut gelingt diese Auftragserfüllung in der Praxis? Gibt es Hindernisse, die Sie in der konkreten Arbeit behindern? – Ich glaube, unser Hauptproblem ist derzeit der tatsächliche oder vermeintliche Vertrauensverlust, der wiederum zu Ängstlichkeit und Verunsicherung führt – zum einen bei uns, die wir das Programm machen, zum anderen aber auch bei denjenigen in der Politik, die den Rahmen für uns setzen und festlegen müssen, was wir tun sollen und in welcher Struktur das geschehen soll. Diese Verunsicherung empfinde ich gerade als die größte Herausforderung. Zu den Programmgrundsätzen gehören Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Herstellung von Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit der Berichterstattung. Wie stellt man diese Ausgewogenheit im Programm her? – Ich muss da immer an den Satz von Hannah Arendt denken: "Wahrheit gibt es nur zu zweien." Darin steckt mehr als nur eine Aufforderung zu Pro und Contra, er beinhaltet auch den Appell, aktiv in den Prozess des Dialogs zu gehen und zu versuchen, sich zu verständigen – notfalls auch darauf, sich in der Sache nicht verständigen zu können. "We agree to disagree", heißt es im Englischen so schön. Das ist eine Haltung, die für den Journalismus insgesamt gelten sollte, nicht nur für den öffentlich-rechtlichen. Aber gerade für uns sind Meinungsvielfalt und Ausgewogenheit noch viel entscheidender als für andere Medien. Ein privates Verlagshaus beispielsweise kann sich für eine bestimmte Haltung in einer gesellschaftlichen oder politischen Frage entscheiden und entsprechend verorten. Das dürfen, sollen und wollen wir als öffentlich-rechtlicher Rundfunk nicht – und das ist durchaus eine Herausforderung, wenn man dabei möglicherweise an seine persönliche Schmerzgrenze gehen muss. Wichtig finde ich in diesem Prozess, unterschiedliche Perspektiven zur Kenntnis zu nehmen und zur Kenntnis zu bringen – und das in einer Art und Weise zu tun, die von den Menschen als ehrlich wahrgenommen wird und nicht als eine, die Probleme absichtlich ausspart. Der BBC wurde im Zuge der Brexit-Debatten vorgeworfen, fast schon zwanghaft Pro-Brexit-Stimmen ins Programm geholt zu haben und deren zum Teil fragwürdigen Argumenten das gleiche Gewicht verliehen zu haben wie jenen, die mit korrekten Argumenten auf die Gefahren hingewiesen haben. Wie groß ist die Gefahr, bei der Suche nach Ausgewogenheit eine "false balance" zu bedienen? – Es ist sicher kein so massives Problem wie in anderen Ländern. Ich habe aber grundsätzlich ein bisschen Bauchschmerzen bei dem Begriff "false balance". Denn gerade bei der gewollten thematischen Breite des öffentlich-rechtlichen Rundfunks müsste man sich ja die Frage stellen, wer nach welchen Kriterien beurteilen darf, welche Argumente in einer Debatte valide sind und welche nicht. Klar gibt es Bereiche, in denen man das sortieren kann, beim Klimawandel zum Beispiel, wo wir zumindest in Deutschland – anders als etwa in den USA – einen von der Klimawissenschaft gestützten Konsens darüber haben, dass es einen menschengemachten Klimawandel gibt. Aber schon bei der nächsten Frage, was bei wieviel Grad Temperaturanstieg passiert und was daraus folgt, ist das auch bei uns schon nicht mehr so. Beim Brexit war, glaube ich, nicht zuletzt die anfangs benannte Ängstlichkeit das größte Problem. Aus der Sorge heraus, man könnte auch mit den legitimen Argumenten der Pro-Brexit-Bewegung nicht adäquat umgehen, hat man am Ende viele journalistische Tugenden vernachlässigt. Interessant an der Brexit-Debatte ist, dass es hier ja eigentlich um viele verschiedene Fragen und Parameter ging – staatliche Souveränität, wirtschaftliche Faktoren, die Idee von Europa und vieles andere mehr –, auf die unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen mit unterschiedlichen Interessen unterschiedliche Perspektiven hatten. Das so gut wie möglich darzustellen, ist für mich die Kernaufgabe von Journalismus. Im "Flüchtlingsherbst 2015" wurde mitunter beklagt, dass migrationskritischen Stimmen unangemessen viel Raum in den öffentlich-rechtlichen Medien eingeräumt worden sei – auch hier aus der Angst heraus, dass den Sendern sonst mangelnde Ausgewogenheit vorgeworfen worden wäre. Stimmt der Eindruck? – Nun ja, zunächst hatten wir die Großerzählung der "Willkommenskultur", auf die dann die Ereignisse der Kölner Silvesternacht und die entsprechende Berichterstattung folgten. Ob die mediale Verarbeitung in beiderlei Hinsicht ausgewogen war oder nicht, ist schwer zu sagen. In der Zeit der "Willkommenskultur" war generell die Bereitschaft, über mögliche Herausforderungen und Probleme der Zuwanderung zu sprechen, sehr gering, nicht zuletzt auch bei unseren externen Gesprächspartnern. Dann kam die Kölner Silvesternacht und alle fragten, ob "die Medien" in Bezug auf die Herausforderungen nicht einen blinden Fleck gehabt hätten. Man erkennt daran sehr schön ein grundsätzliches Problem: ein mitunter lemminghaftes Verhalten im Journalismus, das dann fast übersprunghaft dazu führt, überkritisch auf das eigene Verhalten zu schauen. Wir alle – Gesellschaft, Politik und Medien – sind relativ nahtlos vom "Wir schaffen das" ins "Wir schaffen das nicht" gewechselt, und die Zwischentöne, die in beiderlei Hinsicht wichtig gewesen wären, waren relativ leise. Umgekehrt kam 2014/15 auch das Schlagwort von der "Lügenpresse" auf. Auch während der Corona-Pandemie war immer mal wieder zu hören, die maßnahmenkritischen Positionen seien im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht ausreichend vorgekommen. Eine zutreffende Kritik? – Wir haben uns das tatsächlich öfter gefragt in dieser leider ja sehr langen Phase der Pandemie. Statistisch stimmt der Vorwurf, glaube ich, nicht. Das "Team Freiheit" hatte viel "Airtime" in den öffentlich-rechtlichen Medien, seine Protagonisten waren durchaus präsent. Aber: Bekanntlich macht auch in der Berichterstattung der Ton die Musik. Gerade in der Anfangsphase wurde die Minderheitenposition häufig mit einer gewissen Pflichtschuldigkeit dargestellt, nach dem Motto: Es gibt natürlich auch noch diese Position, die wollen wir auch abbilden, aber Achtung – fast schon wie mit einer Trigger-Warnung versehen –, das ist eine Minderheitenmeinung. Da hätte ich mir schon gewünscht, dass wir insgesamt sachlicher und mit einer größeren Distanz an die Sache herangegangen wären. Hier gab es von journalistischer Seite anfangs für meinen Geschmack ein zu unkritisches Verhalten gegenüber den Regierenden und auch gegenüber den Expertinnen und Experten, die zum Teil ja relativ nah dran waren an den Regierenden. Das hat unnötig Raum geschaffen für diejenigen, die daraus eine grundsätzliche Kritik machen wollten. Gibt es Grenzen der Ausgewogenheit? Gibt es Dinge oder Themen, über die in öffentlich-rechtlichen Medien nicht gesprochen oder berichtet werden sollte? – Das ist eine wichtige Frage und auch eine große Herausforderung, denn es kann nicht um ein "anything goes" gehen. Zum Teil haben wir es mit Debattenteilnehmern zu tun, denen es nicht um den demokratischen Diskurs geht, sondern darum, diesen Diskurs mindestens zu stören, wenn nicht zu unterminieren. Was heißt das journalistisch? Unsere Aufgabe ist es, immer wieder an die Grenze zu gehen. Mit denen zu reden, die noch an diesem Diskurs teilnehmen wollen. Ein offen geführtes Gespräch kann möglicherweise eine Tür wieder öffnen, die schon so gut wie zu war. Wir dürfen dem Publikum da schon etwas Vertrauen entgegenbringen, dass es sich selbst ein Urteil bilden kann. Die Hörerinnen und Hörer haben ein sehr feines Gespür dafür, ob wir fair mit Gesprächspartnern umgehen und ob wir mit Offenheit und Erkenntnisinteresse rangehen oder selbst voreingenommen sind. Natürlich liegt darin auch die Gefahr, dass Populisten eine solche Bühne ihrerseits missbrauchen. Aber auch dann hat es aus meiner Sicht seinen Zweck erfüllt. Weil wir für die Öffentlichkeit dokumentieren, wer seinerseits kein ehrliches Interesse an einem Diskurs mehr hat. Die Menschen sollten in jedem Fall nicht den Eindruck gewinnen, wir würden uns gar nicht mehr um den Diskurs bemühen. Ein öffentlich-rechtliches journalistisches Prinzip sollte immer sein, mit Menschen gut umzugehen. Niemanden vorzuführen, die Menschenwürde zu achten, das sind wichtige Prinzipien für unsere tägliche Arbeit. Schwierig wird es bei Themen wie Antisemitismus oder Rassismus. Wir haben im Zuge der Diskussionen um die Documenta gesehen, wie schwer solche Debatten im Spannungsfeld von Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit zu führen sind. Für mich als Journalist ist die Meinungsfreiheit ein unglaublich hohes Gut, und vermutlich gehöre ich zu denjenigen, die in dieser Beziehung in einem liberal-libertären Sinne am "amerikanischsten" denken: lieber zu viel zulassen als zu wenig, lieber ins Risiko gehen, als sich dem Risiko auszusetzen, dass der Eindruck entsteht, wir würden blinde Flecken zulassen und uns um Debatten herumdrücken. Beim Thema Antisemitismus macht mir – neben der Tatsache, dass er immer noch so weitverbreitet ist – vor allem Sorge, dass viele Gesprächspartner aus der Sorge heraus, falsch verstanden zu werden oder unter Beschuss zu geraten, im öffentlichen Diskurs gar keine Position mehr beziehen wollen. Hier wie bei anderen Themen müssen wir unbedingt debattenfähig bleiben. Entscheidend ist, mit hohem Verantwortungsgefühl und Sachverstand dafür zu sorgen, dass Debatten nicht ins Polemische oder Populistische abrutschen. Wir stecken in letzter Zeit sehr viel Energie in die Frage, worüber wir debattieren sollten und worüber man nicht mehr debattieren darf. Die Debatten selbst zu führen, wäre für die Gesellschaft häufig fruchtbarer. Wie steht es um die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks? Kritiker werfen den Sendern ja mitunter vor, über die Gremien zu sehr von Parteien oder Regierungen beeinflusst zu sein. Ist das so? – (lacht) Ich bin jetzt seit 2009/10 hier beim Deutschlandradio, und ich habe es noch nie erlebt, dass es in irgendeiner Form eine politische Einflussnahme gab, etwa den berühmten Anruf aus der Staatskanzlei oder dem Bundespresseamt. Ich will nicht ausschließen, dass solche Anrufe mal beim Intendanten oder der Programmdirektorin eingegangen sind, dann waren die aber so klug und stark, uns das nicht wissen oder spüren zu lassen. Natürlich begegnet einem immer mal wieder diese Vorstellung, es gäbe da so eine Art direkten Draht – der Regierungssprecher ruft an, und dann gibt es eine entsprechende Berichterstattung. Nein, das gibt es definitiv nicht, vermutlich alleine schon deshalb nicht, weil diejenigen, die einen solchen Anruf tätigten, Angst haben müssten, dass das sofort publik wird. Diese Form der Einflussnahme gibt es nicht. Aber natürlich haben wir ein öffentlich-rechtliches System, das abhängig ist von den Strukturentscheidungen der Politik. Die Bundesländer haben hier die Hoheit, sie setzen die Rahmenbedingungen und nehmen Einfluss auf den Programmauftrag. Und sicher gibt es in den Landeshauptstädten auch eine größere Erwartungshaltung gegenüber den Landesfunkhäusern, was diese leisten sollen. Insgesamt scheint mir das Problem politischer Einflussnahme aber sehr gering zu sein. Haben Sie den Eindruck, dass das Vertrauen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den vergangenen Jahren gesunken ist? – Bei denjenigen, die mit uns in Kontakt sind, spüre ich das nicht. Natürlich gibt es immer mal wieder Kritik an einzelnen Themen oder Fragen, aber auch viel positives Feedback. Wir sprechen hier aber von denjenigen, die unsere Programme ja nach wie vor hören und sich sogar die Mühe machen, uns zu schreiben. Da mache ich mir wenig Sorgen, zumal wir immer den Dialog mit unseren Hörern suchen. Das Problem sind eher diejenigen, die wir gar nicht mehr erreichen. Auch das ist aber kein Grund für allzu großen Alarmismus, denn wir erreichen noch sehr viele Menschen. Die Radionutzung ist sehr stabil in Deutschland, die Sender des Deutschlandradios erleben seit Jahren sogar Reichweitenzuwächse. Auch im Digitalen sind wir gut aufgestellt. Was ich faszinierend finde: Trotz aller Kritik am Rundfunkbeitrag und den politischen Debatten darum gibt es insgesamt eine unglaublich hohe Bereitschaft, diesen monatlichen Beitrag zu zahlen und die Programme zu konsumieren. Die Zustimmung unter denjenigen, für die wir das Programm machen, ist vermutlich deutlich größer als in der Politik – wobei Vorgänge wie jene beim RBB im vergangenen Jahr das Vertrauen in die Sender und in einen verantwortungsvollen Umgang mit Gebührengeldern natürlich nicht stärken. Viel schmerzhafter als Kritik an einem verschwenderischen Umgang mit öffentlichen Ressourcen wäre aber zweifellos ein Vertrauensverlust, der darauf beruhte, dass wir nicht mehr als unabhängig in unserer Berichterstattung wahrgenommen würden. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk steht derzeit fast überall in Europa unter Druck, auch hierzulande werden Reformdebatten angestoßen und geführt. Kann der ÖRR selbst etwas dafür tun, seine Kritiker von seiner Relevanz zu überzeugen? – Wir sollten einerseits bestrebt sein, unsere programmliche Qualität aufrechtzuerhalten, und andererseits mehr für Diversität tun – personell, aber auch inhaltlich. Es geht nicht nur um eine "Herkunftsdiversität", sondern auch um gesellschaftliche, politische und soziale Diversität. Wir müssen insgesamt versuchen, gesellschaftliche Realitäten noch besser abzubilden. Aber ich bin mir sicher, dass es eine Zukunft für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt, weil gerade auch in der jüngeren Generation die Erkenntnis wachsen dürfte, dass es im Mediensystem Bereiche geben muss, die nicht durch den Markt oder durch Privatunternehmen bestimmt werden. Der Rundfunkbeitrag ist eine Art "Flatrate für Qualitätsjournalismus", die dafür sorgt, dass wir uns nicht in medial exklusive Räume zurückziehen oder in einem vermeintlich kostenlosen digitalen Raum verweilen, den wir in Wirklichkeit über Werbung und mit unseren persönlichen Daten finanzieren. Es gibt einen Bedarf für Journalismus, der nicht der Marktlogik folgt, und das ist letztendlich das Rettungsmodell für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Dieser öffentlich-rechtliche Rundfunk ist in Deutschland zu einer Zeit entstanden, in der alle noch in frischer Erinnerung hatten, was passiert, wenn Massenmedien in die falschen Hände geraten. Gäbe es diesen Rundfunk nicht, müsste man ihn heute als öffentlich-rechtliches Debattennetzwerk neu gründen – ein öffentlich-rechtliches Twitter sozusagen, das aber dem öffentlichen Interesse dient. Insofern sehen Sie mich, was die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks betrifft, positiv gestimmt. Aber ich weiß natürlich auch, wie groß die Herausforderungen sind. Das Interview führte Sascha Kneip am 22. Mai 2023.
Article
Frenzel, Korbinian
2023-07-07T00:00:00
2023-06-14T00:00:00
2023-07-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/oeffentlich-rechtlicher-rundfunk-2023/521978/wir-muessen-unbedingt-debattenfaehig-bleiben/
Ein Gespräch mit DLF-Redakteur Korbinian Frenzel über Objektivität, Unparteilichkeit, Meinungsvielfalt, Ausgewogenheit und gute journalistische Praxis im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
[ "öffentlich-rechtlicher Rundfunk", "Objektivität", "Unparteilichkeit", "Meinungsvielfalt", "Ausgewogenheit", "gute journalistische Praxis", "Programmauftrag", "Social Media", "Unabhängigkeit", "Einflussnahme", "Vertrauen", "Reformdebatte" ]
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Naturschutztheorie | Bioethik | bpb.de
Einleitung Das menschliche Dasein ist wesentlich relational, d.h. durch Beziehungen konstituiert. Seit der Antike unterscheidet man zwischen a) Beziehungen zu sich selbst (Individualität), b) zu anderen Menschen (Du-Erfahrungen, Gemeinschaft und Gesellschaft), c) zu einer Sphäre der kulturellen Artefakte, der geschichtlichen Traditionen und der Künste, d) zu einer Welt der Natur und e) zu einer religiösen Sphäre (das Heilige). Diese Beziehungen sind korrelativ, d.h. in einer jeden Beziehungen sind die anderen Beziehungen mit vorausgesetzt. Der Artikel legt unter dieser Voraussetzung einen Schwerpunkt auf Beziehungen zu einer außermenschlichen Natur, deren reale Existenz vorausgesetzt wird. Alle Gesellschaften bzw. alle ihre einzelnen Mitglieder sind auf einen kontinuierlichen Stoffwechsel mit einer äußeren Natur angewiesen. Dies beginnt mit dem Atmen und der Verdauungstätigkeit. Zu ihrer Reproduktion greifen Menschen auf unterschiedliche Weise in die sie umgebende Natur ein: Jagen, Sammeln, Ackerbau und Viehzucht, Fischfang usw. Das "Dass" des Eingreifens in Natur ist für Menschen unabänderlich, das "Wie" ist für ein freies Kulturwesen höchst variabel. Die Geschichte der Menschheit hat höchst unterschiedliche Formen der Naturnutzung hervorgebracht, von denen einige schon mehrere Jahrtausende lang Bestand haben. In diesem Sinne behandelt jegliche Naturschutztheorie immer geschichtlich und kulturell vermittelte Mensch-Natur-Verhältnisse sowie die in diesen Verhältnissen implizierten Werte und Normen. Natur wurde und wird auf vielfältige Weise bewertet und reguliert (etwa durch Waldordnungen). Werden diese Werte und Regelwerke neutral beschrieben ("rekonstruiert"), so wird eine historische oder sozialwissenschaftliche Perspektive eingenommen. Werden naturbezogene Werte und Regelwerke kritisch-reflexiv auf ihre Qualität und ihre Wirkungen hin beurteilt, so wird implizit eine Perspektive eingenommen, die sich an einer zunächst vagen Leitidee gelingender Mensch-Natur-Verhältnisse ausrichtet. Die genaue Erklärung (Explikation) der Beurteilungskriterien und der Leitlinie führt in das Gebiet der Naturethik (synonym: Umweltethik). Durch Eingriffe in die Natur wird diese graduell überformt. Das Maß dieser Überformung wird als Kultivierungsgrad ("Hemerobie") bezeichnet (griechisch: "hémeros" = gezähmt, "bios" = Leben). Der Begriff der Natur ist ein skaliertes Konzept, das sich von "unberührter" Wildnis bis hin zu urbanen Räumen erstreckt. Auf dieser umfassenden Skala bewegen sich unterschiedliche Entitäten, die als Einzelwesen (Pflanzen, Tiere) oder als naturhafte Kollektive (Böden, Wälder, Moore, Wiesen, Quellen) beschrieben werden können. Für die Beschreibungen sind Biologie und Ökologie zuständig. Der Begriff der Wildnis, der einen Pol dieser Skala konstituiert, ist zu unterscheiden zwischen absoluter und relativer, primärer und sekundärer Wildnis. Außerhalb der absoluten Wildnis, die es auf Erden wohl nur noch in der Tiefsee und der Antarktis gibt, ist auch in relativer Wildnis ein menschlicher Eingriff nachweisbar, wenngleich er das Naturgeschehen in solchen Naturräumen nicht prägt. Immer dann, wenn Menschen (aus welchen Gründen immer) die Naturnutzung einstellen, stellt sich im Gefolge natürlicher Prozesse ("Naturdynamik") allmählich eine neue, d.h. sekundäre Wildnis ein. Dieser Prozess kann sich allerdings über Jahrhunderte erstrecken. Daher können auch inmitten von Kulturlandschaften sekundäre Wildnisgebiete entstehen. Auch in dem Gegenpol der Wildnis, den urbanen Räumen, ist noch vielfältige Natur anzutreffen (Gärten, Tauben). Es wird deutlich, dass gerade moderne Gesellschaften große Freiheitsgrade besitzen, Natur weiter zu überformen bzw. zu nivellieren oder aber sie zu schützen bzw. zu fördern. Beispiel für Nivellierung wäre die Überführung von artenreichen Biozönosen in monotone Nutzlandschaften. Geschichte Diagnostisch betrachtet leben wir in einer Welt, die wir selbst mit Recht nach unserer Spezies benannt haben, d.h. im Anthropozän. Es könnte sein, dass dessen Ursprünge in den Errungenschaften der Neolithisierung zu sehen sind, deren Qualitäten späterhin quantitativ gesteigert wurden. In diesem Sinne ist Fischfang mit Netzen die Qualität, wohingegen die heutigen Netze der Hochseeflotten diese quantitativ steigern, was zur Überfischung vieler Arten führt. Domestikation von großen Säugetieren wie Rind, Schaf und Schwein ist die Qualität, industrielle Massentierhaltung die heutige quantitative Steigerung. Ackerbau wird zur industriellen Landwirtschaft, aus Städten werden urbane Ballungsgebiete usw. Diese Steigerung ins Gigantische rief bei vielen die Angst hervor, der moderne Mensch sei im Prozess fortwährender Naturbeherrschung "viel zu weit" gegangen und sollte seine Naturverhältnisse ethisch überdenken und praktisch korrigieren. In der christlichen Tradition wird den Menschen ein Recht zuerkannt, sich die Natur untertan zu machen und über sie zu herrschen (Gen 1). Diese "dominionistische" (von lat.dominium = Eigentum, Herrschaftsbereich) Wirkungsgeschichte entspricht zwar nicht der eigentlichen Bedeutung des sog. Schöpfungsnarrativs der Genesis (Hardmeier/Ott 2015), prägte jedoch das europäische Naturverständnis tiefgreifend. Menschen mussten nach Genesis 2 der (verfluchten) Natur "im Schweiße des Angesichts" den Lebensunterhalt abringen, hatten aber ein Anrecht auf Naturbeherrschung. Die säkulare frühneuzeitliche Philosophie (Descartes, Bacon) propagierte das Projekt der wissenschaftlich-technologischen Naturbeherrschung, das zum Paradigma der Industrialisierung wurde. Man hat die Moderne nicht zu Unrecht als "Bacon-Projekt" bezeichnet (Schäfer 1993). Dies gilt auch für den Marxismus, der als ein Projekt der weiteren Entfaltung der Produktivkräfte im Dienste egalitärer ("klassenloser") Versorgung zu verstehen ist. Erst im Gefolge einer erfolgreichen Naturbeherrschung kam der Gedanke auf, dass nicht nur Menschen vor den Gefahren und Unbilden der Natur geschützt werden sollten, sondern dass angesichts der Vergrößerung der technischen Macht über die Natur auch Naturgebilde vor menschlichen Zugriffen zu schützen sein könnten. Der Gedanke, dass Natur sowohl schutzbedürftig als auch schutzwürdig sei, begründet die Naturschutzbewegung. Das Wort "Naturschutz" wird im 19. Jahrhundert geprägt. Es ist jünger als der Ausdruck "nachhalt", der sich bis 1713 zurückverfolgen lässt (Ott 2016) und von dem das heutige "nachhaltig" abgeleitet ist. Die Nachhaltidee richtet sich gegen Raubbau an natürlichen Ressourcen, ist jedoch im Unterschied zur Naturschutzidee ein eher wirtschaftliches Konzept. Nachhaltigkeit und Naturschutz sind, wie man an der Kontroverse um Naturschutz in Wäldern und Forsten dartun könnte, im 19. Jahrhundert konkurrierende Konzepte. Ein Vorschlag zur Verbindung aus Nachhaltigkeit und Naturschutz findet sich bei Ott und Döring (2008) und Ott (2015). Die bedeutsame Rolle, die (intensive) Naturerfahrungen für die menschliche Lebensführung spielen, wurde in Deutschland von künstlerischen und philosophischen Strömungen betont, die sich übergreifend als "Geist der Goethezeit" (Korff 1966) bezeichnen lassen. Sie trennen sich in eine eher "klassische" Strömung, die sich antikisierend an mediterranen Ideallandschaften orientierte, und eine "romantische" Strömung, die sich für nördliche Natur begeisterte und die die Natur nach dem Zeitalter der wissenschaftlichen Aufklärung zu einer geheimnisvollen Wunderwelt rückverzaubern wollte. Eine goetheanische Naturauffassung, die Naturwissenschaft und Naturgenuss vereinigen wollte, findet sich im Werk Alexander von Humboldts. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, die Landnutzung und Landschaftsbild tiefgreifend umgestaltete (Blackbourn 2007), wurde von Generationen, die durch den Geist der Goethezeit habitualisiert wurden, als eine Verlustgeschichte thematisiert. Der frühe Naturschutz entstand als romantisch-goetheanische Zivilisationskritik. Ideengeschichtlich kann man den Naturschutz der Nationalromantik und dem Konservatismus zuordnen, und es soll nicht verschwiegen werden, dass der Naturschutz um 1933 in die Doktrin von "Blut und Boden" einschwenkte. Erst die sog. Ökologiebewegung der Post-68-Ära hatte politisch ein eher "linkes" Selbstverständnis. In den 1970er Jahren entstand ein umfangreiches Schrifttum, dass die Naturkrise als Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen hinsichtlich ihrer Ursachen und ihrer möglichen Überwindung thematisierte. Die damalige Wachstumskritik ist die Vorgängerin der heutigen "Degrowth"-Bewegung (Muraca 2014). Der Argumentationsraum der Naturethik Seit den Anfängen der Naturschutzbewegung werden auch die Gründe diskutiert, aufgrund derer bestimmte Naturgebilde dem menschlichen Zugriff entzogen sein sollten. Was sollte eigentlich falsch an den Praktiken sein, Felsformationen in Steinbrüche zu verwandeln, "Raubzeug" (Wölfe, Kormorane) auszurotten, Flüsse zu kanalisieren, Moore in Acker- und Weideland umzuwandeln ("meliorisieren") und Wälder in Forste zu verwandeln? Der Naturschutz musste somit eine initiale Begründungslast übernehmen, da er sich gegen nutzenstiftende Praktiken richtete. Diese Gründe konstituieren bereits im 19. Jahrhundert eine Natur(schutz)ethik. Vorgebracht wurden a) ein "soziales Bedürfnis, zu reiner und unverfälschter Natur zurückzukehren" (Wetekamp 1914), b) das Anrecht auf tiefe Naturerfahrungen in reiner Natur (Rudorff 1897), c) die notwendige Differenz zwischen "wilder" und "zahmer" Landeskultur (Riehl 1854), d) der Schutz von Resten ursprünglicher Natur in Analogie zum Denkmalschutz (Conwentz 1904) und e) die Erhaltung germanischer Urlandschaft zur Wahrung nationaler Identität (Schwenkel 1932, Schoenichen 1934). Diese Gründe waren ausnahmslos anthropozentrisch, d.h. auf menschliche Interessen i.w.S. bezogen. In der philosophischen Ethik, die mit dem frühen Naturschutzdiskurs erstaunlich wenig Berührungspunkte hat, wurden seit dem 19. Jahrhundert (in heutiger Terminologie: "physiozentrische") Ethiktheorien entwickelt, die auch außermenschliche Wesen in den Kreis der moralischen Berücksichtigung aufnahmen wie die Mitleidsethik Arthur Schopenhauers, die Interessenethik Leonard Nelsons und Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Der Ausdruck "Physiozentrismus" ist ein Oberbegriff, unter den diverse Ansätze fallen (s.u.). Unterschiedliche Naturschutzbegründungen sind seit ihren Anfängen nicht-exklusiv, heterogen und pluralistisch. Daran hat sich durch die akademische Etablierung der Disziplin namens "environmental ethics" nichts Wesentliches geändert. Neu hinzugekommen ist allerdings die intensive Debatte um das sog. Inklusionsproblem, d.h. das Problem der Zuerkennung von moralischem Selbstwert (synonym: moralischer Eigenwert) bezüglich bestimmter Naturwesen, der in den Bereich der Physiozentrik führt. Wendet man sich von einer ideengeschichtlichen zu einer systematischen Betrachtung, so ist zunächst der Naturschutz zu differenzieren in a) den auf die zentralen Umweltmedien ausgerichteten ("medialen") Umwelt- und Ressourcenschutz (Wasser, Boden, Luft, Umgang mit Abfällen, Vermeidung von Schadstoffemissionen usw.), b) den Tierschutz (Schutz empfindungsfähiger Einzelorganismen), und c) den Schutz höherer biotischer Einheiten (sog. "natural wholes" wie Genome, Arten, Lebensgemeinschaften ["Biozönosen], Landschaftsformen, die Biosphäre). Hinsichtlich aller dieser Schutzgüter und/oder "moral patients" (schutzbefohlene Wesen) kann man differenzieren nach den Fragen 1) nach dem Überhaupt, 2) dem Ausmaß und 3) der Einstufung. Fragen nach dem Überhaupt sind philosophische Fragen: "Warum überhaupt x tun oder lassen?" Fragen nach dem Ausmaß (etwa an Naturschutzflächen, Reduktionszielen oder Erhöhung des Tierwohls) haben bereits politische Aspekte. Fragen der Einstufung (etwa eines Gebietes als "nationalparkwürdig") müssen vor Ort erläutert und verhandelt werden. Die Naturethik widmet sich pimär den "Warum überhaupt?"-Fragen. All diejenigen guten (einsichtigen, vernunftgemäßen) Gründe, die beanspruchen dürfen, diese Fragen beantworten zu können, konstituieren den Argumentationsraum der Naturethik (Ott 2010). Zu dessen analytischer Rekonstruktion haben Philosoph*innen seit den 1970er Jahren beigetragen, darunter auch Interner Link: Angelika Krebs. In diskursethischer Perspektive kann man Gründe nicht verstehen, ohne sie implizit als Gründe zu würdigen, d.h. zustimmend oder ablehnend zu ihnen Stellung zu nehmen. Daher ermöglicht es besagte Rekonstruktion, dass jede/r sich seine eigene Version des Argumentationsraums reflexiv aneignet, indem er/sie sich mit Gründen an den Gründen des Argumentationsraumes orientiert. Dies schließt im Extrem die Möglichkeit ein, sämtliche Gründe zurückzuweisen (und damit eine negative Naturethik zu vertreten). Diese Gründe kann man folgendermaßen differenzieren. Bestimmte Naturwesen sind eines – nach Ausmaß und Einstufung näher zu bestimmenden – Schutzes würdig, weil 1) Menschen auf ihre fortwährende Nutzung existentiell angewiesen sind, weil 2) sie zu einem guten menschlichen Leben beitragen, weil 3) heutige Personen gegenüber zukünftigen Personen in Ansehung bestimmter Naturgüter zur Rücksichtnahme verpflichtet sind, oder weil 4) bestimmte Naturwesen um ihrer selbst willen schutzwürdig sind. Angewiesenheit, gutes Leben, Zukunftsverantwortung und moralischer Selbstwert sind "klassische" naturethische Werthinsichten. Hinzu kommen 5) naturphilosophische und 6) religiöse Ansätze. Die Tiefenökologie (Naess 1989) spricht mit Blick auf 5) und 6) von "ecosophies", deren Naturbegriff von dem strikt wertfreien Naturverständnis der modernen Naturwissenschaft abweicht. Wenn bspw. ein Konzept eines sich in seinen Vollzügen selbst bejahenden Lebens (wie bei Hans Jonas 1973) oder einer in sich objektiv wert-vollen "projektiven" Natur (wie bei Holmes Rolston 1988) vertreten wird, so wird eine ethisch gehaltvolle Naturphilosophie vorausgesetzt. Spirituelle Zugangsweisen zur Natur, wie sie sich in vielen Religionen finden (wie etwa im Schamanismus, Daoismus und Hinduismus), zählen zu diesem Bezirk der Naturethik (s. Beiträge in Kearns/Keller 2007), der allerdings dadurch gekennzeichnet ist, dass nicht-gläubige Personen hier mit "kosmo-/theologischen" Annahmen konfrontiert werden, zu deren Übernahme sie auch dann nicht verpflichtet werden können, wenn sie sie verstehen und respektieren. Wir können diese Begründungsmuster in den Argumentationsraum der Umweltethik eintragen, wodurch sich dieser untergliedert. Diese Gliederung lässt sich beliebig verfeinern, da viele Argumente mehrere Aspekte aufweisen. Der Bereich der Angewiesenheitsargumente setzt eine moralische Verpflichtung zur Rücksichtnahme auf die Lebensaussichten von Personen in Ansehung ihrer Zugänge zu wesentlichen natürlichen Ressourcen voraus. Allerdings ist Angewiesenheit auf Natur häufig graduell und häufig kommen Substitute in Betracht. Aus der Angewiesenheit auf Wasser, Sauerstoff und Nahrung lassen sich zudem keine Grenzwerte hinsichtlich bestimmter Schadstoffe ableiten. Zusätzlich komplex werden Angewiesenheitsargumente, sobald Annahmen hinsichtlich kausaler, häufig ökonomischer Wirkungszusammenhänge eingeführt werden. Dabei ist weniger der Grundsatz strittig, dass man nicht auf Kosten anderer, insbesondere nicht auf Kosten armer Menschen leben soll, sondern die Frage, welche Praktiken und Strukturen andernorts natürliche Lebensbedingungen verschlechtern. Untergräbt die westliche ("imperiale") Lebensweise die Lebensaussichten armer Menschen im globalen Süden und, wenn ja, wie und wodurch (CO2-Emissionen, Agrarexporte, "land grabbing", Rohstoffabbau usw.)? In diesem Sinne führen Angewiesenheitsargumente in das hochkomplexe Gebiet einer politischen Ökonomie der globalen Naturnutzung und des sog. environmentalism oft he poor (Martinez-Alier 2002). Das Problem ist, dass auf diesem Gebiet allzu häufig eine wohlfeile moralische bzw. "postkoloniale" Gesinnung über gründliche Analysen und Fallstudien triumphiert. Der Bereich der sog. eudaimonistischen Gründe (bei Aristoteles meint "eudaimonia" das gute und gelingende menschliche Leben) setzt ein Verständnis für die entsprechenden Erfahrungen, Werte, Traditionen, und Güter voraus (axiologische Aspekte), aber er setzt auch voraus, dass wir moralisch gegenüber naturverbundenen Menschen verpflichtet sind, die Bedingungen ihres guten Lebens nicht ohne Not zu schmälern (deontologischer Aspekt). Die Axiologie betrifft die Untersuchung von Wertungen, währen die Deontologie sich mit möglichen Verpflichtungen beschäftigt. Des Näheren gliedert sich dieser Bereich in die Naturästhethik, die Frage nach heimatlicher Vertrautheit, die Frage nach ("tiefer") Erholung in der Natur, nach den transformativen Kräften intensiver Naturerfahrungen (Norton 1987). Eine Reflexion auf eudaimonistische Argumente (Ott 2013) führt zu der Frage nach einer möglichen biophilen Disposition, die eine Mitgift der Naturgeschichte unserer Spezies sein könnte (Wilson 1984). Die eudaimonistischen Argumente führen, reflexiv gewendet, auf Fragen des Typs: "Was für ein Mensch will ich sein?" Damit eröffnen sie einen Zugang zur Umwelttugendethik ("environmental virtue ethics"), die sich nach unterschiedlichen Einzeltugenden auffächern lässt (Cafaro/Sandler 2005). Hinsichtlich der Zukunftsverantwortung stellen sich etliche metaethische und erkenntnistheoretische Fragen. Die allgemeine Mahnung zur Zukunftsverantwortung (Jonas 1979) wird konkret, wenn sie sich mit Detailfragen wie die nach vertretbaren Risiken, Ungewissheiten bezüglich der ferneren Zukünfte, Unwissenheit über zukünftige Wertvorstellungen, die rechte Diskontrate usw. befasst. Hier gilt es, die Unwissenheit über die Zukunft ernst zu nehmen und mit einem Grundsatz der vorsorgenden Vorsicht ("precautionary principle") zu verknüpfen. Auch wäre es durchaus möglich, dass aufgrund von Wertewandel zukünftige Generationen viel naturverbundener leben möchten als wir Heutigen. Unter bestimmten Prämissen müssen alle politischen Kollektive (bis hin zum Großkollektiv "Menschheit") darüber befinden, welche Güterbündel sie ihren Nachkommen fairerweise (nicht) hinterlassen sollten. Zu unterscheiden ist dabei zwischen positiven und negativen Gütern (wie etwa hochradioaktive Reststoffe). In der Nachhaltigkeitstheorie wird mehrheitlich angenommen, dass Naturkapitalien nur begrenzt substituierbar sind und dass es gemäß einem Vorsorgegrundsatz vernünftig wäre, die noch bestehenden Bestände an Naturkapitalien zu erhalten und in geschmälerte und degradierte Naturkapitalien zu investieren, d.h. ökologische Gefüge zu renaturieren. Hier ist anzumerken, dass der Naturschutz sich in konservierende und renaturierende Strategien unterteilen lässt, wobei diese stärker interventionistisch sind, d.h. Eingriffe erlauben oder sogar fordern. Die heute Lebenden sind aus naturethischer Sicht nachfolgenden Generationen umfassende Renaturierungen schuldig. Es ist unbestreitbar, dass eine ethisch "tiefe" Anthropozentrik konzeptionell möglich ist, die zum Schutz unterschiedlich hochrangiger Naturgüter und zur Grundhaltung der biophilen Naturverbundenheit führt, die sich in Praktiken wie Gärtnern, Wandern, Klettern, Baden, Tauchen usw. äußert. Entgegenzutreten ist der Ansicht, die Anthropozentrik führe höchstens bis zu einem technischen Umweltschutz der Schadstofffilter und Altglascontainer. Das Inklusionsproblem Der Bereich der möglichen moralischen Selbstwerte fragt nach dem Umfang der Menge der Wesen, die um ihrer selbst willen moralisch zu berücksichtigen sind. Moralischer Selbstwert ist begrifflich von Würde und von Rechten zu unterscheiden. Es ist möglich, einem Naturwesen Selbstwert zu-, Würde und Rechte hingegen abzusprechen. Moralischer Selbstwert impliziert einen Anspruch, nicht rein als Mittel für beliebige Zwecke behandelt zu werden. Wenn einem Naturwesen N moralischer Selbstwert zuerkannt und zugesprochen wird, so haben alle Personen N direkt gegenüber mindestens eine moralische Pflicht zu befolgen. Die Zuerkennung von Selbstwert erfolgt aufgrund von Kriterien, d.h. von moralisch relevanten Eigenschaften, auf die Menschen sich verständigen. Ein metaethischer Wertnaturalismus ist im Begriff des Selbstwertes nicht impliziert. Die Logik und Metaethik des Inklusionsproblems habe ich an anderer Stelle ausführlich analysiert (2008). Das Kriterium, das in der Naturethik den meisten Zuspruch gefunden hat, ist das der Empfindungsfähigkeit, die Freude und Leid einschließt. Empfindungsfähigkeit ist das einschlägige Kriterium des sog. Sentientismus (auch "Pathozentrik"). Der Sentientismus eröffnet die sog. Tierethik, die nicht alle Tiere (im zoologischen Sinne) behandelt, sondern die relativ kleine Gruppe der Wirbeltiere, die sich in domestizierte und wildlebende Tiere untergliedern lässt. In der Tierethik unterscheiden sich die Ansätze der Tierschützer und der Tierrechtler. Während die Tierschützer das Leben domestizierter Tiere gegenüber dem Status quo deutlich verbessern wollen, treten Tierrechtler für die Rechte von Tieren ein, darunter für ein Recht auf Leben und sogar für politische Rechte (Donaldson/Kymlicka 2013). Einige Tierethiker*innen treten sogar dafür ein, in wilde Nahrungsnetze mit der Absicht einzugreifen, tierisches Leid zu verringern (sog. "policing nature") (Nussbaum 2007, S. 379). Für die Biozentrik ist Lebendigkeit das relevante Kriterium. Die moralisch relevante Eigenschaft ist die teleologische, d.h. ihre zielgerichtete oder zweckmäßige Verfasstheit von Organismen. Das Teleologie-Argument (etwa bei Jonas 1973 oder Taylor 1986) ist allerdings umstritten. Abgeschwächte Versionen dieses Arguments findet sich bei Agar, Attfield, Warren und Wetlesen (Engels 2016). Zu erinnern ist aber auch an die biozentrische Ethik von Albert Schweitzer (Günzler 2016). Die Biozentrik vermehrt die Konflikte und Dilemmata, da menschliches Leben dazu verurteilt ist, nicht-menschliches Leben zu vernichten. Für Schweitzer war diese permanente Konfliktträchtigkeit der Biozentrik ethisch sogar von Vorteil, da sie der moralischen Abstumpfung entgegenwirkt. Weitergehende Positionen zum Inklusionsproblem sind der Ökozentrismus (Callicott 1980, Westra 1994, Johnson 1991) und der pluralistische Holismus (Gorke 2010). Der Ökozentrismus spricht allen ökologischen Systemen als solchen moralischen Selbstwert zu. Dies ist schon epistemologisch fragwürdig, da Ökosysteme nicht einfach vorhanden sind, sondern von Ökologen konstruiert und modelliert werden. Der Ökozentrismus relativiert die Rechte von menschlichen und nicht-menschlichen Individuen mit Blick auf bestimmte moralisch relevante Eigenschaften ökologischer Systeme. Diese Eigenschaften werden als "Integrität", "Resilienz", "Gesundheit" bezeichnet, wobei "Gesundheit" nur metaphorisch auf Ökosysteme bezogen werden kann. Eine Überordnung ökosystemarer Integrität legitimiert die Opferung von Individuen einschließlich menschlicher Individuen, was im Anschluss an Callicott (1980) zu einer Debatte über sog. ökofaschistische Konsequenzen geführt hat. Auch auf Aldo Leopold kann sich die Ökozentrik nicht berufen, da die neuere Leopold-Forschung zu der Einsicht geführt hat, dass der berühmte Satz: "A thing is right when it tends to preserve the integrity, stability, and beauty of the biotic community. It is wrong when it tends otherwise (Leopold 1949) von Leopold selbst nicht als oberstes Moralprinzip intendiert war, sondern als Grundsatz der Land-Bewirtschaftung (Norton 2016). In diesem Sinne kann der Grundsatz von Leopold nachhaltigkeitstheoretisch eingeholt werden. Der entsprechende Formulierungsvorschlag lautet: "Handle mit Blick auf die Nutzung von Land (und Gewässern und Meeren) so, dass deine Handlungen immer zugleich auch die Fruchtbarkeit, die Resilienz und die Vielfalt der belebten Natur erhalten und fördern." Dieser Grundsatz gilt für Individuen und Kollektive. Der pluralistische Holismus (Gorke 2010) spricht allen Entitäten einen Selbstwert zu, darunter auch den unbelebten Dingen und sogar den technischen Artefakten. Der Holismus behauptet, dass die Einnahme des moralischen Standpunktes den Holismus impliziert, da man vom moralischen Standpunkt aus nicht willkürlich urteilen dürfe und jeglicher Ausschluss eines Wesens aus der "moral community" womöglich willkürlich ("wählerisch" im egoistischen Sinne) sein könnte. Als Kriterium für Willkürfreiheit gilt der Grundsatz der ontologischen Sparsamkeit, der besagt, dass auf unnötig aufwändige Annahmen verzichtet werden sollte. Dieses Kriterium wird in die Ethik übertragen. Nun ist jegliches Urteil, das manchen Wesen einen moralischen Selbstwert zuerkennt und ihn anderen Wesen abspricht (und für beides Gründe anführt), notwendig aufwändiger als ein Urteil des Typs: "Allen Wesen kommt Selbstwert zu". Außerdem verschiebt der Holismus die Begründungslast ("onus probandi") auf die Rechtfertigung von Ausschlüssen aus der Moralgemeinschaft. Die (raffinierte) Kombination des Grundsatzes der ontologischen Sparsamkeit in Verbindung mit der Begründungslast versetzt alle Opponenten des Holismus in die "Zwickmühle", argumentieren zu müssen, ohne dabei substantielle Annahmen machen zu dürfen. Der Holismus gewinnt unter diesen Rede-Bedingungen immer und unabhängig davon, wie inhaltlich argumentiert wird. Neuere Entwicklungen Die Naturethik hat lange Jahre das Inklusionsproblem in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gerückt. In den vergangenen Jahren ist eine Abwendung vom Inklusionsproblem und eine Hinwendung zu drängenden Gegenwartsfragen zu verzeichnen, in die auch Fragen distributiver Gerechtigkeit eingelassen sind, die also keine reinen Naturschutzfragen sind. Herauszuheben sind hierbei Disziplinen wie die Agrarethik, die Klimaethik und die Wasserethik. Die Agrarethik verknüpft Fragen des Schutzes der Fruchtbarkeit der Böden und des Erhalts der Agrobiodiversität mit sozialethischen Forderungen nach Ernährungssicherheit für eine wachsende Weltbevölkerung. Die Agrarethik wird in Zukunft der wachsenden Knappheit fruchtbaren Landes Rechnung tragen müssen. Die Klimaethik hat sich vom Inklusionsproblem weit gelöst und stärker gerechtigkeitstheoretischen Fragen zugewandt; im Mittelpunkt stehen distributive Gerechtigkeit bei der Aufteilung eines knappen "carbon budget", kompensatorische Gerechtigkeit für die Opfer des Klimawandels, darunter auch sog. Klimaflüchtlinge, und die Zukunftsverantwortung hinsichtlich der Begrenzung des Klimawandels (nach Paris: "well below 2°"). Die Klimaethik beschäftigt sich auch mit der Zulässigkeit der Erforschung und des Einsatzes großtechnischer Möglichkeiten, Kohlenstoff zu sequestrieren ("carbon dioxide removal") oder in den Strahlungshaushalt des Planeten einzugreifen ("solar radiation management"), was Fragen der politischen Ökonomie dieser Technologien berührt (Ott 2018). Die Wasserethik schließlich fragt nach einer gerechten Aufteilung der knappen Ressource des Süßwassers, die ja für den menschlichen Konsum, die industrielle Produktion, die landwirtschaftliche Bewässerung und für den Erhalt von Flüssen, Seen und Feuchtgebieten genutzt werden kann. Seltsam unterrepräsentiert ist das Feld einer Ozeanethik, obschon der Ozean 71% der Erdoberfläche bedeckt und zunehmend intensiv genutzt und mit Schadstoffen belastet wird (Dallmeyer 2003). Themen einer Ozeanethik wären Vermüllung, Erwärmung, Versauerung, Überfischung, Küstenschutz, Aqua- und Marikultur, Bergbau am Meeresgrund und die Ausweisung von Meeresschutzgebieten. Interessanterweise erscheint es fraglich, inwieweit sich Biozentrik, Ökozentrik und Holismus plausibel auf eine Ozeanethik anwenden lassen. Was bedeutet es bspw. für eine Ozeanethik, wenn jedem einzelnen Phyto- oder Zooplankton ein moralischer Selbstwert zugesprochen wird? Diese thematisch spezifizierten Teildisziplinen einer umfassenden Naturethik sind verbunden mit bestimmten "Sustainable Development Goals", auf die sich die Vereinten Nationen verständigt haben. Es wird in den kommenden Jahren viel davon abhängen, wie sozialethisch bzw. humanitär begründete Ziele und die Forderungen nach globaler Gerechtigkeit mit den naturschützerischen Zielen vermittelt werden. Zu dieser Vermittlung bedarf es mehr als den moralisch guten Willen – es bedarf auch der Klugheit, um die Schritte und Wege in und aus der Gefahr (von Weizsäcker 1976) zu finden und zu gehen. Viel wird davon abhängen, ob sich – etwa bei der Fortentwicklung der internationalen Umweltregime – ein menschheitlich-planetarisches Bewusstsein herausbildet. Seltsamerweise könnten wir gerade im Anthropozän die naturethischen Gründe wertschätzen, die unseren Zugriffen auf Natur aus freier Einsicht Grenzen setzen könnten. Wir können das Anthropozän widerspruchsfrei als das Zeitalter avisieren, in denen die Menschen einen dauerhaften Frieden mit der Natur schließen (und nicht nur kurze Kampfpausen vereinbaren). Unter einer naturschutzpolitischen Perspektive bedarf es politisch handlungsfähiger Kollektive (Staaten und Staatenbünde), die im Medium des Völkervertragsrecht globale, kontinentale, nationale und regionale Schutzziele vereinbaren und umsetzen. Die wohlhabenden Demokratien des Nordens sollten hierbei engagierte Vorreiterrollen übernehmen. Literatur Blackbourn, David (2007): Die Eroberung der Natur. München: Deutsche Verlagsanstalt. Cafaro, Philip, Sandler, Ronald (Eds.) (2005): Environmental Virtue Ethics. Lanham: Rowman & Littlefield. Callicott, J. Baird (1980): Animal Liberation: A Triangular Affair. Environmental Ethics, Vol. 2, No. 4, S. 311-338. Conwentz, Hugo (1904): Die Gefährdung der Naturdenkmäler und Vorschläge zu ihrer Erhaltung. Berlin. Dallmeyer, Dorinda (Ed.) (2003): Values at Sea. Athens and London: University of Georgia Press. Donaldson, Sue, Kymlicka, Will (2013): Zoopolis. Berlin: Suhrkamp. Engels, Eve-Marie (2016): Biozentrik. In: Ott, Konrad, Dierks, Jan, Voget-Kleschin, Lieske (Hrsg) (2016): Handbuch Umweltethik. Stuttgart: Metzler, S. 161-168 Gorke, Martin (2010): Eigenwert der Natur. Stuttgart: Hirzel. Günzler, Claus (2016): Albert Schweitzer. 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Article
Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2018-07-05T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/umwelt/bioethik/272093/naturschutztheorie/
Was ist eigentlich falsch daran, Felsformationen in Steinbrüche zu verwandeln oder Raubtiere wie Wölfe auszurotten? Von Anfang an musste der Naturschutz die Begründungslast übernehmen, da er sich gegen Praktiken richtete, die dem Menschen nutzten. Wi
[ "Bioethik", "Naturschutztheorie", "Naturschutz", "Umweltethik" ]
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Kinder- und Jugendforen als Beispiel neuer Formen der politischen Öffentlichkeit | Partizipation von Kindern und Jugendlichen | bpb.de
I. Einleitung In den letzten Jahren sind auf kommunaler Ebene zahlreiche neue, institutionalisierte und direkte Formen der politischen Öffentlichkeit entstanden. Zu nennen sind hier z. B. das Bürgerbegehren, der Bürgerentscheid, die Mediationsverfahren, die Zukunftswerkstätten oder die Planungszellen. Sie sind keine Protest- oder Widerstandsformen im ursprünglichen Sinne, sondern es sind partizipative Verfahren, die erst entstehen konnten, weil für das zivilgesellschaftliche Engagement eine institutionalisierte Form der politischen Öffentlichkeit geschaffen werden musste. Eine Partizipation der BürgerInnen ist als fester Bestandteil der Entscheidungsfindung in unterschiedlichen Politikfeldern etabliert. Interner Link: PDF-Version: 55 KB Die direkte Partizipation der BürgerInnen ist gesetzlich und institutionell in der BRD auf kommunaler Ebene am deutlichsten abgesichert. Für die Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen gibt es allerdings weit weniger Möglichkeiten der politischen Beteiligung, abgesehen davon, dass sie nicht das repräsentative politische System beeinflussen können. In letzter Zeit werden deshalb vor allem in Städten Versuche unternommen, dieses institutionelle Defizit zu kompensieren. Neben den so genannten parlamentarischen Formen der politischen Partizipation wurden in mehreren bundesdeutschen Städten vor allem Foren und projektorientierte Beteiligungsformen gegründet, die den Kindern und Jugendlichen eine Partizipation in der politischen Öffentlichkeit zugestehen sollen. II. Die Situation von Kindern und Jugendlichen in Städten Von der Ausdifferenzierung gegenwärtiger Gesellschaften in verschiedene, formal-rationale Subsysteme ist das Leben der Menschen in Städten in besonderem Maße betroffen. Dies sind bekanntlich die Orte, an denen gesellschaftliche Veränderungen am ehesten und am deutlichsten sichtbar werden. Der Umbau der Industriegesellschaft, der sowohl durch eine De-Industrialisierung als auch durch eine Neu-Industrialisierung gekennzeichnet ist, lässt sich vor allem in Städten ablesen. Nicht mehr die Fabrikgebäude kennzeichnen das Stadtbild, sondern moderne Dienstleistungs-, Freizeit- und Einkaufszentren. Zwar werden neue Industriezweige gegründet, diese folgen dank der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien jedoch nicht mehr den traditionellen Standortvorgaben. Sie siedeln sich an den Randbereichen der Städte an. Ein Ergebnis dieses Wandels ist, dass es neben der räumlichen Trennung zwischen Arbeiten und Wohnen nun eine weitere Trennung zwischen Wohnen, Arbeiten und der Befriedigung von Konsum- bzw. Freizeitbedürfnissen gibt. Die Folgen dieser Veränderungen sind für jeden Einzelnen spürbar: Die Städte werden immer anonymer, alles wird automatisiert und "verregelt", sodass dem Einzelnen ständig neue Kompetenzen abverlangt werden, um den Alltag im Quartier meistern zu können. Die Menschen werden dabei immer mehr zu Objekten degradiert, sie nehmen sich nicht mehr als handelnde, als eigenständige Konstrukteure ihres Alltags wahr, sondern nur noch als Wesen, über die bestimmt, für die gehandelt und mit denen umgegangen wird. Als Reaktion auf diese Entwicklung beobachten wir eine zunehmende Flucht ins Private, in Gruppen Gleichaltriger - so genannte peer-groups - oder in spezialisierte, individuelle Lebensstile und in die Beschäftigung mit Medien, welche die zwischenmenschliche Kommunikation ersetzen - Letzteres insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Globalisierung, der Individualisierung und der Pluralisierung sind alle Generationen betroffen. Mit den Ambivalenzen, die sich aus diesen Rahmenbedingungen ergeben - auf der einen Seite eine Verbesserung der Bildungschancen, Zunahme von Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern, Einkommensverbesserungen etc., auf der anderen Seite der Verlust traditioneller Bindungen, die Verlängerung der Ausbildungszeit, Pluralisierung von Wertorientierungen etc. -, sind auch Kinder und Jugendliche konfrontiert. Sie sind es, die sich nun im gesellschaftlich abgesteckten Rahmen wählen bzw. selbst entwerfen können, aber auch müssen. Als Reaktion auf die aus den Ambivalenzen resultierenden Probleme (die Chancen werden häufig ignoriert) wird Kindern und Jugendlichen aus der Sicht von WissenschaftlerInnen nicht selten ein Desinteresse an Politik attestiert. Das auch mit dem Schlagwort der "Politikverdrossenheit" bezeichnete Phänomen des Rückzugs in die Privatsphäre kennzeichnet jedoch gerade bei den Kindern und Jugendlichen nicht eine Verdrossenheit gegenüber Politik schlechthin, sondern eher gegenüber den RepräsentantInnen der Politik, den Parteien sowie PolitikerInnen oder etwas abstrakter: gegenüber dem gegenwärtigen politischen System der Repräsentation. Was sich schließlich hinter diesen scheinbaren "Ermüdungserscheinungen" verbirgt, ist nicht so sehr die Übersättigung durch Politik, sondern ein Wunsch nach eigener, direkter Partizipation: Obwohl von ihnen eine positive Einstellung zur Demokratie erwartet oder gar verlangt wird, enthält man ihnen eine tatsächliche Beteiligung an ihr vor. Alle betonen, dass man Kinder und Jugendliche frühzeitig an demokratische Strukturen gewöhnen und Gelegenheiten schaffen muss, damit sie sich mit diesen vertraut machen, Demokratie üben können. Tatsächlich wird ihnen dieses Experimentierfeld jedoch versagt, und man vertröstet sie auf später bzw. man macht ihnen a priori glaubhaft, dass nur eine indirekte Partizipation durch die Wahl des Parlaments auf den entsprechenden territorialen Ebenen sinnvoll und praktikabel sei. Einen möglichen Ausweg aus der desolaten Situation der politischen Partizipation von Kindern und Jugendlichen sollen spezielle Partizipationsformen für Kinder- und Jugendliche bieten. III. Kinder- und Jugendforen als neue Form der politischen Partizipation Seit Anfang der achtziger Jahre werden in einigen Städten der Bundesrepublik neue Formen der gesellschaftlichen Partizipation erprobt, die auf eine stärkere Einbindung von Kindern und Jugendlichen in partizipative Prozesse zielen. So sind zunächst in einigen kleineren Städten und Gemeinden, später auch in Großstädten Kinderbüros, Kinderbeauftragte, Kinderversammlungen, Kinder- und Jugendparlamente, -beiräte oder -foren gegründet worden, um der so genannten Politikverdrossenheit der Kinder und Jugendlichen entgegenzuwirken. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die vielfältigen Formen der politischen Partizipation für Kinder und Jugendliche, ihre Hauptmerkmale und die in ihnen behandelten Themen. In einer empirischen Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts von 1999 wurde festgestellt, dass in über einem Drittel (38 Prozent) der Kommunen Beteiligungsformen für Kinder und Jugendliche bereits existieren. Dabei spielen Großstädte eine Vorreiterrolle: Je größer die Städte, desto ausgeprägter ist das Bemühen, Beteiligungsformen zu initiieren, lautet ein Fazit der Studie. Das Angebot an direkten Formen, wie die Foren, übertrifft sogar das Angebot der repräsentativen Formen wie die Kinder- und Jugendparlamente oder -gemeinderäte. Am häufigsten etablieren sich Partizipationsmöglichkeiten als Projekte, die thematisch und zeitlich begrenzt sind und in der Regel in so genannte Zukunftswerkstätten übergehen. Sie beziehen sich meist auf die Partizipation an Gestaltungsprozessen, die insbesondere für Kinder und Jugendliche relevant sind. Das gilt beispielsweise für den Bau von Freizeiteinrichtungen und Spielplätzen. Von den meisten partizipativen Verfahren wird berichtet, sie seien eine gute Möglichkeit, Kindern und Jugendlichen Verantwortung zu übertragen. Dadurch habe sich auch ihr Verhältnis zu öffentlichen Räumen stark verändert. Entsprechende Beteiligungsformen werden meist von engagierten, sozialpädagogisch geschulten und politisch orientierten Einzelpersonen geschaffen, die in der fehlenden Partizipation von Kindern und Jugendlichen den entscheidenden Grund für ihre ungenügende Integration sehen. In letzter Zeit gehen solche Initiativen aber auch verstärkt auf das Engagement von Kindern und Jugendlichen selbst zurück. Diese wenden sich in der Regel an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, von denen sie hoffen, dass sie sich für ihre Belange einsetzen. Auch in Köln gibt es seit 1997 solche Kinder- und Jugendforen, die vom Kölner Amt für Kinderinteressen eingerichtet und vom Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Köln wissenschaftlich begleitet wurden. Ausschlaggebend für das Modellprojekt war die Feststellung, dass solche Kinder- und Jugendforen eine niedrigschwellige und deshalb geeignete Form der gesellschaftlichen Partizipation von Kindern und Jugendlichen darstellen sowie den Bedürfnissen und realpolitischen Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen nahe kommen. Die Foren fanden zunächst in zwei - sozialstrukturell betrachtet - sehr unterschiedlichen Bezirken statt, in einem traditionellen Arbeiterstadtteil im rechtsrheinischen Köln-Kalk, der aufgrund der bekannten wirtschaftlichen Transformationsprozesse überdurchschnittlich stark von Arbeitslosigkeit betroffen ist und einen hohen Anteil an MigrantInnen aufweist, und in Köln-Sürth, einem Vorort im wohlhabenden Süden Kölns, in dem vornehmlich Kinder und Jugendliche der Mittelschichten und von AkademikerInnen wohnen. Sie wurden jeweils von ca. 30 Kindern und Jugendlichen besucht, allerdings mit einer recht unterschiedlichen Kontinuität. Während die Motivation der TeilnehmerInnen an dem Forum in Köln-Sürth kontinuierlich als sehr hoch einzuschätzen war, schwankte die Bereitschaft der Kinder und Jugendlichen bei dem Kalker Forum erheblich. Das Kalker Forum wurde wegen TeilnehmerInnenmangel vor kurzem sogar aufgelöst. Die Kinder- und Jugendforen sind öffentlich, d. h., Erwachsene können als ZuhörerInnen teilnehmen. VertreterInnen aus Politik und Verwaltung sollen als ExpertInnen für bestimmte Fragen und Probleme herangezogen werden. Zudem gibt es für jedes Forum feste Ansprechpartner aus der jeweiligen Bezirksverwaltung. Eine erwachsene Person fungiert als Moderator oder Moderatorin bei den Foren. Sie ist ausschließlich den Interessen der Delegierten verpflichtet und soll ihnen bei der Durchführung der Treffen helfen. Die Themen der Foren sind Freizeit, Schule und Verkehr. Sie repräsentieren die unmittelbaren, persönlichen und konkreten Belange der beteiligten Kinder und Jugendlichen. Die Foren finden zweimal pro Jahr statt. Zwischendurch gibt es Treffen von Arbeitsgruppen, in denen die Kinder und Jugendlichen zu einem Thema oder Projekt inhaltlich arbeiten, und es gibt Zusammenkünfte von Arbeitsgruppen, in denen Kinder und Jugendliche ggf. mit Unterstützung Erwachsener die Treffen organisatorisch vorbereiten (Tagesordnung entwerfen, ExpertInnen sowie PolitikerInnen einladen etc.). Auf den Foren tragen die TeilnehmerInnen der Vorbereitungsgruppe die dort ausgehandelten Themen und Anliegen vor und bitten die eingeladenen ExpertInnen und PolitikerInnen anschließend um ihre Stellungnahme. Sie sollen dann einschätzen, ob und in welchem Umfang die Anliegen von den entsprechenden Behörden umgesetzt werden können. Von Beginn des Modellprojekts an war eine begleitende Evaluation vorgesehen. Zunächst hatte die wissenschaftliche Begleitung die Aufgabe herauszufinden, inwieweit die Kölner Kinder- und Jugendforen tatsächlich eine alters- und situationsangemessene Form von Öffentlichkeit herstellen kann. Oder anders gesagt: Bieten die Foren den Kindern und Jugendlichen tatsächlich eine Möglichkeit, einen fairen und gleichberechtigten Aushandlungsprozess zu vollziehen? Zu erkunden war deshalb, ob solche Maßnahmen zur Entstehung bzw. zur Verfestigung einer diskursiven Konfliktregelung beitragen, ob sie gegebenenfalls modifiziert oder ob ganz andere Maßnahmen erprobt werden müssen. Zudem hatte sie die Aufgabe, die Maßnahme unter sozialpädagogischem Blickwinkel zu untersuchen. Hier ging es konkret darum herauszufinden, welche neuen Fertigkeiten die Kinder und Jugendlichen im Rahmen einer solchen Maßnahme entwickeln konnten. Berücksichtigt werden musste dabei zunächst die Herkunft der Beteiligten (Milieu, Bildung etc.). Erkundet werden mussten zudem die sozialisatorischen Effekte der Teilnahme an solchen Gesprächen. Hier ging es darum zu erfahren, welchen Beitrag Foren zur politischen Bildung, zur Präsentation und Durchsetzung eigener Interessen und zu selbstbestimmtem Handeln leisten können. Eine weitere, eher soziologische Aufgabe war die Erkundung von Kommunikationsverläufen. Ziel war es, den Kommunikationsprozess näher zu beleuchten und herauszufinden, welche Erfahrungen von wem unter welchen Bedingungen in das Forum eingebracht, diskutiert und durchgesetzt werden konnten. Zu erkunden war, ob in den Foren jemand ausgeschlossen wurde und ob jede ihre und jeder seinen Anteil am gemeinsam hergestellten Konsens wiederfinden konnte. Konkret ging es darum herauszufinden, ob dieses Angebot niedrigschwellig genug ist, sodass tatsächlich alle Kinder und Jugendlichen des TeilnehmerInnenkreises repräsentiert (Geschlecht, Sozialstruktur, Altersgruppe, Nationalität etc.) waren, also teilnehmen und ihre Interessen angemessen präsentieren konnten. Neben den für diesen Forschungsteil erforderlichen Methoden der teilnehmenden Beobachtung und der Protokollierung der einzelnen Treffen wurden aus dem Kreis der wissenschaftlichen MitarbeiterInnen zudem vertiefende Interviews durchgeführt, die es einerseits ermöglichen sollten, das Beobachtete und schriftlich Fixierte zu ergänzen, und andererseits Auskunft geben sollten über die individuelle Lebenssituation der Befragten, ihre Motivation für die Teilnahme und ihre Einstellung gegenüber den Foren. Beachtet wurde bei der Evaluation auch der Effekt der sozialen Intervention des Interviews, d. h., die soziale Situation des Interviews selbst musste als Bestandteil der Befragung berücksichtigt werden. IV. Die Gründe der Beteiligung der Kinder und Jugendlichen an den Foren Die Evaluation der Interviews hat ergeben, dass die meisten TeilehmerInnen im Verlauf der Foren in ihrer Motivation gestärkt worden sind. Den Kindern und Jugendlichen eine fehlende politische Motivation und eine geringe gesellschaftliche Verantwortung anzulasten entspricht hier einem Mythos. Stattdessen wurde deutlich, dass sie sich mehrheitlich sehr stark für die Geschehnisse in ihrem Stadtteil, insbesondere bezüglich der sie betreffenden Entscheidungen, interessieren. Zu Beginn hatte allerdings vielfach eine geringere Motivation vorgeherrscht, die sich jedoch nach einigen Treffen steigerte. Im Verlauf der Sitzungen haben sich die Kinder und Jugendlichen zusehends stärker für das Geschehen interessiert. Ein Beispiel für Rückschläge ist das Kalker Forum. Maßgeblich für die Entwicklung der Motivation waren zwei Punkte, die für zukünftige Partizipationsformen von Belang sein könnten: 1. Als motivierend kann eine "zurückhaltende Unterstützung" seitens der erwachsenen Begleitpersonen angesehen werden. Haben die Kinder und Jugendlichen tatsächlich die Gelegenheit, ihre Anliegen und Interessen frei zu präsentieren, kann sich ein tragfähiger "zivilgesellschaftlicher Kommunikationszusammenhang" bilden. Von großer Bedeutung ist auch, dass ihre Forderungen ernst genommen und politisch umgesetzt werden bzw. ihnen verständlich gemacht wird, warum und aus welchen Gründen eine bestimmte Forderung nicht umgesetzt werden kann. Dabei erweist sich der Grund "kein Geld da" stets als äußerst unverständlich. 2. Als demotivierend müssen mehrere Aspekte angeführt werden. Zunächst stellt sich das Problem des mangelhaften "framing". Schon die Wahl des Ortes der Treffen ist wichtig. In Kalk fanden die Treffen in einem Hinterzimmer des Bezirksrathauses statt. Weder konnten sich die Kinder und Jugendlichen dort wohl fühlen, sodass der Aspekt der Niedrigschwelligkeit nicht eingelöst werden konnte, noch konnten sie in der Wahl des Ortes eine angemessene Ernsthaftigkeit erkennen. Ein weiterer Aspekt ist, dass im Kalker Forum die Kinder und Jugendlichen nicht ausreichend die Gelegenheit hatten, ihre individuellen Anliegen in die Diskussion einzubringen. Die Dominanz der DiskussionsleiterInnen war unübersehbar. Festgehalten werden muss auch, dass die von den Kindern und Jugendlichen eingebrachten Themen den Rahmen des Forums teilweise sprengten. Themen wie Arbeitslosigkeit, Verarmungsprozesse oder Fremdenfeindlichkeit sind Themen, die ein derartiges Forum überfordern. Hier zeigen sich die Grenzen solcher Partizipationsformen, die verdeutlichen, dass politische Partizipation sozialpädagogische Tätigkeiten nicht ersetzen kann. Daraus den Schluss zu ziehen, dass direkte Partizipationsformen nicht eine allgemeine und für alle Themen unvoreingenommene und sinnvolle Methode der Bürgerbeteiligung sein können, halte ich dennoch für überzogen. Bürgerschaftliches Engagement ist keine Frage des Habitus, sodass derartige Partizipationsformen nur von Angehörigen bürgerlicher Schichten genutzt werden könnten. Denn auch die Kinder und Jugendlichen aus dem unteren Schichtengefüge kennen ihre Probleme und meist auch deren Ursachen ziemlich genau. Zudem wissen sie meist, wie sie selbst damit umgehen und "Wege des Überlebens" finden können. Insgesamt scheint in sozial benachteiligten Quartieren eine Kombination aus Foren und Gemeinwesenarbeitsprojekten sinnvoll. Während von sozialpädagogischer Seite Unterstützung in sozialen Fragen gegeben wird, sollen die Foren die Möglichkeit bieten, den Kindern und Jugendlichen Gehör für ihre individuellen Anliegen und Interessen zu verschaffen. V. Foren für Kinder und Jugendliche: Eine erfolgversprechende Form direkter Partizipation? Nach Abschluss der wissenschaftlichen Evaluation lässt sich als erstes Ergebnis festhalten, dass solche Foren einen erheblichen Beitrag zur Integration von Kindern und Jugendlichen in die Gesellschaft leisten können. Demotivierende Strategien sollten allerdings in jedem Fall vermieden werden. Um den Alibi-Effekt einer solchen Partizipationsform zu verhindern, ist eine Gratwanderung notwendig, bei der Prozesse der diskursiven Konfliktregelung (arguing) gefördert und eine elitengesteuerte Interessenvertretung (bargaining) verhindert werden. Die MediatorInnen müssen sensibel genug sein, um zu verstehen, dass Kinder und Jugendliche eigene Räume brauchen, in denen sie ohne Obhut Themen aufwerfen, Fragen stellen, sich austauschen und diskutieren können. Und auch die Wahl des Ortes ist symbolisch und deshalb nicht zu unterschätzen. Geeignet sind deshalb vor allem Räume, in denen sich die Beteiligten wohl fühlen können und die bei ihnen einen guten Ruf genießen. Summa summarum sind solche Beteiligungsformen für Kinder und Jugendlichen vielversprechend. Immer wieder konnten sie zeigen, dass sie ihre Anliegen fair und ohne Ressentiment und Konkurrenzgehabe in die Öffentlichkeit transportieren können. Dabei sind sie sogar in mehrfacher Hinsicht in der ExpertInnenrolle: Zunächst einmal sind sie es, die ihre eigenen alltäglichen Anliegen am authentischsten in die Öffentlichkeit transportieren können. Und auch methodisch scheinen sie intern realistische Verbesserungsvorschläge einbringen zu können. Nichts scheint sie deshalb so sehr zu motivieren wie die Möglichkeit, selbst an Entscheidungsprozessen teilnehmen und teilhaben, an die Öffentlichkeit treten zu können und Stellungnahmen zu den eigenen Anliegen einzufordern. Als Fazit der Evaluation lässt sich bestätigen, dass eine direkte politische Partizipation auf der einen Seite notwendiger denn je und auf der anderen Seite bei Kindern und Jugendlichen auch gefragter denn je ist. Die Berücksichtigung ihres spezifischen Alltagswissens ist als Maßstab jeder Intervention zu betrachten, wenn es um für sie relevante Entscheidungen geht. Partizipation ist somit in erster Linie eine politische Aufgabe, die dazu beitragen kann, Kinder und Jugendliche erfolgreich in demokratische Verfahren einzubinden. Sie ist auch eine sehr wichtige pädagogische Aufgabe, weil durch Partizipation nicht nur wichtige Lernziele der politischen Bildung (Mündigkeit, Emanzipation etc.) erreicht werden können, sondern dem Abgleiten in typische Desintegrationsprozesse vorgebeugt werden kann. Partizipation hat eine präventive Funktion, d.h., sie schafft eine neue, sogar freiwillig gewählte Solidarität, die - angesichts des Verlustes traditioneller Bindungen - einen außerordentlichen Beitrag zu einer erfolgreichen Inklusion von Kindern und Jugendlichen leisten kann. Das Spannungsverhältnis, in dem sich Kinder und Jugendliche zwischen dem Schutz durch Erwachsene auf der einen und Autonomiebestreben auf der anderen Seite befinden, wird sich aufgrund zunehmender Partizipationsmöglichkeiten verändern. Die für unsere Gesellschaft charakteristische widersprüchliche Logik von Bevormundung/Edukation auf der einen und Autonomie/Individualität auf der anderen Seite wird durch die Partizipationsrechte und -formen auf ein anderes Niveau gehoben. Zwar ist dadurch nicht gewährleistet, dass Kinder und Jugendliche automatisch vernünftiger, ökologischer oder gerechter handeln werden. Da das Wohl der Kinder und der Jugendlichen aber stärker durch sie selbst mitbestimmt wird, sind sie selbst verantwortlicher für ihr Tun. Die in pädagogischen Zielsetzungen versteckte Macht der Erwachsenen über die Kinder und Jugendlichen wird dadurch wesentlich eingeschränkt. Die Reduktion der institutionalisierten Macht einer Bevölkerungsgruppe über andere Gruppen kann für eine demokratische Gesellschaft jedoch nur förderlich sein. Kinder- und Jugendforen stellen deshalb für die Zukunft eine Erfolg versprechende Möglichkeit dar, weitere Formen der direkten Demokratie zu etablieren. Vgl. ausführlicher zu den einzelnen Partizipationsformen: Hellmut Wollmann, Kommunalpolitik: Mehr (direkte) Demokratie wagen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 24-25/99, S. 16 ff., und auch den Sammelband von Peter Henning Feindt/Wolfgang Gessenharter/Markus Birzer/Helmut Fröchling (Hrsg.), Konfliktregelung in der offenen Bürgergesellschaft, Dettelbach 1996, S. 169-189. Zwar haben Jugendliche ab 16 Jahre inzwischen in einigen Bundesländern (wie z. B. in NRW, Niedersachsen und Schleswig-Holstein) das Recht, an Kommunalwahlen teilzunehmen. Obwohl dies sicherlich eine sinnvolle und richtungweisende Reform ist, scheint sich der Trend zur aktiven und direkten Beteiligung auch bei Jugendlichen durchzusetzen. Vgl. Hartmut Häußermann/Walter Siebel, Neue Urbani"tät, Frankfurt/M. 1987, S. 63 f. Nutznießer dieser Entwicklung sind die Gemeinden nahe den Großstädten. Sie profitieren nicht nur von den zusätzlichen Steuern, sondern auch von dem nahen und attraktiven Kulturangebot der Großstädte, für das sie selbst keine Kosten aufbringen müssen (vgl. hierzu Walter Hanesch, Konzeption, Krise und Optionen der sozialen Stadt, in: ders. [Hrsg.], Überlebt die soziale Stadt? Konzeption, Krise und Perspektiven kommunaler Sozialstaatlichkeit, Opladen 1997, S. 31). Vgl. Ulrich Beck, Die Risikogesellschaft, Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986; ders./Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten, Frankfurt/M. 1994; Wilfried Ferchhoff/Georg Neubauer, Patchwork-Jugend. Eine Einführung in postmoderne Sichtweisen, Opladen 1997, S. 39 ff. Vgl. Arthur Fischer/Richard Münchmeier, Die gesellschaftliche Krise hat die Jugend erreicht. Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse der 12. Shell Jugendstudie, in: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.), Jugend "97. Zukunftsperspektiven. Gesellschaftliches Engagement. Politische Orientierungen, Opladen 1997, S. 11-24. Die Autoren weisen darauf hin, dass bisher unterstellte (Bedin"gungs-)Zu-sam"men"hänge (wie z. B. politisches Wissen und die Bereitschaft, sich zu engagieren) und die üblichen binären Schemata "politisch-unpolitisch" oder "engagiert-desengagiert" auf die heutige Gesellschaft und insofern auch auf die heutige Jugend nicht mehr passen. "Der" Jugend eine so genannte "Politikverdrossenheit" zu bescheinigen, halten sie für zu kurz gegriffen. Stattdessen erkennen sie in den Haltungen der Jugendlichen eher eine "Jugendverdrossenheit der Politik". Obwohl die so genannte Politikverdrossenheit als Motiv für die Einführung solcher Formen im Grunde genommen auf einer verkürzten oder gar falschen Analyse der Einstellungen von Kindern und Jugendlichen zur Politik basiert, könnten die Foren dennoch ein richtiges und effektives Mittel sein, das politische Bewusstsein und die politische Öffentlichkeit von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Vgl. hierzu Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in der Kommune. Ergebnisse einer bundesweiten Erhebung, München 1999, S. 18, S. 30 ff. (Autorinnen: Claudia Franziska-Bruner/Ursula Winklhofer/Claudia Zinser). 9ƒIn Anlehnung an Wolf-Dietrich Bukow, Zum gesellschaftlichen Standort von Kinder- und Jugendforen. Eine ers"te Orientierung, in: Wolf-Dietrich Bukow/Susanne Spindler (Hrsg.), Die Demokratie entdeckt ihre Kinder. Politische Partizipation durch Kinder- und Jugendforen, Opladen 2000, S. 29. Eine vergleichbare Übersicht über Beteiligungsmodelle für Kinder und Jugendliche bietet Richard Schröder, Kinder reden mit! Beteiligung an Politik, Stadtplanung und Stadtgestaltung. Weinheim, Basel 1995, S. 55 ff. 10ƒIm Grunde genommen wird mit der Wahl zwar über "alles" entschieden. Berücksichtigt man jedoch die Perspektive der Jugendlichen, dann kann man mit der Wahl über "nichts" entscheiden, weil die Art der Entscheidung, die eine Wahl ermöglicht, den Ansprüchen der Jugendlichen nicht wirklich gerecht wird. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag von Wolf-Dietrich Bukow in diesem Heft. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu den Beitrag von Stefan Danner in diesem Heft. Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojekts sind von StudentInnen der Universität zu Köln neben der Beobachtung und Protokollierung der einzelnen Forentreffen vierzehn standardisierte Interviews mit Kindern und Jugendlichen, die an den Foren teilgenommen haben, durchgeführt worden. Ich beziehe mich an dieser Stelle vor allem auf die Motivationen der Beteiligten, die aus den Protokollen zu den einzelnen Forensitzungen und aus den Interviews ersichtlich werden. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu wiederum den Beitrag von Stefan Danner in diesem Heft. Bei der abschließenden Gesamtevaluation beziehe ich mich auf die Protokolle, die Interviews und den Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung. Zwar wird von pädagogischer Seite häufig das Argument eingebracht, dass Kinder nicht über die entsprechenden Kapazitäten und Kompetenzen verfügten, die erforderlich sind, um aktiv am politischen Geschehen partizipieren zu können. Die Altruismusforschung (vgl. hierzu Gertrud Nunner-Winkler, Wissen und Wollen. Ein Beitrag zur frühkindlichen Moralentwicklung, in: Axel Honneth u. a. (Hrsg.), Zwischenbetrachtungen. Im Prozess der Aufklärung, Frankfurt/M. 1989, S. 574-600; Lothar Krappmann/Hans Oswald, Alltag der Schulkinder. Beobachtungen und Analysen von Interaktionen und Sozialbeziehungen, Weinheim - München 1995, S. 88, 158) hat jedoch nachgewiesen, dass auch Kinder bereits über ein klares Konzept moralischer Regelungen und über nichtinstrumentelle Motive des Handelns verfügen und auch Empathie zeigen können. Maßgeblich ist, dass die politischen Entscheidungen durch die neuen partizipativen Verfahren besser legitimiert werden. Eine verbesserte Legitimation politischer Entschei"dungen könnte dazu führen, dass die Akzeptanz gegenüber den Entscheidungsträgern des repräsentativen politischen Systems zunimmt. Durch eine erfolgreiche Kooperation könnte zudem auch das Bild von den Politikern und Politikerinnen als "denen da oben" revidiert werden.
Article
Ottersbach, Markus
2021-12-07T00:00:00
2011-10-04T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/25944/kinder-und-jugendforen-als-beispiel-neuer-formen-der-politischen-oeffentlichkeit/
Seit Beginn der achtziger Jahre sind auf kommunaler Ebene zahlreiche neue partizipative Verfahren eingerichtet worden. Sie sollen dem zivilgesellschaftlichen Engagement eine institutionalisierte Form der politischen Öffentlichkeit einräumen.
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Sozialdemokratie und Menschenbild | Politische Grundwerte | bpb.de
Wie ein erratischer Block behauptet die Sozialdemokratie eine Sonderstellung in der Geschichte der deutschen Parteienlandschaft: Die sich nach dem Ende des Sozialistengesetzes 1890 SPD nennende Massenpartei hat ihre Grundwerte und Grundüberzeugungen seit ihrer Gründung bis in die Gegenwart unverändert beibehalten. Woran lag es, dass trotz aller Niederlagen, Katastrophen und Phasen der Desorientierung in ihrer 150-jährigen Geschichte die SPD den mit ihrem Namen verbundenen Wertehorizont der "Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität" bewahren konnte? Welche Rolle spielte ihr Menschenbild in diesem Zusammenhang? Zwar umfasst das Menschenbild immer nur die soziokulturelle Dimension des "ganzen" Menschen, die mit seiner ersten animalischen, das heißt biologischen Natur nichtdualistisch verzahnt ist. Aber zugleich ist zwischen dem Menschenbild und dem Wertehorizont zu unterscheiden, den man mit ihm assoziiert. Zwar können die Werte einer sozialen Bewegung durch axiomatische Gründe vorgegeben sein. Doch das Menschenbild wird in weitaus höherem Maße von gesellschaftlichen und historischen Kontexten geprägt, innerhalb derer politisches Handeln stattfindet. Daher ist es im sozialdemokratischen Zusammenhang angemessener, nicht von "dem" einen gültigen Menschenbild, sondern von auf veränderte historische Kontexte reagierenden Menschenbildern zu sprechen. Deren aktuelle Bedeutung kann nur dann hinreichend erfasst werden, wenn Klarheit über ihre historische Entwicklung besteht. Das sozialdemokratische Menschenbild vor 1933 ist ohne seine Verwurzelung in der evolutionären Naturgeschichte nicht zu verstehen. Tatsächlich stieß Charles Darwins Abstammungslehre in der sozialdemokratischen Arbeiterschaft und bei den parteinahen Intellektuellen auf großes Interesse. Aber zugleich war für sie ebenso klar, dass der Mensch nicht nur "Natur" im Sinne seines physiologischen Organismus ist, sondern dass sein eigentliches Leben in einer historisch und gesellschaftlich imprägnierten Sphäre der "Kultur" stattfindet. Nicht zufällig waren die wesentlichen Geburtsstätten der Sozialdemokratie die Arbeiterbildungsvereine. Ebenso wenig kann überraschen, dass diese nichtdualistische Doppelung die entscheidende Trennungslinie begründete, welche die überwiegende Mehrheit der Sozialdemokratie vom liberalen Rechtsdarwinismus einerseits und vom sozialistischen Linksdarwinismus andererseits trennte. Beide Strömungen versahen die Formel vom "Kampf ums Dasein" zwar mit einer unterschiedlichen Stoßrichtung: Die einen nutzten sie zur Legitimierung des kapitalistischen Konkurrenzprinzips, die anderen zu dessen Delegitimierung, da die Eigentumsverfassung der bürgerlichen Gesellschaft das natürliche Selektionsprinzip im Interesse der Kapitaleigner außer Kraft setze. Doch den Konsens beider Richtungen, die organisch-natürlichen Kategorien der Evolutionstheorie auch auf die Gesellschaft anwenden zu können, lehnte die große Mehrheit der Sozialdemokratie ab. Für die gesellschaftliche Analyse war die von Karl Marx inaugurierte Gesellschaftstheorie zuständig, der nicht mit biologischen, sondern mit nichtgenetisch determinierten sozio-ökonomischen Kategorien argumentierte. Andererseits sensibilisierte der Rekurs auf die Evolution seiner biologischen Verwurzelung das sozialdemokratische Bild des Menschen nicht nur für die altruistischen, sondern auch für die aggressiven Seiten seiner Natur. Nur die Demokratie schafft institutionelle Voraussetzungen für kommunikative Strukturen, die als Korrektive aggressiven Verhaltens wirken können, sodass die individuelle Freiheit und, mit dieser verbunden, die universalistische Gleichheit der Lebenschancen rechtlichen Schutz genießen und eine verlässliche Möglichkeit auf Verwirklichung haben. Die sozialdemokratische Entscheidung für die Demokratie vor 1914 und in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen schuf zugleich die entscheidende Distanz zu den elitären Menschenbildern des Faschismus und des Kommunismus, welche die liberalen Grund- und Menschenrechte zerstörten. Beider Konzeptionen eines "Neuen Menschen" konfrontierte sie das demokratische Postulat der sozialstaatlich verbürgten Existenzsicherung und der Bildungschancen für alle, um die Einzelnen zu ihrer Autonomie und Würde zu verhelfen. Zwar öffnete sich in der SPD wie auch in anderen sozialdemokratischen Parteien Europas eine linke sozialdarwinistische Strömung gegenüber dem weltweiten Diskurs über Rassenhygiene und Eugenik. Aber sie konnte zu keinem Zeitpunkt eine nennenswerte Akzeptanz erlangen. Alle sozialdemokratischen Parteiprogramme erteilten rassistischen Orientierungen sowie kolonialistischen und imperialistischen Begehrlichkeiten ebenso eine Absage wie rassehygienischen und eugenischen Programmen. Stattdessen dominierten Forderungen nach dem allgemeinen Wahlrecht und einer Sozial- und Bildungspolitik, die allen zugutekommen sollte. Nicht einer natürlichen Ungleichheit aufgrund genetischer Faktoren wurde das Wort geredet, sondern der universalistischen Forderung nach gleichen Rechten und Pflichten der Staatsbürger. Das Gothaer Programm (1875) hob die Bedeutung der Arbeit und nicht der genetischen Substanz als "Quelle allen Reichtums und aller Kultur" hervor. Es komme darauf an, so das Erfurter Programm (1891), "jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung" abzuschaffen, "ob sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse (richtet)". Was die Sozialdemokratie bei der Erkenntnis des evolutionär gegebenen Aggressionspotenzials nicht voraussah, war die Ungeheuerlichkeit der Ermordung von sechs Millionen Juden im industriellen Maßstab. Zu ausschließlich analysierte sie den deutschen Faschismus als ein primär sozioökonomisches Phänomen. Eine aggressive Verselbstständigung rassistischer Ideologie, welche auf direktem Weg in den Holocaust führt, hielt sie für unmöglich. Katastrophe des Holocaust Die Erfahrung der Fragilität der menschlichen Vernunft hatte offenbar für die exilierten Sozialdemokraten eine so traumatische Wirkung, dass es von möglichen Ausnahmen abgesehen erst nach der Rückkehr aus dem Exil ab 1945 zu einer erneuten Diskussion ihres Menschenbildes kam. Waren angesichts der Katastrophe des Holocaust die aufklärerischen Horizonte, von denen das sozialdemokratische Menschenbild bisher gelebt hatte, zu halten? Welche Modifikationen waren nach einer kritischen Selbstreflexion des Vernunftpotenzials an dem bisher gültigen Menschenbild mit seiner optimistischen Ausrichtung vorzunehmen, wenn es seine Überzeugungskraft nicht einbüßen wollte? Diese Diskussion wurde nicht durch Parteitagsbeschlüsse gesteuert. Ohne auf eine einheitliche Parteimeinung zurückgreifen zu können, meldeten sich einzelne Mandatsträger und der Sozialdemokratie nahestehende Intellektuelle zu Wort. Es gelang ihnen, mit ihren Argumenten auch erheblich auf die öffentliche Meinung einzuwirken. Tatsächlich gab es Diskussionsbeiträge, die wieder bruchlos an den Gedanken der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft vor 1933 anknüpfen wollten. Doch dieser Trend wurde überlagert von der Debatte über die Kollektivschuld der Deutschen im Hinblick auf den systematischen Massenmord an den Juden im "Dritten Reich". So ging Kurt Schumacher einerseits vom Wissen der Deutschen um die Verbrechen der Nazis aus: In dem Maße, wie sie diese Ungeheuerlichkeiten zuließen, depravierten sie zu einem demokratiefremden und von den Werten der "Kulturmenschheit" abweichenden Volk. Andererseits kritisierte er – ähnlich wie Willy Brandt – die Kollektivschuldthese, ohne dass ihm der Widerspruch in seiner Argumentation bewusst geworden wäre. Man forderte Selbstprüfung, Scham und Reue als Voraussetzung für die moralische Gesundung des deutschen Volkes und deklarierte den Erziehungsanspruch der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Diese Debatte hatte gravierende Auswirkungen auf das sozialdemokratische Menschenbild. Eine zeitgemäße Programmatik sei nur möglich, wenn der optimistische Humanismus der Bebelschen Sozialdemokratie im Lichte der Erfahrungen der terroristischen Diktatur des "Dritten Reiches" und der Verbrechen im Zweiten Weltkrieg korrigiert werde. Der Mensch verfüge zwar über ein erhebliches Vernunftpotenzial, aber wenn dieses nicht durch geeignete Institutionen gestützt wird, könne er unter das Niveau von Tieren fallen. Im Vergleich zu der Zeit vor 1933 veränderte sich das Gleichgewicht zwischen dem aggressiven und dem vernünftig altruistischen Potenzial des Menschen zugunsten des Ersteren. Diese Einsicht führte zu zwei weiteren Modifikationen. Einerseits verlor der weltgeschichtlich ausgelegte Fortschrittsglaube der alten Sozialdemokratie seine Überzeugungskraft. Er war nicht mit der Tatsache vereinbar, dass es in einem der kulturell und wissenschaftlich fortgeschrittensten Länder der Welt im Faschismus zu einer Barbarei kommen konnte, wie man sie noch nie erlebt hatte. Andererseits hatte der Stalinismus den Fortschrittsgedanken zur Rechtfertigung seiner totalitären Diktatur und ihrer millionenfachen Opfer delegitimiert. Wenn man außerdem mit der menschlichen Aggressivität als einem dauerhaften Erbe seiner Evolution rechnen muss, ist der Vision eines "Neuen Menschen" der Boden entzogen. Die bereits in der Zwischenkriegszeit erkennbare sozialdemokratische Skepsis gegenüber einer solchen hybriden Selbstermächtigung vertiefte sich. Für die Sozialdemokratie war der Mensch nicht ein von außen zu formierendes Objekt, wie Waldemar von Knoeringen betonte. Vielmehr kam es für sie darauf an, Bedingungen zu schaffen, unter denen "der Mensch und die Menschlichkeit überleben" (Willy Brandt). Dazu bedurfte es zweierlei: einerseits der Rückbesinnung und Erneuerung des axiomatischen Wertehorizontes, der, wie es im Godesberger Programm (1959) heißt, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu "Grundwerte(n) des sozialistischen Wollens" erhebt; andererseits aber auch der Fundierung in einem realistischen Menschenbild. Bei aller Kreativität in der Schaffung einer unsere Zivilisation prägenden Welt der Artefakte bleibt der Mensch ein abgründiges Wesen, das zu Massenmord und zur Zerstörung seiner natürlichen Lebensbedingungen fähig ist. Dieser Erkenntnis trägt das Berliner Programm (1989) Rechnung, wenn es die conditio humana wie folgt beschreibt: "Der Mensch, weder zum Guten noch zum Bösen festgelegt, ist lernfähig und vernunftfähig. Daher ist Demokratie möglich. Er ist fehlbar, kann irren und in die Unmenschlichkeit zurückfallen. Darum ist Demokratie nötig. Weil der Mensch offen ist und verschiedene Möglichkeiten in sich trägt, kommt es darauf an, in welchen Verhältnissen er lebt. Eine neue und bessere Ordnung, der Würde des Menschen verpflichtet, ist daher möglich und nötig zugleich." Sozialdemokratisches Menschenbild heute Die durch die Auschwitz-Erfahrung erfolgte Prägung, wie sie im Berliner Programm ihren Niederschlag gefunden hat, ist unverändert verbindlich. Das Hamburger Programm (2007) übernimmt es ohne Modifikationen genauso wie den auf das Godesberger Programm zurückgehenden Wertekonsens der "Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität". Aber diese Kontinuität kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zu wichtigen Nuancierungen der normativen Grundlagen des sozialdemokratischen Menschenbildes gekommen ist. Als bedeutende Innovation ist der Begründungspluralismus des sozialdemokratischen Wertekanons zu nennen. Das christliche Menschenbild ist axiomatisch auf die theologische Dimension seiner Wertorientierung festgelegt: Der Mensch als das Ebenbild Gottes unterscheidet sich von diesem dadurch, dass er mit dem Stigma der Erbsünde leben muss. Demgegenüber betont die neuere sozialdemokratische Diskussion in Übereinstimmung mit dem Godesberger Programm die plurale Begründung ihres Wertehorizontes: Er hat jüdische, christliche, humanistische, aufklärerische und marxistische Wurzeln. Aus diesem Begründungspluralismus folgt zwar die konsensuale Ablehnung eines säkularen und religiösen Fundamentalismus ebenso wie die ausschließende Funktion einer "deutschen Leitkultur". Doch stehen sich in der Frage der biotechnologischen Eingriffe in den menschlichen Körper (wie in der Abtreibungsfrage) christliche und säkularisierte Positionen kontrovers gegenüber. Dagegen tritt mit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme die Auseinandersetzung mit dem "Neuen Menschen" kommunistischer Provenienz in den Hintergrund. An seiner Stelle ist ab Ende der 1990er Jahre ein anderer Gegner auf der politischen Agenda erschienen: der homo oeconomicus des Neoliberalismus. Dessen Hegemonie entfaltete sich zu einer Zeit, als die rot-grüne Koalition 1998 die Regierungsverantwortung übernommen hatte. Ihre angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die ihr zuzuordnende Steuergesetzgebung und Reformen des Arbeitsmarktes zeigen unübersehbar Einflüsse des neoliberalen Menschenbildes. Doch unterdessen sind Tendenzen erkennbar, die deutlich von der partiellen Übereinstimmung der sozialdemokratischen "Modernisierer" mit dem homo oeconomicus abrücken und dessen Unvereinbarkeit mit dem historisch gewachsenen Menschenbild und dem mit ihm verbundenen Wertehorizont betonen. Einem Freiheitskonzept, das nutzenmaximierende Egoisten im Rahmen marktkonformen Verhaltens und eines deregulierten Staates ohne Rücksicht auf die Interessen der Gesamtgesellschaft zu realisieren sucht, wird die alte sozialdemokratische Maxime entgegengesetzt, dass Freiheit und Gleichheit eine Einheit darstellen, die mit einem universalistisch verstandenen Konzept der "sozialen Gerechtigkeit" konvergieren. Aber Konfliktlinien in dem mit dem Menschenbild verbundenen Wertehorizont sind nicht nur zwischen den politischen Lagern und in der innerparteilichen Diskussion zu erkennen. Gravierend ist auch das drohende Scheitern seiner Akzeptanz in relevanten Teilen der sozialdemokratischen Wählerklientel. In ihrem Umkreis begünstigen Arbeitslosigkeit, mangelnde Bildung, unsichere Arbeitsplätze und lebensweltliche Perspektivlosigkeit populistisch-autoritäre Anspruchshaltungen. Sie reichen von Forderungen nach einer Beendigung der Einwanderungspolitik über Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit bis hin zur Abwertung von Langzeitarbeitslosen und der Diskriminierung von Körperbehinderten: Tendenzen, die an den Grundlagen der Demokratie rütteln. Wie es scheint, stehen die sozialdemokratischen Menschenbilder vor einer neuen Herausforderung. An Erfahrungen, sie zu bewältigen, fehlt es der SPD aufgrund ihrer 150-jährigen Geschichte nicht. Im Folgenden beziehen wir uns auf: Richard Saage/Helga Grebing/Klaus Faber (Hrsg.), Sozialdemokratie und Menschenbild. Histiorische Dimension und aktuelle Bedeutung, Marburg 2012.
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, Helga Grebing | , Richard Saage
2021-06-23T00:00:00
2013-08-12T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/166642/sozialdemokratie-und-menschenbild/
[ "Menschenbild", "Sozialdemokratie", "Karl Marx", "Erfurter Programm", "Godesberger Programm" ]
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Vom Brexit zum Bregret? | Vereinigtes Königreich | bpb.de
Der Austritt aus der Europäischen Union bedeutet für das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland einen der gravierendsten strategischen Pfadwechsel seit dem Zweiten Weltkrieg, mit weitreichenden Auswirkungen auf seine Wirtschaft und Politik sowie seinen Zusammenhalt und seine internationale Stellung. Angesichts des knappen Votums mit 52 zu 48 Prozent für den Brexit ist die genaue Ausgestaltung der Beziehungen zur EU in Großbritannien zu einer scharfen innenpolitischen Konfliktlinie geworden. Dabei ist der Brexit kein einzelnes Ereignis, sondern ein langjähriger Prozess, der sich vom Referendum im Juni 2016 bis zum formellen Austritt im Januar 2020 lange noch innerhalb der EU vollzog und weiterhin anhält. So wird in einzelnen Bereichen bis heute über das neue Verhältnis zur EU verhandelt – bis vor Kurzem etwa auch noch in Bezug auf Nordirland, dessen Grenze zur Republik Irland durch den Brexit zu einer EU-Außengrenze geworden ist. Auch knapp sieben Jahre nach dem Austrittsvotum lässt sich daher nur ein Zwischenfazit ziehen, wie sich der Brexit auf das Vereinigte Königreich, seine Politik und seine Wirtschaft ausgewirkt hat. Eine Herausforderung ist dabei, dass der eigentliche Vollzug des Brexits – mit Austritt aus Binnenmarkt, Zollunion und allen anderen EU-Politiken – nach einer Übergangsphase zum Jahreswechsel 2020/21 stattfand, also inmitten der Covid-19-Pandemie. Viele Effekte des Austritts wurden dadurch überdeckt und ihre Zuordnung erschwert. Folglich sind die eigentlichen Auswirkungen des Brexits weiterhin hoch umstritten. Entscheidung für den harten Brexit Vor einer Analyse der Austrittskonsequenzen ist zu betonen, dass viele der Folgen vor allem mit der Art des Austritts zusammenhängen. Im Wahlkampf vor dem Referendum hatten sich die Brexit-Befürworter ("Vote Leave"-Kampagne) bewusst auf keine Variante der zukünftigen Beziehungen zur EU festgelegt, sondern der britischen Bevölkerung unter anderem einen weitgehend unveränderten Zugang zum EU-Binnenmarkt versprochen. Auch die Regierung unter Premierminister David Cameron – der das Referendum zwar erst ermöglicht hatte, sich aber gegen den Brexit aussprach – hatte keine Vorbereitungen für den Austrittsfall getroffen, obgleich sie stets mit hohen wirtschaftlichen Kosten argumentierte. In der Folge musste im Königreich erst ausgehandelt werden, wie es den Austritt und die zukünftigen Beziehungen zur EU ausgestalten wollte. Die Möglichkeiten reichten dabei von einer engen Anbindung nach dem Modell Norwegens, mit Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum und fast vollständigem Zugang zum Binnenmarkt, über den Abschluss bilateraler Verträge nach Schweizer Vorbild, Gründung einer Zollunion, wie sie zwischen der Türkei und der EU besteht, bis hin zur Aushandlung eines vertieften Freihandelsabkommens, wie es Kanada mit der EU unterhält. Hinzu kam schließlich die Option des No-Deal-Brexits, also ein Austritt ohne Abkommen, bei dem das Vereinigte Königreich ohne jegliche Regelung der künftigen Beziehungen aus der EU gefallen wäre. Innerhalb dieses Spektrums setzte sich Camerons Nachfolgerin Theresa May zunächst für einen Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion ein. Allerdings handelte sie einen Austrittsvertrag aus, der über eine Klausel zur Grenze zur Republik Irland (Nordirland-Protokoll) eine Anbindung an das EU-Zollgebiet und EU-Regularien vorsah, weshalb er mehrfach im britischen Parlament am Widerstand ihrer eigenen Partei scheiterte. Nach dem Sturz von May im Juli 2019 setzten sich die Befürworter eines harten Brexits unter der Führung von Boris Johnson erst in der Konservativen Partei und nach den Neuwahlen im Dezember 2019 auch im Parlament durch. Die dort gewonnene absolute Mehrheit gab Johnson den politischen Rückhalt, einen harten Brexit mit der EU auszuhandeln – zwar mit einem Freihandelsvertrag ohne Zölle oder Mengenbeschränkungen, aber mit einer klaren Trennung von aller EU-Regulierung und dafür der Wiedereinführung weitreichender nichttarifärer Handelshemmnisse. Das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich trat am 1. Januar 2021 vorläufig, am 1. Mai 2021 endgültig in Kraft. Vom Zugang zum EU-Binnenmarkt und weiterer gemeinsamer politischer Zusammenarbeit ist Großbritannien damit weiter entfernt als Norwegen, die Schweiz, die Türkei oder etwa auch die Ukraine. Wirtschaftliche Konsequenzen In der Wirtschaftswissenschaft besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass der Brexit negative ökonomische Konsequenzen für das Vereinigte Königreich hat. In der Politik aber sind das Ausmaß und die Schwere dieser Folgen umstritten. Die immensen Kosten waren schon vor dem Austrittsreferendum das Hauptargument der Befürworter eines Verbleibs. Insbesondere im Warenbereich ist die EU der mit Abstand wichtigste Handelspartner des Vereinigten Königreichs. Hinzu kommt die über Jahrzehnte aufgebaute Verflechtung und gegenseitige Abhängigkeit der britischen Wirtschaft mit den EU-Ländern. Der britische Finanzminister George Osborne warnte daher 2016 vor einem langfristigen Wohlstandsverlust von bis zu sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die britische Volkswirtschaft im Falle eines Austritts. Diese Berechnungen wurden von Brexit-Befürwortern als Angstmacherei ("project fear") abgetan. Sie argumentierten, das Königreich werde durch eine Loslösung von EU-Regulierung und die Umwidmung bisheriger Einzahlungen in den EU-Haushalt – etwa für Investitionen in den chronisch unterfinanzierten National Health Service – gestärkt aus dem Brexit hervorgehen. Mittlerweile haben sich eher die negativen Szenarien bewahrheitet. Unmittelbar nach dem Referendum war ein katastrophaler Schaden noch ausgeblieben: Zwar verlor das Pfund deutlich an Wert, aber es gab zunächst weder eine Rezession noch einen extremen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Tatsächlich verlassen hat Großbritannien die Zollunion und den Binnenmarkt erst zum Ende der Übergangsphase im Januar 2021, als sich ganz Europa bereits mitten in der Corona-Pandemie befand und die Wirtschaft ohnehin stark beeinträchtigt war. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ab Februar 2022 und den damit verbundenen Verwerfungen auf dem europäischen Energiemarkt sowie stark steigender Inflation kamen Herausforderungen hinzu, die alle europäischen Länder wirtschaftlich bis heute belasten. Trotzdem lassen sich im langfristigen Vergleich einige Folgen des Brexits jetzt schon ausmachen: Anfang 2023 ist das Vereinigte Königreich die einzige G7-Wirtschaft, die noch nicht wieder das wirtschaftliche Niveau von 2019, also vor Pandemie und Brexit, erreicht hat. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung prognostiziert zudem, dass die britische Wirtschaft in den kommenden zwei Jahren weniger wachsen wird als jede andere fortgeschrittene Volkswirtschaft, abgesehen vom stark sanktionierten Russland. Die Bank of England nennt den Brexit, insbesondere die damit verbundene dauerhafte Abwertung des Pfundes und den Rückgang an Investitionen, als eine der Ursachen für die aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes. Das ebenfalls unabhängige Office for Budgetary Responsibility geht von einer Brexit-bedingten Schwächung der britischen Wirtschaft um vier Prozent aus. Laut einer Studie des britischen Centre for European Reform hat der Brexit bis Mitte 2022 im Vereinigten Königreich sogar zu einem Wohlstandsverlust von 5,5 Prozent geführt. Dies entspricht in etwa den Kosten, die das britische Finanzministerium 2016 prognostiziert hatte. Die heutige britische Regierung weist diese Berechnungen jedoch von sich und nennt die Pandemie sowie den Krieg in der Ukraine als Hauptursachen der aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Dies erklärt allerdings nicht die Unterschiede zu anderen europäischen Ländern, die ebenfalls unter Pandemie, Kriegsfolgen und Inflation leiden. Die Auswirkungen in Großbritannien unterscheiden sich dabei naturgemäß je nach Sektor und dem Grad vorheriger Integration in den EU-Binnenmarkt. Besonders sticht die britische Automobilindustrie hervor, die tief in transeuropäische Liefer- und Produktionsketten eingebunden ist: 2022 fiel das Niveau der Neuwagenproduktion auf den Stand von 1956, seit 2016 ist sie von 1,3 Millionen auf 775.000 Autos gesunken. Erhebliche Auswirkungen gibt es auch mit Blick auf den Fachkräftemangel. So ist die Arbeitsmigration aus der EU deutlich schwieriger geworden, was unter dem Motto "Take back control" ein Hauptziel der Brexit-Befürworter war. Während die Zuwanderungszahlen aus dem Rest der Welt hoch geblieben sind, hat sich die Einwanderung aus der EU spürbar verringert; zugleich sind viele EU-Bürger – trotz Beibehaltung ihrer Arbeitsrechte durch den Austrittsvertrag – abgewandert. Netto fehlen dem Vereinigten Königreich dadurch rund 330.000 Arbeitskräfte. Ein Bereich, in dem sich die Brexit-Befürworter bestätigt sehen, sind die Handelsabkommen des Vereinigten Königreichs. Mit dem Austritt aus dem Binnenmarkt und der Zollunion ist das Land auch aus allen Handelsverträgen der EU ausgetreten. Dabei ist es in der Übergangsphase gelungen, diese weitgehend in eigene Abkommen zu überführen, zum Teil mit aus Sicht der britischen Regierung besseren Konditionen. Zudem sind weitere Abkommen ausgehandelt worden (Australien) beziehungsweise ist man bei den Verhandlungen weiter fortgeschritten als die EU (Indien). All dies konnte den Verlust der Beteiligung am EU-Binnenmarkt bisher aber bei Weitem nicht kompensieren. Beim Partner mit dem größten wirtschaftlichen Potenzial, den Vereinigten Staaten, ist ein Handelsabkommen weiterhin nicht absehbar. Mehr Aussicht auf Erfolg haben dagegen die britischen Bemühungen um einen Beitritt zum Transpazifischen Freihandelsabkommen (CPTPP). Politische Verwerfungen Mindestens ebenso stark wie die wirtschaftlichen Folgen des Brexits sind seine Auswirkungen auf die britische Politik und den Zusammenhalt im Vereinigten Königreich. Seit dem Austritt aus der EU hat es keine vollständige Legislaturperiode gegeben, stattdessen gab es zwei vorgezogene Neuwahlen (2017 und 2019) sowie Rücktritte von vier Premierministern (David Cameron, Theresa May, Boris Johnson, Liz Truss) und eine Serie von beispiellosen Niederlagen der Regierung trotz Mehrheiten im Parlament. Die erste Phase nach dem Brexit-Referendum war zunächst von heftigen Machtkämpfen in der Konservativen Partei (Tories) gekennzeichnet. Ursprünglich hatte der damalige Premierminister und Parteichef Cameron ein EU-Referendum versprochen, um die innerparteilichen Kämpfe über die EU-Mitgliedschaft zu beenden. Diese Spaltung zeigte sich auch bei der Volksabstimmung selbst: Gut zwei Drittel der Tory-Abgeordneten engagierten sich gegen, aber etwa ein Drittel für den Brexit; die prominentesten Vertreter beider Kampagnen waren mit David Cameron und George Osborne im Remain-Lager sowie Boris Johnson und Michael Gove auf der Vote-Leave-Seite jeweils Tories. Anstatt aber durch das Referendum befriedet zu werden, intensivierte sich der parteiinterne Machtkampf massiv. Im Ringen um die Nachfolge von Cameron setzte sich mit May eine Politikerin durch, die sich vor dem Referendum gegen den Brexit ausgesprochen hatte. Sie erkannte das Ergebnis allerdings voll an, sprach sich für den Austritt auch aus Binnenmarkt und Zollunion aus, und suchte eine Balance zwischen Remain- und Leave-Befürwortern in ihrem Kabinett, einschließlich Boris Johnson als Außenminister. Diese Balance ist ihr indes nie gelungen, und im Verlauf der Verhandlungen mit der EU wuchs der parteiinterne Widerstand gegen mögliche Kompromisse. So wurde das von May ausgehandelte Austrittsabkommen dreimal im Unterhaus abgelehnt, was sie schließlich zum Rücktritt zwang und ihrem Nachfolger Johnson ermöglichte, ein Kabinett aus Brexiteers zusammenzustellen, die sich im Zweifelsfall auch zur Option eines No-Deal-Brexits bereit erklären mussten. Bei den Neuwahlen im Dezember 2019 gewann Johnson mit dem Slogan "Get Brexit done" und dem Versprechen, durch den Brexit mehr gegen Einwanderung und die Härten der Globalisierung unternehmen zu können, eine klare Mehrheit. Damit änderte sich auch endgültig die politische Ausrichtung der Konservativen Partei: Alle neuen Abgeordneten waren klare Befürworter eines harten Brexits. Über diese Metamorphose sind die Tories zur Brexit-Partei geworden, aber auch insgesamt im politischen Spektrum nach rechts gerückt. Eng verbunden mit dem Machtkampf bei den Tories war ein konstitutioneller Konflikt zwischen Regierung und Parlament. Das politische System des Vereinigten Königreichs ist eine konstitutionelle Monarchie, die auf dem Prinzip der Parlamentssouveränität beruht. Aufgrund des Wahlsystems, das in der Regel absolute Mehrheiten hervorbringt, wird die Arbeitsweise des Parlaments jedoch weitgehend von der Regierung kontrolliert, etwa in Bezug auf Agenda und Abstimmungsvorlagen. Vor den Neuwahlen im Dezember 2019 hatte aber auch Johnson, wie zuvor schon May, keine eigene Mehrheit für seine Brexit-Politik. Eine Zusammenarbeit mit der Opposition gab es nur selten. In einer bedeutenden Ausnahme verabschiedete eine parteiübergreifende Unterhaus-Mehrheit Anfang September 2019 ein Gesetz, das die Regierung zwang, anstelle eines No-Deal-Brexits bei der EU eine erneute Verlängerung der Verhandlungsfrist zu beantragen. Eine Mehrheit für eine der Alternativen, eine neue Regierung oder Neuwahlen, fand sich allerdings nicht. Kurz darauf schickte der Premierminister das Parlament in eine Zwangspause, um weitere Interventionen gegen seinen Brexit-Kurs zu unterbinden. Erst nach einem Urteil des Obersten Gerichtshofs konnte das Parlament wieder zusammentreten und die Gesetzgebung zur Verhinderung eines ungeregelten Brexits endgültig verabschieden. Erst danach fand Johnson eine Parlamentsmehrheit für Neuwahlen und konnte mit seinem Wahlsieg die gewohnten Verhältnisse zwischen Parlament und Regierung wieder herstellen. In folgenden Beschlüssen, etwa den Verfahren zur Aushandlung von neuen Handelsabkommen, setzte die Regierung eine Begrenzung der Parlamentsrechte durch, während in vielen Aspekten der Nach-Brexit-Regelung umfangreiche Durchführungsbefugnisse an Minister ohne Parlamentsbeteiligung übertragen wurden. In der Summe hat der Brexit daher – trotz der Betonung der Parlamentssouveränität durch die Brexit-Befürworter – zu einer Schwächung des Parlaments im britischen System beigetragen. Der Brexit-Prozess hat nicht zuletzt die britische Bevölkerung insgesamt gespalten. Trotz des knappen Referendumsergebnis sind die Brexiteers im Laufe des Verhandlungsprozesses immer stärker auf die extremste Form des Brexits eingeschwungen, statt nach einer Kompromisslösung zu suchen. Auch die Polarisierung der öffentlichen Debatte hat stark zugenommen. So wurden etwa Verfassungsrichter, die Klagen gegen die Regierung wegen der mangelnden Parlamentsbeteiligung stattgaben, auf Titelseiten als "Feinde des Volkes" diffamiert. Gleichzeitig ist im Vereinigten Königreich die Einstellung zum Brexit – dafür oder dagegen – zu einem entscheidenden Anteil der politischen Identität geworden, mit großer Konstanz und zum Teil sogar größerer Aussagekraft als die Unterstützung einer politischen Partei. In Umfragen wird seit 2016 regelmäßig die Haltung zur Referendumsentscheidung abgefragt, und die Ergebnisse zeigen eine hohe Korrelation mit Antworten zu Fragen der Einwanderung, Identität und Chancengleichheit. Zu einer nachträglichen Akzeptanz des Brexits oder einer Überwindung der Spaltung ist es bis heute nicht gekommen. Risse im Königreich Noch schwerer und potenziell gravierender sind die politischen Folgen des Brexits für den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs. Dieser war bereits zuvor belastet: zum einen durch das schottische Unabhängigkeitsreferendum 2014, das nur knapp zugunsten des Verbleibs im Königreich ausging, zum anderen durch den ins Stocken geratenen Friedensprozess in Nordirland. Der Brexit-Prozess hat die Risse weiter vertieft, zumal beim Brexit-Referendum in Nordirland (55,8 Prozent) und in Schottland (62,0 Prozent) mehrheitlich gegen den EU-Austritt gestimmt wurde (Karte). In Schottland sprach sich die regierende Schottische Nationalpartei (SNP) zunächst für einen weichen Brexit und später für eine Rückkehr in die EU aus. Aus ihrer Sicht wurde Schottland gegen den eigenen Willen aus der EU genommen und ein harter Brexit aufgezwungen. Hierbei stimmte das schottische Parlament – wie auch die regionalen Parlamente von Wales und Nordirland – sowohl gegen das Brexit-Austrittsabkommen in der von Johnson ausgehandelten Form als auch gegen das Handels- und Kooperationsabkommen mit der EU. Entgegen der üblichen Konvention überging das britische Parlament jedoch diese Voten und verabschiedete beide Verträge trotzdem. Aus Sicht der SNP rechtfertigt der Brexit zudem ein neues Unabhängigkeitsreferendum. Ein solches kann aber, wie 2022 noch einmal vom Obersten Gerichtshof bestätigt wurde, nur mit Zustimmung des britischen Parlaments angesetzt werden. Dies haben sämtliche konservative Regierungen in den vergangenen Jahren mit Verweis auf das Referendum von 2014 abgelehnt. Umfragen in Schottland zeigen seit dem Brexit zwar Zuwächse, aber keine klare Mehrheit für die Unabhängigkeit, vielmehr pendeln die Ergebnisse um die 50-Prozent-Marke. In Nordirland ist die Lage komplexer. Zwar hatte sich auch dort eine Mehrheit der Bevölkerung gegen den Brexit ausgesprochen, die Unionisten – also diejenigen, die Teil des Vereinigten Königreichs bleiben wollen – jedoch mehrheitlich für den Brexit gestimmt. Zudem war Nordirland in den Brexit-Verhandlungen von Beginn an ein Sonderfall, weil sowohl die britische Regierung als auch die EU das Ziel verfolgten, die für den Friedensprozess bedeutsame Landgrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland offen zu halten. In den Verhandlungen mit der EU stimmte Theresa May daher einer Sonderlösung zu, in der – zumindest bis zur Aushandlung einer besseren Lösung – die EU-Zollunion und weite Teile der EU-Regulierung für das gesamte Vereinigte Königreich gelten sollten. Dies lehnten aber die Vertreter eines harten Brexits ab. Um diesen vollziehen zu können, verhandelte ihr Nachfolger Johnson zwar eine neue Fassung des Nordirland-Protokolls, aber im Endeffekt ist Nordirland als Teil einer Sonderlösung weiter an die Zollunion und bestimmte Bereiche des Binnenmarkts der EU angebunden. Notwendigerweise mussten daher Warenkontrollen zwischen Nordirland und Großbritannien eingeführt werden, während die Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland offen bleiben konnte. Das Nordirland-Protokoll ist seitdem eine nachhaltige Belastung für den nordirischen Friedensprozess und die britischen Beziehungen zur EU. Für die Unionisten symbolisiert es eine schrittweise Abkehr vom Vereinigten Königreich; die Democratic Unionist Party (DUP) hat seine Umsetzung daher zunächst verweigert und lehnt seit April 2022 ohne Revision des Protokolls die Rückkehr in die nordirische Regierung ab. Seitdem sind Regierung und Parlament in Nordirland komplett blockiert. Den Befürwortern eines harten Brexits in Großbritannien ist das Nordirland-Protokoll ebenso ein Dorn im Auge, weil damit ein Teil des Königreichs weiterhin an EU-Recht und Urteile des Europäischen Gerichtshofs gebunden ist. Die britische Regierung hat das Protokoll daher nur zum Teil umgesetzt und 2022 eine Gesetzgebung auf den Weg gebracht, die es komplett aushebeln und damit den Austrittsvertrag mit der EU brechen würde (Northern Ireland Protocol Bill). Ende Februar 2023 gelang dem im Oktober 2022 angetretenen Premierminister Rishi Sunak jedoch eine Einigung mit der EU ("Windsor Framework"), bei der diese deutliche Zugeständnisse zur Vereinfachung des Warenverkehrs zwischen Nordirland und Großbritannien machte, dafür aber London die Grundlagen des Protokolls akzeptierte – einschließlich der Gültigkeit von EU-Regeln in Nordirland unter Kontrolle des Europäischen Gerichtshofs. Hierbei verständigten sich EU und britische Regierung auch auf eine Veto-Option für neue EU-Regeln, falls diese in Nordirland abgelehnt werden. Zudem hat die britische Regierung angekündigt, die Northern Ireland Protocol Bill zurückzuziehen. Bei diesem Gesamtpaket und angesichts der ohnehin schwierigen politischen Lage der Konservativen fiel der Protest innerhalb der Tories gering aus. Die DUP hält sich indes noch offen, ob sie das Ergebnis akzeptiert und in die nordirische Regierung zurückkehrt. Während der Konflikt zwischen EU und Großbritannien damit vorerst entschärft ist, bleibt die Lage in Nordirland angespannt. Dass hierdurch jedoch eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland näher rücken könnte, ist angesichts der fortgesetzten Spaltung der nordirischen Bevölkerung unwahrscheinlich – eine Mehrheit dafür ist aktuell nicht in Sicht. "Global Britain" Weniger gravierend waren bislang die Auswirkungen des Brexits auf die internationale Stellung des Vereinigten Königreichs. Auch hier hat sich London unter der Regierung Johnson – anders als es May angestrebt hatte – für den harten Brexit und eine deutliche Abgrenzung von der EU entschieden. Das Königreich hat jegliche Form der strukturierten Zusammenarbeit mit der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik abgelehnt und sich aus allen militärischen und zivilen EU-Operationen zurückgezogen, obgleich diese prinzipiell auch nicht EU-Staaten offenstehen. Stattdessen möchte man sich unter dem Leitmotiv "Global Britain" als eigenständige internationale Macht behaupten, die sich stärker global orientiert, dabei aber in der europäischen Sicherheitsarchitektur fest verankert bleibt. Hierfür spricht, dass es in der Außen- und Sicherheitspolitik ohnehin eine Sonderrolle spielt. Als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat, Atommacht mit den (bis dato) höchsten Verteidigungsausgaben unter den europäischen Nato-Staaten und Mitglied der G7 verfügt es neben Deutschland und Frankreich über das größte diplomatische Netzwerk. Zwar hat London durch den Brexit den ständigen Austausch zu Themen der Außen- und Sicherheitspolitik im Rahmen der EU-Institutionen verlassen, konnte dafür aber seine bilateralen Beziehungen weiter ausbauen. Zwei Entwicklungen haben dabei besondere Aufmerksamkeit erregt: Zum einen schloss das Vereinigte Königreich gemeinsam mit den USA und Australien im September 2021 ein Militärbündnis (AUKUS). London und Washington sagten Canberra dabei Unterstützung bei der Entwicklung und dem Einsatz von Atom-U-Booten zu, wodurch Frankreich, das zuvor einen Vertrag mit Australien hatte, verdrängt wurde. Zudem wurde ein Austausch zu weiteren Themen wie Cybersicherheit vereinbart. Großbritannien wollte damit vor allem signalisieren, dass es im geostrategischen Wettbewerb auch im Indopazifik der engste europäische Partner der USA ist. Zum anderen hat London mit einer Reihe von europäischen Staaten bilaterale Erklärungen zur engeren Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik ausgehandelt, unter anderem mit Deutschland, Polen, den Ländern des Baltikums und den nordischen EU-Staaten. Nicht zuletzt hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die – gerade auch im Vergleich zu Deutschland und Frankreich – entschlossene Unterstützung der Ukraine seitens des Vereinigten Königreichs dazu beigetragen, seine Bedeutung für die europäische Sicherheitsarchitektur zu unterstreichen. So hat Großbritannien schon vor Beginn des Krieges ukrainische Soldatinnen und Soldaten ausgebildet und Waffen geliefert. Heute ist es mit Blick auf Waffenlieferungen nach den USA der größte Unterstützer der Ukraine. Darüber hinaus hat London Schweden und Finnland für den Übergang zur Nato-Mitgliedschaft eine Verteidigungsgarantie ausgesprochen. In der Außen- und Sicherheitspolitik hat das Vereinigte Königreich seit dem Brexit also nicht spürbar an Einfluss verloren, es ist und bleibt ein attraktiver Sicherheitspartner. Gleichwohl hat keiner dieser Erfolge unmittelbar mit dem Brexit zu tun oder wurde durch ihn erst ermöglicht, denn die Außen- und Sicherheitspolitik der EU ist weiterhin ein primär intergouvernementaler Politikbereich, in dem alle Mitgliedstaaten ihr Vetorecht behalten und in ihrem Handeln in anderen Institutionen frei sind. So wären sowohl AUKUS als auch die bilaterale Zusammenarbeit in Europa sowie die Unterstützung für die Ukraine genauso auch innerhalb der EU denkbar gewesen. Fazit In der Gesamtschau fällt die Zwischenbilanz des Brexits trotz allem deutlich aus: Knapp 60 Prozent der britischen Bevölkerung halten den EU-Austritt mittlerweile für einen Fehler. Detaillierte Umfragen zeigen, dass der "Bregret" (Bereuen des Brexits) inzwischen so ausgeprägt ist, dass die Bevölkerung nur noch in zwei Landkreisen den EU-Austritt mehrheitlich für richtig hält. Demografisch ist zudem bemerkenswert, dass die Ablehnung des Brexits bei jüngeren Britinnen und Briten am stärksten ausgeprägt ist. Je länger der Brexit her ist, desto größer ist der Anteil derjenigen geworden, die den Austritt als Fehler einstufen. Dies hat mit drei Faktoren zu tun: Erstens haben sich die Warnungen bestätigt, dass eine bewusste Abkopplung vom größten Handelspartner und die Wiedereinführung von Handelshemmnissen mit Einbußen bei Investitionen und beim Wirtschaftswachstum einhergehen. Zwar ist ein großer, abrupter Absturz der britischen Wirtschaft ausgeblieben, allerdings verliert das Land im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarn schrittweise an Wettbewerbsfähigkeit, und auch die Wirtschaft wächst langsamer beziehungsweise droht zu schrumpfen. Zweitens hat der Brexit eine der politisch turbulentesten Phasen in der modernen Geschichte des Vereinigten Königreichs eingeleitet, in der auch der Gewinn der deutlichen absoluten Mehrheit durch Boris Johnson nur kurzfristig zur Beruhigung beigetragen hat. Drittens haben die Befürworter des Brexits ihre großen Versprechen – eine deutliche Reduzierung der Einwanderung, eine Stärkung des britischen Gesundheitssystems und eine eigenständige, wettbewerbsfähigere Politik – bisher nicht einlösen können. Nur außen- und sicherheitspolitisch hat der Brexit dem gut positionierten Land nicht geschadet, aber auch keine erkennbaren Vorteile gebracht. Politisch haben sich die Brexiteers dagegen mittelfristig durchgesetzt. Bei den Tories bestimmen sie auch nach mehreren Wechseln an der Parteispitze die Politik, während frühere konservative Stimmen für eine engere Anbindung an die EU aus Regierung und Parteiführung verdrängt wurden. Die nächsten Neuwahlen stehen regulär spätestens Anfang 2025 an. Doch auch die oppositionelle Labour Party hat den Brexit akzeptiert und öffentlich eine Rückkehr in Binnenmarkt, Zollunion oder gar EU ausgeschlossen. Sie will stattdessen auf Basis des Handels- und Kooperationsabkommens mit der EU bessere Handelsbedingungen ermöglichen. Mittelfristig bleibt das Land daher auf dem Kurs des von Johnson definierten harten Brexits. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die nächsten Wahlen und die steigende Ablehnung des Brexits, vor allem in der jüngeren Bevölkerung, in der langfristigen Perspektive eine Wiederannäherung an die EU ermöglichen. Vgl. Nicolai von Ondarza, Das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen EU und Vereinigtem Königreich, Stellungnahme für den EU-Ausschluss des Deutschen Bundestages, 21.1.2021, Externer Link: http://www.bundestag.de/resource/blob/818468/1688bc4d3eed33eb7da9435d905711b9/129-dr-nicolai-von-Ondarza-data.pdf. Nichttarifäre Handelshemmnisse sind solche, die unabhängig von Zolltarifen bestehen, zum Beispiel Subventionen oder Ausgleichssteuern. Vgl. HM Treasury Analysis on the EU Referendum: George Osborne’s Speech, 18.4.2016, Externer Link: http://www.gov.uk/government/speeches/hm-treasury-analysis-on-the-eu-referendum-george-osbornes-speech. Vgl. Chris Giles, Brexit and the Economy: The Hit Has Been "Substantially Negative", 30.11.2022, Externer Link: http://www.ft.com/content/e39d0315-fd5b-47c8-8560-04bb786f2c13. Vgl. John Springford, The Cost of Brexit to June 2022, Centre for European Reform, CER Insight, 21.12.2022, Externer Link: http://www.cer.eu/insights/cost-brexit-june-2022. Die Ergebnisse der Studie werden halbjährlich aktualisiert. Vgl. Simon Jack/Beth Timmins, UK Car Production Collapses to Lowest for 66 Years, 26.1.2023, Externer Link: http://www.bbc.com/news/business-64399748. Vgl. Johnathan Portes/John Springford, The Impact of Brexit on the UK Labour Market: An Early Assessment, UK in a Changing Europe, UKICE Working Paper 1/2023, Externer Link: https://ukandeu.ac.uk/working-paper/the-impact-of-the-post-brexit-migration-system-on-the-uk-labour-market. Insgesamt wurden 72 Handelsabkommen ausgehandelt, davon fünf neue bzw. mit substanziellen Änderungen zu EU-Handelsverträgen (Japan, Australien, Neuseeland, Europäischer Wirtschaftsraum, EU). Vgl. UK Government, UK Trade Agreements in Effect, 3.11.2022, Externer Link: http://www.gov.uk/guidance/uk-trade-agreements-in-effect. Vgl. John Curtice/Victoria Ratti, Culture Wars – Keeping the Brexit Divide Alive?, in: British Social Attitudes 39/2022, S. 3–30. Zu Schottland siehe auch den Beitrag von Roland Sturm in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Für einen Überblick zu den Streitfragen rund um das Nordirland-Protokoll siehe Anton Spisak, Fixing the Northern Ireland Protocol: A Way Forward, Tony Blair Institute for Global Change, 1.6.2022, Externer Link: https://institute.global/policy/fixing-northern-ireland-protocol-way-forward. Siehe etwa PM Theresa May’s Speech at the 2018 Munich Security Conference, 17.2.2018, Externer Link: http://www.gov.uk/government/speeches/pm-speech-at-munich-security-conference-17-february-2018. Vgl. UK Government, Global Britain in a Competitive Age: The Integrated Review of Security, Defence, Development and Foreign Policy, 16.3.2021, Externer Link: http://www.gov.uk/government/publications/global-britain-in-a-competitive-age-the-integrated-review-of-security-defence-development-and-foreign-policy. Vgl. Julina Mintel/Nicolai von Ondarza, Die Bilateralisierung der britischen Außenpolitik. Stand und Folgen für Deutschland und die EU nach einem Jahr Brexit, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell 22/2022, Externer Link: http://www.swp-berlin.org/en/publication/die-bilateralisierung-der-britischen-aussenpolitik. Für eine Übersicht über Umfragen zu Einstellungen zum Brexit siehe What the UK Thinks, In Hindsight, Do You Think Britain Was Right or Wrong to Vote to Leave the EU?, Externer Link: https://whatukthinks.org/eu/questions/in-highsight-do-you-think-britain-was-right-or-wrong-to-vote-to-leave-the-eu.
Article
Ondarza, Nicolai von
2023-07-07T00:00:00
2023-03-15T00:00:00
2023-07-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/vereinigtes-koenigreich-2023/519168/vom-brexit-zum-bregret/
Einige Auswirkungen des Brexits sind inzwischen klar erkennbar. Während Großbritannien außenpolitisch weiterhin gut dasteht, haben Wirtschaft, politisches System und Zusammenhalt Schaden genommen.
[ "Vereinigtes Königreich", "Großbritannien", "Brexit", "England", "Schottland", "Irland", "Nordirland", "Europa", "EU" ]
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Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick | Russland-Analysen | bpb.de
Zusammenfassung Der Beitrag betrachtet den sich wandelnden Kriegsverlauf in der Ukraine seit Februar 2022 in seinen bisherigen Phasen und setzt dabei die jeweiligen militärischen Ergebnisse und Muster in ihren jeweiligen Kontext. Somit ist es möglich, breitere Trends von kontextabhängigen zu trennen. Beide Seiten präferieren unterschiedliche Formen der Kriegsführung. Russland hat sich wiederholt auf einen artilleriezentrischen Stellungskrieg fokussiert, während die ukrainische Führung bemüht ist, qualitative Vorteile taktisch auszuspielen. Bisher konnten so russische Unzulänglichkeiten effektiv ausgenutzt werden. Hierbei essenziell ist die digitale Kommunikations- und Befehlsinfrastruktur der ukrainischen Armee, die jedoch von externer Unterstützung abhängig ist. Der Beitrag schließt mit einer Betrachtung der Bewertungsparameter (und -problematiken) zukünftiger Operationen. Hier geht es insbesondere um die Wechselwirkung zwischen Zeit, Raum und Ressourcen. Der Beitrag betrachtet den sich wandelnden Kriegsverlauf in der Ukraine seit Februar 2022 in seinen bisherigen Phasen und setzt dabei die jeweiligen militärischen Ergebnisse und Muster in ihren jeweiligen Kontext. Somit ist es möglich, breitere Trends von kontextabhängigen zu trennen. Beide Seiten präferieren unterschiedliche Formen der Kriegsführung. Russland hat sich wiederholt auf einen artilleriezentrischen Stellungskrieg fokussiert, während die ukrainische Führung bemüht ist, qualitative Vorteile taktisch auszuspielen. Bisher konnten so russische Unzulänglichkeiten effektiv ausgenutzt werden. Hierbei essenziell ist die digitale Kommunikations- und Befehlsinfrastruktur der ukrainischen Armee, die jedoch von externer Unterstützung abhängig ist. Der Beitrag schließt mit einer Betrachtung der Bewertungsparameter (und -problematiken) zukünftiger Operationen. Hier geht es insbesondere um die Wechselwirkung zwischen Zeit, Raum und Ressourcen. Einleitung Die russische Invasion der Ukraine geht Ende Februar 2023 in ihr zweites Jahr. In ihrem Verlauf sind mehrere unterschiedliche Phasen erkennbar, definiert durch strategische Prioritäten, operative und taktische Ausführungen sowie den jeweiligen militärischen Eigenschaften der Kriegsparteien. Diese Phasen sind jedoch nicht klar voneinander zu trennen. Parallel ziehen sich gewisse Trends und Muster durch den gesamten Kriegsverlauf. Die Streitkräfte, die sich zu Beginn der Invasion gegenüberstanden, sind aufgrund von Verlusten und Mobilisierungs- und Nachschubwellen kaum wiederzuerkennen. Das erste Jahr lässt sich in mehrere, recht distinkte Phasen einteilen, gekennzeichnet durch russische verschobene Prioritäten und das Erringen der Initiative durch die Ukraine. Solche den militärischen Realitäten und beidseitigen Anpassungen entsprechende Phasen sind nichts Ungewöhnliches. Dennoch ist auffällig, wie diese Phasen zumindest politisch und medial isoliert betrachtet und besprochen wurden und werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Diskussion um Waffensysteme und Munition, die der Ukraine geliefert werden sollen. Das Denken in einer solch abgeschlossenen Phasenlogik ist grundsätzlich nicht falsch, birgt aber analytische Risiken: Erstens sind bestimmte Daten schlicht nicht vorhanden: Wie gut beispielsweise neu ausgebildete und ausgerüstete Truppen auf beiden Seiten insbesondere offensiv funktionieren, ist unbekannt. Zweitens ist fraglich (und in vielen Punkten diskussionswürdig), welche Lektionen an die jeweilige Phase gebunden und welche "global" gültig sind. Zu nennen wäre an dieser Stelle die Frage, inwieweit bisherige russische operative Unzulänglichkeiten das Resultat naiver Planung sind oder strukturellen Defiziten der Streitkräfte zugeordnet werden können. Drittens bedeutet gerade die Konsolidierung der russischen Kräfte seit Oktober 2022, dass die "Phasenlogik" zwar weiterhin durch An- und Abschwellen der Intensität reflektiert werden wird, aber nicht mehr durch die eindimensionale Wahl militärischer Instrumente. Mit anderen Worten: Infanteriewaffen, Artilleriemunition und Kampfpanzer werden auf ukrainischer Seite in Zukunft gleichzeitig und nachhaltig benötigt; es wird kaum reichen, Unterstützungspakete im Westen zu schnüren, die jeweils auf das aktuelle russische Kampfinstrument der Wahl reagieren, seien es Panzer, Artillerie oder Schläge gegen die Infrastruktur. Betrachtung der Phasen Moskau verlagerte seine Ambitionen in der Folge nach Osten, wodurch die zweite Phase eingeläutet wurde. Vor der Invasion war eine der gängigen Annahmen, dass russische Truppen versuchen würden, den professionellen Kern der ukrainischen Armee, der an der Kontaktlinie zu den "Separatistengebieten" konzentriert war, östlich des Dnipro abzuschneiden. Dies schien auch zunächst das Ziel der russischen Ostoffensive im Frühjahr 2022 zu sein, aber auch dabei musste Moskau das Ambitionsniveau senken. Am Ende mussten sich die Russen auf einen wesentlichen Punkt konzentrieren, um gestützt auf den Verbrauch von bis zu 50.000 Artilleriegranaten pro Tag bei der Stadt Popasna durchzubrechen und die Ukraine zum Rückzug zu zwingen. In der Folge wurde in diesem Operationsgebiet der Fokus auf einen Durchbruch bei Bachmut, östlich von Slowjansk und Kramatorsk, gelegt. Im Januar 2023 verstärkten russische Truppen ihre Durchbruchsbemühungen dort, nachdem zuvor monatelang Häftlinge der Wagner-Gruppe mit großen Verlusten gegen die ukrainische Seite angerannt waren. Für den Durchbruch bei Popasna richteten sich russische Truppen voll auf die Effizienz ihrer Artillerie aus. Die Ukraine nutzte den Moment der größten russischen Erschöpfung nach der Einnahme von Sjewerodonezk aus, um mithilfe der US-gelieferten HIMARS-Raketenwerfer die russische Munitionsarchitektur anzugreifen, die zur "Fütterung" der frontnahen Artillerie errichtet wurde. Auch hierdurch gelang es Kyjiw, nach dem Verlust von Sjewerodonezk, in einer dritten Phase in die Offensive überzugehen. Die russischen Truppen hatten sich überdehnt, sie hatten ihre Absicherung der Effizienz ihrer Artillerie für den Einsatz auf einem engen Frontabschnitt unterworfen und sahen sich wechselnden Führungsstrukturen ausgesetzt. In diese Schwächephase fielen ukrainische Gegenoffensiven gegen den russischen Brückenkopf auf der Westseite des Dnipro und östlich von Charkiw. Insbesondere während der Gegenoffensive in Richtung Kupjansk zahlte sich die graduelle Schwächung der russischen Truppen aus und die ukrainischen Truppen waren in der Lage, signifikante Gebiete zu befreien. Anfang Oktober 2022 wurde General Sergej W. Surowikin zum Kommandeur der russischen Streitkräfte in der Ukraine ernannt. Damit wurde auf russischer Seite eine der zuvor durchschlagenden Fehlerquellen in der Kriegsführung behoben. Durch die Vereinheitlichung der Führungsebene wurden russische Truppen erstmals kohärent geführt. Der doppelte Schritt, zum einen die Aufgabe des Westufers bei Cherson, zum anderen die Mobilmachung von 300.000 Mann für die Truppen, stabilisierte die Frontlinie und erlaubte die Rotation und Reorganisation erschöpfter russischer Einheiten. Zudem wurde in dieser vierten Phase der systematische Beschuss der kritischen zivilen Infrastruktur der Ukraine begonnen. Zentrale vs. dezentrale Operationsführung Während der ersten russischen Vorstöße in die Ukraine 2014 und 2015 musste sich Kyjiw angesichts des desolaten Zustands der ukrainischen Streitkräfte zum Teil noch auf Freiwilligenbataillone verlassen. In der 2016 begonnenen Streitkräftereform sollten NATO-Verfahren und -Standards eingeführt werden. Für den Erfolg dieser Umstellung entscheidend waren neben ukrainischer Kampferfahrung auch die US-amerikanischen, britischen und kanadischen Ausbildungsmissionen. Aufgrund dieser strukturellen Umstände waren ukrainische Truppen befähigt, auf unteren taktischen Ebenen Entscheidungen zu treffen und sich flexibel an Situationen anzupassen, mit denen sie konfrontiert wurden. Auch teilweise ohne formale Ausbildung waren ukrainische Kräfte somit in der Lage, die "Auftragstaktik", wie in der NATO praktiziert, anzuwenden. Zu Beginn der Invasion konnten ukrainische Einheiten russischen Truppen lokal hohe Verluste zufügen, auch aufgrund der Verfügbarkeit erfahrener Kader in der regulären Armee, von Reserven und territorialer Kräfte. Hierbei konnten sie fluide und über organisatorische Grenzen hinaus kooperieren. Beispielsweise gelang es einer Mischung ukrainischer Spezialkräfte, regulärer und territorialer Truppen sowie lokalen Freiwilligen im März 2022, eine Bataillonskampfgruppe der russischen Marineinfanterie bei Wosnesensk, nördlich von Mykolajiw, zu zerstören. An anderen Orten bedeutete diese Dezentralisierung, dass russische Nachschubkonvois dauerhaft unter Beschuss gerieten und das wiederum stellte die russischen Truppen vor signifikante Probleme. Denn es ist ein effektiver Ansatz, dezentrale territoriale Selbstverteidigungskräfte und reguläre Infanterie in einem fluiden Invasionskontext sich zu einem gewissen Grad selbst zu überlassen, insbesondere wenn ihn russische strukturelle Defizite und Unzulänglichkeiten begünstigen. Jedoch sind auf ukrainischer Seite graduell auch Zentralisierungstendenzen sichtbar – und das aus gutem Grund. In dem Moment, in dem der Mechanisierungsgrad steigt, steigt auch der Bedarf für eine zentral Organisation. Zum Beispiel ist es möglich, Flugabwehrsysteme wie Stinger, die von nur einer Person abgefeuert werden können, auf niedriger Ebene zu verteilen. Spricht man aber von Luftabwehrsystemen mittlerer Reichweite (wie sowjetische Buk oder Patriot der NATO) ist eine zentrale Steuerung vonnöten. Es stellen sich somit auf unterschiedlichen Ebenen Fragen zur: Bedrohungslage – Wo werden Sensoren und Batterien benötigt? Politisch-strategische Entscheidung – Welche Ziele sollen geschützt werden, militärische oder zivile? Logistik – Wie können die Wartung und Reparatur sichergestellt werden? Dies bedeutet jedoch nicht, dass ukrainische Kräfte nur "nach NATO-Lehrbuch" neue Technologien und Ausrüstung integrieren könnten. In der Tat sind sie bisher sehr geschickt darin, westliche Waffensysteme, die mit abweichenden Einsatzparametern erdacht und entwickelt wurden als (post-)sowjetische Systeme, gewinnbringend einzufügen. Auch ohne "Goldrandlösungen" wurden positive Ergebnisse erzielt. Einige Beispiele: Auch ohne über ballistische taktische US-Kurzstreckenraketen vom Typ ATACMS zu verfügen, die Kyjiw sich von den USA wünscht, um auch russische Stellungen und Depots auf weitere Entfernung bekämpfen zu können, wurden Schläge in die Tiefe durchgeführt. So führten ukrainische Hubschrauber einen Luftangriff auf eine russische Raffinerie bei Belgorod durch. Bei einem anderen Angriff, bei dem das genaue Vorgehen bisher ungeklärt ist, wurde die Saki-Luftwaffenbasis auf der Krim getroffen; wahrscheinlich durch eingesickerte Spezialkräfte, die aus der Umgebung der Basis Lenkwaffen starteten. Hilfreich war dabei, dass die ukrainische Führung zu Beginn des Krieges mutmaßlich die Zerstörung russischer Logistikeinheiten als zentrale Priorität ausgab, unabhängig vom Modus. Somit war und ist unerheblich, ob ein russischer Konvoi im Hinterhalt durch Infanterie zerstört wird oder eine Lenkwaffe ein Depot trifft. Die Abnutzung der russischen Logistik bedeutet die Schwächung des Gesamtsystems der Invasionstruppen. Ebenso geschickt war die ukrainische Strategie beim Timing des Einsatzes gewisser neu erworbener Waffensysteme. Die Angriffe auf russische Munitionsdepots im Sommer 2022 zeigt dies insbesondere auf. HIMARS wurden beispielsweise dann erstmals eingesetzt, als die russische Artilleriearchitektur voll ausgebaut war und die russischen Truppen sich erschöpft hatten, also maximal verwundbar waren. In der Folge wurden US-amerikanische Antiradarraketen in ukrainischen Jagdbombern sowjetischer Bauart integriert, als Russland begann diese Depots mit Luftabwehr zu schützen. Improvisierte Lösungen sind allerdings nicht in jedem Fall gleichermaßen wertvoll. Mit Blick auf die Nutzung kommerzieller Drohnen hat sich in den ukrainischen Streitkräften eine Improvisationskultur entwickelt, bei der zivile Drohnen sehr effektiv modifiziert und eingesetzt werden. Aber auch hier gilt eine ähnliche Logik: Lokal agierende Infanterie kann sehr davon profitieren, wenn zivile und militärische Kompetenzen zusammengeführt werden, um ein höheres Ausrüstungsniveau zu erreichen. Aber die Instandhaltung einer schweren Brigade bestehend aus mehreren Typen von Kampf- und Schützenpanzern sowie spezialisierter Ausrüstung erfordert ein höheres Maß an Zentralisierung und Planung. Dies erfordert nicht notwendigerweise den logistischen Unterbau einer NATO-Brigade, aber durchaus einen höheren Grad der Zentralisierung. Ebenso ist die Zerstörung russischer Transporter schwerer zu bewerkstelligen, wenn russische Truppen aus kompakteren Defensivlinien und Aufmarschräumen operieren und die Nachschubwege somit weniger verwundbar gegenüber eingesickerten ukrainischen Truppen sind. Breite und tiefe Kommunikationskanäle Die Datenfusion der Ukraine nutzt die Vorteile des Verteidigers voll aus. Auf der strategischen und organisatorischen Ebene werden die technologischen Kompetenzen des Technologie- und Softwarestandorts Ukraine quasi militarisiert. Entsprechend können die Streitkräfte auf einen breiten und tiefen Pool gut ausgebildeten zivilen und militärischen Personals zurückgreifen. Zweitens bedeutet die Tatsache, dass die Ukraine sich gegen einen Invasoren verteidigt und die Bevölkerung die Verteidigung des Landes geschlossen unterstützt, dass Informationen aus der lokalen Bevölkerung über russische Truppen(-bewegungen) an die zuständigen militärischen Autoritäten weitergegeben werden – dank "Delta" in Echtzeit. Somit wird ein hoher Grad situativer Wahrnehmung erreicht, der nicht auf Kommandostände beschränkt ist, sondern dank der Digitalisierung direkt und automatisiert über Laptops an Truppen vor Ort kommuniziert wird. Die ukrainischen Streitkräfte haben somit effektiv ein hohes Niveau an "netzwerkzentrischer Kriegsführung" erreicht, eines der Lieblingsschlagworte und -zielvorstellungen des Pentagon. Egal, ob im großen US-NATO-Stil oder im improvisierten ukrainischen Kontext, es geht darum, der eigenen Führung auf einer idealen Ebene "Informationsdominanz" zukommen zu lassen. Eine häufig gebrauchte Metapher im NATO-Kontext ist das Bild eines "Ubers für Luftschläge". Der Fortschritt in den NATO-Staaten bei diesen Konzepten ist ungleich, notorisch teuer und ineffizient; gerade deshalb ist die ukrainische netzwerkzentrische Kriegsführung so beachtlich. Hier ist einer der offensichtlichsten Gegensätze zum russischen Militär. Nach dem Georgienkrieg 2008 schickte man sich in Moskau an, vom sowjetischen Modell weg und hin zu einem NATO-ähnlicheren Konzept der Kriegsführung zu kommen, bei dem Informationen effizienter fließen und deren Struktur weniger "kopflastig" sein sollte. Bei den kompakteren Interventionen in Syrien und dem ersten Einmarsch in die Ukraine 2014 und 2015 konnten diese Reformen in militärische Erfolge umgemünzt werden. Das russische Militär wendete dabei in der Tat modernisierte Konzepte an. Diese Methoden konnten vor der deutlich ambitionierteren Invasion 2022 jedoch nicht vollumfänglich in den Streitkräften verankert werden, auch weil die Korruption im Verteidigungssektor weiterhin endemisch ist. Auf der Ausrüstungsseite bedeutet dies, dass beispielsweise technische Kommunikationslösungen im Rahmen des "Ratnik"-Infanterieausrüstungssystems deutlich hinter den Erwartungen geblieben sind, da die Truppe ohne einheitliche moderne Funkausrüstung in den Krieg geschickt wurde. Auch deshalb ist die russische Führung auf die Heuristiken des artilleriezentrischen Stellungskriegs zurückgefallen. Trotz der beachtlichen Leistungen sollte dieses Element ukrainischer Kriegsführung nicht davon ablenken, dass die Ukraine in mehreren Bereichen abhängig ist. Zum einen sind es die NATO-Staaten und ihre nachrichtendienstliche und Aufklärungsunterstützung. Seit Beginn der Invasion fliegen die NATO und die schwedische Luftwaffe konstant Aufklärungsflüge mit den Luftraum (AWACS) und Boden abdeckenden Radars und anderen Sensoren. Außerhalb der Reichweite dieser fliegenden Augen und Ohren verfügen die Unterstützer der Ukraine über Satelliten unterschiedlicher Sensortypen, die auch den Osten der Ukraine abdecken. Diese Unterstützung ist nicht nur relevant für die Frühentdeckung russischer Offensivbemühungen, sondern auch für die Bekämpfung russischer Schlüsselpunkte, Depots und Kommandostände. Zweitens sind eine Reihe ziviler Akteure zu nennen, welche die Ukraine unterstützen – sei dies auf freiwilliger Basis oder auf Druck oder Anreiz der US-Regierung. Zu nennen sind hierbei insbesondere SpaceX mit Starlink und Palantir. Starlink wird von ukrainischen Truppen häufig als "Sauerstoff" bezeichnet. Die große Datenmenge, welche "Delta" benötigt und die Tatsache, dass es sich hierbei teilweise um Datenpakete (wie Bilddateien und Videos) mit hohen Anforderungen an die Bandbreite handelt, bedeutet, dass eine Internetverbindung essenziell ist. Starlink stellt bisher das logistische Gerüst dar, auch aufgrund des kompakten Formfaktors der Antennen, welche auch Gruppen und Züge von der Datenfusion profitieren lassen. Diese Art der teilimprovisierten Kriegsführung wäre mit Kommunikationstechnologien der letzten Jahrzehnte nicht möglich gewesen und Starlink liefert die notwendige Bedingung. Problematisch aus ukrainischer Sicht ist, dass SpaceX an mehreren Punkten des Kriegs mit einer Einschränkung oder Einstellung des Dienstes gedroht hat. Darüber hinaus basiert die Datenfusion letztendlich auch auf Software und intelligenten Algorithmen des US-Softwarekonzerns Palantir, der sich, im Gegensatz zu beispielsweise Google und (scheinbar) Elon Musk, explizit als Teil der Rüstungsindustrie und im Dienst von US-Interessen sieht. Das Palantir-Tool MetaConstellation durchsucht beispielsweise das Netz automatisiert nach kommerziellen Satellitenbildern und wertet diese in einem ersten Schritt aus, sowohl zur Verfolgung russischer Ziele (und ermöglicht damit ihre präzise Bekämpfung), als auch zur Wirkungsanalyse ukrainischer Schläge. Alte und neue Verwundbarkeiten Bei der Bewertung der Kämpfe um militärische Schlüsselpunkte reicht nicht ein Blick auf die Karte alleine. Mindestens drei Faktoren, die eng miteinander verknüpft sind, sind hier relevant: Raum, Zeit und Ressourcen. Orte wie Wuhledar, Bachmut und Kreminna, um die Anfang 2023 die heftigsten Gefechte geführt wurden, sind logistische Schlüsselpunkte – oder zumindest Etappen, um solche zu erreichen. Ein Beispiel: Von Kreminna aus könnten ukrainische Truppen auf Starobilsk vorrücken und damit eine der wichtigen Eisenbahnlinien aus Russland kappen. Kyjiw hätte so einen wichtigen Vorteil in der Oblast Luhansk. Die Einnahme Wuhledars würde es russischen Truppen erlauben, die Ost- und Südfront zu vereinen. Zudem geht es darum, wie schnell qualifizierte Truppen ausgebildet und (wieder-) bewaffnet werden können. Hierdurch ergeben sich räumlich und zeitlich abgesteckte Vorteilsfenster für die eine oder andere Seite, aus der Gelegenheiten und Potenziale für Offensivbemühungen abgeleitet werden. Dabei spielen auch Wetter und inländische wie ausländische politische Faktoren eine Rolle. Schließlich ist fraglich, wie viele und möglicherweise welche Verluste erlitten werden. Russland hat hier klare Vorteile, da es Eingezogene und Wagner-geführte Häftlinge als Kanonenfutter verwenden kann, um ukrainische Verteidigungsstellungen aufzudecken oder gar aufzuweichen und abzunutzen. Im Februar 2023 verdichteten sich Hinweise, dass das russische Militär selbst ebenfalls die Wagnersche Strategie übernehmen will, Häftlinge mutmaßlich als menschliche Wellen einzusetzen, was den militärischen Wert solcher Taktiken für Russland aufzeigt. Solche Taktiken sind für die Ukraine beispielsweise größtenteils nicht möglich. Nicht zu vernachlässigen ist auch die Tatsache, dass die russische Seite insbesondere Defizite in der professionellen Infanterie, die auch in kleinen Gruppen teilautonom agieren kann, hat. Verluste bei Luftlandetruppen und Marineinfanterie sind daher besonders schmerzhaft, wenn Abnutzungseffekte oder Bodengewinn sich nicht in günstigen Zeiträumen einstellen. In dieser Kategorie sind auch Munitionsreserven zu betrachten, bei denen allerdings zumindest mit Blick auf ungelenkte Artilleriemunition die Vorteile bei Russland zu liegen scheinen. So kann zwar nicht quantifiziert werden, wie lange die russische Armee beispielsweise 152mm Munition für die Artillerie zur Verfügung hat – westliche Nachrichtendienste widersprechen sich hier. Klar ist jedoch, dass Russland über eingelagerte Militärgüter der Sowjetzeit verfügt, während ukrainische Fertigungsstraßen zerstört wurden und westliche erst wieder aufgesetzt werden müssen. Eine ähnliche Abnutzungslogik liegt dem Duell zwischen billigen iranischenShahed -Lenkwaffen und teuren westlich gelieferten Luftabwehrraketen zugrunde. So ist ein befürchteter Effekt der russischen Schläge auf die Infrastruktur und Zivilbevölkerung der Ukraine, dass dabei Reserven von Luftabwehrmunition der ukrainischen Seite verbraucht werden, die dann anderenorts der russischen Luftwaffe mehr Freiraum ermöglichen. Schließlich ist festzuhalten, dass beide Seiten entsprechend ihrer jeweiligen Stärken und Schwächen unterschiedliche Formen der Kriegsführung präferieren, und dass die Vorteile bei der Seite liegen, die dem Kontrahenten ihre Kriegsführung aufzwingen kann. Russland kann seine taktischen Nachteile kaschieren, wenn es der Ukraine einen artilleriezentrischen Stellungskrieg aufzwingen kann. Kyjiw hingegen peilt an, einen Manöverkrieg nach NATO-Muster zu führen, um besetztes Staatsgebiet zu befreien und seine militärischen Vorteile auszuspielen. Diese sind seit der russischen Konsolidierung weniger prononciert, können aber immer noch klar ins Gewicht fallen – auch wenn man sich aus ukrainischer Sicht nicht darauf verlassen kann, dass sich russische Defizite der ersten Kriegsphasen wiederholen. Quellen / Literatur Bronk, J., Watling, J., Reynolds, N. (2022). The Russian Air War and Requirements for Ukrainian Air Defence. In: RUSI 07.11.2022. Externer Link: https://rusi.org/explore-our-research/publications/special-resources/russian-air-war-and-ukrainian-requirements-air-defence. Cancian, M.F., Anderson, J. (2023). Expanding Equipment Option for Ukraine: The Case of Artillery. In: Center for Strategic and International Studies, 23.01.2023. Externer Link: https://www.csis.org/analysis/expanding-equipment-options-ukraine-case-artillery. Fox, A. (2021). Manoeuvre is Dead? Understanding the Conditions and Components of Warfighting. In: The RUSI Journal 166 (6-7), S. 10–18. Externer Link: https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/03071847.2022.2058601?journalCode=rusi20. Freedman, L. (2023). Kyiv and Moscow Are Fighting Two Different Wars: What the War in Ukraine Has Revealed About Contemporary Conflict. In: Foreign Affairs, 17.02.2023. Externer Link: https://www.foreignaffairs.com/ukraine/kyiv-and-moscow-are-fighting-two-different-wars. Kofman, M., Lee, R. (2022). 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Inside the Ukrainian Counterstrike that Turned the Tide of War. In: Time Magazine, 26.09.2022. Externer Link: https://time.com/6216213/ukraine-military-valeriy-zaluzhny/. Zabrodskyi, M., Watling, J., Danylyuk, O.V., Reynolds, N. (2022). Preliminary Lessons in Conventional Warfighting from Russia’s Invasion of Ukraine: February–July 2022. In: RUSI 30.11.2022. Externer Link: https://rusi.org/explore-our-research/publications/special-resources/preliminary-lessons-conventional-warfighting-russias-invasion-ukraine-february-july-2022. Bronk, J., Watling, J., Reynolds, N. (2022). The Russian Air War and Requirements for Ukrainian Air Defence. In: RUSI 07.11.2022. Externer Link: https://rusi.org/explore-our-research/publications/special-resources/russian-air-war-and-ukrainian-requirements-air-defence. Cancian, M.F., Anderson, J. (2023). Expanding Equipment Option for Ukraine: The Case of Artillery. In: Center for Strategic and International Studies, 23.01.2023. 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Externer Link: https://rusi.org/explore-our-research/publications/special-resources/preliminary-lessons-conventional-warfighting-russias-invasion-ukraine-february-july-2022.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
2023-03-22T00:00:00
2023-02-23T00:00:00
2023-03-22T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-432/518565/analyse-die-invasion-der-ukraine-nach-einem-jahr-ein-militaerischer-rueck-und-ausblick/
Russland hat sich wiederholt auf einen artilleriezentrischen Stellungskrieg fokussiert, während die ukrainische Führung bemüht ist, eine flexible Operationsführung und variable Kommunikationskanäle zu nutzen.
[ "Russland", "Russland", "Russland", "Ukraine", "Ukraine", "Ukraine", "Russlands Angriffskrieg 2022" ]
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Akteure in der Naturschutzpolitik: Interessenverbände und Organisationen | Naturschutzpolitik | bpb.de
Engagement im Umwelt- und Naturschutz hat Hochkonjunktur. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind fast 18 Millionen Bundesbürger*innen in diesem Bereich aktiv. Der Freiwilligensurvey , die alle fünf Jahre durchgeführte repräsentative Befragung zum bürgerschaftlichen Engagement, weist seit 1999 einen kontinuierlichen Anstieg der Engagementquote im Bereich "Umwelt, Natur- und Tierschutz" auf. Danach waren im Berichtsjahr gut 4 % der Bundesbürger*innen hier engagiert und überwiegend in Organisationen, Verbänden und Initiativen tätig. Abbildung 1: Anteile engagierter Personen im Bereich Umwelt, Naturschutz oder Tierschutz (FWS, gewichtet, eigene Berechnungen (DZA).) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Als PDF herunterladen (26.1kB) Im internationalen Vergleich zeichnet sich Deutschland durch ein breites Spektrum von Natur- und Umweltschutzorganisationen aus, von denen einige bereits im 19. Jahrhundert gegründet wurden. Ihre Tätigkeitsbereiche sind vielfältig und reichen von traditionellem Tier- und Naturschutz über Politikberatung bis hin zu öffentlichkeitswirksamen Kampagnen und Interner Link: Lobbying auf dem Rechtsweg. Die Organisationen unterscheiden sie sich z. T. erheblich hinsichtlich ihrer Strukturen und Strategien der Interessenvertretung. Hinzu kommen weniger formalisierte Gruppen, Ad-hoc Initiativen und in soziale Bewegungen eingebundene Protestaktionen. Insofern gestaltet sich Interessenvertretung im Dienst des Natur-, Umwelt- und Klimaschutzes als ein heterogener Bereich mit vielfältigen Bezügen zu anderen Politikfeldern, wie etwa der Agrar- oder Verkehrspolitik. Abbildung 2: Anteile freiwillig engagierter Personen in vierzehn Bereichen 2019 (FWS 2019 gewichtet, eigene Berechnungen (DZA)) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Als PDF herunterladen (29kB) Im Folgenden soll Natur- und Umweltschutz als Arbeits- und Aufgabenbereich von Interessengruppen und -organisationen näher in den Blick genommen werden. Hierzu werden die verschiedenen Akteure der Interessenvertretung zunächst vorgestellt. Daran anschließend wird kurz auf den historischen bzw. gesellschaftlich-politischen Kontext der Entstehung von Natur- und Umweltschutzorganisationen eingegangen. Abschließend werden Unterschiede im Aufbau und Management der Organisationen behandelt sowie Arbeitsweisen und Strategien der Interessenvertretung thematisiert. Begrifflichkeiten und Organisationsformen: Verbände, Vereine, NGOs, NPOs, Stiftungen Ziel aller Natur- und Umweltschutzorganisationen ist der Erhalt oder die Wiederherstellung einer intakten Umwelt. In der Literatur wird z. T. differenziert zwischen Organisationen des klassischen Naturschutzes und Umweltschutzorganisationen. Natur- und Umweltschutzorganisationen Naturschutzorganisationen setzen sich i. d. R. vor Ort für den Tier- und Pflanzenschutz und den Erhalt oder die Wiederherstellung von Öko-Systemen ein. Umweltschutzorganisationen arbeiten primär als Interessenvertretung und Lobbyisten im Dienst des Erhalts und der Verbesserung unserer Lebensgrundlagen und fordern daher auch eine nachhaltige Gestaltung aller Politikbereiche, wie z. B. der Energie-, Verkehrs- oder Agrarpolitik. Allerdings ist diese Differenzierung zwischen Natur- und Umweltschutzorganisationen inzwischen nicht mehr trennscharf. Umweltschutz und Nachhaltigkeit sind heute zentrale Themen aller in diesem Bereich tätigen Organisationen, Initiativen und Gruppen. Auch für Natur- und Umweltschutzorganisationen sind eine ganze Reihe von Bezeichnungen üblich. Neben Interner Link: Vereinen und Interner Link: Verbänden finden sich die Anglizismen Interner Link: NGO (non-governmental bzw. Nicht-Regierungsorganisation) sowie NPO (non-profit bzw. gemeinnützige Organisation). Zu den Akteuren des Natur- und Umweltschutzes zählen ferner Stiftungen, Genossenschaften sowie nicht formal organisierte Gruppen. Solche Ad-hoc Zusammenschlüsse werden analog zu anderen Politikfeldern auch in diesem Bereich als Initiativen sowie bei kontinuierlicher Aktivität im öffentlichen Raum als soziale Bewegungen (Umweltbewegung) bezeichnet. Alle hier angeführten Organisationen, Initiativen und Bewegungen des Natur- und Umweltschutzes sind der Zivilgesellschaft als Bereich jenseits von Markt und Staat und gesellschaftlicher Sphäre zuzurechnen, der u. a. die Funktion der Artikulation, Bündelung, Lautverstärkung und Vermittlung von Interessen und Anliegen zukommt. Abbildung 1: Anteile engagierter Personen im Bereich Umwelt, Naturschutz oder Tierschutz (FWS, gewichtet, eigene Berechnungen (DZA).) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Als PDF herunterladen (26.1kB) Abbildung 2: Anteile freiwillig engagierter Personen in vierzehn Bereichen 2019 (FWS 2019 gewichtet, eigene Berechnungen (DZA)) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ Als PDF herunterladen (29kB) Naturschutzorganisationen setzen sich i. d. R. vor Ort für den Tier- und Pflanzenschutz und den Erhalt oder die Wiederherstellung von Öko-Systemen ein. Umweltschutzorganisationen arbeiten primär als Interessenvertretung und Lobbyisten im Dienst des Erhalts und der Verbesserung unserer Lebensgrundlagen und fordern daher auch eine nachhaltige Gestaltung aller Politikbereiche, wie z. B. der Energie-, Verkehrs- oder Agrarpolitik. Allerdings ist diese Differenzierung zwischen Natur- und Umweltschutzorganisationen inzwischen nicht mehr trennscharf. Umweltschutz und Nachhaltigkeit sind heute zentrale Themen aller in diesem Bereich tätigen Organisationen, Initiativen und Gruppen. Zitat Bei vielen der Bezeichnungen für zivilgesellschaftliche Organisationen und Gruppen handelt es sich um umgangssprachliche Begriffe ohne rechtliche Grundlage. So werden mit Verband umgangssprachlich meist größere und föderal aufgebaute Organisation bezeichnet, deren Tätigkeit sich über mehrere Ebenen (lokal, regional, Landes-, Bundes- und EU-Ebene) erstrecken kann und die über angeschlossene Mitgliederorganisationen verfügen. Ein solcher Verband ist z. B. der Naturschutzbund Deutschland (Externer Link: NABU) mit mehr als 2.000 lokal und regional tätigen Mitgliederorganisationen. Die lokalen Mitgliederorganisationen sind i. d. R. organisatorisch unabhängig und eigenverantwortlich. Überwiegend konzentrierten sie sich gemäß ihrer jeweiligen Vereinssatzung auf die praktische Arbeit vor Ort, ohne weitergehende Zielsetzungen zu verfolgen. Der Deutsche Naturschutzring (Externer Link: DNR) ist dagegen eine Dachorganisation; seine Mitgliederorganisationen sind Natur- und Umweltschutzverbände, wie z. B. der NABU, aber auch Erzeugerverbände oder Natursportverbände; als Spitzenverband der Verbände besteht seine Aufgabe in der Koordination der Interessenvertretungsaktivitäten in diesem Bereich. Die Bezeichnung Verband betont somit den Verbundcharakter einer Organisation. Demgegenüber handelt es sich bei Vereinen umgangssprachlich eher um kleinere, auf individueller Mitgliedschaft basierende und primär lokal tätige Organisationen. Ein solcher Verein ist z. B. der Externer Link: NABU Stadtverband Münster e.V., der eine Geschäftsstelle unterhält und in vielfältige Aktionen vor Ort eingebunden ist. Eine ganze Reihe der Naturschutzorganisationen können auf eine lange Geschichte zurückblicken, die teilweise bis in das 19. Jahrhundert zurückreicht. Ursächlich für die Organisationsgründungen waren damals zum einen die Romantisierung der Natur, zum anderen kamen, etwa bei den Obst-, Gartenbau- und später auch den Kleingartenvereinen, utilitaristische (anwendungsorientierte) Überlegungen der Schulung und Versorgung der Bevölkerung zum Tragen. Als Bezeichnung für Organisationen mit primär politischen Zielsetzungen, ohne jedoch direkt in Form der Beteiligung an Wahlen oder durch politisches Mandat in der politischen Verantwortung zu stehen, hatten Verbände lange Zeit ein Alleinstellungsmerkmal. Dies ist jedoch längst nicht mehr der Fall. Inzwischen ist in den Sozialwissenschaften von "organisierten Interessen" die Rede. Wenn speziell auf die politische Einflussnahme fokussiert wird, ist die Bezeichnung Interessenvertretung üblich, so z. B. wenn der wissenschaftliche Dienst des Bundestages eine Dokumentation über die Interessenvertretung im Bereich Umweltpolitik, -schutz, -technologie und Biotechnologie erstellt. Schließlich findet sich in der populär- und politikwissenschaftlichen Literatur auch zunehmend die Bezeichnung Interner Link: Lobby-Akteur oder Lobbyist. Die Bezeichnungen Nichtregierungs-(NGO) sowie Nonprofit-Organisation (NPO) sind angelsächsischer Herkunft und ein Indikator (Anzeichen) sowohl für zunehmende Internationalisierung als auch Professionalisierung. Während die Bezeichnung NPO in erster Linie in den Wirtschaftswissenschaften üblich ist , werden als NGOs meist international tätige Organisationen bezeichnet. Im Bereich Natur- und Umweltschutz trifft dies häufig für Chapter bzw. Zweigstellen internationaler Natur- und Umweltschutzorganisationen in Deutschland zu. Beispiele hierfür sind etwa Greenpeace oder der World Wildlife Fund / World Wide Fund for Nature (WWF, Externer Link: www.worldwildlife.org, Externer Link: www.wwf.de). Einige NGOs unterscheiden sich in ihrer Gründungsgeschichte, Arbeitsweise, Finanzierung sowie in ihrem Organisationsaufbau vom klassischen Verband als föderal strukturierte Mitgliederorganisation. Sie sind, wie z. B. Greenpeace, in Anlehnung an Wirtschaftsunternehmen hierarchisch organisiert und werden wie eine Firma von einer kleinen Führungsgruppe Professioneller geleitet. Noch sind die unternehmensförmigen Organisationen im Natur- und Umweltschutz eher die Ausnahme als die Regel. Wie insgesamt in der Zivilgesellschaft, ist auch in diesem Bereich die überwiegende Mehrheit der Organisationen von der Rechtsform ein eingetragener Verein (e. V.), wie z. B. Robin Wood e. V. (Externer Link: www.robinwood.de). Der Verein als Rechtsform ist ein freiwilliger, auf Dauer angelegter, körperschaftlich organisierter Zusammenschluss von mehreren natürlichen oder juristischen Personen, die unter einem Gesamtnamen bestimmte Zwecke verfolgen. Auch die überregional tätigen Dachorganisationen – die Verbände – sind in Deutschland von ihrer Rechtsform meist als e. V. organisiert, so z. B. auch der Nabu. Beim Verein handelt sich es um eine mitgliederbasierte Rechtsform, wobei die Mitglieder Einzelpersonen sowie Organisationen sein können. Eher selten sind Organisationen des Natur- und Umweltschutzes als Stiftung organisiert. Bei der Stiftung handelt es sich um eine kapitalbasierte Rechtsform. Prominent herauszustellen ist hier die auf staatliche Initiative hin errichtete Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU, Externer Link: www.dbu.de), die als Stiftung bürgerlichen Rechts über einen erheblichen Kapitalstock verfügt und dessen Erträge im Dienst des Natur- und Umweltschutzes einsetzt. Aktuell gewinnt die Rechtsform Genossenschaft, die sowohl mitglieder- wie kapitalbasiert ist, für diesen Bereich an Bedeutung, wie sich anhand der Popularität von Energiegenossenschaften ablesen lässt . Genossenschaften sind aber weniger in der Interessenvertretung tätig, sondern dienen eher den individuellen Anliegen ihrer Mitglieder. Schließlich sind im Natur- und Umweltschutz auch viele Gruppen und Initiativen aktiv, die nicht formal rechtlich organisiert sind. Darunter fällt u. a. ein breites Spektrum von Bürgerinitiativen, die sich häufig punktuell und vor Ort für ein ganz spezifisches Anliegen, z. B. die Verhinderung des Baus eines Windparks, engagieren oder sich gegen die Vermüllung der Landschaft im Nahraum, wie z. B. die Bürgerinitiative Stoppt den Giftmüll e.V. (Externer Link: www.wir-wehren-uns.info), einsetzen. Als ein echter 'Klassiker' ist hier sicherlich die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V. (Externer Link: www.bi-luechow-dannenberg.de) zu nennen. Davon zu unterscheiden sind soziale Bewegungen, die im Bereich Umwelt- und Naturschutz auf breiter Front versuchen, auf Politik korrigierend und im Dienst von Nachhaltigkeit einzuwirken. Hierzu bedienen sie sich verschiedener Mobilisierungsstrategien, wie etwa Protest, Blockade, Boykott, und setzen dabei auf die Multiplikatorfunktion der Medien mit der Zielsetzung einer Interner Link: Beeinflussung der öffentlichen Meinung . Klassische Beispiele hierfür sind die Anti-Atomkraftbewegung oder die Umweltbewegung . Soziale Bewegungen verfügen häufig über Bewegungsorganisationen, die in ihrem Umfeld entstanden sind, und sich als Infrastruktur und Mobilisierungspotential der Bewegung etablieren. Ein Beispiel hierfür sind u. a. Umweltbüros und -läden. Aber soziale Bewegungen sind keine Organisationen mit Rechtsform und formalisierter Mitgliedschaft. Ferner sind soziale Bewegungen i. d. R. Ausdruck des Zeitgeistes und spiegeln in ihren Zielsetzungen politische Anliegen von hoher Dringlichkeit und gesellschaftlicher Relevanz wider, die aber nicht oder nur bedingt im politischen Raum Berücksichtigung finden. Viele der heutigen Interessenvertretungen im Bereich Natur- und Umweltschutz haben ihren Ursprung in sozialen Bewegungen. Dies wird deutlich bei einem Blick auf die Geschichte und insbesondere heutige Entwicklung der Organisationen. Naturschutz- und Umweltorganisationen (gestern und) heute In der Literatur wird retroperspektiv (rückblickend) auf "größere Wellen" von Organisationsgründungen im Bereich Umwelt- und Naturschutz verwiesen. Anlass der Entstehung war jeweils die Kritik an den herrschenden Verhältnissen in Wirtschaft und Politik, die eine Gefahr für Flora und Fauna darstellen, dem Wachstum der Wirtschaft erste Priorität einräumen und dadurch zur nachhaltigen Erosion bis hin zur völligen Zerstörung der ökologischen Grundlagen unseres Zusammenlebens beitragen. Das Gründungsgeschehen war jeweils eingebettet in sozial-gesellschaftspolitische Kontexte. Diese waren entweder eher wertkonservativ und von einem kulturpessimistischen Zeitgeist geprägt, oder aber Natur- und Umweltschutz wurde mit sozial-reformerischen Konzepten und Ansätzen einer ökologischen Modernisierung der Wirtschaft verbunden. Es lässt sich daher zwischen einer eher "konservativ-rechten" und einer eher "reformerisch-linken" Tradition der Organisationen und Bewegungen des Natur- und Umweltschutzes unterscheiden. Eine erste Gründungswelle wird bereits auf die Mitte des 19. Jahrhunderts und eine zweite auf Interner Link: die 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts datiert. Diese unterschiedlichen Traditionen hatten lange Zeit Auswirkungen auf das Selbstverständnis, die Zielsetzungen und Strategien der Organisationen. Doch heute verstehen sich die Natur- und Umweltschutzorganisationen durchgängig, einschließlich der traditionellen Verbände, als politisch tätige Interessenvertretungen, die im Dienst einer nachhaltigen Entwicklung arbeiten. Die Zielsetzung mit der Orientierung auf Umweltschutz kommt bereits im Namen zum Ausdruck, wie z. B. bei dem 1975 gegründeten und mitgliederstarken Bund für Umwelt und Naturschutz e. V. (BUND, Externer Link: www.bund.net). Auch hatte das Thema zwischenzeitlich an Schubkraft verloren, doch durch die soziale Bewegung Fridays for Future (Externer Link: https://fridaysforfuture.de) ist in jüngster Zeit eine neue Dynamik ausgelöst worden. Zitat Die Organisationen sehen sich heute eingebunden in einen Kontext, der durch Globalisierung und Europäisierung geprägt ist und insofern internationale Vernetzung und weltweite Zusammenarbeit erfordert. Die Zusammenarbeit mit und Mitgliedschaft in internationalen Natur- und Umweltschutzorganisationen, wie z. B. Friends of the Earth (Externer Link: www.foei.org), ist inzwischen ebenso üblich, wie die deutschlandweite Präsenz von Natur- und Umweltschutzorganisationen internationaler Provenienz,beispielsweise dem WWF. Neben einer stärkeren Orientierung auf Umwelt- und Klimaschutz als umfassende Aufgabe haben sich in den letzten Dekaden auch Veränderung im Hinblick auf das Management und das Strategierepertoire der Organisationen ergeben. Analog zu anderen Bereichen der Zivilgesellschaft haben sich die Organisationen des Natur- und Umweltschutzes weitgehend professionalisiert. Die Mehrheit ist immer noch mitgliederbasiert und als e. V. organisiert, aber neben der freiwilligen Mitarbeit und des bürgerschaftlichen Engagements hat die beruflich-bezahlte Tätigkeit, wie insgesamt in der Zivilgesellschaft, auch bei den Naturschutz- und Umweltorganisationen an Bedeutung gewonnen. Damit ging eine Veränderung der Finanzierung einher, die nicht mehr ausschließlich auf Mitgliederbeiträge, sondern in beträchtlichem Umfang auf Spenden, Sponsoring, Einnahmen aus wirtschaftlicher Tätigkeit (z. B. in Form der Erstellung wissenschaftlicher Expertisen) sowie auf öffentlicher Förderung basiert. Als weitere Neuerung ist die Adaption unternehmerischer Leitungsstrukturen zu nennen. Dies trifft insbesondere auf die in Deutschland tätigen Chapter internationaler Natur- und Umweltschutzorganisationen zu, wie z. B. auf Greenpeace oder die Tierschutzorganisation Peta Deutschland e. V. (People for the Ethical Treatment of Animals, Externer Link: www.peta.de bzw. international Externer Link: www.peta.org/international). Diese sind keine auf Basis von vielen lokalen Vereinen bottom-up entstandene und föderal strukturiere Verbände. Vielmehr sind sie top-down, hierarchisch gesteuerte Organisationen, die wie Unternehmen geführt werden. Sie verfügen auf lokaler Basis i. d. R. über mit der Zentrale lose verbundenen Gruppen, die aber nicht demokratisch in die Gesamtorganisationen eingebunden sind und daher auch keinen Einfluss, z. B. auf Strategieentscheidungen oder Rekrutierung des Führungspersonals, haben. Diese Organisationen sind überwiegend spendenfinanziert und insofern in hohem Maße abhängig von einem positiven Image in der allgemeinen Öffentlichkeit. Professionelles Fundraising, gekoppelt mit langfristig angelegter strategischer PR-Arbeit , gehören daher zu zentralen Managementbereichen dieser typischen Vertreter der zweiten Gründungswelle der Organisationen des Natur- und Umweltschutzes. Hierzu zählen auch die Forschungsinstitute und Think Tanks (Denkfabriken), die speziell zu den Themen Umwelt und Ökologie arbeiten. Als Pionier in diesem Feld ist das Institut für angewandte Ökologie (Öko-Institut e.V., Externer Link: www.oeko.de) mit Hauptsitz in Freiburg zu nennen, das 1977 im Umfeld der Anti-Atomkraft-Bewegung als kritische Alternative zum damaligen wissenschaftlichen Mainstream gegründet wurde. Das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie (Wuppertal Institut, Externer Link: https://wupperinst.org), das 1990 seine Arbeit aufnahm und sich als Think Tank an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft versteht, ist von seiner Rechtsform unternehmensförmig als gemeinnützige GmbH (kurz gGmbH) organisiert. Das Institut ist ein Indiz dafür, dass auch im Bereich Natur- und Umweltschutz Interessenvertretung durch wissenschaftliche Expertise nachhaltig an Bedeutung gewonnen hat. Im selben Jahr, ausgestattet mit einem erheblichen Stiftungskapital, das aus den Erlösen des Verkaufs eines öffentlichen Unternehmens stammt, wurde die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU) errichtet. Diese ist als unabhängige Stiftung in einem breiten Themenspektrum tätig und fördert praxisnahe Projekte u. a. mit engem Wirtschaftsbezug; ferner leistet sie Aufklärungsarbeit im Bereich Natur- und Umweltschutz. Think Tanks und wissenschaftliche Institute sind im Umwelt- und Naturschutz, analog zu anderen Bereichen, inzwischen zu wichtigen Akteuren der Interessenvertretung avanciert; sie dienen als neutrale Quelle der Information für Bürger*innen und ihnen kommt eine zentrale Rolle bei der Politikberatung zu. Insofern zeichnet sich der Bereich der Natur- und Umweltschutzorganisationen heute durch Pluralität und Diversität aus. Neben den klassischen Organisationen, deren Erfolg auf dem kontinuierlichen bürgerschaftlichen Engagement ihrer Mitglieder vor Ort basiert, setzen die neuen unternehmensähnlichen Organisationen eher auf Kampagnen und Medienwirksamkeit, während Stiftungen und Think Tanks Interessenvertretung für den Natur-, Umwelt- und Klimaschutz mittels Politikberatung sowie der Erarbeitung und Verbreitung von Expertisen betreiben. Für die Zukunft ist von einer weiteren Zunahme der Interessenvertretungsorganisationen auch in diesem Bereich auszugehen, da insgesamt ein Differenzierungsprozess der Verbände eingesetzt hat. So sind im Zuge der erstarkenden Orientierung auf Ökologie und Nachhaltigkeit auch in bisher eher nicht mit dem Natur- und Umweltschutz in Verbindung gebrachten Bereichen, wie etwa der Interessenvertretung im Politikfeld Verkehr, neue Organisationen entstanden, die sich, wie z. B. der Verkehrsclub Deutschland e.V. (VCD, Externer Link: www.vcd.org ) oder der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club e.V. (ADFC, Externer Link: www.adfc.de), einer im Sinne des Umweltschutzes nachhaltigen Entwicklung verpflichtet fühlen. Ein weiteres Beispiel ist die Agrarwirtschaft. Der hier als Interessenvertretung lange Zeit dominante Deutsche Bauernverband e.V. (DBV, Externer Link: www.bauernverband.de) hat inzwischen erheblich Konkurrenz bekommen durch eher an den Zielen einer nachhaltigen Landwirtschaft orientierten und damit auch dem Natur- und Umweltschutz verpflichteten Verbände, wie z. B. dem Bundesverband ökologischer Weinbau e. V. (Externer Link: www.ecovin.de) oder dem Bund ökologische Lebensmittelwirtschaft e. V. (BÖLW, Externer Link: www.boelw.de). Parallel zur Entwicklung eines vielfältigen Akteursspektrums ist eine Differenzierung der Arbeitsweisen und Strategien der Natur- und Umweltschutzorganisationen erfolgt. Diese sind heute auf allen Ebenen des politischen Systems – lokal, regional, national, europäisch und international – tätig. Die Dachverbände und NGO-Zentralen entsenden ihre Vertreter*innen zu internationalen Konferenzen und sind z. T. akkreditiert bei internationalen Organisationen, wie z. B. bei der Interner Link: UNO. Die Projekttätigkeit vor Ort, z. B. im Rahmen des Tierschutzes, nimmt nach wie vor einen wichtigen Stellenwert ein und bietet viele Möglichkeiten des bürgerschaftlichen Engagements und der freiwilligen Mitarbeit im Dienst des Natur- und Umweltschutzes. Gleichzeitig bedienen sich die Organisationen eines breiten Spektrums von Lobby-Instrumenten und -strategien, das vom sog. Inhouse-Lobbying über öffentlichkeitswirksame Kampagnen, gerade auch unter Einsatz des Internets, bis hin zur Organisation von Boykotts reicht. Inhouse-Lobbying bezieht sich auf die nicht-öffentliche Interessenvertretung mit den Adressaten (Ministerial-)Bürokratie bzw. Kommission auf EU-Ebene, Regierung und Parlament. Die Interessenvertretung erfolgt durch Kommunikation und Informationsaustausch sowie über die Zurverfügungstellung von Expertise vonseiten der Natur- und Umweltschutzorganisationen. Ihre Vertreter*innen sind z. B. Mitglieder von Kommission und Gremien der Ministerien und damit indirekt an der Gesetzgebung beteiligt. Sie pflegen gute Kontakte zu Abgeordneten ihrer Themenfelder wie auch zu den Stabsstellen und Mitarbeiter*innen der thematisch relevanten Ministerien und sie werden zu Anhörungen im Rahmen von Gesetzgebungsverfahren oder von der EU-Kommission zu regelmäßigen Konsultationen geladen. Inhouse-Lobbying ist die klassische Form der Interessenvertretung. Davon abzugrenzen sind neuere Instrumente, wie langfristig angelegte Kampagnen, die erst durch ihre mediale Vermittlung wirksam werden. Diese haben sich seit etwa der 1980er Jahre etabliert. Vorreiter einer Interessenvertretung, die die Medien als Lautverstärker und Multiplikator nutzen, waren die Natur- und Umweltschutzorganisationen, allen voran Greenpeace mit seinen spektakulären Aktionen. Als ein vergleichsweise neues Instrument der Interessenvertretung ist der Boykott zu nennen. Das bekannteste Beispiel ist der Aufruf von Greenpeace, nicht mehr bei Esso oder Shell zu tanken und damit den Ölfirmen ökonomisch zu schaden. Es handelte sich hierbei um eine Aktion, die sich am Beispiel der Verschrottung der Bohrinsel Brent Spar in der Nordsee gegen das umweltschädigende Verhalten der Ölfirmen richtete. Auch Proteste und Aktionen zivilen Ungehorsams zählen nach wie vor zum Aktionsspektrum der Interessenvertretung in diesem Feld. Dass der Gang auf die Straße und ziviler Ungehorsam immer noch ein wirksames Mittel der Interessenvermittlung ist, zeigt der Erfolg der Schülerbewegung Fridays for Furture. Dank ihrer Aktionen ist die Dringlichkeit des Themas mit dem Fokus auf Klimaschutz weltweit an prominenter Stelle auf die politische Agenda gerückt. Schließlich sind es wiederum die Natur- und Umweltschutzverbände, die frühzeitig den Gang über die Gerichte bzw. die Interner Link: Justizialisierung der Interessenvertretung als wirksames Instrument für ihre Arbeit entdeckt haben und zunehmend zielgenau einsetzen. Eine Vorreiterrolle hat diesbezüglich in Deutschland die Deutsche Umwelthilfe (Externer Link: www.duh.de), die das Instrument der Verbandsklage mit der Zielsetzung einsetzt, dass die von der EU festgelegten Emissionsgrenzwerte in den Städten eingehalten werden. Als bisher größter Erfolg der Interessenvertretung auf dem Rechtsweg ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Klimaschutzgesetz von 2021 einzuschätzen. Unter Bezugnahme auf Generationengerechtigkeit wurde der Klage stattgegeben, weil das Gesetz keine weiteren Maßnahmen für die Jahre nach 2031 vorsieht und insofern nicht mit den Grundrechten der jüngeren Generation vereinbar ist (Interner Link: Bundesverfassungsgericht 2021). Da Erfolg Schule macht, steigt die Bereitschaft der Natur- und Umweltschutzorganisationen, auf dem Weg über die Gerichte Politik zu beeinflussen. Bundesverfassungsgericht – Beschluss vom 24. März 2021: Urteil zum Klimaschutzgesetz Leitsätze 1. Der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schließt den Schutz vor Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter durch Umweltbelastungen ein, gleich von wem und durch welche Umstände sie drohen. Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen. Sie kann eine objektivrechtliche Schutzverpflichtung auch in Bezug auf künftige Generationen begründen. 2. Art. 20a GG verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Dies zielt auch auf die Herstellung von Klimaneutralität. a. Art. 20a GG genießt keinen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Belangen, sondern ist im Konfliktfall in einen Ausgleich mit anderen Verfassungsrechtsgütern und Verfassungsprinzipien zu bringen. Dabei nimmt das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel weiter zu. b. Besteht wissenschaftliche Ungewissheit über umweltrelevante Ursachenzusammenhänge, schließt die durch Art. 20a GG dem Gesetzgeber auch zugunsten künftiger Generationen aufgegebene besondere Sorgfaltspflicht ein, bereits belastbare Hinweise auf die Möglichkeit gravierender oder irreversibler Beeinträchtigungen zu berücksichtigen. […] Quelle: Bundesverfassungsgericht: Externer Link: www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Downloads/DE/2021/03/rs20210324_1bvr265618.pdf Leitsätze 1. Der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schließt den Schutz vor Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter durch Umweltbelastungen ein, gleich von wem und durch welche Umstände sie drohen. Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen. Sie kann eine objektivrechtliche Schutzverpflichtung auch in Bezug auf künftige Generationen begründen. 2. Art. 20a GG verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Dies zielt auch auf die Herstellung von Klimaneutralität. a. Art. 20a GG genießt keinen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Belangen, sondern ist im Konfliktfall in einen Ausgleich mit anderen Verfassungsrechtsgütern und Verfassungsprinzipien zu bringen. Dabei nimmt das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel weiter zu. b. Besteht wissenschaftliche Ungewissheit über umweltrelevante Ursachenzusammenhänge, schließt die durch Art. 20a GG dem Gesetzgeber auch zugunsten künftiger Generationen aufgegebene besondere Sorgfaltspflicht ein, bereits belastbare Hinweise auf die Möglichkeit gravierender oder irreversibler Beeinträchtigungen zu berücksichtigen. […] Quelle: Bundesverfassungsgericht: Externer Link: www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Downloads/DE/2021/03/rs20210324_1bvr265618.pdf Quellen / Literatur Bundeszentrale für politische Bildung (bpb): Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 19: Lobbying und Politikberatung. Bonn 2010: Interner Link: www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32761/lobbying-und-politikberatung/. Alemann von, Ulrich: Organisierte Interessen in der Bundesrepublik, Opladen, 2012. Brand, Karl-Werner: Umweltbewegung. In: Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hrsg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Frankfurt, 2008: 219-244. Deutscher Bundestag: Dokumentation: Übersicht der Akteure im Bereich Umweltpolitik, Umweltschutz, Biotechnologie, (WD 8 -3000 – 002/18). Berlin: 2018: Externer Link: www.bundestag.de/resource/blob/561810/5c5514ce8afb50e1e5e02c5a6911de3a/wd-8-002-18-pdf-data.pdf. Eden, Sally: Greenpeace. In: New Political Economy (9/4), 2004: 595-610. Mez, Luz: Umweltschutzverbände. 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Annette Zimmer
2022-12-08T00:00:00
2022-07-11T00:00:00
2022-12-08T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/umwelt/naturschutzpolitik/510504/akteure-in-der-naturschutzpolitik-interessenverbaende-und-organisationen/
Die Organisationen des Umwelt- und Naturschutzes zählen nicht nur zu den ältesten zivilgesellschaftlichen Interessenvertretungen, sondern auch zu den Organisationen, die einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung haben. Welche verschiedenen Formen gib
[ "Naturschutzpolitik", "Naturschutz", "Klima", "Natur", "Klimawandel" ]
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Prof. Dr. Sabine A. Döring | 14. Bundeskongress politische Bildung 2019 | bpb.de
Prof. Dr. Sabine A. Döring. (© Privat) ist Inhaberin des Lehrstuhls für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Externer Link: Eberhard Karls Universität Tübingen und habilitierte sich mit der Arbeit Gründe und Gefühle: Zur Lösung „des“ Problems der Moral. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Ethik und Theorie der praktischen Rationalität mit einem Fokus auf der Rolle der Emotionen im praktischen Überlegen und Entscheiden. 2009 erschien im Suhrkamp-Verlag ihr Buch Philosophie der Gefühle. Ferner hat sie zahlreiche Artikel in internationalen peer-reviewed Journals zum Thema publiziert. In jüngerer Zeit befasst sie sich schwerpunktmäßig auch mit politischen Gefühlen und wird dazu gemeinsam mit ihrem Kollegen Thomas Sturm (Barcelona) im März eine von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte internationale und interdisziplinäre Konferenz veranstalten ("Crying for respect, seduced by populism? Nationalism as a challenge to the European Project", 18 - 20 March 2019 in Tübingen) Mehr Infos: Externer Link: natcha.eu Interner Link: Thesenpapier zu Sektion 1: Prof. Dr. Sabine A. Döring Prof. Dr. Sabine A. Döring. (© Privat)
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2018-12-17T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/282754/prof-dr-sabine-a-doering/
[ "14. Bundeskongress Politische Bildung", "Referentin" ]
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Redaktion | Wahlen in Deutschland: Grundsätze, Verfahren, Analysen | bpb.de
Herausgeberin Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Bonn 2021 Dieses Dossier beruht auf den Texten aus dem gleichnahmigen Interner Link: Band, der in der Reihe Externer Link: Zeitbilder erschienen ist: Wahlen in Deutschland: Grundsätze, Verfahren und Analysen Von: Karl-Rudolf Korte Bestellnummer: 3941 ISBN 978-3-8389-7215-2 10., überarbeitete und aktualisierte Auflage Redaktionsschluss: Juni 2021 Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Für die inhaltlichen Aussagen trägt der Autor die Verantwortung. Projektleitung Dr. Birgitta Gruber-Corr, bpb Lektorat Dirk Michel, Mannheim Bildredaktion Dirk Michel, Dr. Birgitta Gruber-Corr Redaktionelle Bearbeitung seitens der NRW School of Governance Sandra Plümer M. A., Arno von Schuckmann M. A. sowie Dr. Maximilian Schiffers, unterstützt durch Vanessa Urbanek und Tom Höpfner Redaktion bpb.de Frederik Schetter, Karl-Leontin Beger und H. Bräutigam
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-07T00:00:00
2021-06-28T00:00:00
2022-01-07T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/politisches-system/wahlen-in-deutschland/335677/redaktion/
An der Entstehung dieses Angebotes beteiligte Personen.
[ "Redaktion" ]
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Literature and Internet Resources | Italy | bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2012-10-30T00:00:00
2012-10-09T00:00:00
2012-10-30T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/145719/literature-and-internet-resources/
Here you can find Literature and Internet Resources for the Country Profile 23: "Italy" by Dr. Giorgia Di Muzio.
[ "Migration", "Italy", "literature", "links", "web", "Information", "resources", "Italien" ]
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Die Wahl des US-Präsidenten | einfach POLITIK | bpb.de
Interner Link: Zur Hörversion Am 8. November 2016 haben die Amerikaner einen neuen Präsidenten gewählt. Donald Trump wurde der 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Er regiert vom Weißen Haus aus. Im Januar 2017 zog der neue Präsident dort ein. Bei der Wahl des US-Präsidenten ist folgendes passiert: Eine andere Bewerberin hat mehr Stimmen bekommen als Donald Trump. Mehr Amerikaner haben die Bewerberin Hillary Clinton gewählt. Trotzdem hat Donald Trump die Wahl gewonnen. Warum ist das so? Wie funktioniert eigentlich die Präsidentschaftswahl in den USA? Inhalt Interner Link: Wer hatte die Chance, US-Präsident oder US-Präsidentin zu werden? Interner Link: Wie wurde der US-Präsident gewählt? Interner Link: Die Wahl wurde auf der ganzen Welt mit Spannung verfolgt. Was waren die Gründe dafür? Interner Link: Der Präsident der USA kann viel bestimmen Wer hatte die Chance, US-Präsident oder US-Präsidentin zu werden? Alle vier Jahre wird in den USA der Präsident oder die Präsidentin gewählt. Nur dann hatte bisher ein Bewerber (Kandidat) eine Chance, Präsident zu werden: Wenn eine der beiden großen Parteien ihn vorgeschlagen hat. Die großen Parteien sind: die Demokratische Partei und die Republikanische Partei. Der gewählte US-Präsident Donald Trump bei seiner Rede in der Wahlnacht. (© picture-alliance/AP) Die Anhänger der großen Parteien stimmen ab, wer Kandidat werden soll. Diese Abstimmungen heißen: Vorwahlen. Die Vorwahlen entscheiden, wer Kandidat für die Wahl zum Präsidenten werden soll. In den Vorwahlen wurden gewählt: Als Kandidat der Republikanischen Partei: Donald Trump. Als Kandidatin der Demokratischen Partei: Hillary Clinton. In einem Wahlkampf haben die Kandidaten für sich geworben. Zum Beispiel durch Reden in Hallen oder im Fernsehen. Der Wahlkampf war hart: Es gab Beschuldigungen und Beleidigungen. In Europa wurde vor allem Donald Trump dafür kritisiert, was er im Wahlkampf gesagt hat. Am 8. November war es so weit: Die Amerikaner haben gewählt. Nachfolger von Präsident Barack Obama wird: Donald Trump. Der Kandidat der Republikaner hat die Wahl mit 62.212.752 Stimmen gewonnen. Demokratin Hillary Clinton hatte über zwei Millionen Stimmen mehr gewonnen. Trotzdem hat sie die Wahl verloren. "Wie kann das sein?" fragen Sie sich jetzt vielleicht. Der Grund dafür ist das komplizierte Wahlsystem in den USA. Wie wurde der US-Präsident gewählt? So funktioniert die Wahl zum Präsidenten: Die USA besteht aus 50 Bundesstaaten. Jeder Bundesstaat hat nach dem Gesetz eine bestimmte Zahl an "Wahlmänner". Große Bundesstaaten haben mehr als kleine. Die Wahlmänner haben nur eine Aufgabe: Den Präsidenten der USA zu wählen. Dies geschieht am 2. Mittwoch im Dezember. Wählerin bei den Vorwahlen in Ohio 2012. (© picture-alliance/dpa) Vorher, im November, stimmen die Bürger der USA darüber ab, wen Wahlmänner ihres Bundesstaates zum Präsidenten wählen sollen. Die Wahlmänner stimmen für den Kandidaten, der von den Bürgern aus ihrem Staat, die meisten Stimmen bekommen hat. Im Bundesstaat Kalifornien gibt es zum Beispiel 55 Wahlmänner. Alle 55 Wahlmänner stimmen für einen Kandidaten. Sie stimmen für den Kandidaten, der von den Bürgern Kaliforniens die meisten Stimmen bekommen hat. Egal ist, wie viele Stimmen der Kandidat mehr bekommen hat. Egal ist, ob er nur 10 Stimmen mehr bekommen hat oder ob er 1 Millionen Stimmen mehr bekommen hat. Sein Gegner bekommt keine einzige Stimme der Wahlmänner! In den anderen Bundesstaaten ist dies auch so (mit zwei Ausnahmen). Wenn das in mehreren Bundesstaaten passiert, kann es sein, dass ein Kandidat insgesamt im Land mehr Wählerstimmen bekommen hat, jedoch weniger Wahlmännerstimmen. Und nur diese entscheiden, wer US-Präsident wird! Bei der Wahl am 8. November ist genau das passiert: Donald Trump hat die Wahl gewonnen, obwohl er weniger Stimmen als Hillary Clinton bekommen hat. Bei der Wahl von George W. Bush im Jahr 2000 ist das schon mal geschehen. Donald Trump zieht also im Januar 2017 als neuer US-Präsident in das Weiße Haus ein. Die Wahl wurde auf der ganzen Welt mit Spannung verfolgt. Was waren die Gründe dafür? Hillary Clinton und Donald Trump bei ihrer zweiten TV-Debatte (© picture-alliance/AP) Die USA sind eine Weltmacht. Welche Politik die USA machen, was sie sagen und tun, ist für die Länder der Welt wichtig. Weil die USA wirtschaftlich und militärisch stark sind. Wirtschaftliche Stärke: In der USA gibt es viele Firmen, die Waren herstellen und verkaufen. Große US-Firmen sind in der ganzen Welt tätig. Zum Beispiel Microsoft oder Coca-Cola. Die USA sind auch ein großer Markt. In den USA gibt es viele Menschen und Firmen, die etwas einkaufen können. Auch Waren von Firmen aus Deutschland. Oder aus anderen Ländern. Die USA verkaufen und kaufen viele Waren. Wenn die USA bestimmen, dass ihre Regeln für das Kaufen und Verkaufen sich ändern, können andere Länder reicher oder ärmer werden. Zum Beispiel weil sie in den USA mehr oder weniger verkaufen können. Militärische Stärke: Die USA haben eine besonders große Armee. Sie haben ungefähr 1,4 Millionen Soldaten und viele und moderne Panzer, Kriegsschiffe und Flugzeuge. In vielen Ländern gibt es Soldaten der USA. Die USA hat deshalb mehr Möglichkeiten, Flugzeuge oder Soldaten dorthin zu schicken, wo Konflikte oder Kriege sind. Der Präsident der USA kann viel bestimmen Barack Obama, US-Präsident von 2009 - 2017 mit Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Pressekonferenz (© picture-alliance, Sven Simon) Der Präsident der USA kann viel entscheiden. Darüber was die USA sagen und tun. Deshalb ist wichtig, wer Präsident oder Präsidentin wird. Auch für die anderen Länder der Erde. In der Politik der USA hat der Präsident viel zu bestimmen. Dies zeigt ein Vergleich zwischen dem US-Präsidenten und der deutschen Bundeskanzlerin: In einer eigenen Wahl entscheidet das Volk der USA darüber: Wer soll Präsident oder Präsidentin der USA werden? In Deutschland wählt der Bundestag die Bundeskanzlerin. Vorher sprechen die im Bundestag vertretenen Parteien darüber, wer gewählt werden soll. Der Bundestag kann die Bundeskanzlerin auch abwählen. Und eine neue wählen. Das können die Parlamente in den USA so nicht. Der US-Präsident ist Oberbefehlshaber der Armee. Er kann bestimmen wo das Militär eingesetzt wird. In Deutschland muss der Bundestag einem Einsatz zustimmen. Wenn die Parlamente ein Gesetz beschließen, kann der Präsident ein Veto einlegen. Veto heißt: ein Gesetz verhindern oder verzögern. Die Bundeskanzlerin kann das nicht. Aber dies passiert auch häufig: Die Vorschläge des US-Präsidenten für ein Gesetz, werden von den Parlamenten abgelehnt. Interner Link: Wer hatte die Chance, US-Präsident oder US-Präsidentin zu werden? Interner Link: Wie wurde der US-Präsident gewählt? Interner Link: Die Wahl wurde auf der ganzen Welt mit Spannung verfolgt. Was waren die Gründe dafür? Interner Link: Der Präsident der USA kann viel bestimmen Der gewählte US-Präsident Donald Trump bei seiner Rede in der Wahlnacht. (© picture-alliance/AP) Wählerin bei den Vorwahlen in Ohio 2012. (© picture-alliance/dpa) Hillary Clinton und Donald Trump bei ihrer zweiten TV-Debatte (© picture-alliance/AP) Barack Obama, US-Präsident von 2009 - 2017 mit Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Pressekonferenz (© picture-alliance, Sven Simon)
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Wolfram Hilpert
2019-03-05T00:00:00
2016-05-13T00:00:00
2019-03-05T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/politisches-system/politik-einfach-fuer-alle/227813/die-wahl-des-us-praesidenten/
Am 8. November haben die Amerikaner einen neuen Präsidenten gewählt: Donald Trump. Er bekam weniger Stimmen als seine Gegnerin, trotzdem hat er die Wahl gewonnen. Wie kann das sein?
[ "Einfach Politik", "Inklusion", "leichte Sprache", "Einfache Sprache", "USA", "Donald Trump", "Hillary Clinton", "US Wahl", "Wahlsystem", "USA" ]
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Partei der Humanisten | Landtagswahl Mecklenburg-Vorpommern 2021 | bpb.de
Gründungsjahr Landesverband 2021* Mitgliederzahl in Mecklenburg-Vorpommern 28* Landesvorsitz Tom Kühnel* Wahlergebnis 2016 nicht angetreten *nach Angaben der Partei Die "Partei der Humanisten" (Die Humanisten) entstand 2014. Der Landesverband Mecklenburg-Vorpommern wurde im Mai 2021 gegründet. Bislang konnten Wählerinnen und Wähler im Bundesland die Partei nur bei der Wahl zum Europäischen Parlament 2019 wählen. Die Humanisten erreichten dabei mit 0,1 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern nur etwa die Hälfte ihres bundesweiten Ergebnisses. Die Partei versteht sich als "rational, liberal und fortschrittlich". Politik soll faktenbasiert sein, auf wissenschaftlichen Errungenschaften aufbauen und freiheitlich sein. Die Partei setzt sich für ein "universelles Grundeinkommen" ein und will den Spitzensteuersatz auf hohe Einkommen auf 50 Prozent erhöhen. Sie will eine größere Trennung von Kirche und Staat. Der Staat soll eine kinderfreundliche Familienpolitik betreiben und gleichzeitig das Adoptions- und das Abtreibungsrecht liberalisieren. Aktive Sterbehilfe möchte die Partei legalisieren. Die Humanisten wollen ein einfacheres Steuersystem. Sie treten für mehr Klima- und Tierschutz ein. Die Meinungsfreiheit soll gestärkt werden, so ist die Partei gegen die Indizierung von Unterhaltungsmedien. Des Weiteren drängt die Partei auf die Legalisierung von "psychoaktiven Substanzen". Im Bereich Demokratie lehnt die Partei den Fraktionszwang ab und möchte die Rechte der einzelnen Abgeordneten stärken. Darüber hinaus soll das aktive Wahlrecht auf 16 Jahre reduziert werden. Ein Programm für die Landtagswahl 2021 in Mecklenburg-Vorpommern haben Die Humanisten bisher nicht veröffentlicht. Gründungsjahr Landesverband 2021* Mitgliederzahl in Mecklenburg-Vorpommern 28* Landesvorsitz Tom Kühnel* Wahlergebnis 2016 nicht angetreten *nach Angaben der Partei
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-09-01T00:00:00
2021-08-19T00:00:00
2021-09-01T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/mecklenburg-vorpommern-2021/338709/partei-der-humanisten/
Die Humanisten wurden 2014 gegründet und bauen ihr Politikverständnis auf einem rationalen, liberalen und fortschrittlichen Weltbild auf. Ihr Ziel ist es, Politik auf wissenschaftlichen Errungenschaften aufzubauen und die Meinungsfreiheit sowie die R
[ "Parteiprofil", "Landtagswahl Mecklenburg-Vorpommern 2021", "Die Humanisten" ]
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Glossar | Digitalisierung | bpb.de
Agenda Setting das Setzen konkreter Themenschwerpunkte, insbesondere in gesellschaftlichen oder politischen Debatten, und damit Bestimmung dessen, worüber geredet wird Algorithmus eine Handlungsvorgabe, um eine Aufgabe zu lösen. Der Algorithmus verarbeitet nach einer bestimmten Vorschrift Daten und liefert dann automatisiert ein Ergebnis. Anthropomorphismus Prozess der Vermenschlichung, indem anderen Lebewesen oder Objekten menschliche Eigenschaften zugesprochen werden Bandbreite auch Datenübertragungsrate; die digitale Datenmenge, die innerhalb einer Zeitspanne (zumeist eine Sekunde) über einen Übertragungskanal (Kabel oder Funk) übertragen wird bzw. werden kann Big Data große Datenmenge; zudem auch Sammelbegriff für Ansätze, um große Datenmengen auszuwerten und um Muster sowie Gesetzmäßigkeiten in diesen Daten zu entdecken binär Eigenschaft eines Zahlensystems, bei dem nur zwei Ziffern für die Darstellung von Zahlen verwendet werden. Diese Ziffern sind in der Darstellung üblicherweise 0 und 1. Black-Hat-Hackerin /-Hacker eine Person, die ihre Fähigkeiten im Hacken von Datensystemen für illegale oder ethisch verwerfliche Zwecke einsetzt, zum Beispiel um Sicherheitslücken aufzuspüren und so die Software für kriminelle Tätigkeiten auszunutzen Bring your own Device (BYOD) bezeichnet den Ansatz, bei dem Lernende ihre eigenen mobilen Endgeräte an Bildungsorte mitbringen, um sie dort zu nutzen Chatbot technisches System, das textbasiert mit Menschen in Dialog treten kann. Algorithmen bestimmen, welche Antworten ein Chatbot auf welche Fragen gibt. Client-Server-Kommunikation Form der elektronischen Kommunikation, bei der Computer (Clients) von einem zentralen Computer (Server) Dienste und Informationen anfordern. Der Server kommuniziert dabei zumeist mit mehreren Clients und hat eine zentrale Position in einem Netzwerk. Cloud IT-Infrastruktur, bei der verschiedene Geräte und Anwendungen, wie Speicherplatz oder Rechenleistung, über das Internet verfügbar gemacht werden Crowdworkerinnen/-worker selbstständig Beschäftigte, die über das Internet an Aufgaben mitarbeiten, die traditionell unternehmens- oder organisationsintern bearbeitet werden, zum Beispiel Kategorisierung von Materialien Cyberkrieg kriegerische Auseinandersetzung, die zwischen Staaten mit Mitteln der Informationstechnik oder um Mittel der Informationstechnik geführt wird Cyberkriminalität Straftaten, die mittels Computern oder in Computersystemen begangen werden Cybersicherheit auch Informationssicherheit; Eigenschaften von IT-Systemen, die ihre Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität sicherstellen sollen, aber auch die Beschäftigung damit Cyberspionage das Ausspähen von Daten in fremden Computersystemen mittels Hacks; wird oft von Staaten gegen andere Staaten begangen Darknet nicht-indizierter Teil des Internets, der deshalb nicht über herkömmliche Suchmaschinen gefunden werden kann Datenhoheit Personen, deren Daten erhoben, verarbeitet und gespeichert werden, wissen, welche Daten über sie, wo und wie gespeichert sind. digital divide auch digitale Kluft; bestehende Unterschiede des Zugangs zu Informationstechnologien verschiedener Bevölkerungsgruppen oder auch Volkswirtschaften aufgrund sozioökonomischer Faktoren digital literacy / Medien- und Digitalkompetenz Fähigkeit, digitale Technologien, Medien und ihre Inhalte sachkundig und reflektiert zu nutzen und einzusetzen DDoS-Attacke Cyberangriff, der dadurch ausgeführt wird, dass eine Vielzahl an Computern über das Internet Anfragen an ein Zielsystem schickt und es so zur Überlastung bringt Doxing das internetbasierte Sammeln und Veröffentlichen persönlicher, mitunter intimer Informationen E-Government Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in öffentlichen Institutionen Feed Technik zur einfachen und strukturierten, oft listenförmigen Darstellung von Veränderungen und Aktualisierungen auf Websites Filterblase auch Filterbubble; Konzept, wonach algorithmenbasierte Anwendungen, wie Nachrichtenaggregatoren oder soziale Netzwerke, Informationen so stark nach deren jeweiliger Relevanz für den Nutzer bzw. die Nutzerin filtern, dass Informations- und Meinungsvielfalt reduziert wird Gig-Economy Bereich des Arbeitsmarktes, bei dem zumeist kleine Aufträge kurzfristig an Selbstständige vergeben werden Hack / Hacking Finden und Ausnutzen von Schwächen in Soft- und Hardware, um in diese einzudringen und sie ggf. zu manipulieren Hackathon leitet sich vom Begriff Hack im Sinne einer Problemlösung ab und bezeichnet ein Vorgehen, bei dem Engagierte für einen begrenzten Zeitraum gemeinsam an Innovationen arbeiten, die einer bestimmten vorab definierten Herausforderung begegnen Hackerin / Hacker ursprünglich "Tüftlerin" bzw. "Tüftler"; bezeichnet heute Computerexpertinnen und -experten, die in der Lage sind, Schwächen in Soft- und Hardware aufzuspüren und auszunutzen Hardware Sammelbegriff für alle physischen Komponenten eines datenverarbeitenden Systems. Die Hardware führt dabei die Software aus. Hassrede, Online-Hassrede auch Hate Speech; sprachlicher Ausdruck des Hasses zur Beleidigung oder Herabsetzung einzelner Personen oder ganzer Personengruppen Homeschooling Form der Bildung, bei der Kinder und Jugendliche zu Hause oder auch an anderen Orten außerhalb der Schule unterrichtet werden HTTP (Hypertext Transfer Protocol) Protokoll zur Übertragung von Daten im Internet; zumeist verwendet, um Websites in einen Webbrowser zu laden Hybride Kriegsführung feindliches Verhalten eines Staates gegenüber einem anderen Staat mit Methoden, die über traditionelle Kriegsführung hinausgehen und insbesondere auf Manipulation des Gegners oder auf Geheimdienstoperationen setzen Industrie 4.0 verweist auf die vierte Industrielle Revolution und bezeichnet allgemein die weitgehende Automatisierung und Vernetzung der Produktion sowie zentraler Leistungen und Prozesse im Dienstleistungssektor Influencerin und Influencer Person, die online über eine hohe Reichweite verfügt und regelmäßig in sozialen Netzwerken veröffentlicht, oftmals zu bestimmten Themen. Ihr wird zugeschrieben, Einfluss auf ihre Zielgruppe in Bezug auf deren Konsumverhalten und Meinungsbildung zu haben. interaktives Whiteboard weiße horizontale Oberfläche – ähnlich einer Tafel –, die über Sensoren berührungsempfindlich ist und die direkte Interaktion mit Computersystemen ermöglicht Intermediäre auch Vermittler; Bindeglied zwischen zwei verschiedenen Ebenen. Soziale Netzwerke und Suchmaschinen sind beispielsweise Vermittler zwischen Information und Rezipientin oder Rezipient. Internet der Dinge auch "Internet of Things"; Sammelbegriff für Technologien, die physische Gegenstände miteinander und mit virtuellen Anwendungen verknüpfen Internet Governance im engeren Sinne die Verwaltung der zentralen Ressourcen des Internets und seiner Infrastruktur; im weiteren Sinne jegliche Regulierung, die die Nutzung oder Entwicklung des Internets beeinflusst. Darunter fällt insbesondere die Verwaltung von IP-Adressen sowie des weltweiten Webadressenverzeichnisses Domain Name System (DNS). Hierfür ist die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) verantwortlich. Internet Protocol (IP) weit verbreitetes Netzwerkprotokoll, das die Grundlage des Internets darstellt und das Versenden von Datenpaketen lokal und über das Internet ermöglicht. IP-Adressen markieren dabei mögliche Empfängerinnen/Empfänger und Absenderinnen/Absender von Datenpaketen. Internet Service Provider (ISPs) auch Internetdienstanbieter; Anbieter von Dienstleistungen oder Technologien, die für die Nutzung oder den Betrieb von Diensten im Internet erforderlich sind IT-Forensik Beweissicherung mittels Analyse technischer Merkmale und Spuren in Computersystemen und Netzwerken, zumeist, um sie als Beweismittel in gerichtlichen Verfahren zu verwenden Kritische Infrastruktur Infrastrukturen, die für das Funktionieren des staatlichen Gemeinwesens als wesentlich erachtet werden, zum Beispiel das Gesundheitswesen, der öffentliche Nahverkehr, Großbanken oder Telekommunikationsnetze Künstliche Intelligenz (KI) Sammelbegriff für wissenschaftliche Zweige, insbesondere in der Informatik, die sich mit der Automatisierung von Prozessen durch lernende Systeme bzw. automatisiertem intelligentem Verhalten beschäftigen; auch Begriff für Systeme, die maschinell lernen oder sich automatisiert intelligent verhalten. Der Begriff ist umstritten, weil "Intelligenz" nicht hinreichend definiert wird. Malware schadhafte Software; ein Computerprogramm, das Schwachstellen in anderer Software ausnutzt, um deren Funktionsweise zu manipulieren Marktortprinzip Prinzip zur Regelung der Rechtsstellung von Unternehmen. Laut diesem Prinzip müssen sich all diejenigen Unternehmen an die Regularien eines Landes halten, die in dem Markt dieses Landes geschäftlich aktiv sind – auch wenn sie ihren Standort im Ausland haben. Medienpädagogik Forschung und pädagogische Praxis, die sich mit Medien und ihren Inhalten beschäftigt Microtargeting Prozess zur Schaffung von auf die Vorlieben individueller Nutzerinnen/Nutzer ausgerichteter Werbung, die aus Datensammlungen der Person abgeleitet wurden MOOC Abkürzung für Massive Open Online Course (auf deutsch Offener Massen-Online-Kurs); Lehrangebote im Internet, die offen für alle und in den meisten Fällen kostenlos sind Open Educational Resources Lern- und Lehrmaterialen, die kostenlos und unter einer freien Lizenz zur Verfügung stehen PC, Desktop-PC, Personal Computer (stationärer) Computer für den Einsatz als Arbeitsplatzrechner auf Schreibtischen Peer-to-Peer (P2P)-Kommunikation kann mit Kommunikation unter Gleichen übersetzt werden. Bezeichnet in der Informatik die direkte elektronische Kommunikation zwischen zwei Computern, die formal gleichgestellt sind personenbezogene Daten Daten, die direkt oder mittelbar einer Person zugeordnet sind und beispielsweise Rückschlüsse auf ihre Eigenschaften zulassen Phishing E-Mails oder Websites werden so gefälscht, dass sie aus einer legitimen Quelle zu stammen scheinen. Picker Beschäftigte, die in großen Logistikzentren, angeleitet durch digitale Technologien, Waren für den Versand zusammenstellen Plattformökonomie Geschäftsmodell, in dessen Zentrum die Online- Plattform als Umschlagsort für Waren und Leistungen steht Quantified Self auch Selbstvermessung; erfasst das Vorgehen, mit dafür vorgesehener Hardware und Software ein umfassendes Datenbild der eigenen Person und des eigenen Lebens zu erstellen Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) spezielle Art der Überwachung, die Kommunikation erfasst, zum Beispiel durch Bildschirmfotos, bevor diese verschlüsselt wird oder nachdem diese entschlüsselt wurde Robotik Forschungs- und Anwendungsgebiet, bei dem IT-Systeme mit der physischen Welt mechanisch interagieren können Scoring Ansatz, der Werte auf Grundlage bestimmter Daten und Modelle berechnet, um eine Bewertung von Personen oder Vorhersagen über zukünftiges Verhalten zu ermöglichen Server Rollenbezeichnung eines Computers, der anderen Computern (Clients) Dienste und Informationen auf Anfrage zur Verfügung stellt Sharing-Economy Bereich der Wirtschaft, bei dem zumeist über Plattformen eine geteilte Nutzung von ganz oder teilweise ungenutzten Ressourcen ermöglicht wird Smart Cities Siedlungsräume, in denen Produkte, Dienstleistungen, Technologien, Prozesse und Infrastrukturen zum Einsatz kommen, die in der Regel durch vernetzte Informations- und Kommunikationstechnologien unterstützt werden Smart Objects Objekte, in welche Informationstechnik eingebaut ist und die dadurch über zusätzliche Fähigkeiten verfügen. Smart Objects können insbesondere Daten erfassen, verarbeiten und speichern sowie mit ihrer Umgebung interagieren. Smartwatches Uhren, die Körper- und Bewegungsdaten aufzeichnen, auswerten, über diverse Wege darstellen und damit nachvollziehbar machen sowie weitere Anwendungen integrieren, wie Nachrichten empfangen und Telefonate annehmen Social Bot (Chat-)Bot, der in sozialen Netzwerken eingesetzt wird, um beispielsweise mit Menschen zu kommunizieren Social Web Gesamtmenge an sozialen Netzwerken, Plattformen und Blogs im Internet, auf der sich Personen über ihre Profile miteinander vernetzen und austauschen Software Sammelbegriff für alle nicht-physischen (virtuellen) Komponenten eines datenverarbeitenden Systems. Software beschreibt, was ein datenverarbeitendes System tut und wie es Arbeitsschritte durchführt. Stakeholder Person oder Gruppe, die ein berechtigtes Interesse am Verlauf oder Ergebnis eines Prozesses hat, beispielsweise weil die Person oder Gruppe von diesem Prozess betroffen ist Streaming gleichzeitige Übertragung und Wiedergabe von Video und Audiodaten über das Internet Technikdeterminismus Ansatz der Soziologie, nach dem Technik soziale, politische und kulturelle Anpassungen und Wandel hervorruft Tracking Nachverfolgen von Nutzerverhalten im Internet mittels verschiedener Technologien, so wird automatisch registriert und gespeichert, welche Internetseiten für welche Zeitdauer besucht werden Trojaner heimlich eingeschleuste Schadsoftware, die das Zielsystem für die Zwecke der Hackerin bzw. des Hackers manipuliert Überwachungskapitalismus Wirtschaftsform, bei der nicht mehr länger natürliche Ressourcen oder Lohnarbeit die primären Rohstoffe bilden, sondern "menschliche Erlebnisse", die messbar gemacht werden sollen und damit digital erfasst, gespeichert und ausgewertet werden Wearables technische Geräte (Hardware), die am Körper getragen werden und etwa in Kleidung integriert sein können, um Daten über Körperfunktionen, Aktivitäten und Gewohnheiten zu sammeln Whistleblower Person, die ihr bekannte, vertrauliche Informationen an die Öffentlichkeit weitergibt, um beispielsweise Missstände wie Korruption aufzudecken White-Hat-Hackerin/-Hacker eine Person, die ihre Fähigkeiten im Hacken von Datensystemen für legale und ethisch gute Zwecke einsetzt, beispielsweise um Sicherheitslücken aufzuspüren und diese zu melden, damit sie beseitigt werden können World Wide Web über das Internet zugängliches System von Dokumenten, sogenannten Websites, die auf HTML basieren. HTML (Hypertext Markup Language) regelt, wie Informationen im Netz dargestellt werden. Zivilcourage, digitale Bereitschaft, sich online aktiv für Menschenrechte und breit geteilte gesellschaftliche Werte einzusetzen das Setzen konkreter Themenschwerpunkte, insbesondere in gesellschaftlichen oder politischen Debatten, und damit Bestimmung dessen, worüber geredet wird eine Handlungsvorgabe, um eine Aufgabe zu lösen. Der Algorithmus verarbeitet nach einer bestimmten Vorschrift Daten und liefert dann automatisiert ein Ergebnis. Prozess der Vermenschlichung, indem anderen Lebewesen oder Objekten menschliche Eigenschaften zugesprochen werden auch Datenübertragungsrate; die digitale Datenmenge, die innerhalb einer Zeitspanne (zumeist eine Sekunde) über einen Übertragungskanal (Kabel oder Funk) übertragen wird bzw. werden kann große Datenmenge; zudem auch Sammelbegriff für Ansätze, um große Datenmengen auszuwerten und um Muster sowie Gesetzmäßigkeiten in diesen Daten zu entdecken Eigenschaft eines Zahlensystems, bei dem nur zwei Ziffern für die Darstellung von Zahlen verwendet werden. Diese Ziffern sind in der Darstellung üblicherweise 0 und 1. eine Person, die ihre Fähigkeiten im Hacken von Datensystemen für illegale oder ethisch verwerfliche Zwecke einsetzt, zum Beispiel um Sicherheitslücken aufzuspüren und so die Software für kriminelle Tätigkeiten auszunutzen bezeichnet den Ansatz, bei dem Lernende ihre eigenen mobilen Endgeräte an Bildungsorte mitbringen, um sie dort zu nutzen technisches System, das textbasiert mit Menschen in Dialog treten kann. Algorithmen bestimmen, welche Antworten ein Chatbot auf welche Fragen gibt. Form der elektronischen Kommunikation, bei der Computer (Clients) von einem zentralen Computer (Server) Dienste und Informationen anfordern. Der Server kommuniziert dabei zumeist mit mehreren Clients und hat eine zentrale Position in einem Netzwerk. IT-Infrastruktur, bei der verschiedene Geräte und Anwendungen, wie Speicherplatz oder Rechenleistung, über das Internet verfügbar gemacht werden selbstständig Beschäftigte, die über das Internet an Aufgaben mitarbeiten, die traditionell unternehmens- oder organisationsintern bearbeitet werden, zum Beispiel Kategorisierung von Materialien kriegerische Auseinandersetzung, die zwischen Staaten mit Mitteln der Informationstechnik oder um Mittel der Informationstechnik geführt wird Straftaten, die mittels Computern oder in Computersystemen begangen werden auch Informationssicherheit; Eigenschaften von IT-Systemen, die ihre Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität sicherstellen sollen, aber auch die Beschäftigung damit das Ausspähen von Daten in fremden Computersystemen mittels Hacks; wird oft von Staaten gegen andere Staaten begangen nicht-indizierter Teil des Internets, der deshalb nicht über herkömmliche Suchmaschinen gefunden werden kann Personen, deren Daten erhoben, verarbeitet und gespeichert werden, wissen, welche Daten über sie, wo und wie gespeichert sind. auch digitale Kluft; bestehende Unterschiede des Zugangs zu Informationstechnologien verschiedener Bevölkerungsgruppen oder auch Volkswirtschaften aufgrund sozioökonomischer Faktoren Fähigkeit, digitale Technologien, Medien und ihre Inhalte sachkundig und reflektiert zu nutzen und einzusetzen Cyberangriff, der dadurch ausgeführt wird, dass eine Vielzahl an Computern über das Internet Anfragen an ein Zielsystem schickt und es so zur Überlastung bringt das internetbasierte Sammeln und Veröffentlichen persönlicher, mitunter intimer Informationen Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in öffentlichen Institutionen Technik zur einfachen und strukturierten, oft listenförmigen Darstellung von Veränderungen und Aktualisierungen auf Websites auch Filterbubble; Konzept, wonach algorithmenbasierte Anwendungen, wie Nachrichtenaggregatoren oder soziale Netzwerke, Informationen so stark nach deren jeweiliger Relevanz für den Nutzer bzw. die Nutzerin filtern, dass Informations- und Meinungsvielfalt reduziert wird Bereich des Arbeitsmarktes, bei dem zumeist kleine Aufträge kurzfristig an Selbstständige vergeben werden Finden und Ausnutzen von Schwächen in Soft- und Hardware, um in diese einzudringen und sie ggf. zu manipulieren leitet sich vom Begriff Hack im Sinne einer Problemlösung ab und bezeichnet ein Vorgehen, bei dem Engagierte für einen begrenzten Zeitraum gemeinsam an Innovationen arbeiten, die einer bestimmten vorab definierten Herausforderung begegnen ursprünglich "Tüftlerin" bzw. "Tüftler"; bezeichnet heute Computerexpertinnen und -experten, die in der Lage sind, Schwächen in Soft- und Hardware aufzuspüren und auszunutzen Sammelbegriff für alle physischen Komponenten eines datenverarbeitenden Systems. Die Hardware führt dabei die Software aus. auch Hate Speech; sprachlicher Ausdruck des Hasses zur Beleidigung oder Herabsetzung einzelner Personen oder ganzer Personengruppen Form der Bildung, bei der Kinder und Jugendliche zu Hause oder auch an anderen Orten außerhalb der Schule unterrichtet werden Protokoll zur Übertragung von Daten im Internet; zumeist verwendet, um Websites in einen Webbrowser zu laden feindliches Verhalten eines Staates gegenüber einem anderen Staat mit Methoden, die über traditionelle Kriegsführung hinausgehen und insbesondere auf Manipulation des Gegners oder auf Geheimdienstoperationen setzen verweist auf die vierte Industrielle Revolution und bezeichnet allgemein die weitgehende Automatisierung und Vernetzung der Produktion sowie zentraler Leistungen und Prozesse im Dienstleistungssektor Person, die online über eine hohe Reichweite verfügt und regelmäßig in sozialen Netzwerken veröffentlicht, oftmals zu bestimmten Themen. Ihr wird zugeschrieben, Einfluss auf ihre Zielgruppe in Bezug auf deren Konsumverhalten und Meinungsbildung zu haben. weiße horizontale Oberfläche – ähnlich einer Tafel –, die über Sensoren berührungsempfindlich ist und die direkte Interaktion mit Computersystemen ermöglicht auch Vermittler; Bindeglied zwischen zwei verschiedenen Ebenen. Soziale Netzwerke und Suchmaschinen sind beispielsweise Vermittler zwischen Information und Rezipientin oder Rezipient. auch "Internet of Things"; Sammelbegriff für Technologien, die physische Gegenstände miteinander und mit virtuellen Anwendungen verknüpfen im engeren Sinne die Verwaltung der zentralen Ressourcen des Internets und seiner Infrastruktur; im weiteren Sinne jegliche Regulierung, die die Nutzung oder Entwicklung des Internets beeinflusst. Darunter fällt insbesondere die Verwaltung von IP-Adressen sowie des weltweiten Webadressenverzeichnisses Domain Name System (DNS). Hierfür ist die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) verantwortlich. weit verbreitetes Netzwerkprotokoll, das die Grundlage des Internets darstellt und das Versenden von Datenpaketen lokal und über das Internet ermöglicht. IP-Adressen markieren dabei mögliche Empfängerinnen/Empfänger und Absenderinnen/Absender von Datenpaketen. auch Internetdienstanbieter; Anbieter von Dienstleistungen oder Technologien, die für die Nutzung oder den Betrieb von Diensten im Internet erforderlich sind Beweissicherung mittels Analyse technischer Merkmale und Spuren in Computersystemen und Netzwerken, zumeist, um sie als Beweismittel in gerichtlichen Verfahren zu verwenden Infrastrukturen, die für das Funktionieren des staatlichen Gemeinwesens als wesentlich erachtet werden, zum Beispiel das Gesundheitswesen, der öffentliche Nahverkehr, Großbanken oder Telekommunikationsnetze Sammelbegriff für wissenschaftliche Zweige, insbesondere in der Informatik, die sich mit der Automatisierung von Prozessen durch lernende Systeme bzw. automatisiertem intelligentem Verhalten beschäftigen; auch Begriff für Systeme, die maschinell lernen oder sich automatisiert intelligent verhalten. Der Begriff ist umstritten, weil "Intelligenz" nicht hinreichend definiert wird. schadhafte Software; ein Computerprogramm, das Schwachstellen in anderer Software ausnutzt, um deren Funktionsweise zu manipulieren Prinzip zur Regelung der Rechtsstellung von Unternehmen. Laut diesem Prinzip müssen sich all diejenigen Unternehmen an die Regularien eines Landes halten, die in dem Markt dieses Landes geschäftlich aktiv sind – auch wenn sie ihren Standort im Ausland haben. Forschung und pädagogische Praxis, die sich mit Medien und ihren Inhalten beschäftigt Prozess zur Schaffung von auf die Vorlieben individueller Nutzerinnen/Nutzer ausgerichteter Werbung, die aus Datensammlungen der Person abgeleitet wurden Abkürzung für Massive Open Online Course (auf deutsch Offener Massen-Online-Kurs); Lehrangebote im Internet, die offen für alle und in den meisten Fällen kostenlos sind Lern- und Lehrmaterialen, die kostenlos und unter einer freien Lizenz zur Verfügung stehen (stationärer) Computer für den Einsatz als Arbeitsplatzrechner auf Schreibtischen kann mit Kommunikation unter Gleichen übersetzt werden. Bezeichnet in der Informatik die direkte elektronische Kommunikation zwischen zwei Computern, die formal gleichgestellt sind Daten, die direkt oder mittelbar einer Person zugeordnet sind und beispielsweise Rückschlüsse auf ihre Eigenschaften zulassen E-Mails oder Websites werden so gefälscht, dass sie aus einer legitimen Quelle zu stammen scheinen. Beschäftigte, die in großen Logistikzentren, angeleitet durch digitale Technologien, Waren für den Versand zusammenstellen Geschäftsmodell, in dessen Zentrum die Online- Plattform als Umschlagsort für Waren und Leistungen steht auch Selbstvermessung; erfasst das Vorgehen, mit dafür vorgesehener Hardware und Software ein umfassendes Datenbild der eigenen Person und des eigenen Lebens zu erstellen spezielle Art der Überwachung, die Kommunikation erfasst, zum Beispiel durch Bildschirmfotos, bevor diese verschlüsselt wird oder nachdem diese entschlüsselt wurde Forschungs- und Anwendungsgebiet, bei dem IT-Systeme mit der physischen Welt mechanisch interagieren können Ansatz, der Werte auf Grundlage bestimmter Daten und Modelle berechnet, um eine Bewertung von Personen oder Vorhersagen über zukünftiges Verhalten zu ermöglichen Rollenbezeichnung eines Computers, der anderen Computern (Clients) Dienste und Informationen auf Anfrage zur Verfügung stellt Bereich der Wirtschaft, bei dem zumeist über Plattformen eine geteilte Nutzung von ganz oder teilweise ungenutzten Ressourcen ermöglicht wird Siedlungsräume, in denen Produkte, Dienstleistungen, Technologien, Prozesse und Infrastrukturen zum Einsatz kommen, die in der Regel durch vernetzte Informations- und Kommunikationstechnologien unterstützt werden Objekte, in welche Informationstechnik eingebaut ist und die dadurch über zusätzliche Fähigkeiten verfügen. Smart Objects können insbesondere Daten erfassen, verarbeiten und speichern sowie mit ihrer Umgebung interagieren. Uhren, die Körper- und Bewegungsdaten aufzeichnen, auswerten, über diverse Wege darstellen und damit nachvollziehbar machen sowie weitere Anwendungen integrieren, wie Nachrichten empfangen und Telefonate annehmen (Chat-)Bot, der in sozialen Netzwerken eingesetzt wird, um beispielsweise mit Menschen zu kommunizieren Gesamtmenge an sozialen Netzwerken, Plattformen und Blogs im Internet, auf der sich Personen über ihre Profile miteinander vernetzen und austauschen Sammelbegriff für alle nicht-physischen (virtuellen) Komponenten eines datenverarbeitenden Systems. Software beschreibt, was ein datenverarbeitendes System tut und wie es Arbeitsschritte durchführt. Person oder Gruppe, die ein berechtigtes Interesse am Verlauf oder Ergebnis eines Prozesses hat, beispielsweise weil die Person oder Gruppe von diesem Prozess betroffen ist gleichzeitige Übertragung und Wiedergabe von Video und Audiodaten über das Internet Ansatz der Soziologie, nach dem Technik soziale, politische und kulturelle Anpassungen und Wandel hervorruft Nachverfolgen von Nutzerverhalten im Internet mittels verschiedener Technologien, so wird automatisch registriert und gespeichert, welche Internetseiten für welche Zeitdauer besucht werden heimlich eingeschleuste Schadsoftware, die das Zielsystem für die Zwecke der Hackerin bzw. des Hackers manipuliert Wirtschaftsform, bei der nicht mehr länger natürliche Ressourcen oder Lohnarbeit die primären Rohstoffe bilden, sondern "menschliche Erlebnisse", die messbar gemacht werden sollen und damit digital erfasst, gespeichert und ausgewertet werden technische Geräte (Hardware), die am Körper getragen werden und etwa in Kleidung integriert sein können, um Daten über Körperfunktionen, Aktivitäten und Gewohnheiten zu sammeln Person, die ihr bekannte, vertrauliche Informationen an die Öffentlichkeit weitergibt, um beispielsweise Missstände wie Korruption aufzudecken eine Person, die ihre Fähigkeiten im Hacken von Datensystemen für legale und ethisch gute Zwecke einsetzt, beispielsweise um Sicherheitslücken aufzuspüren und diese zu melden, damit sie beseitigt werden können über das Internet zugängliches System von Dokumenten, sogenannten Websites, die auf HTML basieren. HTML (Hypertext Markup Language) regelt, wie Informationen im Netz dargestellt werden. Bereitschaft, sich online aktiv für Menschenrechte und breit geteilte gesellschaftliche Werte einzusetzen
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-12T00:00:00
2020-11-16T00:00:00
2022-01-12T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/digitalisierung-344/digitalisierung-344/318924/glossar/
Auf dieser Seite finden Sie das Glossar zur Ausgabe.
[ "IZPB", "Digitalisierung" ]
30,549
NECE-Workshop: Confusing Conversation | NECE - Networking European Citizenship Education | bpb.de
Zentrum für Wissenschaft und Weiterbildung Schloss Hofen (Lochau am Bodensee, Österreich) Donnerstag, 15. Februar 2007 16.00 bis 17:30 Anreise und Registrierung 17:30 Willkommen Gabriele Böheim, Schloss Hofen Begrüßung Petra Grüne (bpb) und Sigrid Steininger (BMBWK) Vorstellung des Programms und der Ziele des Workshops Vorstellungsrunde der Teilnehmenden 18:30 Input Übersetzungsprobleme und ihre Konsequenzen am Beispiel Politische Bildung und Citizenship Education –Ein Problemaufriss Prof. Dr. Wolfgang Sander, Universität Giessen Diskussion 20:00 Abendessen Freitag, 16. Februar 2007 09:00 Einleitung Bestandsaufnahme und Vorstellung des Arbeitspapiers 09:30 Diskussion Grundlagen eines Glossars zu "Citizenship Education" Verständigung auf eine allg. Struktur und Systematik Einteilung der Arbeitsgruppen 11:00 Kaffeepause 11:30 Diskussion der Begriffsauswahl 12:00 Konstituierung der Arbeitsgruppen 13:00 Mittagessen 14:00 bis 16:00 Gruppenarbeit 17:00 Abfahrt zur ehemaligen Synagoge Hohenems 18:00 bis 19:30 Projektpräsentation im Salomon-Sulzer-Saal Dr. Eva Grabherr, Projektstelle "okay. zusammen leben" Dr. Hanno Loewy, Jüdisches Museum Hohenems 19:30 Buffet 21:00 Rückfahrt nach Schloss Hofen Samstag, 17. Februar 2007 10:00 Gruppenarbeit 13:00 Mittagessen 14:30 bis 19:00 Gruppenarbeit 19:30 Abendessen Sonntag, 18. Februar 2007 09:00 Vorstellung der Diskussionsergebnisse 10:00 Lesepause und Austausch der schriftlichen Ergebnisse 11:00 Diskussion Zusammenführung der Ergebnisse Festlegung weiterer Schritte Zeitplan 12:30 Mittagessen anschließend Abreise
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2012-04-11T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/nece/128321/nece-workshop-confusing-conversation/
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30,550
Breites gesellschaftliches Engagement gegen Antiziganismus gestärkt | Presse | bpb.de
Berlin, 24.Oktober 2014. Das Bündnis für Demokratie und Toleranz (BfDT) und der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma ziehen ein positives Fazit der gemeinsamen Veranstaltung: „DENKMAL WEITER - Initiativentag gegen Antiziganismus“, die am 23. und 24. Oktober in Berlin stattfand. Auf der gemeinsamen Veranstaltung tauschten sich Vertreter der Minderheit, ehrenamtlich engagierte Bürger sowie Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Kommunen über den aktuellen Forschungsstand sowie bestehende erfolgreiche Projekte aus und erarbeiteten gemeinsam neue Handlungsansätze und Strategien gegen Antiziganismus. „Besonders freut uns, dass viele Menschen, die sich bislang in anderen Handlungsfeldern engagiert haben, ihr zivilgesellschaftliches Engagement jetzt auch gegen Antiziganismus weiterentwickeln wollen.“, sagte Dr. Gregor Rosenthal, Leiter der Geschäftsstelle BfDT. „Wir werden versuchen, sie bei ihrem Engagement bestmöglich zu unterstützen und insoweit auch die Kooperation mit dem Zentralrat und anderen bundesweiten und lokalen Akteuren in diesem Bereich weiter ausbauen.“ „Die Umsetzung von Strategien gegen den tiefsitzenden Antiziganismus auf den lokalen Ebenen ist wichtig, weil die Vorurteile gegen Sinti und Roma in allen Teilen der Bevölkerung gleichermaßen zu finden sind. Deshalb müssen sich die Anstrengungen, Antiziganismus ebenso gesellschaftlich zu ächten wie den Antisemitismus, an alle gesellschaftlichen Gruppen richten.“, sagte Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma. Weitere Ziele der Veranstaltung waren der Abbau von Vorurteilen gegenüber Sinti und Roma und die Diskussion über neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Die Vernetzung bestehender Projekte sowie der offene Austausch zwischen Teilnehmenden der Minderheit und der Mehrheitsgesellschaft bildeten ebenfalls einen Schwerpunkt der Veranstaltung. Pressemitteilung als PDF. Pressekontakt: Geschäftsstelle Bündnis für Demokratie und Toleranz Johanna Suwelack Friedrichstraße 50 10117 Berlin Tel +49 (0)30 254504-464 Fax +49 (0)30 254504-478 E-Mail Link: johanna.suwelack@bpb.bund.de Externer Link: www.buendnis-toleranz.de Pressekontakt: Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de Externer Link: www.bpb.de/presse
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2014-10-24T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/193790/breites-gesellschaftliches-engagement-gegen-antiziganismus-gestaerkt/
Das Bündnis für Demokratie und Toleranz (BfDT) und der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma ziehen ein positives Fazit der gemeinsamen Veranstaltung: „DENKMAL WEITER - Initiativentag gegen Antiziganismus“, die am 23. und 24. Oktober in Berlin stattfan
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30,551
60 Jahre Studienreisen - 75 Jahre Israel: Jubiliäumstagung in Berlin im Juni | Seit 60 Jahren bpb-Studienreisen - und weiter! | bpb.de
Die Jubiläumstagung nahm mit 60 Jahre bpb-Israel-Studienreisen und 75 Jahre Israel zwei Jubiläen zum Anlass, mit zahlreichen israelischen und deutschen Gästen eine Bilanz der letzten 60/75 Jahre zu ziehen. Im Fokus der Panels standen sowohl die aktuellen politischen Entwicklungen in Israel als auch die Debatten im Rahmen der deutsch-israelischen Beziehungen. Der israelische Historiker und Journalist Tom Segev sprach über seine Lebenserinnerungen „Jerusalem Ecke Berlin“ und gab als Zeitzeuge Einblick in die Geschichte und Gegenwart Israels. 1963 begann mit den Israel-Studienreisen das inzwischen langjährigste internationale Projekt der bpb. Durch die unmittelbare Begegnung mit jüdischen Menschen in dem noch jungen israelischen Staat sollten sich die Teilnehmenden ein eigenes Bild von Israel machen, um auf dieser Basis gegen antisemitische Stereotype und Vorurteile hierzulande anzugehen. Heute, 60 Jahre später, kann die bpb auf eine Erfolgsgeschichte blicken. Die Israel-Studienreisen sind längst ein fester und anerkannter Bestandteil des deutsch-israelischen Beziehungsgeflechts und genießen in beiden Ländern hohes Ansehen. Auch Israel kann in diesem Jahr ein Jubiläum begehen, denn vor 75 Jahren rief David Ben-Gurion am 14. Mai 1948 die Unabhängigkeit des jüdischen Staates aus. Musikalisch begleitet wurde die Veranstaltung von der israelisch-iranischen Band Sistanagila. Interner Link: Hier finden Sie das gesamte Programm.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-06-16T00:00:00
2023-06-07T00:00:00
2023-06-16T00:00:00
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/studienreise/521765/60-jahre-studienreisen-75-jahre-israel-jubiliaeumstagung-in-berlin-im-juni/
Die Jubiläumstagung Anfang Juni in Berlin nahm mit 60 Jahre bpb-Israel-Studienreisen und 75 Jahre Israel zwei Jubiläen zum Anlass, mit zahlreichen israelischen und deutschen Gästen eine Bilanz der letzten 60/75 Jahre zu ziehen.
[ "Israelstudienreisen", "Studienreise" ]
30,552
Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative | Parteien in Deutschland | bpb.de
Entstehung und Entwicklung Die Kurzbezeichnung "Die PARTEI" ist ein Akronym und steht für "Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative" (zum folgenden siehe Neu 2018). Die PARTEI wurde am 2. August 2004 durch Mitarbeiter des Satiremagazins "Titanic" um den damaligen Chefredakteur Martin Sonneborn gegründet, der seitdem Vorsitzender der PARTEI ist. Das Motto der PARTEI lautet "Die endgültige Teilung Deutschlands - das ist unser Auftrag" und soll auf einen Ausspruch von Chlodwig Poth zurückgehen, der 1979 einer der Mitbegründer der "Titanic" war und wenige Tage vor Gründung der PARTEI im Juli 2004 starb. Mit kritischem Impetus persifliert die PARTEI Symbolik und Rhetorik der deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts und parodiert Rituale, sprachliche Gepflogenheiten und Auftreten der etablierten Parteien bzw. ihres politischen Personals. Der häufig abwertend gebrauchte Begriff der "Spaßpartei" wird dabei jedoch dem Anliegen der Partei nicht gerecht. Da sie mit ihrem Auftreten und ihrer Programmatik auch vermutete Missstände thematisiert, wird sie richtiger auch als "Satirepartei" bezeichnet. Bereits unmittelbar nach der Gründung der PARTEI wuchs die Zahl ihrer Mitglieder rasant, wofür die große mediale Resonanz nicht zuletzt aufgrund der publizistischen Begleitung durch die "Titanic" mitverantwortlich gewesen war. Schon im Vorfeld der Parteigründung machte die "Titanic"-Redaktion mit subversiven Politaktionen im Umfeld der Wahlkampagnen anderer Parteien von sich reden, wie etwa einem vermeintlichen FDP-Wahlstand zur Bundestagswahl 2002 unter dem Motto "Judenfrei und Spaß dabei" oder scheinbarer SPD-Plakatwerbung zur Landtagswahl 2003 in Bayern mit dem Titel "Wir geben auf: SPD". Ähnliche Aktionen werden seit der Parteigründung unter dem Label der PARTEI weitergeführt. So erzielte die PARTEI 2005 nach ihrer Zulassung zur Bundestagswahl große öffentliche Aufmerksamkeit, als sie einen Teil ihrer im öffentlich-rechtlichen Fernsehen für Wahlwerbung eingeräumten Sendezeit über Ebay für kommerzielle Zwecke versteigerte. 2005 und 2009 führt sie außerdem Kanzlerkandidatinnen-Castings durch und begründet das Vorgehen damit, dass "ein Rock durch Deutschland gehen" müsse bzw. man sich von Angela Merkel vor allem äußerlich absetzen wolle ("Frau ja, aber schöner!"). Auch sprach sich Sonneborn in einem Interview für eine Fusion mit der Partei DIE LINKE aus, da diese das gemeinsame Ziel der endgültigen Teilung Deutschlands bereits vorlebe, sowie für eine Übernahme der Piratenpartei, mit der man das Ziel der Überwindung aller Inhalte gemeinsam habe. 2009 lief der Film "Die PARTEI" in den deutschen Kinos, gedreht im Stil einer Mockumentary, der fiktionalen Parodie eines Dokumentarfilms; der als "Propagandafilm-Dokumentarfilm in bewährter Guido-Knopp-Manier" beworbene Film "dokumentiert" den Aufstieg und die politische Vision des Parteivorsitzenden. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 kam es zu einem Eklat im Bundeswahlausschuss, als die PARTEI nicht zur Bundestagswahl zugelassen wurde. Die Entscheidung wurde allerdings nicht mit Zweifeln an der im Parteiengesetz geforderten Ernsthaftigkeit der Zielsetzung der PARTEI begründet. Vielmehr ging sie auf Missverständnisse innerhalb des Bundeswahlausschusses und zwischen diesem Ausschuss und der PARTEI über die Anzahl ihrer aktiven Landesverbände zurück, die Zweifel an der vom Parteiengesetz verlangten "Festigkeit ihrer Organisation" aufkommen ließen. Das Scheitern der PARTEI mit einem Eilantrag vor dem Bundesverfassungsgericht demonstrierte das Fehlen von Möglichkeiten eines wirksamen Rechtsschutzes im Verfahren der Wahlzulassung. Daraufhin kam es 2012 zu einer Gesetzesänderung, nach der Parteien fortan bereits vor der Wahl Rechtsmittel gegen eine Nichtzulassung einlegen können und sie solange als zugelassene Parteien zu behandeln sind, bis das Bundesverfassungsgericht über ihre Klage entschieden hat. Nachdem die Sperrklausel für Europawahlen in Deutschland 2014 durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben worden war, zog die PARTEI bei der Europawahl 2014 mit einem Zweitstimmanteil von insgesamt 0,6 Prozent und einem Mandat für ihren Bundesvorsitzenden Martin Sonneborn in das Europäische Parlament ein. Nach der Überwindung der Marke von 0,5 Prozent bei einer deutschlandweiten Wahl standen der PARTEI damit auch erstmalig Zuwendungen aus der staatlichen Parteienfinanzierung zu (56.444 € im Jahr 2014, 503.186 € im Jahr 2021, Festsetzung staatliche Mittel 2022: Anlage 2). Großes Aufsehen erregte die PARTEI 2014 auch mit der Aktion "Kauf kein' Scheiß (Gold) (bei der AfD), kauf GELD (bei uns)!", mit der sie die deutsche Parteienfinanzierung problematisierte, die die staatliche Teilfinanzierung der Parteien auch an der Höhe des Gesamteinnahmen der Parteien ausrichtet, was auch unternehmerischen Tätigkeiten einschließt. Mit der Kampagne wollte die PARTEI auch auf die Goldverkäufe der AfD aufmerksam machen, die mit dem "Handel von Gold und anderem Müll ihre Einnahmen vor allen Leuten künstlich in die Höhe treibt". Als Persiflage auf diese Praxis bot die PARTEI daraufhin Geldscheine zum Verkauf an und versendete beispielsweise nach einer Überweisung von 105 Euro einen 100 Euroschein an den Käufer. Die so erzielten Verkaufserlöse erhöhten die Einnahmen der PARTEI erheblich, infolgedessen und wie intendiert die staatlichen Zuwendungen an die PARTEI im Vergleich zum Vorjahr deutlich anstiegen (Bericht über die Rechenschaftsberichte 2016: 113f.). Die "Geld kaufen"-Aktion zeigte insofern politischen Erfolg, als im Folgejahr der rechtliche Rahmen der Parteienfinanzierung geändert wurde. Seitdem gilt nicht länger der Umsatz der Parteien, sondern der Gewinn als Bemessungsgrundlage für die staatliche Teilfinanzierung. Nach einer erneuten Überprüfung forderte die Bundestagsverwaltung 2016 von der PARTEI jedoch die Rückzahlung von rund 72.000 Euro, die sie im Zuge der staatlichen Parteienfinanzierung für das Jahr 2014 erhalten hatte sowie eine Strafzahlung in Höhe von 384.000 Euro für die "Geld kaufen"-Aktion. Im Mai 2020 war die PARTEI vor dem Bundesverwaltungsgericht abschließend mit einer Klage gegen den Rückzahlungsbescheid der Bundestagsverwaltung erfolgreich. Dieses befand die Geldverkäufe der PARTEI und deren Auswirkungen auf die staatliche Parteienfinanzierung nach 2014 geltendem Recht für rechtmäßig. Nach seinem Einzug in das Europäische Parlament sorgte Sonneborn mit der Ankündigung, im Nachrückverfahren insgesamt 60 Listenkandidaten der PARTEI je einen Monat bezahlten "Urlaub" in Brüssel bzw. Straßburg zu ermöglichen, für zum Teil heftige Reaktionen bei den anderen Parteien und in der Öffentlichkeit. Mit dem Hinweis, dass man dabei über Diäten, Entschädigungen und Kostenpauschalen in Höhe von 33.000 Euro monatlich sowie die für mindestens sechs weitere Monate erhofften Übergangsgelder für ausgeschiedene Abgeordnete die EU "melken" wolle, thematisierte die PARTEI gleichzeitig die Höhe der Vergütung für Europaabgeordnete. Weil die Satzung des Europäischen Parlamentes ein solches Rotationsverfahren nicht zulässt, konnte dieses Wahlversprechen der PARTEI allerdings nicht eingehalten werden. Seit Juli 2014 berichtet der Parteivorsitzende Martin Sonneborn in einem Satireformat für SPIEGEL TV regelmäßig über die Arbeit im Europäischen Parlament. Auch bei anderen bundesweiten Wahlen ist Die PARTEI meist unter 2 Prozent der Stimmen geblieben. Bei der Bundestagswahl 2005 gaben der PARTEI weniger als 0,1 Prozent der Wähler ihre Zweitstimme. Nach der nicht erfolgten Zulassung im Jahr 2009 konnte sie ihr Wahlergebnis bei der Bundestagswahl 2013 auf 0,2 Prozent erhöhen und dann 2017 und 2021 auf knapp 1 Prozent. Ihre bisher besten Ergebnisse bei Landtagswahlen erzielte die PARTEI 2015 und 2019 in Bremen (1,9 bzw. 1,7 Prozent), 2016 und 2021 in Berlin (2,0 bzw. 1,8 Prozent) und 2019 in Sachsen (1,6 Prozent). Insgesamt weisen ihre Wahlergebnisse in allen Ländern im Vergleich zu den vorangegangenen Wahlen stets leichte Zuwächse auf (mit Ausnahme Bremens und Berlins). Bei der Europawahl 2019 folgte schließlich das bislang beste Ergebnis der Partei überhaupt. Mit fast 900.000 Stimmen erzielte sie 2,4 Prozent der Stimmen wodurch neben Martin Sonneborn auch Nico Semsrott als zweiter Abgeordneter der Partei in das Europaparlament einzog. Im Januar 2021 erklärte Semsrott seinen Parteiaustritt nachdem Sonneborn auf einen als rassistisch kritisierten Tweet in für ihn nicht angemessener Weise reagiert hatte. Kurz zuvor, im November 2020, war der für die SPD angetretene und seit 2018 parteilose Abgeordnete Marco Bülow in Die PARTEI eingetreten, wodurch sie ihr erstes Bundestagsmandat erhielt. Auf kommunaler Ebene hält die Partei dank fortgesetzt guter Wahlergebnisse inzwischen deutschlandweit über 100 Mandate. Wählerschaft, Mitglieder- und Organisationsstruktur Gesicherte Erkenntnisse über die Wählerschaft und Mitglieder der PARTEI liegen nur begrenzt vor. Basierend auf den Ergebnissen der Europawahl 2019 lässt sich jedoch sagen, dass die Partei besonders stark in Städten, und hierbei insbesondere in Universitäts- sowie ostdeutschen Städten, abschnitt. So erreichte sie mindestens 4,5 Prozent der Stimmen in Kiel, Darmstadt, Berlin, Potsdam, Dresden, Leipzig, Halle und Jena. In drei Städten (Leipzig, Jena, Darmstadt) sowie Ostberlin wurden sogar mehr als 5 Prozent erzielt (Bundeswahlleiter 2019: 67-72). Insgesamt 58 Prozent der Wählerschaft der Partei war dabei unter 35 Jahre alt, womit DIE PARTEI die jüngste Wählerschaft aller antretenden Parteien aufwies. Ebenfalls auffällig gestaltete sich das erhebliche Missverhältnis zwischen den Geschlechtern. Demnach machten Frauen weniger als ein Drittel der Wählerinnen der Partei aus; ein Rekordwert, der selbst den der AfD erkennbar unterbot (Bundeswahlleiter/Statistisches Bundesamt 2019: 24f.). Mit einem Gesamtanteil von 8 Prozent unter den 18- bis 24-Jährigen erzielte die Partei eine vergleichbare Zahl wie die beiden Volksparteien CDU und SPD in dieser Altersgruppe (Thiel 2019: 8). Die Hürden für eine Mitgliedschaft sind niedrig, da die gleichzeitige Mitgliedschaft in einer anderen Partei möglich ist und ein Jahresbeitrag von lediglich 10 Euro zwar nicht unterschritten werden sollte, aber Ausnahmen davon möglich und auch geläufig sind. Laut ihrem Rechenschaftsbericht zählte die PARTEI Ende 2020 bundesweit 48.600 Mitglieder (Rechenschaftsbericht 2021: S. 15). Unterhalb des Bundesverbandes gliedert sich die PARTEI in 16 Landesverbände. Es gibt einzelne Bezirksverbände und bundesweit ca. 685 Kreis- bzw. Ortsverbände. Zu den Bundesländern mit der größten Organisationsdichte gehören Nordrhein-Westfalen (mit rund 150 Gliederungen), Baden-Württemberg (mit rund 120), Bayern (mit rund 110) und Niedersachsen (mit rund 50). Im Oktober 2014 wurde ein Ableger der PARTEI in Österreich gegründet sowie im Dezember 2019 das luxemburgische Pendant d'PARTEI. Unregelmäßig, im Durchschnitt aber alle zwei Jahre, finden Bundesparteitage statt, auf denen der siebenköpfige Bundesvorstand gewählt wird. Seit Gründung der PARTEI ist der damalige "Titanic"-Chefredakteur Martin Sonneborn ihr Vorsitzender, im Parteijargon "GröVaZ" genannt (Größter Vorsitzender aller Zeiten). Auch einzelne andere Mitglieder des siebenköpfigen Vorstands der PARTEI sind ehemalige oder gegenwärtige Mitarbeiter und Redakteure der Zeitschrift. So ist die Anschrift des Bundesverbandes nach wie vor mit dem Sitz des Titanic-Verlags identisch. 2005 gründete sich als Unterorganisation der PARTEI eine Jugendorganisation, die nach dem PARTEI-Generalsekretär Thomas Hintner in provokativer Anlehnung an das Pendant der Nationalsozialisten "Hintner-Jugend" genannt wird und organisatorisch in Nordbund, Ostbund, Südbund und Westbund unterteilt ist. Laut eigenen Angaben der PARTEI existieren zudem an mittlerweile knapp 50 Universitäten eigene Hochschulgruppen, die teilweise in Studierendenparlamenten und -ausschüssen vertreten sind und dort vereinzelt auch Führungspositionen besetzen. Die Gruppen treten dabei unter verschiedenen Namen auf, die oftmals unter dem Akronym Die LISTE (Liste für Individualethik, Studium, Tierliebe und Eschatologie o.ä.) firmieren. Mit dem 2013 von Parteifunktionären gegründeten Verband RELIGION (der jedoch seit 2017 weitgehend inaktiv ist), dessen Name ebenfalls ein Akronym ist und für "Religion für Ewiges Leben, Innerfamiliären Geschlechtsverkehr, irgendwas mit göttlicher Offenbarung und Nächstenliebe" steht, sollen kirchliche Institutionen, vor allem aber die katholische Kirche, parodiert werden. Das Amt ihres "Oberhauptes", des "außerparlamentarischen Gegenpapstes", wird alle vier Jahre neu besetzt. Lose mit der RELIGION verbunden ist eine sporadisch von unterschiedlichen Verbandseinheiten der PARTEI herausgegebene Zeitschrift, die in Anlehnung an eine Publikation der Zeugen Jehovas "Der Wachturm" heißt und, wie der Name bereits andeutet, religiöse Themen und den für die PARTEI zentralen Themenkomplex Mauerbau und deutsche Teilung verarbeitet. Während andere Parteien über eigene Presseorgane verfügen, mit deren Hilfe sie ihre politischen Inhalte und Ziele vor allem gegenüber den eigenen Mitgliedern kommunizieren, fungierte - zumindest anfangs - umgekehrt die PARTEI selbst als Organ der Zeitschrift "Titanic", indem sie wiederkehrende zentrale Themen der Zeitschrift öffentlichkeitswirksam inszenierte. Mittlerweile ist daraus eine Wechselbeziehung geworden, insofern als die Partei ein dynamisches Eigenleben entwickelt hat, das ihrerseits von der Titanic redaktionell begleitet und dokumentiert wird. Auch sind Teile des PARTEI-Vorstandes regelmäßig als Autoren der "Titanic" tätig. Programmatik Das seit 2004 gültige Grundsatzprogramm der PARTEI ist geprägt vom Bekenntnis zu den Prinzipien "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit". Diese werden sozialliberal und vor allem in explizit kritischer Abgrenzung etwa zur bundesdeutschen Sozial-, Wirtschafts- oder Umweltpolitik formuliert. Das nur wenige Seiten umfassende Programm verbleibt in vielen Punkten bei oberflächlichen Formulierungen, wartet aber in wenigen Punkten auch mit großer Detailliertheit auf. In ihrem Programm lehnt die PARTEI die Agenda 2010 als "Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosen" ab, während Arbeitslosigkeit nur wirksam abgebaut werden könne, indem Arbeit bei vollem Lohnausgleich besser verteilt wird, das heißt, indem Arbeitszeit verkürzt, das Renteneintrittsalter herabgesetzt und befristete prekäre Beschäftigung abgebaut würde. Die PARTEI plädiert darüber hinaus für eine Reform des Gesundheitswesens und für mehr Transparenz bei den Gesundheitskosten ebenso wie für bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung bei gleichzeitiger Vermeidung unnötiger Behandlungen und Beitragszahlungen entsprechend der jeweiligen finanziellen Leistungsfähigkeit. Unter der Überschrift "Stopp dem Raubbau an unserem Planeten" bekennt sie sich zudem zu den Prinzipien eines umfassenden Umwelt-, Natur- und Tierschutzes, der Nahrungsmittelsicherheit und der Nachhaltigkeit. Plakativen Forderungen und allgemein gehaltenen Formulierungen steht dagegen die sehr ausführliche Diskussion direktdemokratischer Elemente im historischen und verfassungsrechtlichen Kontext in Deutschland gegenüber und die daraus abgeleitete sehr konkrete Befürwortung und detaillierte Beschreibung eines dreistufigen Verfahrens aus Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid. Auch wird im Dialogstil und mit großer interpretatorischer Sorgfalt der Text des Grundgesetzes auf seine Bestimmungen zur Verfassungsgebung und -ratifikation hin befragt, um daraufhin die demokratische Legitimation des Grundgesetzes in Zweifel zu ziehen und seine nachträgliche plebiszitäre Bestätigung zu fordern. Offensichtlich wird der satirische Charakter der PARTEI erst im sehr kurzen letzten Abschnitt des Parteiprogrammes deutlich, wo die Einrichtung einer "Sonderbewirtschaftungszone" (SBZ) in den neuen Bundesländern gefordert wird und mit der Wiederherstellung der Teilung Deutschlands einschließlich der Errichtung einer innerdeutschen Mauer verknüpft wird (Programm Bundesverband 2004). Allgemein konzentriert sich die PARTEI weniger auf den Entwurf schriftlicher Programme als auf politische und wahlkampfbegleitende Aktionsformen, wobei der satirische Charakter der Partei in ihren Wahlprogrammen noch stärker hervortritt als im Bundesprogramm. So forderte das Programm zur Europawahl 2019 bspw. eine deutsche Atombombe oder das "Gesundschrumpfen" des BIP auf 50 Prozent (Programm EU-Wahl 2019). Ähnlich gelagert finden sich im Programm für die Bundestagswahl 2017 die Einführung einer "Bierpreisbremse" oder des schuldbefreienden Rechtfertigungsgrunds "Es war Putin" für sämtliche Zivil- und Strafrechtsverfahren (Programm Bundestagswahl 2017). Neben derartigen sozialkommentatorischen Anspielungen finden sich trotzdem auch ernsthafte politische Forderungen (wie das Verbot der Finanzierung von Militärprojekten durch die EU) oder bewusst überspitzte Maßnahmen, die aber reale politische Probleme aufgreifen (so z.B. die Einführung eines "Existenzmaximums" von 1 Mio. Euro (für die Bundestagswahl 2021 auf 10 Mio. Euro erhöht)) oder eines Wahlsystems mit Negativstimmen, Programm EU-Wahl 2019). Zudem bot die Partei für die Europawahl 2019, in Anlehnung an den Wahl-O-Mat, einen individuellen Wahlprogrammgenerator an, in dem sich potentielle Wählerinnen und Wähler ihr eigenes Die PARTEI-Programm zusammenstellen konnten. Quellen / Literatur Monographien und Sammelbände Flubacher, Dominik, Politischer Einfluss durch Satire? - Das Fallbeispiel Martin Sonneborn und die PARTEI, Bachelorarbeit, Regensburg 2012. Neu, Viola, DIE PARTEI - Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative, in: Decker, Frank/Neu, Viola, Handbuch der deutschen Parteien, 3., erw. u. akt. Aufl., Wiesbaden 2018, S. 435-438. Sonneborn, Martin, Das Parteibuch: Wie man in Deutschland eine Partei gründet und die Macht übernimmt, Köln 2009. Dokumente Bericht über die Rechenschaftsberichte 2012 bis 2014 der Parteien sowie über die Entwicklung der Parteienfinanzen gemäß § 23 Absatz 4 des Parteiengesetzes (= Bt-Drks. 18/10710 vom 22.12.2016), abgerufen am 03.07.2020. Bundeswahlleiter (Hrsg.), Ergebnisse der Europawahl 2019 nach Parteien und Gebieten, abgerufen am 10.05.2022. Bundeswahlleiter/Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Europawahl 2019. Heft 4: Wahlbeteiligung nach Geschlecht und Altersgruppen, Wiesbaden 2019. FExterner Link: estsetzung der staatlichen Mittel für das Jahr 2021. Stand 26. Januar 2022, abgerufen am 01.06.2022. Die PARTEI, Externer Link: Auszug aus dem vorl. Wahlprogramm der PARTEI zur EU-Wahl 2019, abgerufen am 10.05.2022. Die PARTEI, Externer Link: PARTEI-Programm zur Bundestagswahl 2017, abgerufen am 10.05.2022. Die PARTEI, Externer Link: Programm des Bundesverbandes der Partei von 2004, abgerufen am 10.05.2022. Externer Link: Rechenschaftsbericht politischer Parteien für das Kalenderjahr 2020. 2. Teil - Übrige anspruchsberechtigte Parteien, Bd. I (= Bt-Drks. 20/326 vom 20.12.2021), abgerufen am 08.05.2022. Externer Link: Rechenschaftsberichte politischer Parteien für das Kalenderjahr 2018. 2. Teil – Übrige anspruchsberechtigte Parteien (= Bt-Drk. 19/20500 vom 30.06.2020), abgerufen am 10.05.2022. Thiel, Georg, Externer Link: Statement des Bundeswahlleiters und Präsidenten des Statistischen Bundesamtes Dr. Georg Thiel (02.10.2019), abgerufen am 10.05.2022. Webseiten Sonneborn, Martin, Externer Link: Bericht aus Brüssel. Folge 1, abgerufen am 10.05.2022. Externer Link: Wahlprogrammgenerator der PARTEI, abgerufen am 10.05.2022. Webseite Spiegel, Externer Link: Sonneborns Satirepartei gewinnt Rechtsstreit über Geldverkauf, abgerufen am 10.05.2022. Webseite wahlrecht.de, Externer Link: Zulassungsverfahren zur Bundestagswahl in der Kritik, abgerufen am 10.05.2022. Monographien und Sammelbände Flubacher, Dominik, Politischer Einfluss durch Satire? - Das Fallbeispiel Martin Sonneborn und die PARTEI, Bachelorarbeit, Regensburg 2012. Neu, Viola, DIE PARTEI - Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative, in: Decker, Frank/Neu, Viola, Handbuch der deutschen Parteien, 3., erw. u. akt. Aufl., Wiesbaden 2018, S. 435-438. Sonneborn, Martin, Das Parteibuch: Wie man in Deutschland eine Partei gründet und die Macht übernimmt, Köln 2009. Dokumente Bericht über die Rechenschaftsberichte 2012 bis 2014 der Parteien sowie über die Entwicklung der Parteienfinanzen gemäß § 23 Absatz 4 des Parteiengesetzes (= Bt-Drks. 18/10710 vom 22.12.2016), abgerufen am 03.07.2020. Bundeswahlleiter (Hrsg.), Ergebnisse der Europawahl 2019 nach Parteien und Gebieten, abgerufen am 10.05.2022. Bundeswahlleiter/Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Europawahl 2019. Heft 4: Wahlbeteiligung nach Geschlecht und Altersgruppen, Wiesbaden 2019. FExterner Link: estsetzung der staatlichen Mittel für das Jahr 2021. Stand 26. Januar 2022, abgerufen am 01.06.2022. Die PARTEI, Externer Link: Auszug aus dem vorl. Wahlprogramm der PARTEI zur EU-Wahl 2019, abgerufen am 10.05.2022. Die PARTEI, Externer Link: PARTEI-Programm zur Bundestagswahl 2017, abgerufen am 10.05.2022. Die PARTEI, Externer Link: Programm des Bundesverbandes der Partei von 2004, abgerufen am 10.05.2022. Externer Link: Rechenschaftsbericht politischer Parteien für das Kalenderjahr 2020. 2. Teil - Übrige anspruchsberechtigte Parteien, Bd. I (= Bt-Drks. 20/326 vom 20.12.2021), abgerufen am 08.05.2022. Externer Link: Rechenschaftsberichte politischer Parteien für das Kalenderjahr 2018. 2. Teil – Übrige anspruchsberechtigte Parteien (= Bt-Drk. 19/20500 vom 30.06.2020), abgerufen am 10.05.2022. Thiel, Georg, Externer Link: Statement des Bundeswahlleiters und Präsidenten des Statistischen Bundesamtes Dr. Georg Thiel (02.10.2019), abgerufen am 10.05.2022. Webseiten Sonneborn, Martin, Externer Link: Bericht aus Brüssel. Folge 1, abgerufen am 10.05.2022. Externer Link: Wahlprogrammgenerator der PARTEI, abgerufen am 10.05.2022. Webseite Spiegel, Externer Link: Sonneborns Satirepartei gewinnt Rechtsstreit über Geldverkauf, abgerufen am 10.05.2022. Webseite wahlrecht.de, Externer Link: Zulassungsverfahren zur Bundestagswahl in der Kritik, abgerufen am 10.05.2022. Vgl. Die PARTEI - Externer Link: Der Film, abgerufen am 03.07.2020. Vgl. Webseite wahlrecht.de, Externer Link: Zulassungsverfahren zur Bundestagswahl in der Kritik, abgerufen am 03.07.2020. Vgl. Webseite Spiegel, Externer Link: Sonneborns Satirepartei gewinnt Rechtsstreit über Geldverkauf, abgerufen am 03.07.2020. Vgl. Sonneborn, Martin, Externer Link: Bericht aus Brüssel, Folge 1, abgerufen am 03.07.2020. Vgl. Webseite von Nico Semsrott, MdEP, Humorlose Erklärung, warum ich aus Die PARTEI austrete, Externer Link: https://nicosemsrott.eu/de/my-work/humorlose-erklarung-warum-ich-aus-die-partei-austrete, abgerufen am 08.05.2022. Vgl. Webseite Die PARTEI, P-Day: Die PARTEI im Bundestag!, Externer Link: https://www.die-partei.de/2020/11/17/p-day-die-partei-im-bundestag/, abgerufen am 08.05.2022. Vgl. Externer Link: Wahlprogrammgenerator der PARTEI, abgerufen am 03.07.2020.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-08-15T00:00:00
2015-06-17T00:00:00
2022-08-15T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/kleinparteien/208418/partei-fuer-arbeit-rechtsstaat-tierschutz-elitenfoerderung-und-basisdemokratische-initiative/
Mit Satire verspottet Die PARTEI die deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts und parodiert das Auftreten anderer Parteien. Seit 2014 ist sie im Europäischen Parlament vertreten.
[ "Satire", "Satirepartei", "DIE PARTEI", "Europäisches Parlament" ]
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Jugend und Politik – (K)ein Auslaufmodell?! | Presse | bpb.de
Wie können wir durchblicken? Welche Ideen haben wir? Was können wir bewegen? Jugendmedientage bedeuten: Fragen stellen. 600 junge Medienmacher werden vom 18. bis 21. Mai 2006 im Deutschen Bundestag in Berlin zusammen kommen. Veranstalter sind in Kooperation mit dem Deutschen Bundestag die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und die Jugendpresse Deutschland. Vier Tage lang diskutieren die Jugendlichen mit 150 Referenten aus Medien, Politik, Kultur und Gesellschaft, besuchen Workshops in den Redaktionen der führenden Hauptstadtmedien und knüpfen Kontakte. Ab sofort können sich interessierte Jungjournalisten zwischen 15 und 25 Jahren unter www.jugendmedientage.de bewerben: Schülerzeitungsredakteure, Mitarbeiter von Studentenmedien, junge Zeitungs-, Radio-, Fernseh- und Internetmacher, aber auch aktive Schülervertreter und politik- und medieninteressierte Jugendliche. Wer teilnehmen will, muss zu einem der vorgeschlagenen Themen einen Text, einen Videofilm, einen Radiobeitrag, Fotos oder eine Projektbeschreibung für eine Website einreichen. Einsendeschluss ist der 31. März 2006. Eine unabhängige Fachjury bestimmt dann unter allen Einsendern die 600, die im Mai nach Berlin reisen werden. Zukunftsforen für junge Medienmacher in Hamburg, München, Berlin und Köln Die Jugendmedientage starten schon jetzt – mit Zukunftsforen in vier Städten. "Europa ist tot – es lebe Europa?" heißt das Thema des ersten Forums am 31. Januar 2006 in Hamburg. Weiter geht es Ende Februar 2006 in München zum Thema "Parteien – Fossilien aus der alten Zeit?". Im März 2006 diskutieren Jugendliche mit Bildungsexperten in Berlin: "Sparen wir uns die Zukunft – Bildung adé?". Schließlich, im April 2006 in Köln, wird es um Globalisierung und die neuen Wirtschaftsriesen in Asien gehen: "Die wachsende Wirtschaftsmacht China – Partner oder Konkurrent?" Bei den Foren diskutieren jeweils rund 100 Jugendliche mit Politikern und Experten und erarbeiten so wichtige Impulse für die Jugendmedientage. Bundestagsvizepräsidentin Susanne Kastner: "Mit Jugendlichen diskutieren, nicht über siereden."" Jugend und Politik – (K)ein Auslaufmodell?!" – so lautet das Titelthema der Jugendmedientage. "Jugendliche werden mit Ihren Interessen, Visionen und konkreten Vorstellungen im Vordergrund stehen und nicht das, was andere über sie herausgefunden und ausgedacht haben", erklärt Susanne Kastner, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Schirmherrin der Jugendmedientage 2006. "Wir möchten mit Jugendlichen diskutieren und nicht über sie reden." Sebastian Olényi, Vorstandssprecher der Jugendpresse Deutschland: "Zeigen, wie unsereGeneration denkt." Zum ersten Mal ist der Deutsche Bundestag Partner der Jugendmedientage. "Möglich gemacht hat dies die beeindruckende Unterstützung aus allen Bundestagsfraktionen", sagt Sebastian Olényi, Vorstandssprecher der Jugendpresse Deutschland. "Wir wollen gute Fragen stellen, genau hinschauen und zeigen, wie unsere Generation denkt, wie wir die Zukunft sehen." Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung: "Einen Ausblick wagen." "Die Jugendmedientage sind eine einmalige Chance, zusammen mit jungen Menschen ein neues Verständnis von Politik zu schaffen", sagt Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. "Wir wollen Einblicke geben – und mit der nächsten Generation einen Ausblick wagen." Mehr Informationen finden Sie im Internet unter: Externer Link: www.jugendmedientage.de Informationen Jugendpresse Deutschland e.V. Bundesverband junger Medienmacher Grolmanstraße 52 10623 Berlin Tel.: +49 (0) 30 – 450 865 50 Fax: +49 (0) 30 – 450 865 59 Sarah Benecke Mobil: +49 (0) 179 – 712 69 42 E-Mail: E-Mail Link: s.benecke@jugendmedientage.de Maximilian Kall Mobil: +49 (0) 171 – 280 78 78 E-Mail: E-Mail Link: m.kall@jugendpresse.de Pressekontakt/bpb Bundeszentrale für politische Bildung Pressearbeit Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel.: +49 228 99515-284 Fax: +49 228 99515-293 E-Mail: E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2011-12-23T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50643/jugend-und-politik-k-ein-auslaufmodell/
Wie können wir durchblicken? Welche Ideen haben wir? Was können wir bewegen? Jugendmedientage bedeuten: Fragen stellen. 600 junge Medienmacher werden vom 18. bis 21. Mai 2006 im Deutschen Bundestag in Berlin zusammen kommen. Veranstalter sind in Koop
[ "Unbekannt (5273)" ]
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"Die Vergangenheit ändert und ändert sich" | Die Wohnung | bpb.de
Oliver Kaever: Als Sie mit den Dreharbeiten begannen, konnten Sie nicht ahnen, auf welche unglaubliche Geschichte Sie in der Wohnung ihrer Großmutter stoßen würden … Arnon Goldfinger: Nein, und ich hatte nicht vor, ein so großes Filmprojekt zu stemmen. Im Gegenteil: Nachdem mich mein erster Langfilm vier Jahre Arbeit gekostet hatte, lehnte ich lange alle Angebote ab. In der Wohnung meiner Großmutter wollte ich nur eine Stimmung einfangen: Diese deutsche Welt, die sie dort konserviert hatte, die aber ohne sie schnell zerfallen würde. Es sollte ein kurzer Film werden, ohne großen Aufwand. Ich wusste nicht, wohin mich diese Idee führen würde. Das spürt das Publikum. Es ist, als ginge man mit Ihnen zusammen auf eine unerwartete Reise in die Vergangenheit. Wir wollten mit dem Film so nah wie möglich an den Entwicklungen bleiben, die sich in der Realität ergaben. Deshalb spiele ich selbst auch eine so große Rolle, obwohl mich das während der Dreharbeiten in Schwierigkeiten brachte. Sie mussten die kreative Kontrolle über die Kamera abgeben, weil Sie selbst mit im Bild waren. Genau, und ich bin ein gutes Beispiel für einen Jecke, einen deutschen Juden: Ich gehe systematisch und überlegt vor, gebe die Kontrolle ungern ab. Insofern musste ich fortwährend mit mir selbst kämpfen. Aber das passte gut zu diesem Film, denn ich wollte offen bleiben für alles, was geschah. Ich musste auf eine innere Reise gehen. War Ihnen immer klar, dass Sie mit dem Film weitermachen würden, als Sie die ersten Hinweise auf das Geheimnis ihrer Großeltern fanden? In meinem Kopf stritten sich der Dokumentarfilmer und das Familienmitglied. In der Tat war ich nach der Entdeckung der Freundschaft meiner Großeltern mit den von Mildensteins schockiert. Mein Motto leitete mich vom Anfang der Dreharbeiten an: Was können wir aus den Dingen lernen, die Menschen zurücklassen? (© Salzgeber) Sie führten die Dreharbeiten fort, ohne zu wissen, wo sie enden würden? Ja, ständig wurden die Karten neu gemischt, immer wieder musste ich mein Konzept über Bord werfen und neu anfangen. Das war hart, aber auch sehr spannend für meine Entwicklung als Filmemacher. Ich konnte mit keiner vorgefassten Meinung arbeiten. Mein Film stellt viele Stereotypen über Nazis und deutsche Juden infrage, Stereotypen, die ich selbst verinnerlicht hatte. Teile Ihrer Familie reagierten desinteressiert bis ablehnend auf Ihr Projekt. Stehen sie stellvertretend für einen Part der jüdisch-israelischen Gesellschaft, der sich nicht mehr so intensiv mit dem Holocaust auseinandersetzen will? Meine vier Geschwister waren tatsächlich nicht an meinen Recherchen interessiert, aber sie respektierten mein Bedürfnis, diese Geschichte zu erzählen. Und ja, meine Generation hat genug vom Holocaust. Natürlich ist unsere Geschichte immer und überall präsent, und sie schweißt die Gesellschaft bis heute zusammen. Aber im alltäglichen Leben wollen die Menschen nach vorn und nicht zurück blicken. Mit Ihrem Film holen Sie zurück ins Bewusstsein, dass unter Hitler Deutsche andere Deutsche ermordeten oder vertrieben, die sich selbst erst in zweiter Linie als Juden sahen. Absolut! So habe ich meine Großeltern immer gesehen: Sie waren Deutsche, die in Israel lebten. Und sie blieben Deutsche, obwohl sie hier viel längere Zeit zubrachten als dort. Aber sie konservierten die deutsche Kultur, die Sprache, das Essen. Mich hat das stark geprägt, ich war bei Fußball-Weltmeisterschaften als einziger meiner Freunde immer für Deutschland. Die letzte Szene hebt die Geschichte Ihrer Großeltern noch einmal auf eine andere, eine metaphorische Ebene. Da sieht man Sie und Ihre Mutter, wie Sie in Berlin auf einem Friedhof das Grab eines Verwandten suchen und es nicht finden. Sie scheinen zu sagen: Alles rinnt uns durch die Finger, so wie die vielen Gegenstände in der Wohnung der Großmutter ohne ihre Gegenwart in die Nutzlosigkeit fallen. Die Vorgänge, die wir auf der Leinwand sehen, sind real. Als wir die Szene drehten, konnten wir nicht ahnen, welche Wichtigkeit sie bekommen würde. Wir wollten den Dreh sogar absagen, weil es in Strömen regnete. Wir konnten nicht ahnen, dass wir das Grab nicht finden und mit unseren Händen im Gestrüpp danach tasten würden. Erst im Kontext des Schnitts erkannte ich die Bedeutung dieser Sequenz. Ich muss dabei an eine populäre Geschichtssendung im israelischen Radio denken, die immer mit einem Slogan begann: Die Zukunft kennen wir nicht; die Gegenwart geschieht jetzt; und die Vergangenheit ändert und ändert sich. Das ist der Punkt: Selbst wenn wir viele oder sogar alle Details einer Geschichte kennen – welche Bedeutung hat sie? Diese Frage werden wir nie abschließend beantworten können. Das Interview führte Oliver Kaever. Es wurde am 14.06.2012 erstmals auf Externer Link: www.fluter.de veröffentlicht. (© Salzgeber)
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Oliver Kaever
2022-01-07T00:00:00
2014-11-18T00:00:00
2022-01-07T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/die-wohnung/195253/die-vergangenheit-aendert-und-aendert-sich/
Im Interview auf fluter.de erzählt der Regisseur Arnon Goldfinger, wie ihn die Entdeckung seiner Familienvergangenheit auf eine unerwartete Reise führte und dabei ein Film entstand.
[ "Familienvergangenheit", "Nationalsozialismus", "Großeltern", "Erinnerung", "Dokumentarfilm", "Shoah", "Holocaust", "Israel", "Deutschland", "Tel-Aviv", "Berlin", "Wuppertal" ]
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Aufklärung im Fall Enver Simsek | Lokaljournalismus | bpb.de
Die Morde des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) passierten in deutschen Städten - mitten unter den Menschen. Die Lokalzeitungen in München, Nürnberg, Hamburg, Dortmund, Rostock, Kassel und Heilbronn berichteten zunächst über eine unaufgeklärte Mordserie. Enver Simsek war das erste Opfer der rechtsextremen Gewalttäter: Der Familienvater wurde im Jahr 2000 an seinem Blumenstand in Nürnberg erschossen. Die Externer Link: drehscheibe, das Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung für Lokaljournalisten, sprach mit zwei Lokaljournalisten, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Fall Simsek befassten. Peter Schwarz ist Reporter in der Kreisredaktion der Waiblinger Kreiszeitung „Die Opfer wollen wissen, was passiert ist“ Peter Schwarz, Journalist der Waiblinger Kreiszeitung, hat zusammen mit Semyia Simsek, deren Vater ermordet wurde, als sie 14 Jahre alt war, ein Buch veröffentlicht. In "Schmerzliche Heimat“ erzählt sie davon, wie die Tat ihr Leben und das ihrer Familie veränderte. Die drehscheibe sprach mit Peter Schwarz über das Buch und wie es entstand. Das Interner Link: Interview mit Peter Schwarz Stefan Kläsener ist Chefredakteur der Westfalenpost (Hagen) „Wir haben keine journalistischen Heldentaten vollbracht“ Stefan Kläsener war im Jahr 2000 Redaktionsleiter der Kinzigtal-Nachrichten, einer Lokalausgabe der Fuldaer Zeitung. Ganz in der Nähe im hessischen Schlüchtern betrieb Enver Simsek seinen Blumengroßhandel. Die drehscheibe sprach mit dem heutigen Chefredakteur der Westfalenpost über die journalistische Herausforderung in jenen Tagen, über Vermutungen und Versäumnisse. Das Interner Link: Interview mit Stefan Kläsener. Peter Schwarz ist Reporter in der Kreisredaktion der Waiblinger Kreiszeitung Stefan Kläsener ist Chefredakteur der Westfalenpost (Hagen)
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2013-04-30T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/lokaljournalismus/159168/aufklaerung-im-fall-enver-simsek/
Er war das erste Opfer des rechtsextremen Terrorgruppe NSU: Am 9. September 2000 wurde der türkischstämmige Familienvater und Unternehmer Enver Simsek an einer Straße in Nürnberg erschossen. Im Interview sprechen zwei Lokaljournalisten, die sich auf
[ "Enver Şimşek", "Rechtsextremismus", "NSU", "Lokaljournalismus", "Journalismus", "Medien", "Berichterstattung", "Drehscheibe" ]
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Bildung - kein Megathema | Wissensgesellschaft | bpb.de
I. Bildung - Mittel zum einzigen Zweck? Bildung - obwohl in aller Munde - ist kein großes Thema. Natürlich ist das paradox: Es vergeht kein Tag, an dem nicht von Wissen und Lernen, dem Aufbruch in die Informations- und Wissensgesellschaft die Rede ist. Zudem wird die Notwendigkeit lebenslangen Lernens, permanenter Weiterbildung, wird Wissen als wichtigster Rohstoff und Produktionsfaktor beschrieben. Bildung ist ein Lieblingsthema der veröffentlichten Meinung und sogar "kampagnefähig" - mit Bildung kann (wieder) Politik gemacht, können Wahlkämpfe bestritten werden. In der Tat: Nie waren in den letzten Jahren Fragen von Schule und Hochschule - den institutionellen Fixpunkten von Bildung - in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung präsenter. Und der vormalige Bundespräsident Herzog hat mit seinem Diktum vom "Megathema Bildung" (1997) ganz augenscheinlich den Nerv getroffen bzw. einen allgemeinen Trend bestätigt. Wieso kann dann das Gegenteil behauptet werden: Bildung - kein Megathema? Interner Link: PDF-Version: 51 KB Bildung ist kein Thema, weil es - jenseits rituell-feiertäglicher Beschwörungen - im öffentlichen Disput und in der Praxis ausschließlich um das "Fitmachen", den raschen Erwerb verwertbaren Wissens, um (berufliche) Ausbildung und Qualifizierung, geht. Wollte man ein Megathema benennen, dann hieße es Ökonomie. Die "kollektive Konversion zur neoliberalen Sichtweise" hat längst den Bildungsbereich erreicht und beschreibt eine Perspektive, die auch hier lediglich den Markt als Legitimationsinstanz anerkennt. Schließlich ist kaum zu übersehen, dass wir es mit einer "neue(n) Begeisterung für die Ökonomie" zu tun haben. Bildung ist dabei zum semantischen Beiwerk geschrumpft; über sie wird zwar fortwährend geredet, nur wird sie nirgendwo mehr gemeint. Nun mag das wenig aufregend und nur ein Reflex des Zeitgeistes sein. Ich plädiere dennoch dafür, einen Moment innezuhalten und eine Vergewisserung dieses Zustandes, mithin eine (auf)klärende bildungspolitische Debatte einzufordern. Denn es geht um eine, nicht nur semantische, Differenz: In der Tat bräuchte es heute einen Diskurs, eine lebhafte Erörterung, über Bildung - geführt werden aber nur Effizienzdebatten. Das ist ein Unterschied, und das Interesse gälte dann einer durchaus prinzipiellen Nachfrage: Ist bereits das letzte Wort gesprochen, reicht jene ökonomische Begeisterung, der Paradigmawechsel zur Effizienz, als ausschließliches Zukunftsprogramm? Anders formuliert: Sollen wir uns noch einen Begriff von Bildung machen? Brauchen wir eine "Besinnung auf den Sinn von Bildung" ? Die Antwort lautet: Ja! Aber dann muss das Thema zu Wort kommen, und zwar zur Gänze. Wenn von Bildung die Rede sein soll, muss mehr als Ausbildung und Qualifizierung in den Blick genommen werden. Bildung besitzt einen "Mehr-Wert", der allerdings immer wieder grundsätzlicher Vergewisserung bedarf. An dieser Stelle geht es aber nicht um eine Untersuchung des Bildungsbegriffs, vielmehr um einige Beobachtungen, welche die ökonomische Verengung des Themas betreffen. Die Überlegungen nehmen hier ihren Ausgang: Bildung ist stets mehr gewesen, hat stets mehr als nur den funktionalen, ökonomischen (Ausbildungs-)Aspekt bedeutet. Auf eine knappe Formel gebracht: Der Begriff wird hier als Chiffre dafür gelesen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt "sich nicht auf Marktbeziehungen" reduzieren lässt. Bildung meint damit einen umfassenderen ökonomischen, soziokulturellen und politischen Zusammenhang, der nicht zuletzt mit Blick auf Fragen der Globalisierung Aufmerksamkeit verlangt. Zu Recht ist etwa darauf hingewiesen worden, dass den Bedingungen innergesellschaftlicher Integration - was hält die Gesellschaft zusammen? - in dieser Zeit besonderes Interesse gelten muss. Bildung ist ein solcher Integrationsfaktor, der allerdings bei einseitig ökonomischer Akzentsetzung ins Abseits gerät. II. Fortschritt ins Private? Es gibt mittlerweile auch im Bildungsbereich Anzeichen für den "Abbau der gemeinwohlorientierten öffentlichen Infrastruktur" . Angesichts notorisch knapper Kassen verabschiedet sich die öffentliche Hand in kleinen, aber stetigen Schritten aus der flächendeckenden Verantwortung für die Finanzierung des Bildungssystems bzw. lässt sich diese Verantwortung abnehmen. Die Erwartungen richten sich - fortwährend gesteigert - auf den privaten Sektor. Gängige Stichworte sind hier z. B. Sponsoring und Werbung oder - mit Blick auf die Hochschulen - Drittmittel und Stiftungslehrstühle. Die Überschrift lautet Public Private Partnership. In der Schule deutet sich inzwischen eine Entwicklung an, die sich mit der Bezeichnung Pflicht/Kür charakterisieren lässt. Der Rückzug beginnt mit dem mittlerweile offen ausgesprochenen Eingeständnis, dass in Zukunft von Seiten des Staates nicht mehr alles finanzierbar sein wird. Nun ist die inhaltliche und finanzielle Gewährleistung von Schulen und Hochschulen nach wie vor öffentlicher Auftrag - noch. Denn wenn die öffentliche "Pflicht" durch die private "Kür" ergänzt, abgerundet werden soll und muss, bleibt die Frage nach der perspektivischen Ausrichtung des Bildungssystems bzw. die nach den zu erwartenden "Systemeffekten". In der Tat ist nicht zu übersehen, dass "die Privatisierung von Bildung - über die Finanzen - Fortschritte (macht)" und eine darüber zu führende öffentliche Debatte drängend wird. Die öffentliche Hand steht nun allerdings vor Finanzierungsfragen, die nicht problemlos, gleichwohl aber ausdrücklich politisch zu beantworten sind. Angesichts der allein im Schulbereich landauf-landab nicht enden wollenden Querelen um die Ausstattung der Etats bedarf es der Verständigung darüber, was denn - quantitativ wie qualitativ - zukünftig überhaupt noch unter öffentlich verantworteter Bildung - Ausbildung und Qualifizierung eingeschlossen - verstanden und wo dementsprechend investiert werden soll. Zudem ist die Vermutung nicht aus der Luft gegriffen, dass der (implizite) Auftrag der Schule, "Bildung und Erziehung" auch in ihrer sozialen Dimension zu gewährleisten, heute immer drängender wird. Hier formuliert sich m. E. eine Grundsatzfrage, die auch mit Blick auf die verfügbaren öffentlichen Ressourcen, zugleich aber mit Blick auf den überkommenen Auftrag von Schule, neu definiert und akzentuiert werden muss. Aber zurück zum eingangs formulierten Problem: Wollen wir wirklich, dass die Unterscheidung zwischen dem öffentlichen Raum Schule und dem wirtschaftlichen Bereich qua Werbung/Sponsoring aufgehoben wird? Noch jedenfalls definiert sich Schule durch eine Innen-Außen-Differenz, auch gegenüber der Wirtschaft. Schließlich kann man nicht auf der einen Seite Werteabstinenz, Orientierungslosigkeit und Konsumorientierung ("Spaßgesellschaft") bei Schülerinnen und Schülern beklagen und sich auf der anderen Seite genau die dazu passende "Infrastruktur" in die Schule holen. Es sei denn, man formulierte ganz ausdrücklich, dass es auch in der Schule in erster Linie um eine Orientierung auf Märkte und die Erziehung von Konsumenten geht. Dann bestünde tatsächlich "die ganze Idee der Schulbildung . . . darin, die Jugendlichen für ihren Eintritt in das Wirtschaftsleben ihrer Gesellschaft kompetent zu machen" . Hier liegt im Übrigen ein Paradoxon, mit dem sich Schule heute ganz offensichtlich konfrontiert sieht: Sie soll ausbügeln, was zuvor (jenseits der Institution Schule) bewusst und sehr (markt)konform angelegt und eingeübt worden ist. Die gesamtgesellschaftlich in Gang gesetzte "Plünderung der Gemeinwesensubstanz" soll von der Schule sozusagen im Alleingang und auf Knopfdruck wettgemacht werden. Das Schlagwort von der "Werteerziehung" klingt in den Ohren! Der Verfassungsrechtler Dieter Grimm spricht von einer "verbreiteten Tendenz in der Gesellschaft, gegen Geld Autonomie zu verkaufen", und demonstriert das ebenfalls am Thema Sponsoring. Dabei werde "viel zu wenig erkannt, dass der kurzfristige Nutzen, den solche Spenden erbringen, mit einer Langfristeinbuße an . . . Autonomie erkauft wird" . Der Hinweis ist interessant, weil sich mit ihm ein Phänomen ansprechen lässt, das sich in neuer Qualität präsentiert. Gesponsert wird längst nicht mehr nur vor dem Hintergrund begrenzter Image- und PR-Effekte sowie allgemeiner gesellschaftspolitischer "Landschaftspflege", sondern mit Blick auf strategisch orientierte und unmittelbare Mitgestaltung. Damit verflüchtigt sich der politische Gestaltungsauftrag bzw. droht ein Verlust konzeptioneller Autonomie: Politik und Staat verabschieden sich in kleinen, aber stetigen Schritten aus der gestaltenden Verantwortung für Bildung. Während Politik und Administration unter den tagespolitischen Anforderungen stöhnen und das System, den "Tanker", in schwierigem Fahrwasser, bei finanzieller Ebbe und hohem (medialem) Außendruck, irgendwie flottmachen bzw. flotthalten müssen, wird die konzeptionelle Arbeit - wie sollen Schule und Hochschule, Ziele und Prozesse des Lernens und Lehrens zukünftig aussehen und ausgerichtet sein? - zunehmend mit der Unterstützung privater Dritter organisiert. Hier spielt sich eine freundliche Übernahme eigener Art ab: Die Tage klassischer Lobbyarbeit scheinen gezählt - man macht es gleich selbst. Rolf Wernstedt, ehemaliger Kultusminister in Niedersachsen, hat das mit Blick auf die von Bertelsmann und dem ehemaligen Bundespräsidenten Herzog gemeinsam organisierten Bildungsforen beschrieben und hinzugefügt: "Die Bildungsdebatten finden, was ihre Wirksamkeit und Kraft angeht, kaum mehr in den Schulen und Hochschulen (mithin: den politisch-parlamentarischen Institutionen; D. J.) statt. Was Bildung ist und zu sein hat, bestimmen die Bedürfnisse der New Economy." Ob New oder Old Economy - das Thema Wirtschaft ist mit einer Heftigkeit in Schule und Hochschule angekommen, die noch vor wenigen Jahren zumindest Nachfragen herausgefordert hätte. Zwar ist der praxisorientierte Kontakt von Wirtschaft und Schule zu begrüßen, zu fragen bleibt aber, ob die Ökonomie der eigentliche, gar ausschließliche Takt- und Ratgeber von Schule und Hochschule sein soll. Man muss Public-Private-Partnership nicht als "Anfang vom Ende öffentlicher allgemeiner Schulen und Universitäten" charakterisieren, sollte sich aber Rechenschaft darüber geben, wohin die Reise gehen soll. III. Wissensgesellschaft - Abschied von der Schule Es gibt weitere Indizien dafür, dass "die Grenzen zwischen Öffentlich und Privat, Staatsaufgaben und gesellschaftlicher Sphäre immer stärker verschwimmen" und auch die Organisation und Gewährleistung von Prozessen formalisierter Bildung von einer öffentlichen zur Privatsache werden könnte. So ist es kein Zufall, dass sich der Rückzug öffentlichen Engagements mit einem über die Informations- und Kommunikationstechnologien induzierten Strukturwandel verbindet. Die technologisch-wirtschaftlichen Akteure der angekündigten Informations- und Wissensgesellschaft springen in die bestehenden finanziellen und konzeptionellen Breschen. Hier verschränkt sich der "neue Glaube" an Bildung mit der Heilsgewissheit und dem Mythos der neuen Medien. Dabei ist die Prämisse bereits anerkannt bzw. vorausgesetzt, dass die neuen Medien, einschließlich Internet, (auch) in Bildungsfragen den maßgebenden Dreh- und Angelpunkt darstellen. Der Einsatz und die Gewichtung von Computern, Multimedia, Internet in Schule und Unterricht wird kaum hinterfragt, vielmehr bildungspolitisch als Universalantwort vorgestellt: "So offen wie heute ist noch nie die Misere des Bildungs- und Ausbildungssystems als Ruf nach technischen Lösungen verstanden worden." Hier schließt sich der Kreis: Es ist nur folgerichtig, wenn diejenigen, welche die Schule (und andere Bildungseinrichtungen) materiell-technisch an die Erfordernisse der Informations- und Wissensgesellschaft anschließen - also dementsprechend ausstatten -, sich zugleich inhaltlich-konzeptionell einmischen. Jedenfalls ist die These nicht von der Hand zu weisen, privates Sponsoring (etwa) von Schulen sei das wirtschafts-, finanz- und bildungspolitische Instrument für die gesellschaftliche und ökonomische Durchsetzung der Informationsgesellschaft im Bildungsbereich . Im Kontext der Digitalisierung deuten sich weitere Fragen an. Der Abschied von der neuzeitlichen Schule mit ihren inhaltlichen Vorgaben und Curricula wird nach Kräften betrieben, aber nicht reflektiert. Die Schule gerät zusätzlich zu den ohnehin drückenden Problemen in weitere Zielkonflikte und Dilemmata. Marianne Gronemeyer hat das auf eine knappe Formel gebracht: "Wenn die Schule den Modernisierungsforderungen nicht nachkommt, wird sie abgehängt, wenn sie ihnen nachkommt, macht sie sich überflüssig." Die Schule, die wir kennen, ist auf diesem Weg, es gibt bereits einen stillen Strukturwandel der Schule. Der Digitalisierungsschub, der z. Zt. (nicht nur) die Schule und ihr gesellschaftliches Umfeld erfasst, führt langsam aber stetig zu einer Neustrukturierung der Voraussetzungen und Bedingungen, auf deren Grundlage unsere Bildungsinstitutionen ruhen. Im Vollzug technologischer Anpassungsprozesse und in Reaktion auf die "informatische Revolution" wird auch die Schule als Veranstaltung im öffentlichen Raum schrittweise zur Disposition gestellt . Es ist nicht ohne Ironie, dass sich damit die radikale Schulkritik der sechziger und siebziger Jahre wieder in Erinnerung bringt: Die "Entschulung der Gesellschaft" wird jetzt möglicherweise im technologisch-soziokulturellen Wandel erreichen, was den Vordenkern eines "demokratischen Bildungssystems" (Ivan Illich) nicht gelungen ist - wenn auch mit durchaus anderen Vorzeichen. IV. Bildung - Lückenbüßer der Gerechtigkeitsdebatte Trotz allem macht Bildung derzeit eine handfeste Karriere: Sie mausert sich zu einem strategischen Bezugspunkt der Gerechtigkeitsdebatte und füllt in den Auseinandersetzungen um die Zukunft und Modernisierung des Sozialstaats und der Arbeitsgesellschaft zunehmend eine theoretisch-programmatische Lücke. "Bildung" wird als Referenzbegriff für die ungeklärten Problemlagen der Republik etabliert. Die traditionelle Diskussion um Solidarität und Gerechtigkeit, Teilhabe und Chancengleichheit wird dabei Zug um Zug auf Perspektiven öffentlicher Gewährleistung einer individuellen Grundausstattung reduziert. Man spricht von Bildung, um über anderes nicht (mehr) reden zu müssen; man packt ihr wenn nicht alles, so doch vieles von dem auf, was Politik nicht mehr zu tragen, zu begründen und zu vertreten bereit ist. Bildung ist so zum Beispiel zu einem Zentralbegriff in der Diskussion um den "Dritten Weg" und zum "neuen Mantra" geworden. Auch das weist in Richtung verstärkter Privatisierung: Über Ausbildung/Qualifizierung wird dem Einzelnen eine Basis, eine "Anschubfinanzierung", gegeben ; sodann sind Staat, Gesellschaft, Politik gegenüber einem Individuum, das jetzt für sich selbst zu sorgen hat, "aus dem Schneider". Erinnert sei hier an die Thesen der sächsisch-bayrischen Zukunftskommission, die das Ziel definiert, "die Bevölkerung . . . gemäß den Lebens- und Wirtschaftsbedingungen (der) unternehmerischen Wissensgesellschaft" zu qualifizieren. Dabei wird der Schule explizit die Rolle zugedacht, über "Persönlichkeitsformierung"(!) eine "gründliche Allgemeinbildung und die Vorbereitung auf die Arbeitswelt" zu erreichen. Die Frage, "wie . . . wir Sicherheit und Gerechtigkeit in der ,Wissensgesellschaft' (organisieren)" , ist dann zur öffentlichen Entlastung und mit Blick auf das "Einstiegskapital" (Bildung als Ausbildung/Qualifizierung) im Wesentlichen geklärt. Bildung erscheint als programmatischer Fluchtpunkt eines Weltbildes, das nur den Markt bzw. die Menschen als "Kuratoren ihres Humankapitals" zur Kenntnis nimmt. Andererseits läge das "übergreifende Ziel der Politik des dritten Weges" in der Tat darin, "den Menschen dabei zu helfen, ihren eigenen Weg innerhalb der großen Transformationen unserer Zeit zu finden" - nämlich hier mit Blick auf Bildung und Bildungspolitik für eine "Ausstattung" zu sorgen, die über den engen Horizont von Ausbildung/Qualifizierung (weit) hinausgeht. Bliebe die Frage, was sich Politik heute überhaupt noch zutrauen kann und zutrauen will, um gegenüber der Wirtschaft nicht noch weiter ins Hintertreffen zu geraten. Es mutet jedenfalls fast nostalgisch an, heute daran zu erinnern, dass mit Bildung "keine Angelegenheit des ökonomischen und technischen Bedarfs, sondern (ein) Bürgerrecht, eine einklagbare Verfassungsnorm des demokratischen und sozialen Rechtsstaates" angesprochen ist. V. Ausblick auf ein Megathema "Die Antwort auf unsere behauptete oder tatsächliche Orientierungslosigkeit ist Bildung - nicht Wissenschaft, nicht Information, nicht die Kommunikationsgesellschaft, nicht moralische Aufrüstung, nicht der Ordnungsstaat." Der Zustand unseres Gemeinwesens stimmt wenig optimistisch, denn mittlerweile brennt es nicht nur am Rand, sondern in der Mitte der Gesellschaft. Dass das auch etwas mit Fragen einer "ganzen" Bildung, dem viel zu lange vernachlässigten Nachdenken über Sinn, Ziele und Prioritäten institutionalisierter Bildungs- und Erziehungsbemühungen jenseits der Ausrichtung an der "Doktrin der Marktorthodoxie" zu tun haben könnte, wird, aller Aufregung um "Werteverfall" und Rechtsextremismus zum Trotz, noch immer kaum wahrgenommen . Eine zur "Ich-AG" mutierte Gesellschaft - die das Soziale, den gesellschaftlichen Zusammenhalt, zwar noch im Munde führt, aber nicht mehr im Alltag vorlebt und politisch-programmatisch umsetzt - verlangt von ihren Bildungsinstitutionen einen unmöglichen Spagat: nämlich das, was an sozialer, zivilgesellschaftlicher Substanz verloren gegangen ist und weiter verloren geht, kurzfristig auszugleichen, zugleich dem wachsenden Druck globalisierter ökonomischer Anpassungsprozesse (mit fortwährend gesteigerter "Exzellenz" und "Leistung") Paroli zu bieten. Auch hier stehen Bildung und Ausbildung in einem, letztlich unauflösbaren, Spannungsverhältnis. Denn "wie . . . können langfristige Ziele verfolgt werden - wenn man im Rahmen einer ganz auf das Kurzfristige ausgerichteten Ökonomie lebt?" Wo bleibt das Positive? Der Vorschlag lautet: Dem Thema Bildung (und Erziehung) wieder mehr Sensibilität und Aufmerksamkeit entgegenbringen, das Thema Bildung "für voll" nehmen. Zugegeben - dafür bräuchte es eine Art Gestaltwandel in der Wahrnehmung gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Zusammenhänge, eine veränderte Haltung gegenüber den Herausforderungen dieser Zeit . Immerhin - es gibt öffentliche Stimmen, die sich zunehmend deutlicher artikulieren: Erinnert sei an den gemeinsamen Bildungskongress der evangelischen und katholischen Kirche, der - etwa mit Blick auf eine "verhängnisvolle Industrialisierung des Bildungswesens" (Kardinal Lehmann) - Zeichen gesetzt hat . Es gibt Nachdenklichkeit, Einspruch und Widerspruch, ein erneuter Diskurs zum Thema Bildung ist möglich. Was aber "ist" Bildung? Wie kann man sich ihr nähern? Man wird hier, am Rande bemerkt, keine nostalgische, gar pflichtgemäße Rückbesinnung auf Humboldt, schon gar keinen Kanon verpflichtender "Bildungsgüter" bemühen müssen. Die Dinge liegen, denke ich, einfacher - und schwieriger zugleich. Bildung bleibt eine auf die Aufgabe gesellschaftlicher Integration gerichtete, gemeinwohlorientierte politische Kategorie: Unter welchen Prämissen, mit welchen Zielen soll sich diese Gesellschaft - nicht nur, aber auch mit Blick auf nachwachsende Generationen - miteinander einrichten? Man mag das - oben ist von einer Chiffre die Rede gewesen - ebenfalls als "regulative Idee" bezeichnen, so, wie sie Ernst Fraenkel mit Blick auf den Begriff des Gemeinwohls als zentrale Kategorie pluralistischer Demokratie beschrieben hat. Damit käme jenes "Mehr" an Bildung zur Sprache und zur Entfaltung, das eingangs angedeutet worden ist. Ein (pragmatischer) Kern von Bildung ließe sich durchaus als Ausbildung und Qualifizierung bestimmen, wenn zugleich das, was darüber hinausreicht, ausdrücklich mit gedacht, mit thematisiert und mit diesem pragmatischen Kern in Beziehung gesetzt würde . Wie ließe sich das praktisch - im Ansatz - bestimmen? Ich schließe mich hier Hartmut von Hentig an, der auf sechs orientierende "mögliche Maßstäbe" hinweist, was als Ziel, Zweck und Ergebnis von Bildung "nicht fehlen" darf : 1. Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit; 2. die Wahrnehmung von Glück; 3. die Fähigkeit und den Willen, sich zu verständigen; 4. ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz; 5. Wachheit für letzte Fragen; 6. die Bereitschaft zu Selbstverantwortung und Verantwortung in der res publica. Mir scheint das nach wie vor ein sehr konkreter Hinweis für eine überfällige, grundsätzliche Entscheidung zu sein. Wenn wir uns darauf verständigen, solche Maßstäbe und Fragen mit in den Blick zu nehmen und um deren Realisierung und Beantwortung ernsthaft zu ringen, beginnen wir, über Bildung zu reden. Das wäre dann in der Tat ein Megathema. Vgl. Karlheinz A. Geissler, Vom Beten zum Lernen. Die ,Wissensgesellschaft` oder: Der neue Glaube des 21. Jahrhunderts, in: Frankfurter Rundschau vom 23. Dezember 1999 sowie Gerd Steffens, Wiederkehr der Fetische. Begriffs- und Ideenmoden im Bildungsdiskurs, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 45 (1999), S. 1123-1132. Vgl. Pierre Bourdieu, Das Elend der Welt, Konstanz 1998, S. 208, und ders., Über das Fernsehen, Frankfurt/M. 1998, S. 36. Uwe Jean Heuser, In den Zeiten der Wirtschaft, in: Die Zeit, Nr. 44 vom 26. Oktober 2000, S. 1. Bundespräsident Johannes Rau im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. Juli 2000: "Es müsste eine Besinnung auf den Sinn von Bildung stattfinden." "Ich wünschte mir mehr ganzheitliche Gesichtspunkte in der Bildungspolitik." Vgl. Wolfgang Thierse, Dankesrede zur Verleihung des Ignatz-Bubis-Preises, in: Frankfurter Rundschau vom 17. Januar 2001, S. 7. Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus. Eine Analyse von Entwicklungstendenzen, in: Dietmar Loch/Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Schattenseiten der Globalisierung. Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischer Regionalismus in westlichen Demokratien, Frankfurt/M. 2001, S. 497-530. Josef Esser/Guido Felhölter/Ronald Noppe, Wider den neoliberalen Angriff auf das Gemeinwohl, in: Frankfurter Rundschau vom 16. Dezember 1999. Vgl. Uwe Christiansen, Wirtschaft: Der heimliche Erzieher?, in: ForumE (Verband Bildung und Erziehung) vom 3. März 2000, S. 18Äff., sowie ders./Jörg E. Feuchthofen, Wirtschaft: der heimliche Erzieher?, in: Wirtschaft und Berufserziehung, (1999) 9, S. 13Äff. und S. 18. Neil Postman, Die Zweite Aufklärung, Berlin 1999, S. 158. Das Thema verdiente mittlerweile eine ausführliche Abhandlung. Oskar Negt, Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche, Göttingen 1997, S. 42. Dieter Grimm, Prioritätenwechsel in der Gesellschaft von Freiheit zu Sicherheit, in: Hans Eichel/Hilmar Hoffmann (Hrsg.), Ende des Staates - Anfang der Bürgergesellschaft, Reinbek 1999, S. 181. Das (holperige) Schlagwort von der "Bertelsmannisierung der Bildungspolitik" sei Pars pro toto angeführt; vgl. Marco Finetti, Die heimlichen Bildungsminister, in: Die Woche vom 14. Oktober 2000, sowie Albrecht Müller, Die Wohltäter aus Gütersloh, in: Vorwärts, (1999) 5, S. 24 und Sabine Etzold, Die Lotsen aus Gütersloh, in: Die Zeit, Nr. 19 vom 2. Mai 1997. Werner Herzog habe sich, so Rolf Wernstedt, nach dem Bildungskongress im April 1999 gegen den Eindruck wehren müssen, "er sei nur Staffage von Bertelsmann", in: Frankfurter Rundschau vom 29. Juni 2000, S. 6 ("Halbwertzeit"); vgl. dazu auch Karl-Heinz Heinemann, Vor dem neuen Ruck, Frankfurter Rundschau vom 21. Januar 1997, S. 6. Ingrid Lohmann, Schul-Sponsoring, in: Pädagogik, 51 (1999) 1, S. 53. Herfried Münkler, Selbstbindung und Selbst"ver"pflich"tung, in: Frankfurter Rundschau vom 16. Januar 2001, S. 20. K. A. Geissler (Anm. 1). O. Negt (Anm. 10), S. 31. Dafür stehen auch bildungspolitische Formeln wie "Anschluss statt Ausschluss", die über einen technologisch-quantitativen Impetus kaum hinausreichen; vgl. Interview mit der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn, in: Vorwärts, (2001) 1, S. 28. Ausgesprochen lesenswert ist in diesem Zusammenhang der kritische Einspruch von Clifford Stoll, LogOut. Warum Computer nichts im Klassenzimmer zu suchen haben und andere High-Tech-Ketzereien, Frankfurt/M. 2001. Vgl. I. Lohmann (Anm. 14), S. 53. Marianne Gronemeyer, Lernen mit beschränkter Haftung. Über das Scheitern der Schule, Darmstadt 1997, S. 202. "Die informatische Revolution strukturiert die informatische Lage um, genauer: sie baut den öffentlichen Raum ab. Die Informationen dringen jetzt in den Privatraum, um dort empfangen zu werden. Geschäfte, Banken, Schulen, Kinos und alle übrigen Orte werden von den neuen Technologien ausgeschaltet." Vilem Flusser, Die Revolution der Bilder, Mannheim 1995, S. 75. Anthony Giddens, Der Dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt/M. 1999², S. 128. Anmerkung der Redaktion: Zum Dritten Weg siehe auch Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16-17/2001. Zum Terminus "Anschubfinanzierung" vgl. Wolfgang Storz, Mehr als nur Appelle, in: Frankfurter Rundschau vom 6. November 2000, S. 3. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 2. Dezember 1997, S. 9 ("Wie die Deutschen zu unternehmerischen Kräften kommen sollen"). Gerhard Schröder, Die zivile Bürgergesellschaft, in: Die Neue Gesellschaft, 16 (2000) 4, S. 201, 203. Mathias Greffrath, Und wo bleibt die soziale Gerechtigkeit?, in: Frankfurter Rundschau vom 3. März 2001, S. 7. Anthony Giddens, Die Konsequenzen der Moderne, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 51 (2000) 6, S. 33. Vgl. O. Negt (Anm. 10), S. 29. Hartmut von Hentig, Bildung. Ein Essay, München - Wien 1996, S. 11. Vgl. Norman Birnbaum, Siegt die Marktorthodoxie, stirbt die Demokratie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 43 (1997) 12, S. 1447: "Die Doktrin . . . zögert nicht, die Behauptung von der Überlegenheit des Marktes auf Gebiete wie die Versorgung mit Dienstleistungen der Kultur, der Bildung und der Infrastruktur auszuweiten, wo sie sich als sowohl asozial wie dysfunktional erweist." Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998, S. 12. Es gibt Anhaltspunkte, über die zu reden und zu streiten lohnte: So hat z.ÄB. die Denkschrift der nordrhein-westfälischen Bildungskommission neben ihren (schulorganisatorisch-)praktischen Hinweisen auch Grundfragen von Bildung zur Diskussion gestellt; vgl. Denkschrift der Kommission "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft" beim Ministerpräsidenten des Landes NRW, Neuwied - Kriftel - Berlin 1995, v.Äa. S. 23-73. Die Initiatoren des "Heidelberger Memorandums" haben Fragen einer "zukunftsfähigen Bildung" und Leitstichworte (Arbeit; Demokratie; Wissen; Lernen) für eine bildungspolitische Debatte formuliert; vgl. Frankfurter Rundschau vom 25. November 1998 sowie Die Zeit vom 26. November 1998. Die "Potsdamer Erklärung" hat Ende 1999 unter der Überschrift "Chancengleichheit - Leitbegriff für Politik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert" ebenfalls Grundlagen für eine solche Diskussion thematisiert; vgl. Potsdamer Erklärung (Gesellschaft Chancengleichheit e.ÄV.) vom Januar 2000 (Broschüre). Bildungskongress der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland am 16. November 2000 in Berlin: "Tempi - Bildung im Zeitalter der Beschleunigung. Wissen braucht Maß - Lernen braucht Ziele - Bildung braucht Zeit" (Tagungsunterlagen); vgl. auch Frankfurter Rundschau vom 17. November und 7. Dezember 2000. Erinnert sei auch an die deutlichen Hinweise von Bundespräsident Rau, u.Äa. seine Reden zur Verleihung des Hans-Böckler-Preises, in: Frankfurter Rundschau vom 17. Oktober 2000, S. 8, und zum Kongress Forum Bildung am 14. Juli 2000 in Berlin (Pressemitteilung Bundespräsidialamt vom 12. Juli 2000). Vgl. H. Münkler (Anm. 15), S. 20. Im Anschluss an "Fraenkel lässt sich auch für Bildung konstatieren, dass sie kein "Apriori" besitzt, d.Äh., dass über das, was Bildung je auszumachen hätte, eine (immer wieder neu ansetzende) "gesellschaftspolitische Verständigung ("a posteriori") erfolgen muss. Bundespräsident Rau hat auf dem Kongress Forum Bildung von "drei bleibenden Zielen von Bildung" gesprochen: (1) Entwicklung der Persönlichkeit; (2) Teilhabe an der Gesellschaft; (3) Vorbereitung auf den Beruf; vgl. Pressemitteilung Bundespräsidialamt (Anm. 32), S. 3. Für eine grundsätzliche Erörterung verweise ich insbesondere auf die NRW-Bildungskommission, die anschlussfähige "Elemente eines zeitgemäßen Bildungsbegriffs" skizziert hat; vgl. o.Äa. Denkschrift (Anm. 31), S. 30Äff. Vgl. H. v. Hentig (Anm. 28), S. 75Äff.
Article
Josczok, Detlef
2021-12-07T00:00:00
2011-10-04T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/26061/bildung-kein-megathema/
Bildung ist zur Zeit kein Thema. Entweder geht es dabei nur um die feiertäglich-symbolische Überhöhung von Bildung oder um Ausbildung und Qualifizierung zur Beförderung aktueller Standortanforderungen.
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Analyse: Wie weiter? Das Assoziierungsabkommen der EU im Spannungsfeld von Wirtschaft und Menschenrechten | Ukraine-Analysen | bpb.de
Einleitung Die Ukraine ist das bedeutendste Land innerhalb der Östlichen Partnerschaft. In diesem regionalen Programm der EU-Nachbarschaftspolitik sollen insgesamt sechs Partnerländer (Belarus, Ukraine, die Republik Moldau, Georgien, Aserbaidschan, Armenien) näher an die Standards und Werte der EU herangeführt werden. Die Östliche Partnerschaft umfasst eine bilaterale und eine multilaterale Dimension, letztere als gemeinsames Forum aller Mitglieder. Bestandteil der für alle Partnerländer wichtigeren bilateralen Ebene ist das Assoziierungsabkommen, das in Verbindung mit einer vertieften Freihandelszone abgeschlossen werden soll. Zudem steht für die Partnerländer die Abschaffung der Visapflicht ganz oben auf dem Wunschzettel. Das Assoziierungsabkommen Das Assoziierungsabkommen stellt eine neue Generation von Abkommen der EU mit Drittländern dar. Vorgänger waren die Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, die in den 1990er Jahren mit zehn Ländern Osteuropas und Zentralasiens abgeschlossen wurden (1998 mit der Ukraine). Noch nie hat die EU einem Nicht-Beitrittsland außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums eine derart weitreichende vertragliche Anbindung in Aussicht gestellt wie mit dem avisierten Assoziierungsabkommen. Dieses beinhaltet folgende Kapitel: Politischer Dialog und Reformen sowie Sicherheits- und Außenpolitik bspw. beim Krisenmanagement, bei Konfliktprävention, militärischer Kooperation Justiz, bürgerliche Freiheiten, innere Sicherheit bspw. Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Korruption, Datenschutz, Asyl, Terrorismus, organisierte Kriminalität, Kooperation im Bereich Migration und "Movement of Person" eine Freihandelszone (Deep and Comprehensive Free Trade Area, kurz DCFTA) Sektorale Zusammenarbeit in über 30 Bereichen wie zum Beispiel Landwirtschaft, Verbraucherschutz, Umwelt- oder Gesundheitspolitik Zusammenarbeit bei der Bereitstellung von Fördergeldern und Finanzinstrumenten Herausragender Bestandteil des Abkommens ist die Freihandelszone, die unter anderem eine schrittweise gegenseitige Öffnung der Märkte der EU und der Ukraine beinhaltet. Einfuhrzölle und weitere Handelsbarrieren werden damit größtenteils abgeschafft oder vor allem im landwirtschaftlichen Bereich durch Quoten stark reduziert. Außerdem wird die Ukraine verpflichtet technische Standards und Regularien der EU weitestgehend zu übernehmen, etwa im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe, bei der Hygiene, bei Herkunftsbezeichnungen oder beim Schutz des geistigen Eigentums. Die Öffnung der Märkte ist vor allem für die exportstarken EU-Länder lukrativ, aber auch die ukrainischen Großunternehmen der Schwer- und Rohstoffindustrie sowie die Landwirtschaft hoffen auf einen großen Absatzmarkt in der EU. Im März 2007 wurden die Verhandlungen offiziell begonnen, nach fast vier Jahren wurde beim EU-Ukraine Gipfel im Dezember 2011 der Abschluss der Konsultationen bekanntgegeben. Die teilweise sehr schwierigen Verhandlungen hatten sich am Ende noch einmal verkompliziert, weil die Ukraine im politischen Teil des Abkommens auf der Festlegung einer EU-Beitrittsperspektive bestand. Die EU-Mitgliedstaaten konnten sich hingegen nicht auf eine gemeinsame Position einigen, sodass jede Bezugnahme auf einen möglichen EU-Beitritt schließlich gestrichen wurde. Gleichwohl wird die zukünftige Entwicklung der bilateralen Beziehungen bewusst offen gehalten, da das Abkommen mit dem Motto der politischen Assoziierung und wirtschaftlichen Integration ein wichtiger Schritt hin zur Annäherung an die EU darstellt und letztendlich auch ein Beitritt prinzipiell nicht ausgeschlossen ist. Die politische Situation in der Ukraine Am Beginn der Verhandlungen, noch unter den Gewinnern der Orangen Revolution – Präsident Wiktor Juschtschenko und Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko –, gab es eine optimistische, extrem EU-freundliche Stimmung in der Bevölkerung, aber auch innerhalb der Elite bestand die Bereitschaft, sich den Demokratiestandards der EU anzupassen. Seitdem haben sich die demokratischen und rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen verändert. Präsident Wiktor Janukowytsch hat es verstanden die Machtvertikale in den vergangenen zwei Jahren stark auf seine eigene Person sowie auf seine Familie und engsten Freunde auszurichten und gleichzeitig das Parlament zu schwächen. Schwerer wiegt noch, dass politische Gegner und ehemalige Amtsträger systematisch verfolgt, verhaftet und teilweise bereits zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Prominentestes und aktuellstes Beispiel ist Ex-Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko, aber auch Ex-Innenminister Jurij Luzenko, Ex-Verteidigungsminister Walerij Iwaschtschenko oder Ex-Umweltminister Heorhij Filiptschuk zählen zu diesem Kreis. Die EU und internationale Organisationen bewerten die Prozesse gegen die Opposition und insbesondere deren Durchführung als politisch motiviert. Gleichzeitig wird die Zivilgesellschaft immer weiter drangsaliert, die Medien immer stärker der Kontrolle des Staates unterworfen. Die Macht der Judikative ist ausgehöhlt. Im Oktober dieses Jahres finden in der Ukraine Parlamentswahlen statt. Wenn aber die wichtigste Oppositionsführerin und einige ihrer engsten Gefolgsleute nicht daran teilnehmen können, weil sie im Gefängnis oder im Exil sitzen, kann nicht von fairen und freien Wahlen gesprochen werden. Diesen gewichtigen Rückschritt im Vergleich zu vorigen Wahlen darf die EU nicht ignorieren. Die Freilassung oder gar politische Rehabilitierung der Ex-Ministerpräsidentin noch rechtzeitig vor den Wahlen ist äußerst unwahrscheinlich. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft hat mehrmals und öffentlich bekräftigt, dass neben dem abgeschlossenen Prozess und der Verurteilung weitere Verfahren auf Tymoschenko warten. Bis zu zehn weitere Untersuchungen laufen derzeit gegen sie. Es ist daher nicht davon auszugehen, dass Präsident Janukowytsch eine Freilassung Tymoschenkos in Betracht zieht, zumal es sich allem Anschein nach auch um einen persönlichen Rachefeldzug gegen die Orangen Gegner von einst handelt. Eine gezielte Änderung der umstrittenen Paragraphen 364/365 des ukrainischen Strafgesetzbuches, in denen es um Amtsmissbrauch und Korruption geht, lehnt seine Fraktion der Partei der Regionen im Parlament strikt ab, auch mit dem Argument, dass die Abschaffung dieser Paragraphen die Freilassung von Tausenden anderen Strafverfolgten nach sich ziehen würde. Tymoschenko muss also damit rechnen, das Schicksal des russischen Oligarchen Michail Chodorkowskij zu teilen. Die EU im Dilemma – Anreize oder Druck Die veränderte politische Lage stellt die EU vor ein Dilemma: Soll sie die geplante Prozedur zum Abschluss des Assoziierungsabkommens fortsetzen, das heißt zunächst einmal die Unterzeichnung vorbereiten? Die EU ist gespalten in eine Gruppe von Befürwortern, die das neue Abkommen prinzipiell als Instrument für die Re-Demokratisierung und neue politische Reformen sehen (etwa die Baltischen Staaten, Polen, Tschechien, Großbritannien, Irland). Auf der anderen Seite stehen viele Staaten der regierenden Elite der Ukraine derart skeptisch gegenüber, dass sie erst substantielle Fortschritte fordern, bevor es weitere Zugeständnisse geben soll (besonders Deutschland, Niederlande, Frankreich). Diese Spaltung ist auch im Europäischen Parlament und selbst innerhalb der politischen Fraktionen erkennbar. Gute Argumente gibt es auf beiden Seiten. Befürworter einer schnellen Unterzeichnung sehen die Ukraine erst durch die Verbindlichkeit des Abkommens verpflichtet, politische Reformen anzugehen und mehr rechtsstaatliche Prinzipien umzusetzen. Für sie ist die Umsetzung des Abkommens der Lackmustest, an dem sich der politische Wille der regierenden Elite zeigen wird. Die Skeptiker dagegen bewerten die Unterzeichnung zum jetzigen Zeitpunkt als politisches Geschenk an Janukowytsch, das dessen repressive Politik nur legitimieren würde. Mit dem Hinauszögern des Abkommens hingegen könne man weiter für die Freilassung der politischen Opposition eintreten und mit hinreichend großem Druck freie und faire Parlamentswahlen im Oktober fordern. Eine Position, die auch die EU-Kommission vertritt. Besonders heikel ist, dass sich die politische Opposition in der Ukraine, selbst Julija Tymoschenko, sowie die Mehrheit der ukrainischen NGOs für die schnelle Unterzeichnung ausgesprochen haben. Die Unterzeichnung würde auch die Veröffentlichung des Abkommens ermöglichen. Das wiederum wäre eine wichtige Referenz für die demokratischen Kräfte im Land und die zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich damit auf die Grundsätze und Inhalte berufen könnten. Ein Argument der Gegner einer schnellen Unterzeichnung ist, dass sich die EU selbst eine weitere Hürde gesetzt hat: Mit der Überarbeitung der Nachbarschaftspolitik im Mai 2011 wurde das Prinzip more for more eingeführt. In ihrer Mitteilung zu einer "Nachbarschaft im Wandel" stellen der zuständige EU-Kommissar Stefan Füle und die hohe Repräsentantin für die EU-Außenpolitik, Catherine Ashton, die Förderung von Demokratie (deep democracy), Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit als oberste Priorität dar, an der sich die neue Politik ausrichten müsse. Das more for more Prinzip besagt, dass nur derjenige Partner weitere Integrationsschritte und Vergünstigungen von EU-Seite erwarten kann, der in diesen Bereichen auch Reformen umsetzt. Nach diesem fundamentalen Grundsatz aber müsste die Prozedur um das neue Abkommen nun auf Eis gelegt werden, denn die Ukraine hat weder nachhaltige Reformbereitschaft im Sinne europäischer Standards bspw. im Bereich Justiz, Wahlgesetzgebung oder Verfassung gezeigt noch sind derzeit Anzeichen für eine Stärkung der Demokratie zu beobachten. Ist die wertorientierte Vertragspolitik der EU wirklich durchführbar oder sollte sie nicht zugunsten einer pragmatischeren Herangehensweise, die die politischen Gegebenheiten des Landes akzeptiert, aufgeben werden? Die geopolitische Lage und die Rolle Russlands Trotz aller scheinbaren Gegensätze und scharfer Rhetorik gegenüber Kiew weiß die Europäische Union um die wichtige Rolle der Ukraine, nicht nur für die Östliche Partnerschaft, sondern für das geostrategische Verhältnis zwischen der EU und Russland. Wenn es der EU nicht gelingt, die Ukraine stärker politisch und wirtschaftlich an sich zu binden, wird sie sich unweigerlich mehr auf Moskau zubewegen, lautet eines der schwerwiegendsten Argumente für eine schnelle Assoziierung. Grund für diese Annahme ist der enorme Druck von russischer Seite. Moskau hat der Ukraine wiederholt einen Beitritt zur Zollunion (mit Russland, Kasachstan und Belarus) nahegelegt. Ein Freihandelsabkommen mit der GUS ist bereits unterschrieben. Als Gegenleistung für eine Mitgliedschaft in der von Putin angedachten Eurasischen Union (als Nachfolger der Zollunion) wäre dann eine signifikante Reduzierung des Gaspreises möglich, ähnlich wie bei Belarus, das im Vergleich zur Ukraine fast nur die Hälfte bezahlt. Moskau drängt aber ebenso auf eine Übernahme des Gastransportsystems wie es in Belarus bereits geschehen ist. Das würde die Abhängigkeit der Ukraine von Russland enorm verstärken und wird deshalb auch von Janukowytsch abgelehnt. Es würde außerdem den ukrainischen Oligarchen der Stahl- und Rohstoffindustrie weniger lukrative Gewinne bringen als die freien Märkte im Westen. Ein Beitritt zur Zollunion/Eurasischen Union wäre mit der geplanten Freihandelszone der EU jedoch auch aus rechtlichen und technischen Gründen nicht vereinbar. Brüssel weiß, dass es der ukrainischen Regierung und den einflussreichen Oligarchen wirtschaftliche Anreize bieten und dass es das Land andererseits auch in den Verhandlungen mit Russland unterstützen muss. Eine schnelle Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens wäre aus dieser Sicht zu befürworten. Sollte die EU also Menschrechte und Demokratiestandards hinten anstellen und lieber auf eine langfristige Bindung und langsame Verbesserung der inneren Verhältnisse in dem 46 Millionen Einwohner zählendem Land setzen? Paraphierung trotz politischer Unzulänglichkeiten Ende März fand die Paraphierung des Abkommens in Brüssel statt. Mit diesem rein technischen Verfahren wird der Text des Assoziierungsabkommens durch die Abzeichnung jeder einzelnen der 160 Seiten insgesamt festgesetzt. Der 1100 Seiten starke DCFTA-Teil wurde allerdings nur provisorisch paraphiert, durch eine Abzeichnung der ersten und letzten Seite, da die juristische und linguistische Prüfung noch einige Monate beansprucht. Sinn der Prozedur ist es vor allem den ausgehandelten Text zu fixieren und somit spätere Änderungen oder Verhandlungen darüber möglichst auszuschließen. Was als öffentliche Zeremonie vor allem von EU-Kommissar Füle geplant war und auch politisch genutzt werden sollte, um weitere Fortschritte zu signalisieren, endete als bürokratischer Akt der verhandlungsführenden Beamten in den Hinterzimmern des diplomatischen Dienstes der EU in Brüssel. Die Mitgliedstaaten hatten massiv darauf gedrängt, der ukrainischen Seite keinen Anlass zu scheinbaren Erfolgsmeldungen zu geben. Trotzdem nutzten ukrainische Offizielle und Abgeordnete den Schritt um die guten Beziehungen beider Seiten hervorzuheben. Mit der Paraphierung zu diesem Zeitpunkt wollte die EU jedoch ein positives Signal an die Zivilgesellschaft senden und zeigen, dass die Tür für die Ukraine weiterhin offen steht. Der Zeitpunkt war aber auch auf Drängen der ukrainischen Seite gewählt worden, die sich damit von Russlands Plänen einer Zollunion und dem neuen Präsidenten Wladimir Putin distanzieren wollte. Wie weiter? Die nächsten Schritte der EU Technische Prozeduren wie die Übersetzung des Textes und die abschließende juristische Prüfung werden weitere Monate beanspruchen. Ende des Jahres könnte das Abkommen unterschriftsreif sein. Alle Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten, die EU-Kommission sowie die ukrainische Regierung müssten dann bei einem offiziellen Treffen mit ihrer Unterschrift ihre endgültige Zustimmung zu dem Vertragswerk geben. Das könnte beim nächsten EU-Ukraine-Gipfel im Dezember in Brüssel geschehen. Danach würde sich der Ratifizierungsprozess durch die 27 Mitgliedstaaten, zumeist durch deren nationale Parlamente, und durch das Europaparlament anschließen. Das Parlament muss unmittelbar nach der Unterzeichnung das Gesamtwerk ratifizieren, damit es seine Gültigkeit erhält. Die Unterzeichung bedeutet vor allem die politische Zustimmung der Vertragsparteien zum Abkommen, während die Ratifizierung auch die rechtliche Verbindlichkeit und die demokratische Legitimation herstellt. Besonderes Gewicht bekommt die Unterzeichnung zusätzlich dadurch, dass damit wahrscheinlich eine Klausel zur vorläufigen Anwendung bestimmter Bereiche des Abkommens wirksam würde (provisional application). Das betrifft alle Angelegenheiten, die nicht in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegen, sondern bereits heute europäisches Gemeinschaftsrecht sind. Das könnte unter anderem das sofortige Inkrafttreten des gesamten Handelsteils und der Freihandelszone bedeuten. Ein vor allem für die Oligarchen und die wirtschaftliche Elite der Ukraine lohnendes Ziel, wie unlängst auch der ukrainische Integrationsministier Jewhen Peschkin unterstrich. Sie drängen auf die schnelle Vorbereitung der vorläufigen Anwendbarkeit. Sollte der gesamte Assoziierungsteil, in dem es auch um Werte, Demokratiestandards und Reformen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und Zivilgesellschaft geht, von der vorläufigen Anwendbarkeit ausgeschlossen werden, müsste dieser den langwierigen Ratifizierungsprozess durch die Parlamente gehen. Eine Prozedur, die zwei Jahre dauern könnte und deren Ausgang völlig ungewiss ist, da jedes einzelne Parlament den Abschluss durch Nicht-Ratifizierung verzögern und letztendlich sogar ganz blockieren könnte. Die politische Diskussion der Mitgliedstaaten im Europäischen Rat dazu hat erst begonnen. Noch ist unklar, wie sich Befürworter und Gegner einer bedingungslosen Unterzeichnung dazu stellen werden. Da die Freihandelszone eigentlich im Sinne beider Vertragspartner ist, wäre es sinnvoll, sie so schnell wie möglich provisorisch in Kraft treten zu lassen. Ein Vorgehen, das bei den Vorgängerabkommen mit Westbalkanstaaten Usus war. Andererseits vergibt man damit ein wichtiges Druckmittel für politische Reformen. Auch wäre es für die EU-Regierungen sicherlich der einfachere Weg, die öffentliche politische Debatte erst dort beginnen zu lassen, wo sie eigentlich stattfinden soll, nämlich in den nationalen Parlamenten beim Ratifizierungsprozess. Eine mögliche Alternative, die derzeit diskutiert wird, wäre die vertragliche Verknüpfung des Handels-Teils mit einigen ausgewählten weiteren Artikeln bzw. Kapiteln aus dem restlichen Abkommen bspw. zu Rechtsstaat und Demokratie, so dass das DCFTA gemeinsam mit Werte-basierten Teilen des Abkommens vorläufige Anwendbarkeit findet. Das würde den Reformzwang der Ukraine zu einem früheren Zeitpunkt erhöhen. Offen ist jedoch, ob dann auch das Europäische Parlament schon vor der Unterzeichnung erneut konsultiert werden müsste. Die EU wählt derzeit die Taktik der kleinen Schritte. Die technischen Prozeduren um das Abkommen und Treffen der Unterhändler gehen weiter, aber die Rhetorik von EU-Politikern gegenüber Janukowytsch hat sich in den letzten Wochen deutlich verschärft und wird mit der heranrückenden Fußballeuropameisterschaft nachdrücklicher. Viele Mitgliedstaaten, unter anderem Deutschland, lehnen eine bedingungslose Unterzeichnung derzeit ab. Auf keinen Fall will man dem autokratischen Präsidenten das Assoziierungsabkommen ohne Zugeständnisse geben. Die Lösung des Falls Tymoschenko wäre zumindest ein symbolischer Erfolg, wenn auch kein Fortschritt, solange die Verfahren und Repressionen weitergehen. Andererseits nimmt vor allem die Begeisterung der ukrainischen Bevölkerung für und das Vertrauen in die EU Schaden. Russland seinerseits wird den Druck auf die Ukraine unter seinem neuen Präsidenten weiter erhöhen. Die Beurteilung der Oktoberwahlen wird den Ausschlag geben, unter welchen Bedingungen und wie schnell es mit dem Assoziierungsabkommen weiter geht. Keines der EU-Mitglieder wird bereit sein, sich vorher zu positionieren. Im Fall eines Triumphes der Opposition und spürbarer Verbesserungen könnte allerdings alles schnell gehen und das Abkommen ohne weitere Bedingungen unterzeichnet werden, selbst wenn Tymoschenko hinter Gittern bleibt. Bei einer weiteren Verschlechterung der Verhältnisse und Konsolidierung der Machtvertikale Janukowytschs hingegen muss die EU ihre Strategie völlig überdenken, wenn Sie das Abkommen nicht jahrelang auf Eis legen und der ukrainischen Bevölkerung jegliche Vorteile vorenthalten will. Statt Musterbeispiel einer neuen Nachbarschaftspolitik der EU zu sein, könnte die Ukraine zum abschreckenden Beispiel werden. Scheitert das Abkommen oder wird eingefroren, steht die Idee der Östlichen Partnerschaft prinzipiell auf dem Spiel. Wird das Abkommen trotz starker Defizite unterzeichnet, ist die werteorientierte Neuausrichtung der Außenpolitik der EU für ihre Nachbarn unglaubwürdig. Ein Ausweg aus dem Dilemma könnte nur die Ukraine selbst liefern. Doch darauf will sich in Brüssel derzeit niemand verlassen. Lesetipps: Dokumente Externer Link: EU-Ukraine Association Agenda Priorities for Action 2011–12, May 2011 Externer Link: EU-Kommission/ Hohe Vertreterin der europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik: Eine Neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel. Eine Überprüfung der Europäischen Nachbarschaftspolitik, 25. Mai 2011 Beiträge Externer Link: Schulz, Werner, Vogel, Thomas: Nachbarschaftspolitik auf dem Prüfstand. Das Verhältnis zwischen EU und seinen östlichen Nachbarn neu justieren November 2011 Externer Link: Report of the Polish Institute of International Affairs: Asserting the EU’s Mission in the Neighbourhood: Ten Recommendations for an Effective Eastern Partnership. September 2011
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Von Thomas Vogel, Brüssel
2021-06-23T00:00:00
2012-06-06T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/137813/analyse-wie-weiter-das-assoziierungsabkommen-der-eu-im-spannungsfeld-von-wirtschaft-und-menschenrechten/
Das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine spaltet die EU. Die Befürworter sehen das Abkommen als Instrument, um ernsthafte Reformen voranzutreiben. Skeptiker hingegen fordern substantielle Fortschritte bevor es weitere Zugeständnisse geben soll.
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65 Jahre WHO | Hintergrund aktuell | bpb.de
Im Juni 1948 kam die Weltgesundheitsversammlung, das höchste Entscheidungsorgan der Weltgesundheitsorganisation (WHO), erstmals zusammen, um ihre Ziele zu bestimmen. Höchste Priorität hatte damals die Bekämpfung von Infektionskrankheiten wie Malaria und Tuberkulose. Die Gesundheit von Frauen und Kindern sollte verbessert werden, genauso die Ernährungssituation und der Zugang zu sanitären Einrichtungen. Seither arbeitet die wichtigste UN-Sonderorganisation im Gesundheitsbereich mit dem Ziel, die Gesundheitsversorgung weltweit zu verbessern. Dazu legt sie Standards und Forschungsziele zum Thema Gesundheit fest, benennt mögliche Maßnahmen der Gesundheitspolitik und bietet ihren Mitgliedstaaten technische Unterstützung. Ein Schwerpunktthema ist die Aufhebung des Gesundheitsgefälles zwischen armen und reichen Ländern sowie zwischen der Stadt- und Landbevölkerung. Seit Ende der 1990er-Jahre übernimmt die Interner Link: WHO vor allem die Aufgabe eines weltweiten Gesundheitswarndienstes, indem sie ansteckende Krankheiten dokumentiert und darüber informiert. Neben dem Kampf gegen Epidemien unterstützt die Organisation den Auf- und Ausbau leistungsfähiger Gesundheitsdienste in den Entwicklungsländern – zum Beispiel bei der Trinkwasserversorgung und Versorgung mit Medikamenten – und leistet Soforthilfe bei Katastrophen. Ein weiteres Feld ist die Förderung der medizinischen Forschung. Darüber hinaus definiert die Interner Link: WHO weltweit gültige Normen und Standards für medizinische Diagnosen, sogenannte ICD (International Classification of Diseases). Meilensteine auf dem Weg zu einer besseren Gesundheitsversorgung Im Laufe ihrer 65-jährigen Geschichte konnte die Organisation eine Reihe von Erfolgen im Bereich der Gesundheitsversorgung erzielen. Erster wichtiger Meilenstein war die Bekämpfung der Infektionskrankheit Frambösie, auch Himbeerkrankheit genannt, von der in den 1950er-Jahren Millionen Menschen betroffen waren. Unbehandelt kann die Tropenkrankheit zu schweren Behinderungen führen. Die Interner Link: WHO führte ein groß angelegtes Programm durch: Insgesamt wurden in den 1950er- und 1960er-Jahren 300 Millionen Menschen in 46 Ländern mit Penicillin behandelt, so dass die Ausbreitung der Krankheit nahezu gestoppt werden konnte. Inzwischen ist sie allerdings in Westafrika und in Süd-Ost-Asien zurückgekehrt. Ein weiterer großer Erfolg war die Bekämpfung der Pocken, denen Millionen Menschen zum Opfer fielen. Nach einer etwa zehnjährigen Kampagne zur Bekämpfung der Virus-Erkrankung konnte die Interner Link: WHO die Pocken 1980 für ausgerottet erklären. Auch bei der Bekämpfung der Poliomyelitis (kurz: Polio), der sogenannten Kinderlähmung, von der vor allem Kinder unter fünf Jahren betroffen sind, konnten durch großangelegte Impfkampagnen weltweit Erfolge erzielt werden. Im Vergleich zu 1988 tritt die Kinderlähmung nicht mehr in 125, sondern nur noch in drei Ländern gehäuft auf: in Afghanistan, Nigeria und Pakistan. Die weltweit größten Infektionskrankheiten: Aids, Malaria, Tuberkulose Neben den Erfolgen der vergangenen Jahrzehnte stellen eine Reihe von Infektionskrankheiten die Interner Link: WHO weiterhin vor große Herausforderungen - dazu zählt vor allem die Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und Tuberkulose. Auch 30 Jahre nach der Entdeckung des "Menschlichen Immunschwäche-Virus" (HIV) ist die Krankheit lebensbedrohliche Realität: 34 Millionen Menschen waren im Jahr 2011 mit dem HI-Virus infiziert. In den Anfangsjahren der Epidemie war die Interner Link: WHO Hauptakteur im Kampf gegen die Immunschwächekrankheit, seit Mitte der 1990er-Jahre koordiniert das UN-Programm UNAIDS die Maßnahmen als führendes Gremium. Trotz der nach wie vor hohen Infektionszahlen konnten vor allem regional Erfolge erzielt werden. Insbesondere in afrikanischen Ländern mit sehr hohen Erkrankungszahlen ist die Neuinfektionsrate seit 2001 stark gesunken: in Südafrika um bis zu 40 Prozent, in Botswana und Malawi gar um bis zu 70 Prozent. Obwohl weltweit etwa acht Millionen Betroffene immer noch keinen Zugang zu wirksamen Therapien haben, konnte die Zahl der Behandelten bedeutend erhöht werden: immerhin 63 Prozent der Betroffenen erhalten inzwischen medizinische Hilfe. Dadurch konnten die Todesfälle im Vergleich zu 2005 um 24 Prozent verringert werden. Gefahr von Pandemien nimmt zu Angesichts der globalen Mobilität können sich hoch virulente Krankheitserreger schneller ausbreiten. Vor diesem Hintergrund erhöht sich die Gefahr weltweiter Pandemien. Im Jahr 2005 warnte die Interner Link: WHO nach Bekanntwerden des H5N1-Virus, der sogenannten Vogelgrippe, vor einer möglichen weltweiten Grippeepidemie. 2009 stufte die Organisation den H1N1-Grippevirus – die Schweinegrippe – als Pandemie ein und rief die höchste Alarmstufe 6 aus. Viele Regierungen beschafften daraufhin in großen Mengen Impfstoffe. Die Interner Link: WHO geriet damals wegen ihres Vorgehens bei der Pandemiebekämpfung in die Kritik. Experten sprachen vor Panikmache und Überreaktion. Zwar verbreitete sich das Virus weltweit, es kam jedoch relativ selten zu Erkrankungen beim Menschen. Mehr zum Thema Interner Link: Zahlen und Fakten: Global Health Governance (GHG) Interner Link: Hintergrund aktuell: Welt-Aids-Tag 2012 Interner Link: Infografik: Sonderorganisationen der Vereinten Nationen Interner Link: Dossier: Gesundheitspolitik
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-09-05T00:00:00
2013-04-04T00:00:00
2021-09-05T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/157630/65-jahre-who/
Am 7. April 1948 wurde die Weltgesundheitsorganisation gegründet. Neben der Bekämpfung von Infektionskrankheiten definiert die UN-Organisation weltweit gültige Normen für medizinische Diagnosen, informiert über ansteckende Krankheiten und unterstützt
[ "Weltgesundheitsorganisation", "WHO", "Vereinte Nationen", "UN", "AIDS" ]
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Der große Krieg und die Frauen | bpb.de
Anhand von Briefen, Tagebucheinträgen, Prosatexten, Gedichten und Video-Interviews zeigen Barbara Englert und Pola Sell eindrücklich, wie Frauen die Kriegsjahre 1914 – 1918 erlebten. In unserer Gegenwart, die von Nationalismus und politischem Machismo geprägt ist, drohen die Stimmen der Vernunft und des Ausgleichs zu verstummen. Gerade diese Stimmen versammeln die Performerinnen. Sie sind von erschreckender Aktualität und machen uns schmerzhaft bewusst, welchen Preis jeder Krieg hat. Auf dem Podium diskutieren im Anschluss die Ärzin Rut Bahta, die Schriftstellerin Marjana Gaponenko und die Politologin Gila Baumöhl. Moderation: Karen Fuhrmann Podiumsgäste Gila Baumöhl Gila Baumöhl ist Politologin und seit 2015 in der politischen Interessensvertretung tätig. Sie absolvierte ihr Studium in München, Frankfurt, Darmstadt und Nikosia und hat einen M.A. in Friedens- und Konfliktforschung. Ferner ist Gila Baumöhl Mitglied des World Jewish Congress Jewish Diplomatic Corps, wo sie die Interessensgruppe zum Holocaust-Gedenken leitet. Gila Baumöhl wurde 1988 in Jerusalem geboren und wuchs in München auf. Marjana Gaponenko Marjana Gaponenko wurde 1981 in Odessa (Ukraine) geboren und studierte dort Germanistik. Nach Stationen in Krakau und Dublin lebt sie nun in Mainz und Wien. Sie schreibt seit ihrem sechzehnten Lebensjahr auf Deutsch. Im Jahr 2000 debütierte sie mit dem Gedichtband „wie tränenlose ritter. Lyrik aus der Ukraine“. 2010 erschien ihr erster Roman „Annuschka Blume“. Für den Roman „Wer ist Martha?“ (2012) wurde sie mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis sowie dem Literaturpreis Alpha ausgezeichnet. 2016 publizierte sie den Roman „Das letzte Rennen“. Mit „Zu den Sternen. (A cosmic affaire)“ erschien ihr erstes Theaterstück, auf das 2017 die „Post-Sowjetische Dramolett-Trilogie“ folgte. 2018 widmete sie sich mit „Der Dorfgescheite“ wieder dem Romangenre. Rut Bahta Rut Bahta wurde 1980 in Khartum (Sudan) geboren, wohin ihre Eltern aufgrund des Unabhängigkeitskrieges in Eritrea Ende der 1970er Jahre geflohen waren. Seit 1983 lebt sie in Deutschland. Sie studierte an der Goethe-Universität in Frankfurt Humanmedizin und ist als Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie tätig. Darüber hinaus ist sie Gründungs- und Vorstandsmitglied der in Frankfurt ansässigen Diasporaorganisation United4Eritrea e.V. Moderatorin: Karen Fuhrmann Karen Fuhrmann hat Germanistik und Politik studiert und arbeitet als Journalistin, Moderatorin und Autorin beim Hessischen Rundfunk (hr). Sie moderiert u.a. gemeinsam mit anderen Kolleg:innen die mehrfach ausgezeichnete Sendung „Der Tag - Ein Thema. Viele Perspektiven“, die unter dem Titel „Gewalt, Flucht und Gegenwehr — Der Krieg und die Frauen“ auch die spezifische Situation von Frauen während des russischen Krieges gegen die Ukraine untersucht hat. Anmeldung: E-Mail Link: anmeldung@boell-hessen.de In Kooperation mit: Heinrich-Böll-Stiftung Hessen und Evangelische Akademie Frankfurt Gila Baumöhl ist Politologin und seit 2015 in der politischen Interessensvertretung tätig. Sie absolvierte ihr Studium in München, Frankfurt, Darmstadt und Nikosia und hat einen M.A. in Friedens- und Konfliktforschung. Ferner ist Gila Baumöhl Mitglied des World Jewish Congress Jewish Diplomatic Corps, wo sie die Interessensgruppe zum Holocaust-Gedenken leitet. Gila Baumöhl wurde 1988 in Jerusalem geboren und wuchs in München auf. Marjana Gaponenko wurde 1981 in Odessa (Ukraine) geboren und studierte dort Germanistik. Nach Stationen in Krakau und Dublin lebt sie nun in Mainz und Wien. Sie schreibt seit ihrem sechzehnten Lebensjahr auf Deutsch. Im Jahr 2000 debütierte sie mit dem Gedichtband „wie tränenlose ritter. Lyrik aus der Ukraine“. 2010 erschien ihr erster Roman „Annuschka Blume“. Für den Roman „Wer ist Martha?“ (2012) wurde sie mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis sowie dem Literaturpreis Alpha ausgezeichnet. 2016 publizierte sie den Roman „Das letzte Rennen“. Mit „Zu den Sternen. (A cosmic affaire)“ erschien ihr erstes Theaterstück, auf das 2017 die „Post-Sowjetische Dramolett-Trilogie“ folgte. 2018 widmete sie sich mit „Der Dorfgescheite“ wieder dem Romangenre. Rut Bahta wurde 1980 in Khartum (Sudan) geboren, wohin ihre Eltern aufgrund des Unabhängigkeitskrieges in Eritrea Ende der 1970er Jahre geflohen waren. Seit 1983 lebt sie in Deutschland. Sie studierte an der Goethe-Universität in Frankfurt Humanmedizin und ist als Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie tätig. Darüber hinaus ist sie Gründungs- und Vorstandsmitglied der in Frankfurt ansässigen Diasporaorganisation United4Eritrea e.V. Karen Fuhrmann hat Germanistik und Politik studiert und arbeitet als Journalistin, Moderatorin und Autorin beim Hessischen Rundfunk (hr). Sie moderiert u.a. gemeinsam mit anderen Kolleg:innen die mehrfach ausgezeichnete Sendung „Der Tag - Ein Thema. Viele Perspektiven“, die unter dem Titel „Gewalt, Flucht und Gegenwehr — Der Krieg und die Frauen“ auch die spezifische Situation von Frauen während des russischen Krieges gegen die Ukraine untersucht hat.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-09-28T00:00:00
2022-07-04T00:00:00
2022-09-28T00:00:00
https://www.bpb.de/pift2022/rahmenprogramm/510219/der-grosse-krieg-und-die-frauen/
Anhand von Briefen, Tagebucheinträgen, Prosatexten, Gedichten und Video-Interviews zeigen Barbara Englert und Pola Sell eindrücklich, wie Frauen die Kriegsjahre 1914 – 1918 erlebten.
[ "Macht der Erinnerung", "macht nachdenklich" ]
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Praxis: Experimente für die Zukunft | Lokaljournalismus | bpb.de
Interaktive Karten, Audioslideshows, Webdokumentationen und Augmented Reality – die neuen Darstellungsformen, die das Internet bietet, klingen in der Theorie spannend. Die Umsetzungen der überregionalen und internationalen Medien bieten Einblicke in eine neue Welt der Berichterstattung. Doch oft folgt auf den Ausflug in die (mögliche) Zukunft die Schlussfolgerung: "Spannende Sache, aber bei uns im Lokalen utopisch." Ist das tatsächlich so? Dass das nicht stimmen muss, zeigt zum Beispiel der Südkurier. Auf der Externer Link: Internetseite der Zeitung aus Konstanz können sich Nutzer unter anderem auf einer interaktiven Karte anschauen, Externer Link: welche Autos die örtlichen Bürgermeister fahren oder welche Externer Link: Rüstungsgüter in der Bodenseeregion produziert werden. Eine Externer Link: Vorher-Nachher-Bilderstrecke mit sich überlappenden Fotos visualisiert, wie sich prägnante Orte im Verbreitungsgebiet verändert haben. "Diese Formate baut uns ein Mediengestalter, den wir extra dafür vor einigen Monaten eingestellt haben", sagt Martin Jungfer, Leiter Neue Medien beim Südkurier. Dadurch würden der Redaktion völlig neue Möglichkeiten eröffnet, die Stärken des Internets gezielt für die Berichterstattung zu nutzen. Dabei müsse aber nicht jeder Journalist alles können. "Wir verstehen die Redaktion als Content produzierende Einheit", erläutert Jungfer. "Für die verschiedenen Bereiche wie Foto, Video oder neue Formate im Internet gibt es dann jeweils einen Spezialisten." Insgesamt sechs Leute – sogenannte Newsmanager – bereiten die Inhalte crossmedial auf, eine abgegrenzte Online-Redaktion gibt es nicht. So müssten die Redakteure nicht alle Bereiche beherrschen. Wichtig sei aber dennoch, dass sie die Möglichkeiten kennen und für die Berichterstattung im Alltag mitdenken können, so Jungfer. Wie die Organisation der Redaktion und die Arbeitsabläufe aussehen, erläutert Jungfer am Beispiel einer Morgenkonferenz. Um halb elf treffen sich die Ressortleiter und ein Newsmanager zur Konferenz und erstellen eine Tagesvorschau. Dort wird dann etwa beschlossen, dass die Wirtschaftsredaktion um elf Uhr eine Meldung zum neuen Golf bringen soll. "Ziel ist, dass permanent neue Meldungen und Berichte auf unserer Seite erscheinen", sagt Jungfer. Einmal die Woche gibt es eine Themenkonferenz für die kommenden Tage, auf der auch aufwendigere Produktionen besprochen werden, zum Beispiel große Infografiken für die Zeitung. "Auch hier sind ein Newsmanager und der Mediengestalter anwesend, deren Aufgabe ist einzuschätzen, welche Themen sich für eine crossmediale Umsetzung eignen", sagt Jungfer. Der Mediengestalter bekommt anschließend den Auftrag, die Ideen umzusetzen. Jeden Monat ein neues Format Wie schnell Ideen realisiert werden können, hängt vom Einzelfall ab. Für die überlappenden Bilder hat der Mediengestalter einmalig ein Tool programmiert, das nun beliebig. für diese Form eingesetzt werden kann. So können Fotos schnell eingespielt und veröffentlicht werden. Anders sieht es bei den interaktiven Karten aus. "Da arbeiten wir teilweise mit einem externen Dienstleister zusammen", berichtet Jungfer. "Der Mediengestalter führt die Gespräche und spricht genau ab, was wir wie haben wollen." Da sei dann mit einer Vorlaufzeit von zwei bis drei Tagen zu rechnen. Eine weitere Aufgabe des Mediengestalters sei es, die Optik der Startseite im Fall von Eilmeldungen schnell umzubauen. "Unser wichtigstes Ziel ist aber, jeden Monat mindestens eine neue Darstellungsform zu testen", sagt Jungfer. Der Erfolg wird dann neben den Klickzahlen auch anhand von Facebook- Likes und -Shares sowie der Kommentare im Netz gemessen. "Da kommen teils gute Anregungen rein, was man ändern oder auch ausprobieren könnte." Der Südkurier ist aber nicht das einzige Blatt, das mit den Möglichkeiten der Neuen Medien experimentiert. Auch die RheinZeitung aus Koblenz bereitet lokale Inhalte kreativ im Internet auf. Jüngstes Beispiel: eine Externer Link: Web-Collage des Events "Rhein in Flammen". Dabei sind in einem Video die Fotos, Twitter- und Facebook-Posts sowie Videoausschnitte von Lesern zusammengeschnitten. Sie zeigen das Ereignis so aus der Wahrnehmung der Koblenzer Internet-User. Realisiert wurde die Collage mit dem Tool "Farfromhomepage", das der Social-Media-Redakteur der RheinZeitung, Lars Wienand, entdeckt und ausprobiert hat. Seine Hauptaufgabe ist eigentlich, die verschiedenen Social-Media-Kanäle als Quelle und Verbreitungsweg zu nutzen, Input für die Printausgabe zu liefern und die in den Netzwerken auftauchenden Fragen zu beantworten. Aber er hat auch die Möglichkeit, mit neuen Formaten zu experimentieren. "Ich habe den Freiraum, meine Prioritäten selbst zu setzen", sagt er. Neue Formate sucht dabei nicht er, sondern "sie finden mich. In erster Linie in Tweets", sagt er. "Privat folge ich auf Twitter vor allem journalistisch geprägten Accounts, gerne aus der Bloggerszene und auch aus den USA. So bin ich früh auf Storify gestoßen und auf farfromhomepage gekommen." Probiert er ein neues Format aus, dokumentiert er seine Erfahrungen in einem Wiki. So wird das Wissen gesammelt und auch anderen Redakteuren zugänglich gemacht. Und wie sehen die Leser der Rhein-Zeitung das Engagement? "Bei Premieren wie farfromhomepage gibt es mehr Reaktionen aus der Branche als von Lesern", sagt Wienand. "Negative Reaktionen gab es noch nie, positive immer mal wieder. Ansonsten nehmen es Leser als relativ selbstverständlich hin, so mein Eindruck." Die Stelle eines Social-Media-Redakteurs wird bei Lokalzeitungen immer populärer. Beim Nordbayerischen Kurier ist Katharina Ritzer seit Januar für die sozialen Netzwerke zuständig, sie fungiert gleichzeitig als Schnittstelle zwischen Print- und Onlineredaktion. Und auch in Bayreuth wird seither mit neuen Formaten experimentiert – wenn auch in kleinerem Stil. Seit Juli bietet das Blatt im Internet Externer Link: Audioslideshows an. "Anfang des Jahres hat ein Trainer das Format in der Redaktion vorgestellt und zwei fotobegeisterte Kollegen haben sich gleich bereit erklärt, damit zu experimentieren", sagt Ritzer, deren Aufgabe es unter anderem ist, Printredakteuren die Bedeutung der Neuen Medien näherzubringen und Begeisterung dafür zu wecken. "Da gilt es zunächst, Vorurteile abzubauen", sagt Ritzer. Eine oft geäußerte Befürchtung sei, dass sich die Zeitung durch ihre Präsenz im Internet selbst "kannibalisiere". "Darauf antworte ich, dass unser erstes Produkt die Aufbereitung und Verbreitung von Informationen ist – der Kanal ist dabei nachrangig", erläutert Ritzer. Eine weitere Befürchtung beziehe sich auf die Nutzung von Facebook oder Twitter. "Viele sehen insbesondere Facebook als Konkurrenz und kritisieren, dass es sich um einen kommerziellen Anbieter handelt, dem wir unsere Nachrichten zur Verfügung stellen, indem wir sie dort posten", sagt die Redakteurin. Dem erwidere sie, dass Facebook vielmehr eine neue Fläche liefere, die eigenen Nachrichten zu verbreiten und so Leute zu erreichen, die sich sonst wenig für die Lokalzeitung interessieren. "Wir können dort demonstrieren, dass wir innovationsfreudig und -fähig sind und insbesondere junge Leser ansprechen", sagt sie. "Es handelt sich dabei um Imagewerbung und darum, die Zeitung als Marke im Netz zu positionieren." Um die Bedeutung von Facebook ständig präsent zu halten, wird auf einem der zwei Bildschirme im Newsroom die Facebook- Seite der Zeitung angezeigt. Die Erkenntnis, dass neue Formate im Internet bedeutend für die Berichterstattung der Zukunft sind, ist bei Lokalzeitungen angekommen. Die Herausforderung liegt nun darin, einerseits die Redaktion so zu organisieren, dass Freiräume und Möglichkeiten für Experimente mit neuen Tools beziehungsweise deren Entwicklung entstehen, und andererseits die Redakteure mitzunehmen und das crossmediale Denken zu fördern. Keine leichte Aufgabe – aber zu stemmen, wie die Beispiele im Text zeigen. Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Externer Link: drehscheibe 11/2012
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Katrin Matthes
2021-06-23T00:00:00
2012-12-14T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/lokaljournalismus/151687/praxis-experimente-fuer-die-zukunft/
Die neuen Medien bieten die Chance, Geschichten interaktiv aufzubereiten. Wie Lokalzeitungen diese Möglichkeiten innovativ nutzen.
[ "Lokaljournalismus", "Journalismus", "Neue Medien", "interaktive Karte", "Augmented Reality", "Lokalredaktion", "Mediengestaltung", "Social Media", "Berichterstattung" ]
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Spread the Vote! | Presse | bpb.de
90 junge Menschen aus Deutschland, Frankreich und Polen werden vom 24. bis zum 27. April in Straßburg zu echten „Europa-Influencern“: Sie entwerfen Kampagnen, mit denen sie Gleichaltrige in den sozialen Netzwerken, in den Medien oder auf der Straße dazu motivieren wollen, bei der Europawahl ihre Stimme abzugeben. In dreitägigen Workshops lernen sie von Experten aus Medien, Kommunikation oder Vereinen, ihre Botschaft kreativ und effizient zu verpacken, damit sie bei denen ankommt, auf die es ankommt: junge Europäer, die bei dieser Wahl nicht nur die Zukunft der Europäischen Union mitbestimmen können – sondern vor allem ihre eigene. Am Freitag, 26. April, findet eine Fishbowl-Debatte zur Frage „Warum zählt unsere Stimme für Europa?“ statt. Dabei diskutieren die Teilnehmenden mit: Juliane Seifert, Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Gabriel Attal, Staatssekretär beim Minister für Bildung und Jugend Kurze Schlussworte sprechen anschließend Tobias Bütow, Generalsekretär des Deutsch-Französischen Jugendwerks Stephan Erb, Geschäftsführer des Deutsch-Polnischen Jugendwerks Christoph Müller-Hofstede, Projektleiter bei der Bundeszentrale für politische Bildung Wenn Sie „Spread the vote“ vor Ort besuchen oder direkt mit den Teilnehmenden sprechen möchten, kontaktieren Sie gern das Deutsch-Französische Jugendwerk: haag@dfjw.org, Tel: 030 288 757 32. Weitere Informationen und das detaillierte Programm finden Sie unter: www.bpb.de/286641 Die deutsch-französisch-polnische Jugendbegegnung „Spread the vote! Young European Elections 2019“ wird vom Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW) in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk (DPJW) organisiert. Gefördert wird es vom französischen Bildungsministerium. Der Verein Vote&Vous ist für die Durchführung verantwortlich. Pressemitteilung als Interner Link: PDF Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-08-19T00:00:00
2019-04-16T00:00:00
2021-08-19T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/289662/spread-the-vote/
90 junge Menschen aus Deutschland, Frankreich und Polen werden vom 24. bis zum 27. April in Straßburg zu echten „Europa-Influencern“: Sie entwerfen Kampagnen, mit denen sie Gleichaltrige in den sozialen Netzwerken, in den Medien oder auf der Straße d
[ "Spread the Vote", "Frankreich", "Strassburg" ]
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Irreguläre Migration | Kroatien | bpb.de
Kroatien als Transitland Das Phänomen der irregulären Migration ist eng mit der geopolitischen Lage Kroatiens verbunden. Kroatien liegt im nördlichen Teil der sogenannten Balkanroute. Der rege Verkehr auf dieser Route führte 2011 dazu, dass die kroatisch-slowenische Grenze von über 47 Millionen Personen und 21 Millionen Fahrzeugen überquert wurde und damit klar die am häufigsten passierte EU-Außengrenze war. Politisch gilt es zu beachten, dass Kroatien an die EU- und Schengen-Staaten Slowenien und Ungarn sowie an Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Serbien grenzt. Für das Phänomen der irregulären Migration zusätzlich zu bedenken ist, dass Rumänien und Bulgarien zwar EU-Staaten sind, nicht aber zum Schengen-Raum gehören, so dass der EU- und Schengen-Staat Griechenland in puncto Schengengrenzen isoliert ist. Irreguläre Migrantinnen und Migranten, die den Schengen-Staat Griechenland mit Ziel eines anderen Schengenlandes verlassen, werden mit einer hohen Wahrscheinlichkeit die serbisch-ungarische, kroatisch-ungarische oder kroatisch-slowenische Grenze zu passieren versuchen. Daraus ergibt sich die große Bedeutung Kroatiens als Transitland für undokumentierte Migranten. Bedenkt man die hohe Zahl von über 47 Millionen Grenzübertritten an der slowenisch-kroatischen Grenze und die Tatsache, dass slowenische und kroatische Behörden pro Tag über 4.000 Fahrzeuge überprüfen, so mögen die 202 Personen, die im Jahr 2011 an dieser Grenze in Fahrzeugen versteckt gefunden wurden, im Einzelfall tragisch sein, insgesamt sind sie aber zu vernachlässigen. Auch die im Jahr 2011 gefassten 3.461 Migranten ohne gültiges Visum stellen keine besondere Bedrohung oder Belastung für Kroatien dar. Kroatien als Teil des EU-Grenzregimes Rechtlich ist der Tatbestand der irregulären Migration im Ausländergesetz, im Strafgesetzbuch, im Gesetz über die Überwachung der Grenzen und in weiteren Statuten geregelt. Mit 26 Staaten (davon 17 EU-Mitgliedstaaten) hat Kroatien insgesamt 24 Rückführungsabkommen unterzeichnet. Auch hier sorgt die anstehende EU-Mitgliedschaft dafür, dass die Grenz- und Migrationskontrollen den EU-Standards entsprechend umstrukturiert werden. Diese Umstrukturierung fällt in den Aufgabenbereich des Innenministeriums. Verschiedene Schulungen für Sicherheitsbehörden, Aufklärungskampagnen der Öffentlichkeit und die finanzielle Unterstützung entsprechender NGOs sind fester Bestandteil der Politik geworden und werden von EU-Institutionen regelmäßig kontrolliert. International Organization for Migration (IOM) (2007), S. 33; Frontex (2011, 2012). Frontex (2012), S. 14. Europäische Kommission (2012), S. 14. Mit den Benelux-Staaten wurde ein gemeinsames Abkommen unterzeichnet. United States Department of State (2012); Europäische Kommission (2012).
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-10T00:00:00
2013-05-17T00:00:00
2022-01-10T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/160546/irregulaere-migration/
Das Phänomen der irregulären Migration ist eng mit der geopolitischen Lage Kroatiens verbunden. Kroatien liegt im nördlichen Teil der sogenannten Balkanroute. Der rege Verkehr auf dieser Route führte 2011 dazu, dass die kroatisch-slowenische Grenze v
[ "Kroatien", "Migration", "EU", "Grenze", "Schengen", "Transitland", "Migrant", "Kroatien" ]
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Sieger des Preises "Schulbuch des Jahres 2016" stehen fest | Presse | bpb.de
Heute (18.3.2016) fand auf der Leipziger Buchmesse die Bekanntgabe der Preisträger des „Schulbuch des Jahres 2016“ statt. In diesem Jahr zeichnet die Experten-Jury aus Wissenschaft, Schulpraxis und Verlagen Schulbücher für die Sekundarstufe II aus: „philo“ ist das Schulbuch des Jahres 2016 in der Kategorie „Geschichte und Gesellschaft“. Der Preis im Bereich „Sprachen“ geht an „Green Line“. In der Kategorie „MINT“ gab es in diesem Jahr keinen Sieger, dafür entschied sich die Jury aber für einen Sonderpreis für digitale Bildungsmedien, der an das „mbook“ ging. Das Georg-Eckert-Institut Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung verleiht bereits zum fünften Mal den Preis für die besten Schulbücher in den Kategorien Sprache, Geschichte/Gesellschaft und MINT. Neuer Partner ist die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. „Die bpb will mit der Kooperation im Rahmen des Schulbuchpreises deutlich machen, wie wichtig gute Schulbücher und guter Unterricht sind, um junge Menschen zu kritischem Denken, einer sachlich fundierten Meinungsbildung sowie zu politischem und gesellschaftlichem Engagement zu befähigen,“ erklärt Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale politische Bildung. „Wir haben in diesem Jahr herausragende Schulbücher in den Kategorien Geschichte / Gesellschaft und Sprachen. Alle ausgezeichneten Preisträger zeigen aufgrund ihrer innovativen Konzepte beispielgebend, welchen großen Nutzen Bildungsmedien für das Lehren und Lernen in allen Lebensbereichen bieten können. Allerdings konnte die Jury in diesem Jahr keinen Preis in der Kategorie MINT vergeben, da die wenigen eingereichten Lehrwerke aus ihrer Sicht zu wenig neue Ansätze aufwiesen“, betont Eckhard Fuchs, Direktor des Instituts und Leiter der Fachjury bei der Preisverleihung. Schirmherrin des Preises „Schulbuch des Jahres“ ist die Kultusministerkonferenz. "Die nominierten Titel führen eindrucksvoll vor, wie anspruchsvolle Lehrbücher für den Fremdsprachenunterricht und das geisteswissenschaftliche Themenfeld in der Sekundarstufe II konzipiert und gestaltet sein können. Allerdings liegt die besondere Stärke der ausgezeichneten Bücher darin, dass sie mehr können, nämlich zum kreativen, problemorientierten und fächerübergreifenden Denken anregen," ergänzt Brunhild Kurth, Vizepräsidentin der Kultusministerkonferenz und Staatsministerin für Kultus des Freistaates Sachsen. Impulse zum selbstständigen Denken, die ausdifferenzierte Förderung von Kompetenzen und vielfältiges, anregendes Material– all das bieten die Sieger. Zu den Auswahlkriterien zählten das didaktische Konzept, der fachwissenschaftliche Bezug, Schülerorientierung, Aufgabenkultur, Verständlichkeit und Gestaltung. Bildmaterial auf Anfrage. Weitere Informationen: Externer Link: www.schulbuch-des-jahres.de Sieger in der Kategorie Sprachen: Green Line Oberstufe Grund- und Leistungskurs Nordrhein-Westfalen, Klett Verlag, 2015 AutorInnen: Ellen Butzko, Louise Carleton-Gertsch, Paul Dennis, Krista Eichler, Cornelia Kaminski, Nilgül Karabulut, Hartmut Klose, Silke Krieger, Gerda Piotrowiak, Michael Rogge, Thomas Tepe Green Line beeindruckt mit der Fülle an Materialien und dem breiten Spektrum an Textsorten zu hochaktuellen Themen wie globalisation, migration and diversity sowie science and utopia. Mit einer ausdifferenzierten Kompetenzschulung leistet Green Line Hilfestellung für alle Lernenden und spornt mit spannenden Themen und Aufgaben zu Höchstleistungen an. Sieger in der Kategorie Geschichte & Gesellschaft philo Einführungsphase Nordrhein-Westfalen, C.C. Buchner 2014 Herausgeber: Bernd Rolf, Jörg Peters AutorInnen: Klaus Draken, Matthias Gillessen, Martina Peters philo entfaltet die klassischen Fragen der Philosophie anhand aktueller Kontroversen, beispielsweise um den NSA-Abhörskandal oder Steuerhinterziehung. Mit anregenden Arrangements klassischer und moderner Texte sowie visuellen Impulsen gelingt philo ein schülernaher Ansatz und präsentiert Philosophie als modernes Denkfach. Sonderpreis für digitale Bildungsmedien mBook Das lange 19. Jahrhundert HerausgeberInnen: Waltraud Schreiber, Florian Sochatzy, Marcus Ventzke Autoren: Marcus Raasch, Lukas Kneser, Stefan Sipl, Carlo Lejeune Das mBook öffnet den Geschichtsunterricht hin zur digitalen Welt und findet neue Ansätze für das historische Lernen: In kurzen Videos erklären die Autoren ihren Zugang und machen auf diese Weise die Perspektivität von Geschichte für Schülerinnen und Schüler verständlich. Die Materialauswahl bezieht auch Beiträge im Netz ein und schließt so an aktuelle Debatten an. Pressemitteilung als Interner Link: PDF. Pressekontakt: Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2016-03-17T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/223256/sieger-des-preises-schulbuch-des-jahres-2016-stehen-fest/
Heute (18.3.2016) fand auf der Leipziger Buchmesse die Bekanntgabe der Preisträger des „Schulbuch des Jahres 2016“ statt. In diesem Jahr zeichnet die Experten-Jury aus Wissenschaft, Schulpraxis und Verlagen Schulbücher für die Sekundarstufe II aus: „
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Politikaward 2016 für YouTube-Aktivitäten der bpb | Presse | bpb.de
Die von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb geförderten YouTube-Formate "BrainFed" und "TenseInforms" sind am Donnerstagabend (24.11.2016) in Berlin mit dem Politikaward 2016 ausgezeichnet worden. Die von MESH Collective prod uzierten Formate erhielten den Preis in der Kategorie "Medienformat". Mit dem Newsformat "BrainFed" unterhält und informiert der YouTuber darkviktory (Marik Roeder) seit 2014 seine rund 600.000 Abonnenten. Alle 14 Tage veröffentlicht er ein selbst gezeichnetes und animiertes Video auf seinem YouTube-Kanal. Darin setzt er sich mit verschiedenen politisch und gesellschaftlich relevanten Themen auseinander. Bereits im Juni war das Format mit dem Publikumspreis des Grimme-Online-Awards ausgezeichnet worden. (Externer Link: www.bpb.de/230213) Der YouTuber „Tense“ (Nicolas Lindken) veröffentlicht ebenfalls seit 2014 auf seinem Kanal "TenseMakesSense" das Format "TenseInforms". Mit seinen rund 70.000 Abonnenten spricht er jeden zweiten Freitag über das Neueste aus Deutschland und der Welt – unter anderem in einer Rubrik für besonders gute, sowie in Vergessenheit geratene Nachrichten. Im Januar 2016 wurde Tense für seine Arbeit mit dem Sonderpreis des Journalistenpreises "Rechtsextremismus im Spiegel der Medien" ausgezeichnet. (Externer Link: www.bpb.de/219276) Der Politikaward wird seit 2003 jährlich vom Magazin politik&kommunikation vergeben und ehrt Leistungen und Arbeiten aus dem Bereich der politischen Kommunikation. Sowohl Politiker als auch Profis der Kommunikationsbranche werden für ihre Leistungen in Wahlkämpfen und für politische Kampagnen ausgezeichnet. Die BrainFed-Playlist von darkviktory findet man unter: Externer Link: https://www.youtube.com/playlist?list=PLWHmptl7dh-U1-mQNP07yCBfQ4GUQHYui Die Videos der Reihe "TenseInforms" von Tense findet man unter: Externer Link: https://www.youtube.com/playlist?list=PLX2AgunbCDfcOiQNkQ5TnzGj1poJiWkSy Presseeinladung als Interner Link: PDF. Pressekontakt: Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2016-11-25T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/238047/politikaward-2016-fuer-youtube-aktivitaeten-der-bpb/
Die von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb geförderten YouTube-Formate "BrainFed" und "TenseInforms" sind am Donnerstagabend (24.11.2016) in Berlin mit dem Politikaward 2016 ausgezeichnet worden. Die von MESH Collective prod uzierten Forma
[ "PM Politikaward Youtuber" ]
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Die Organisation der CSU | Parteien in Deutschland | bpb.de
Vier Machtzentren Die symbiotische Verbundenheit der CSU mit Bayern fußt organisatorisch auf ihrer Doppelrolle als Landes- und Bundespartei. Einerseits bildet sie mit der CDU im Bundestag eine gemeinsame Fraktion, was möglich ist, weil beide Parteien bei Wahlen nicht gegeneinander antreten. Andererseits unterhält sie jenseits der Fraktionsgemeinschaft eine von der CDU getrennte Parteiorganisation und pocht auch innerhalb der gemeinsamen Fraktion auf ihre formale Eigenständigkeit. Ihre privilegierte Stellung lässt sich daran ablesen, dass der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe qua Amt stellvertretender Vorsitzender der Gesamtfraktion ist und auch die übrigen Ämter nach einem vorgegebenen Schlüssel zwischen beiden Parteien aufgeteilt werden. Des Weiteren bedürfen alle Anträge und Beschlüsse der Fraktion der Gegenzeichnung durch den Landesgruppenchef, was auf ein faktisches Vetorecht des bayerischen Unionsteils hinausläuft. Dies gibt der CSU die Möglichkeit, ihre Interessen gegebenenfalls auch gegen eine Mehrheit der größeren Schwesterpartei durchzusetzen (Buchstab 2009). Die Gleichzeitigkeit von Landes- und Bundespartei bedingt eine komplizierte Machtarchitektur, die sich um vier Zentren gruppiert: die Landesleitung mit dem Parteivorsitzenden, die bayerische Staatsregierung mit dem Ministerpräsidenten, die Landesgruppe - in Regierungszeiten zusammen mit den CSU-Bundesministern - und die CSU-Landtagsfraktion. Zu diesen gesellt sich als "Nebenzentrum" die CSU-Gruppe im Europäischen Parlament (Sebaldt 2018: 273 f.). Blieb der Einfluss der Staatsregierung und CSU-Landtagsfraktion auf die Landesgruppe bis zur Übernahme des Ministerpräsidentenamtes durch Franz Josef Strauß eher gering, so haben sich die Gewichte seither nach München verlagert. Dies geht soweit, dass die bayerischen Ministerien und die Staatskanzlei sogar an der Ausarbeitung von Gesetzentwürfen der CSU-Bundesminister beteiligt sind. Am stärksten ist die Dominanz der Staatsregierung, wenn der Ministerpräsident zugleich Parteivorsitzender ist. Die Konkurrenz der Machtzentren wird durch die hegemoniale Stellung der CSU in Bayern befördert, die sie zwingt, den Widerspruchsgeist einer Oppositionspartei bis zu einem gewissen Grade mit zu übernehmen. Symptomatisch dafür ist ihre Neigung, Volksbegehren, deren Inhalte sich gegen die eigene Politik richten, ganz oder teilweise zu übernehmen. Sieht man von den Auseinandersetzungen um den Kreuther Trennungsbeschluss 1976 und die Flüchtlingspolitik 2018 ab, die vor allem das Verhältnis zur CDU betrafen, konnte die CSU ihre Geschlossenheit über alle Konflikte hinweg bisher bewahren. Dazu trägt eine disziplinierende Organisationskultur bei, die das innerparteiliche Wetteifern dem Gesamterfolg unterordnet und abweichendes egoistisches Verhalten entsprechend hart sanktioniert (Kießling 2004: 346 ff.). Starke organisatorische Verbindungen in den vorpolitischen Raum Der früh eingeleitete Ausbau des Parteiapparates und einer flächendeckenden Mitgliederorganisation sowie ihre eng geknüpften Netzwerke im "vorpolitischen" Raum tragen zur starken strukturellen Verankerung der CSU in Bayern bei. Neben die territoriale Gliederung in Bezirks-, Kreis- und Ortsverbände tritt dabei die sektorale Gliederung in Arbeitsgemeinschaften und Arbeitskreise, die auch Nicht-Mitgliedern offen stehen. Dem Vorstand der Partei gehören 42 gewählte sowie bis zu zehn weitere Mitglieder kraft Amtes, dem häufiger tagenden Präsidium - als engstem Führungszirkel - 19 Mitglieder an. In der Geschäftsstelle der Landesleitung arbeiten rund 70 Personen. Höchstes Organ ist der aus Delegierten der zehn Bezirks- und 105 Kreisverbände bestehende Parteitag, der einmal im Jahr zusammentritt. Bezogen auf die Zahl ihrer Wähler ist die CSU nicht nur die mitgliederstärkste Partei Bayerns, sondern der ganzen Bundesrepublik. Die Mitgliederentwicklung ist allerdings - wenn auch etwas weniger stark als bei der CDU - seit dem Höchststand 1990 (186.000) rückläufig. Ohne Probe- und Onlinemitgliedschaften lag ihre Zahl 2021 nur noch bei gut 130.000, wobei die Austritte mit 5.900 im Jahre 2021 einen Höhepunkt erreichten. Der Rückgang geht mit einer zunehmenden Überalterung der Mitglieder einher (Durchschnittsalter 2021: 60 Jahre). Ein offenkundiges Rekrutierungsproblem hat die CSU bei den Frauen, deren Anteil unter den Mitgliedern in den letzten Jahren nur marginal (auf 21,6 Prozent) gesteigert werden konnte, was dem Anteil der Frauen unter den Landtags- und Bundestagsabgeordneten ziemlich genau entspricht. Dort bildet die CSU neben der AfD unter allen Parteien das Schlusslicht. Für die Besetzung der Vorstände auf Landes- und Bezirksebene gilt seit 2010 eine Frauenquote von 40 Prozent. Der Versuch der Parteiführung, sie auch auf die Kreise auszudehnen, scheiterte auf dem Parteitag 2019 am Einspruch der Basis. Maßnahmen zum Erhalt der Verwurzelung in der Bevölkerung Mit der abnehmenden Mitgliederdichte verlieren auch die Verbindungen in den vorpolitischen Raum an Durchschlagskraft, wenngleich die CSU im Rahmen der Staatsregierung weiter enge Beziehungen zu den Interessenverbänden unterhält (Weigl 2013: 481 ff.). Dem drohenden Verlust ihrer bis dahin unangefochtenen Stellung hat sie sich nach dem Wahlschock von 2008 durch eine organisatorische Neuaufstellung entgegenzustellen versucht. Durch "grünere" Themen, professionellere Internetkommunikation und die Abrufung externer Expertise sollen mehr jüngere Wähler und Mitglieder erreicht, die weibliche Präsenz in der Partei erhöht und die Inhalte und Darstellungsformen in das digitale Zeitalter überführt werden. Gleichzeitig will die CSU die Bürger durch Online-Dialoge und Zukunftsforen, Mitgliederbefragungen in Personal- und Sachfragen sowie mehr direktdemokratische Beteiligungsformen auf Landes- wie Bundesebene besser in die politischen Diskurse und Entscheidungsprozesse einbinden. Symbolhaft markiert wurde die Modernisierung durch den Umzug der Landesleitung in ein neues Gebäude im Münchener Norden (inmitten eines Hightech-Viertels) und die Einstellung der legendären Parteizeitung "Bayernkurier". Quellen / Literatur Buchstab, Günter (2009), Ein parlamentarisches Unikum: die CDU/CSU-Fraktionsgemeinschaft, in: Hans-Peter Schwarz (Hg.), Die Fraktion als Machtfaktor, Bonn, S. 255-274. Deininger, Roman (2020), Die CSU. Bildnis einer speziellen Partei, München. Deininger, Roman / Uwe Ritzer (2020), Markus Söder. Der Schattenkanzler, München. Handwerker, Christoph (2019), Die gespaltene Union zwischen Macht und Werten. Die Flüchtlingskrise als Zerreißprobe für CDU und CSU?, in: Oliver Hidalgo / Gert Pickel (Hg.), Flucht und Migration in Europa, Wiesbaden, S. 127-159. Hirscher, Gerhard (2012), Die Wahlergebnisse der CSU. Analysen und Interpretationen, München. Hopp, Gerhard (2012), Die Volkspartei CSU in Bayern. Rahmenbedingungen, Strukturmerkmale und aktuelle Zukunftsperspektiven eines Erfolgsmodells auf dem Prüfstand, in: Ralf Thomas Baus (Hg.), Parteiensystem im Wandel, Sankt Augustin/Berlin, S. 73-98. Jäger, Wolfgang (2009), Helmut Kohl setzt sich durch, 1976-1982, in: Hans-Peter Schwarz (Hg.), Die Fraktion als Machtfaktor, Bonn, S. 141-159. Kießling, Andreas (2004), Die CSU. Macherhalt und Machterneuerung, Wiesbaden. Mintzel, Alf (1975), Die CSU. Anatomie einer konservativen Partei 1945-1972, Opladen. Oberreuter, Heinrich (2008), Stoibers Sturz. Ein Beispiel für die Selbstgefährdung politischer Macht, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 39 (1), S. 112-118. Schäfer, Susanne (2010), Konstanz und Wandel: Die CSU-Programme im dokumentarischen Vergleich, in: Gerhard Hopp/Martin Sebaldt/Benjamin Zeitler (Hg.), Die CSU, Wiesbaden, S. 173-193. Sebaldt, Martin (2018), Christlich-Soziale Union in Bayern e.V. (CSU), in: Frank Decker/Viola Neu (Hg.), Handbuch der deutschen Parteien, 3. Aufl., Wiesbaden, S. 264-276. Strauß, Franz Josef (1989), Die Erinnerungen, Berlin. Weigl, Michael (2013), Die Christlich-Soziale Union in Bayern e.V. (CSU), in: Oskar Niedermayer (Hg.), Handbuch Parteienforschung, Wiesbaden, S. 469-495. Buchstab, Günter (2009), Ein parlamentarisches Unikum: die CDU/CSU-Fraktionsgemeinschaft, in: Hans-Peter Schwarz (Hg.), Die Fraktion als Machtfaktor, Bonn, S. 255-274. Deininger, Roman (2020), Die CSU. Bildnis einer speziellen Partei, München. Deininger, Roman / Uwe Ritzer (2020), Markus Söder. Der Schattenkanzler, München. Handwerker, Christoph (2019), Die gespaltene Union zwischen Macht und Werten. Die Flüchtlingskrise als Zerreißprobe für CDU und CSU?, in: Oliver Hidalgo / Gert Pickel (Hg.), Flucht und Migration in Europa, Wiesbaden, S. 127-159. Hirscher, Gerhard (2012), Die Wahlergebnisse der CSU. Analysen und Interpretationen, München. Hopp, Gerhard (2012), Die Volkspartei CSU in Bayern. Rahmenbedingungen, Strukturmerkmale und aktuelle Zukunftsperspektiven eines Erfolgsmodells auf dem Prüfstand, in: Ralf Thomas Baus (Hg.), Parteiensystem im Wandel, Sankt Augustin/Berlin, S. 73-98. Jäger, Wolfgang (2009), Helmut Kohl setzt sich durch, 1976-1982, in: Hans-Peter Schwarz (Hg.), Die Fraktion als Machtfaktor, Bonn, S. 141-159. Kießling, Andreas (2004), Die CSU. Macherhalt und Machterneuerung, Wiesbaden. Mintzel, Alf (1975), Die CSU. Anatomie einer konservativen Partei 1945-1972, Opladen. Oberreuter, Heinrich (2008), Stoibers Sturz. Ein Beispiel für die Selbstgefährdung politischer Macht, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 39 (1), S. 112-118. Schäfer, Susanne (2010), Konstanz und Wandel: Die CSU-Programme im dokumentarischen Vergleich, in: Gerhard Hopp/Martin Sebaldt/Benjamin Zeitler (Hg.), Die CSU, Wiesbaden, S. 173-193. Sebaldt, Martin (2018), Christlich-Soziale Union in Bayern e.V. (CSU), in: Frank Decker/Viola Neu (Hg.), Handbuch der deutschen Parteien, 3. Aufl., Wiesbaden, S. 264-276. Strauß, Franz Josef (1989), Die Erinnerungen, Berlin. Weigl, Michael (2013), Die Christlich-Soziale Union in Bayern e.V. (CSU), in: Oskar Niedermayer (Hg.), Handbuch Parteienforschung, Wiesbaden, S. 469-495.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-12-09T00:00:00
2011-11-17T00:00:00
2022-12-09T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/csu/42177/die-organisation-der-csu/
Die Macht in der CSU ist auf vier Zentren aufgeteilt: auf die Landesleitung mit dem Parteivorsitzenden, die bayerische Staatsregierung, die Landesgruppe im Bundestag und die Landtagsfraktion.
[ "Christlich-Soziale Union in Bayern e.V.", "CSU", "Organisation", "Bayerische Staatsregierung", "CSU-Landesgruppe" ]
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Bundestagswahlkampf 2005 in den Hauptnachrichtensendungen | Medienfreiheit | bpb.de
Einleitung Der politische Journalismus in Deutschland steckt in der Krise. Die Riege der politischen Kommentatoren verdammt sich in einem bislang unbekannten Maß. Selten zuvor gab es derart zornige Tiraden der Selbstbezichtigung, fast unisono heißt es, "der politische Journalismus funktioniere nicht mehr". Wie konnte das passieren? Die liberalere Publizistik fragt, warum sie mit ihren Einschätzungen vor der Bundestatagswahl 2005 so danebenliegen konnte. Die konservative Publizistik grübelt, weshalb sich das Wahlvolk der im Vorfeld eindeutig konsonanten Meinungsbildung verweigert hat, auch wenn über Jahre beobachtet werden kann, dass der Wähler zu einem unsicheren Kantonisten geworden ist. Über Monate hatte sich abgezeichnet, dass es in Deutschland zu einer Ablösung der rot-grünen Regierung kommen würde. Der Medientenor war einhellig: Die Oppositionsparteien CDU/CSU und FDP werden die Wahl gewinnen, gemeinsam die neue Regierung stellen. Die einzig offene Frage schien zu sein, in welcher Höhe der Wahlsieg ausfällt. Die politische Publizistik und die Wahlforschung waren in dieser Frage d'accord. Warum gingen die politischen Journalisten mit ihren Einschätzungen derart fehl, dass sie konzedieren mussten, "dass in Wahrheit die Medien die Wahl verloren hätten"? Stimmt es, dass sich die Medien so stark wie kaum zuvor "als Macher statt Mittler" verstanden haben? Oder, wie Claus Leggewie schrieb, dass sie endgültig "von Akteuren der Machtbeobachtung zu solchen der Mitwirkung am Machtkampf" geworden sind? Da abermals ein Fernsehwahlkampf geführt wurde, lautet die zentrale These: Der politische Fernsehjournalismus hat in großen Teilen versagt. Er hat sich von der Realität der Parteiendemokratie weit entfernt, zu der auch der Bürger als Mediennutzer gehört. Fernsehjournalismus konstruiert in wachsendem Maß eine Wirklichkeit sui generis. Diese zweite Wirklichkeit, die angesichts gravierender politischer Steuerungsprobleme im vergangenen Jahr einen kollektiven Wunsch nach einem politischen Wechsel propagierte, lässt sich auf eine selbstreferentielle Selbstkonditionierung der Fernsehmedien zurückführen. Die Medien rekurrierten zunehmend nur auf das von ihnen geschaffene Bild der politischen Wirklichkeit und auf Stereotypen der Berichterstattung, statt über aktuelle politische Entwicklungen zu berichten und sich von politischer Programmatik inspirieren zu lassen. Für die These, dass Selbstthematisierung und Selbstbezüglichkeit der Berichterstattung für das Versagen des politischen Journalismus verantwortlich sind, gibt es drei wesentliche Indikatoren: Die politische Berichterstattung wird immer unpolitischer. Selbst die genuine Wahlkampfberichterstattung entpolitisiert sich. Die Themenfelder der Policy, politische Sachthemen, werden immer weiter marginalisiert. Dagegen dominieren politische Prozessthemen (Politics) die Berichterstattung. Es geht unterdessen in fast allen mediengeprägten Demokratien im Vorfeld von politischen Wahlen um den Kampf, um das Rennen, um die Konkurrenzsituation. Dafür haben die US-Amerikaner den Begriff Horse-Race-Journalism geprägt. Wahlkampagne, Wahlwerbung oder der Wahlkampfverlauf mit seinen Stimmungswechseln und dem dialektischen Rhythmus von Angriff, Verteidigung und Gegenangriff besitzen im journalistischen Auswahlprozess hohen Nachrichtenwert. Eine Abfolge von routiniertem Unvorhergesehenem sind diese Prozessthemen; deshalb lassen sie sich so gut im Stile der Sportberichterstattung "framen", d.h. vom Regelsatz des Wettkampfs ungewissen Ausgangs rahmen. Der politische Wettbewerb der Parteien ist als selbstreferentielles Thema im Vergleich zu Politikinhalten so dominant, weil eine laufende Berichterstattung über Wahlkampfaktivitäten, Umfragen, neue Wahlkampfaktivitäten und Thematisierungsversuche für den politischen Journalisten im Wahlkampftross schnell, preisgünstig und ohne großen Rechercheaufwand neue Nachrichten liefert. Fast drei Viertel der Berichterstattung zum Bundestagswahlkampf 2005 bestand aus solchen politics issues (vgl. Abbildung1), handelte also von Themen wie innerparteilichen Konflikten, Kampagnen, Wahlkampfstrategien, Wahlumfragen, Prognosen, Herabsetzungsbestrebungen gegenüber dem politischen Gegner und Kandidatenprofilen. Die Nachrichtensendungen und -magazine von SAT.1 zum Bundestagswahlkampf enthielten gar 84 Prozent Politics-Themen. Diese Prozessthemen dominierten nicht nur den Umfang der Wahlberichterstattung, sondern auch die Präsentation. Drei von vier der metapolitischen Themen waren hervorgehoben, dienten also entweder als Aufmacher der Sendung bzw. von Sendungsbestandteilen oder wurden in Form von Schlagzeilen und Laufbändern gesondert angeteasert. Dagegen wurden nur 42 Prozent der dargestellten Sachthemen hervorgehoben. Ingesamt wurde jeder zweite Wahlkampfbericht (51 Prozent) innerhalb der untersuchten Nachrichten exponiert platziert. Der hohe Anteil politischer Prozessthemen lässt sich seit einigen Jahren beobachten und wächst auf hohem Niveau weiter an. Udo Krüger hat für die Bundestagswahl 2002 einen Anteil von 63 Prozent gemessen, 2005 stieg der Wert auf 66 Prozent. Innerhalb dieser metapolitischen Themen nehmen unterdessen selbstthematisierende Beiträge stetig zu, in denen die Fernsehnachrichten nicht nur den politischen Wahlkampf darstellen, sondern die Rolle der Medien und ihren Einfluss auf die Wahl thematisieren, so die vermuteten Auswirkungen eines TV-Duells oder politischer Talk-Shows auf die Wahlentscheidung der Bürger. Es geht bei der so genannten Metakommunikation darum, wie die Nachrichtenmedien ihre Rolle bei der Inanspruchnahme der politischen PR durch Spin Doctors interpretieren und bewerten. Dieses meta coverage wird als dritte Stufe des politischen Journalismus bezeichnet, weil der Schwerpunkt der Berichterstattung unterdessen nicht mehr auf politischen Themen und Strategien liegt, sondern darauf, inwieweit Journalisten zu Akteuren der Kampagnen instrumentalisiert werden. "The Story of the campaign is the story of the media in the campaign." Aber schon der Hinweis darauf, dass ein wahlkampfrelevantes Statement vor Medienvertretern geäußert wurde, genügt, damit ein TV-Beitrag als metakommunikativ eingestuft wird. Ein knappes Viertel der Policy-Themen entfiel in den Nachrichtensendungen zum Bundestagswahlkampf 2005 auf diese Form der Metakommunikation, stellt also den politischen Wahlkampf vorzugsweise als Medienwahlkampf oder als mediatisierte Politik dar. Davon zeugten 2005 speziell die Blitzumfragen, von den Fernsehsendern im Anschluss an das TV-Duell in Auftrag gegeben, die wiederum Anlass waren für eine ausführliche Berichterstattung über den Einfluss der politischen Fernsehkommunikation auf die Wahlabsichten der (fernsehenden) Bevölkerung. Auch wenn dieses Phänomen in Europa noch nicht so verbreitet ist wie in den Vereinigten Staaten, gehört dieses Merkmal allgemein zur Amerikanisierung des Wahlkampfs. Der zweite Indikator für die mediale Selbstkonditionierung im Prozess der Wahlkampfberichterstattung betrifft die Tatsache, dass prominente Journalisten als Akteure auftreten. Journalisten fragen Journalisten - dieser Trend ist zwar nicht neu, aber dennoch spielten Journalisten aus allen Medienbereichen als Interpreten des Wahlkampfs 2005 in Deutschland im Fernsehen eine zunehmend große Rolle. Diese zusätzliche Dimension des mediatisierten Wahlkampfs, die es in früheren Wahlkämpfen in dieser Intensität und Extensität nicht gab, "lässt sich als ein eigenständiges Element in der Gesamtdramaturgie der Wahlthematisierung betrachten". Über den gesamten Zeitraum vom 24. Mai (Ankündigung von Neuwahlen) bis zum Wahltag am 19. September 2005 betrachtet, traten in der Wahlkampfberichterstattung Journalisten 95-mal in Gastrollen als Experten auf. Sie waren in Wahlsendungen, insbesondere in politischen Talkshows, zwar als Experten eingeladen, aber viele nutzten diese Foren, um Politik zu machen und um dezidierte Wahlempfehlungen auszusprechen: Dieses Phänomen kulminierte stark in der Person von Hans-Ulrich Jörges ("Stern"), der sechs Auftritte in politischen Wahlsendungen hatte - drei davon unmittelbar vor der Wahl - und dabei vehement gegen Gerhard Schröder als Kanzler und Rotgrün als Regierung eintrat. Von einem "rasenden Überzeugungstäter" war die Rede und davon, dass "so agierende Journalisten zu einflussreichen Meinungsträgern werden". Salopp formuliert: Die eigentlichen "Elefantenrunden" finden unterdessen in den politischen Talkshows statt - ihre Protagonisten sind oft schwergewichtige Publizisten. Unstrittig ist: Das regierungskritische Lager hatte in der journalistischen Wahlkampfbegleitung und -kommentierung ein deutliches Übergewicht. Doch nicht allein die politischen Sondersendungen und Talkshows boten politisierenden Journalisten eine Plattform. Auch die Beiträge der Nachrichtensendungen und -magazine von ARD, ZDF, RTL und SAT.1 enthielten eine erstaunlich hohe Anzahl von Journalisten-Statements. Von den 1 008 O-Tönen in Fernsehbeiträgen innerhalb der letzten vier Wochen vor der Bundestagswahl 2005 stammten 60 von Journalisten. Es handelte sich dabei nicht um Korrespondenten und Autoren der Beiträge, die in Form eines Aufsagers im Bild waren, sondern um Journalisten, die sich in der Funktion politischer Experten äußerten. Neben überwiegend ambivalenten Bewertungen der politischen Lage wurde die Opposition insgesamt sechsmal positiv bewertet, die Regierungskoalition unter Gerhard Schröder dreimal. Fünf journalistische Statements waren regierungskritisch, kein einziges bewertete die Opposition negativ. Im Ergebnis zeigt sich eine Selbstreferentialität auch auf Akteursebene. Der vermutlich einschlägigste Indikator für journalistische Selbstkonditionierung, durch die eine zweite, von der politischen Realität entkoppelte Wirklichkeit konstruiert wird, betrifft den Trend zum Wahlumfragejournalismus. Meinungsumfragen sind in den vergangenen Jahren durch ihre mediengerechte Aufbereitung zu einem zentralen Element der politischen Kommunikation geworden. In dem Maße, wie von einer demoskopischen Demokratie bzw. "Demoskopiedemokratie" (Richard von Weizsäcker) gesprochen wird, existiert auch ein demoskopischer Journalismus. Wahlumfragen gelten als besonders berichterstattenswert - nicht nur, weil sie problemlos den medialen Aktualitätserfordernissen entsprechen, sondern weil sie darüber hinaus wesentliche Nachrichtenfaktoren auf sich vereinigen können. Sie erfüllen das Kriterium der Bedeutsamkeit, lassen sich auf Personen mit hohem Status beziehen und bieten sogar Überraschungen: "Polls are newsworthy: they are topical, relate directly to issues in the news, are up-to-the-moment." Das immer enger werdende Zusammenspiel von Medien und Wahlforschung führt dazu, dass die abgefragten Wahlabsichten zur eigentlichen Politik werden. Politische Berichterstattung verkürzt sich dabei selbst zu Wahlumfragenjournalismus. Deshalb sprechen Kritiker des demoskopischen Journalismus von einer horse-race-Berichterstattung; Frank Brettschneider stellte fest, dass diese Umfragen in der Vergangenheit äußerst selten dazu genutzt wurden, Hintergrundberichte zum sich wandelnden Meinungsklima oder zu Motiven der Wähler zu zeigen. Für den Rezipienten ergab sich daher eher das Bild einer "Aufholjagd". Sachthemen wurden vernachlässigt und führten zu "Erstaunen über die Regierungspläne", obwohl Journalisten die Wähler schon vor der Wahl über die Pläne hätten aufklären können. Nicht nur ist Deutschland zu einer zahlengläubigen Republik geworden, auch das Fernsehen verlässt sich zunehmend auf die Prognosen der Wahlforscher; diagnostiziert wird eine "Umfragehörigkeit" der politischen Journalisten. Die Folge: In der politischen Kommunikation entstehen zahleninduzierte Gespenster-Debatten und Scheindiskurse. Gerade im Fernsehen wird viel Sendezeit mit Ergebnissen von Meinungsumfragen statt mit politischen Diskursen und sachpolitischen Auseinandersetzungen gefüllt. Der exzessive Einsatz von Wahlumfragen lässt sich als Zyklus von poll based media und media based polls beschreiben, wobei von wechselseitigen Einflüssen und Verstärkerwirkungen auszugehen ist. In 136 von 658 Beiträgen (21,3 Prozent) der analysierten Nachrichtenbeiträge zum Wahlkampf 2005 wurden derartige Ergebnisse von Wahlumfragen thematisiert (vgl. Abbildung2). Spitzenreiter der Thematisierung von Wahlumfragen nach Anzahl der absoluten Fälle ist RTL mit 48, gefolgt von SAT.1 (34), ARD (28) und ZDF (26). Da SAT.1 nur einen vergleichsweise geringen Anteil an der gesamten Wahlkampfberichterstattung hat (101 Beiträge = 15,3 Prozent), verbucht dieser Sender den höchsten relativen Wert an Wahlumfragen von 35,1 Prozent vor RTL (196 Wahlkampfbeiträge = 29,8 Prozent) mit 24,5 Prozent Umfragethematisierung. Die öffentlich-rechtlichen Sender ARD (198 Wahlkampfbeiträge = 30,1 Prozent) und ZDF (163 Beiträge = 24,8 Prozent) verfügen mit 14,5 Prozent und bzw. 17,1 Prozent über den geringsten relativen Anteil an demoskopisch geprägter Berichterstattung. Betrachtet man die gesamte Wahlkampfberichterstattung im Monat vor der Wahl, so stieg der Anteil der umfragebasierten Berichterstattung zwischen der viertletzten Woche und der letzten Woche vor der Wahl von zunächst 11,9 Prozent kontinuierlich auf 32,1 Prozent an. Was die Parteien- und Politikerpräsenz in der Wahlkampfberichterstattung betrifft, so gilt seit vielen Jahren die Faustregel, dass politische Akteure nach herrschendem Proporz befragt werden und entsprechend nach parlamentarischem Gewicht zu Wort kommen. Es wird eine formale Ausgewogenheit hergestellt, da in der Regel einer politischen Position der Regierungspartei automatisch die Gegenposition einer Oppositionspartei gegenübergestellt wird. Auf diese Weise kommt es in Konkurrenzdemokratien zu Neutralisierungseffekten, aber im Detail spiegelt sich der Vorsprung der Sitzverteilung im Parlament in der medialen Repräsentanz des politischen Fernsehjournalismus wider. Dies haben viele Studien unter dem Schlagwort "Kanzlerbonus" empirisch belegen können. Logisch zwingend ist, wenn Inhouse-polls von Fernsehsendern verstärkt in Auftrag gegeben und, je näher die Wahl rückt, in immer höherer Frequenz publiziert werden, dass sich der Journalismus verstärkt auf diese demoskopischen Artefakte verlässt. Die demoskopischen Befunde werden redaktionell internalisiert und geben hinsichtlich der Fernsehpräsenz der Parteien den groben Rahmen für die folgende Berichterstattung ab. Deshalb bietet es sich an, die Verteilung der Fernsehpräsenz der Parteien detaillierter zu beobachten: Es zeigt sich, dass die von den Fernsehsendern in Auftrag gegebenen Umfragen zu journalistischen Sensoren geworden sind, die die kurzfristige politische Stimmungslage in der Berichterstattung der Vorwahlzeit widerspiegeln. Zieht man von den 1 008 O-Ton-Statements, die in den vier Wochen vor der Wahl 2005 publiziert wurden (vgl. Abbildung3), die Aussagen von Experten, Journalisten und Bürgern ab und konzentriert sich auf die verbleibenden 624 O-Töne der später im Bundestag vertretenen Parteienvertreter, dann deckt sich der Proporz der Statements der Parteien fast punktgenau mit den letzten öffentlich publizierten Wahlumfragen vor der Wahl: Rund acht Prozentpunkte Vorsprung für die CDU/CSU gegenüber der SPD, statt einer auf einen Kanzlerbonus hinweisenden Orientierung am parlamentarischen Proporz. Und, weitaus gravierender: Sowohl die später stark kritisierten Umfragewerte aller großen Institute als auch die Parteienpräsenz in der Wahlkampfberichterstattung des Fernsehens weichen signifikant vom überraschenden amtlichen Endergebnis 2005 ab, und zwar - bis auf die in der Berichterstattung stark unterrepräsentierte Linkspartei - in gleichem Maße. Es lässt sich anhand der Daten nicht restlos ausschließen, dass es sich dabei um einen statistischen Zufall handelt; jedoch legen die Daten nahe, dass politische Redakteure die Fernsehbeiträge nach einer Rationalität arrangieren, die von aktuellen Meinungsumfragen stark beeinflusst ist. Da diese von den Sendern selbst in Auftrag gegeben werden, entsteht ein Kreislauf journalistischer Selbstkonditionierung. In der Praxis der Wahlkampfberichterstattung existiert zunächst ein im Rahmen der Agenda-Setting- und Agenda-Buildingprozesse generiertes Thema. Unabhängig von der Frage, ob das Thema einschlägig für alle Parteien auf der Sachebene ist, werden gemäß der Ausgewogenheits- und Proporzlogik der Medien alle Parteienvertreter zu diesem einen Thema reihum befragt. Es entstehen schematisierte O-Ton-Ketten, die der politische Journalist Marcus Jauer anlässlich der Koalitionsfrage "Jamaika-Koalition" oder "Israel-Lösung" pointiert beschrieben hat: "Was sagen sie dazu? So geht das hin und her. Mit einer Frage kommt man locker durch den Tag. Jede Äußerung erzwingt eine weitere, immer gibt es ein Thema, immer ist jemand am Zug." Das Ergebnis des zwanghaften Reihumbefragens sind ritualisierte und inhaltsfreie Sound-Bits von rund zehn Sekunden Länge, die gemäß der KISS-Logik (KEEP IT SHORT and SIMPLE) von Politikern abgesondert und in die Beiträge hineingeschnitten werden. Die daraus entstehenden O-Ton-Arrangements sind dann gemäß der jeweiligen "Line of the Day" konfektioniert. Der Kreis schließt sich dadurch wieder, dass in den Wahlkampfzentralen riskantere Vorschläge von unsicherer Popularität durch Politiker aus der zweiten Reihe probeweise mit Hilfe von Kurz-O-Tönen lanciert und durch das Abwarten auf Umfrageeffekte einer Art Marktforschung unterzogen werden. Kommen die Vorstöße bei den Wahlberechtigten an, zieht die politische Elite nach. In angelsächsischen Ländern wird diese Form des politischen Handelns als policy by polls bezeichnet. Nachrichtensendungen des deutschen Fernsehens veröffentlichen aber nicht nur demoskopische Erhebungen, sondern beginnen mit diesem vergleichsweise stabilen redaktionellen Instrument selbst zu orakeln. Wahlumfragen werden nicht nur in festen Sendungsbestandteilen wie dem "ZDF-Politbarometer", dem "ARD-deutschlandtrend" oder "RTL-Wahltrend" publiziert, es wird auch in Moderationen und Beiträgen frei über den Einfluss von Prognosen spekuliert. Im Zuge der Veröffentlichung von Umfragedaten kommt es zu einer spezifischen Form von Wahlprognosen. In 106 Wahlkampfbeiträgenund Moderationen (16,2 Prozent dergesamten Wahlkampfberichterstattung) haben Journalisten eine solch autonome Wahlprognose formuliert und dabei über sinkende und steigende Chancen für Regierungskoalition und Opposition spekuliert (vgl. Abbildung4). Bei RTL lag der Anteil mit 27 Prozent am höchsten, beim ZDF mit 8,7 Prozent am niedrigsten. Von der beispiellosen Intensivierung demoskopischer Berichterstattung in den beiden letzten Wochen vor der Wahl, als sich der große Vorsprung der Opposition gegenüber der rot-grünen Regierung in den Umfragen allmählich verringerte, sind auch die journalistischen Prognosen betroffen. So gab es insgesamt mehr Thematisierungen steigender Chancen der Regierungskoalition als günstigerer Aussichten der Opposition. Umgekehrt überwiegen die negativen Einschätzungen der Chancen der Opposition diejenigen der Regierung Schröder - allerdings nicht in einem Umfang, der das überraschende Wahlergebnis auch nur annähernd erklären könnte. Blickt man allerdings auf die einzelnen Sender, offenbart sich ein sehr uneinheitliches Bild der Spekulationen und Prognosen. Die ARD hat fast in jedem zweiten einschlägigen Beitrag steigende Chancen der Opposition verkündet, während RTL in jedem dritten prognostischen Beitrag sinkende Chancen der Opposition thematisierte. Am erstaunlichsten verhalten sich die journalistischen Prognosen zum Wahlausgang bei SAT.1: Der nicht gerade als SPD-nah geltende Sender verwies in 45 Prozent der prognosegeprägten Beiträge auf bessere Aussichten für die rot-grüne Regierung. Insgesamt handelt es sich bei den in Berichten und Moderationen en passent vermittelten Prognosen um journalistisch geformte Interpretationen statistischer Erhebungen, durch die zusätzliche mediale Einflüsse in die Berichterstattung gemengt werden. Das bindet "polls" und "media" noch stärker zusammen und beeinflusst den politischen Journalismus in einer Weise, die normativ-demokratietheoretisch bedenklich ist. Kurzum: Primat und Logik der Daten werden vom nachrichtenjournalistischen Personal nachhaltig verinnerlicht. Die Folge: Es wird in einer Logik publiziert bzw. thematisiert, die sich am Ergebnis und der zu unterstellenden Wirkung der Veröffentlichung - nämlich den Umfrageergebnissen - orientiert. Damit kommt es zur Schließung des selbstreferentiellen Zirkels. Zusammenfassend konnten anhand der Analyse der Nachrichtensendungen zum Bundestagswahlkampf einige wichtige Hinweise auf eine selbstbezügliche Funktionsweise der Meta-Kommunikation im politischen Fernsehjournalismus gegeben werden. Medien beobachten, wie sich unter ihrem Einfluss, nämlich der mediatisierten Berichterstattung, die Akzeptanz und Wahlabsichten verändern, und sie kontinuieren ihre Beobachtungen damit. Die Folge ist zum einen eine simplifizierende Horse-Race-Berichterstattung, zum anderen eine bemerkenswerte Kongruenz zwischen den durch inhouse-Demoskopie ermittelten Wahlpräferenzen und der medialen Auswahl der für die Berichterstattung einschlägigen Aussagensubjekte. Die Konzentration auf die notorische Sonntagsfrage lähmt aber die Urteilskraft politischer Journalisten. Es ist zweifelsfrei einfacher, mit Zahlen zu hantieren, als die konkurrierenden Modelle der Sozialversicherungssysteme zu diskutieren. Die Sach- und Ressortpolitik ist zu kompliziert geworden. Wie lassen sich die konkurrierenden Modelle der Steuerreform und der Gesundheitsreform vermitteln - wenn man sie selbst kaum versteht und auch nicht die Zeit hat, sich auf eine Weise einzuarbeiten, dass man diese Sachthemen den Bürgern und Wählern in einem Fernsehbeitrag so vermitteln kann, dass Wissen "Ah" macht. Insofern sind "Bet & win"-Berichterstattung und Horse-Race-Journalismus als zeitgemäße Strategie wider die Tyrannei der komplizierten Entscheidungszwänge zu verstehen. Ganz nüchtern betrachtet lässt sich darin ein schlichtes evolutionäres Moment erkennen. Ein Primat aufmerksamkeitsökonomischer Logik: Medien sind gezwungen, die unfassbare Komplexität gesellschaftlicher Regulierungsprozesse in ein attraktives Format umzurechnen, das die Illusion aufrecht erhält, jeder könne alles verstehen. Das läuft zum einen über die Sichtbarkeit von Personen, zum anderen über nackte Zahlen. Und wenn schon Wirtschaftsprognosen und Geschäftsklimaindizes, Steuerschätzungsprognosen und Arbeitsmarktzahlen nicht immer eindeutig sind und von interessierter Seite oftmals angezweifelt werden: Wahlumfragen lassen keinen Zweifel aufkommen - oder besser: Massenmedien lassen keinen Zweifel daran zu, diese Zahlen könnten manipuliert, falsch oder schlicht bedeutungslos sein. Marcus Jauer, Deutschland im Existenzialismus. Falls Sie von Politik und Palaver genug haben, müssen sie schon selber abschalten. Von den Medien können sie das nicht erwarten. Ein Frontbericht, in: Süddeutsche Zeitung vom 1. 10. 2005, S. I. ebd. Hannah Pilarczyk, Das Mediendebakel. Kein Gemeinmachen mit niemandem: Nach diesen Wahlen braucht es eine neue Äquidistanz der Medien zur Politik und Bevölkerung, in: Die Tageszeitung vom 20. 9. 2005, S. 26. Vgl. Hans Mathias Kepplinger, Theorien der Nachrichtenauswahl als Theorien der Realität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (1989) 15, S. 1-16; Frank Brettschneider, Bundestagswahlkampf und Medienberichterstattung, in: APuZ, (2005) 51 - 52, S. 19 - 26. Claus Leggewie, Das Duell vor dem Duell. Zur Wechselwirkung zwischen Fernsehen und Parteien, in: Frankfurter Rundschau vom 5. 8. 2005, S. 17. Analyse der Bundestagswahlkampfberichterstattung der Hauptnachrichtensendungen und Nachrichtenmagazine von ARD ("Tagesschau", "Tagesthemen"), ZDF ("heute", "heute journal"), RTL ("RTL aktuell", "RTL Nachtjournal") und SAT.1 ("SAT.1 News", "SAT.1 Die Nacht") vom 22. 8.-17. 9. 2005 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, n = 658 bundestagswahlkampfrelevante Beiträge. Der Anteil der Wahlkampfberichte an allen Nachrichtenbeiträgen beläuft sich auf 18,8 Prozent. Zusätzlich zu den Wahlkampfberichten wurden alle 1 008 O-Töne, die Bestandteil der Berichte waren, analysiert. Vgl. Udo Michael Krüger/Thomas Zapf-Schramm, Wahlberichterstattung im öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehen. Ergebnisse des ARD/ZDF-Wahlmonitors 2002, in: Media Perspektiven, (2002) 12, S. 610 - 622; dies., Thematisierung der Bundestagswahl 2005 im öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehen. Ergebnisse des ARD/ZDF-Wahlmonitors 2005, in: Media Perspektiven, (2005) 12, S. 598 - 612. Vgl. Frank Esser/Carsten Reinemann/David Fan, Spin Doctors in the United States, Great Britain, and Germany. Metacommunication about Metamanipulation, in: Press/Politics, 6 (2001) 1, S. 16. Matthew Robert Kerbel, Edited for Television. CNN, ABC and American Presidential Elections, Boulder 1998, S. 46. Vgl. F. Esser/C. Reinemann/D. Fan (Anm. 8), S. 39. U. M. Krüger/T. Zapf-Schramm 2005 (Anm. 7), S. 610. Maja Zehrt, Journalisten im Nahkampf, in: Leipziger Volkszeitung vom 5. 10. 2005, S. 8. Michael Konken, Medienmacht und Medienmissbrauch, in: APuZ, (2005) 51 - 52, S. 29. Vgl. U. M. Krüger/T. Zapf-Schramm 2005 (Anm. 7), S. 611. Vgl. Winand Gellner, Demoskopie, Politik, Medien. Anmerkungen zu einem problematischen Verhältnis, in: Otfried Jarren,/Heribert Schatz/Hartmut Weßler (Hrsg.), Medien und politischer Prozess. Politische Öffentlichkeit und massenmediale Politikvermittlung im Wandel, Opladen 1998, S. 169 - 184. Vgl. Frank Donovitz, Journalismus und Demoskopie. Wahlumfragen in den Medien, Berlin 1998. Vgl. Frank Brettschneider, Wahlumfragen und Massenmedien, in: Politische Vierteljahresschrift, 37 (1996) 3, S. 475. David L. Paletz./Jonathon Y. Short/Helen Baker/Barbara Cookman Campbell/Richard J. Cooper/Rochelle M. Oeslander, Polls in the Media: Content, Credibility, and Consequences, in: Public Opinion Quaterly, (44) 1980, S. 496. Vgl. Max Kaase, Wahlforschung und Demokratie. Eine Bilanz am Ende des Jahrhunderts, in: ZUMA-Nachrichten vom 23. 5. 1999, S. 65. Frank Brettschneider, Die Medienwahl 2002: Themenmanagement und Berichterstattung, in: APuZ, (2002) 49 - 50, S. 42. Rainer Braun, Die zahlengläubige Republik. Das Fernsehen verlässt sich zunehmend auf Prognosen der Wahlforscher - allen Fehleinschätzungen zum Trotz, in: Frankfurter Rundschau vom 24. 3. 2006, S. 17. Vgl. Jürgen Wilke/Carsten Reinemann, Kanzlerkandidaten in der Wahlkampfberichterstattung 1949 - 1998, Köln-Wien-Weimar 2003. Am stärksten für diese Abweichung zugunsten der Unionsparteien waren ARD (Differenz = + 10,9 Prozentpunkte für CDU/CSU) und RTL (Differenz = 6,7 Prozentpunkte für CDU/CSU) verantwortlich. Einen solchen Überhang zugunsten der Union gab es indes nicht nur bei den Aussagesubjekten der O-Töne, sondern auch bei den Objekten der Statements. Die Opposition von CDU/CSU und FDP war in 30,5 Prozent aller Fälle Bezugspunkt der Äußerungen, die rot-grüne Regierung nur in 27,1 Prozent. Allerdings galten 12,4 Prozent der wertenden Aussagen dem damaligen Kanzler Schröder, während die Oppositionsführerin Merkel nur in 9,8 Prozent der O-Töne Bezugspunkt war. M. Jauer (Anm. 1).
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Hohlfeld, Ralf
2022-08-29T00:00:00
2011-10-05T00:00:00
2022-08-29T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29529/bundestagswahlkampf-2005-in-den-hauptnachrichtensendungen/
Beim Bundestagswahlkampf 2005 vollzog sich eine in ihrer Qualität bislang einmalige Abkopplung der Medienrealität von der politischen Realität. Die Medien rekurrierten nur noch auf das von ihnen geschaffene, stereotype Bild der politischen Wirklichke
[ "Bundestagswahlkampf" ]
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Freie Demokratische Partei | Landtagswahl Bayern 2018 | bpb.de
Gründungsjahr Landesverband 1946* Mitgliederzahl in Bayern ca. 6.400* Landesvorsitz Daniel Föst* Wahlergebnis 2013 3,3 Prozent *nach Angaben der Partei Der bayerische Landesverband der "Freien Demokratischen Partei" (FDP) besteht seit 1946. Die Partei steht für einen sozialabgefederten Liberalismus in einem demokratischen Rechtsstaat. Die FDP legt ihren Schwerpunkt auf Themen wie Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte sowie eine liberale Wirtschafts- und Steuerpolitik. Dabei spielen das eigenverantwortliche Individuum, sozialer Ausgleich durch Teilhabe und der faire, regelbasierte Wettbewerb eine zentrale Rolle. Im Bund zog die Partei außer 2013 immer ins Parlament ein und war oft Teil der Regierung. Im Freistaat war die FDP mehrmals in Regierungen vertreten, zuletzt von 2008 bis 2013. Auf diese Regierungsbeteiligung folgte jedoch - dem negativen Bundestrend folgend – das Ausscheiden aus dem Landtag. Durch einen Parteiübertritt eines Abgeordneten der FREIEN WÄHLER ist sie dort derzeit jedoch mit einem Landtagsmandat vertreten. Die FDP tritt in ganz Bayern zur Wahl an. Interner Link: Eine Übersicht über alle zugelassenen Landeslisten finden Sie hier (bpb, TUBS) Lizenz: cc by-sa/3.0/de Für die bayerische Landtagswahl tritt die FDP mit dem Slogan „Frischer Wind für Bayern“ an. Dazu gehören Forderungen wie die Abschaffung bürokratischer Hindernisse, die Förderung des Mittelstandes und liberale Ladenschlussgesetze, aber auch der Ausbau des Münchner Flughafens und die Privatisierung der bisher staatlichen bayerischen Spielbanken sowie der Ausbau der Infrastruktur für den Individualverkehr. Einen besonderen Fokus legt die FDP auf die Bildungspolitik mit dem Konzept „Geld folgt dem Lernenden“: dabei sollen nicht die Bildungseinrichtungen, sondern der einzelne Lernende gefördert werden. In Abgrenzung zur CSU lautet die Wahlaussage, Bayern brauche keine konservative Revolution, sondern ein „liberales Update.“ In der Flüchtlingspolitik spricht sie sich aus gegen dauerhafte Grenzkontrollen und für einen Abschiebestopp von Asylbewerbern, die einen Ausbildungs- oder Arbeitsvertrag besitzen. Spitzenkandidat für die Landtagswahl ist der frühere Landesgeschäftsführer Martin Hagen. Gründungsjahr Landesverband 1946* Mitgliederzahl in Bayern ca. 6.400* Landesvorsitz Daniel Föst* Wahlergebnis 2013 3,3 Prozent *nach Angaben der Partei Die FDP tritt in ganz Bayern zur Wahl an. Interner Link: Eine Übersicht über alle zugelassenen Landeslisten finden Sie hier (bpb, TUBS) Lizenz: cc by-sa/3.0/de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2018-09-20T00:00:00
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2018-09-20T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/parteien/wer-steht-zur-wahl/bayern-2018/274560/freie-demokratische-partei/
Die FDP war seit ihrer Gründung 1946 mehrmals in Regierungsverantwortung in Bayern. Ihr Schwerpunkt liegt auf Rechtsstaatlichkeit, Bürgerrechten sowie eine liberale Wirtschafts- und Steuerpolitik. Zur Landtagswahl fordert sie u.a. den Ausbau des Münc
[ "Freie Demokratische Partei", "FDP", "Landtagswahl Bayern", "Wer steht zur Wahl" ]
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The Wall: 1961-2021 - Part Two | Deutschland Archiv | bpb.de
40 places at the Wall: Interner Link: 1: Entenschnabel, Glienicke/Nordbahn, adjoining Berlin-Reinickendorf Interner Link: 2: Reinickendorf, adjoining Pankow, S-Bahn station Wilhelmsruh Interner Link: 3. Viewing Pankow, adjoining Mitte/Bösebrücke Interner Link: 4: Mitte, Bernauer Strasse/corner of Swinemünder Strasse Interner Link: 5: Mitte, Bernauer Strasse 39 Interner Link: 6: Mitte, Mauerweg on Bernauer Strasse Interner Link: 7: Mitte, Kieler Strasse, near Berlin-Spandauer Ship CanalSchifffahrtskanal (canal) Interner Link: 8: Mitte, Invalidenstrasse, view of the Federal Ministry of Economy Interner Link: 9: Mitte, Reichstag, Friedrich-Ebert-Platz Interner Link: 10: Mitte, Reichstag, Scheidemannstrasse/corner of Dorotheenstrasse and Ebertstrasse Interner Link: 11: Mitte, picture of Brandenburger Tor taken from Ebertstrasse Interner Link: 12: Mitte, Potsdamer Platz, corner of Ebertstrasse and Hans-von-Bülow-Strasse Interner Link: 13: Mitte, adjoining Friedrichshain-Kreuzberg, corner of Stresemannstrasse and Erna-Berger-Strasse Interner Link: 14: Friedrichshain-Kreuzberg, adjoining Mitte, corner of Stresemannstrasse and Niederkirchnerstrasse Interner Link: 15: Friedrichshain-Kreuzberg, adjoining Mitte, Niederkirchnerstrasse Interner Link: 16: Mitte, adjoining Friedrichshain-Kreuzberg, corner of Wilhelmstrasse and Zimmerstrasse Interner Link: 17: Friedrichshain-Kreuzberg, adjoining Mitte, Zimmerstrasse and Niederkirchnerstrasse Interner Link: 18: Mitte, adjoining Friedrichshain-Kreuzberg, Zimmerstrasse, looking east Interner Link: 19: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, Checkpoint Charlie (corner of Friedrichstrasse and Zimmerstrasse) Interner Link: 20: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, Checkpoint Charlie (corner of Friedrichstrasse and Zimmerstrasse) Interner Link: 21: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, corner of Charlottenstrasse and Zimmerstrasse, view from Friedrichstrasse Interner Link: 22: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, corner of Alexandrinenstrasse and Stallschreiberstrasse, view along Stallschreiberstrasse Interner Link: 23: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, corner of Heinrich-Heine-Strasse and Sebastianstrasse Interner Link: 24: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, corner of Heinrich-Heine-Strasse and Sebastianstrasse Interner Link: 25: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, corner of Legiendamm/Waldemarstrasse, view of St.-Michael’s-Church Interner Link: 26: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, Leuschnerdamm adjoining Engelbecken Interner Link: 27/28: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, corner of Adalbertstrasse/Bethaniendamm Interner Link: 29: Mitte adjoining Friedrichshain-Kreuzberg, corner of Köpenicker Strasse/Bethaniendamm, looking towards St.-Thomas-Church Interner Link: 30: Friedrichshain-Kreuzberg, Osthafen, view of Oberbaumbrücke Interner Link: 31: Friedrichshain-Kreuzberg, Oberbaum Bridge Interner Link: 32: Treptow-Köpenick, Lohmühlenstrasse and Jordanstrasse Interner Link: 33: Neukölln, adjoining Treptow-Köpenick, corner of Harzerstrasse and Onckenstrasse, view from Onckenstrasse, looking east Interner Link: 34: Neukölln adjoining Treptow-Köpenick, corner of Harzerstrasse and Bouchéstrasse Interner Link: 35: Neukölln, adjoining Treptow-Köpenick, corner of Elsenstrasse and Heidelberger Strasse, view of Treptow Interner Link: 36: Neukölln, adjoining Treptow-Köpenick, corner of Elsenstrasse and Heidelberger Strasse, view of Treptow Interner Link: 37: Neukölln adjoining Treptow-Köpenick, corner of Heidelberger Strasse and Bouchéstrasse Interner Link: 38: Dreilinden, municipality of Kleinmachnow, Brandenburg Interner Link: 39: Potsdam, view of Berlin Steglitz-Zehlendorf, Glienicker Brücke (bridge) Interner Link: 40: Spandau borough, Staaken station 1: Entenschnabel, Glienicke/Nordbahn, adjoining Berlin-Reinickendorf In the north, the border protruded into the western borough of Reinickendorf. Because of its peculiar form, citizens called this part of the borderline ‘Entenschnabel ’ (duck bill). Inside the Entenschnabel, there were several detached buildings surrounded by the Wall, with their gardens touching the border. The inhabitants had to adhere to special rules, so that at times they were not even allowed to leave their houses. Visitors, including handymen and doctors, needed to apply for a special permit to enter the area. An estimated 50 people escaped through nearby tunnels in 1962 and 1963. The last remnants of the Wall here were removed in the early 1990s. 2: Reinickendorf, adjoining Pankow, S-Bahn station Wilhelmsruh Today, Berlin-Wilhelmsruh is a part of the borough of Pankow. It borders on Reinickendorf in the north-west. The Berlin Wall almost turned Wilhelmsruh into an enclave. Kopenhagener Strasse was blocked and the S-Bahn station was shut down. Border patrol soldiers killed two people in the area: 20-year-old Dorit Schmiel, who died trying to cross the border on February 19, 1962, and Johannes Muschol, who was killed as he disorientedly jumped into the death strip from West Berlin on March 16, 1981. 3. Viewing Pankow, adjoining Mitte/Bösebrücke Today, the Bösebrücke bridge is an important tramway connection between the neighborhoods of Prenzlauer Berg (Pankow borough) and Wedding (Mitte borough). When Berlin was divided, the bridge was the site of a border checkpoint that was mainly used by West Berliners, citizens of the Federal Republic, and diplomats. The S-Bahn station below the bridge was closed and the trains travelled through it without stopping. On August 23, 1962, GDR police officer Hans-Dieter Wesa was shot and killed by his fellow officers after already reaching West Berlin. This is also where, on the night of November 9, 1989, tens of thousands of East Berliners headed for West Berlin. Caving to the pressure, Stasi (secret police) officers immediately stopped controlling passports. On November 9, 2013, an area that had been part of the border checkpoint was given the name “Platz des 9. November 1989” (November 9, 1989, square). 4: Mitte, Bernauer Strasse/corner of Swinemünder Strasse Swinemünder Strasse extends between the boroughs of Wedding (Gesundbrunnen neighborhood) and Mitte. Today, it belongs to Mitte. The Berlin Wall divided the street from August 13, 1961 onward. It traced the border between the Soviet sector and the French sector. To recall the victims of the Berlin Wall, the local government installed a small monument in 1982 on the corner of Bernauer Strasse and Swinemünder Strasse. Between August and October 1961, four people tried to escape from here to the West: Ida Siekmann, Rudolf Urban, Olga Segler, and Bernd Lünser. They all died from the injuries they incurred after jumping from buildings on Bernauer Strasse. During this time, many people got hurt trying to escape and frequently wound up in the nearby Lazarus-Krankenhaus hospital. The red arrow in the picture was drawn by a West Berlin police officer. It marks a sign that reads: “Road closure caused by the wall of shame!” (In German: „Straßensperrung verursacht durch die Schandmauer!“). 5: Mitte, Bernauer Strasse 39 While Bernauer Strasse belonged to the West Berlin borough of Wedding, the houses on the south side of the street were part of the East Berlin borough of Mitte. As many people tried to escape from here, SED leaders first had the doors of the buildings barricaded. Then, in September 1961, the inhabitants were forced to move and the windows were permanently closed up. After 1963, the buildings were demolished. Only the ground floor facades remained, establishing a broad corridor or “death strip”. Since the soil underneath Bernauer Strasse is suitable for tunnel construction, several escape tunnels were built; most started from the basements of houses on the western side. Two of the best-known escape routes, “Tunnel 29” and “Tunnel 57,” were used by a total of 86 people. As late as November 19, 1986, a man managed to climb over the border installations near Brunnenstrasse. Although 12 shots were fired, he narrowly escaped. 6: Mitte, Mauerweg on Bernauer Strasse Before being demolished, a church stood in the way of the Wall. The nave of the Versöhnungskirche (“reconciliation church”) was destroyed on January 22, its bell tower on January 28, 1985. In the 1990s, the Kapelle der Versöhnung (“chapel of reconciliation”) was built on the foundation of the former church and was inaugurated in 2000. One of its aims is to commemorate the people who died at the Wall. Along with an archive and an open-air exhibit, the chapel is part of the education initiative of Stiftung Berliner Mauer (Berlin Wall Foundation). Parts of the Wall that have not been removed can also be found at the site. On the right, the foundation of a residential building is seen underneath a canopy. . All the buildings were eventually demolished starting from the mid-1960s. Nearby, at the end of Bergstrasse, Ernst Mundt was shot dead while trying to escape on September 4, 1962. A few weeks later, on November 27, 1962, seventeen-year-old Otfried Reck would meet the same fate. 7: Mitte, Kieler Strasse, near Berlin-Spandauer Ship CanalSchifffahrtskanal (canal) In Berlin, the border ran alongside the western bank of the Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal. Today, a watchtower can still be found on the eastern side. It belonged to the Kieler Eck border patrol command center, which was responsible for monitoring this section of the border. A rapid response team stood by to prevent escapees from fleeing to the West. On August 24, 1961, a few hundred meters from here in the urban harbour of Humboldthafen the tailor Günter Litfin, 24, was shot and killed as he tried to escape to West Berlin. He was the first to succumb to the GDR government’s shoot-to-kill order. 8: Mitte, Invalidenstrasse, view of the Federal Ministry of Economy The border crossing at Invalidenstrasse was used both East and West Berliners, as well as other GDR citizens, mostly retirees. Today, the former train station Hamburger Bahnhof is home to a museum of contemporary art (Museum für Gegenwart/zeitgenössische Kunstsammlungen). The ministry of economy and energy and the ministry of traffic and digital infrastructure are located here, as well as a museum of natural history (Naturkundemuseum). On May 12, 1963, a spectacular escape attempt was made at the Invalidenstrasse border crossing: Eight young East Berliners stole a city bus, which they then tried to crash through the concrete barriers. By the time the bus reached the Wall, it was already under heavy fire from the GDR border patrol. With just one meter to go to reach the West, the bus was so riddled with bullets that it came to a halt. The escapees, including three young men, were severely hurt and sent to prison. 9: Mitte, Reichstag, Friedrich-Ebert-Platz After the Wall’s construction, barrier installations remained between the British and the Soviet Sector, just behind the Reichstag. As a result of the Four Power Agreement on Berlin in 1971, the Bundestag (West German parliament) lost the right to hold plenary sessions in Berlin. Only committees and separate parliamentary groups gained entry. On the right is the former residence of the Reichstag presidents (Reichstagspräsidentenpalais). From 1949 to 1959, it was home to the Institute for Marxism/Leninism (Institut für Marxismus-Leninismus), run by the Central Committee of the SED. Later, it was occupied by a state-owned record manufacturer, the Volkseigener Betrieb Deutsche Schallplatten. Today, the non-partisan parliamentary association Deutsche Parlamentarische Gesellschaft (DPG) resides here. The building is located next to the Jakob-Kaiser-Haus, an office building that belongs to the Bundestag. When parliament is in session, MPs can be see walking from here to the plenary. Otherwise, they use the tunnel that connects both parts of the Bundestag. 10: Mitte, Reichstag, Scheidemannstrasse/corner of Dorotheenstrasse and Ebertstrasse From 1914 until the end of the war in 1945, VDI – the national association of engineers – was was headquartered in a building that would later become part of East Berlin. Today, the building belongs to the Bundestag. On October 3, 1990, the national celebration of German reunification took place before the western entrance to the Reichstag. On June 20, 1991, following extended public and parliamentary debate, the German parliament voted by a simple majority (338 vs. 320 votes) to move the German government back to Berlin. In 1999, the keys were handed over to the German president and, from September 8, 1999 on, the Bundestag’s plenary sessions took place in the Reichstag. Nearby, on the banks of the river Spree, there is an installation of white crosses, intended to recall the citizens who were killed at the Berlin Wall. 11: Mitte, picture of Brandenburger Tor taken from Ebertstrasse Brandenburg Gate was severely damaged in the Second World War. After the Wall was built, it was surrounded by the barrier installations and completely inaccessible. On the western side, tourists could look at the Brandenburg Gate and East Berlin from elevated platforms. There was a platform on the eastern side as well, but only official guests were allowed to use it. On the night of November 9 and 10, 1989, citizens from both sides of the Wall celebrated its demise at the Brandenburg Gate. On December 22, 1989, more than 100,000 people cheered as the landmark was reopened. The ceremony was attended by Chancellor Helmut Kohl, Minister of Foreign Affairs Hans-Dietrich Genscher, West Berlin’s governor Walter Momper, and Hans Modrow, the last prime minister of the GDR. Today, the Brandenburg Gate stands as a symbol of the German reunification. 12: Mitte, Potsdamer Platz, corner of Ebertstrasse and Hans-von-Bülow-Strasse Before the war, all the pubs and amenities in Haus Vaterland (the large ruin) helped make Potsdamer Platz one of the most frequented squares in Europe. Most of the square would be destroyed and, after the war, it was a border triangle situated between the Soviet, British and American sectors. The area also transformed into a popular black market. The square was an important site during the uprising against the GDR government on June 17, 1953.From August 13, 1961, the Berlin Wall cut through Potsdamer Platz and gradually the remaining buildings were almost completely demolished. The “death strip” installed between the main wall and a second wall to secure the hinterland was broader than almost anywhere else in the city. After the reunification, ground was broken for the construction of a new neighborhood. 13: Mitte, adjoining Friedrichshain-Kreuzberg, corner of Stresemannstrasse and Erna-Berger-Strasse In 1930, Königgrätzer Strasse was renamed Stresemannstrasse in honor of Gustav Stresemann (foreign minister and chancellor of the Weimar Republic, d. 1929). Beginning in 1961, the Wall divided Stresemannstrasse (near Potsdamer Platz). The borough Mitte (left) thus became a part of East Berlin and Kreuzberg (right) a part of West Berlin. Today, the Federal Ministry of the Environment is headquartered in the other building on the left side . Remnants of the Wall (seen on the left) were integrated into the building extension. The former “death strip” is once again a city street. 14: Friedrichshain-Kreuzberg, adjoining Mitte, corner of Stresemannstrasse and Niederkirchnerstrasse In 1962, West Berlin police took pictures from Stresemannstrasse towards Potsdamer Platz of strictly monitored “repair activities” on the Berlin Wall. After the construction of the Wall, the Soviet section of the street became part of the death strip. Most buildings were destroyed in the war. It was not until the late 1980s that new structures were built on the westside for the International Architecture Exhibition, mostly as subsidized housing and to re-populate neglected areas. 15: Friedrichshain-Kreuzberg, adjoining Mitte, Niederkirchnerstrasse After the Wall was built along Niederkirchnerstrasse, the street and its sidewalk became part of East Berlin’s Mitte. The surface of the road and sidewalks belonged to the East Berlin borough of Mitte. The building on the right, which formerly housed the Prussian parliament, is now home to Berlin’s parliament. The building belonged to East Berlin until 1989. On the opposite side of the street, there are regular exhibitions in the Gropiusbau (Friedrichshain-Kreuzberg borough). Along Niederkirchnerstrasse, an intact segment of so-called border wall 75 (Grenzmauer 75) – the border installation closest to West Berlin – can still be found. Behind the Wall remnants lies the Topography of Terror Memorial. During the Nazi dictatorship, secret police, Gestapo, and SS headquarters, as well as the Reich Security Main Office (Reichssicherheitshauptamt) were located here. Today, this historic site is used to educate visitors about National Socialism. 16: Mitte, adjoining Friedrichshain-Kreuzberg, corner of Wilhelmstrasse and Zimmerstrasse In the Nazi era, the ministry of aviation was located on Wilhelmstrasse, an avenue that connects the boroughs of Kreuzberg and Mitte. After the Second World War, the Soviet military administration installed its temporary headquarters on the premises. The GDR was founded here on October 7, 1949. Several other GDR ministries would occupy this building in the years that followed. On June 17, 1953, tens of thousands protested the SED regime in front of the Leipziger Strasse entrance. Today, a monument commemorates the uprising. In the 1990s, the Treuhandanstalt (an agency entrusted with reprivatizing GDR companies) was headquartered here. In 1992, the building was renamed Detlev-Rohwedder-Haus in remembrance of the murdered Treuhand director. In 1999, the ministry of finance moved in. On April 3, 1975, Herbert Halli (21) was shot and killed at the corner of Wilhelmstrasse and Zimmerstrasse trying to flee East Germany. 17: Friedrichshain-Kreuzberg, adjoining Mitte, Zimmerstrasse and Niederkirchnerstrasse A large part of the actual border that went along Niederkirchnerstrasse and Zimmerstrasse can still be seen here. Today, the ministry of finance is located in the building on the right side. Before the fall of the Wall, it was called “Haus der Ministerien” (house of ministries). It is historically significant: On October 7, 1949, the GDR was founded here. In 1965, it was the site of one of the era’s most spectacular escapes: Heinz Holzapfel and his family hid in the toilets on the top floor until dawn. They first descended with ropes into the “death strip.” Then they threw one of the ropes over the Wall, which was secured by helpers on the western side, and finally escaped into West Berlin. 18: Mitte, adjoining Friedrichshain-Kreuzberg, Zimmerstrasse, looking east The Wall divided Zimmerstrasse. Before the Nazis took power, the street was part of the famous newspaper district established in the late 19th century. On the left, the former Markthalle III building can be seen. After 1910, the Clou concert hall was located here. The National Socialist party used Markthalle III to hold rallies and print propaganda leaflets. During Berlin’s division, the building was situated in the inaccessible border area. At the other end of Zimmerstrasse (26-27), a monument reminds recalls Peter Fechter, who was shot and killed by GDR border guards when he tried to escape on August 17, 1962. 19: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, Checkpoint Charlie (corner of Friedrichstrasse and Zimmerstrasse) Checkpoint Charlie is the most famous border crossing between East and West Berlin. It was used by members of the Allied military, diplomats, foreigners, and GDR citizens. It was off limits to citizens of the Federal Republic and West Berliners. In the fall of 1961, SED leaders tried to limit the access rights of the Western Allies. The situation escalated. On October 27, 1961, US and Soviet tanks were mobilized on both sides of the border. On the evening of January 5, 1974, GDR policeman Burkhard Niering, 23, was shot and killed at the border crossing. He had taken a passport control officer hostage and, with a machine gun in hand, tried to force his escape to the west. 20: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, Checkpoint Charlie (corner of Friedrichstrasse and Zimmerstrasse) Checkpoint Charlie also witnessed a number of successful escape attempts: On January 17, 1986, a 21-year-old telecommunications worker from East Berlin made it across to West Berlin; a 32-year-old professional driver Hans-Joachim Pofahl rammed a truck laden with five tons of gravel through the barrier installations at the crossing point and managed to take his 26-year-old girlfriend and their eight-month-old baby to the West. Today, the area surrounding Checkpoint Charlie is a popular tourist attraction. On August 13, 2000, a replica of the original guard house was installed here and is now one of Berlin’s the most iconic images. There is currently discussion of rebuilding the area with apartments, offices, and even a Cold War museum. 21: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, corner of Charlottenstrasse and Zimmerstrasse, view from Friedrichstrasse Charlottenstrasse extends from the Kreuzberg neighborhood to Mitte and runs parallel to the bustling Friedrichstrasse. On June 28, 1962, at the corner of Zimmerstrasse and Jerusalemer Strasse, 20-year-old border guard Reinhold Huhn was shot and killed by West Berliner Rudolf Müller. The escapee-helper tried to facilitate the freedom of his own family through a tunnel he had dug himself. 22: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, corner of Alexandrinenstrasse and Stallschreiberstrasse, view along Stallschreiberstrasse The Berlin Wall stood between Alexandrinenstrasse and Alte Jakobstrasse, following the sidewalk along Stallschreiberstrasse. The area remained undeveloped until 2017. In the early morning hours of September 13, 1964, at the end of Stallschreiberstrasse, GDR border patrol officers fired 300 rounds at Michael Meyer. He was struck eight times and suffered severe injuries. A US military officer pulled him to the western side. On the same day, American civil rights activist Martin Luther King Jr. visited Berlin. News agencies reported that he rushed to the scene of the failed escape. There, he spoke about “dividing walls of hostility.” And, when speaking at the Waldbühne venue in West Berlin and in two East Berlin churches, he remarked: “For here on either side of the wall are God’s children and no man-made barrier can obliterate that fact.” 23: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, corner of Heinrich-Heine-Strasse and Sebastianstrasse Until East-Berlin parliament decided to rename it Heinrich-Heine-Strasse in 1960, the street bore the name Prinzen- und Neanderstrasse. At its southern end, flanking Kreuzberg, the “Plattenbau” (large panel system-building) neighborhood Heine-Viertel was built from 1959 to 1961. Later, buildings of the same type would be erected at the northern end of the street. Before the Wall fell, there was a border crossing at the southern end of Heinrich-Heine-Strasse for citizens of the Federal Republic, GDR, and diplomats. 24: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, corner of Heinrich-Heine-Strasse and Sebastianstrasse West Berliner Siegfried Noffke, age 22, and two friends wanted to help their families escape to the West through an improvised tunnel. When they tried to access the tunnel on June 28, 1962 in the basement of Heinrich-Heine-Strasse 49, the unarmed men wound up in an ambush and came under heavy fire. Noffke finally died of his injuries. 25: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, corner of Legiendamm/Waldemarstrasse, view of St.-Michael’s-Church Waldemarstrasse belonged to the West Berlin borough of Kreuzberg, which is now a part of Friedrichshain-Kreuzberg. Behind Waldemarstrasse, there is a park with an ornamental pool called Engelbecken. In 1961, the GDR had it backfilled to convert into part of the death strip along the Wall. 26: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, Leuschnerdamm adjoining Engelbecken At Leuschnerdamm, the Wall touched the sidewalks in front of the buildings on the western side. Today, Engelbecken is full of water again and surrounded by trees. After the demolition of the Wall, the park was gradually restored. At the time of the city’s division, the area was flattened to make way for the “death strip.” 27/28: Friedrichshain-Kreuzberg adjoining Mitte, corner of Adalbertstrasse/Bethaniendamm During the Division of Berlin, between Bethaniendamm and Engeldamm, Adalbertstrasse was divided by the Wall. On April 9, 1969, Johannes Lange, 28, was shot and killed trying to escape at the corner of Engeldamm (then named Fritz-Heckert-Strasse). The bullets came from two watchtowers. 29: Mitte adjoining Friedrichshain-Kreuzberg, corner of Köpenicker Strasse/Bethaniendamm, looking towards St.-Thomas-Church In the 19th century, the era of industrialisation, new traffic infrastructure was introduced to downtown Berlin. Trade companies and factories set up their operations on Köpenicker Strasse. In the Gründerzeit era (the “founders’ period,” ca. 1870-1914), numerous rows of residential buildings were built. After the Second World War, the section of Köpenicker Strasse northwest of Bethaniendamm became part of the Soviet sector, i.e. East Berlin. The south-eastern section was part of Kreuzberg, i.e. West Berlin (today a part of Friedrichshain-Kreuzberg). Starting August 13, 1961, near Bethaniendamm, the street was divided by the Wall’s barricades. After Germany was reunified, clubs, bars, and new businesses settled in and around Köpenicker Strasse. 30: Friedrichshain-Kreuzberg, Osthafen, view of Oberbaumbrücke In early 1990, the former Wall separating the hinterland and Stralauer Allee from the “death strip” was painted by artists. Today, it is called East Side Gallery and featured in virtually every travel guide. In this part of the city, the river Spree belonged to East Berlin. Nevertheless, as the Osthafen harbor was located in the border area, navigation was limited. Still, the flow of goods increased over time: from 1969 to 1989, 2.2 to 2.8 million tons were transported. From 1971, the most important commodity in East Berlin was construction materials for residential buildings. Today, media companies and fashion labels are headquartered here, while popular clubs and rooftop bars have made the area a hotspot for night-time entertainment and events. 31: Friedrichshain-Kreuzberg, Oberbaum Bridge The bridge Oberbaumbrücke, a landmark of the modern borough of Friedrichshain-Kreuzbergs, is an important crossing of the river Spree. After the Wall was constructed, street and rail traffic on the bridge was suspended. A pedestrian border crossing for West Berliners and GDR citizens was then installed. On October 5, 1961, Udo Düllick, 25, died when attempting to escape across the river. Philipp Held, Wolf-Olaf Muszynski, Ulrich Krzemien, and Bernd Lehmann also drowned when trying to escape between Elsenbrücke and Schillingbrücke, On October 8, 1962, 60-year-old Anton Walzer was shot and killed when trying to escape near Oberbaumbrücke. Werner Probst, Hans Räwel, Heinz Müller, and Manfred Weylandt all later met similar fates. By 1975, five children drowned on the Kreuzberg side of the river Spree because potential rescuers were afraid of being shot by the border guard. It was not until October 29, 1975 that the government of West Berlin and the GDR signed a water-rescue agreement regarding the border. 32: Treptow-Köpenick, Lohmühlenstrasse and Jordanstrasse There was a border crossing in today’s Treptow-Köpenick borough, near where Jordanstrasse merges into Lohmühlenstrasse. Until 1985, freight trains from the Treptow depot in West Berlin’s Neukölln traversed the border here to reach the grounds of the former Görlitzer Bahnhof train station. To do so, it was necessary to cross East Berlin territory using a special bridge (right side). Stasi and border patrol officers checked the trains from above for refugees. There were also two watchtowers. The Wall ran alongside the Landwehrkanal. Today, it is possible to stroll across the canal and head to Kreuzberg. 33: Neukölln, adjoining Treptow-Köpenick, corner of Harzerstrasse and Onckenstrasse, view from Onckenstrasse, looking east. Onckenstrasse runs from Alt-Treptow (now part of the Treptow-Köpenick borough) to Neukölln. From August 1962 onward, the street was split by the Wall from the corner of Harzer Strasse. 34: Neukölln adjoining Treptow-Köpenick, corner of Harzerstrasse and Bouchéstrasse On March 3, 1965, a successful escape was made using a rope. Tying together four 50-meter pieces of clothesline to a window frame on the fourth floor of a building, Dieter W., 26, descended to the first floor. He pushed himself off a windowsill and managed to swing over the Wall and jump into West Berlin. Although he broke his ankle, Dieter W. nevertheless landed safely in the West Berlin borough of Neukölln. 35: Neukölln, adjoining Treptow-Köpenick, corner of Elsenstrasse and Heidelberger Strasse, view of Treptow On the reverse side of this historic photo, West Berlin police noted: ““4/18/1963 - Repair work on the sector border Neukölln/Treptow, Elsenstrasse after 19-year-old East Berliner broke through Wall using Soviet armored personnel carrier.”. The previous day, Wolfgang Engels stole a Soviet BTR-152 and tried to break through the border. However, he got stuck about halfway and was shot at. Despite his severe injuries, he could be rescued on the West side. 36: Neukölln, adjoining Treptow-Köpenick, corner of Elsenstrasse and Heidelberger Strasse, view of Treptow In June 1962, 20 people, including several children, escaped through a tunnel underneath Heidelberger Strasse. The channel’s length was approximately 30 to 40 meters. It started from the basement of the Heidelberger Krug, a Neukölln pub, and ended in a photography store in Treptow. A few months earlier, on March 27, 1962, Heinz Jercha , 27, was shot and killed near Heidelberger Strasse as he tried to help other people escape to the West through a tunnel. 37: Neukölln adjoining Treptow-Köpenick, corner of Heidelberger Strasse and Bouchéstrasse Erich Kühn, 62, was shot near this intersection in Kiefholzstrasse, on November 26, 1965. In trying to escape, he sustained multiple injuries to his stomach and died eight days later. 38: Dreilinden, municipality of Kleinmachnow, Brandenburg After the Drewitz border crossing was established and the Autobahn was relocated in 1969, a Soviet T34 tank was placed atop a pedestal beneath the Autobahn. It served as a memorial to the Red Army’s victory over Nazi Germany. The Soviet Army removed the tank in December 1990. In 1992, artist Eckhard Haisch installed on the pedestal a pink Soviet-type snowplough . In 1995, the artwork was declared a protected monument. West Berliners mostly associated the Drewitz border crossing with endless waiting times when leaving the city for their holidays. They had to drive past the tank when going west or south on the transit route, and when returning home. The border crossing was demolished in 1993. Only the command tower was preserved. Today, it stands as a monument. The Checkpoint Bravo association also uses it for exhibitions and events. 39: Potsdam, view of Berlin Steglitz-Zehlendorf, Glienicker Brücke (bridge) Glienicke Bridge connects Berlin with Potsdam. The border ran through the middle of the bridge. In the GDR, it was called “Unity Bridge”. Between 1961 and the early 1980s, only Allied military were allowed to cross the border here, but they also required special permission. Between 1962 and 1986, East and West exchanged senior intelligence officers here on three different occasions. On February 10, 1962, Rudolf Iwanowitsch Abel was exchanged for Francis Gary Powers. On March 11, 1988, three young men used a stolen truck to break through the barriers on the bridge and successfully made their way to West Berlin. On November 10, 1989, Glienicker Brücke was reopened, allowing regular traffic to flow in both directions. 40: Spandau borough, Staaken station In 1976, a train station was built in Staaken to monitor travellers between West Berlin and Hamburg. Previously, only freight trains had been checked here. Stasi passport control officers wearing border patrol uniforms would enter the trains at the station to inspect travellers’ ID cards or passports. In addition, before departing for West Berlin, the trains were checked from the outside and underneath to make sure no one was hiding. The station was further secured by high walls and barbed wire to prevent East German citizens from jumping onto the trains. Since 1998, Staaken has been a regular stop for regional trains connecting Berlin with Brandenburg.
Article
Anja Linnekugel, Hans-Hermann Hertle
2022-02-10T00:00:00
2021-09-13T00:00:00
2022-02-10T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/340165/the-wall-1961-2021-part-two/
Here you find explanations about 40 locations at the Berlin Wall and their history.
[ "Berliner Maer", "DDR", "Berlin" ]
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Ostdeutsche Identität(en)? | Lange Wege der Deutschen Einheit | bpb.de
Das Thema einer ostdeutschen Identität bleibt umstritten. Während die Einen 'Ostdeutschsein' als Normalität oder als Widerstand gegen die "westdeutsche Dominanz" bekräftigen und feiern, stellen andere – aus Ost und West – nicht nur die Existenz einer ostdeutschen Identität grundsätzlich in Frage, sondern erkennen im Beharren auf dieser Identität ein wesentliches Hindernis für die Vollendung der Vereinigung (Koch 1998; Ganzenmüller 2020). Nach 2015, im Zusammenhang mit der politischen Migrationskrise und den Wahlerfolgen der Alternative für Deutschland (AfD), lebte die Debatte erneut auf. Dabei sind es nicht nur Ältere, die sich zu Wort melden, sondern auch Jüngere, die – wie z.B. Valerie Schönian, Johannes Nichelmann oder Daniel Kubiak – neue journalistische oder wissenschaftliche Positionen artikulieren. Im Folgenden soll das hartnäckige Problem ostdeutscher Identität nicht nur mit Blick auf die letzten drei Jahrzehnte, sondern auch auf die Zukunft unserer Gesellschaft aufgeklärt und kritisch diskutiert werden. Aus pragmatischen Gründen werden hier Bürgerinnen und Bürger als Ostdeutsche bezeichnet, die bis 1990 in der DDR oder nach 1990 in den neuen Bundesländern und Ostberlin geboren und/oder dort wesentlich aufgewachsen sind und leb(t)en. Soziale Identität – was ist das eigentlich? Beim Thema menschlicher Identität geht es um komplexe Prozesse der Grenzziehung, Selbst- und Fremdbestimmung sowie der sozialen Konstruktion von und zwischen Individuen und sozialen Gruppen (Abels 2017). Neben der personalen Identität, die sich auf die organismische wie psychische Identität einzelner Menschen bezieht, gibt es in menschlichen Gesellschaften soziale Identitäten, von denen jeder Mensch mehrere besitzt (wie Frau, Sächsin, Ingenieurin, Fußballspielerin, FDP-Mitglied). Es handelt sich hierbei um individuenübergreifende Identifikationsprozesse, die sich vom Einzelwesen ablösen und eine mindestens abstrakte Gruppe mit ähnlichen Lebensbedingungen, Lebensführungen oder Handlungsorientierungen konstituieren sowie Zugehörigkeiten stiften (können). Exemplarisch kann auf berufliche Tätigkeiten verwiesen werden. Wer ich (nicht) bin, definiert sich heute in hohem Maße über Anforderungen, Einkommenschancen und das Ansehen von Erwerbstätigkeit und Beruf. Generell stellen soziale Rollen – neben Berufs– etwa auch Familienrollen (z.B. Kinder oder Großeltern) – typische soziale Identitäten dar, die sich als gesellschaftlich generierte normative Erwartungsbündel und deren Umsetzung in sozio-kulturellen Praktiken begreifen lassen. Kollektive Identitäten bezeichnen soziale Identitätsmuster, die sich neben dem Normengehalt durch einen Gemeinschaftsanspruch und Wir-Gefühle auszeichnen. Mitglieder sozial integrierter Gruppen (sog. in-groups) tauschen sich nicht nur intensiver untereinander aus und unterstützen sich selbstverständlich(er) als sie das mit Angehörigen von out-groups praktizieren; sie prägen damit auch das Denken und Handeln der Individuen in hohem Maße. Gibt es eine ostdeutsche Identität? Eine empirische Erkundung Eine empirische Antwort auf diese Frage lässt sich zunächst mit Einstellungsdaten gewinnen. Danach wird seit den frühen 1990er Jahren durch die Bevölkerung der fünf östlichen Bundesländer und Ostberlins eine beachtliche allgemeine Verbundenheit mit "Ostdeutschland" artikuliert (Tab. 1), die als guter Indikator für eine soziale Identifikation angesehen werden kann. Tabelle 1: Verbundenheit mit Ostdeutschen/Ostdeutschland (1992-2020)* 19921997 2000 2003 2006 2009 2011 20142020 69**8077736770696677** Tabellenbeschreibung Erläuterungen: Fußnote: * Anteile der Antworten "ziemlich stark" und "stark" oder "ziemlich" und "sehr verbunden" jeweils in v.H. Fußnote: ** Während die Daten für 1997-2014 einer Umfrageserie entstammen (Sozialreport), verdanken sich dies Werte zwei weiteren und unterschiedlichen Befragungen (siehe Neller 2006, Deutschland-Monitor 2020) und sind daher nur bedingt mit den anderen Werten vergleichbar. Quellen: Neller 2006: 23; Sozialreport 2014: 31-33; Deutschland-Monitor 2020: 38. Es sind durchgehend mindestens zwei Drittel der erwachsenen Wohnbevölkerung, die für sich eine (ziemlich) starke Verbundenheit mit dem ostdeutschen Landesteil markieren, wobei sich nach einem Aufschwung (bis 1997) ein leichter Abschwung erkennen lässt, der zuletzt (2020) wieder umgekehrt wurde. Differenziert man die Befunde soziodemographisch, zeigt sich, dass die Verbundenheit mit Ostdeutschland etwa bei Arbeitslosen deutlich höher und bei höher Gebildeten und besser Verdienenden eher geringer ausgeprägt war und ist. Hinsichtlich der Altersgruppen ist auffällig, dass die über 60-Jährigen schon seit Mitte der 1990er Jahre klar überdurchschnittliche Verbundenheit artikulierten (mit einem Plus von 10 bis über 15 Prozent), wohingegen die unter 30-Jährigen noch deutlicher unterdurchschnittliche Verbundenheit zeigten (minus 20-25 Prozent) (z.B. Sozialreport 2014: 31ff.). Mit Blick auf konkurrierende Identitäten lassen sich diese Umfragedaten noch einmal schärfen, insbesondere soweit Priorisierungen erbeten werden, etwa zwischen den Verbundenheiten mit Ostdeutschland, Westdeutschland und Gesamtdeutschland. Hier lässt sich ein klarer Trend der zunehmenden Identifikation der Ostdeutschen mit Deutschland erkennen – von etwa einem Drittel Anfang der 1990er Jahre auf bis zu zwei Drittel 2020 bei gleichzeitiger Abnahme der prioritären Verbundenheit mit Ostdeutschland von über 65% auf ca. 30% der Befragten (Forschungsgruppe Wahlen 2020). Seit Anfang der 1990er Jahre lässt sich also eine soziale Identität als Ostdeutsche in der Bundesrepublik Deutschland empirisch nachweisen, da ein zwar abnehmender, aber bis heute relevanter Teil der Bevölkerung der östlichen Bundesländer diese sozialräumliche oder gruppenbezogene (Primär-)Identität in Umfragen behauptet. Warum, wie und mit welchen Folgen gibt es aber diese ostdeutsche Identität? DDR-Gesellschaft, Gesellschaftstransformation und (ostdeutsche) Identität Soziale Identitätsformationen in Ostdeutschland seit 1989/90 können ohne die Berücksichtigung der DDR-Gesellschaft kaum angemessen erklärt werden. Bereits der Umstand, dass eine deutliche Mehrheit der heute in den neuen Bundesländern Lebenden vor 1975 geboren und daher wesentlich in der DDR primärsozialisiert wurde, plausibilisiert dieses Erfordernis. Diese mittlerweile mindestens 47 Jahre alten Menschen eigneten sich essenzielle soziale Bindungs- und Identitätsmuster noch in der DDR an. Das gilt etwa für familiäre Rollen, das Verständnis von Freundschaft und Heimat oder die Auffassungen von Kollektiven und der Rolle des Individuums darin; es betrifft aber auch explizit politisch-kulturelle oder gesellschaftspolitische Auffassungen, z.B.: Wer gehört zum Volk? Was darf und soll der Staat leisten? Insgesamt wurden die aus der DDR stammenden Ostdeutschen in ihren sozialen Identitäten, Mentalitäten und Habitus, also grundlegenden Wahrnehmungs-, Denk- und Urteilsschemata, wesentlich von und durch die DDR-Gesellschaft sowie die konkreten sozialen Um- und Mitwelten ihres dortigen Aufwachsens geprägt (Engler 1999; Neller 2007). Darüber hinaus beeinflusste sie die Periode des 1989 begonnenen gesellschaftlichen Umbruchs. Gesellschaftstransformationen wie die ostdeutsche (Enders/Kollmorgen/Kowalczuk 2021) öffnen Zeit- und Handlungsräume exzeptioneller 'Identitätsarbeit'. Je bruchhafter und revolutionärer die Transformation realisiert wird, desto stärker ergreifen diese Zeit- und Handlungsräume alle Ebenen und Formen menschlicher Identitäten, wobei das noch einmal gesteigert für Kinder und Jugendliche gilt (z.B. Lettrari et al. 2016). Hervorzuheben sind drei identitätsbezogene Folgen transformativer Umbrüche: Sie führen zu Verunsicherungen, Erschütterungen oder Auflösungen sozialer Zugehörigkeiten, Identitätsmuster und Gemeinschaften – wie Berufsbilder oder dem Ansehen und Selbstverständnis sozialer Milieus und Kollektive (von der "sozialistischen Intelligenz" bis zum "Betriebskollektiv"). Ein Reaktionsmuster darauf ist ein Rückgriff auf tradierte, Handlungssicherheit, soziale Bindung und Wir-Gefühl versprechende soziale Identitäten, was vielfach den Bezug auf vermeintlich 'natürliche' Gemeinschaften (Familie, Region, Ethnie, Nation) oder eine retrospektive Verklärung der gerade untergegangenen Gesellschaft – Stichwort "Ostalgie" (Neller 2007) – beinhaltet. Zugleich erfuhr aber 'das Volk' als handlungsmächtiges Kollektivsubjekt in der Friedlichen Revolution eine Aufwertung. Der Sog einer Identitäts(re)formierung Interner Link: wird von den neuen (Deutungs-)Eliten (einflussreiche Intellektuelle zwischen Politik, Kultur und Massenmedien) zur Fundierung der Transformation bedient und genutzt. Ostdeutsche Identität als Ergebnis der deutschen Vereinigung? Trotz der Relevanz der DDR- und Transformationsgeschichte bis 1990 sind die konkreten Ausrichtungen und Inhalte (Wahrnehmungen, Stereotype) ostdeutscher Identität ohne den Bezug auf die Vereinigung und deren Folgen nicht gehaltvoll erklärbar. Insofern ist die – dabei heterogene und sich anhaltend entwickelnde – ostdeutsche Identität das Ergebnis des deutschen Vereinigungsprozesses (Engler 1999; Engler/Hensel 2018; Kubiak 2020). Das soll in vier Schritten kurz entwickelt und dargestellt werden. Beitrittsmodus und Folgen Der Vollzug der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 auf dem Wege des "Beitritts" (nach Art. 23 des alten Grundgesetzes) bedeutete zunächst, dass die Ostdeutschen nicht länger souverän über ihr Schicksal im eigenen Staatswesen entscheiden konnten. Mit dem Beitritt wurde Ostdeutschland nicht nur institutionell in die Bundesrepublik "inkorporiert" (Karl Ulrich Mayer). Vielmehr wurden die Ostdeutschen – mit ca. 17 Prozent Bevölkerungsanteil, als fünf von sechzehn Bundesländern und als Wirtschaftsregion mit einem Anteil von zunächst unter 10 Prozent des gesamtdeutschen Bruttosozialproduktes – zu einer Minderheit, genauer: einer Minderheit mit unterdurchschnittlicher ökonomischer Leistungskraft, mithin struktureller Abhängigkeit vom Westen, sowie politischer, sozialer und kultureller Unerfahrenheit. Mehr noch, der unter breiter Zustimmung der Bevölkerung vollzogene Beitritt beinhaltete das Programm einer Vereinigung durch Anpassung des Ostens und seiner Bürger*innen an den Westen. Schon dieser Basismodus der Vereinigung musste nach den herrschenden Regeln sozialer Anerkennung die Ostdeutschen im vielfachen Sinne als 'mindere Brüder und Schwestern' erscheinen lassen, also gegenüber den Durchschnittswestdeutschen abwerten: Die (durchschnittlichen) Ostdeutschen waren weniger, besaßen weniger, leisteten weniger und wussten weniger. Zeitgleich wurden den Ostdeutschen mit Blick auf ihr Selbstverständnis und ihr Zugehörigkeitsgefühl zugemutet, in der neuen Bundesrepublik schnellstmöglich anzukommen, sich anzupassen und in ihr kulturell aufzugehen – trotz der getrennten gesellschaftlichen Entwicklungen und ganz eigener Lebensläufe sowie individueller Erfahrungsräume zwischen 1945 und 1990 (Kollmorgen 2011). Die diskursive Subalternisierung der Ostdeutschen So wirkmächtig diese mit dem Beitritt gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen und Dynamiken auch waren, die Wahrnehmung Ostdeutschlands und die Identität der Ostdeutschen sind dadurch allein nicht hinreichend zu erklären. Sie sind auch und wesentlich ein Produkt der hegemonialen, d.h. der seit Anfang der 1990er Jahre herrschenden und von der Masse der Menschen anerkannten Diskurse. Analysiert man exemplarisch die massenmedialen Diskurse bis Mitte der 2000er Jahre (Kollmorgen/Hans 2011), wird neben einer fast kontinuierlichen Abnahme der Befassung mit dem Gegenstand sowie einer zunehmenden Platzierung des Themas in den Bereichen Feuilleton und Unterhaltung (also einer tendenziellen Entpolitisierung) einerseits die Exotisierung der Ostdeutschen, d.h. die Thematisierung ihrer vermeintlichen Besonderheiten, Abweichungen und Anomalien gegenüber Westdeutschland, erkennbar. Anderseits wurden ostdeutsche 'Idiosynkrasien' und Transformationsprobleme häufig skandalisiert, d.h. der öffentlichen Erregung, Lächerlichkeit, aber auch distanzierenden Belehrung preisgegeben. Die wichtigsten skandalträchtigen Themen waren "Vergangenheitsbewältigung" ("DDR-Herrschaftsregime", "SED"- oder "Stasi-Seilschaften", "Dopingpraxis" usw.), Transferproblematik ("Daueralimentierung des Ostens”, "Milliardengrab Ost" oder Rentenhöhen im Osten), Politik und Personal der Partei PDS, später Die Linke sowie rechtsextremistische Vorfälle, Bewegungen und Parteien ("ostdeutsche No-Go-Areas", "Dunkeldeutschland"). Ostdeutschland und Ostdeutsche erschienen damit zwischen Anfang der 1990er Jahre und Anfang der 2000er Jahre in den hegemonialen, die gesamtdeutsche Öffentlichkeit wesentlich gestaltenden Massenmedien vor allem: als geschichtlich, insbesondere durch das negativ bewertete "Herrschaftsregime der DDR" (aus-)gezeichnete Bevölkerungsgruppe, als besondere, näher als exotische, zurückgebliebene und abgeschlagene Peripherie, die gegenüber den westlichen Regionen einen deutlichen Nachhol- und Anpassungsbedarf zeigt, als passive, abwartende, (er)leidende (jammernde), zugleich aber auch zunehmend fordernde regionale Bevölkerungsgruppe, als längerfristig hilfebedürftige und damit die bundesrepublikanische Gesellschaft (vor allem in ihrem Massenwohlstand) belastende Region, als Region, für die negative Zukunftsaussichten bestehen, und insgesamt als das Andere der westdeutschen Normalität. Zusammenfassend handelte es sich in dieser Periode um eine diskursive Subalternisierung der Ostdeutschen und Ostdeutschlands, die eine Subjekt- und eine Objektebene umfasst. Zum einen geht es darum, worüber (nicht) und wie über Ostdeutschland gesprochen wird, wobei alles Unpassende – die Erfolge und Vorteile des Ostens, aber auch: das Rückständige und Problematische im Westen (etwa der Strukturwandel im Ruhrgebiet oder der westdeutsche Rechtsextremismus) – tendenziell ausgeblendet wird. Zum anderen handelt es sich darum, wer und wie darüber legitimerweise sprechen darf. Ostdeutsche (mit DDR-Herkunft) waren nur zu bestimmten Themen (wie Oppositionelle zur DDR-Geschichte) und in bestimmten Rollen (harte/r Kritiker/in oder Komödiant/in) gefragt, befanden sich sonst aber in der zweiten Reihe und konnten im Regelfall nicht autonom bestimmen, was und wie berichtet wird. Bedrohte und bedrohende ostdeutsche Identität Da in den 1990er Jahren nicht nur in den Massenmedien, sondern auch in den Diskursfeldern der Politik und selbst in den Geschichts- und Sozialwissenschaften der "Osten" subalternisiert wurde, erfuhren viele Ostdeutsche unter Hinweis auf ihre Geschichte im "falschen" System der DDR wie auf ihre Gegenwart als "verlorene" Region, Arbeitskräfte oder Generation eine soziale Identitätsbedrohung. Westdeutsche Deutsche konnten, sollten und wollten sie nicht werden; Ostdeutsche wollten sie zwar sein – freilich nicht so, wie die westdeutsche Öffentlichkeit sie (überwiegend) zeichnete. In Reaktion darauf wurden nicht nur der Machtkonstellation weitgehend entsprechende Stereotypen gegenüber den Westdeutschen entwickelt. Vielmehr betonten gerade ältere und sich als Verlierer der Einheit begreifende Bürgerinnen und Bürger im Bewusstsein einer geteilten, nicht zuletzt Bedrohungs- und Abwertungserfahrung im Vereinigungsprozess widerständig ihre ostdeutsche Identität. Die Abwertungserfahrungen kondensierten in der Selbstwahrnehmung eines "Bürgers zweiter Klasse", die in den 1990er Jahren von bis zu drei Vierteln und zuletzt noch von 40 bis über 60 Prozent der Ostdeutschen geteilt wurde (Kollmorgen 2011; Deutschland-Monitor 2020). Aus der Wahrnehmung bedrohter Identität konnte aber auch eine bedrohende Identität werden. Auf Grundlage langfristig gewachsener regionaler Mentalitäten, bestimmter politisch-kultureller Traditionen der DDR (etwa ethnisches Volksverständnis, Fremdenangst) sowie unter Aktivierung populistischer Abwehr- und Protesteinstellungen, die zwischen 1989 und 1991 formiert wurden, entstanden ostdeutsche Identitätsformationen und regionale Bewegungen, die nicht nur aggressiv gegenüber allen (unbekannten) Westdeutschen vorgingen, sondern auch gegen alle und alles, das fremd erschien und sich den von diesen Gruppen erklärten ostdeutschen Normalitätsvorstellungen verweigerte – worunter "Ausländer" und "Asylanten" ebenso fielen wie "Ausländerfreunde", Außenseiter und liberale oder linke Jugendliche. Der Übergang zum – vielfach durch westdeutsche Kader geleiteten – organisierten Rechtspopulismus (etwa in Gestalt der AfD) und Rechtsextremismus war und ist fließend (Kollmorgen 2021; Lühmann 2021). Ostdeutsche Identität(en) zwischen Eigensinn, Autonomie und Avantgarde Nicht nur die bedrohende Identität, sondern auch der hegemoniale Identitätsdiskurs blieb nicht unwidersprochen. Schon seit den frühen 1990er Jahren wird von vor allem kritischen Ostdeutschen problematisiert, wie den diskursiven und materiellen Subalternisierungen der Ostdeutschen progressive Alternativen entgegengesetzt werden können (Koch 1998). Diese Bewegung hat durch die Beteiligung der jungen Generationen – darunter der Initiative "Dritte Generation Ost" (Lettrari et al. 2016) – an Dynamik und Einfluss gewonnen (Engler/Hensel 2018; Kubiak 2020; Lühmann 2021; Schönian 2020). Wichtige Zielpunkte sind die Ablehnung einer polaren ost-westdeutschen Identitätskonstellation (und die Betonung pluraler sozialer Identitätsmuster und kollektiver sowie solidarischer Handlungschancen), die Entwicklung ostdeutschen Eigensinns und autonomer Identitätsformationen unter Integration des historischen Erbes und der kritischen Reflexion des Vereinigungsprozesses sowie die Freilegung avantgardistischer Perspektiven und Projekte aus Ostdeutschland, die sich der Logik des ostdeutschen Defizits, Nachholens und Anpassens widersetzen. Zusammen mit den längerfristig wirksamen strukturellen und institutionellen Transformationen im Osten gelang es durch jene Gegendiskurse ab Anfang der 2000er Jahre, die bis dahin dominierenden Positionen in Politik, Wissenschaft und Massenmedien und damit auch die Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Ost- und Westdeutschen schrittweise zu verändern (Engler/Hensel 2018; Kollmorgen/Koch/Dienel 2011; Schönian 2020). Zukünfte der ostdeutschen Identität – vier Thesen Abschließend sollen vier Thesen zur Zukunft ostdeutscher Identität formuliert werden: Ostdeutsche Identität gibt es weder im Singular noch als kollektive Identität. Dazu sind die gesellschaftlichen Strukturen, Kulturen und Biographien vor und nach 1989/90 in Ostdeutschland zu heterogen. Ostdeutschsein ist eine unter vielen sozialen Identitäten, die individuell höchst vielfältig interpretiert wird und nur als ein relevantes Element in die mögliche Formierung kollektiven Handelns in den ostdeutschen Regionen eingeht. Eine soziale Identität als Ostdeutsche/r wird es mindestens so lange als relevante Identitätsformation geben, so lange die Generationen der noch in der DDR Geborenen eine gesellschaftlich und politisch aktive und Einfluss nehmende Gruppe darstellen. Das wird in den kommenden zwanzig bis dreißig Jahren sehr wahrscheinlich der Fall sein. Zugleich wächst der Anteil der (vor allem jüngeren) Individuen mit ostdeutscher Herkunft oder Abkunft, für die eine ostdeutsche Identität nur noch unter besonderen Bedingungen und in spezifischen Situationen Orientierungs- und Handlungswirksamkeit entfaltet (wie angesichts der AfD-Wahlergebnisse im Osten, in ost-westdeutschen Verteilungskämpfen, im Umgang mit der DDR-Geschichte usw.), wie der Anteil derjenigen stetig zunimmt, die sich in ihren Identifikationen nicht mehr in das Schema Ostdeutsche vs. Westdeutsche pressen lassen (wollen), weil sie zwischen Ost und West aufgewachsen sind. Offenkundig wird die zu Beginn präsentierte Definition "Ostdeutscher" mehr und mehr an Reichweite und Sinn verlieren (Kubiak 2020; Schönian 2020; Vogel/Leser 2020). Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, dass auch in späteren Jahrzehnten relevante Gruppen eine ostdeutsche Identität behaupten oder ihnen eine solche von Dritten zugeschrieben wird. "Ostdeutsch" könnte im Anschluss an gegenwärtige Semantiken weiter als Chiffre für periphere, ärmere und verlorene Regionen und Bevölkerungsgruppen funktionieren (wie das italienische Mezzogiorno). Die damit bedrohte Anerkennung und Identität gerade weniger gebildeter, einkommensschwacher und wirtschaftlich prekarisierter Bevölkerungsgruppen in Ostdeutschland kann anhaltend oder neu zu Orientierungen und Aktionen bedrohender sozialer Identität führen, einschließlich rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Politikerfolge. Das hängt von der weiteren Vereinigungs- und generell Gesellschafts- und Integrationspolitik in der Bundesrepublik ab. Umgekehrt gilt, dass die Existenz ostdeutscher Identität(en) nicht zwingend eine solidarisch orientierte soziale Integration behindert, wie das für alle sozialen und kollektiven Identitäten gilt, so lange sie nicht einen allein negativen bzw. abwertenden, polarisierenden, exkludierenden oder instrumentellen Charakter tragen bzw. zugeschrieben bekommen. Ostdeutsche Identität ist – auch deshalb – bereits heute Teil der Debatten um (postmoderne) Identitätspolitiken, die um das Thema autonomer Selbstidentifikation marginalisierter Gruppen und deren gesellschaftlicher Anerkennung kreisen. Ostdeutsche findet sich hier neben Menschen mit Migrationshintergrund, mit Behinderungen oder Angehörigen der LBGTQIA+-Gemeinschaft . Dabei ist offen, mit welchen Konflikten, Prozessdynamiken und längerfristigen Folgen die weitere Entfaltung identitätspolitischer Logiken für die ostdeutsche Identitätsformierung und für die gesamtgesellschaftliche Integration verbunden sein wird. 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In Diskursfeldern ringen Diskursgemeinschaften und ihrer wichtigsten Sprecherinnen und Sprecher (Diskurseliten) mit jeweils dominanten Strategien um die Gewinnung und Veränderung diskursiver Hegemonie oder legitimer Diskursbeherrschung – als Selbstzweck und zur Beherrschung anderer Formen sozialer, nicht zuletzt materieller Praxis (Kollmorgen 2015). Ich verdanke diese argumentative Figur (bedroht-bedrohend) M. Lühmann, der sie terminologisch unter dem Ausdruck: gefährdet vs. gefährdend vor kurzem entwickelt und ausgeführt hat (Lühmann 2021: 268ff.).
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
2022-03-22T00:00:00
2022-03-14T00:00:00
2022-03-22T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/506139/ostdeutsche-identitaet-en/
Gibt es eine ostdeutsche Identität? Ist das Beharren auf dieser Identität ein Hindernis für die Vollendung der Vereinigung? Raj Kollmorgen mit einer kritischen Untersuchung.
[ "Ostdeutschland", "Identität", "Transformation", "Lange Wege der Deutschen Einheit" ]
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Der geopferte Rhein | Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte | bpb.de
Der Rhein ist eine der weltweit größten Wasserstraßen – gemessen an der Menge der transportierten Güter liegt nur noch der Mississippi vor ihm. Auf seinem Weg von den Alpen zur Nordsee berührt er acht europäische Staaten: die Schweiz, Liechtenstein, Österreich, Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg und die Niederlande. Vier von ihnen bestimmen die politischen, wirtschaftlichen und Umweltthemen: Die Schweiz, wo auch beide Rheinzuflüsse, der Alpenrhein und die Aare liegen; Deutschland, zu dem mehr als die Hälfte des Einzugsgebiets gehört; Frankreich, das die linke Seite des biologisch wertvollen Rheingrabens zwischen Interner Link: Basel und Interner Link: Straßburg kontrolliert sowie die Niederlande, wo die Maas und der Rhein (dort auch als Waal bekannt) in ein gemeinsames Delta münden. Das ganz offensichtliche Thema des Rheins ist aber seine Funktion als Transportweg für das industrielle und urbane Leben in Europa. An seiner Mündung liegt der Interner Link: Rotterdamer Europoort, wichtigste Anlaufstelle für Tanker aus dem Nahen Osten und Europas größer Seehafen. Duisburg-Ruhrort im Ruhrgebiet ist der weltweit größte Binnenhafen. Auch Lippe, Emscher, Ruhr, Mosel, Lahn, Nahe, Main, Neckar, Ill und Aare sind wirtschaftlich bedeutende Zuflüsse. Kanäle verbinden den Rhein in Deutschland mit der Ostsee, französische Kanäle führen zum Atlantik und zum Mittelmeer. Seit 1992 ist der Rhein über den Main-Donau-Kanal auch mit dem Schwarzen Meer verbunden. Mehr als 50 Millionen Menschen leben im Einzugsgebiet dieses Flusses und machen es zu einem der am dichtesten besiedelten Stromsysteme der Erde. Am Rhein liegen einige der größten Stahl-, Automobil-, Textil- und Chemiewerke der Welt. Unter ihnen sind chemisch-pharmazeutische Werke wie Bayer, BASF, Aventis (Hoechst), Novartis (Ciba-Geigy und Sandoz) sowie Roche (Hoffmann-La-Roche), die etwa zehn Prozent des Weltmarktes unter sich aufteilen. Schließlich steht der Rhein mit seinen Wasserkraftwerken, dem Transport von Kohle und als Lieferant von Kühlwasser für Atomkraftwerke im Zentrum des westeuropäischen Energienetzes. Würden wir uns den Rhein für einen Augenblick wegdenken, würde die industrielle Produktion im Westen Europas zusammenbrechen. Die ökologische Belastung Die Europäer nutzen den Rhein also gleichermaßen als Wasserstraße, zur industriellen Produktion, für Stromerzeugung und zur Wasserver- und entsorgung. Aus eben diesen Gründen ist er ein biologisch schwer belasteter Strom. Nur wenige Flusssysteme haben in den vergangenen beiden Jahrhunderten eine solche Umweltzerstörung und einen derartigen Verlust an Artenvielfalt erfahren müssen wie der Rhein. An erster Stelle steht dabei der dramatische Verlust an Lebensräumen für nichtmenschliche Organismen. Der Lauf des Rheins wurde mit der Zeit um über hundert Kilometer verkürzt, dabei gingen acht Prozent der Lebensräume an seinen Ufer und im Wasser für aquatische und semiaquatische Arten verloren. Ebenfalls verloren gingen hunderte von Kilometern an Nebengewässern. Altarme, tiefe Wasserlöcher oder Tümpel gibt es heute fast nicht mehr. Verschwunden sind schließlich die mehr als dreitausend Inseln, die es im Rheintal einst gab. Jede von ihnen war ein Zuhause für verschiedene Arten. Und dann sind da noch die natürlichen Überflutungsflächen, Wälder, Feuchtgebiete, Niederungen. Achtzig Prozent von ihnen wurden dem Rhein genommen. Auf ihnen befinden sich nun Städte, Industrien, Landwirtschaft. 15 Kilometer Kailänge hat der Binnenhafen in Duisburg-Ruhrort. Mit einer Gesamtfläche von zehn Quadratkilometern ist er der größte Binnenhafen in Europa. Der Rhein fließt also nicht mehr auf Umwegen, sondern geradeaus sein Tal hinab, was auch für die Lebensräume von Fischen Auswirkungen hat. Staustufen und Schleusen bilden zudem große Hindernisse für die Fischwanderung. Sie machen es unmöglich, dass die Fische vom Quellgebiet bis zum Meer ziehen wie es ihrem Lebenszyklus entspricht. Uferbefestigungen wiederum verhindern, dass sich die Fische am Rande des Flussbettes zu den Quellgebieten begeben, wo sie normalerweise laichen. Die Wasserverschmutzung hat unter den Flussorganismen eine Verwüstung angerichtet. Am Leben bleiben nur jene, die resistent gegen Salze, Wärme und Chemikalien sind. Trotz aller Umweltschutzmaßnahmen der vergangenen dreißig Jahre ist der Chloridgehalt des Rheins noch immer so hoch, dass an manchen Abschnitten des Flusses das Wasser die Qualität von Brackwasser bekommen hat, wie man es sonst nur von den Mündungen und Deltas kennt. Die Hitzebelastung wiederum hat die saisonalen Schwankungen der Wassertemperatur reduziert – mit dem Ergebnis, dass der Rhein, anders als früher, auch im Winter nicht mehr zufriert. Schließlich hat die chemische Verschmutzung zu einer Zunahme von Schwermetallen und organischen Stoffen im Schlick des Rheins und in seinen Sedimenten geführt. Das Ergebnis: Im Rhein verschwinden viele der ursprünglichen Lebewesen; der Fluss ist also angewiesen auf biologische Newcomer, die mit den salzigen Bedingungen und gestiegenen Temperaturen besser zurecht kommen. Auf dem Weg zu einer internationalen Wasserstraße Der Rhein vor der Korrektur durch Tulla auf einer Karte von 1850. (Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de Als JPG herunterladen (211.9kB) Die Karriere des Rheins als einer der größten Transportwege der Welt begann im Jahre 1815. Damals gründeten die europäischen Staaten auf dem Wiener Kongress die Rheinkommission und stellten den Fluss unter internationale Verwaltung. Inzwischen mit Sitz in Straßburg ist die Interner Link: Rheinkommission eine der ältesten supranationalen Institutionen in Europa – und damit ein Vorläufer eines gemeinsamen europäischen Binnenmarktes und auch der Europäischen Union. Zwei Jahre später begann Johann Gottfried Tulla (1770-1828), ein badischer Ingenieur, mit den Planungen für seine "Rheinkorrektur". Bis heute gilt Tulla in Ingenieurskreisen wegen seines simplen Leitfadens als Berühmtheit. Er sagte: "Kein Strom oder Fluss, also auch nicht der Rhein, hat mehr als ein Flussbett nötig." Und weiter schrieb er in seiner Blaupause zur Rheinregulierung: "In der Regel sollten in kultivierten Ländern die Bäche, Flüsse und Ströme Kanäle sein und die Leitung der Gewässer in der Gewalt der Bewohner stehen." In seinem unbändigen Optimismus, die Natur beherrschen zu können, war Tulla ganz ein Produkt seiner Zeit. "Wenn wir einmal mit der Rheinbegradigung begonnen haben, wird sich alles zum Besseren wenden", nahm er für sich in Anspruch. "Die Einstellung und die Produktivität der Anwohner wird sich im Verhältnis der Sicherheit ihrer Häsuer, ihres Besitzes und der Ernte verändern. Das Klima am Rhein wird besser, die Luft wird sauberer." Seine Schrift über die Rheinbegradigung aus dem Jahre 1825 teilte die Ansicht anderer Ingenieure von den Flüssen als "Feinden", die "gebändigt" und "gezähmt" werden müssten. Natürlich speist sich ein Teil dieser Feindschaft aus den Erfahrungen mit Hochwassern, die das Leben vor allem für diejenigen schwer machten, die an ihren Ufern lebten. Doch mit Tulla bricht sich auch ein Denken Bahn, das Flüsse auch als militärisches Hindernis für den Transport von Truppen betrachtete. Der Ingenieur war in diesem Denken der unentbehrliche Helfer der europäischen Armeen. Tatsächlich begannen die meisten Wasserbauingenieure, unter ihnen auch Tulla, ihre Karriere beim Militär und wechselten erst später in zivile Berufe - doch die Metapher vom Krieg blieb in ihren Köpfen. Im Jahre 1812, als Napoleon seinen Krieg gegen Russland begann, nannte Tulla seinen Rheinplan einen "Generalplan" zur Verteidigung gegen "Angriffe" durch den Rhein. Später, 1825, hat ein deutscher Offizieller das Tullaprojekt als "Kriegsstrategie" gegen Rheinhochwasser gepriesen. Die Kriegsmetaphorik spricht Bände. Aufklärung und Revolution So wie die Renaissance und die Aufklärung bei den Projekten von Fluss"korrekturen" Pate stand, stand die Idee eines "internationalen Flusses" in der Tradition der Französischen Revolution. Als die französischen Truppen 1792 die Kontrolle über den Rhein übernahmen, haben sie die über Jahrhunderte gewachsenen politischen Strukturen augenblicklich überformt und verändert. Mit der Zeit lösten sich die alten Kleinstaaten auf. Baden, Württemberg, Hessen, Nassau, Berg, Westfalen und das Rheinland gerieten direkt oder indirekt unter französische Kontrolle. Nach Nappleons Niederlage entschied sich der Wiener Kongress 1815 gegen eine Wiedereinsetzung der Kleinstaaten. Die Logik war recht einfach: Die Rückkehr zur Kleinstaaterei hätte eine Rheinbegradigung unmöglich gemacht. Auch die wirtschaftlichen Folgen der Französischen Revolution war enorm, vor allem was die Einführung einer liberalen Handelspolitik betraf. Indem sie der Internationalisierung des Rheins zustimmten, akzeptierten die Diplomaten in Wien ein wesentliches Anliegen der Französischen Revolution, den Freihandel. "Die früheren Beschränkungen für die Rheinschifffahrt und den Handel stehen in einem Widerspruch mit dem Naturgesetz", heißt es in einem Dekret des französischen Regierungsrats vom 16. November 1792. "Der Lauf eines Flusses ist ein kollektives Gut, das keinem einzelnen gehört, weil es alle Anrainer des Flusses ernährt." Die Diplomaten in Wien orientierten sich auch an der Convention de l'Octroi, einem Vertrag zwischen dem revolutionären Frankreich und seinen deutschen Satellittenstaaten aus dem Jahr 1804, in dem die vereinheitlichten Handelsregeln festgelegt waren. Und der Magistrat du Rhin, eine napoleonische Institution, die 1808 gegründet wurde, diente als Modell für die Gründung der Rheinkommission. Die Technisierung des Rheins Flüsse kann man aus recht unterschiedlichen Perspektiven betrachten: Als Strich in der Landschaft, als Adern eines Wassersystems, als Arterie eines biologischen Lebensraums. Das erste Bild legt nahe, dass ein Fluss vor allem eine Abflussrinne für das Wasser und die Sedimente ist, die es mit sich bringt. Das zweite Bild legt Wert darauf, dass ein Fluss und seine Ufer nicht von seinem Einzugsgebiet getrennt werden. Zu dem gehören auch das Quellgebiet, Auen, Täler, Berge, Zuflüsse, Inseln, das Delta – alles also, was mit diesem Wassersystem zusammenhängt. Das dritte Bild aber beinhaltet noch mehr, weil es davon ausgeht, dass Flüsse an der Schnittstelle von physikalisch-chemischen und von biologischen Welten liegen. Sie stellen einen biologischen Raum zur Verfügung, der von Fischen, Schnecken, Vögeln, Bäumen, Menschen gleichermaßen bewohnt wird. Die Ingenieure des Rheins, geschult in den Traditionen der Aufklärung und des Wasserbaus, betrachteten die Flüsse dagegen mit Scheuklappen: Für sie waren sie Abflussrinnen für Wasser und Geschiebe. Als sie die Flüsse auszubauen begannnen, dachten sie nicht an die Lebensräume, sondern an die nötige Technik. Doch die Geomorphologie des Rheins und seine Umwelt sind zu verschieden, als dass sie als ein einziges Ökosystem betrachtet werden können. Wissenschaftler schlugen daher immer wieder vor, den Rhein in zwei Abschnitte zu teilen, ein jeder von ihnen mit eigenen Ökosystemen. Der alpine Rhein beinhaltet das System des Alpenrheins und seiner Zuflüsse, das Aare-System und den Hochrhein. Forellen und Äschen sind die vorherrschenden Fischarten, bei den Bäumen dominieren Erlen und Weiden. Die technische Bändigung dieses Abschnitts begann mit dem Bau von Wasserkraftwerken und Hochwasserschutz. Der nicht alpine Teil des Rheins besteht aus dem Oberrhein, dem Mittelrheintal und dem Niederrhein – allesamt Abschnitte also, die schiffbar sind. Hier leben Barben, Brassen und Flundern, an den Ufern stehen Eichen und Ulmen. Betrachtet man die Technisierung des Rheins auf diesen Abschnitten treten die negativen Auswirkungen für Flora und Fauna besonders deutlich zu Tage. Das betrifft sowohl das Delta in den Niederlanden, den Niederrhein und das Mittelrheintal in Deutschland sowie den Oberrhein zwischen Deutschland und Frankreich. Wasserbau in den Niederlanden Die wasserbaulichen Projekte im Delta wurden und werden vor allem unter der Ägide der Niederlande betrieben. Der Abfluss des Wassers im Rheindelta hatte, so sahen es die Ingenieure, zwei natürliche Fehler: Das Bett war zu flach und eben, um die Sedimente zu transportieren, und die vielen Mündungen waren zu schmal, um das Wasser bei hohen Wasserständen durchzuleiten. Das größte Problem war der Zusammenfluss der Waal, dem wichtigsten Mündungsarm des Rheins, und der Maas in Heerewaarden und in Loevestein. Wenn die Waal viel Wasser mit sich brachte, und das war im Sommer häufig der Fall, war der Rückstau in die Maas so groß, dass sie regelmäßig über ihre Ufer trat. Ähnlich problematisch war der schmale Flusslauf zwischen Rotterdam und der Nordsee, der den Abfluss minderte und keine größeren Schiffe auf der Waal zuließ. Das niederländische Ministerium für Öffentliche Angelegenheiten und Wassermanagement koordinierte schließlich alle Wasserbauarbeiten. Das erste Unternehmen, das so genannte "Merwede Projekt" von 1850 bis 1916, konzentrierte sich auf den Abschnitt unterhalb des Zusammenflusses von Waal und Maas zwischen Gorinchem und Dordrecht. Die Arbeiten begannen mit dem Bau eines neuen Wasserbetts, der "Nieuwe Merwede", am mittleren Abschnitt des gleichnamigen Flusses, der in seinem natürlichen Zustand eher einer Abfolge von Bächen als einem Fluss glich. Das neue Bett versorgte die Waal und die Maas mit einem tieferen und breiteren Zugang zum Meer, auch Hochwasserschutz und Schifffahrt profitierten. Der nächste Schritt war der Abschnitt unterhalb der Nieuwe Merwede, die auch als Boven Merwede bekannt war. Ihr Bett war vom gemeinsamen Lauf von Waal und Maas so weit entfernt, dass während der Niedrigwasserperioden immer wieder Sandbänke auftauchten. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, haben die Niederländer ein neues Mündungssystem für die Maas geschaffen – die Bergse Maas – die den Abfluss regulierte und einen neuen Wasserweg zur Nordsee über Hollandsch Diep eröffnete. Zur gleichen Zeit, von 1860 bis 1872, starteten holländische Ingenieure das "Nieuwe Waterweg Projekt". Ziel war es, den 35 Kilometer langen Abschnitt der Waal zwischen Rotterdam und der Nordsee zu kanalisieren. Die Wasserbauer gruben einen Graben durch das Hoek van Holland, dämmten das alte Flussbett ein und ließen das Wasser schließlich durch die neue Waalmündung rauschen. Anschließend wurde das neue Bett ausgebaggert, um so die Voraussetzungen für den Aufstieg Rotterdams zur größten Hafenstadt Europas zu schaffen. Deutscher und französischer Ausbau Der Ausbau des Mittelrheintals und des Niederrheins auf der Strecke von Bingen bis Pannerden war ein Werk Preußens. Es begann 1851 mit der Gründung der Rheinstrombauverwaltung in Koblenz. Die wichtigste technische Herausforderung am Niederrhein war die Verbesserung der Schiffbarkeit durch die Schaffung eines durchschnittlichen Abflusses bei gleichbleibender Strömung. Eine Abladetiefe von mindestens zwei Metern war für die Strecke von Bingen nach Sankt Goar vorgesehen, zwischen Sankt Goar und Köln wurden 2,50 Meter angestrebt, bis Pannerden sollten es drei Meter sein. Um das Ziel zu erreichen, musste der Fluss verengt werden: Zwischen Bingen und Oberwesel durfte der Rhein nur noch 90 Meter breit sein, von Oberwesel nach Sankt Goar 120 Meter und 150 Meter von Sankt Goar bis zur niederländischen Grenze. Am Niederrhein gab es damals eine Anzahl von Mäandern, also begannen die Wasserbauingenieure die Schleifen abzuschneiden, um den Lauf des Stromes abzukürzen und einzutiefen. Die Entfernung zwischen Bonn und Pannerden wurde um 23 Kilometer verringert. Inseln wurden abgegraben, ebenso Sandbänke und andere Hindernisse. Die Ufer wurden befestigt, bald entstanden die ersten Häfen. Der Ausbau des Oberrheins von Basel nach Bingen vollzog sich in drei verschiedenen Etappen, zwei davon unter deutscher und eine unter französischer Regie. Die erste, das Tulla-Projekt von 1817 bis 1876, galt vor allem dem Hochwasserschutz. Es verlegte den Oberrhein in ein neues Bett mit einer einheitlichen Breite: Sie betrug 200 Meter von Basel nach Straßburg und 230-250 Meter von Straßburg bis Mannheim. Insgesamt wurde der Lauf des Stroms um 82 Kilometer verkürzt. Davon entfielen 31 Kilometer von Basel bis zur Mündung der Lauter, und 51 Kilometer auf dem Weg bis Mannheim. In diesem Zusammenhang verschwanden auch über zweitausend Inseln. Das Tulla-Projekt hatte einen entscheidenden Nachteil. Es führte zu einer deutlichen Erosion des Flussbettes – so sehr, dass dieser Abschnitt des Rheins bald weniger schiffbar war als vor Beginn der Rheinkorrektur. Spätere Arbeiten im Rahmen des so genannten "Honsell-Rehbock-Projekts" von 1906 bis 1936 stellten sich diesem Problem, in dem sie den Rhein so umbauten, dass er an die niederländischen und preußischen Rheinprojekte anschließen konnte. Ziel war es nun, ein einheitliches Flussbett von zwei Metern Tiefe und 88 Metern Breite zu schaffen, um eine ganzjährige Schiffbarkeit von Mannheim bis Interner Link: Basel gewährleisten zu können. Dazu brauchte man Deiche, Dämme und Querwerke, gleichzeitig wurden die Ufer und Hafenanlagen befestigt. Nicht einfach war es dabei, den Wasserstand zu halten, weil es am Oberhein, anders als am Niederhein, durch den Zufluss aus den Alpen zu starken Schwankungen kam. Dennoch führte das "Honsell-Rehbock-Projekt" dazu, dass der Rhein in den zwanziger Jahren auch für größere Schiffe unterhalb von Mannheim, den Endpunkt der Rheinschifffahrt während des 19. Jahrhunderts, bis zu den neuen Häfen von Karlsruhe und Kehl/Straßburg befahrbar war. Die Hindernisse für die Schifffahrt von Straßburg bis Basel entlang der badisch-elsäßischen Grenze zu überwinden, gestaltete sich weitaus schwieriger. Ein Problem waren die Isteiner Stromschnellen, ein ungewolltes Nebenprodukt der Tulla-Regulierung. Sie zu umgehen hätte ein ausgeklügeltes Schleusensystem erfordert. Ein ähnlich gelagertes Problem war der Grundwasserstand in Baden. Jegliche Regulierung des Flussbetts hätte das Grundwasser rund um Baden zwangsläufig abgesenkt und Folgen für die Landwirtschaft gehabt. Die deutschen Behörden hatten es nicht eilig, den Rhein bis Basel schiffbar zu machen und dem Basler Hafen damit den Zugang zur Nordsee zu öffnen, vor allem nicht um den Preis einer Grundwasserabsenkung in Baden. Die Arbeiten an diesem Abschnitt begannen erst nach dem Ersten Weltkrieg, als Frankreich an den Rhein zurückkehrte und seinerseits mit dem Bau des Grand Canal d'Alsace (1921-1959) begann. Mit dem Kanal sollte möglichst viel Wasser vom Ursprungsbett des Rheins abgeleitet und schließlich parallel zum Strom durch eine Reihe von Wasserkraftwerken geleitet werden. Neben der Produktion von Energie aus Wasserkraft ermöglichte der Kanal die ganzjährige Befahrung auf der Strecke von Basel, Mulhouse, Colmar und Straßburg. Aus der Perspektive der Renaissance, der Aufklärung und der ihres Denkens verbundenen Ingenieure verwandelten die niederländischen, deutschen und französischen Rheinprojekte den Fluss in eine Art "Ideal-Strom": eine betonierte Röhre, die das Wasser gleichmäßig und immer vorhersehbar abwärts beförderte. Ökologisch betrachtet, bedeutete das neue Bett des Rheins den Verlust an natürlichen Begebenheiten und damit auch der Artenvielfalt Die Ökonomie der Umweltverschmutzung Wir wissen inzwischen, dass die Mercator-Perspektive – ausgehend von der berühmten zweidimensionalen Weltkarte, die Gerhard Mercator 1569 geschaffen hatte – Europa in den Vordergrund stellte und den Rest der Welt an den Rand drängte. Als "Rheinkarte" aber ist sie ideal. Sie stellt nämlich Duisburg, die Geburtsstadt Mercators, und Rotterdam ins Zentrum – und mit ihnen den am meisten profitablen Abschnitt des Stroms. Zu Mercators Zeiten waren Holz, Fisch und Wein die wichtigsten Güter des Rheinhandels. Seit dem 19. Jahrhundert dominieren Kohle und Chemie. Mehr als jede andere Industrie hat der Kohleabbau die natürliche Beschaffenheit des Rheinwassers beeinflusst – nicht nur, was das Tempo und das Ausmaß des Wasserbaus und der Regulierungsarbeiten betraf, sondern auch durch die Urbanisierung und die beginnende Wasserverschmutzung. Besonders betroffen war der Niederrhein und einer seiner Zuflüsse, die Emscher. Die floss durch die preußisch kontrollierten Provinzen Rheinland und Westfalen, das spätere Ruhrgebiet – und damit durch Europas größte Kohlenvorkommen. Kohleabbau, das bedeutete die Anlage von Gruben und Schächten, die Devastierung der Landschaft und die Bildung von stehenden Gewässern, die zu Herden für durch Wasser übertragbaren Krankheiten wurden. Das Reinigen der Kohle und die Produktion von Koks führten auch zur Eintragung von Phenol und anderen Giftstoffen in die Emscher und den Niederrhein. Die Emscher, ein kurzer Fluss von nur 109 Kilometern Länge mit einem Einzugsgebiet von 850 Quadratkilometern, mäandert mitten durch die westfälischen Kohlegebiete, was sie zum unvermeidlichen Ziel für den Eintrag industrieller Abwässer machte. Im frühen 20. Jahrhundert entluden 150 Kohleminen, hundert weitere Fabriken und 1,5 Millionen Menschen ihr Abwasser in die Emscher. Nur die Hälfte ihres Wassers stammte damals von natürlichen Zuflüssen, der Rest, jährlich etwa hundert Millionen Kubikmeter, stammte zu 89 Prozent aus industriellen Abwässern und zu elf Prozent aus der städtischen Kanalisation. Die preußische Regierung reagierte auf die zunehmende Zerstörung der Emscher mit der Gründung der halbstaatlichen und halbprivaten Emschergenossenschaft, der alle Gemeinden angehörten, die ihre Abwässer in die Emscher leiteten sowie ihr Trinkwasser aus ihr bezogen. Hauptanliegen der Genossenschaft war es, die Politik der Wasserversorger und Wassernutzer aufeinander abzustimmen. Tatsächlich aber behielten die umweltschädlichen Industrien die Oberhand. Sie sorgten dafür, dass sie über die Genossenschaft ihren Abfall billig entsorgen konnten. So wurde die Emscher mehr und mehr zu einem oberirdischen Abflusskanal. Ihre Länge wurde um 20 Kilometer verkürzt, was ihr ein steileres Gefälle und damit einen schnelleren Lauf verschaffte. Um das Durchsickern zu vermeiden, wurden ihr Bett und ihre Ufer betoniert. Spezielle Pumpen und Drainagesysteme sorgten dafür, dass die stehenden Gewässer zurück in die Emscher geführt wurden. So vertrat die Genossenschaft bald die Philosophie, dass es die billigste Art der Entsorgung sei, den Schadstoffen einen Kanal zu bauen und sie damit so schnell wie möglich emscherabwärts und in den Rhein zu fluten. "Der Rhein ist in der Lage, weit mehr Abwasser zu verkraften, als bislang angenommen", verteidigten die Wasserexperten der Genossenschaft 1912 ihre Politik der Umweltverschmutzung. Die Opferung des Rheins Die Praxis, den Rhein als Entsorgung für industrielle Abwässer zu benutzen, wurde bald auch von der chemischen Industrie übernommen, als sie in den 1860er Jahren mit dem Bau ihrer Fabriken am Rhein begann. "Geopferte Abschnitte", schrieb 1901 Curt Weigelt, damals Sprecher der Chemischen Industrie, "sind Abschnitte an einem Fluss, an denen Umweltverschmutzung erlaubt werden sollte, weil die Industrie sonst keine Möglichkeit hätte, ihre Abwässer loszuwerden ohne Jobs und Profite in Gefahr zu bringen und weil lokale Bedingungen eine Reinigung des Wassers in Klärwerken nicht ermöglichen." Freilich unterschied sich die chemische Industrie vom Kohlebergbau sowohl in ihrer geografischen Ausdehnung als auch in ihren Produktionskapazitäten. Anders als der Bergbau war die chemische Industrie nicht auf die Kohlevorkommen im Ruhrgebiet und an der Emscher angewiesen. Sie konnte sich überall am Rhein zwischen der Schweiz und den Niederlanden niederlassen – vorausgesetzt, Kohle, Wasserkraft und Öl waren verfügbar. So vergrößerte sich bald die Anzahl jener Abschnitte des Rheins, die aus der Sicht der Industrie geopfert werden mussten. Darüber hinaus sorgte die breite Produktpalette der chemischen Industrie – Säuren, Basen, Farbstoffe, Dünger, Sprengstoffe, pharmazeutische Produkte, Filme und Petrochemie – dafür, dass dass die Anzahl der Giftstoffe nahezu ins Unermessliche stieg. Das Rheinbecken war ein idealer Standort für die chemische Industrie weltweit und auch für verwandte Industrien wie Düngemittelindustrie und Zellulose, weil der Fluss unablässig Frischwasser für die Produktion, für Erwärmung und Kühlung lieferte und darüber hinaus ein hervorragendes Transportsystem hat. Schwefel, Pyrit, Salz, Kalk, Phosphor und andere wichtige Rohstoffe waren entweder vor Ort verfügbar oder konnten problemlos auf Rheinschiffen herangeschafft werden. Die westfälische Kohle sorgte für preiswerten Brennstoff und ein Überangebot an Teer, den Hauptbestandteil der Farbenherstellung. Säure-, Soda- und Fabenunternehmen suchten darüberhinaus die Nähe ihrer wichtigsten Abnehmer, die traditionellen Textilstandorte an der Wupper, an der Ruhr und am Rhein. Pottasche aus dem Elsass und Phosphatschlacke aus Lothringen machten den Rhein zum Zentrum der Düngemittelindustrie. Zellulosefabriken fanden hier das nötige Holz, Natronlauge und Wasser, das sie brauchten, um Fasern und Papier herzustellen. Die drei erfolgreichsten chemischen Unternehmen – BASF, Bayer und Hoechst – wurden allesamt 1860 mit dem Beginn der künstlichen Farbenherstellung gegründet. Sie ließen sich an allen Abschnitten des "deutschen Rheins" an, also am Oberrhein, am Mittelrhein und am Niederrhein nieder sowie am Neckar, am Main und an der Wupper. Die erfolgreichsten Schweizer Firmen – Ciba, Geigy, Sandoz und Hoffmann-La Roche – konzentrierten sich auf dem Oberrhein in der Nähe von Basel, dem Endpunkt der Rheinschifffahrt. Auch sie begannen mit der Farbenherstellung und spezialisierten sich dann auf die Pharmaproduktion und andere Branchen. Die chemische Industrie im Elsass, ebenfalls am Oberrhein, begann, als es 1871 unter deutsche Kontrolle kam. Die Deutschen konzentrierten sich auf die Pottasche-Dünger-Produktion, indem sie die lokalen Chlorkalium-Minen ausbeuteten. Frankreich knüpfte später an diese Tradition an. Die niederländische Industrie, die sich im Rheindelta und rund um Interner Link: Rotterdam niederließ, entwickelte sich erst nach 1945, als Europas chemische Industrie damit begann, Olefin anstatt Kohleteer als wichtigsten Rohstoff zu verarbeiten. Dass die Verschmutzung des Rheins im Ruhrgebiet in großem Maßstab toleriert wurde, war schon problematisch genug. Aber die fortgesetzte Verunreinigung durch die chemische Industrie rheinaufwärts und rheinabwärts führte schließlich zu einer Umweltkatastrophe. In den 1960er Jahren, als die Internationale Kommission zum Schutz des Rheins die ersten Maßnahmen zur Sanierung des Flusses unternahm, war die Wasserqualität zwischen Basel und Rotterdam bereits so schlecht, dass der ganze Rhein als "geopferter Abschnitt" angesehen werden musste – mehr noch sogar als zuvor die Emscher. Eine Studie der Abwasserwirtschaft aus den 70er Jahren ergab, dass nahezu die Hälfte der Gifte von der chemischen Industrie stammte, und der größte Teil der Schadstoffe auf eine Handvoll Verursacher zurückgeführt werden konnte: die Pottasche-Minen im Elsass, die Kohle- und Chemiefabriken am Ober- und Niederrhein sowie die städtischen Ballungszentren Basel und Straßburg. Das despotische Regime Die Analyse von Karl Wittfogel über den Zusammenhang zwischen Bewässerungspolitik und sozialer Macht im alten Ägypten, in China und Indien ist inzwischen bekannt. Wachsende Bevölkerung und anhaltend prekäre Wasserversorgung, so seine Schlussfolgerung, führten zur Entwicklung der ersten "hydraulischen Gesellschaften", zu denen der Bau von Dämmen, Kanälen und Bewässerungsanlagen gehörten und zu entwickelten agro-urbanen Zivilisationen, in denen neben den jeweiligen Herrschern die "Agro-Bürokraten" den Ton angaben. Seine wichtigste These, dass diese Frühformen der "orientalischen Despotie" die heutige moderne asiatische Politik erklären, wurde wiederholt angefochten. Sein Begriff der "hydraulischen Gesellschaften" aber macht durchaus Sinn, wenn wir heute über den Rhein sprechen. Auch so etwas wie "orientalische Despotie" kam zu Wittfogels Lebzeiten über den Rhein. Die Interner Link: Rheinkommission verkörperte dabei die oberste Ebene des "despotischen" Regimes, in dem sie alle Rheinprojekte alleine einem Ziel unterordnete: Maximierung der Leistungsfähigkeit des Rheins als Wasserstraße ungeachtet der Einflüsse auf den Strom als Lebensraum. Entwürfe für Brücken, Kanäle, den Uferausbau, Häfen: Alles, was mit der Entwicklung des Rheins zur Wasserautobahn zusammenhing, wurde unkritisch durchgewunken. Alles aber, was mit der Fischerei zusammenhing, wurde an die jeweiligen Fischereikommissionen der Regierungen weitergeleitet, als ob es keinen Zusammenhang zwischen den Wasserbauprojekten und den Fischbeständen gäbe. Die niederländische Vorherrschaft über das Delta, Preußens Hegemonie in Westfalen und Frankreich als Herrschaft im Elsass führten zu einem mittelschweren despotischen Regime über den schiffbaren Rhein von Basel bis Rotterdam. Die wirtschaftlichen Interessen herrschten über die Umweltinteressen. Deutschland ging noch einen Schritt weiter, als es an Emscher und später auch am Rhein Wasserverbände gründete – und die Flüsse in die Hände von lokalen Despoten gab, unter denen die Industrie schalten und walten konnte wie sie wollte. Nicht die Bürger, sondern diese Verbände bestimmten darüber, was mit dem Wasser geschah. Industrielle, und nicht die Landwirte, bekamen den größten Teil des Wassers. Ingenieure, nicht Fischer, bestimmten darüber, was mit den Fischbeständen geschah. "Minimale Reinigung bei minimalen Kosten" lautete die unausgesprochene Devise – und führte dazu, dass die Vorfluter dazu genutzt wurden, um das Abwasser und andere Schadstoffe aus den Industriegebieten in den Rhein zu leiten so schnell und effizient es ging. Die allem zugrundeliegende – und falsche – Annahme war, dass der Rhein mit seiner Größe und seiner Wassermenge all den Kohlestaub, die Phenole, Chloride, das Arsen schon verkraften würde. Die industrielle Lobby und die Vertreter der Binnenschifffahrt haben inzwischen ein neues "despotisches Regime" implementiert – die "Tyrannei der unwiderruflichen Vergangenheit". Heute würde nicht einmal der altmodischste Ingenieur und Wasserbauen einen Fluss in der Art und Weise traktieren, wie es in der Vergangenheit der Fall war. Vielmehr, heißt es, hätten die Ingenieure die Herausforderung angenommen, bei Wasserbauprojekten auch die Bedeutung von Lebensräumen zu erkennen und sie zu schützen. Die alten Grundsätze des Wasserbaus – möglichst gerade, möglichst schnell, möglichst kanalisiert – sind in Misskredit geraten. Sogar ganze Kanäle werden heute unter ökologischen Gesichtspunkten gebaut. Der neue Rhein-Main-Donakanal schlängelt sich, aller Künstlichkeit des Wasserlaufs zum Trotz, durch das Altmühltal eher wie eine Fluss als wie ein Kanal. Statt eine klare Linie durch die Landschaft zu ziehen, folgten die Wasserbauingenieure den Konturen der hügeligen Landschaft, fügten künstliche Altarme und Lebensräume hinzu, um die Wanderung von Fischen zu ermöglichen. Sogar künstliche Zuflüsse wurden geschaffen, um die Dynamik eines natürlichen Wassersystems zu simulieren. Tatsächlich ähnelt der Rhein-Main-Donaukanal eher einem Fluss als die drei Flüsse, die er verbindet. Ein Neubau ist eben einfacher zu realisieren als all das zu revidieren, was in der Vergangenheit geschehen ist. Denn noch immer sind die Irrtümer der Aufklärung und der Renaissance dem Rhein in Gestalt von befestigten Ufern, Staustufen, Elektrizitätswerken eingeschrieben. Sie zu entfernen, hieße die Städte, Dörfer, Straßen und Industrien infrage zu stellen, die sich auf den Flächen des ehemaligen Flusslaufs angesiedelt haben. Einige landwirtschaftliche Flächen kann man zwar renaturieren, und man hat es auch getan, aber den Rhein als ganzes wird man nicht mehr in den Zustand bringen können, in dem er vor zweihundert Jahren gewesen ist. Die Grenzen der Renaturierung Mit dem Nieuwe Waterweg wurde ein neuer Zugang Rotterdams zur Nordsee geschaffen. (M. M. Minderhoud; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de Ein Blick auf die aktuellen Renaturierungsprojekte zeigt, wie begrenzt diese im Hinblick auf die ambitionierten Ziele sind. Das vielleicht bekannteste Projekt "Lachs 2000" war mit dem Anspruch angetreten, die gesamte Population des Lachses im Rhein im Jahre 2000 wiederherzustellen. Die dafür nötigen Kiesbette finden wir heute aber nur in einer Handvoll Zuflüssen, zum Beispiel in der Sieg, Bröl, Lahn, Saynbach, Bruche, Ill und Lauter, denn diese Abschnitte des Stroms waren zu klein, um industrialisiert zu werden. Selbst die größten Optimisten räumen heute ein, dass die Population nicht mehr als 20.000 Lachse pro Jahr erreichen wird, ein Bruchteil des Bestandes, der früher einmal im Rhein lebte. Ein anderes Renaturierungsprojekt war der "Stork-Plan", der sich auf die Wiederherstellung einiger weniger Abschnitte des ehemals alluvialen Waldbestandes und der Inseln im holländischen Delta konzentrierte, vor allem in der Interner Link: Millinger Waard, in Sint Andries, Blauwe Kamer und Duurse Waarden an der Waal. Allerdings kam die niederländische Regierung schnell zu der Einsicht, dass größere Maßnahmen im Grunde unmöglich sind ohne das Drainagesystem im Delta und Ackerland und Bauland aufzugeben. Ähnlich ging es dem Aktionsplan zum Hochwasserschutz, der 1998 auf den Weg gebracht wurde, und am Oberrhein so viel Überflutungs- und Polderflächen wie nur möglich schaffen sollte. Von Anbeginn aber stand fest, dass nur eine geringe Menge der ehemaligen Auen renaturiert werden konnten. Es ist einfach zuviel gebaut worden am Oberrhein. Insgesamt betrachtet war der größte Schaden, den der Rhein bei seinem Umbau zur Wasserstraße und zu einem Industriekanal genommen hat, die Umweltverschmutzung. Im Zuge des Wiener Kongresses und im Sinne des Freihandels haben alle Anrainerstaaten dieser Transformation zugestimmt. Es machte damals Sinn, den Kleinstaaten den Zugriff auf den Strom zu entziehen und ihn unter ein globales Regime zu stellen. Unter der Ägide der Rheinkommission hatte die Binnenschifffahrt jährliche Wachstumserfolge zu vermelden. Der eigentliche Erfolg der Kommission aber bestand daran, nationale Eigeninteressen dem Interesse aller unterzuordnen – und so den Weg zu einem Interner Link: gemeinschaftlichen Wirtschaftsraum und der Europäischen Union zu ebnen. Den Rhein in die Hände der Eurokraten zu geben, war dennoch ein faustischer Akt. Jede neue Erfolgsmeldung der Rheinschifffahrt wurde mit dem Verlust von natürlichen Lebensräumen bezahlt. Indem es keinerlei Einschränkungen gegenüber dem wirtschaftlichen Wachstum gab, hinterließ das Wiener Regime von 1815 den Regierungen der heutigen EU-Staaten ein zerstörerisches Erbe. Chronologie 1815: Auf dem Wiener Kongress wird der Rhein internationalisiert. 1817: Der badische Ingenieur Johann Gottfried Tulla beginnt mit seiner "Rheinkorrektur". Mit diesem Hochwasserschutzprojekt wird der Lauf der Oberrheins begradigt. 1831: Die internationale Rheinkommission nimmt ihre Arbeit auf. 1860er Jahre: Gründung von BASF, Bayer und Hoechst. Vor der chemischen Industrie waren die Abwasser des Kohlebergbaus über die Emscher in den Rhein gelangt. 1872: Die Niederlande graben mit dem "Nieuwe Waterweg" einen Kanal in die Nordsee, der den Aufschwung Rotterdams zum größten Hafen Europas ermöglicht. 1921: Frankreich beginnt mit dem Bau des Grand Canal d'Alsace, dem Rheinseitenkanal. Der Rhein ist nun bis Basel schiffbar. 1998: Aktionsplan zum Hochwasserschutz durch die Anlage neuer Auen am Oberrhein. Der Rhein vor der Korrektur durch Tulla auf einer Karte von 1850. (Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de Als JPG herunterladen (211.9kB) Mit dem Nieuwe Waterweg wurde ein neuer Zugang Rotterdams zur Nordsee geschaffen. (M. M. Minderhoud; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-12-13T00:00:00
2012-08-06T00:00:00
2021-12-13T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europaeische-geschichte/geschichte-im-fluss/142042/der-geopferte-rhein/
Es begann mit dem Ausbau zur Wasserstraße. Dann folgte der Kohlebergbau. Am Ende stand die chemische Industrie. In nur zweihundert Jahren ist der Rhein in den Niederlanden, Deutschland und Frankreich zur Kloake geworden. Daran werden auch die zahlrei
[ "Rhein", "Fluss", "Umweltschutz", "Industrie", "Wirtschaft", "Verschmutzung", "Frankreich", "Niederlande", "Rotterdam" ]
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Chronik: 12. – 31. Oktober 2020 | Russland-Analysen | bpb.de
12.10.2020 Die Europäische Union verlängert die gegen Russland wegen des Einsatzes und der Verbreitung chemischer Waffen verhängten Sanktionen bis zum 16. Oktober 2021. Die Sanktionen betreffen insgesamt neun Personen. Vier von ihnen sollen in den Anschlag auf den Ex-Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Julija in Salisbury im März 2018 verwickelt gewesen sein. Fünf weitere Personen sollen in Verbindung mit syrischen Behörden stehen. Die Sanktionen sehen ein Einreiseverbot in die EU sowie das Einfrieren von Vermögenswerten vor. 12.10.2020 Als Reaktion auf die Ausweisung zweier russischer Diplomaten aus Bulgarien am 23. September 2020 weist Russland ebenfalls zwei Mitarbeitende der bulgarischen Botschaft in Moskau aus. Nach Angaben der bulgarischen Staatsanwaltschaft hatten sich zwei russische Diplomaten der Spionage schuldig gemacht. Sie sollen seit 2016 Informationen über die bulgarische Armee an Russland weitergegeben haben. 12.10.2020 Der russische Arbeitsminister Anton Kotjakow gibt bekannt, dass laut offizieller Zahlen etwa 13,5 Prozent der russischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben. Dies entspricht etwa 20 Millionen Menschen. Im ersten Quartal 2020 hatte die Armutsquote noch bei 12,6 Prozent gelegen. 13.10.2020 Auch im Südwesten der Halbinsel Kamtschatka im Osten Russlands werden tote Meerestiere angespült. Ende September war bekannt geworden, dass hunderte tote Tiere im Südosten Kamtschatkas angespült worden waren. SurferInnen hatten über Haut- und Augenreizungen geklagt. Die Ursache ist bisher unklar. ForscherInnen gehen davon aus, dass ein Befall mit giftigen Mikroalgen die wahrscheinlichste Erklärung für das Phänomen ist. 13.10.2020 Bei einer Schießerei in der tschetschenischen Hauptstadt Grosnyj kommen drei Mitglieder einer Spezialeinheit ums Leben. Laut Angaben des Nationalen Anti-Terrorismus-Komitees soll die Schießerei während einer Anti-Terror-Operation stattgefunden haben. Auch vier Untergrundkämpfende sollen getötet worden sein. Diese sollen laut Angaben des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow zuvor aus dem Ausland eingereist sein und Terroranschläge geplant haben. Nähere Angaben wurden nicht gemacht. 14.10.2020 Das russische Bundesamt für Fischerei ("Rosrybolowstwo") teilt mit, dass aufgrund der bei einer Tochterfirma von "Nornickel" in der Nähe von Norilsk aufgetretenen Ölpest Ende Mai 2020 ein Schaden in Höhe von etwa 3,6 Milliarden Rubel (etwa 39,4 Millionen Euro) für die Fischerei zu beklagen sei. Vor allem Fischarten, die auf der Roten Liste der bedrohten Tierarten stehen, seien betroffen. Die Erholung der Bestände wird nach Einschätzung von "Rosrybolowstwo" rund 15 Jahre dauern. 14.10.2020 Der russische Oligarch und Vertraute des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Jewgenij Prisgoshin, reicht Klage gegen die russischen Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj und Ljubow Sobol ein. Diese hatten sich im Juli in den Sozialen Netzwerken über ein Urteil des Moskauer Stadtgerichts gegen sie und den von Nawalnyj gegründeten "Fonds zur Korruptionsbekämpfung" (FBK) geäußert. Damals waren sie zu Schadenersatzzahlungen wegen Verleumdung verurteilt worden. Im Jahr 2019 hatte der FBK eine Reihe von Durchfallerkrankungen an Schulen in der Oblast Moskau in Zusammenhang mit der in Prigoshins Besitz befindlichen Cateringfirma "Concord Catering" gebracht. Prigoshin fordert nun erneut Schadenersatz in Höhe von jeweils 5 Millionen Rubel sowie die Entfernung das Urteil betreffender Kommentare aus den Sozialen Medien. 14.10.2020 Der russische Präsident Wladimir Putin kündigt die Aufhebung von Sanktionen gegen drei ukrainische Unternehmen an. Russland hatte im Jahr 2014 als Reaktion auf die von der Ukraine im Zusammenhang mit dem Krieg im Osten der Ukraine verhängten Sanktionen ebenfalls Strafmaßnahmen verkündet und diese seitdem regelmäßig erweitert. Nun sollen die ukrainischen Firmen "Brazlaw", "Barskij maschinostroitelnyj sawod" und "Rubeshanskij kartonnyj kombinat" wieder auf dem russischen Markt zugelassen werden. 14.10.2020 Die russische Staatsduma verabschiedet ein Gesetz, das die Erhöhung der Mindestrente für EinwohnerInnen Moskaus, die seit weniger als zehn Jahren ihren ständigen Wohnsitz in der Hauptstadt haben, vorsieht. Damit soll die Mindestrente von zurzeit 12.578 Rubel (etwa 137 Euro) auf dann 13.496 Rubel (etwa 147 Euro) im Monat steigen. 14.10.2020 Der russische Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj, der sich nach einem Giftanschlag im August 2020 zur Behandlung in Deutschland befindet, gibt bekannt, dass seine Behandlung in der Berliner Klinik "Charité" 49.900 Euro gekostet habe. Die Kosten seien von dem Unternehmer Jewgenij Tschiwarkin, dem Wirtschaftswissenschaftler Sergej Aleksaschenko und dem IT-Spezialisten Roman Iwanow getragen worden. Seinen Transport aus der Klinik in Omsk nach Berlin habe der Unternehmer Boris Zimin finanziert. Die Kosten hätten sich auf 79.000 Euro belaufen, gab Nawalnyj bekannt. Nawalnyj hatte in einem Interview mit dem bekannten russischen Blogger Jurij Dud mitgeteilt, er sei auf der Suche nach Geldgebenden zur Finanzierung seiner Behandlung. Voraussetzung sei, dass diese mit der Veröffentlichung ihrer Namen einverstanden sein müssten. 14.10.2020 Die Russische Geographische Gesellschaft teilt mit, dass die wahrscheinlichste Ursache des massenhaften Tiersterbens vor der Küste Kamtschatkas Ende September 2020 Sauerstoffmangel durch die Ausbreitung giftiger Mikroalgen sei. Es gebe keine Hinweise auf vom Menschen verursachte Verschmutzungen, die mit dem Phänomen in Zusammenhang stehen könnten. 15.10.2020 Der Europäische Rat verkündet Sanktionen gegen sechs russische Staatsbürger sowie ein Unternehmen, die am Giftanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj im August 2020 beteiligt gewesen sein sollen. Folgende Personen sind betroffen: Aleksandr Bortnikow, Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Andrej Jarin, Leiter der innenpolitischen Abteilung des russischen Präsidenten, Sergej Kirijenko, erster stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung, Aleksej Kriworutschko und Pawel Popow, beide stellvertretende Verteidigungsminister, sowie der Präsidialgesandte des Föderalbezirks Sibirien, Sergej Mejailo. Gegen das "Forschungsinstitut für organische Chemie und Technologie" werden ebenfalls Sanktionen verhängt. Es soll den bei dem Anschlag auf Nawalnyj verwendeten Giftstoff "Nowitschok" hergestellt haben. Zu den Maßnahmen gehören unter anderem Einreiseverbote in die EU sowie das Einfrieren von Vermögenswerten. Großbritannien kündigte an, sich den von der EU verkündeten Strafmaßnahmen anzuschließen. 15.10.2020 Die Europäische Union verhängt Sanktionen gegen den Vertrauten des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Jewgenij Prigoshin. Dieser soll an Waffenlieferungen nach Libyen zur Unterstützung der privaten russischen Söldnerarmee "TschWK Wagner" beteiligt gewesen sein. Die "TschWK Wagner" habe wiederholt die gegen Libyen verhängten Waffen-Embargos verletzt. Zu den gegen Prigoshin verhängten Sanktionen gehören unter anderem ein Einreiseverbot sowie das Einfrieren von Vermögenswerten. Großbritannien kündigte an, sich den von der EU verkündeten Strafmaßnahmen anzuschließen. 16.10.2020 Die russische Regierung schätzt, dass die Einwohnerzahl Russlands bis Ende 2020 um 352.500 Menschen zurückgehen wird. Dies geht aus der aktualisierten Version des "Plans zur Erreichung der nationalen Entwicklungsziele" hervor, die heute veröffentlicht wurde. Bis 2024 wird die Einwohnerzahl nach dieser Schätzung sogar um 1,2 Millionen zurückgehen. Noch im August hatten die Schätzungen für 2020 bei einem Rückgang von 158.000 gelegen. 16.10.2020 Die Schweiz erlässt Sanktionen gegen russische Personen und Unternehmen, die am Bau der Krim-Brücke beteiligt waren. Von den Maßnahmen betroffen ist unter anderem Leonid Ryshenkin, stellvertretender Generaldirektor des Unternehmens "Strojgasmontash", das hauptverantwortlich für die Durchführung des Baus war. 17.10.2020 In Chabarowsk findet eine nicht genehmigte Protestaktion zur Unterstützung des am 09. Juli 2020 festgenommenen Ex-Gouverneurs der Region, Sergej Furgal, statt. Offiziellen Angaben zufolge beteiligen sich an der Kundgebung rund 500 Menschen, die Opposition spricht von mindestens 1.000 Teilnehmenden. Die Proteste dauern seit drei Monaten an. In der vergangenen Woche waren die Sicherheitskräfte das erste Mal härter gegen die Demonstrierenden vorgegangen, es gab zahlreiche Festnahmen. 19.10.2020 Der Oberste Gerichtshof der Region Krasnojarsk verurteilt den ehemaligen Bürgermeister der Stadt Norilsk, Rinat Achmetschin, wegen Fahrlässigkeit zu sechs Monaten Strafarbeit. Achmetschin war im Juli zurückgetreten, nachdem das russische Ermittlungskomitee im Zusammenhang mit der von "Nornickel" im Mai verursachten Ölkatastrophe in der Region Ermittlungen gegen ihn eingeleitet hatte. Offiziell wurde sein Rücktritt mit Ungenauigkeiten in den Covid-19-Fallzahlen begründet. 20.10.2020 Die russische Menschenrechtsorganisation "Memorial" reicht Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Der Organisation waren Bußgelder in Höhe von insgesamt 3,7 Millionen Rubel (etwa 40.000 Euro) auferlegt worden, weil zwei regionale Ableger auf ihrer Website nicht auf den Status als "ausländischer Agent" hingewiesen hatten. "Memorial" steht seit 2014 auf der Liste sogenannter "ausländischer Agenten", weil es seine Arbeit unter anderem mit Geldern aus dem Ausland finanziert. 20.10.2020 Der Oligarch und Putin-Vertraute Jewgenij Prigoshin reicht Klage gegen den Oppositionspolitiker Leonid Wolkow ein. Wolkow hatte Prigoshin im Sommer 2018 in Zusammenhang mit dem Tod russischer Journalisten in Zentralafrika gebracht. Diese hatten dort über die private russische Söldnertruppe "TschWK Wagner" recherchiert, deren Finanzierung Prigoshin zugerechnet wird. Prigoshin verlangt 5 Millionen Rubel (etwa 54.000 Euro) Entschädigung für den entstandenen moralischen Schaden. 22.10.2020 Das Moskauer Stadtgericht wandelt das Urteil gegen Schauspieler Michail Jefremow von 8 auf 7,5 Jahre Lagerhaft um. Als mildernden Umstand wertete es die Zahlung einer Entschädigung an die Opfer. Jefremow hatte im Juni 2020 in alkoholisiertem Zustand einen Verkehrsunfall verursacht. Sein Unfallgegner erlag kurze Zeit später seinen Verletzungen. Im September wurde er zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt. 22.10.2020 Der russische Präsident Wladimir Putin betont, er habe im August persönlich bei der Generalstaatsanwaltschaft die Erlaubnis beantragt, den Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj trotz der ihm wegen eines laufenden Verfahrens auferlegten Reisebeschränkungen zur Behandlung nach Deutschland ausreisen zu lassen. Nawalnyj war im August 2020 mit Vergiftungserscheinungen in ein Krankenhaus in Omsk eingeliefert und nach tagelangem Ringen schließlich zur Behandlung in der Berliner Klinik "Charité" nach Deutschland ausgeflogen worden. 23.10.2020 In der Bucht Nachodka in der Oblast Primorje im Fernen Osten Russlands breitet sich ein etwa 35.000 Quadratmeter großer Ölteppich aus. Der Leiter des Labors für marine Ökotoxikologie am Institut für Pazifische Ozeanologie der Russischen Akademie der Wissenschaften in Fern-Ost, Wladimir Rakow, sagte, dass aufgrund der eindämmenden Maßnahmen die Verschmutzung regionaler Natur sei und sich nicht weiter ausbreite. Nach Angaben der Behörden sei der Ursprung der Verschmutzung der Kai der Firma "Transbunker-Primorje" in Nachodka. 23.10.2020 Olga Jegorowa, vorsitzende Richterin des Moskauer Stadtgerichts, tritt von ihrem Posten zurück. Sie war seit 2000 Vorsitzende des Stadtgerichts gewesen. Ihr Nachfolger wird Michail Ptizyn, ehemaliger Vorsitzender des Militärbezirksgerichts im Föderationskreis Südrussland. 26.10.2020 Der ehemalige Gouverneur der Republik Komi, Wjatscheslaw Gajser, wird des Machtmissbrauchs angeklagt. Gajser war von 2010 bis 2015 Gouverneur der Republik. Er soll während seiner Amtszeit den Auftrag zum Bau mehrerer Mehrfamilienhäuser in der Hauptstadt der Republik, Syktywkar, ohne Ausschreibung an einen mit ihm befreundeten Unternehmer vergeben haben. Der Schaden für den städtischen Haushalt beläuft sich nach offiziellen Angaben auf 8,7 Millionen Rubel (etwa 96.000 Euro). Gajser war bereits im Juni 2019 in einem anderen Verfahren zu elf Jahren Lagerhaft und einer Geldstrafe in Höhe von 160 Millionen Rubel (etwa 1,7 Millionen Euro) wegen besonders schweren Betrugs verurteilt worden. Dieses Urteil war im Juli 2020 von einem Kassationsgericht bestätigt worden. 31.10.2020 In Chabarowsk findet eine nicht genehmigte Protestaktion zur Unterstützung des am 9. Juli 2020 festgenommenen Ex-Gouverneurs der Region, Sergej Furgal, statt. Nach offiziellen Angaben nehmen etwa 300 Menschen teil. 31.10.2020 Der russische Ministerpräsident Michail Mischustin unterzeichnet einen Auftrag zur Bereitstellung von Laborausstattung für die Covid-19-Diagnostik in Höhe von einer Milliarde Rubel (etwa 10,8 Millionen Euro). Mit den Geldern sollen die russischen Regionen bei der Einrichtung von Labors unterstützt werden. 31.10.2020 Der russische Präsident Wladimir Putin unterzeichnet ein Dekret, mit dem er Sergej Tschentschik von seinem Posten als Oberbefehlshaber der Russischen Nationalgarde entlässt. Einen Nachfolger benennt er noch nicht. Die Chronik wird zeitnah erstellt und basiert ausschließlich auf im Internet frei zugänglichen Quellen. Die Redaktion der Russland-Analysen kann keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben übernehmen. Zusammengestellt von Alena Schwarz. Sie können die gesamte Chronik seit 2003 (zusätzlich gibt es eine Kurzchronik für die Sowjetunion ab 1964 bzw. Russland ab 1992) auch auf Externer Link: http://www.laender-analysen.de/russland/ unter dem Link "Chronik" lesen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2020-11-11T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-393/318660/chronik-12-31-oktober-2020/
Die Ereignisse vom 12. bis zum 31. Oktober 2020 in der Chronik.
[ "Chronik", "Russland", "Russland" ]
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"Geschlechtsspezifische Verfolgung findet in vielen Fällen im Privaten statt" | Menschenrechte | bpb.de
Frau Pelzer, sind Frauen anderen Fluchtursachen unterworfen als Männer? Marei Pelzer: Ja. Neben den Fluchtgründen, denen auch Männer unterworfen sind – wie Krieg oder politische Unterdrückung – gibt es besondere Verfolgungsarten, unter denen vor allem Frauen zu leiden haben. Beispiele sind: Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratungen, Ehrenmorde oder Vergewaltigungen im Rahmen von Bürgerkriegen oder anderen Konflikten. Wie äußert sich geschlechtsspezifische Verfolgung? Das Besondere an geschlechtsspezifischer Verfolgung ist in vielen Fällen, dass sie im Privaten stattfindet. So wird zum Beispiel die Zwangsheirat von den eigenen Familien betrieben. Auch häusliche Gewalt findet im Privaten statt. Wenn der eigene Staat hiergegen nichts unternimmt und die betroffene Frau ins Ausland fliehen muss, dann liegt eine Verfolgung vor. Wird geschlechtsspezifische Verfolgung im Asylrecht anerkannt? Ja, geschlechtsspezifische Verfolgung ist nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt. Diese Konvention, die als Reaktion auf die Barbarei des Nationalsozialismus 1951 verabschiedet wurde, soll Flüchtlingen den Schutz vor Zurückweisung in den Verfolgerstaat geben. Sie vermittelt auch dann Schutz, wenn die Verfolgung von privaten Akteuren ausgeht, wie etwa von Familienangehörigen. In welchen Fällen führt die Verfolgung aufgrund des Geschlechts zur Asylanerkennung in Deutschland? Die deutsche Rechtsprechung hat sich lange dagegen versperrt, frauenspezifische Fluchtursachen anzuerkennen. Erst mit dem Zuwanderungsgesetz wurde Anfang 2005 endlich rechtliche Klarheit geschaffen. Auch nichtstaatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung führen zu einem Schutzanspruch. Jetzt fallen – zumindest theoretisch – auch Misshandlungen im familiären Bereich oder etwa Vergewaltigung unter das Asylrecht. Wie wird in der Praxis mit Asylanträgen verfolgter Frauen verfahren? Theorie und Praxis fallen leider noch oft auseinander. In der Praxis haben viele betroffene Frauen keine Chance auf Asyl. Die BeamtInnen, die das Asylverfahren durchführen, sind oftmals nicht ausreichend geschult, um die Asylsuchenden angemessen zu behandeln. Vielen Frauen wird unterstellt, sie hätten sich die Erlebnisse nur ausgedacht. Andere werden abgelehnt, weil sie sich in ihrem Herkunftsstaat in einen anderen Landesteil hätten begeben können. Es fehlt an Sensibilität und Verständnis auf Seiten des Amtes. Vergewaltigung, Ehrenmord sowie Genitalverstümmelung wird in vielen europäischen Staaten inzwischen als geschlechtsspezifische Verfolgung anerkannt. Wie ist aber der Umgang mit Fluchtursachen, die sich auf das Übertreten von "Sitten und Normen" eines Landes, einer "Kultur" beziehen? Hier unterscheidet die Rechtsprechung: ist eine Frau "verwestlicht", dann will man ihr bestimmte Lebensformen nicht zumuten – wie etwa die strengen Kleidervorschriften im Iran. Dagegen haben es Frauen sehr viel schwerer, die keinen westlichen Lebensstil nachweisen können. Diese Unterscheidung halte ich für falsch. Menschenrechte gelten universell. Alle Menschen haben das Recht auf persönliche Freiheit, Würde und körperliche Unversehrtheit. Das Interview führte Berke Tataroglu.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-12-07T00:00:00
2011-11-03T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/recht-justiz/dossier-menschenrechte/38734/geschlechtsspezifische-verfolgung-findet-in-vielen-faellen-im-privaten-statt/
Gibt es besondere Verfolgungsarten, unter denen vor allem Frauen zu leiden haben? In welchen Fällen führt die Verfolgung aufgrund des Geschlechts zur Asylanerkennung? Ein Gespräch mit Marei Pelzer über geschlechtsspezifische Fluchtursachen.
[ "Menschenrechte", "Geschlechtsspezifische Verfolgung", "Asyl", "Fluchtursachen", "Interview" ]
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Wie man zum Ossi wird - Nachwendekinder zwischen Klischee und Stillschweigen | Deutschland Archiv | bpb.de
Mit der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung haben in unserer Eltern- und Großelterngeneration viele angenommen, dass die Ost-West-Sache für uns Nachgeborene keine Rolle mehr spielen würde. Das Gebot der Stunde lautete: „Deutschland ist wieder eins“. Nachwendekinder wachsen natürlich mit den Privilegien auf, sich überall hin frei bewegen zu können, für Abitur und Studium keine Offizierslaufbahn einschlagen zu müssen und ihre Meinungen stets frei äußern zu dürfen. Aber die Wiedervereinigung markierte keine Stunde Null – Nachwendekinder sind natürlich von den Biografien derjenigen mitgeprägt, die sie erzogen haben. Familien, Lehrerinnen und Lehrer sowie und Nachbarinnen und Nachbarn haben sich in den 1990’er Jahren nicht automatisch in Westdeutsche verwandelt. Ein Ausklammern der DDR im Unterricht Was uns jedoch von ihren Biografien entfernt hat, war der Geschichtsunterricht, denn die DDR-Gesellschaft ist in den Schulen allenfalls ein Randthema. Wirtschaftswunder, RAF-Terror und Helmut Kohl stehen auf dem Lehrplan. Von Mauerbau, Gründung der Staatsjugendorganisation „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ) und der Rolle eines Erich Honeckers ist nur selten die Rede. Das, was unsere direkten Vorfahren geprägt hat, ist in den Hintergrund getreten. Natürlich gab es an den Küchentischen des Ostens diese Erzählungen á la „Früher zu DDR-Zeiten, da …“. Anekdoten, wie sie in jeder Familie erzählt werden, egal ob in Bautzen oder Bielefeld. Gleichzeitig war dieses Gefühl einer unerklärlichen Traurigkeit spürbar. Ich habe meine frühe Kindheit in den 1990’er Jahren in Berlin-Pankow verbracht. An der Ecke gab es einen kleinen Kaufmannsladen, einen Konsum. Wenn ich von meiner Mutter dorthin geschickt wurde, um Milch in Plastikschläuchen zu kaufen, dann traf ich stets auf traurig blickende und schlecht gelaunte Verkäuferinnen in weißen Kitteln. Mir fiel auf, dass sie niemals zu lachen schienen. Das war mir unheimlich. Auch die Eltern meines besten Grundschulfreundes erschienen mir immer sonderbar bedrückt zu sein. Mein Mathelehrer, damals um die 60 Jahre alt, erwischte sich einmal dabei, wie er anfing, von seiner Zeit an der Schule vor der Transformation zu schwärmen. Er unterbrach sich mitten im Satz und meinte, dass das jetzt aber unter uns bleiben müsste. Umherschwirrende Begriffe wie „Arbeitsamt“ oder „ABM“ (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) wurden zu Chiffren für etwas Ungutes. Das sind Erinnerungsfetzen. Es sind vielleicht nicht die großen Erzählungen, die Nachwendekinder geprägt haben. Es sind diese und andere Momentaufnahmen. (Ver)schweigende Großeltern Bis heute wird in manchen Familien aber auch viel geschwiegen. Es tritt bei Eltern und Großeltern nicht selten Stille ein, wenn es um das Leben in der DDR, den Beitritt zur SED, um den Glauben an den Sozialismus und um den schmalen Grat des richtigen Lebens im falschen geht. Es müssen noch viele Debatten innerhalb der DDR-geprägten Gesellschaft geführt werden. Debatten, die wichtig sind, um die eigene Herkunft zu verstehen zu können. Um sich zur Familiengeschichte verhalten und daraus lernen zu können. Einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung zufolge, geben 70 Prozent der Nachwendekinder aus Ostdeutschland an, dass ihre Herkunft noch immer eine Rolle im Alltag spiele. Das liegt natürlich zum einen an der Prägung durch das Aufwachsen in einer Gesellschaft, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs anders entwickelt hat, als die Gesellschaft der Bundesrepublik. Zum anderen hängt das aber auch mit dem Außenblick auf den Osten zusammen, im Hier und Heute, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung. Als 1989 in Ost-Berlin geborener merke ich, dass ich mich immer wieder zu Ostdeutschland verhalten muss. In den frühen 2000er Jahren zog ich mit meiner Familie von Berlin nach Bayern. Bis ich zwölf Jahre alt war, spielte das Ost-West-Zeug keine Rolle für mich. In der neuen Schule, in der Nähe von Augsburg, aber wurde es schlagartig zum Thema. Für Lehrkräfte und meine Mitschüler*innen war ich auf einmal „der Ossi“. Eine Lehrerin empfahl mir, mich schleunigst zu integrieren. In dieser Zeit begann ich, „den Osten“ verbittert zu verteidigen. In ungewollter Verteidigungsposition Ich wollte nicht aus einem Landstrich kommen, in dem alles furchtbar und elend war – so, wie es mir nun auf einmal vermittelt wurde. Ein Mitschüler fragte mich, ob man wirklich erschossen wurde, wenn man in der DDR gerannt ist. Es war ein Gefühl der doppelten Ohnmacht. Das Ankämpfen gegen die Diskriminierung und das Gefühl, die eigene Herkunft gar nicht erklären zu können. Denn irgendwann fiel mir eben auf, dass ich eigentlich überhaupt nicht kannte, was ich da eigentlich verteidigte. Heute ist meine Herkunft immer dann Thema, wenn „der Osten“ auffällig wird. Wenn rechtsradikale Mobs 2018 durch Chemnitz ziehen. Ein gleichalter Freund aus Niedersachsen bat mich damals, Farbe zu bekennen: Wie würde ich mich zu den Hetzjagden der Nazis aus dem Osten persönlich verhalten? „So, als Ostdeutscher“ müsse ich dazu ja wohl eine Meinung haben. Ich war perplex, als von mir ein Bekenntnis zum Rechtsstaat und zum Grundgesetzt eingefordert wurde. Es verwundert auch, dass nach den hohen zweistelligen AfD-Ergebnissen bei den Landtagswahlen 2019 in Brandenburg (23,5 Prozent) und Sachsen (27,5 Prozent), für das Erste Deutsche Fernsehen sogleich „der Osten“ gewählt hatte. Ich habe für mein erzählendes Sachbuch „Nachwendekinder – Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen“ (Illstein, 2019) mit zahlreichen Nachwendekindern über ihr Verhältnis zum Osten gesprochen. Darüber, wie sie sich zu ihrer Herkunft verhalten und verhalten haben. Es sind persönliche Geschichten, die nicht verallgemeinern wollen. "Ihr jammert nicht!" Zwei dieser Nachwendekinder, die ich für mein Buch porträtiert habe, sind Beatrice und Sandro. Beatrice fühlt sich manchmal so, als wäre sie ein Wirtschaftsflüchtling. Sandro stellt am Ende einer Odyssee fest: „Irgendwann habe ich mich gefragt: Ist es nicht schlimm, dass ich jetzt so tue, als sei ich kein Ostdeutscher?“ Beatrice, Jahrgang 1985, lebt in Frankfurt am Main. Großgeworden ist sie in einem kleinen Ort bei Eisenach. Im nahegelegenen Jena hat sie Betriebswirtschaft studiert. Seit 2014 ist Frankfurt am Main ihr Zuhause. Beatrice ist eine herzliche, offene Person. Schulterlanges Haar, Pony, schlank. Ihr Kleidungsstil – lässig, sportlich und doch elegant – passt zu ihrem Beruf, den sie in einem der Frankfurter Hochhauspaläste ausübt. Bei einem großen Finanzdienstleister kümmert sie sich um das Marketing. Bevor sie an den Main gezogen ist, hat sie sich nie große Gedanken über ihre Herkunft gemacht. Erst in Hessen wurde sie zum „Ossi“, zumindest für die anderen. In ihrer Jugend, auch nicht später in ihren Zwanzigern, hatte das jemals eine Rolle gespielt. Alles fing an, als sich eines Tages ihr Chef an sie wendet. Damals arbeitete sie noch in einer Marketingagentur. In dem Unternehmen gab es neben ihr einen zweiten Kollegen aus Ostdeutschland. Der Vorgesetzte lächelte die beiden an, wollte ein Kompliment machen. „Kurz nach der Wende“, holte er aus, „hatte ich schon einmal zwei Ostdeutsche. Die fand ich damals super, weil die gut gearbeitet haben und sich wenig beschwerten. Genau wie Ihr! Ihr jammert nicht und seid nicht so schnell gestresst wie Eure Kollegen von hier.“ Beatrice und ihr Kollege konnten sich über dieses Lob nicht wirklich freuen. Sie sollen gut arbeiten, weil sie aus Ostdeutschland kommen? Lieber würden sie als Individuen wahrgenommen werden statt als Kollektiv. „Da ist uns klar geworden, dass wir einiges aufarbeiten müssen. Gelegenheit wird es genug geben. Für mich war das Ost-Ding nie wichtig. Für die Leute scheinbar schon.“ Als die Mauer fiel, war sie vier Jahre alt. „Wie war denn das Leben so in der DDR, Beatrice?“ Fragen wie diese hört sie häufiger. „I don’t know. Ich habe das ja nicht erlebt“, ist dann ihre Antwort. Als sie auf Arbeit einmal eine Banane isst, bleibt das nicht unbemerkt. Beatrice ist mehr als verwundert über das, was sie zu hören bekommt. „Ja klar, du isst die sicher so gerne, weil du die früher nicht hattest.“ Jede Beteuerung, dass das Unsinn sei und sie die Dinger eben einfach mag, fühlt sich an wie ein Kampf gegen Windmühlen. Beatrice stößt auf die Vorstellungen von einem Ostdeutschland, das bis heute voller Ruinen oder wenigstens Häusern mit eingeschlagenen Fensterscheiben steht. Das ist nicht ihre Erfahrung. „Die stellen sich das nicht so vor, dass du da zum Cappuccino auch eine Hafermilch bekommst. Genauso wenig, dass es da schöne gemütliche Altstädte mit Fachwerkhäusern, Kirchen und Museen gibt.“ Beatrice schwärmt von den kleinen Boutiquen auf der Erfurter Krämerbrücke. Manchmal platzt das Thema an vollkommen unverhofften Stellen in ihren Tag. Wenn ihr hin und wieder ein neuer Kollege vorgestellt wird, heißt es plötzlich: „Ach übrigens, der ist auch aus dem Osten.“ Gedanklich rollt Beatrice dann mit den Augen. Meistens geht die Konversation nämlich so weiter: „Ich frage den neuen Kollegen, wo er denn herkommt. ‚Aus Usedom.‘ Aha. Dann sag ich, dass ich aus Thüringen bin. Wir nicken und gut ist.“ Ostdeutsche – Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen, Sachsen und dem Ostteil Berlins – fühlen untereinander nicht automatisch eine Verbundenheit, nur weil sie aus dem Osten kommen. „Ich als Thüringerin fühle mich Leuten von der Küste oder aus der Uckermark nicht so nah wie Leuten aus Sachsen oder Hessen.“ "Dann fallen die Pauschalurteile, die Beatrice nicht mehr hören kann" An manchen Tagen lässt sie das Gerede über Ostdeutschland einfach im Raum stehen. An anderen fängt sie an zu diskutieren. „Ich will wissen, warum meine Herkunft diese große Rolle spielt!“ Spätestens als im Spätsommer 2018 in Chemnitz ausländerfeindliche Übergriffe und Demonstrationen aus dem Osten gemeldet werden, wird in der Mittagspause darüber gesprochen. Dann fallen die Pauschalurteile, die Beatrice nicht mehr hören kann. „Der Ostdeutsche“ als Teil einer Meute von arbeitslosen Rassisten und Neonazis, auf dem Kopf peinliche Hüte in den Deutschlandfarben, in der Hand das Pegida-Banner. Es fällt der Begriff „Dunkeldeutschland“. Eine Kollegin, Jahrgang 1992, führt aus, dass man sich ja nicht zu wundern brauche, da im Osten doch sowieso alle Nazis seien. „Ich bin dann in der Bredouille“, sagt Beatrice. „Auf der einen Seite will ich ganz klar Position beziehen, auf der anderen Seite bin ich in einem Arbeitskontext und kann nicht ausfallend werden. Das ist ein so emotionales Thema.“ Eine andere Kollegin erzählt, dass auch sie schon einmal „drüben“ gewesen sei und dort sogleich selbst einen fremdenfeindlichen Übergriff miterlebt habe. Beatrice ist fassungslos. „Ich wusste ganz genau, dass sie noch nie dort gewesen ist!“ Sie wünscht sich, dass mehr junge Menschen aus dem Westen vorbehaltlos eine Reise in ihre Heimat antreten würden. Ansonsten kann sie ihnen die Unwissenheit aber nicht so richtig übelnehmen. Beatrice wurde in ihrer Kindheit und Jugend von der Summe der medialen Eindrücke über das Leben in der DDR verwirrt. Sie weiß, wie es heute im Osten ist. Aber vor der Wiedervereinigung? „Entweder es wurde so dargestellt, dass nicht alles schlecht war, oder so, als ob es so richtig, richtig mies gewesen ist.“ Versäumt, nachzufragen Es ist den Fragen und Vorurteilen der Kolleginnen und Kollegen zu verdanken, dass sie anfängt, sich für das Leben ihrer Eltern und Großeltern zu interessieren. In ihrer Familie ist wenig darüber gesprochen worden. „Ich fand das auf einmal schade.“ Sie habe gemerkt, dass es mit ihrem Jungsein, ihrem Studium und dem vielen Feiern zu tun gehabt habe, dass sie es versäumte, mal genauer nachzufragen. Heute tue ihr das leid. Die Eltern ihres Vaters sind bereits verstorben. Um sie zu fragen, ist es zu spät. Bei den anderen Großeltern und ihren eigenen Eltern beginnt sie, in Gesprächen nachzuhaken. Sandro, geboren 1992, hat seine Kindheit und Jugend im Mittelpunkt von Sachsen-Anhalt verbracht, zumindest im geografischen Mittelpunkt. Calbe (Saale) liegt 30 Kilometer von Magdeburg entfernt. Sandro ist auf den ersten Blick ein unscheinbarer Typ. Blondes, strohiges Haar, schlank, sportlich und am liebsten im Hoodie unterwegs. Er liebt sein Rennrad und Pizza. Auf den zweiten Blick wird klar, dass Sandro sein Umfeld stets genau analysiert und ebenso genau weiß, was er will. Er hat eine große Sensibilität für sich und seine Mitmenschen. In Calbe bleiben wollte er nie. Nach dem Abitur suchte er sofort das Weite. „Wenn ich heute zu den typischen Familienfeiertagen dort bin, fällt mir die Decke auf den Kopf.“ Calbe ist für Sandro das Abziehbild einer ostdeutschen Kleinstadt. Vier Apotheken, mindestens drei Altersheime, eine Spielhalle, eine Handvoll Gaststuben mit deutscher Küche, dazu das Antalya-Bistro und das Akropolis-Restaurant. „Die vietnamesischen Imbisse sind das Exotischste, was es hier zu sehen gibt“, findet Sandro. In seiner Kindheit spielte er am liebsten in den Ruinen der alten Papierfabrik und des ehemaligen VEB Metallleichtbaukombinats. „Diese Brachen gibt es noch immer. In den letzten 20 Jahren hat sich so gut wie gar nichts getan. Außer, dass es noch weniger Arbeitsplätze und noch weniger Perspektiven gibt. Das Kulturangebot ist noch kleiner geworden.“ Wo früher Wiesen waren, stehen jetzt Billig-Supermärkte. Häuser wurden abgerissen oder sind eingestürzt. Sandro zuckt mit den Schultern, denn auch mit anderen Ost-Klischees kann er nur bedingt aufräumen. „Ich will das nicht größer machen, als es ist, aber natürlich gab es auch in meiner Jugend diese tiefbraunen Nazi-Dörfer.“ Auf dem Schulhof wurden kostenlose Musik-CDs mit verteilt. Beim Abendessen erzählte Sandro davon seinen Eltern. Sein Vater arbeitete als Polizist, seine Mutter in einem Jobcenter. Sie waren alarmiert. „Du solltest wissen“, holte sein Vater aus, „dass das Musik von den Neonazis ist.“ Als im Unterricht die Tagebücher der Anne Frank besprochen wurden, provozierten Klassenkameraden durch das Tragen von „Thor Steinar“-Klamotten, einer bei Neonazis beliebten Marke. Früher waren das Sandros Freunde. „Das hat sich irgendwann langsam, still und heimlich entfremdet. Leute, mit denen ich nachmittags abgehangen hab, sind dann eben in diese Ecke gerutscht. Aber nicht alle sind dort für immer hängen geblieben.“ "Zu den Wessis" Sandro färbte sich irgendwann seine Haare blau und galtzählte fortan alszur Gruppe der Außenseiter. Dazu zählten auch Punks, Hip-Hop-Leute, Heavy-Metal-Typen und Techno-Fans. „Unter anderen Bedingungen findet sich so eine Konstellation ja nicht zusammen.“ Sandro wollte so schnell wie möglich weg aus Calbe. Nach seinem Abitur, da war er 18 Jahre alt, erhielt er die Zusage der Hochschule Bremen, Studiengang Journalistik. Sandro packte seine Sachen und zog in den hohen Norden, beziehungsweise in den Westen. Zu den „Wessis“. Seine Eltern hatten häufiger über deren Überheblichkeit gesprochen, ihren Reichtum, ihre Andersartigkeit. Mit diesen Vorurteilen will Sandro nichts zu tun haben. „Ich dachte, ich bin ja nach der Wende geboren. Das ist deren Ding. Für mich gibt es keine Unterschiede.“ Heute hält er das für naiv. Auf die Idee, sich als Ostdeutscher zu identifizieren, wäre Sandro nie gekommen. Nach einem halben Jahr an der Weser aber änderte er seine Einstellung. In seinem Jahrgang sind 50fünfzig Kommilitoninnen und Kommilitonen, davon zwei aus dem Osten. Er war einer davon. „Auf einmal war ich der Ostdeutschland-Beauftragte!“, stellt Sandro fest. Manchmal klingelte in seinen Ohren auch das Wort „Dunkeldeutschland“. „Im Geschichtsunterricht hatten die meisten nur wenig über die DDR gehört. Nach dem Motto: ‚Da gab’s die Mauer, die Stasi, die SED. Alles Diktatur, alles schlimm.‘ Darauf, dass es echte Menschen waren, die da gelebt haben, sind die nicht gekommen. Es war einfach eine Seite im Geschichtsbuch.“ Jeden Tag wurde er auf seiner Herkunft angesprochen, fühlte sich auf sein Ostdeutschsein reduziert. An der Supermarktkasse, am Kneipentresen, in der Mensa – Sandro konnte seine Herkunft nicht verstecken. Eines Abends, da war Sandro noch ganz neu in der Stadt, ging er mit Leuten aus seinem Seminar ins „Mono“, eine kleine Raucherkneipe in der Neustadt. Sandro trat an die Theke, bestellte im Dialekt seiner Heimat ein Bier. Für jeden war hörbar, dass er aus Sachsen-Anhalt kommt. Oder anders: Für weniger geübte Ohren war klar, dass er auf jeden Fall ein „Ossi“ ist. Die Kellnerin äffte Sandros Dialekt nach. „Was willst denn dDu hier? Willst dDu och `n paar Bananen?“ Sandro war überfordert. Dann stieg in ihm Wut auf. Noch Tage später beschäftigte ihn diese Begegnung. Es sollte nicht die einzige dieser Art bleiben. „Das war die Hölle, sich durch Bremen zu bewegen. Bei jedem Einkauf, jeder Bierbestellung, jedem Gespräch kam sofort dieses „Ach, Du bist aus dem Osten!" Identitätskrise Sandro war überzeugt, dass die Leute das nie wirklich böse gemeint haben. Er fühlte sich genötigt, jedes Mal von Neuem zu erzählen: „Ja, ich komme aus Sachsen-Anhalt. Ja, da ist es wirklich so schlimm. Ja, meine Eltern haben in der DDR gelebt.“ Es folgten meist die Ossi-Witze. Irgendwann begann er zähneknirschend mitzulachen, dann wieder blickte er seinem Gegenüber mit eiserner Miene ins Gesicht. Ein anderes Mal fing er an zu streiten. Irgendwann blieb er stumm, machte sich klein, wollte um auf gar keinen Preis aufzufallen. Sandro steckte in einer Identitätskrise. Er fasste einen Entschluss. Um dem Spießrutenlauf zu entgehen, dachte er, müsse er sich verändern. „Ich wollte mir aussuchen können, wann ich über meine Herkunft spreche und wann nicht.“ Seine Lösung: sich den Dialekt abtrainieren. Er arbeitete hart daran, von nun an nur noch Hochdeutsch zu sprechen. Wenn man ihm heute zuhört, dann ist nur noch bei manchen Wörtern eine sanfte Sprachfärbung zu bemerken. Der Dialekt ist weg und damit auch die ungewollten Gespräche über seine Heimat. In ihm beginnt es zu arbeiten. Ist es richtig, seine Wurzeln zu verleugnen? "Sie haben das Beste daraus gemacht, sagen sie immer.“ Die Eltern von Beatrice können sich kaum vorstellen, dass die Generation ihrer erwachsenen Tochter bis heute einen Ost-West-Konflikt vor sich herschiebt. Bei Besuchen in der Heimat erzählt sie von den Fragen und Mutmaßungen ihrer Kolleginnen und Kollegen und löst Kopfschütteln aus. Der Vater von Beatrice ist Jahrgang 1964, lernte in der DDR den Beruf des Zerspanungsmechanikers. Nach der Wende arbeitete er lange für einen Versanddienst. Ihre Mutter ist ein Jahr jünger, lernte zunächst in einer Wäscherei und arbeitet seit der Wende in der Fertigung verschiedener Industrieunternehmen und als Verkäuferin. Beatrice beginnt nachzufragen. Wie war das Leben in der DDR? Die Geschichten und Anekdoten, die Beatrice zu hören bekommt, handeln meistens von Ungerechtigkeiten und Konflikten mit dem System. Vom Großvater, dessen Brüder in Westdeutschland lebten, und seinem Wunsch, sie anlässlich eines Geburtstags besuchen. Er stellte den Antrag auf ein Reisevisum. Nach dem Besuch wollte er in jedem Fall in die DDR zurückkehren. Er bekam eine Ablehnung. Schlimmer noch, ihm wurde daraufhin der Passierschein entzogen. Dieser ermöglichte es ihm, seine Schwester zu besuchen. Sie wohnte damals im Sperrgebiet nahe der innerdeutschen Grenze. Es forderte einen großen Kampf, diese Entscheidung der Staatsgewalt zu revidieren. In der Familie blieb das unvergessen. „Viel häufiger ist meine Familie aber nicht aufgefallen. Meine Eltern haben gesagt, solange man sich ruhig verhalten hat und gut gearbeitet hat, ist alles gut gewesen. Sie wissen ganz genau, es war kein geiles System. Sie hatten als junge Menschen wenige Möglichkeiten. Aber sie haben das Beste daraus gemacht, sagen sie immer.“ Gleichzeitig aber loben ihre Eltern beispielsweise die Kinderbetreuung in der DDR, die Möglichkeit, ihre Kinder tagsüber in den Kindergarten zu geben. „Sie sehen das sehr differenziert“, findet Beatrice. „Nichts wird verteufelt und nichts beschönigt. Ich glaube, ich habe das Leben in der DDR jetzt so ein bisschen verstanden.“ Beatrice gibt sich damit zufrieden. Es gibt nichts, wofür sie sich schämenducken müsste. Ihre Eltern und Großeltern waren keine Täter. Sie waren auch keine Verfolgten des SED-Regimes. "Sie sieht sich auch nicht als Ostdeutsche, sondern als Thüringerin" Mit marodierenden Neonazibanden hat Beatrice ebenso wenig zu schaffen wie mit den Wutbürgern vor der Dresdner Frauenkirche. Sie steckt auch nicht in dem Dilemma, dass sie die Erfahrungen mit ihren Kolleginnen und Kollegen in Westdeutschland sie in eine Identitätskrise gestürzt hätte. Vielmehr spielt für sie die Vergangenheit einfach keine so große Rolle. Sie sieht sich auch nicht als Ostdeutsche, sondern als Thüringerin. Beatrice wäre durch ihre Erfahrungen in Frankfurt am Main, anders als Sandro, auch nie auf die Idee gekommen, ihre Herkunft zu verleugnen. Allerdings hatte sie solche Erfahrungen auch erst mit Anfang 30 und nicht schon mit 18 Jahren gemacht. Vielleicht haben Beatrice die Diskriminierungen auch deshalb weniger erschüttert, weil sie ihr Heimatdorf Mihla als besonderes Idyll wahrnimmt. Die Ortschaft liegt zwölf Kilometer von Eisenach entfernt, nicht weit von der Wartburg. An diesem geschichtsträchtigen Ort übersetzte Martin Luther, nachdem er die Römische Kirche entzweit hatte, das Neue Testament ins Deutsche. In der thüringischen Gemeinde leben 2800 Menschen. Jeder kennt jeden. Den besonderen Zusammenhalt im Dorf führt sie auf die DDR zurück, wo Vergemeinschaftung zur Staatsraison gehörte. Bis sie 18 Jahre alt ist, tanzt sie als Funkenmariechen im Gardeverein. Beim Hausbau der Eltern helfen viele Nachbarn. Im Dorf selbst gibt es einen Supermarkt, eine gute Busanbindung, ein Freibad. Nur einen Steinwurf entfernt liegt der Nationalpark Hainich. Der riesige Wald war zu DDR-Zeiten teilweise als Sperrgebiet ausgewiesen, der Zutritt strengstens verboten. Er diente der NVA und der Sowjetarmee als Übungsgelände. Diese Areale sind nicht der Forstwirtschaft zum Opfer gefallen. Heute lässt sich dort besichtigen, wie unberührte Wälder aussehen. Beatrice kommt aus einer wirklich schönen Gegend. In Frankfurt hilft ihr das aber kein bisschen im Kampf gegen ihren Sonderstatus. Gerade von den nach 1990 Geborenen hört sie Sätze wie diesen: „Ist ja klar, dass du hier bist. Weil es ja da drüben keine Jobs gibt. Oder nur schlecht bezahlte.“ Mit verschränkten Armen und halbironisch sagt sie dann: „Tja, dann bin ich wohl ein Wirtschaftsflüchtling.“ Wobei sie schon gelegentlich überlegt, welche Karrierechancen sie als Marketing-Spezialistin in Eisenach oder Erfurt hätte. Würde sie selbst in absehbarer Zeit zurückkehren? „Nein!“, sagt sie. Das liege an den mangelnden beruflichen Chancen. Beatrice entwickelt heute großangelegte Werbekampagnen. „Natürlich gibt es in Eisenach auch Marketing-Agenturen“, setzt Beatrice an, „aber irgendwann willst du am Ende des Tages keine Flyer mehr machen. Oder die Internetseite für Firma XY. Da fühlst du dich zehn Jahre zurückversetzt, sitzt da und erklärst jemandem Instagram.“ "Dass ihre Kolleginnen und Kollegen sich „den Osten“ einmal ansehen" Längst nicht alle Freunde von Beatrice haben die Region verlassen. Sie sind Lehrer oder Logopädin geworden. Andere arbeiten bei der Sparkasse. Opel und BMW unterhalten große Werke in der Gegend. „Leute aus dem Allgäu oder dem Ruhrpott würden in meiner Situation ja auch ihre Heimat verlassen müssen“, mutmaßt Beatrice. „Ich frage mich, warum sich meine Heimat immer so negativ darstellt.“ Eine Antwort darauf hat sie nicht, aber einen Wunsch: Dass ihre Kolleginnen und Kollegen sich „den Osten“ einmal ansehen. „Außer Berlin, das zählt nicht. Da ist eh alles anders.“ In Bremen haben die Leute in Sandros Umfeld irgendwann gelernt, dass er Sandro ist, nicht Sandro der Ostdeutsche. Fragen wie „Sandro, was sagst Du dazu? So als Ostdeutscher?“, werden seltener. Von „Dunkeldeutschland“ wird in seiner Gegenwart nur noch sehr selten gesprochen. Außerdem fällt er bei Begegnungen mit Fremden sprachlich kaum noch auf. Sandro ist selbstbewusster und will sich nicht mehr verstecken. „Letztendlich muss ich mich als Ostdeutscher identifizieren. Ich darf mich identifizieren, auch wenn ich mich von manchem distanziere. Das ist ja trotzdem Teil von dem, was ich heute bin.“ "Sandros Ossi-Werdung" Sandros „Ossi-Werdung“ in Bremen hat auch dafür gesorgt, dass er sich angesprochen fühlt, wenn in Zeitungen und Magazinen über den „ostdeutschen Mann“ verhandelt wird. Wenn die Berliner Morgenpost titelt „Enttäuscht und missachtet – so tickt der ostdeutsche Mann“. Oder wenn Die Zeit fragt: „Wie konnte aus dem ostdeutschen Mann der Hysteriker der Republik werden?“ Sandro ist ein ostdeutscher Mann. Er kommt sich aber weder hysterisch, noch enttäuscht oder missachtet vor. Aber Sandro ist in dieser Debatte auch nicht wirklich gemeint, weil er nicht mehr in Ostdeutschland lebt. Bei der Bundestagwahl 2017 wählte in den neuen Bundesländern jeder vierte Mann die „Alternative für Deutschland“, im Westen jeder achte. „Natürlich macht es was mit der Gesellschaft, wenn ein gewisser Typ, der studieren will, tendenziell immer das Bundesland verlässt.“ Die Leute, die dortgeblieben sind, sähen halt, dass alte Freunde abhauten und nie wiederkämen, nicht zu Weihnachten, nicht zum Klassentreffen, schon gar nicht zum Leben. „Das erklärt natürlich nicht, warum jemand rechtsradikal wird“, sagt Sandro, „aber das sind so Nuancen, über die auch zu wenig diskutiert wird. Was passiert, wenn das gesamte soziale Umfeld wegzieht?“ "Die schmeißen Essen einfach schneller weg" Im West-Deutschland der 2010er Jahre bemerkt auch Sandro, dass er anders ist als die meisten seiner dort sozialisierten Altersgenossinnen und Altersgenossen. „Worin liegen diese Unterschiede?“, will ich von ihm wissen. Sandro überlegt ein paar Sekunden und beginnt seine Antwort mit einer Entschuldigung: „Das klingt wahrscheinlich wie ein total schlimmes Klischee, nach dem Motto ‚Wir hatten ja nichts im Osten." Er erzählt von seinen Eltern und Großeltern, von deren Erfahrungen des Mangels. „Mein Vater hat mir erzählt, dass es in seiner Familie oft einfach nur Kartoffeln und Leinöl gab. Ein scheußliches Essen, dass man macht, wenn es nichts anderes gibt. Das macht keinen Spaß beim Essen.“ Essen wegzuwerfen wird bei ihm zu Hause penibel vermieden. Sandros Eltern erinnern ihn oft, dass er Dinge bekommt, von denen sie in ihrer Kindheit nur haben träumen können. Den Zugang zu sämtlichen Nahrungsmitteln beispielsweise, die sich heute in den Supermärkten finden. Sandro hat diese Erziehung verinnerlicht, ist bestrebt, bewusst zu konsumieren. „Bei meinen Kommilitonen habe ich gemerkt, dass die schon anders drauf sind als ich. Die schmeißen Essen einfach schneller weg. Bei denen war auch immer ein gewisser Luxus da.“ Sandro hegt keinen Neid. Auch er wächst mit Markenklamotten und einem lilafarbenen „Game Boy Color“ auf. Leipziger "Komfortzone" Nach dreieinhalb Jahren hat ist sein Bachelor-Studium in Bremen abgeschlossen. Er packt sein Rennrad ein, verlädt ein paar Möbel, Kisten und Koffer. Es geht zurück in den Osten, nach Leipzig. Dort findet er seinen ersten Job. Der Umzug in diese Stadt war eine äußerst bewusste Entscheidung. „Die Stadt ist für mich beinahe wie eine Komfortzone“, sagt er. „Alle haben eine ähnliche Erfahrungen. Die Themen, die in Bremen fast täglich eine Rolle gespielt haben, spielen dort keine mehr.“ Aus seinem Heimatort in Sachsen-Anhalt ist Sandro weggegangen und wird, da ist er sicher, nie zurückkehren. Mit wachsendem Abstand zu seiner Heimat, stellt er sich immer öfter die Frage, welchen Anteil auch er an der Situation dort hat. „Ich war nie Teil eines Vereins, in dem ich mich hätte engagieren können. Im Nachhinein frage ich mich jetzt, ob ich das hätte tun sollen. Habe ich es nur nicht bemerkt oder gab es wirklich keine Möglichkeiten, etwas für eine höhere Lebensqualität in Calbe zu tun?“ Ostdeutschland ausdifferenzieren Die Geschichten von Sandro und Beatrice machen deutlich, wie und warum sich viele Nachwendekinder aus Ostdeutschland auch 30 Jahre nach dem Beginn der Transformation zu ihrer Heimat verhalten und verhalten müssen. Es sind Perspektiven, die im Diskurs bislang nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Was in gewisser Weise auch natürlich erscheint – schließlich beginnen sich die Nachwendekinder erst jetzt, nach Studium und Ausbildung, zu Wort zu melden. Dennoch erscheint es vielen Beobachtern sonderbar, dass auch diese Generation etwas zur Debatte beitragen will. In der FAZ war einmal die Rede von einem „Lebensgefühl von heute Dreißigjährigen, die zufällig im Osten aufgewachsen sind“. Doch es steckt mehr dahinter! Die Generation der Nachwendekinder ist womöglich die einzige Generation ist, die noch helfen kann, das Bild über die DDR und Ostdeutschland auszudifferenzieren. Sie ist nah genug dran und weit genug weg. Ohne diese Stimmen wird es nicht gelingen, einige der politischen Schieflagen im Osten zu lösen. Die Cover der beiden Bände von "(Ost)Deutschlands Weg" I (1989 bis 2020) und II (Gegenwart und Zukunft), seit 1. Dezember 2021 wieder erhältlich im Externer Link: www.bpb.de/shop unter den Bestellnummern 19676 I+ii. Zitierweise: Johannes Nichelmann, „Wie man zum Ossi wird", in: Deutschland Archiv, 3.10.2020, Link: www.bpb.de/316541. Der Text ist dem Band entnommen „(Ost)Deutschlands Weg. 80 Studien & Essays zur Lage des Landes", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der seit 1. Juli 2021 im Interner Link: bpb-shop erhältlich ist. Hier mehr über das Buch "Interner Link: (Ost)Deutschlands Weg", produziert von der Redaktion Deutschland Archiv der bpb. Weitere Beiträge im Rahmen dieser Reihe "Denkanstöße zur Deutschen Einheit" folgen. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Ergänzend zum Thema: - Antonie Rietzschel, Interner Link: "Die. Wir. Ossi. Wessi"., Deutschland Archiv 2.10.2020 - Christian Bangel, Interner Link: "Es gibt keine wirkliche Ostdebatte", Deutschland Archiv, 25.9.2020 - Serie: Interner Link: 30 Jahre Volkskammer - 30 "Ungehaltene Reden", Deutschland Archiv 24.9.2020 - Werdegänge: Interner Link: Ingo Hasselbach über Wege in die ostdeutsche Neonaziszene nach dem Mauerfall , Deutschland Archiv 24.4.2020 - Wendekorpus. Interner Link: Audiofiles zur Deutschen Einheit. - Interner Link: 31 Jahre später. Texte aus Schüler*innenzeitungen zur Deutschen Einheit. - Interner Link: D wie Dialog. Die Geschichte des Kennzeichen D - Interner Link: Ostdeutsche Frakturen für immer? Eine Analyse von Steffen Mau - Interner Link: Populismus in Ost-und West. Eine Datenanalyse von Philip Manow. - Interner Link: Zusammenwachsen in Feindseligkeit? Eine Analyse von Andreas Zick und Beate Küpper. Die Cover der beiden Bände von "(Ost)Deutschlands Weg" I (1989 bis 2020) und II (Gegenwart und Zukunft), seit 1. Dezember 2021 wieder erhältlich im Externer Link: www.bpb.de/shop unter den Bestellnummern 19676 I+ii. Rainer Faus und Simon Storks, „Im vereinten Deutschland geboren – In den Einstellungen gespalten?“, Otto-Brenner-Stiftung 2019, Frankfurt a. M. Link zur Studie: https://www.otto-brenner-stiftung.de/wissenschaftsportal/informationsseiten-zu-studien/obs-studie-zur-ersten-nachwendegeneration/, letzter Zugriff am 4.5.2019. Frank Pergande, „Schau an, ich bin ein Ossi“, erschienen am 28.4.2020 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Nr. 99, S. 6.
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Johannes Nichelmann
2022-02-14T00:00:00
2020-10-01T00:00:00
2022-02-14T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/316541/wie-man-zum-ossi-wird-nachwendekinder-zwischen-klischee-und-stillschweigen/
"Man wird nicht als „Ossi“ geboren, man wird zum „Ossi“ gemacht. Nachwendekinder haben die DDR nie gesehen, maximal ihre Zehen stecken noch im selbsternannten Arbeiter- und Bauernstaat. Schaut man aber genau hin, ist es wenig verwunderlich, dass Nach
[ "Ossi", "Wessi", "Ostdeutschland", "Westdeutschland", "Wiedervereinigung", "Deutsche Einheit" ]
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Kritische Medienkompetenz als Säule demokratischer Resilienz in Zeiten von "Fake News" und Online-Desinformation | Digitale Desinformation | bpb.de
Spätestens seit der US-Wahl 2016 ist die Verbreitung von Online-Desinformationen und "Fake News" in aller Munde. Auch wenn Desinformationen keine neue Erfindung sind, gibt der Siegeszug des "Mitmach-Internets", dem Web 2.0, ihnen eine neue Dynamik. Dadurch, dass heutzutage nahezu jede/r Inhalte im Netz veröffentlichen kann, steigt nicht nur die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe – es ergeben sich auch neue Möglichkeiten zur Verbreitung von Fehlinformationen und Propaganda. Die genaue Definition des "Interner Link: Fake News" Begriffs ist aber umstritten. Drei Kritikpunkte sind hier besonders relevant: Erstens versteht nicht jede oder jeder unter dem Begriff "Fake News" dasselbe. Es kann sowohl ein bestimmtes "Genre"– nämlich Fehlinformationen im Format von scheinbaren Nachrichten – gemeint sein, als auch eine generalisierte Kritik an journalistischen Massenmedien. Zweitens sind "Fake News" nicht unbedingt falsch. Mediennutzende werden oft eher mit systematisch verzerrten Meldungen konfrontiert als mit vollständig erfundenen Ereignissen. Schließlich können sowohl die Kerninformation (beispielsweise Bilder, Texte, etc.), als auch die Meta-Information (beispielsweise Headlines, Autorenschaft), oder der Kontext einer Nachricht (beispielsweise die Webseite) falsch oder verzerrt sein. Um Missverständnissen vorzubeugen wird daher im Folgenden bei strategisch fehlerhafter Kerninformation von Desinformationen gesprochen. Desinformationen im Gewand journalistischer Nachrichten, deren Meta-Informationen einen Faktizitätsanspruch suggerieren, werden als verzerrte Nachrichten bezeichnet. Geht es um einen medialen Kontext (etwa eine Webseite), der die Erscheinung journalistischer Massenmedien imitiert, aber die Standards journalistischer Herausgabeprozessen oder Absichten systematisch ignoriert, wird das im Folgenden als "politische Pseudo-Presse" bezeichnet. Kritische Medienkompetenz im Kontext von Fehlinformationen Medienkompetenz umfasst vier zentrale Aspekte: Erstens Medienkritik, also die Fähigkeit zur analytischen, reflexiven, und ethische Nutzung von Medien. Zweitens Medienkunde, also das Wissen um das heutige Mediensystem und darüber wie Medien und MedienmacherInnen arbeiten sowie die Fähigkeit Medien zu bedienen auch um die eigene digitale Bürgerschaft auszuüben. Drittens Mediennutzung – empfangend zum Beispiel durch Programmwahl ebenso wie interaktiv (zum Beispiel durch das Kommentieren von Online-Inhalten). Viertens Mediengestaltung. Vor allem letzteres wird durch das Web 2.0 und Smartphones immer leichter. Für den Umgang mit Fehlinformationen ist aber die Medienkritikfähigkeit oder auch kritische Medienkompetenz besonders zentral. Auf Basis der Forschung zu einer verwandten Form manipulativer Online-Kommunikation, extremistischer Propaganda, wurde vorgeschlagen, kritische Medienkompetenz in drei miteinander verbundene Dimensionen aufzuteilen: Bewusstsein (englisch: awareness), Betrachtung (englisch: reflection), und Befähigung (englisch: empowerment). Alle drei lassen sich auch auf den Umgang mit Fehlinformationen übertragen. "Awareness" heißt in diesem Fall das Bewusstsein um die Existenz von Fehlinformationen. Hierzu gehört neben dem Wissen um verschiedenen Formen von Fehlinformationen (Desinformationen in Bild, Text, oder Videoform, verzerrte Artikel und politische Pseudo-Presse) auch ein vertieftes Verständnis darüber, wie Medien arbeiten und Online-Medien funktionieren. Hier besteht durchaus Aufklärungsbedarf: 41% der Deutschen wussten 2018 nicht, wie Nachrichten bei Facebook ausgewählt werden, weniger als ein Drittel (28%) war sich der Computeranalysen im Hintergrund bewusst. Auch generelles Weltwissen und die Festigkeit der eigenen Einstellungen sind ein wichtiger Schutzfaktor. Menschen lassen sich leichter überzeugen, wenn sie noch keine eigene Meinung zum Thema ausgebildet haben. Die Änderung von feststehenden, gut durchdachten Einstellungen ist weitaus schwieriger. Neben Medienkompetenz spielt hier also auch Demokratiekompetenz eine wichtige Rolle. Allerdings: Vorwissen alleine schützt nicht. Studien zeigen, dass Personen, die zuvor mit Fehlinformationen konfrontiert waren in Wissenstest falsche Antworten geben, selbst wenn sie die richtige Antwort eigentlich kannten. Besonders dann, wenn EmpfängerInnen nicht nachdenken während sie Informationen aufnehmen setzen sich Fehlinformationen fest. Entsprechend relevant ist die bewusste Betrachtung ("Reflection") von Inhalten mit Nachrichtencharakter, das gründliche Nachdenken, bevor man einen Artikel likt, teilt oder die Behauptung einer Überschrift für bare Münze nimmt. Generell prüfen Mediennutzende Online-Nachrichten in zwei Phasen. Zunächst erfolgt eine rasche, "interne" Bewertung – ein Abgleich mit dem eigenen Weltwissens (zum Beispiel ob die Nachricht der eigenen Meinung entspricht), der Einschätzung der Quelle (etwa ob es sich um ein vertrauenswürdiges Medium handelt) und der Aufmachung der Nachricht (etwa ob der Text reißerisch ist oder viele ihn gelikt haben). Diese internen Strategien können jedoch irreführen. Das Vertrauen auf das eigene Wissen und die eigenen Einstellungen trägt dazu bei, dass Fehlinformationen, die der eigenen Meinung widersprechen, weniger hinterfragt und Widerlegungen ausgeblendet werden, wenn sie nicht zum Weltbild passen. Außerdem hängt auch die Bewertung der Glaubwürdigkeit einer Quelle davon ab, ob die Inhalte zur eigenen politischen Einstellung passen, auch dabei kann man sich also irren. Selbst die Aufmachung ist ein unzuverlässiges Kriterium: Nicht jede reißerische Schlagzeile ist falsch, und nicht jede sachliche Schlagzeile ist korrekt. Weiterhin können aggregierte Nutzerbewertungen (zum Beispiel die Anzahl an Likes) durch Pseudo-User (zum Beispiel Fake Accounts oder Social Bots) leicht manipuliert werden. Dennoch prüfen Mediennutzende Online-Nachrichten nur dann detaillierter, wenn diese internen Kriterien zu keiner schnellen Entscheidung führen. Auch dabei verlassen sich einige noch passiv darauf, dass die Medien Falschmeldungen wohl widerlegen oder ihr soziales Umfeld sie auf Fehlwahrnehmungen aufmerksam machen würde. Das Risiko, dass Fehlwahrnehmungen dabei nicht auffallen, ist entsprechend hoch. Nur ein Teil prüft Online-Nachrichten aktiv indem Suchmaschinen oder Fact-checking-Seiten genutzt werden. Obwohl in einer Umfrage 2017 fast die Hälfte derjenigen, die angaben, "Fake News" zu kennen, berichteten, sie hätten schon einmal Fakten und Sachverhalte online geprüft, hatten nur 12% schon einmal eine Internetadresse (URL) oder den Link einer Quelle, und noch weniger hatten Fotos oder Videos genauer inspiziert. Empowerment schließlich beschreibt die Befähigung des Individuums manipulative Inhalte im Netz zu erkennen, das Selbstvertrauen diese Fähigkeiten effektiv einsetzen zu können, und das Wissen um den besten Umgang mit derartigen Inhalten. Letztlich geht es um das Hinterfragen der Kerninformation (Aussage, Bilder oder Videos), der Meta-Informationen (zum Beispiel Überschriften, AutorInnen oder aggregierte Nutzerbewertungen) ebenso wie des Kontextes (beispielsweise Vertrauenswürdigkeit von Webseiten). Eine groß angelegte Studie in den USA, die Tausende von SchülerInnen und Studierende mit Aufgaben zur Identifikation von Quellen, zur Bewertung von Belegen und zur Konsultation weiterer Quellen konfrontierte, zeigte, dass diese Prüfungen selbst den sogenannten digitalen Eingeborenen schwerfällt. Die Grenzen kritischer Medienkompetenz Zwar können verschiedene Online-Dienste bei der Prüfung von Fehlinformationen helfen – viele erfordern aber die Investition von Zeit. Insbesondere jenseits professioneller Institutionen (beispielsweise journalistischen Redaktionen) und formaler Bildungskontexte (etwa in der Schule) ist diese Zeit oft Mangelware. Gerade ältere Erwachsene konsumieren und verbreiten Pseudo-Presse Angebote aber besonders aktiv. Kritische Medienkompetenz ist zudem kein Allheilmittel. Wenn Mediennutzende in einem trügerischen Gefühl der Allwissenheit gewogen werden oder die Verantwortung alleine tragen sollen, kann kritische Medienkompetenz sogar negative Folgen haben. Um dem entgegenzuwirken, ist ergänzend das Bewahren und der (Wieder-)Aufbau von Vertrauen in InformationsgeberInnen von Bedeutung. Vertrauen als demokratischer Resilienzfaktor Meist wird unter Vertrauen (englisch: trust) ein psychologischer Zustand verstanden, in dem jemand, der oder die Vertrauende(n), in einer unsicheren Situation, das Risiko eingeht einem Vertrauensobjekt oder Vertrauenssubjekt (einer Person, Institution etc.) zu vertrauen. Ob Personen dieses Risiko eingehen, hängt einerseits von ihrer generellen Bereitschaft zu Vertrauen ab und andererseits von der Vertrauenswürdigkeit des jeweiligen Vertrauensobjektes — bei Fehlinformationen also auch von der Vertrauenswürdigkeit des politischen Systems, von Wissenschaft und Medien. Durch den Akt des Vertrauens wird der Vertrauende handlungsfähiger und kann auch dann entscheiden, wenn sie oder er nicht alle Informationen aus eigener Erfahrung bewerten kann. Bei vielen politischen, wissenschaftlichen, oder globalen Themen ist Vertrauen notwendig um demokratische Handlungsfähigkeit zu bewahren etwa um informiert zu wählen. Vertrauen wird durch negative Erfahrungen schwer erschüttert. Transparenz und Verantwortungsübernahme sind daher ein wichtiger Aspekt im Umgang mit Desinformationen. Das gilt auch für das Vertrauen in journalistische Informationen. Journalistische Artikel die Hintergrundinformationen über die Recherche zur Verfügung stellen, werden als vertrauenswürdiger wahrgenommen. Das Bereitstellen von vertrauenswürdigen Informationen alleine reicht jedoch nicht, entsprechende Inhalte müssen auch online zu finden sein. Hier können Empfehlungsalgorithmen dazu beitragen, dass faktenorientierte Inhalte bevorzugt werden. Allerdings müssen sich auch InformationsgeberInnen (beispielsweise Politik und Wissenschaft) über die Funktionsweise von Online-Medien bewusst sein und in ihrer Kommunikation medienkompetent handeln. Schließlich können auch Fact-checking-Angebote hier einfach zu identifizierende Anlaufstellen bieten, selbst wenn direkte Widerlegungen von Fehlinformationen oft wenig erfolgreich sind. Zusammenfassend lässt sich argumentieren, dass Vertrauen (Trust), Bewusstsein (Awareness), Betrachtung (Reflection), und Befähigung (Empowerment) Hand in Hand gehen um Fehlinformationen im Allgemeinen und Online-Desinformationen im Speziellen kompetent zu begegnen und die (psychische) Widerstandskraft zu fördern und zu bewahren, die als demokratische Resilienz bezeichnet wird. Unsere detaillierte Diskussion des Begriffs findet sich bei Quandt, T. et al.: Fake News. In: Vos, T. P. et al. (Hg): The International Encyclopedia of Journalism Studies. 2019. Fehlinformationen im Format von scheinbar medizinischen Inhalten stehen ebenso wenig im Fokus dieses Beitrages wie Fehlinformationen in unterhaltungsorientierten Angeboten wie Memes, das heißt jedoch nicht, dass diese Phänomene weniger relevant sind. Vgl. Baake, D.: Medienkompetenz - Begrifflichkeit und sozialer Wandel. In: Rein, A. von (Hg.): Medienkompetenz als Schlüsselbegriff. Frankfurt am Main, S. 112-124. Vgl. Schmitt, J. B. et al.: Critical media literacy and Islamist online propaganda: The feasibility, applicability and impact of three learning arrangements. International Journal of Conflict and Violence, 12/2018, S. 1-19. Vgl. Hölig, S./Hasebrink, U.: Reuters Institute digital news report 2018, Ergebnisse für Deutschland. Arbeitspapiere des Hans-Bredow-Instituts, Nr. 44, 2018. Für ein Überblick siehe Olsen, J. M./Zanna, M. P.: Attitudes and attitude change. In: Annual Review of Psychology, 44/1993, S. 117-154. Für einen Überblick siehe Rapp, D. N.: The consequences of reading inaccurate information. In: Current Directions in Psychological Science, 4/2016, S. 281-285. Vgl. Tandoc, E. C. et al.: Audiences’ acts of authentication in the age of fake news: A conceptual framework. In: New Media and Society, 8/2018, S. 2745-2763. Vgl. Pennycook, G./Rand, D. G.: Fighting misinformation on social media using crowdsourced judgments of news source quality. In: Proceedings of the National Academy of Sciences, 7/2019, S. 2521-2526. Landesanstalt für Medien NRW: Ergebnisbericht zur Wahrnehmung von Fake News. 2017 (Externer Link: PDF). Vgl. McGrew, S. et al.: The challenge that’s bigger than fake news: Civic reasoning in a social media environment. In: American Educator, Fall/2017, S. 4-10. Vgl. Guess, A./Nagler, J./Tucker, J.: Less than you think: Prevalence and predictors of fake news dissemination on Facebook. In: Science Advances ,1/2019, S. 1-9. Vgl. Bulger, M./Davison, P.: The promises, challenges, and futures of media literacy. Data & Society Research Institute 2018. Vgl. Mayer, R. C./Davis, J. H./Schoorman, D. F.: An integrative model of organizational trust. In: The Academy of Management Review, 3/1995, S. 709-734. Vgl. Curry, Alex/S., Natalie J.: Trust in Online News. Austin, Texas 2017. Vgl. Chan, M.-P. et al.: Debunking: A meta-analysis of the psychological efficacy of messages countering misinformation. In: Psychological Science, 11/2017, S. 1531-1546.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-26T00:00:00
2019-05-02T00:00:00
2022-01-26T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/digitale-desinformation/290527/kritische-medienkompetenz-als-saeule-demokratischer-resilienz-in-zeiten-von-fake-news-und-online-desinformation/
Um Falschmeldungen zu begegnen, bedarf es seitens der Nutzer mehr kritischer Medienkompetenz. Theoretische Kenntnisse reichen dabei nicht, sondern die zur Förderung von Widerstandskraft gegen Desinformation zentralen Elemente Vertrauen, Bewusstsein,
[ "Digitale Desinformation", "Fake News", "Medienkompetenz", "Europa" ]
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Welche Zugangswege zu Online-Nachrichten werden genutzt? | Medienpolitik | bpb.de
Dass Partizipation und Technik den professionellen Journalismus überflüssig machen, steht bis auf Weiteres nicht zu befürchten. So machen journalistisch professionell produzierte Inhalte nach wie vor einen großen Teil der Verweise in sozialen Medien sowie der Suchmaschinentreffer aus. Sie erhalten damit auch im Internet viel Aufmerksamkeit. Allerdings ändern sich damit die Zugangswege zu journalistischen Inhalten: der häufigste Zugriff auf nachrichtlich Inhalte im Internet erfolgt über Suchmaschinen und gut 20 % geben an, über soziale Medien auf Artikel zu stoßen. Beitrag im Dossier: Externer Link: Wiebke Loosen: Journalismus und Medienwandel
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2016-11-17T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/medienpolitik/237585/welche-zugangswege-zu-online-nachrichten-werden-genutzt/
Welche 'technischen' Zugangswege zu Online-Nachrichten und damit auch zu journalistischen, professionellen Inhalten werden am häufigsten genutzt?
[ "Online-Nachrichten" ]
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Was glaubst du denn?! Muslime in Deutschland | Presse | bpb.de
Sehr geehrte Damen und Herren, die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und die Stadt Rheinfelden laden Sie in Kooperation mit dem Georg-Büchner-Gymnasium herzlich ein zur Eröffnung der Ausstellung „Was glaubst du denn?! Muslime in Deutschland“ am 14. Juli 2015 um 15:30 Uhr im Rathaus der Stadt Rheinfelden, Kirchplatz 2, 79618 Rheinfelden. Die Ausstellung wird eröffnet durch Claudius Beck, Leiter des Kulturamtes Rheinfelden, und Jutta Spoden, Projektverantwortliche im Fachbereich Veranstaltungen der bpb. Die Wanderausstellung zeigt die vielfältigen Facetten des Alltags von Muslimen in Deutschland. Dabei ist Religiosität nur einer von vielen Aspekten. Die Besucher erhalten Antworten auf die Fragen, was muslimische Jugendliche bewegt, wie sie über ihre Zukunft nachdenken, was ihnen ihre Herkunft bedeutet und wie sie auf Deutschland blicken. Weitere wichtige Themen sind der Umgang mit Vorurteilen und Zuschreibungen sowie die Frage der Identität. Die Ausstellung richtet sich vor allem an Schüler aller Schulformen ab der fünften Klasse. An ihren Sehgewohnheiten orientiert sich die Präsentation, die mit Videoporträts, Comics und Animationsfilmen arbeitet. An interaktiven Stationen können die Besucher selbst Filme produzieren, Fragen stellen und Kommentare hinterlassen. Ein zentraler Baustein des Konzeptes ist das Peer Education Programm. An jedem Standort werden Peer Guides ausgebildet, die anschließend Besuchergruppen durch die Ausstellung begleiten. Jugendliche werden dadurch von anderen Jugendlichen geführt und kommen auf Augenhöhe miteinander ins Gespräch. Die Ausstellung ist vom 13. Juli bis 7. August 2015 im Rathaus der Stadt zu sehen. Bitte melden Sie sich für die Ausstellungseröffnung per E-Mail an unter:E-Mail Link: c.beck@rheinfelden-baden.de Hintergrundinformationen zu den Beteiligten, den Inhalten und dem Konzept der Ausstellung finden Sie unter: Externer Link: www.wasglaubstdudenn.de Das Pressekit zur Ausstellung online unter: Externer Link: www.bpb.de/163796 Wir freuen uns auf Ihr Kommen! Mit freundlichen Grüßen Miriam Vogel - Referentin - Presseeinladung als Interner Link: PDF. Pressekontakt: Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2015-07-06T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/209194/was-glaubst-du-denn-muslime-in-deutschland/
Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und die Stadt Rheinfelden laden Sie in Kooperation mit dem Georg-Büchner-Gymnasium herzlich ein zur Eröffnung der Ausstellung „Was glaubst du denn?! Muslime in Deutschland“ am 14. Juli 2015 um 15:30 Uhr i
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Umbruch in der Entwicklungsfinanzierung? | Entwicklungszusammenarbeit | bpb.de
Es ist zu einem Gemeinplatz in der Diskussion um die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) geworden, dass diese sich in der Krise befinde: einerseits aufgrund mangelnder Effizienz, andererseits technisch bedingt durch die zunehmende Fragmentierung der Geberseite, die Proliferation von Kleinprojekten, die mangelnde Vorhersehbarkeit der Transfers und Ähnlichem, grundsätzlich jedoch wegen ihres wenig signifikanten Beitrags zu Wachstum und Wohlfahrt in den Empfängerländern. In der Krise stecke sie aber auch, da sich das internationale Umfeld, innerhalb dessen sie operiere, spätestens seit Ende des Ost-West-Konflikts, der sich parallel entfaltenden wirtschaftlichen Globalisierung und dem Aufstieg einer Gruppe aufstrebender Volkswirtschaften erheblich verändert habe. Dies erfordere eine Überprüfung der geografischen und sektoralen Schwerpunkte der EZ sowie ein besseres Zusammenspiel zwischen der herkömmlichen Entwicklungsfinanzierung durch die öffentliche Hand der Geberländer und anderen Quellen der Entwicklungsfinanzierung wie privaten Stiftungen, Unternehmen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, karitativ orientierten Einzelpersonen und – nicht zu vergessen – Überweisungen von Gastarbeiterinnen und -arbeitern in ihre Herkunftsländer sowie eigenen Steuereinkünften. Viele, die an dieser Debatte teilnehmen, folgern daraus eine geringe und abnehmende Legitimation der EZ und stellen Überlegungen an, wie mangelnder Effizienz durch eine größere Selektivität bei der Mittelvergabe sowie eine stärkere Konditionierung und Ergebnisorientierung der EZ abgeholfen werden könnte. Diese Debatte läuft nun schon mehrere Jahrzehnte, die konstatierte "Krise" währt daher ebenso lange, ohne dass dies zur Einstellung der Transfers oder auch nur zur Infragestellung ihrer Zielgrößen geführt hätte – prominent dabei die Verpflichtung der Geberländer zu Leistungen in Höhe von 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Überprüfung der Zielerreichung der Millenniumsentwicklungsziele sowie deren Neuformulierung für die Zeit nach 2015 haben im Umfeld der Vereinten Nationen und darüber hinaus zu einer Intensivierung dieser Diskussion geführt. Als deren Ergebnis zeichnet sich eine erhebliche Ausweitung des Zielkatalogs der internationalen Zusammenarbeit ab, vor allem in Richtung Nachhaltigkeit und Bereitstellung globaler öffentlicher Güter. Dies erfordert neue Kooperationsformen und Finanzierungsquellen und bedingt auch eine Infragestellung der klassischen Gegenüberstellung von entwickelten und weniger entwickelten Staaten, von Gebern und Nehmern, zugunsten einer Orientierung an universellen Zielen und Vorgaben. Der EZ gehen die Armen aus Eine naheliegende Veränderung des internationalen Umfelds betrifft die Empfängerseite: Die seit nunmehr etwa vier Jahrzehnten beschriebene wirtschaftliche Differenzierung der Entwicklungsländer hat sich seit Anfang/Mitte der 2000er Jahre mit dem Aufstieg der Schwellenländer, insbesondere Chinas und Indiens, sowie einer Schar weiterer dynamisch wachsender Länder fortgesetzt. Zwar haben die Spätwirkungen der globalen Finanzkrise und die überraschende Trendumkehr beim Wachstum der subsaharischen sowie anderer ärmerer Volkswirtschaften das Tempo der Differenzierung wieder etwas gebremst, die absolute Armut hat sich jedoch weltweit verringert. Seit 1990 hat sich der Anteil der Menschen, die in absoluter Armut leben – gemessen an kaufkraftbereinigten 1,25 US-Dollar pro Kopf und Tag – weit mehr als halbiert: 2011 lag er in Entwicklungsländern bei 17 Prozent der Bevölkerung. Das wichtigste Millenniumsziel wurde also vor der Zeit erreicht. Den größten Anteil absolut Armer verzeichnen in dieser Reihenfolge das subsaharische Afrika sowie Süd- und Ostasien, also Regionen mit gegenwärtig starker Wachstumsdynamik. In anderen Entwicklungsregionen ist nur noch ein relativ geringer Restanteil der Bevölkerung betroffen. Absolute Armut konzentriert sich überdies auf nur wenige Länder – Indien, Nigeria, China, Bangladesch, die Demokratische Republik Kongo und Indonesien in dieser Reihenfolge –, welche, die Demokratische Republik Kongo ausgenommen, Armutslinderung und soziale Mindestsicherung aus eigenen Kräften bewerkstelligen könnten. Nimmt man die Projektionen künftigen Wachstums und künftiger Armutsentwicklung zum Nennwert, wird es bis 2030 kaum mehr absolut Arme geben. Auch die nicht-einkommensbezogenen Indikatoren der Millenniumsziele zeichnen ein nicht allzu schlechtes Bild: Beispielsweise wird das Ziel der universellen Einschulung, wenn auch nicht in weiten Teilen des subsaharischen Afrikas und Südasiens, im Durchschnitt erreicht; auch einer Geschlechtergleichheit bei der Schulbildung ist man international zumindest auf der Primarstufe sehr nahe gekommen; zudem gibt es gewaltige Fortschritte bei der Reduktion der Kindersterblichkeit. Bei der Überwindung der schlimmsten Formen von Armut und mangelnder sozialer Sicherung im weiteren Sinne sind also in relativ kurzer Zeit beachtliche Fortschritte gemacht worden. Das ist unabhängig davon zu konstatieren, ob die EZ wesentlich dazu beigetragen hat oder überhaupt effektiv war, sowie von der Frage, ob die vereinbarten Ziele umfassend genug definiert wurden. Die Gruppe der Staaten, die gegenwärtig und in absehbarer Zukunft zur Versorgung ihrer Bevölkerung mit sozialen und infrastrukturellen Mindestleistungen am wenigsten in der Lage sind, beschränkt sich heute auf die fragilen oder gar gescheiterten Staaten und wenige andere auf unterster Entwicklungsstufe. Angesichts der rückläufigen absoluten Armut und ihrer Konzentration auf eine kleiner werdende Gruppe von fragilen Staaten unternehmen EZ-Agenturen sowie Vertreterinnen und Vertreter fortgeschrittener Volkswirtschaften intellektuelle Klimmzüge, um Transfers an Länder mit mittlerem und höherem Einkommen zu rechtfertigen. In begrenzter Anerkennung dieser Lage hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bereits eine beträchtliche Zahl von Empfängerländern aus der Liste der Berechtigten genommen, weitere werden mit der zunehmenden Konvergenz der Wirtschafts- und Sozialprofile von etablierten Industriestaaten und aufstrebenden Volkswirtschaften zwangsläufig folgen. Was jahrzehntelang erhofft wurde, findet seit mindestens einer Dekade statt: Die Wohlstandskluft zwischen Entwicklungs- und Industrieländern weitet sich nicht mehr, sondern schrumpft. Das globale wirtschaftliche Schwergewicht verlagert sich langsam in den Süden beziehungsweise Osten der Erde. Kaufkraftbereinigt kommt die sogenannte Dritte Welt für etwas mehr als die Hälfte des globalen Sozialprodukts auf, ihr Beitrag zum globalen Wachstum liegt bereits bei über 70 Prozent. Ähnliche Tendenzen sind bei ihrem Beitrag zum weltweiten Wachstum, Außenhandel, bei den Devisenreserven und auch bei der Entwicklung der globalen Machtverteilung erkennbar. Damit erodiert die logische Basis der bisher geleisteten EZ. Vielfältige Finanzierungsmöglichkeiten Entwicklungsländer verfügen heutzutage über eine Vielzahl ergiebiger, neuer und alter, externer und interner Finanzierungsquellen für Entwicklungsprogramme. Dies reduziert den Stellenwert der klassischen öffentlichen EZ erheblich. Unter öffentlicher EZ (Official Development Assistance, ODA) werden nach der Definition des Entwicklungsausschusses der OECD Leistungen an Entwicklungsländer, ihre Staatsangehörige oder internationale Organisationen zugunsten von Entwicklungsländern mit einem Zuschusselement von mindestens 25 Prozent gefasst, die von öffentlichen Stellen mit dem vorrangigen Ziel der Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung von Entwicklungsländern vergeben werden. Das ODA-Volumen der 34 OECD-Mitgliedstaaten belief sich 2013 auf rund 135 Milliarden US-Dollar, ihr Anteil an den gesamten externen Kapitalzuflüssen in Entwicklungsländern ist auf etwa ein Sechstel geschrumpft. Diese externen Mittel kommen wiederum für ein Sechstel der gesamten Investitionen auf. Natürlich ist die Abhängigkeit von ODA unterschiedlich und in den ärmsten Staaten, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, noch beachtlich, wobei auch hier nachlassend. Es wäre jedoch verwegen, die vergünstigten öffentlichen Transfers flächendeckend für einen zu großen Teil des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts (oder der Stagnation) im gesamten globalen Süden verantwortlich zu machen. Auf der UN-Konferenz zu Entwicklungsfinanzierung 2002 in Monterrey, Mexiko, bei der auch Weltbank, Internationaler Währungsfonds und Welthandelsorganisation vertreten waren, wurde erstmals über die gesamte Palette an Möglichkeiten zur Mobilisierung von Finanzmitteln für Entwicklung diskutiert und deren Bedeutung für die Finanzierung der Umsetzung der Millenniumsziele betont. Eine naheliegende interne, in der internationalen Diskussion häufig unterbelichtete Finanzierungsquelle sind die eigenen Steuereinnahmen eines Landes. Die Generierung ausreichender Einnahmen ist jedoch angesichts des Umfangs des informellen Sektors, des Vorherrschens von Kleinbetrieben und der geringen Steuerdisziplin beziehungsweise der Kapitalflucht gerade in besonders armen Ländern ein schwieriges Unterfangen. Die Steuerquote liegt in solchen Ländern meist bei unter 15 Prozent des BIP. Größtenteils bedingt durch steigende Rohstofferlöse haben die Steuereinnahmen in der vergangenen Dekade durchschnittlich aber kräftig zugenommen. Ein größerer Ertrag wäre durch die Schließung von Steuerschlupflöchern, den Abbau von Subventionen, eine bessere Administration und Korruptionsbekämpfung durchaus erreichbar. Auch auf der Verwendungsseite der Steuermittel gäbe es erheblichen Spielraum: Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Staatsausgaben von Entwicklungsländern (oftmals bis zu einem Viertel) wird von Subventionen beispielsweise für Energie, Kraftstoffe und Nahrungsmittel absorbiert, die nur sehr begrenzt den Bedürftigen zugutekommen. Bei den staatlichen Bildungs- und Gesundheitsprogrammen ist es oft nicht anders, vielfach könnten die gleichen Ergebnisse mit einem deutlich geringeren Mitteleinsatz und ihrer besseren Verteilung erreicht werden. Eine weitere quasi-interne, aber noch schwieriger zu erschließende Quelle wäre die Unterbindung von Kapitalflucht und exzessiver Korruption, die Mittel für öffentliche Investitionen verringern oder diese durch Seitenzahlungen verteuern. Allein die durch illegale Abflüsse erlittenen Verluste, die im Wesentlichen durch eine Unterfakturierung von Exporten und eine Überfakturierung von Importen sowie die Anlage dieser "Erlöse" im Ausland entstehen, beliefen sich 2012 – allerdings methodisch sehr schwer einzuschätzenden Analysen zufolge – auf immerhin 946,7 Milliarden US-Dollar. Spitzenreiter bei der Höhe dieser gesetzeswidrigen Transfers sind die asiatischen Länder, bezogen auf das BIP aber der afrikanische Kontinent. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen Kapitalverkehrskontrollen, der Korruption in einem Land und dem relativen Volumen dieser illegalen Abflüsse. Deshalb wären eine nachhaltige Verbesserung der institutionellen Qualität und Transparenz in weniger entwickelten Ländern hilfreich – ein allerdings relativ langfristiges Unterfangen. Bei der Bewältigung dieser Aufgabe könnten Anlageländer der oft illegalen Transfers und Gastländer von Konzernen, die Bestechung leisten, kräftig mithelfen, tun dies jedoch trotz einschlägiger Vereinbarungen nur in begrenztem Maße. Unternehmen, die Bestechung in Entwicklungsländern geleistet haben, wurden bisher nur in wenigen Staaten sanktioniert, Hilfe bei der Repatriierung illegaler Abflüsse ist noch seltener. Die wichtigste externe Finanzierungsquelle für nahezu alle Entwicklungsländer sind Einkünfte aus dem Export von Gütern und Dienstleistungen. Diese beliefen sich 2012 mit 8,3 Billionen US-Dollar auf fast die Hälfte der globalen Ausfuhren. Seit Jahren wachsen die Ausfuhren aus Entwicklungsländern doppelt so schnell wie jene der Industriestaaten, rund 60 Prozent sind mittlerweile Fertigwaren. Der Anteil des sogenannten Süd-Süd-Handels hat sich seit 1980 verdreifacht. Diese erfreulichen Daten betreffen vor allem die asiatischen Volkswirtschaften. Die Exporterlöse afrikanischer, arabischer und lateinamerikanischer Staaten beruhen nach wie vor stark auf Rohstoffen und werden auch zu einem nicht geringen Teil von Tochtergesellschaften westlicher oder transnationaler Unternehmen erwirtschaftet, womit sie in ärmeren Ländern wiederum nur begrenzt über eine Besteuerung zur staatlichen Entwicklungsfinanzierung verwendet werden können. Die Leistungsbilanzen der einst notorisch verschuldeten Staaten haben sie zwischenzeitlich aber erheblich entlastet und verschiedentlich auch zum Aufbau hoher Devisenreserven geführt. Eine seit Jahrzehnten wichtiger werdende externe Quelle sind private Direktinvestitionen aus dem Ausland, deren Umfang in Entwicklungsländern sich 2013 auf rund 778 Milliarden US-Dollar belief. Im Gegensatz zu anderen privaten Kapitalströmen weisen sie einen einigermaßen stabilen Verlauf auf. 2012 übertrafen Entwicklungsländer erstmals die Industriestaaten als Anlagesphäre für private Direktinvestitionen. Ein steigender Anteil entfällt auf Süd-Süd-Investitionen (Hauptquelle: China). Die früher oft bemängelte Konzentration der Direktinvestitionen hat sich etwas gemildert, selbst das subsaharische Afrika wird neuerdings stärker bedacht. Aber auch die Summe der erwähnten Bankkredite, kurzfristiger Darlehen und von Entwicklungsländern ausgegebener Anleihen ist – mit starken Unterbrechungen während der internationalen Finanzkrise – beachtlich gewachsen: Sie summierten sich 2012 auf 383,9 Milliarden US-Dollar, also auf weit über das Doppelte des ODA-Volumens. Am stärksten fluktuierten kurzfristige Darlehen und Bankkredite, Anleihen verzeichnen erst neuerdings einen starken Anstieg. Auch diese Zuflüsse weisen eine starke Länderkonzentration auf. Bezogen auf das BIP der Empfänger schneiden aber die ärmeren Entwicklungsländer in Südasien und Subsahara-Afrika nicht viel schlechter ab als der Rest. Geradezu explosionsartig sind die sogenannten Gastarbeiterüberweisungen von im Ausland lebenden Arbeitskräften in ihre Heimatländer gestiegen: Sie beliefen sich 2012 auf 351 Milliarden US-Dollar (2000: 123 Milliarden US-Dollar), also auf fast das Dreifache der ODA-Transfers. Sie wurden etwa hälftig aus OECD-Mitgliedstaaten und anderen (hauptsächlich nahöstlichen) Regionen überwiesen und entlasteten die Leistungsbilanz vor allem der ärmeren Entwicklungsländer kräftig. Im Gegensatz zu anderen externen Zuflüssen waren sie überdies eher antizyklischer Natur, stiegen also eher in Zeiten der Not. Ihr Entwicklungsbeitrag ist dennoch zweifelhaft, da sie eher den Konsum der Angehörigen von Arbeitsmigrantinnen und -migranten fördern und möglicherweise auch deren Eigenanstrengungen dämpfen. Zudem schwächt der Kapitalzufluss durch die damit einhergehende Währungsaufwertung die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit des Heimatlandes der Gastarbeiter. Das gilt eingeschränkt freilich auch für ODA. Ferner sind bei den externen Zuwendungen an Entwicklungsländer auch die Transfers von Nichtregierungsorganisationen, Unternehmen und Einzelpersonen gewachsen. Das Volumen dieser Transfers ist schwer zu bestimmen und wurde vom Entwicklungsausschuss der OECD für 2011 auf 32 Milliarden US-Dollar geschätzt, was etwa einem Viertel der ODA entsprach. Hinzu kommen entsprechende Zuwendungen aus Nicht-OECD-Staaten und rasch wachsende Spenden von Einzelpersonen, die über elektronische Plattformen abgewickelt werden. Eng verwandt mit diesen Quellen sind Zuwendungen von Stiftungen, deren Volumen mit knapp 30 Milliarden US-Dollar 2012 auch bereits etwa einem Viertel der ODA entsprach. Stiftungen passen sich jedoch nur begrenzt den Prioritäten und Verfahren der übrigen Geber an und widmen sich vorwiegend Bildungs-, Gesundheits- und Umweltprogrammen. Nicht zuletzt gibt es auch die "neuen" Geber aus den Reihen der Entwicklungsländer selbst, zeitlich startend mit den arabischen Ölförderländern in den 1970er Jahren, wobei es zuvor schon sehr kleine chinesische und indische Programme gegeben hatte, später ergänzt durch eine Reihe von Schwellenländern und ehemals sozialistischen Staaten, zuletzt auch durch die 2014 gegründete New Development Bank der regionalen Führungsmächte Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika (BRICS). Die Programme dieser neuen Geber zeichnen sich durch die angebliche Abwesenheit von Auflagen und einem gemeinsamen Nutzen aus. Mit rund 15 Millionen US-Dollar entspricht das Volumen ihrer Transfers etwa einem Zehntel der ODA. Diese Aufstellung der Kapitalquellen von Entwicklungsländern macht eines deutlich: Den meisten Staaten mit mittlerem Einkommen und jenen ärmeren Staaten, die privaten Investoren verlässliche Bedingungen bieten, fehlt es nicht an Möglichkeiten, Mittel zur Finanzierung von Fortschritt und Wohlfahrt zu mobilisieren. ODA kommt nur noch für einen durchschnittlich sehr kleinen Teil der Entwicklungsbemühungen auf. Effizienz der EZ Über den effektiven und effizienten Einsatz der ODA-Mittel gibt es eine schon jahrzehntelange wissenschaftliche Debatte, die hier nicht nachgezeichnet werden soll. Nur so viel: Nimmt man einen beidseitig kausalen Einfluss der EZ auf Wachstum an schließt Beiträge wie etwa Nahrungsmittelhilfe und Verwaltungskosten aus, die den Empfängern nur begrenzt nutzen, geht von längeren Amortisationszeiträumen etwa für Bildungs- und Gesundheitshilfe aus und berücksichtigt die Wechselwirkung von EZ und guter Regierungsführung, so stellt sich der Wachstumsbeitrag der EZ moderat positiv dar. Die offizielle Debatte um die Wirkungssteigerung der EZ verläuft freilich in anderen, eher technokratischen Bahnen. Im Zentrum stehen hier die beklagte Fragmentierung der Geber und Projekte, die mangelnde Vorhersehbarkeit der Zuwendungen, das fehlende ownership der Projekte und Programme durch die Regierungen der Empfängerländer und – damit zusammenhängend – das Übermaß an Verwaltungsaufwand, restriktiven Verwendungsauflagen oder Vorbedingungen (Konditionalität). Es gibt einen recht eindeutigen negativen empirischen Zusammenhang zwischen der Fragmentierung der Hilfe und – vor allem in Bezug auf das subsaharische Afrika – dem wirtschaftlichen Wachstum. Ferner stellen nicht vorhersehbare EZ-Zuwendungen eine Quelle wirtschaftlicher und fiskalischer Instabilität in Entwicklungsländern dar. Die entsprechenden Wohlfahrtsverluste können gerade für ärmere Länder beträchtlich sein. Seit der Jahrtausendwende sind international zahlreiche Beschlüsse gefasst worden, um die Wirksamkeit der EZ zu verbessern. Damals wurde mit den Millenniumsentwicklungszielen ein Katalog von allgemeinen, messbaren Entwicklungszielen und definierten Zeiträumen zu ihrer Umsetzung beschlossen. Anschließend wurden auf den Hochrangigen Foren zur Wirksamkeit der EZ in Paris (2005), Accra (2008) und Busan (2011) Verfahren vereinbart, die einen wirkungsvolleren Mitteleinsatz garantieren sollen, und schließlich versprachen die Geber auf fast allen Ebenen Politikkohärenz, also die möglichst große Übereinstimmung von Entwicklungspolitik mit der Politik anderer Ressorts gegenüber der weniger entwickelten Welt. Bei der Umsetzung dieser Verpflichtungen gibt es deutliche Defizite: Von den in Paris vereinbarten Zielen wurde bis 2010 mit der Koordination der Technischen Zusammenarbeit nur eines erreicht. Die Fortschritte waren auf Geberseite sehr uneinheitlich und sinnigerweise schwächer als bei den Empfängern. Besonders schwach waren sie bei der Aufhebung der Lieferbindung, der Entsendung gemeinsamer Gebermissionen und der Linderung der Fragmentierung von EZ. Als Hauptgrund für die Defizite führte die OECD politische Widerstände in den nationalen Fachministerien gegen einen Kontrollverlust auf. Dem aktuellen Fortschrittsbericht zufolge gibt es nach wie vor Verbesserungsbedarf bei der Orientierung an den Zielsetzungen der Partnerländer, der Nutzung ihrer Haushaltssysteme für die Umsetzung von EZ sowie bei der Einbeziehung der Zivilgesellschaft und des Privatsektors in die Entwicklungsplanung. EZ und globale öffentliche Güter 2015 endet der Zeitrahmen für die Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele. Schon lange vorher setzte eine internationale Debatte ein, wie diese fortentwickelt werden müssten, vor allem seit der Rio+20-Konferenz 2012. Seitens der Vertreter der Industriestaaten besteht Einigkeit, dass die EZ sich künftig auf die ärmsten, fragilen Staaten konzentrieren müsse und einen Beitrag zur Finanzierung sogenannter globaler öffentlicher Güter leisten solle. Dabei handelt es sich um öffentliche Güter, deren Bereitstellung nicht von einem Staat allein, sondern nur durch die regionale oder globale Zusammenarbeit mehrerer Staaten gewährleistet werden kann, wie beispielsweise Frieden, die Durchsetzung der Menschenrechte, die Erhaltung der Umwelt und des Weltklimas, aber auch Finanzstabilität und freier Handel. Nachhaltigkeit war seit Beginn der Diskussionen ein prominentes Thema. Dies spiegelt sich auch im vorläufigen Katalog der Sustainable Development Goals (SDGs) wider, der 17 Ziele mit insgesamt 169 Unterzielen umfasst, die alles enthalten, was sich die Menschheit an Fortschritt wünschen kann. Die künftigen Ziele differenzieren nicht mehr nach Industrie- und Entwicklungsländern, sondern nach dem Vermögen eines Landes, die Ziele zu erreichen. Damit heben sie die klassische Trennung von Gebern und Nehmern in der EZ auf. Indem sie menschliche Entwicklung und globale Nachhaltigkeit annähernd gleich gewichten, stellen die SDGs letztlich einen Katalog für die Bereitstellung globaler öffentlicher Güter dar und sprengen den Rahmen der bisherigen EZ vollständig. Wie die Mittel für die Realisierung des neuen Zielkatalogs aufgebracht werden sollen – die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) rechnet immerhin mit einem allein für die Zielumsetzung in Entwicklungsländern nötigen Finanzvolumen von 3,3 bis 4,5 Billionen US-Dollar pro Jahr, das Intergovernmental Committee of Experts on Sustainable Development Financing mit einem globalen Bedarf von noch deutlich mehr – und nach welchem Verfahren und Schlüssel sie verteilt werden sollen, ist noch reichlich unklar. Sicher ist jedoch, dass hierfür die ODA mit ihrer nie erreichten Zielgröße von 0,7 Prozent des BIP der Geberländer nicht ausreicht. Im Juli 2015 soll auf der dritten internationalen Konferenz zu Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba eine neue Partnerschaft für Entwicklung beschlossen werden, im September auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen die SDGs. Bislang vorliegende Papiere lassen erkennen, dass zur Finanzierung der SDGs alle Quellen genutzt werden sollen. Dazu gehören nationale Steuereinkünfte sowie private in- und ausländische Finanzierungsquellen, denen ein erstaunlich hoher Stellenwert eingeräumt wird, neue, innovative Finanzierungsinstrumente wie Steuern auf Flugtickets, Finanztransaktionen und Klimagasemissionen, und nach wie vor die ODA, die endlich auf 0,7 Prozent des BIP der Geberländer gesteigert werden soll. Wirtschaftliche und soziale Kernfunktionen sollen im Wesentlichen durch nationale Steuermittel finanziert werden, Vorhaben im Bereich der Nachhaltigkeit (Klima, Landwirtschaft, Infrastruktur und Industrie) vor allem durch den Einsatz privater Mittel, der durch staatliche Vorgaben geleitet und reguliert werden soll, während zugleich eine gerechtere Integration der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft vorangetrieben werden soll. Die EZ spielt bei diesen Überlegungen nur noch eine untergeordnete Rolle und soll auf die ärmsten und verwundbarsten Gesellschaften konzentriert werden. Ihre Effizienz soll verbessert werden und sie soll im Wesentlichen dazu dienen, langfristige, private Mittel für die Realisierung der SDGs zu mobilisieren. Obgleich die Realisierungschancen dieser Finanzierungsvorhaben als eher bescheiden einzuschätzen sind, würde eine auch nur ansatzweise Umsetzung dieser Agenda bedeuten, dass die EZ, wie wir sie kannten, der Vergangenheit angehören wird. Vgl. beispielsweise Guido Ashoff/Stephan Klingebiel, Transformation eines Politikfeldes: Entwicklungspolitik in der Systemkrise und vor den Herausforderungen einer komplexeren Systemumwelt, in: Franziska Müller et al. (Hrsg.), Entwicklungstheorien, PVS Sonderheft 48, Baden-Baden 2014, S. 166–199. Vgl. World Bank, Global Monitoring Report 2014/2015. Ending Poverty and Sharing Prosperity, Washington, D.C. 2014; Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD), Perspectives on Global Development 2014. Boosting Productivity to Meet the Middle-Income Challenge, Paris 2014. Vgl. World Bank (Anm. 2). Tatsächlich entfiel in den vergangenen Jahren immer noch etwa die Hälfte der öffentlichen EZ auf Länder mit mittlerem und hohem Einkommen. Vgl. OECD (Anm. 2). Vgl. World Bank, Global Development Horizons. Capital for the Future: Saving and Investment in an Interdependent World, Washington, D.C. 2013. Vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Leitfaden "Was ist Official Development Assistance (ODA)?", Externer Link: http://www.bmz.de/de/ministerium/zahlen_fakten/hintergrund/leitfaden/index.html (6.1.2015). Vgl. International Monetary Fund (IMF), Revenue Mobilization in Developing Countries, Washington, D.C. 2011. Vgl. zu Bildung Lant Pritchett, The Rebirth of Education, Center for Global Development, Washington, D.C. 2013; zu Gesundheit World Health Organization, The World Health Report. Health Systems Financing, Geneva 2010. Vgl. Dev Kar/Brian LeBlanc, Illicit Financial Flows from Developing Countries: 2002–2011, Global Financial Integrity, Washington, D.C. 2013. Vgl. Larissa Gray, Few and Far: The Hard Facts on Stolen Asset Recovery, Washington, D.C. 2014. Vgl. World Trade Organization, World Trade Report 2013, Geneva 2013. Vgl. United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD), World Investment Report 2014. Investing in the SDGs. An Action Plan, New York–Genf 2014. Vgl. World Bank, International Debt Statistics 2014, Washington, D.C. 2014. Vgl. OECD, Development Co-operation Report 2014. Mobilising Resources for Sustainable Development, Paris 2014. Vgl. ebd. Vgl. OECD, Development co-operation Report 2011. 50th Anniversary Edition, Paris 2011. Vgl. Channing Arndt et al., Aid and Growth, UNU-WIDER Discussion Paper 5/2009; Tseday Jemaneh Mekasha/Finn Tarp, Aid and Growth: What Meta-Analysis Reveals, Journal of Development Studies, 49 (2013) 4, S. 564–583; Jonathan Glennie/Andy Sumner, The $138.5 Billion Question: When Does Foreign Aid Work (and When Doesn’t It)?, Center for Global Development Policy Paper 49/2014. Vgl. Hidemi Kimura/Yuko Mori, Aid Proliferation and Economic Growth: A Cross-Country Analysis, World Development, 40 (2012) 1, S. 1–10. Vgl. Ales Bulir/A. Javier Hamann, Volatility of Development Aid: From the Frying Pan into the Fire?, IMF Working Paper 65/2006; Masahiro Kodama, Aid Predictability and Economic Growth, World Development, 40 (2012) 2, 266–272. Vgl. G. Ashoff/S. Klingebiel (Anm. 1). Vgl. OECD, Aid Effectiveness 2005-10: Progress in Implementing the Paris Declaration, Paris 2011. Vgl. OECD, Making Development Co-operation More Effective. 2014 Progress Report, Paris 2014. Vgl. United Nations General Assembly, The Road to Dignity by 2030: Ending Poverty, Transforming All Lives and Protecting the Planet, Synthesis Report of the Secretary-General on the Post-2015 Sustainable Development Agenda, New York 2014. Vgl. UNCTAD, Investing in the Sustainable Development Goals: An Action Plan, Trade and Development Board, 61st Session 2013. Vgl. United Nations General Assembly (Anm. 23).
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Joachim Betz
2022-03-23T00:00:00
2015-02-03T00:00:00
2022-03-23T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/200368/umbruch-in-der-entwicklungsfinanzierung/
Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit kommt nur noch für einen kleinen Teil der Entwicklungsbemühungen ärmerer Länder auf. Die neue globale Agenda für nachhaltige Entwicklung setzt auf vielfältige Finanzierungsquellen.
[ "Entwicklungsfinanzierung", "Entwicklungspolitik", "Entwicklungszusammenarbeit", "EZ", "Sustainable Development Goals" ]
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Ossi? Wessi? Geht's noch? | Deutschland Archiv | bpb.de
- Interner Link: Die. Wir. Ossi. Wessi? Von Antonie Rietzschel, sie ist in Leipzig Reporterin für die Süddeutsche Zeitung. - "Interner Link: Wie man zum Ossi wird". Von Johannes Nichelmann. Der Journalist ist Autor des Buches "Nachwendekinder". - Interner Link: "Es gibt keine richtige Ostdebatte". Von Christian Bangel, der Publizist ("Oder Florida") schreibt für Zeit Online. Alle drei Texte sind dem Band entnommen „(Ost)Deutschlands Weg. 80 Studien & Essays zur Lage des Landes", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der seit 1. Juli 2021 im Interner Link: bpb-shop erhältlich ist. Hier mehr über das Buch "Interner Link: (Ost)Deutschlands Weg", produziert von der Redaktion Deutschland Archiv der bpb. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Ergänzend: - Externer Link: (K)Einheit. Ein neuer Ost-West-Konflikt? Vier studentische Perspektiven anno 2023 - Interner Link: Drei Jahrzehnte später. Texte aus Schüler*innenzeitungen zur Deutschen Einheit. - Interner Link: D wie Dialog. Die Geschichte des Kennzeichen D - Interner Link: Ostdeutsche Frakturen für immer? Eine Analyse von Steffen Mau - Interner Link: Populismus in Ost-und West. Eine Datenanalyse von Philip Manow. - Interner Link: Zusammenwachsen in Feindseligkeit? Eine Analyse von Andreas Zick und Beate Küpper.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-03-31T00:00:00
2020-10-01T00:00:00
2023-03-31T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/316542/ossi-wessi-geht-s-noch/
Drei Denkanstöße von Antonie Rietzschel, Christian Bangel und Johannes Nichelmann: Über 32 Jahre ist die Deutsche Einheit alt und schon mehr als 33 Jahre die Mauer verschwunden. Aber auch die im Kopf?
[ "Osssi", "Wessi", "Nachwendekinder", "Ostdeutschland", "Westdeutschland", "DDR", "BRD", "Deutsche Einheit", "Wiedervereinigung" ]
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Migrationspolitik - Januar 2023 | Migrationspolitik – Monatsrückblick | bpb.de
Rund 30 Prozent mehr Asylanträge 2022 Im Jahr 2022 wurden Externer Link: in Deutschland 244.132 Asylanträge gestellt – 53.316 (27,9 Prozent) mehr als im Vorjahr. Darunter waren 217.774 Erst- und 26.358 Folgeanträge. 24.791 Erstanträge wurden für in Deutschland geborene Kinder im Alter von unter einem Jahr gestellt. Damit sind insgesamt 192.983 Menschen neu nach Deutschland eingereist, um hier Asyl zu suchen. Die meisten Erstanträge stammten von syrischen (70.976), afghanischen (36.358) und türkischen (23.938) Staatsangehörigen. Im Jahresverlauf hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) über die Asylanträge von 228.673 Personen entschieden. Davon erhielten 40.911 Personen den Flüchtlingsstatus und 57.532 subsidiären Schutz, bei 30.020 Personen wurden Abschiebungsverbote festgestellt. Die Anträge von 49.330 Asylsuchenden wurden abgelehnt, 50.880 Anträge erledigten sich anderweitig, etwa durch Entscheidungen im Interner Link: Dublin-Verfahren oder die Rücknahme des Asylgesuchs. Besonders hohe Chancen, einen Schutzstatus zugesprochen zu bekommen , hatten 2022 Menschen aus Interner Link: Syrien (Gesamtschutzquote: 90,3 Prozent), Interner Link: Eritrea (84 Prozent) und Interner Link: Afghanistan (83,5 Prozent). Die Interner Link: Gesamtschutzquote für alle Herkunftsländer lag bei 56,2 Prozent – rund 16 Prozentpunkte Externer Link: höher als 2021 (39,9 Prozent). Neben Menschen, die in Deutschland einen Asylantrag stellten, wurden bis zum Jahresende 2022 zudem Externer Link: nach Angaben des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) 1.045.185 Geflüchtete aus der Ukraine im Ausländerzentralregister registriert. Somit handelte es sich bei rund 80 Prozent aller 2022 nach Deutschland eingereisten Schutzsuchenden um Menschen, die vor dem Interner Link: Krieg gegen die Ukraine geflohen waren. Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine müssen in Deutschland keinen Asylantrag stellen, sondern erhalten unbürokratisch einen temporären Schutzstatus, der ihnen Zugang zum Arbeitsmarkt und zum Bildungssystem sowie zur Gesundheitsversorgung und sozialstaatlichen Leistungen (Grundsicherung) gewährt. Auf diese Regelung hatten sich Interner Link: die EU-Mitgliedstaaten Anfang März 2022 geeinigt – kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar. Gewalt in der Silvesternacht entfacht Debatte um Integration und Jugendgewalt Gewalttätige Angriffe auf Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten in der Silvesternacht haben eine Debatte um Integrationsprobleme und Jugendgewalt ausgelöst. In mehreren deutschen Städten waren Polizist:innen, Feuerwehrleute und Rettungskräfte unter anderem mit Böllern und Raketen beschossen worden. Dutzende Einsatzkräfte wurden verletzt. Die Berliner Polizei berichtete zunächst von 145 Festnahmen im Zusammenhang mit der Silvesternacht, darunter 45 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit sowie Tatverdächtige 17 weiterer Nationalitäten, insbesondere afghanische und syrische Staatsangehörige. Später wurde die Zahl korrigiert: Gegenüber dem Tagesspiegel bestätigte die Berliner Polizei Mitte Januar 59 angezeigte Angriffe gegen Polizist:innen und 43 gegen Feuerwehr und Rettungsdienste. Nach einer Externer Link: eigenen Umfrage der Zeitung unter allen Bundesländern habe es in der Silvesternacht bundesweit mindestens 282 Angriffe auf Polizei und Feuerwehr gegeben. Die ursprünglichen Berichte lösten eine breite politische und mediale Debatte insbesondere über die Interner Link: Integration von jungen Männern mit Migrationshintergrund aus. Während einige Politiker:innen und Kommentator:innen eine „gescheiterte Integrationspolitik“ sowie fehlenden Respekt vor staatlichen Institutionen verantwortlich machten und harte staatliche Reaktionen forderten, warnten andere davor, die Debatte auf das Thema Migration zu verengen. Stattdessen sollten die die sozialen Gründe von Jugendgewalt sowie sozio-ökonomische Probleme in bestimmten Vierteln deutscher Großstädte wie Berlin stärker in den Blick genommen werden. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kündigte einen detailliertes Lagebild ihres Ministeriums zu den Ereignissen in der Silvesternacht an. Dieses liegt bislang nicht vor. Die Externer Link: Gewerkschaft der Polizei plädiert nach den Silvester-Angriffen für ein bundesweites Böllerverbot. Der Externer Link: Feuerwehrverband setzt sich dafür ein, die Einsatzfahrzeuge von Feuerwehr und Polizei mit Videotechnik auszustatten, die abschreckend wirken und bei der Ermittlung von Tatverdächtigen unterstützen könnte. Deutschland will rund 5.000 afghanische Studentinnen unterstützen Deutschland will rund 5.000 aus Afghanistan geflohenen Frauen ermöglichen, ihr Studium in den Ländern Bangladesch, Kirgisistan und Pakistan fortzusetzen. Das haben das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und der Externer Link: Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) angekündigt. Dafür stellen sie bis Ende 2027 insgesamt rund sieben Millionen Euro zur Verfügung. Das Stipendienprogramm ist eine Reaktion auf eine Erklärung des Taliban-Regimes aus dem Dezember 2022, wonach Frauen nicht mehr länger an Hochschulen studieren dürfen. Wenige Tage später erteilten die Taliban zudem ein Arbeitsverbot für Frauen bei Nichtregierungsorganisationen. Einige Organisationen mussten ihre Arbeit daraufhin ganz oder teilweise einstellen. Deutschland und andere EU-Staaten diskutieren derzeit, ob angesichts der frauenfeindlichen Politik der Taliban weiter Entwicklungshilfe geleistet werden könne. Außenministern Annalena Baerbock (GRÜNE) sagte im Januar bei einem EU-Treffen in Brüssel, dass deutsche Hilfsgelder nicht dorthin fließen können, wo Frauen nicht mehr arbeiten dürften. Die UN warnen hingegen eindringlich davor, die Afghanistan-Hilfen einzustellen: Etwa zwei Drittel der Bevölkerung des Landes seien auf diese Hilfen angewiesen, um überleben zu können. Seit ihrer Machtübernahme im August 2021 hat das Regime der radikal-islamischen Taliban die Rechte von Frauen und Mädchen stark beschnitten und sie immer weiter aus dem öffentlichen Leben gedrängt. Die Europäische Asylagentur (EUAA) Externer Link: kommt daher zu dem Schluss, dass Mädchen und Frauen in Afghanistan generell dem Risiko von Verfolgung ausgesetzt seien und sie somit Anspruch auf einen Flüchtlingsstatus hätten. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) sind seit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 rund 1,3 Millionen Menschen aus Afghanistan Externer Link: in die Nachbarländer geflohen, insbesondere nach Iran (etwa eine Million) und Pakistan (250.000). In Deutschland haben Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zufolge im Zeitraum August 2021 bis Dezember 2022 fast 49.000 afghanische Staatsangehörige einen Erstantrag auf Asyl gestellt. Insgesamt lebten Mitte 2022 Externer Link: laut UNHCR rund 225.000 afghanische Flüchtlinge und Asylsuchende in Deutschland. Damit ist Deutschland nach Pakistan (rund 1,6 Millionen) und Iran (821.000) das drittwichtigste Zufluchtsland. Weltweit gab es Mitte 2022 rund Externer Link: 2,8 Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan. EU-Innenminister wollen Zahl der Abschiebungen erhöhen Die EU-Mitgliedstaaten wollen die Zahl der Rückführungen von irregulär eingereisten Migrant:innen ohne Aufenthaltsrecht erhöhen. Darüber haben die 27 Innenminister:innen auf einem Externer Link: informellen Treffen in Stockholm zur Vorbereitung der Externer Link: Sondersitzung des Rats der Europäischen Union am 9. und 10. Februar beraten. Laut Innenkommissarin Ylva Johansson würden jährlich in der EU rund 300.000 Rückkehrentscheidungen gefällt, aber nur rund 70.000 Menschen in ihre Herkunftsländer zurückgeführt. Um die Bereitschaft von Drittstaaten zu erhöhen, eigene und auch andere Staatsangehörige, die irregulär über ihr Territorium in die EU eingereist sind, zurückzunehmen, wollen die Innenminister:innen die Visa-Politik als einen stärkeren Hebel nutzen. So sieht der Externer Link: Visakodex der EU seit 2019 vor, dass eine mangelnde Kooperation bei der Rücknahme irregulär eingereister Migrant:innen mit höheren Hürden für Visa sanktioniert werden kann. Umgekehrt können kooperierende Staaten auch mit Visaerleichterungen belohnt werden. 2022 sind Externer Link: nach Angaben der europäischen Grenzschutzagentur Frontex rund 330.000 irreguläre Grenzübertritte an den EU-Außengrenzen erfasst worden. Das ist die höchste Zahl seit 2016 und entspricht einem Anstieg um 64 Prozent gegenüber 2021. Dabei ist die Zahl der Grenzübertritte nicht mit einer Anzahl an Personen gleichzusetzen, da eine Person mehrfach und an verschiedenen Orten eine irreguläre Einreise versucht haben kann. Unter den irregulär in die EU einreisenden Menschen sind viele Asylsuchende. Kommen sie aus Ländern wie Syrien oder Afghanistan, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ihnen im Asylverfahren ein Schutzstatus und damit ein Bleiberecht erteilt wird. Italien erschwert Arbeit von Seenotrettern Die italienische Regierung hat die Arbeit von Seenotrettungsorganisationen weiter erschwert. Schiffe privater Hilfsorganisationen, die auf dem Mittelmeer Flüchtende und Migrant:innen in Seenot helfen, werden derzeit nur Häfen in Mittel- und Norditalien zum Anlegen zugeteilt, um die Geretteten an Land zu bringen. Die Schiffe müssen daher bis zu einem sicheren Hafen sehr lange Strecken zurücklegen – eine Belastung für alle Menschen an Bord und die Finanzen der NGOs. So Externer Link: rechnete der Missionsleiter des von der Organisation Ärzte ohne Grenzen betriebenen Rettungsschiffes „Geo Barents“ vor, dass eine Fahrt nach La Spezia in der nordwestitalienischen Region Ligurien im Vergleich zu einer Ausschiffung in einem sizilianischen Hafen 70.000 Euro zusätzlicher Treibstoffkosten verursache. Ein Anfang Januar 2023 von der Mitte-rechts-Regierung unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni erlassener Verhaltenskodex verpflichtet die Seenotretter:innen zudem dazu, unmittelbar nach einem Rettungseinsatz einen Hafen anzusteuern, anstatt mehrere zusammenhängende Einsätze zu unternehmen. Die Seenotrettungsorganisationen sehen darin einen Versuch, die Schiffe möglichst lange vom zentralen Mittelmeer fernzuhalten und die Kosten der Einsätze zu erhöhen. Laut dem Externer Link: neuen Verhaltenskodex riskieren Kapitäne, die gegen die Vorschriften verstoßen, Geldstrafen in Höhe von bis zu 50.000 Euro. Außerdem droht eine zweimonatige, bei wiederholten Verstößen auch eine dauerhafte Beschlagnahmung ihres Schiffs. Das Externer Link: italienische Innenministerium zählte im Zeitraum 1. Januar bis 8. Februar 2023 6.458 Menschen, die über das Mittelmeer nach Italien gekommen waren – mehr als doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum (3.053 Ankünfte). Nur rund ein Zehntel aller Bootsflüchtlinge in Italien werden von der italienischen Küstenwache oder Marine sowie von privaten Seenotrettungsschiffen an Land gebracht – der Großteil erreicht mit eigenen Booten die italienische Küste. Anfang Januar 2023 Externer Link: forderten 20 Hilfsorganisationen die italienische Regierung auf, das Externer Link: Dekret mit den Vorschriften für die private Seenotrettung zurückzunehmen. Die Regelungen würden gegen internationales Recht verstoßen, wonach Schiffsbesatzungen verpflichtet seien, Menschen in Seenot zu helfen. Die Überfahrt über das Mittelmeer, eine der tödlichsten Migrationsrouten der Welt, werde so für Schutzsuchende noch gefährlicher. Nach Externer Link: Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) kamen allein auf dem zentralen Mittelmeer im Laufe des Jahres 2022 bei rund 125.000 versuchten Überfahrten 1.385 Menschen ums Leben oder werden seither vermisst. Seit Jahren werfen Politiker:innen aus den EU-Mitgliedstaaten der privaten Seenotrettung vor, eine "Brücke nach Europa" zu sein, indem sie Menschen erst dazu ermutigen würden, die gefährliche Überfahrt zu wagen. Die These vom "Pull-Faktor“ Seenotrettung wird Externer Link: wissenschaftlich mehrheitlich abgelehnt. Dass Menschen Interner Link: im Einklang mit internationalem Recht aus Seenot gerettet werden müssen, betont ein jüngst in Italien getroffenes Gerichtsurteil, Externer Link: über das die Organisation Pro Asyl berichtet. Am 11. Oktober 2013 waren 268 Schutzsuchende bei einem Schiffbruch auf dem Mittelmeer ums Leben gekommen; die italienische Küstenwache hatte fünf Stunden lang nicht auf ihre Notrufe reagiert. Die Richter:innen in Rom kamen im Dezember 2022 zu dem Schluss, dass sich zwei Kapitäne der italienischen Küstenwache und Marine der vorsätzlichen Unterlassung der Rettung schuldig gemacht hätten. Die beiden Angeklagten wurden jedoch nicht verurteilt, weil der Fall strafrechtlich verjährt ist. Was vom Monat übrig blieb... Die Nettozuwanderung nach Deutschland war 2022 so hoch wie noch nie seit Beginn der Erfassung 1950. Das zeigt eine aktuelle Externer Link: Schätzung des Statistischen Bundesamts. Demnach kamen im Laufe des Jahres bis zu 1,45 Millionen Menschen mehr nach Deutschland als fortzogen. Hauptgrund ist vor allem der Zuzug von Interner Link: rund einer Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Die Bevölkerung Deutschlands wuchs um 1,1 Millionen auf einen neuen Rekordwert von 84,3 Millionen Einwohner:innen Ende 2022. Ohne Nettozuwanderung wäre die Bevölkerung seit 1972 geschrumpft: Seither starben jährlich mehr Menschen, als geboren wurden. Die meisten Menschen, die nach Deutschland zuwandern, kommen aus einem anderen europäischen Land – 2021 waren dies 63,8 Prozent aller Zugewanderten (46,7 Prozent aus der EU). Das geht aus dem neuen Externer Link: Migrationsbericht der Bundesregierung für das Jahr 2021 hervor. Die Hauptherkunftsländer waren Rumänien, Polen und Bulgarien. 148.233 Personen aus Drittstaaten stellten einen Erstantrag auf Asyl, 81.705 erhielten Aufenthaltserlaubnisse aus familiären Gründen, 40.421 einen Aufenthaltstitel zur Erwerbstätigkeit. 102.549 Ausländer:innen aus EU- und Nicht-EU-Staaten kamen zum Studium nach Deutschland. Der neue Direktor der Interner Link: europäischen Grenzschutzagentur Frontex, Hans Leijtens, hat versprochen, Interner Link: Pushbacks zu beenden. Es sei wichtig, dass Frontex-Beamt:innen im vorgegebenen rechtlichen Rahmen handeln. Der Grenzschutzagentur war in den vergangenen Jahren Interner Link: immer wieder vorgeworfen worden, an der völkerrechtswidrigen Zurückschiebung von Schutzsuchenden beteiligt gewesen zu sein oder sie wissentlich nicht verhindert zu haben. Leitjens Vorgänger Fabrice Leggeri war deswegen unter Druck geraten und im Frühjahr 2022 Interner Link: von seinem Posten zurückgetreten. Die Gesamtzahl der in Pakistan lebenden Afghan:innen wird auf drei Millionen geschätzt; darunter finden sich rund 775.000 Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis. Externer Link: https://euaa.europa.eu/news-events/euaa-publishes-report-afghan-refugees-pakistan (Zugriff: 31.01.2023). Im Iran leben zudem schätzungsweise 2,1 Millionen undokumentierte Afghan:innen und rund 586.000 Menschen mit afghanischem Ausweis (inklusive Menschen mit Studien- oder Familienvisa). Externer Link: https://www.unhcr.org/ir/refugees-in-iran/ (Zugriff: 31.01.2023).
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-04-13T00:00:00
2023-02-09T00:00:00
2023-04-13T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/monatsrueckblick/518151/migrationspolitik-januar-2023/
In Deutschland haben Angriffe auf Einsatzkräfte in der Silvesternacht eine Debatte um Integration und Jugendgewalt ausgelöst. Neue Regelungen in Italien erschweren die Seenotrettung.
[ "Migrationspolitik", "Migration", "Italien", "Italien", "Italien", "Seenot", "Seenotrettung", "Seenot-Rettung", "Gewalt", "Afghanistan", "Abschiebungen", "Visapolitik", "Visa" ]
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WS 31: Die Ängste und Sorgen der Menschen ernst nehmen | 13. Bundeskongress Politische Bildung – Ungleichheiten in der Demokratie | bpb.de
Beschreibung Wenn wir von sogenannten "Bildungsfernen" sprechen, dann sind damit Menschen gemeint, die aufgrund verschiedener sozialer Benachteiligungen – nicht individueller Defizite – wenig an institutionalisierter Bildung teilnehmen. Damit verbunden ist, dass sie über weniger gesellschaftliche und politische Teilhabechancen verfügen. Die Bezeichnung als "Bildungsferne" im von uns verwendeten Sinn richtet sich vor allem auf ein geringere kulturelle Passung zwischen Bildungsinstitutionen und bestimmten AdressatInnen. D.h., nicht nur die Individuen haben Distanz zu institutionalisierter Bildung, sondern – und das ist mindestens genauso wichtig – auch die institutionalisierte Bildung weist soziale und kulturelle Distanz zu ihren AdressatInnen auf. Dieses Verhältnis einer doppelten Distanz findet sich auch in Bezug auf politisches Interesse und Teilhabe wieder. Der Selbstausschluss aus politischen Diskursen kann auch als ein vorweggenommener Fremdausschluss interpretiert werden, der auf der Annahme oder der Erfahrung beruht, dass die eigenen Meinungen im politischen Feld keine Beachtung finden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es in dieser Gruppe kein Interesse an politischen oder gesellschaftlichen Themen gibt. Die Gruppe der „Bildungsfernen“ ist allerdings heterogen, was auch in ihren unterschiedlichen Politikbildern zum Ausdruck kommt. Im Workshop wird die Möglichkeit eröffnet, anhand von Originalaussagen und Visualisierungen in Bezug auf Politik und Gesellschaft aus verschiedenen Forschungsprojekten Aspekte der Politikbilder "Bildungsferner" zu erarbeiten und eine verstehende Perspektive zu diesen einzunehmen. Die Ergebnisse sollen auch dahingehend diskutiert werden, welche Anschlussmöglichkeiten sich für die politische Bildung, gerade auch hinsichtlich als schwierig empfundener Haltungen, ergeben können. Veranstalter/Workshopleitung Universität Duisburg Essen, Fachgebiet Erwachsenenbildung/ Politische Bildung Interner Link: Mark Kleemann-Göhring, Felix Ludwig, Natalie Pape Zeit/Ort 20.03. 14.30-16.30 Uhr Format Diskussion von Material aus Forschungsprojekten
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Bundeszentrale für politische Bildung
2023-02-17T00:00:00
2015-01-27T00:00:00
2023-02-17T00:00:00
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bundeskongress-politische-bildung/13-bundeskongress-politische-bildung-ungleichheiten-in-der-demokratie/199645/ws-31-die-aengste-und-sorgen-der-menschen-ernst-nehmen/
Im Workshop wird die Möglichkeit eröffnet, anhand von Originalaussagen und Visualisierungen in Bezug auf Politik und Gesellschaft aus verschiedenen Forschungsprojekten Aspekte der Politikbilder "Bildungsferner" zu erarbeiten und eine verstehende Pers
[ "Bundeskongress" ]
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Bereit für den Wechsel? Die strategische und inhaltliche Positionierung von CDU/CSU und FDP vor der Bundestagswahl 2002 | Parteien und Wahlen | bpb.de
Einleitung Oppositionszeiten sind Phasen der politischen Regeneration. Sie zwingen Parteien, ihre Standpunkte und Strategien zu überdenken. Das zeigte sich schon frühzeitig. So legte die CSU bereits während ihres kurzzeitigen Regierungsverlustes in Bayern zwischen 1954 und 1957 den Grundstein für eine Parteimodernisierung, von der sie noch lange zehren sollte. Ebenso nahmen die Sozialdemokraten die wiederholten Niederlagen in den fünfziger Jahren zum Anlass, ihre überkommene Programmatik und Wahlkampfstrategie zu erneuern. Für die Liberalen sollte die Zeit der Großen Koalition einen ähnlichen Effekt haben. Und bei der CDU bescherte schließlich der Machtverlust von 1969 eine Phase, in der sie ihre Partei grundlegend reformierte. Nach ihrer langen Regierung hatten CDU/CSU und FDP seit 1998 erneut vier Jahre Zeit, um ihre Rückkehr ins Kanzleramt vorzubereiten. Haben sie diese Zeit tatsächlich genutzt, um ihre Strategien und Standpunkte auszubauen? Der folgende Artikel blickt zunächst auf ihre medialen und politischen Positionierungen, um dann in einem zweiten Schritt ihre inhaltlichen Neuansätze vergleichend zu beleuchten. I. Amerikanisierung? Neue mediale Strategien Seit einiger Zeit wird den deutschen Parteien eine zunehmende "Amerikanisierung" der Wahlkämpfe vorgehalten. Spätestens seit dem Schröder-Wahlkampf 1998 seien demnach die politischen Inhalte durch eine Personalisierung, Medieninszenierung und Emotionalisierung verdrängt worden. Mit solchen Wertungen sollte man allerdings zunächst vorsichtig sein. Schließlich haben die kulturkritischen Amerikanisierungsängste eine ebenso lange Tradition wie die erwähnten Wahlkampfelemente selbst. Schon die Wahlkämpfe von Adenauer und Brandt waren in hohem Maße auf die Spitzenkandidaten zugeschnitten und setzten nicht auf lange Wahlprogramme, sondern auf medial vermittelbare Emotionen. Beide öffneten ihre Privatsphäre für die Medien, orientierten sich an Umfragen und machten ihre moderne Wahlkampfführung selbst zum Thema. Deshalb sollte man eher die politisierten siebziger und frühen achtziger Jahre als eine Ausnahmephase ansehen, in der starke Parteiorganisationen und Programmdiskussionen eine vergleichsweise große Bedeutung hatten. Dennoch lassen sich bereits im Vorfeld des Bundestagswahlkampfes 2002 neuartige mediale Strategien ausmachen. Keine Partei erwies sich dabei als so wandlungsbereit wie die FDP. Wenn das Schlagwort der Amerikanisierung für eine Partei zutreffend erscheint, dann für die Liberalen. Ihr mediales Innovationspotenzial reicht weit über den immer wieder zitierten "Big-Brother"-Auftritt ihres Vorsitzenden hinaus. Betrachtet man es systematisch, so lassen sich bislang sechs neue Wahlkampfelemente ausmachen, die innerparteilich mitunter recht umstritten sind. Die FDP setzt erstens auf gezielte Tabubrüche, um sich mediale Aufmerksamkeit zu sichern. Sei es durch Wahlplakate mit Adolf Hitler ("Wenn wir nicht schnell für Lehrer sorgen, suchen sich unsere Kinder selber welche"), nackte Hintern zur Europawahl oder werbende Auftritte von Porno-Star Dolly Buster. Zweitens führten die FDP-Politiker neue Formen der popkulturellen Medienevents ein. Fallschirmsprünge oder der Benzinverkauf ohne Steueranteil auf Parteitreffen gaben einen Vorgeschmack auf die geplanten Aktionen. Für eine Kleinpartei leitete sie, drittens, eine neuartige starke Personalisierung ein, indem sie bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt und für die Bundestagswahl ihre Spitzenkandidaten als potenzielle Ministerpräsidenten und Kanzler präsentierte. Westerwelle soll wie die Kanzlerkandidaten der Volksparteien promotet werden, etwa mit der geplanten Sommertour im "Guidomobil". Ein komplettes FDP-Schattenkabinett ergänzt diese Personalisierung für alle Politikbereiche. Eine neue mediale Strategie ist, viertens, dass die FDP ihren angestrebten Wahlerfolg selbst zum Kernthema ihres Wahlkampfes macht. Aus den angepeilten 18 Prozent leitete die FDP das Zahlensymbol 18 ab, das ihren Wahlkampf in allen Bereichen durchzieht. Diese Strategie erscheint durchaus schlüssig, da bekanntlich im Sinne der Selffulfilling prophecy die Aussicht auf Erfolg auch den Erfolg mit hervorbringen kann. Zweifelsohne rücken gerade durch diese Strategie die Inhalte besonders in den Hintergrund. Ausgeglichen wird dies am ehesten dadurch, dass sich die Liberalen, fünftens, als Vorreiter des Internet-Campaignings präsentieren. Frühzeitig trat die Partei als "www.FDP.de" auf, gründete einen rein virtuellen 17. Landesverband und ließ ihr Programm auch von Nichtmitgliedern im Internet diskutieren. Für eine kleine Partei liegen die monatlichen Zugriffszahlen ihrer Homepage mit 500 000 bis 1,2 Millionen recht hoch. Auf diese Weise kann die FDP nicht nur über ihre Anhänger hinaus Inhalte vermitteln, sondern zugleich ihr Image als moderne, jugendliche Partei aufbessern. Schließlich will die FDP, sechstens, bei ihrer Spendensammlung neue Maßstäbe setzen. Ihr "18/2002 Bürgerfonds für Deutschland" macht das verrufene Spendenwesen selbst zum Event. Eine ausgelagerte, professionell geleitete Fundraising-Zentrale, große Fundraising-Dinner (etwa zu Westerwelles Geburtstag), neue Spendenmöglichkeiten (etwa per Telefon) und gezielte Anschreiben an Selbständige und "Ökosteuergeschädigte" gehören hierzu. Wieso vollzogen ausgerechnet die Liberalen unter Möllemann und Westerwelle diese strategische Wende? Einerseits legten die harten Niederlagen der neunziger Jahre neue Wahlkampfkonzepte nahe. Andererseits unterstrichen die liberalen Erfolge in einigen Nachbarländern nicht nur neue Erfolgschancen, sondern setzten sie zugleich unter Erfolgsdruck. Für kleine, von wenigen Aktiven getragene Parteien eröffnet die Mediendemokratie neue Chancen. Nicht zufällig weisen zahlreiche populistische Erfolgsparteien Westeuropas Vorsitzende auf, die sich durch provokative Medienauftritte einen Namen machten. Dabei konnte sich Westerwelle allerdings auch deshalb gut halten, weil er zugleich seit seiner Jugend im klassischen Organisationsnetz der FDP verankert war. Eine vergleichbare mediale Wende vollzog die CDU/CSU nicht. Selbstverständlich nahmen auch ihre Wahlstrategen Impulse aus den USA auf. In der Internet-Kommunikation führte die CDU etwa als erste Partei das "Rapid Response" ein, das Ausführungen des politischen Gegners sofort beantworten und so parteinahen Journalisten Argumente liefern sollte. Um mediale Aufmerksamkeit zu erreichen, druckte die CDU ungewöhnlich selbstironische Plakate ("Machen Sie mehr aus Ihrem Typ"), ließ ihren Zukunftskongress von dem Fernseh-Star Johannes B. Kerner moderieren und erprobte symbolische Aktionen, bei denen etwa Kartons mit der Aufschrift "neue Mitte" von der SPD abgeholt wurden. Nachdem die Presse einige dieser Inszenierungen belächelte oder - wie beim Fahndungsplakat mit Schröder - kritisierte, ist die Union hier jedoch deutlich zurückhaltender geworden. Ihren größten Erfolg hatte sie ohnehin nicht mit den modernen Medieninszenierungen erreicht, sondern mit der traditionellen Unterschriften-Kampagne im hessischen Landtagswahlkampf 1999. Im Unterschied zur SPD verzichtete die CDU abermals auf eine medienwirksam ausgelagerte Wahlkampfzentrale. Ihr "Rapid Response" kam selten zum Einsatz. Im Zuge von Stoibers Nominierung begann sie vielmehr eine "Inszenierung der Nicht-Inszenierung". Schröder stellte sie als guten Medien-Schauspieler dar, Stoiber dagegen als sachlichen Politiker, der auf Inhalte setzt. Angesichts von Stoibers Problemen in der Mediendarstellung machte die Union damit aus der Not eine Tugend. Gleichzeitig bemüht sich Stoiber natürlich ebenfalls um telegene Auftritte im In- und Ausland. Entgegen einigen Erwartungen sorgte Stoibers Nominierung damit nicht für eine neuartig starke Personalisierung des Vorwahlkampfes. Er selbst hielt sich öffentlich zurück. Auch im Wahlprogramm fand Stoibers Name keine Erwähnung. Eine langfristige personenbezogene Kampagne konnten die christdemokratischen Wahlkampfzentralen wegen der späten Kandidaten-Entscheidung ohnehin nicht vorbereiten. Koordinierungsschwierigkeiten zwischen den Schwesterparteien, die jeweils mit eigenen wahlkampfunerfahrenen Werbefirmen arbeiten, verzögerten den Kampagnenanlauf zusätzlich. In der Presse sprach man deshalb schon von dem "abwesenden Kandidaten" (Matthias Geis). Eine Amerikanisierung des Wahlkampfes verspricht allenfalls das angekündigte Fernsehduell zwischen Stoiber und Schröder. Seit 1961 hatten die Kandidaten hierzu zwar schon häufiger herausgefordert, aber nun erst gewährte es ein amtierender Kanzler. Insgesamt zeichnet sich im Vorfeld der Wahl damit kein neuartig amerikanischer Medienwahlkampf ab. Selbst die provokanten Auftritte der FDP wird man mit diesem Begriff nicht schlüssig fassen können. So verzichten die Liberalen etwa auf eine Medialisierung der Privatsphäre, zumal sich dies bei dem Single Guido Westerwelle ohnehin nicht anbietet. Was dagegen alle Parteien verstärkt erproben, sind humoreske Experimente von Werbeprofis, die Techniken der Produktwerbung auf die Politik übertragen. Deshalb sollte man weniger von einer "Amerikanisierung" als von einem "Kulturtransfer" sprechen, bei dem transnational Entwicklungen aufgegriffen werden, aber daraus neue Verbindungen mit der eigenen Kultur entstehen. II. Politische Positionierungen im Parteiensystem Den Parteien wird in den Medien häufig vorgeworfen, sie seien immer ununterscheidbarer geworden. Auch diese Kritik ist etwas einseitig. Denn nicht nur die Parteien haben sich einander angenähert, sondern auch die gesellschaftlichen Gruppen und die Träger der Öffentlichkeit. So wie die Wähler heute leichter zwischen den Volksparteien wechseln, changieren auch die Journalisten leichtfüßiger von der taz bis zur Welt. Insofern sind die Parteien weiterhin Ausdruck der Gesellschaft. Die (sicherlich nur vorübergehende) Abschwächung ideologischer Konflikte birgt besonders für die Union Probleme. Bis 1989 konnte sie ihre unterschiedlichen Wählergruppen gerade dadurch integrieren, dass sie Schutz gegen den drohenden Sozialismus versprach. Der kalte Krieg, die linken Protestbewegungen und die DDR einte das heterogene Mitte-Rechts-Lager. Übrig geblieben ist von den alten Feindbildern jedoch nur die PDS. Für die Wahlkämpfe der Union hat sie deshalb eine entsprechend große Mobilisierungsfunktion. Auch 2002 wird die Warnung vor einem Rot-Roten-Bündnis somit eine Wahlkampfstrategie bilden. Zudem setzt die Union auf eine künstliche Polarisierung gegenüber der SPD. Um die Grenzen zwischen den politischen Lagern zu unterstreichen, hat Stoiber angekündigt, nur mit der FDP koalieren zu wollen, nicht mit den Sozialdemokraten. Diese Abgrenzung schlägt sich auch in der Sprache nieder. So wie Schröder und Westerwelle die Christdemokraten gerne als "Konservative" umschreiben, bezeichnet die CDU die Linke häufig als "Sozialisten". Inhaltliche Differenzen zur SPD will die Union durch gezieltes Negativ-Campaigning herausstellen - besonders in der Wirtschaftspolitik. Ihr Wahlprogramm wendet sich durchgängig gegen die Fehler von "Rot-Grün". Um die Auseinandersetzung symbolisch zu verdichten, setzt Stoiber zudem auf kulturell-moralische Differenzen. Seine häufig wiederholte Formulierung, er werde sich nicht dafür entschuldigen, dass er "34 Jahre verheiratet sei und drei Kinder von derselben Frau" habe, repräsentiert etwa jenen traditionellen Konflikt um christliche Normen, aus denen die Union und ihre Vorläuferparteien einst entstanden. Die CDU/CSU steht als Oppositionspartei allerdings vor einer zusätzlichen Schwierigkeit. Neben der notwendigen Polarisierung muss sie zugleich jene Annäherung an die Regierung aufbringen, die bereits Brandt, Kohl und Schröder den Weg ins Kanzleramt ermöglichten. Denn radikale Wechsel scheuen die Wähler. Der CSU-Mann Stoiber stand dabei unter besonderem Anpassungsdruck. Laut einer EMNID-Umfrage vom Januar 2002 wurde Stoiber auf einer Links-Rechts-Skala von eins bis zehn mit 6,4 rechts von der CDU (5,8) eingeschätzt. Schröder hingegen stand mit 4,4 rechts von der SPD (4,1) und damit eher zwischen den Volksparteien. Falls Stoiber diese Werte nicht verschieben kann, könnte Schröder leichter Wechselwähler ansprechen. Aus diesem Grunde blieb Stoiber seit seiner Nominierung unverkennbar zurückhaltender. Zahlreiche bislang kritisierte Reformen von Rot-Grün will er nicht rückgängig machen. Stoiber will eben nicht die Fehler seines polarisierenden Mentors Franz Josef Strauß wiederholen und rückt deshalb in die politische Mitte. Auch die FDP betont ihren Platz in der Mitte und zieht diesmal ohne Koalitionsaussage in die Bundestagswahl. Die im November 2000 beschlossene Abnabelung von der CDU knüpft an Möllemanns Strategie an, ist aber zugleich der allgemeinen Parteienentwicklung geschuldet. Die Wahlniederlagen der FDP im Jahr 1999, die CDU-Spendenaffäre und der Generationswechsel erleichterten die neue Öffnung zur Sozialdemokratie. Ihren Hauptgegner im Wahlkampf sehen die Liberalen in den Grünen. "Gelb rein - Grün raus, das ist das wichtigste Ziel der F.D.P. für die Bundestagswahl 2002", heißt es in ihrem Geschäftsbericht. Um die Abgrenzung zu unterstreichen, schloss die FDP-Spitze eine Koalition mit den Grünen aus. Dabei steht die FDP den Grünen mitunter durchaus näher als der gewerkschaftsnahen SPD, etwa in einigen Fragen der Wirtschafts-, Rechts- und Finanzpolitik oder bei der Bundeswehrreform. Der Kampf um den dritten Platz und um bildungsbürgerliche Wählergruppen spornt jedoch zu dieser Auseinandersetzung an. Damit wird im Wahlkampf erneut ein scheinbar paradoxes Phänomen deutlich: Alle Parteien rücken zur politischen Mitte und verringern die Distanz zueinander, versuchen aber gleichzeitig, sich hart voneinander abzugrenzen, um ihre Wähler zu mobilisieren. Die FDP überraschte die Öffentlichkeit mit einer weiteren politischen Neupositionierung: Ihre Parteiführung erhob nunmehr den Anspruch, ebenfalls eine "Partei für das ganze Volk" zu sein, eine "liberale Volkspartei". Von der bisherigen Sozialstruktur ihrer Mitglieder und Wähler her kann sie ihn kaum einlösen. Vielmehr überwiegen die Selbstständigen, während Arbeiter völlig unterrepräsentiert sind. Die geplanten Kampagnen ihrer Parteiführung weisen nicht darauf hin, dass sie in Zukunft auch Arbeiter stärker einbezieht. So richten sich die Musterbriefe ihres Kampagnenplanes etwa ausschließlich an Selbstständige, Ärzte und Schulabgänger. III. Inhaltliche Positionierungen Die CDU begann nach dem Regierungsverlust von 1998 eine neue Programmdiskussion. Diese wurde jedoch erst durch die schnellen Wahlerfolge retardiert, dann durch die Spendenaffäre und die lange umstrittene K-Frage. Dennoch reichte die Debatte aus, um das programmatische Profil der Christdemokraten leicht zu verschieben. Unter Angela Merkel wurde die CDU sowohl wirtschafts- als auch gesellschaftspolitisch etwas liberaler. Dementsprechend meldeten sowohl der konservative als auch der christlich-soziale Parteiflügel verhaltene Bedenken an. In Wertfragen vermissten sie das traditionelle christliche Profil, in sozialpolitischen Fragen einen stärkeren Schutz der wirtschaftlich Schwachen. Ihr Diskussionsprozess wurde in hohem Maße von der Parteiführung gelenkt. Die zentralen Entwürfe des Jahres 2001 stammten vor allem von Angela Merkel, die diese mitunter an den Gremien vorbei in die Medien brachte. Auch das am 6. Mai 2002 veröffentlichte Wahlprogramm "Leistung und Sicherheit - Zeit für Taten" wurde nicht vorab im Bundesvorstand diskutiert, dafür aber frühzeitig in den Medien gestreut. Die Integrationskraft der Programmdebatte selbst blieb damit gering. Angela Merkel prägte auch die zentralen Begriffe, in denen sich die inhaltliche Neuausrichtung der CDU verdichten sollte. Die "Wir-Gesellschaft", die "Neue Soziale Marktwirtschaft" und der Abschluss eines "Vertrages" mit den Bürgern stießen freilich in der Partei und in der Öffentlichkeit auf ein verhaltenes Echo. Die meisten Kommentatoren fragten, was eigentlich das "Neue" sei. Seit Stoibers Nominierung deutete sich an, dass die Programmdiskussion für den Wahlkampf nur bedingt fruchtbar war. Die von Merkel geprägten Begriffe wurden von Stoiber gemieden und nicht in das gemeinsame Wahlprogramm übernommen. Damit fehlten der CDU/CSU langfristig platzierte Begriffe, die ihre Programme popularisieren. Ebenso musste sie Anfang 2002 ihre Inhalte neu austarieren. Programmatisch war sie damit für den Vorwahlkampf nur schwach gerüstet. Den inhaltlichen Schwerpunkt ihres Wahlkampfes setzt die Union erwartungsgemäß auf die Wirtschaftspolitik, insbesondere auf den Abbau der Arbeitslosigkeit. Daneben spielt die innere Sicherheit und die Familienförderung eine größere Rolle. Die innere Sicherheit und die Wirtschaftspolitik gehörten stets zu den Politikfeldern, in denen der CDU/CSU eine hohe Kompetenz zugeschrieben wurde. Zudem kann die Union 2002 davon profitieren, dass die Wirtschaftskrise und der 11. September die Bedeutung dieser Themen erhöhte. Ihr Kandidat Edmund Stoiber kann gerade in diesen Bereichen Erfolge vorweisen, die sich in einem klaren Kompetenzvorsprung gegenüber Schröder niederschlagen. Vor allem männliche Wähler sehen hier die Stärken von Stoiber, während Frauen selbst in diesen Bereichen Schröder deutlich mehr zutrauen. Die FDP setzte etwas andere Akzente. Neben der Wirtschaftspolitik will sie Bildung und Mobilität in den Vordergrund stellen. Ihre programmatische Debatte wurde nach dem Regierungsverlust ebenfalls durch den lange schwelenden Führungskonflikt um den ehemaligen Vorsitzenden Wolfgang Gerhardt überlagert. Die schlechten Landtagswahlergebnisse 1999 dürften für sie jedoch ein Ansporn gewesen sein, ihre Programmatik auszubauen. Ihr Wahlprogramm glänzt dabei durch besonders konkrete und weitreichende Forderungen. Als kleine Korrektivpartei kann sie sich das leichter erlauben. In welchem Maße die bürgerlichen Parteien hierbei neue Akzente setzen, sei an einigen Politikfeldern dargestellt, die im Wahljahr eine besondere Rolle spielen. IV. Die Familienpolitik rückt in den Wahlkampf Die Familienpolitik erlebte im Vorfeld der Bundestagswahl eine unerwartete Aufmerksamkeit. Alle Parteien schwangen sich zum Anwalt der Familienförderung auf, um die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf zu verbessern und die schwache Geburtenrate zu steigern. Die familienpolitischen Wege dorthin sind allerdings unterschiedlich. Bei der CDU/CSU spielte die Familienpolitik in ihrer gesamten Parteigeschichte eine recht große Rolle. Für die christliche, aus dem politischen Katholizismus entstandene Partei gilt Familie als die Keimzelle der Gesellschaft. Ähnlich wie bei ihren europäischen Schwesterparteien blieb die Familienförderung deshalb ein Kernbestandteil der christdemokratischen Sozialpolitik. Schon in ihrer ersten Oppositionsphase hatte sich die CDU mit der Forderung nach einem hohen Erziehungsgeld profiliert. Als Regierungspartei stockte sie seit Mitte der achtziger Jahre die Kinderfreibeträge und das Kindergeld auf, sicherte den Erziehungsurlaub finanziell und arbeitsrechtlich ab und sorgte für die rentenwirksame Anerkennung von Erziehungs- und Pflegezeiten. Der Union ging es dabei allerdings vor allem um die finanzielle Familienförderung, kaum um die staatliche Kinderbetreuung in Ganztagsschulen, Kindergärten und Krippen, die die außerhäusliche Arbeit von Frauen erleichtert. Dementsprechend liegt das Krippenangebot der unionsregierten Musterländer Bayern und Baden-Württemberg heute bundesweit an letzter Stelle. Die aktuellen programmatischen Vorschläge der CDU/CSU stehen weiterhin in dieser Tradition. Seit Ende 1999 bildet das von ihr geforderte hohe "Familiengeld" ihre wichtigste sozialpolitische Alternative zum rot-grünen Regierungskurs. In den ersten drei Lebensjahren sollen Familien pro Kind 600 Euro monatlich erhalten, dann 300 bis zum Alter von 17 Jahren. Dafür werden Kindergeld und Erziehungsgeld zusammengelegt. Gegenüber der bisherigen Regelung begünstigt dieser Vorschlag allerdings vor allem besser verdienende Familien. Denn sie erhalten demnach einkommensunabhängig jenes Erziehungsgeld, das momentan nur Einkommensschwachen zusteht. Wer Kinder erzieht, soll zudem geringere Beiträge zur Rentenversicherung zahlen. Zugleich sollen aber weiterhin auch kinderlose Ehepaare steuerlich gefördert werden. Die Ehe selbst bleibt damit für die C-Parteien eine gesellschaftliche Grundsäule. Bei ihren wirtschaftlichen Liberalisierungsplänen klammert die CDU die Familien stärker als bisher aus. So verlangte sie für die ersten Erziehungsjahre den Ausbau des Kündigungsschutzes, einen Anspruch auf Teilzeitarbeit und die Ausdehnung des Erziehungsurlaubes. Ein Zeitkonto von drei Jahren soll den Rechtsanspruch auf Erziehungsurlaub sichern. Im Wahlprogramm wurde dies jedoch nicht weiter aufgenommen. Im Unterschied zu den Sozialdemokraten formulierte die Union zudem keine konkreten Vorschläge, in welchem Maße sie die staatliche Betreuung von Kindern ausbauen will. Allein die Forderung nach der "verlässlichen halbtägigen Grundschule" findet sich in ihrem Wahlprogramm. Neue Impulse deuten sich hier eher in der politischen Praxis der Länder an. So führte der saarländische CDU-Ministerpräsident Peter Müller etwa schrittweise den kostenlosen Kindergarten ein. Zugleich diskutierte und revidierte die Union vorsichtig ihr traditionelles, kirchlich geprägtes Familienbild. Als Familie definierte sie explizit auch Alleinerziehende oder nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern. Angela Merkels persönliche Lebenserfahrung scheint die familienpolitische Werteverschiebung gefördert haben. Als berufstätige, geschiedene und kinderlose Frau dürfte sie ein anderes Familienbild besitzen. Zugleich zeigte das erste Wahlkampfplakat der Union Stoibers Ehering in Großaufnahme, um die traditionelle Ehe in den Wahlkampf zu tragen. Die rot-grünen Pläne für eine "Homo-Ehe" lehnte die Union im Vorfeld der Wahl dementsprechend ab. Gleichzeitig sprachen ihre Programme aber gleichgeschlechtlichen Partnerschaften ausdrücklichen Respekt aus. Homosexuellen Paaren kam die CDU zudem mit weitreichenden Vorschlägen entgegen. Deren rechtliche Stellung will sie etwa im Miet-, Bestattungs-, Aussage- und Besuchsrecht verbessern. Im Wahlprogramm der CDU/CSU fand dies keine spezifische Berücksichtigung. Ihr Kanzlerkandidat Stoiber betonte lediglich, auf eine Rücknahme der rot-grünen Reform zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft zu verzichten. Die FDP zeigte sich im Vergleich dazu deutlich aufgeschlossener gegenüber gleichgeschlechtlichen Rechtsgemeinschaften. Westerwelle drängte Ende 1999 sogar die rot-grüne Regierung zu mehr Tempo. Ihr Wahlprogramm fordert weiter gehende Reformen, etwa im Erbschaftssteuerrecht. Im Unterschied zur Union will die FDP das Ehegattensplitting in ein Realsplitting umwandeln. Damit unterstrichen die Liberalen ihre traditionelle Abgrenzung von der christlich-kirchlichen Familienpolitik. Einen vergleichbaren familienpolitischen Schwerpunkt wie die Union setzte die FDP nicht. In ihrem Konzept "Auf dem Weg zu 18" wurde die Familienpolitik nicht einmal erwähnt. Ihr Wahlprogramm verspricht allerdings deutliche Verbesserungen, nämlich einen hohen Grundfreibetrag (von jährlich 7 500 Euro pro Kind), ein höheres Kindergeld und die Möglichkeit, Kosten für die Kindererziehung als Werbungskosten abzusetzen. Obwohl die FDP nicht mehr "die Partei der Besserverdienenden" sein will, gehen ihre steuerlichen Familienkonzepte weiter in diese Richtung. Kostenlose Kindergärten lehnte ihr Parteitag ab. Allerdings will sie mit der Einführung einer "Kita-Card" den Anspruch auf einen Tagesstätten-Platz einführen. Ähnlich wie die Union setzt sie ansonsten auf die häusliche Erziehung, die sie mit einem Freibetrag von jährlich 12 500 Euro für Haushaltshilfen fördern will. CDU/CSU und FDP konturieren ihre sozialpolitische Stärke damit im Wahlkampf 2002 in hohem Maße über die Familienförderung. Dabei bieten sie beide keine konkreten Vorschläge, wie sie die großzügige Staatshilfe bezahlen wollen. An familienpolitischer Kompetenz gewannen sie trotz dieser Versprechen zunächst nicht. Im April 2002 trauten laut Forschungsgruppe Wahlen nur 23 Prozent der Wähler der Union die Lösung familienpolitischer Probleme zu, dagegen 45 Prozent den Sozialdemokraten. V. Nach PISA: die Bildungspolitik Die PISA-Studie führte Ende 2001 zu einer schlagartigen Aufwertung der Bildungspolitik. Das schlechte Abschneiden der deutschen Schüler verwandelte das klassische Länderthema zu einer bundesweiten Aufgabe. Wahlentscheidend wird die Bildungspolitik sicherlich auch 2002 nicht sein. Aber immerhin zeichnet sich ab, dass sie gegenüber früheren Wahlkämpfen dieses Jahr eine größere Bedeutung hat. Besonders die FDP stellt im Wahlkampf ihre bildungspolitische Kompetenz stark heraus. Zu ihren programmatischen Forderungen gehört das Abitur nach zwölf Schuljahren, die Abschaffung der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS), mehr Auswahlmöglichkeiten für die Universitäten und Studenten und die Einführung von "Bildungsgutscheinen", mit denen Studenten die Lehrveranstaltungen bezahlen. Die bildungspolitischen Ansätze der FDP konzentrieren sich dabei vor allem auf die Hochschulen. Die traditionelle Verbindung zwischen Akademikertum und Liberalismus zeigt hier ihren langen Schatten. Dagegen legen die bildungspolitischen Programme der Union traditionell größeres Gewicht auf die Schulen. Im Kampf um die konfessionell getrennte Volksschule hatte sich der politische Katholizismus schließlich wesentlich formiert. Nachdem diese Debatte in den sechziger Jahren abgeklungen war, sorgte die Einführung von Gesamtschulen für Auseinandersetzungen, die ihre Anhänger mobilisierte. Um neue bildungspolitische Wege aufzuzeigen, hatte die CDU 1999 eine langfristige Programmkommission unter Annette Schavan eingesetzt, deren Leitsätze ein kleiner Parteitag im November 2000 verabschiedete. Sie fordern zum Teil Altbekanntes wie das Abitur nach zwölf Jahren, das dreigliedrige Schulsystem mit einer aufgewerteten Hauptschule, Kopfnoten und den Schutz des christlichen Religionsunterrichtes. Zugleich bieten sie einiges Neues: Islamischer Religionsunterricht soll eingeführt werden, Fremdsprachen ab der ersten Grundschulklasse und Vergleichstests zwischen den Schulen, die von einer unbhängigen "Stiftung Bildungstest" durchzuführen seien. Im Hochschulbereich möchte sie das Hochschulrahmengesetz und die ZVS abschaffen und die Hochschulhaushalte verstärkt nach Leistungs- und Belastungskriterien gestalten. Wichtige Themen der aktuellen Debatte umgingen ihre Programme allerdings. Kein richtungsweisender Beschluss fiel etwa zur Einführung von Studiengebühren, zum Bachelor-Abschluss, zu befristeteten Hochschul-Verträgen, zur Junior-Professur oder leistungsbezogenen Professoren-Gehältern. Ihr Wahlprogramm spricht sich gegen die Abschaffung der Habilitation aus, verweist ansonsten aber nur auf "unterschiedliche Möglichkeiten der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung." Auch auf die PISA-Studie fanden die CDU-Programmatiker bisher keine überzeugenden Antworten. Ihre Vorschläge bestanden vornehmlich in einem "Noch mehr". So forderten sie etwa mehr Naturwissenschaften, Fremdsprachen, Deutschunterricht, Ausländerintegration und Lehrerausbildung. Um richtungweisend zu wirken, müssten jedoch einerseits bildungspolitische Schwerpunkte gesetzt werden. Andererseits wäre zu prüfen, welche strukturellen Veränderungen im Schulsystem aus den anderen europäischen Staaten abzuleiten wären. Auf Dauer ist absehbar, dass die Bildungspolitik kein föderales Länderthema bleiben wird. Für die Oppositionsparteien bietet dies Chancen, die sie bislang nicht genutzt haben. VI. Innere Sicherheit und Einwanderung Die CDU hatte sich schon in den neunziger Jahren stärker als Partei der inneren Sicherheit positioniert. Bereits das von Wolfgang Schäuble konzipierte "Zukunftsprogramm" von 1998 forderte in recht drastischem Ton "Null Toleranz für Rechtsbrecher", den "Schutzmann an der Ecke" und die Abschiebung krimineller Ausländer. Nach den Terroranschlägen in den USA und Schilys Sicherheitspaketen verschärfte die Union ihre Programmatik. In ihrem Beschluss "Freie Menschen. Starkes Land" (Dezember 2001) trat sie etwa für bestimmte Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Inneren ein, für eine Kompetenzausweitung von Nachrichtendiensten und Polizei, für mehr Video- und Telefonüberwachung, für ein strengeres Jugendstrafrecht und für eine bundesweite Zulassung von "freiwilligen Polizeihelfern". Im Vergleich zu anderen Politikfeldern waren diese Vorschläge innerparteilich kaum umstritten. Allerdings dürfte eine spätere Koalition mit der FDP hier auf Probleme stoßen. Die Liberalen sprechen sich gegen eine derartige Ausweitung der polizeilichen Überwachung aus und fordern einen strengeren Datenschutz. Zudem lehnen sie einen Bundeswehreinsatz im Inneren ab. Ohnehin beschloss ihr Parteitag im Jahr 2000, die Bundeswehr zu einer Freiwilligenarmee umzubauen, was wiederum die Union ablehnt. Ähnliche Reibungen zeigten sich in der Einwanderungspolitik, die zunehmend mit der inneren Sicherheit verbunden wird. Hier hatte die CDU zunächst unübersehbare Probleme, innerhalb der eigenen Partei eine gemeinsame Linie zu finden, die zudem auch noch mit der rigideren CSU-Programmatik harmoniert. Das rot-grüne Einwanderungsgesetz zwang sie schließlich zu Kompromissen, die erstaunlich harmonisch gefunden wurden. Gegenüber dem rot-grünen Entwurf forderte sie eine stärkere Begrenzung der Zuwanderung, die Nichtanerkennung geschlechtspezifischer und nichtstaatlicher Verfolgung und die Absenkung des Nachzugsalters von Kindern von 16 Jahren auf sechs Jahre. Zugleich will die Union die Einwanderungsbestimmungen für Aussiedler und deren Angehörige gegenüber dem rot-grünen Entwurf lockern. Im Wahlprogramm fanden diese Forderungen aber nur teilweise einen Niederschlag. Denn für die CDU/CSU birgt das Einwanderungsthema zugleich Chancen und Gefahren. Ihre erfolgreiche Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft und die breit rezipierte Debatte um die "deutsche Leitkultur" haben gezeigt, welch großes Mobilisierungspotenzial das Thema verspricht. Welche Tücken es hat, unterstrich dagegen Jürgen Rüttgers Scheitern bei den nordrhein-westfälischen Wahlen. Für die Union ist vor allem problematisch, dass sich weite Teile der Kirchen und der Wirtschaftsverbände für die Annahme des Einwanderungsgesetzes ausgesprochen haben. Gerade in Wahlkampfjahren sind sie weiterhin wichtige Vorfeldorganisationen der Union. In der Einwanderungsdebatte entfernte sich die Union zudem von der FDP. Denn die möchte zumindest für hoch Qualifizierte eine "quotierte Zuwanderung" fördern. Zahlreiche Christdemokraten äußerten schließlich Bedenken, ob die Einwanderung als Wahlkampfthema neuen Fremdenhass erzeugen könnte. Deshalb setzte die Union auf eine Doppelstrategie: Kurz vor der Verabschiedung des Gesetzes gab sie sich erneut kompromissbereit, positionierte sich dabei aber zugleich verbal mit einer harten Haltung. VII. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik Das wahlentscheidende Thema ist auch bei dieser Bundestagswahl die Wirtschaftspolitik. In diesem Politikfeld setzten Union und FDP die klarsten Akzente. Zugleich weisen sie hier die größten Überschneidungen auf. Bezeichnenderweise berufen sich beide nicht nur auf die soziale Marktwirtschaft, sondern auch auf das Erbe Ludwig Erhards; eine historische Reminiszenz, die allerdings zugleich daran erinnert, dass beide Parteien in jüngster Zeit keine großen Wirtschaftspolitiker mehr hervorgebracht haben. Als Kernpunkte stellen ihre Programme Steuersenkungen und Deregulierungen heraus. In der Steuerpolitik verspricht die FDP einen Dreistufentarif von 15, 25 und 35 Prozent ab 40 000 Euro sowie den Wegfall von Gewerbe-, Kfz- und Ökosteuer. Die CDU verlangte zunächst sogar Sätze zwischen 10 und 35 Prozent, dann im Wahlprogramm "unter" 15 bis 40 Prozent. Die Ökosteuer will sie zumindest mittelfristig abschaffen und durch eine europaweite, schadstoffbezogene Abgabe ersetzen. In kaum einem anderen Bereich zeigte die CDU/CSU allerdings zunächst so große interne Abstimmungsschwierigkeiten wie in der Steuerfrage. Bereits im Juli 2000 hatten im Bundesrat einzelne CDU-Länder gegen die Parteilinie der Steuerreform gestimmt. Anfang 2002 traten schließlich Merkel, Stoiber und Merz zugleich mit unterschiedlichen Ansätzen an die Öffentlichkeit. Diese Konfusion resultierte aus der späten Kandidatenbenennung, der geringen Abstimmung zwischen CDU und CSU, der unerwartet schlechten Wirtschaftslage und der schwachen Programmdebatte. Das anfängliche Stimmengewirr dürfte die Union einiges an Ansehen gekostet haben. Denn eines verlangen die Wähler vor allem: die Geschlossenheit der Parteien. Mit ihrem Programm "3x40" könnte die Union diese Debatte allerdings mit einem prägnanten Versprechen auflösen: Neben dem Spitzensteuersatz sollen die Sozialabgaben und die Staatsquote unter 40 Prozent sinken. Einen Zeitrahmen nennt sie dafür allerdings nicht. Um ihre Wirtschaftsreformen im Wahlkampf zu vermitteln, setzen FDP und Union auf zwei bewährte Schlagworte der deutschen Wahlkampfgeschichte: die "Förderung des Mittelstandes" und den "Abbau von Bürokratie". Beides durchzieht ihre Wahlprogramme, ohne dass damit etwa eine explizite Neustrukturierung des Beamtentums, der Wirtschaftskammern oder der Agrarsubventionen verbunden wird. Die eigene Klientel wird unverkennbar geschont. Stattdessen sollen einige rot-grüne Reformen wieder rückgängig gemacht werden. Das gilt z. B. für das Gesetz zur Scheinselbstständigkeit, die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes und das so genannte "630-Mark-Gesetz". Letzteres will die Union in ein 400-Euro-Gesetz umwandeln, die FDP sogar in ein 630-Euro-Gesetz. Mit diesen Vorschlägen können sich die bürgerlichen Parteien so deutlich von den Sozialdemokraten abgrenzen wie in kaum einem anderen Feld. Mit der Rückumwandlung setzen sie sich freilich dem Vorwurf aus, nicht zukunfts-, sondern rückwärtsgewandt zu sein. Bezeichnenderweise will die Union dagegen auf eine erneute Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verzichten. Denn sie hatte 1998 mit dazu beigetragen, dass die Wahl verloren ging. Darüber hinaus planen sie weitere Deregulierungen, um vor allem im Niedriglohnsektor Arbeitsplätze zu schaffen. So will die Union längere befristete Verträge und den Kündigungsschutz lockern, um insbesondere älteren Arbeitslosen zu helfen. Die Aufweichung des Flächentarifvertrages soll Arbeitsplätze vor Ort sichern. Gering qualifizierte Arbeitslose sollen in Form von Kombi-Löhnen öffentliche Zuschüsse zu ihren niedrigen Gehältern erhalten. Gleichzeitig will sie durch die Zusammenfassung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe die Differenz zwischen staatlicher Stütze und Lohn vergrößern. Ähnliches ist den FDP-Programmen zu entnehmen, die insgesamt nur drastischere Maßnahmen empfehlen. So wollen die Liberalen die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verringern, Betriebsräte stärker abbauen und ABM-Stellen streichen. Kombi-Löhne lehnen sie ab. Während die bürgerlichen Parteien in der Wirtschaftspolitik mit recht konkreten Plänen glänzen, bleiben ihre Programme in der Gesundheits- und Rentenpolitik eher blass. Beide Parteien fordern recht allgemein eine stärkere private Absicherung und mehr Wahlmöglichkeiten beim Versorgungsumfang. Obwohl gerade hier große Probleme auf den Staat zukommen, für die die SPD bisher keine überzeugenden Lösungen anzubieten hat, nahmen diese Punkte in den Wahlprogrammen nur geringen Raum ein. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist somit eine Koalition von SPD und FDP nur schwer denkbar. Hier schimmert weiterhin jener "Cleavage" zwischen bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien durch, der seit dem 19. Jahrhundert das Parteiensystem prägte. Dementsprechend sind die DGB-Gewerkschaften im Vorfeld der Wahl wieder auf Distanz zur Union gerückt, obwohl deren Spitzenkandidat Stoiber in Bayern durchaus gute Gewerkschaftskontakte pflegt. VIII. Fazit Der vergleichende Blick auf CDU/CSU und FDP zeigte, welche unterschiedlichen Akzente die Parteien im Vorfeld der Wahl setzten. Die Liberalen wiesen vor allem bei ihrer medialen Darstellung ein hohes Innovationspotenzial auf. Sie griffen Elemente des amerikanischen Wahlkampfes auf, fügten aber zugleich eigenständige Ansätze hinzu. Die CDU/CSU experimentierte dagegen einige Zeit mit neuen Medienauftritten, ließ diese dann aber zugunsten einer eher traditionellen Kampagne fallen. Schließlich setzte sie auf eine "Inszenierung der Nicht-Inszenierung" ihres Kandidaten. Inhaltlich profilieren sich beide Parteien vor allem in der Wirtschaftspolitik, allerdings mit ähnlichen Ansätzen. In anderen Politikfeldern lassen sich dagegen deutliche Differenzen ausmachen, weshalb man nicht vorschnell von einer Ununterscheidbarkeit der Parteien sprechen sollte. Union und FDP suchten eine polarisierende Abgrenzung von Rot-Grün, die zugleich eine inhaltliche Annäherung nicht immer ausschloss. Das recht konkrete Programm der FDP unterscheidet sich dabei in zahlreichen Punkten von der Union und ist somit tatsächlich keine "Taschenbuchausgabe" der CDU/CSU. Die CDU/CSU befindet sich programmatisch in einer Übergangsphase. Die Union liberalisierte ihre Standpunkte in verschiedenen Bereichen, hielt im Wahlprogramm dann jedoch stärker an ihren traditionellen Grundlinien fest. Klare Konzepte legte sie vor allem in der Wirtschafts- und Familienpolitik vor. Die Koordinierungsschwierigkeiten bleiben unverkennbar. Die CDU/CSU ist eben weiterhin keine Programmpartei. Ihr Wahlkampf dürfte damit weniger auf papierenen Entwürfen als auf den bayrischen Wirtschaftsdaten ruhen. Ausgewertet wurden dafür sämtliche programmatischen und strategischen Papiere der Parteien sowie die Pressespiegel der Parteiarchive. Zur Neuformierung der CDU vgl. ausführlich Frank Bösch, Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart-München 2002. Vgl. zuletzt die Beiträge in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), B 15 - 16/2002. Zu den geplanten Aktionen vgl. Auf dem Weg zur 18.'Konzept für den FDP-Bundesvorstand am 18. 2. 2002, S. 25. Zit. in: FDP-Geschäftsbericht 1999 bis 2001, S. 16. Vgl. Anm. 3, S. 19, sowie Focus vom 11. 6. 2001, S. 56. Vgl. Torben Lütjen/Franz Walter, Medienkarriere in der Spaßgesellschaft? Guido Westerwelle und Jürgen W. Möllemann, in: Ulrich von Alemann/Stefan Marshall (Hrsg.), Parteien in der Mediendemokratie (i. E.). Zum theoretischen Konzept vgl. Matthias Middell (Hrsg.), Kulturtransfer und Vergleich, Leipzig 2000. FDP Geschäftsbericht 1999 bis 2001, S. 2. Vgl. Infopaket zur Kampagne Generation Zukunft vom 8.'6. 2001 der FDP. Vgl. Joachim Starbatty, Eine Neue Soziale Marktwirtschaft?, in: Handelsblatt vom 5. 12. 2000. Vgl. Emnid-Umfrage, in: Focus vom 14. 1. 2002, S. 20 f. Vgl. David Hanley (Hrsg.), Christian Democracy in Europe. A comparative perspective, London 1994. Vgl. bes. den Beschluss des Bundesparteiausschusses: Lust auf Familie - Lust auf Verantwortung, verabschiedet am 13. 12. 1999; CDU, Freie Menschen. Starkes Land, S. 54 f. Vgl. CDU-Bundesgeschäftsstelle (Hrsg.), Leitfaden zur Diskussion über die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebengemeinschaften. Vgl. neben dem Wahlprogramm den FDP-Beschluss: Mehr Chancen für Familien vom 4.-6. 5. 2001. Vgl. Aufbruch in eine lernende Gesellschaft. Bildungspolitische Leitsätze. Beschluss des Bundesausschusses der CDU vom 20. 11. 2000. Vgl. Konsequenzen aus PISA. Beschluss des Bundesfachausschusses Bildungspolitik der CDU Deutschlands vom 21. 2. 2002. Vgl. Statements der FDP zur Debatte Innere Sicherheit (Kritik Sicherheitspaket II). Vgl. Kritikpunkte vom 25. 1. 2002; Beschluss des CDU-Bundesausschusses vom 7. 6. 2001: Zuwanderung steuern und begrenzen. Integration fördern. Vgl. Freie Menschen (Anm. 13), Art. 28, S. 42. Vgl. zur Wirtschaftspolitik: Göttrik Wewer (Hrsg.), Bilanz der Ära Kohl. Christlich-liberale Politik 1982 - 1998, Opladen 1998.
Article
Bösch, Frank
2021-12-07T00:00:00
2011-10-04T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/26905/bereit-fuer-den-wechsel-die-strategische-und-inhaltliche-positionierung-von-cdu-csu-und-fdp-vor-der-bundestagswahl-2002/
Oppositionszeiten sind Phasen der inhaltlichen und strategischen Neuformierung. Der Beitrag untersucht vergleichend, in welchem Maße die bürgerlichen Parteien vor der Wahl neue Akzente setzten.
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Migrationspolitik – September 2022 | Migrationspolitik – Monatsrückblick | bpb.de
Zahl geflüchteter Menschen in Deutschland auf Rekordhoch In Deutschland lebten am 30. Juni 2022 2,9 Millionen geflüchtete Menschen – so viele wie noch nie in der Nachkriegszeit. Das geht aus einer Externer Link: Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke hervor. Allein im ersten Halbjahr 2022 sind fast eine Million Menschen nach Deutschland geflohen, insbesondere aus der Ukraine. Das ist ein stärkerer Zuwachs an Geflüchteten als im Herbst 2015, als Hunderttausende Menschen vor allem vor dem syrischen Bürgerkrieg in Deutschland Schutz suchten. Insgesamt waren im Ausländerzentralregister am 30. Juni 2022 896.287 aus der Ukraine geflüchtete Menschen registriert. Hinzu kamen 44.313 Menschen, denen im Asylverfahren eine Interner Link: Asylberechtigung erteilt worden war, 767.217 anerkannte Flüchtlinge, 265.886 Personen mit Interner Link: subsidiärem Schutz sowie 142.438 Geflüchtete, die aufgrund eines Abschiebungsverbots eine Aufenthaltserlaubnis erhalten hatten. Mehrere hunderttausend weitere Geflüchtete haben aufgrund anderer rechtlicher Regelungen Schutz in Deutschland erhalten. Die größte Gruppe bilden darunter die 219.570 Interner Link: jüdischen Zugewanderten aus der ehemaligen Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten. Daneben hielten sich Ende Juni 216.479 Geflüchtete in Deutschland auf, die einen Asylantrag gestellt hatten, über den aber noch nicht entschieden worden war. Erfasst im Ausländerzentralregister waren darüber hinaus 191.364 Ausreisepflichtige mit abgelehntem Asylantrag. Nicht in der Zahl der 2,9 Millionen geflüchteten Menschen enthalten sind die rund Interner Link: 962.000 Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs, die in Deutschland leben und heute im Schnitt 82 Jahre alt sind. Flucht aus der Ukraine: Die Unterkünfte werden knapp Die Versorgung von geflüchteten Menschen mit Wohnraum bringt immer mehr Kommunen an ihre Kapazitätsgrenze. Der Präsident des Deutschen Landkreistags, Reinhard Sager, Externer Link: warnte "vor einer ähnlichen Situation wie 2015/2016". Schon jetzt müssten in vielen Gemeinden wieder Turnhallen als Notunterkünfte herhalten. Mitte September Externer Link: forderte der Deutsche Städtetag angesichts der Engpässe bei der Unterbringung einen neuen Flüchtlingsgipfel und mehr Unterstützung durch den Bund. Es sei alarmierend, dass sich immer mehr Bundesländer weigerten, weitere Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen. Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums gab Anfang September gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland an, dass zwölf von 16 Bundesländern bereits eine Sperre im Erstverteilungssystem aktiviert hätten. Am 17. September waren deutschlandweit nach Angaben des Innenministeriums 992.517 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine registriert. Daneben erhöht auch eine steigende Zahl Schutzsuchender aus anderen Weltregionen den Druck auf das Unterbringungssystem. Die Zahl der Erstanträge auf Asyl hat sich in den ersten acht Monaten des Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum von 85.230 auf 115.402 und damit um 35,4 Prozent Externer Link: erhöht. Die Zahl der Asylsuchenden, die monatlich z.B. über die sogenannte Externer Link: Balkanroute und Externer Link: das Mittelmeer nach Europa gelangen, ist nach Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) ebenfalls höher als im Vorjahr. In EU-Staaten wie Österreich und Luxemburg beobachtet man zudem eine Verschiebung der Herkunftsländer: Neben Menschen aus Syrien, Afghanistan und Irak kämen zunehmend mehr Migrant:innen aus Indien, Bangladesch und Tunesien, die etwa in Serbien oder Bosnien und Herzegowina visafrei einreisen dürfen und von dort in die EU gelangen. Umgang mit russischen Geflüchteten und Deserteuren Auch die Teilmobilmachung in Russland könnte die Zahl der Asylsuchenden weiter steigen lassen. Knapp eine Woche nach der am 21. September erfolgten Anordnung zur Einberufung von etwa 300.000 Reservist:innen der russischen Armee haben bereits zehntausende russische Staatsangehörige das Land verlassen. Die genaue Zahl ist unklar. Allein Kasachstan registrierte nach Angaben der dortigen Migrationsbehörde rund 98.000 neu eingereiste Russ:innen. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex Externer Link: erfasste zwischen dem 19. bis 25. September rund 66.000 Einreisen von russischen Staatsangehörigen - ein Anstieg um 30 Prozent im Vergleich zur Vorwoche. Die meisten russischen Staatsangehörigen reisten über die finnische und estländische Grenze in die EU ein. Insgesamt sind seit Beginn der Invasion der Ukraine rund 1,3 Millionen russische Staatsangehörige auf dem Landweg in die EU gekommen, viele für Kurzzeitaufenthalte, etwa Tourismus oder aus familiären oder beruflichen Gründen. Im gleichen Zeitraum haben 1,28 Millionen Russ:innen die EU in Richtung Russland verlassen. Frontex geht davon aus, dass es vermehrt zu illegalen Einreisen aus Russland kommen könnte, sollte Moskau die Grenzen des Landes für potenzielle Wehrpflichtige schließen. Erschwert wird die legale Einreise in die EU durch die Mitte September getroffene Entscheidung der EU-Mitgliedstaaten, die Bestimmungen für das Ausstellen von Visa an russische Staatsangehörige zu verschärfen. Die an Russland angrenzenden EU-Staaten gingen noch weiter: Am 19. September Externer Link: stoppten die baltischen Staaten und Polen die Vergabe von Kurzzeit-Schengen-Visa an russische Staatsangehörige. Zehn Tage später zog Finnland nach. Die EU findet bislang keine einheitliche Position zum Umgang mit russischen Deserteuren. Insbesondere die osteuropäischen Mitgliedstaaten wollen deren Asylzugang wegen Sicherheitsbedenken beschränken. Nach Externer Link: europäischem Asylrecht können russische Deserteure den Flüchtlingsstatus erhalten, wie eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom Interner Link: November 2020 nahelegt. Dazu müssen sie entweder nachweisen und glaubhaft machen können, dass sie aus dem Militärdienst geflohen sind, weil sie sich sonst an potenziellen Kriegsverbrechen hätten beteiligen müssen, oder dass die Verweigerung des Kriegsdienstes eine unverhältnismäßig hohe Bestrafung oder politische Verfolgung nach sich gezogen hätte. In der EU wurden im ersten Halbjahr 2022 rund 4.640 erstmalige Asylanträge von russischen Staatsangehörigen Externer Link: verzeichnet und damit fast dreimal so viele wie im Vorjahreszeitraum (1.745). In Deutschland haben russische Staatsangehörige von Externer Link: Januar bis August 2022 1.241 Erstanträge auf Asyl gestellt und damit etwa so viele Externer Link: wie im gesamten Jahr 2021 (1.438). Wie viele Personen darunter sind, die den Militärdienst verweigert haben, ist unklar. Insgesamt haben nach Angaben des russischen Statistikdienstes Rosstat im ersten Halbjahr 2022 rund 419.000 Menschen Russland den Rücken gekehrt – doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres (202.000). Die meisten davon sind in Länder gezogen, in die sie ohne Visum einreisen dürfen, wie die Türkei, Georgien oder Kasachstan. Besserer Schutz für queere Geflüchtete Asylanträge von Interner Link: LSBTIQ*-Geflüchteten sollen in Zukunft nicht mehr mit dem Hinweis abgelehnt werden können, im Herkunftsland ein "diskretes Leben" führen zu können. Das hat das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) bekannt gegeben und die entsprechende Dienstanweisung für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) überarbeitet. Dieses muss bei Entscheidungen über Asylanträge queerer Geflüchteter zukünftig davon ausgehen, dass die sexuelle Identität im Herkunftsland "offen" ausgelebt wird bzw. dass auch bei diskretem Verhalten Gefahr drohen kann. Auf einen besseren Schutz für queere Verfolgte hatten sich die Ampelregierung bereits in ihrem Interner Link: Koalitionsvertrag verständigt. Der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) Externer Link: begrüßte die nun erfolgte Abschaffung der Diskretionsprognosen. Bereits 2013 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) das Diskretionsgebot für europarechtswidrig Externer Link: erklärt: Von asylsuchenden homosexuellen Personen dürfe nicht erwartet werden, Externer Link: dass sie ihre sexuelle Orientierung im Herkunftsland geheim halten, um eine mögliche Verfolgung zu vermeiden. In der Entscheidungspraxis des BAMF waren Diskretionsprognosen dennoch weiterhin angewendet worden. Sieben Jahre nach der "Flüchtlingskrise": Integration schreitet voran Sieben Jahre nach der als "Flüchtlingskrise" ins kollektive Gedächtnis eingegangenen Interner Link: umfangreichen Fluchtzuwanderung insbesondere aus dem Bürgerkriegsland Syrien zeigen vorhandene Statistiken, deutliche Fortschritte mit Blick auf die Integration der damals nach Deutschland geflüchteten Menschen. Im Juni 2022 waren mehr als 490.000 Staatsangehörige von Asylherkunftsländern sozialversicherungspflichtig Externer Link: beschäftigt. Die Externer Link: Beschäftigungsquote von Menschen aus diesen Ländern belief sich auf 41,6 Prozent. Damit liegt sie zwar noch deutlich unter der Beschäftigungsquote der Gesamtbevölkerung (69,0 Prozent). Die Integration in den Arbeitsmarkt vollzieht sich dennoch schneller als diejenige früherer Flüchtlingskohorten – und das, obwohl sie zwischenzeitlich von der Corona-Pandemie ausgebremst wurde. Nach den jüngsten Externer Link: Daten einer jährlichen Befragung von Geflüchteten durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und das Sozioökonomische Panel (SOEP) sprechen inzwischen 52 Prozent der zwischen 2013 und 2016 nach Deutschland gekommenen Geflüchteten nach eigener Einschätzung "gut" bis "sehr gut" Deutsch. Integrationskurse und Maßnahmen zur Sprachförderung werden nach wie vor rege angenommen und es bilden sich Externer Link: zunehmend soziale Kontakte zu Deutschen. Eine steigende Zahl der Geflüchteten erfüllt die Voraussetzungen, um sich einbürgern zu lassen. Dazu zählt ein Mindestaufenthalt in Deutschland von sechs Jahren, der beim Nachweis "besonderer Integrationsleistungen" Externer Link: die Einbürgerung ermöglicht. Externer Link: Studien zeigen, dass Flüchtlinge eine deutlich höhere Einbürgerungsbereitschaft haben als andere Gruppen ausländischer Staatsangehöriger. 2021 ließen sich Syrer:innen am häufigsten Externer Link: einbürgern: 19.100 syrische Staatsangehörige erhielten einen deutschen Pass – dreimal so viele wie 2020. Es wird Externer Link: prognostiziert, dass sich bis 2024 rund 157.000 in Deutschland lebenden Syrer:innen einbürgern lassen könnten. Fahrplan zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems Das Europäische Parlament und die fünf bis Mitte 2024 in der EU-Ratspräsidentschaft rotierenden Mitgliedstaaten Interner Link: Frankreich, Interner Link: Tschechien, Schweden, Spanien und Belgien haben sich auf einen Fahrplan für die Reform des Interner Link: Gemeinsamen Europäischen Asylsystems Externer Link: geeinigt. Die Verhandlungen über die im Interner Link: September 2020 von der EU-Kommission vorgeschlagenen (zum Teil neuen, zum Teil überarbeiteten) Richtlinien und Verordnungen für eine gemeinsame Asylpolitik sollen bis Februar 2024 und damit vor den nächsten Interner Link: Europawahlen abgeschlossen werden. Seit Jahrzehnten ringen die Mitgliedstaaten der EU um eine gemeinsame Linie in der Asylpolitik. Das 2013 in Form von zwei Verordnungen und drei Richtlinien in Kraft getretene Gemeinsame Europäische Asylsystem sollte die Asylsysteme der EU-Staaten harmonisieren: Asylverfahren, Schutzquoten und die Versorgung Geflüchteter sollten EU-weit einheitlicher werden. Spätestens die Interner Link: umfangreiche Fluchtzuwanderung 2015 legte jedoch die Defizite des Systems offen: Die Verantwortung für die Aufnahme von Asylsuchenden konzentrierte sich auf wenige Mitgliedstaaten, unterschiedliche Unterbringungs- und Versorgungsstandards sowie zum Teil stark voneinander abweichende Schutzquoten trugen zur Weiterwanderung von Asylsuchenden innerhalb Europas bei (Sekundärmigration). Insbesondere die 'solidarische Verantwortungsteilung' von Geflüchteten war zwischen den EU-Staaten umstritten. Mit ihren Interner Link: 2016 vorgelegten Vorschlägen zur Reform der gemeinsamen Asylpolitik konnte sich die Kommission nicht durchsetzen. Lediglich auf den Ausbau der Interner Link: Grenzschutzagentur Frontex zum Zweck eines verstärkten Schutzes der Außengrenzen der EU konnten sich die Mitgliedstaaten einigen. Das im September 2020 vorgestellte Externer Link: Asyl- und Migrationspaket sollte Externer Link: ein "Neustart" in der Reform der europäischen Asylpolitik sein. Bislang ist allerdings lediglich der Vorschlag der EU-Kommission zur Umwandlung des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) in eine Interner Link: EU-Asylagentur (EUAA) umgesetzt worden. Ob der gemeinsame Fahrplan von EU-Ministerrat und Europäischem Parlament nun den Durchbruch in den Verhandlungen über das Migrations- und Asylpaket bringt, bleibt vor dem Hintergrund der weiterhin sehr unterschiedlichen Interessen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten abzuwarten. Dürre in Somalia: Fast eine Million Menschen vertrieben Dürre und Hunger haben in Somalia seit Beginn des Jahres 2022 rund 926.000 Menschen vertrieben, Externer Link: berichtet das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR). Das waren fast fünfmal mehr Menschen als im gesamten Vorjahr (2021: 245.000) und mehr als der letzte Höchststand im Jahr 2017 (892.000). Mehr als Externer Link: 80 Prozent der Vertriebenen sind Frauen und Kinder. Somalia steht am Rand einer Hungerkatastrophe, ausgelöst durch die schlimmste Dürre seit 40 Jahren. Ende August 2022 hatten Externer Link: nach Angaben des Interner Link: Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) 6,7 Millionen Menschen in Somalia nicht genug zu essen. Rund 213.000 Menschen sind Externer Link: laut UN akut vom Hungertod bedroht. Neben dem seit gut zwei Jahren ausbleibenden Regen trägt auch der Interner Link: Krieg in der Ukraine zum Hunger in Somalia bei: Vor der Invasion importierte das Land Externer Link: nach Angaben der Interner Link: Welternährungsorganisation (FAO) rund 90 Prozent seines Weizens aus Russland und der Ukraine. Der seit 1991 anhaltende Interner Link: innerstaatliche Konflikt um die politische und wirtschaftliche Macht in Somalia verschärft die Situation zusätzlich. Das Land zählt zu den Externer Link: am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Die Gemengelage aus prekärer Sicherheitslage und Naturkatastrophen führt zu umfangreichen Vertreibungen: Bereits Ende 2021 waren rund drei Millionen Menschen innerhalb des Landes Externer Link: vertrieben, etwa 650.000 Somalier:innen Externer Link: lebten als Flüchtlinge im Ausland, vor allem in den Nachbarländern Interner Link: Kenia (279.200), Äthiopien (249.573) und Jemen (69.230). Die aktuelle Dürre treibt insbesondere die Zahl der Interner Link: Binnenvertriebenen weiter in die Höhe. In Somalia kommt es regelmäßig kommt zu Hunger- und Dürrekatastrophen. Während der Hungerkrise 2010 bis 2012 starben Externer Link: laut einem UN-Bericht fast 260.000 Menschen, die Hälfte davon Kinder unter fünf Jahren. Von der aktuellen Dürre am Horn von Afrika sind auch Somalias Nachbarländer Kenia und Äthiopien Externer Link: betroffen. Insgesamt litten Anfang August 2022 in den Ländern Ostafrikas Externer Link: bis zu 21 Millionen Menschen unter akuter Ernährungsunsicherheit. Der Klimawandel verstärkt die Gefahr von Dürren und anderen Naturkatastrophen in der Region. Bereits im Juli 2022 hatten zwölf Staaten aus der Region Ostafrika und Horn von Afrika eine Externer Link: gemeinsame Erklärung unterzeichnet, in der sie die Notwendigkeit einer verstärkten Zusammenarbeit mit Blick auf klimabedingte Mobilität innerhalb der Region betonen. Was vom Monat übrig blieb... Die Unterstützungsbereitschaft für Geflüchtete aus der Ukraine ist in der deutschen Wohnbevölkerung weiterhin sehr hoch, wie eine Externer Link: Umfrage des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) ergeben hat. Zwar ist die Hilfsbereitschaft Externer Link: im Vergleich zum Zeitpunkt unmittelbar nach Beginn des russischen Angriffskriegs etwas gesunken. Dennoch liegt die Unterstützungsbereitschaft deutlich über den Werten, die während der Interner Link: Fluchtzuwanderung 2015/2016 gemessen wurden. Die Bevölkerung Deutschlands ist im ersten Halbjahr 2022 so stark gewachsen wie zuvor nur in den zuzugsstarken Jahren 1992 und 2015. Externer Link: Das teilte das Statistische Bundesamt mit. Erstmals leben mehr als 84 Millionen Menschen im Land, 843.000 mehr als zum Jahresende 2021 (+1,0 Prozent). Treiber des Bevölkerungswachstums ist vor allem die umfangreiche Zuwanderung von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2021 war die Bevölkerung nur um 82.000 Menschen (+0,1 Prozent) gewachsen. Auch im September haben Schutzsuchende bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, ihr Leben verloren. 318 seien gestorben oder vermisst, Externer Link: gibt die Internationale Organisation für Migration (IOM) an. Insgesamt erfasste IOM seit Anfang 2022 1.611 Tote und Vermisse auf der Fluchtroute Mittelmeer (Stand: 06.10.2022). Rettungsorganisationen kritisieren, dass die europäischen Mittelmeerstaaten Rettungen verzögern und Notrufe zum Teil unbeantwortet lassen. In der Statistik der Bundesagentur für Arbeit sind folgende Länder als "Asylherkunftsländer" zusammengefasst: Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien. Zur Berechnung der Beschäftigungsquote siehe Externer Link: https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Statischer-Content/Grundlagen/Methodik-Qualitaet/Methodenberichte/Uebergreifend/Generische-Publikationen/Methodenbericht-Arbeitslosenquoten-Beschaeftigungsquoten-Hilfequoten-Auslaender.pdf?__blob=publicationFile&v=8 (S. 12). Burundi, Dschibuti, Demokratische Republik Kongo, Eritrea, Äthiopien, Kenia, Ruanda, Somalia, Südsudan, Sudan, Tansania und Uganda.
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Bundeszentrale für politische Bildung
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https://www.bpb.de/themen/migration-integration/monatsrueckblick/514063/migrationspolitik-september-2022/
In Deutschland gibt es zunehmend Engpässe bei der Unterbringung von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine. Dürre und Hunger haben in Somalia mehr als eine Million Menschen vertrieben.
[ "Migrationspolitik", "Kriegsflüchtlinge", "Ukraine-Krieg", "Klimaflüchtlinge", "Binnenflüchtlinge", "Somalia" ]
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Herausforderungen europäischer Grenzpolitik | Europas Grenzen | bpb.de
Europäische Migrationspolitik ist ein komplexes und dynamisches Politikfeld. Die politische und wissenschaftliche Debatte ist gekennzeichnet durch polarisierte Kontroversen. Das wird besonders deutlich an der Grenzpolitik der EU, die im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit steht. Die Konzentration der Politik auf die Grenzsicherung wird dabei kritisch bewertet. Mittel- und langfristig wird nur eine Verbesserung der Perspektiven in den Herkunftsländern den Migrationsdruck verringern. Die Freizügigkeit von Unionsbürgern wird als hohes Gut betrachtet und ist – zumindest für die Bürger der westeuropäischen EU-Mitgliedstaaten – eine Selbstverständlichkeit. Mit der fünften Aufnahmerunde 2007 (Beitritt von Bulgarien und Rumänien) hat sich das Wohlstandsgefälle innerhalb der EU stark vergrößert: Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag in Bulgarien und Rumänien 2011 bei 47 Prozent des EU-Durchschnitts. Die Zahl der rumänischen Staatsangehörigen in Deutschland stieg von 85.600 (2007) auf 205.000 (2012), die der bulgarischen von 46.800 (2007) auf 118.800 (2012). Nicht die Zuwanderung als solche wirft jedoch Probleme auf, sondern jene, die als "Armutsmigration" bezeichnet wird. Allerdings lagen 2012 sowohl die Arbeitslosenquote (9,6 Prozent) bulgarischer und rumänischer Staatsangehöriger deutlich unter der der ausländischen Bevölkerung insgesamt (16,4 Prozent) als auch der Anteil der Leistungsempfänger nach SGB II (9,3 gegenüber 15,9 Prozent in der Gruppe der Ausländer insgesamt). Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien konzentrieren sich – noch stärker als andere Ausländergruppen – in einigen Großstädten. Niedrige Arbeitslosenquoten von Bulgaren und Rumänen sind zu verzeichnen in wirtschaftsstarken Kommunen (wie 5,7 Prozent in Stuttgart), hohe Arbeitslosenquoten in wirtschaftlich schwächeren Städten (wie 26,8 Prozent in Duisburg). Prekäre Beschäftigungs- und Wohnverhältnisse sorgen für öffentliche Aufmerksamkeit. Der Tod rumänischer Werksarbeiter auf der Meyer-Werft in Papenburg im Sommer 2013 oder die schlechten Arbeitsbedingungen osteuropäischer Arbeiter in deutschen Schlachthöfen verweisen auf die schwierige Situation. Eine Herausforderung europäischer Politik der kommenden Jahrzehnte besteht darin, den sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichten unter den Mitgliedstaaten entgegenzuwirken – auch um die Akzeptanz grundlegender europäischer Errungenschaften nicht zu gefährden. "Das System der sozialen Wohlfahrt ist nationalstaatlich geregelt und wird nationalstaatlich finanziert, aber es wird eben ‚europäisch‘ in Anspruch genommen. Dieses Auseinanderfallen von Standardsetzung, Finanzierung und Inanspruchnahme ist nicht unproblematisch, denn es kann asymmetrische Belastungen in einem symmetrischen Wanderungsraum erzeugen. Bei der politischen Weiterentwicklung des sozialen Wohlfahrtsstaats muss daher sehr viel stärker als bisher darauf geachtet werden, dass Gesetze und Verordnungen auch in Bezug auf Wanderungen europatauglich sind." Sowohl der deutsche als auch der europäische Gesetzgeber halten am Anspruch der Steuerung und der Kontrolle von Zuwanderung fest. Europäische Grenzpolitik ist daher gekennzeichnet von der Öffnung im Inneren und gegenüber "erwünschten" Zuwanderern aus Drittstaaten sowie Grenzziehungen gegenüber Nachbarstaaten (wie der Ukraine und Belarus) oder Flüchtlingen aus Afrika. Die politischen Ziele der vergangenen 15 Jahre waren die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems, die Begrenzung (in EU-Dokumenten ist meist von "Bekämpfung" die Rede) irregulärer Zuwanderung sowie die Gestaltung der legalen Zuwanderung, vor allem von hoch qualifizierten Fachkräften. Die Unterscheidung zwischen "gewollten" und "nicht gewollten" Migranten ist charakteristisch für die Politik "klassischer Einwanderungsländer" (wie Kanada und Australien), zu denen man in Konkurrenz tritt. Migration wird seit Ende der 1990er Jahre als "Instrument für Wachstum" und als Reaktion auf den demografischen Wandel und Engpässe auf dem Arbeitsmarkt betrachtet. Die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte zeigt, dass mit der Zulassung von Personen zum Territorium eines demokratischen Rechtsstaates Mechanismen greifen, die es dem Staat schwer machen, diese Personen – so sie keinen Schutzstatus zugesprochen bekamen – wieder in ihre Herkunftsstaaten (oder aufnahmebereite Drittstaaten) zurückzuführen. Zu den Ursachen gehören die Möglichkeit, unterzutauchen und sich illegal aufzuhalten, lang andauernde rechtstaatliche Verfahren bis hin zu Vollzugsdefiziten. Nach Angaben der EU-Kommission wird nur jede dritte Ausweisungsverfügung tatsächlich umgesetzt. Dieses Ins-Leere-Laufen staatlicher Entscheidungen trägt zu einer ablehnenden Haltung gegenüber Zuwanderung in den jeweiligen Bevölkerungen bei. Solange die Wahrscheinlichkeit hoch ist, trotz Ablehnungen längere Zeit im Zielland verbleiben zu können, ist dies ein Anreiz, um einzureisen. Vor diesem Hintergrund müssen der deutsche "Asylkompromiss" 1993 und die Grenzpolitik der EU verstanden werden: Der Zugang zum Territorium soll erschwert und eine gerechtere Lastenteilung innerhalb Europas erreicht werden. Zur Begrenzung illegaler Zuwanderung wurden auf nationaler und europäischer Ebene die Maßnahmen verstärkt. In Deutschland wurden die "Finanzkontrolle Schwarzarbeit" (FKS) und das "Gemeinsame Analyse- und Strategiezentrum Illegale Migration" (GASIM) eingerichtet. Auch die internationale Zusammenarbeit (etwa mit Europol und Interpol) wurde in den vergangenen zehn Jahren verstärkt – sowohl innerhalb der EU als auch mit Drittstaaten. Das Programm "Intelligente Grenzen" sieht die Errichtung eines "Einreise-/Ausreisesystems" (EES) zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen der EU-Mitgliedstaaten sowie eines "Registrierungsprogramms für Reisende" (RTP) vor. Mittels "neuester Technologien" sollen "Visa-Overstayer" identifiziert werden, also Personen, die nach Ablauf ihres Visums unerlaubt im Zielland verbleiben. Verschärfte Kontrollen sollen einhergehen mit Erleichterungen für legal Einreisende, insbesondere Touristen. Die EU-Pläne, die Grenzen mittels modernster Überwachungstechnik flächendeckend zu kontrollieren, gehen allerdings weiter: Zu den von der EU geförderten Forschungsvorhaben für mehr Sicherheit (mit einem Gesamtwert von etwa 1,4 Milliarden Euro) gehören zahlreiche integrierte sogenannte intelligente Systeme, welche die konventionellen Kräfte (Flugzeuge, Schiffe) ergänzen und entlasten und vor allem rund um die Uhr und wetterunabhängig im Einsatz sein sollen. Es handelt sich um Hochtechnologie-Projekte, die häufig bereits im militärischen Bereich oder zur Luftsicherheit angewendet oder dafür entwickelt werden. Neben radarbasierten 3-D-Luftüberwachungssystemen sollen unter anderem Roboter, Überwachungsplattformen auf hoher See und unbemannte Luft- und Bodenfahrzeuge entwickelt werden. Im Oktober 2013 wurde die Einrichtung eines "Europäischen Grenzüberwachungssystems" (EUROSUR) beschlossen. Damit soll die Migrationskontrolle intensiviert, gleichzeitig auch die Todesrate illegaler Einwanderer durch Rettung von mehr Menschenleben auf See gesenkt werden. "Das System würde die gemeinsame Nutzung von Daten aus verschiedenen Behörden und von Überwachungsinstrumenten wie Satelliten oder Schiffsmeldesystemen über ein geschütztes Kommunikationsnetz in Echtzeit ermöglichen." Allen Projekten ist gemein, Daten in großen Mengen zu erzeugen, zu sammeln und in einem großen Überwachungsverbund zu verknüpfen und für die Grenzsicherung (Frontex) nutzbar zu machen. Doch sollte es jemals zu einer vollständigen Überwachung der EU-Außengrenzen kommen (was unwahrscheinlich ist), bliebe die entscheidende Frage weiterhin unbeantwortet: Wie wird mit den Zufluchtsuchenden umgegangen? Sollen die unbemannten Fahrzeuge und Roboter unter Umständen bewaffnet sein? Sollen die "Eindringlinge" auf direktem Wege zurückgeführt werden oder erhalten sie die Möglichkeit, ein rechtsstaatliches Verfahren zu durchlaufen? Anspruch und Wirklichkeit Zu den Aufgaben der europäischen Grenzagentur Frontex gehören die Koordination "operativer Maßnahmen" zur Grenzsicherung, die Schulung von Grenzbeamten, die Erstellung von Risikoanalysen, der Informationsaustausch und die Mitwirkung bei (Sammel-)Rückführungen. "Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke" (RABIT) werden eingesetzt, "wenn ein Mitgliedstaat sich einem massiven Zustrom von Drittstaatsangehörigen gegenübersieht, die versuchen, illegal in sein Hoheitsgebiet einzureisen, was unverzügliches Handeln erfordert". In den Jahren 2010 und 2011 unterstützten RABIT-Einheiten Griechenland bei der Bewältigung von rund 12.000 Flüchtlingen aus dem türkisch-griechischen Grenzgebiet. Damit habe Frontex an der inhumanen und erniedrigenden Behandlung in griechischen Lagern mitgewirkt, kritisierte etwa Human Rights Watch. Aus dem EU-Parlament werden die begrenzten Kontrollmöglichkeiten kritisiert: Zwar könne man den Haushalt blockieren, aber eine Kontrolle der Frontex-Einsätze sei unmöglich. Der Verwaltungsrat von Frontex besteht ausschließlich aus Vertretern der Mitgliedstaaten und der Kommission. Eine wirkungsvolle parlamentarische Kontrolle könnte dazu beitragen, stärkere Transparenz herzustellen und mehr Übereinstimmung des operativen Handelns mit den grundlegenden Normen des Menschenrechtsschutzes zu erzielen. Im Oktober 2011 novellierten EU-Rat und -Parlament die Frontex-Gründungsverordnung. Eingefügt wurde unter anderem die Verpflichtung auf die Grundrechte-Charta, die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und den Grundsatz der Nichtzurückweisung. Die Einhaltung der geänderten Frontex-Verordnung, insbesondere der Grundrechtsstrategie (Art. 26a) soll durch den Grundrechtsbeauftragten (Art. 26a, 3) abgesichert werden. Dazu müssen die Kompetenzen des Beauftragten gestärkt werden. Die Bekämpfung illegaler Einreise findet zum Teil außerhalb des Gebiets der EU statt, entweder auf See oder auf dem Gebiet von Drittstaaten und in Zusammenarbeit mit diesen. Sie haben allerdings in vielen Fällen weder die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) noch die GFK ratifiziert. Den Flüchtlingen wird auf diese Weise der Zugang zum EU-Territorium und damit ein Asylverfahren verweigert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte dieses Vorgehen im Falle von Italien, das Flüchtlinge direkt nach Libyen zurückgeführt hatte, als Verletzung der EMRK und sprach den Beschwerdeführern Entschädigungen zu. Grundlage der Zusammenarbeit mit Libyen war ein "Freundschafts- und Kooperationsabkommen" Italiens mit Libyen. Auch bei Frontex-Operationen sind Personen auf Drittstaatsterritorium (meist auf See) an der Flucht und damit auch am Stellen von Asylanträgen gehindert worden. Schiffbrüchige würden allerdings nur noch in EU-Mitgliedstaaten abgesetzt, wie Frontex 2012 versicherte. Die Bundesregierung erklärte, dass Personen, "gegen die Rückführungsmaßnahmen ergriffen werden, deren Folgen möglicherweise irreversibel sind, das Recht auf ausreichende Unterrichtung haben, um effektiven Zugang zu den jeweiligen Verfahren zu erhalten und ihre Einwände zu begründen".Allerdings sind noch 2012 Flüchtlingsboote von Frontex-Patrouillen abgedrängt und Flüchtlinge – ohne vorheriges Verfahren – nach Libyen zurückgeschoben worden. Unzweifelhaft muss sich die EU als "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" an ihren eigenen Maßstäben messen lassen. "Hiermit sind Ausreiseverhinderungen an den Küsten der Herkunfts- und Transitstaaten ebenso wenig vereinbar wie es die Grenzschutzanlagen an der Berlin Mauer waren." Der größte Teil der Flüchtlinge und Vertriebenen weltweit wandert nicht nach Europa. Die Hauptlast dieses Geschehens tragen andere Regionen und Länder. Die fünf größten Aufnahmeländer von Flüchtlingen weltweit waren Ende 2012 Pakistan (1,6 Millionen), Iran (868.200), Deutschland (589.700), Kenia (565.000) und Syrien (476.500). Dennoch gibt es ein legitimes Interesse der EU-Mitgliedstaaten an Steuerung von Migration, sowohl mit Blick auf die politische Akzeptanz von Zuwanderung als auch in Hinsicht auf deren jeweilige Integrationsfähigkeit. Die starke Ausrichtung der EU-Grenzpolitik auf "intelligente Grenzen" ist problematisch, unter anderem mit Blick auf die Umsetzbarkeit, die demokratische Kontrolle des Umgangs mit den Datenströmen, die Achtung der Menschenrechte, den Datenschutz und die Verhinderung von Missbrauch. Sie sind Ausdruck einer Steuerungs- und Überwachungsutopie. "Die Vergemeinschaftung der Migrationspolitik ist Teil eines Elitenprojekts, in funktionalem Design, getragen u.a. von europäischen Beamten, Wissenschaftlern und entsprechend auf die EU ausgerichteten Lobby-Verbänden. Damit korrespondiert die Semantik der Politikvorschläge der EU in den Bereichen Migration und Integration, verfasst im rationalistischen Design eines Planungs- und Steuerungsanspruchs, der die Erfahrung nicht intendierter Folgen sowie des damit verbundenen Souveränitätsverlustes ausblendet." Die Anstrengungen im Kampf gegen Menschenhandel und Schleuserkriminalität haben in den vergangenen zehn Jahren weltweit zugenommen und müssen fortgeführt werden. Dennoch wird der Wanderungsdruck – auch auf Europa – ansteigen. Alleine die Zuwanderung aus Afrika wird aus ökonomischen, politischen, ökologischen und demografischen Gründen zunehmen, wenn auch der größte Teil der afrikanischen Flüchtlinge in Afrika selbst verbleibt. Entscheidend für die mittel- und langfristige Perspektive wird sein, ob sich die Industriestaaten ernsthaft und nachhaltig der Migrationsursachen annehmen werden. Vgl. Herbert Brücker et al., Arbeitsmigration oder Armutsmigration?, IAB-Kurzbericht 16/2013, S. 1f. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Wiesbaden 2013, S. 30ff. Vgl. H. Brücker et al. (Anm. 1), S. 4f. Ähnliche Diskrepanzen gibt es bei den Anteilen von Transferleistungsempfängern. Vgl. ebd., S. 6f. Vgl. beispielsweise das Positionspapier des Deutschen Städtetages zu den Fragen der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien vom 22.1.2013. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) (Hrsg.), Erfolgsfall Europa?, Berlin 2013, S. 120. Vgl. Kay Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, Stuttgart 2008², S. 22ff. Vgl. EU COM(2013)422 final, 17.6.2013, S. 4. Vgl. KOM(2007)780 endgültig, 5.12.2007, S. 5. Vgl. Christian Klos, Ausländerrecht vor dem Infarkt, in: Georg Jochum/Wolfgang Fritzemeyer/Marcel Kau (Hrsg.), Grenzüberschreitendes Recht – Crossing Frontiers, Heidelberg–München 2013, S. 123–136; Daniel Thym, Migrationsverwaltungsrecht, Tübingen 2010, S. 335. Vgl. Stefan Luft/Peter Schimany (Hrsg.), 20 Jahre Asylkompromiss – Bilanz und Perspektiven, Bielefeld 2014 (i.E.). Vgl. Mechthild Baumann, Der Einfluss des Bundeskanzleramtes und des Bundesministeriums des Innern auf die Entwicklung einer europäischen Grenzpolitik, in: Uwe Hunger et al. (Hrsg.), Migrations- und Integrationsprozesse in Europa, Wiesbaden 2008, S. 23ff. Vgl. BT-Drs. 16/11636, 21.1.2009; Jan Schneider, Maßnahmen zur Verhinderung und Reduzierung irregulärer Migration, Nürnberg 2013, S. 39. Vgl. KOM(2011)680 endgültig, 25.10.2011. Vgl. EU-Kommission, IP/13/162, 28.2.2013. Vgl. European Commission (Hrsg.), Investigating into security research for the benefits of European citizens, Luxemburg 2011. Vgl. ebd., S. 94ff. Pressemitteilung des EU-Parlaments, 10.10.2013, Externer Link: http://www.europarl.europa.eu/news/de/news-room/content/20131007IPR21624/html/EU-Grenzkontrollen-Abgeordnete-verabschieden-Eurosur-Regeln (25.10.2013). Verordnung (EG) Nr. 863/2007, 11.6.2007. Vgl. Human Rights Watch (Hrsg.), The EU’s Dirty Hands, New York 2011, S. 2. So die Abgeordnete im Europaparlament Ska Keller (Die Grünen/EFA), 31.10.2013, Externer Link: https://dgap.org/de/node/22424 (25.10.2013). Vgl. European Parliament (Hrsg.), Parliamentary Oversight and intelligence Agencies in the European Union, Brüssel 2011, S. 17ff. Vgl. Verordnung (EU) Nr. 1168/2011, 25.10.2011. Vgl. EGMR/Gr. Kammer, Urteil vom 23.2.2012, Hirsi Jamaa and others/Italy (Beschwerde Nr. 27765/09); Matthias Lehnert/Nora Markard, Mittelmeerroulette, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR), 31 (2012) 6, S. 194–199. Vgl. Amnesty International (Hrsg.), S.O.S Europe, London 2012, S. 4. Vgl. Nora Markard, Gerechte Verteilung von Schutzsuchenden in Europa?, in: ZAR, 31 (2012) 10, S. 385. BT-Drs. 17/9757, S. 3. Vgl. die Monitor-Sendung vom 17.10.2013, Externer Link: http://www.wdr.de/tv/monitor/sendungen/2013/1017/europa.php5 (18.10.2013). M. Lehnert/N. Markard (Anm. 24), S. 199. Vgl. Externer Link: http://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html (25.10.2013). Vgl. Didier Bigo et al., Justice and Home Affairs Databases and a Smart Borders System at EU External Borders, in: Justice and Home Affairs, Liberty and Security in Europe Papers, 52/2012. Michael Bommes, Die Planung der Migration, in: ZAR, 29 (2009) 11/12, S. 380. Vgl. Susanne Schmid, Vor den Toren Europas?, Nürnberg 2010. Vgl. für eine Zusammenfassung: Sebastian Schoepp, Flüchtlingsproblem: Rassistische Brille ablegen!, in: Süddeutsche Zeitung vom 11.10.2013; Steffen Angenendt/Bettina Rudloff, Mehr als sieben magere Jahre?, SWP-Aktuell, Februar 2011.
Article
, Stefan Luft
2021-12-07T00:00:00
2013-11-11T00:00:00
2021-12-07T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/172372/herausforderungen-europaeischer-grenzpolitik/
Die Konzentration der EU auf die Grenzsicherung zur Begrenzung irregulärer Zuwanderung ist kritisch zu bewerten. Langfristig wird nur eine Verbesserung der Perspektiven in den Herkunftsländern den Migrationsdruck verringern.
[ "Grenzpolitik", "Europäische Migrationspolitik", "FRONTEX", "illegale Einwanderung", "Flüchtlinge" ]
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Migrationspolitik – Mai 2017 | Migrationspolitik – Monatsrückblick | bpb.de
Asylrecht weiter verschärft Der Deutsche Bundestag verabschiedete am 18. Mai die im Februar vom Bundeskabinett beschlossene Verschärfung des Interner Link: Asylrechts. Demnach sind eine Verlängerung der Abschiebehaft für sogenannte "Gefährder", die Überwachung per Externer Link: Fußfessel und die Auswertung von Handy-Daten zur Identitätsfeststellung von Flüchtlingen nun zulässig. Hintergrund ist das Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016. Menschenrechtsorganisationen sehen darin einen Eingriff in die Grundrechte. Bundeswehrsoldaten planten Terrorakte – Kritik an Bundeswehr und BAMF Der unter Terrorverdacht stehende Oberleutnant Franco A. hatte sich Anfang 2016 unter falschem Namen und mit einer ungewöhnlichen Geschichte als syrischer Flüchtling mit französischen Wurzeln ausgegeben. Er wurde vom Interner Link: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) anerkannt und erhielt Interner Link: subsidiären Schutz. Zusammen mit seinen beiden Komplizen Maximilian T. und Mathias F. plante er laut Bundesanwaltschaft eine "schwere staatsgefährdende Gewalttat". Getarnt als islamistischer Terrorakt hätten die Bundeswehrsoldaten Politiker und Personen des öffentlichen Lebens, die sich für Ausländer und Flüchtlinge engagieren, angreifen wollen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte Anfang Mai eine Untersuchungsgruppe eingesetzt, die nach systematischen Mängeln im Asylentscheidungsverfahren des BAMF suchen sollte. Das BAMF stand bereits mehrfach in der Kritik, nur unzureichend qualifiziertes Personal mit Asylentscheiden zu betrauen. In einer Externer Link: Stellungnahme hatte das BAMF angekündigt, insgesamt 2.000 positive Asylentscheidungen aus den Herkunftsländern Interner Link: Syrien und Afghanistan in der Zeit vom 01.01.2016 bis 27.04.2017 zu überprüfen. Im Ergebnis seien Mängel vor allem in der Qualitätssicherung und Dokumentation festgestellt worden. De Maizière kündigte nun an, im Sommer weitere 80.000 bis 100.000 positive Asylbescheide überprüfen zu lassen. Dafür sollen ohnehin gesetzlich vorgesehene Prüfungen vorgezogen werden. Türkischen Soldaten wurde Asyl in Deutschland gewährt Unter Berufung auf das Bundesinnenministerium meldete die Süddeutsche Zeitung, dass erstmals mehrere türkische Soldaten mit ihren Familien in Deutschland Asyl erhalten hätten. Es handele sich um NATO-Soldaten, die vor ihrer Entlassung aus der türkischen Armee in Deutschland stationiert waren. Sie befürchteten, in der Interner Link: Türkei als Regimegegner verhaftet zu werden. Seit dem Putschversuch im vergangenen Jahr wurden Zehntausende Menschen inhaftiert. Mehr als 400 türkische Diplomaten stellten seither in Deutschland einen Asylantrag. Laut dem Spiegel liegen dem BAMF etwa 7.700 Asylanträge türkischer Staatsbürger vor. Die Asylentscheidungen belasten weiter das deutsch-türkische Verhältnis. Von den 11.952 Externer Link: Asylsuchenden im April 2017 stammen 449 aus der Türkei. Damit belegt die Türkei den zehnten Platz auf der Liste der Hauptherkunftsländer. Angeführt wird die Asylgesuch-Statistik weiterhin von Geflüchteten aus Syrien (2.779 Personen), Irak (1.242) und Afghanistan (1.208). Zahl freiwilliger Ausreisen gesunken Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie die Interner Link: Internationale Organisation für Migration (IOM) haben gemeinsam das Externer Link: Onlineportal "Returning from Germany" ins Leben gerufen. Damit wollen sie Fördermöglichkeiten, die nächstgelegene Rückkehrberatung und Informationen zum Herkunftsland für rückkehrwillige Migranten und abgelehnte Asylbewerber bereitstellen. Zuletzt war die Zahl Interner Link: freiwilliger Rückkehrer gesunken: Laut Migazin seien im ersten Quartal 2017 8.500 Personen freiwillig aus Deutschland ausgereist. Im Vorjahreszeitraum seien es ca. 14.000 Personen gewesen. Die Zahl der Externer Link: Abschiebungen im ersten Quartal 2016 (ca. 7.100 Personen) und 2017 (6.900) unterschieden sich dagegen kaum. Das gehe aus Angaben des Bundesinnenministeriums hervor. 2016 wurden insgesamt Externer Link: etwa 25.000 Menschen abgeschoben. 54.000 kehrten freiwillig in ihre Herkunftsländer zurück. Ukrainer dürfen ohne Visum in die EU reisen Am 11. Mai verabschiedete der Interner Link: Rat der Europäischen Union eine Externer Link: Verordnung, nach der ukrainische Staatsbürger mit biometrischem Reisepass von der Visumpflicht befreit sind, wenn sie sich höchstens 90 Tage in Mitgliedstaaten der EU aufhalten. Laut dem maltesischen Innenminister ist dies ein wichtiger Schritt, "die Bande zwischen den Menschen in der Interner Link: Ukraine und in der EU zu stärken". Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge auf Rekordhoch Aus einem Externer Link: aktuellen Bericht des Kinderhilfswerks Unicef geht hervor, dass sich die Zahl der Interner Link: unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge weltweit verfünffacht hat: Wurden 2010 bis 2011 in 80 Ländern 66.000 von ihren Eltern getrennte Kinder registriert, waren es 2015 bis 2016 300.000. 2015 waren insgesamt 10 Millionen Kinder auf der Flucht. Weitere 17 Millionen suchten innerhalb ihres eigenen Landes Schutz. 92 Prozent aller Kinder und Jugendlichen, die Italien zwischen Anfang 2016 und Ende Februar 2017 auf dem Seeweg erreichten, waren ohne ihre Familien unterwegs. 2015 waren 75 Prozent der Minderjährigen alleine nach Europa gekommen. Die Fluchtursachen sind vielfältig: Krieg und Zwangsrekrutierung, Zwangsheirat, Hunger, aber auch Folgen von Naturkatastrophen. Unicef beklagt, dass unbegleitete flüchtende Kinder häufig auf Schleuser angewiesen sind und dadurch Opfer von Ausbeutung und Menschenhandel werden. Laut Externer Link: Eurostat haben 2016 63.300 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in den Mitgliedstaaten der Interner Link: Europäischen Union (EU) Asyl beantragt. Das sind fast ein Drittel weniger als 2015, aber fünfmal so viele wie durchschnittlich in den Jahren 2008 bis 2013. 38 Prozent dieser minderjährigen Asylsuchenden waren Afghanen, 19 Prozent Syrer. 57 Prozent (fast 36.000 Personen) aller in der EU registrierten Asylbewerbungen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen entfielen auf Deutschland (Italien: 10 Prozent; Österreich: 6 Prozent). Bootsunglück vor Libyens Küste Mehr als 30 Flüchtende, darunter viele Kinder, sind bei einem Bootsunglück vor Libyen ertrunken. Eines von drei überfüllten Booten, auf denen insgesamt 1.500 Menschen unterwegs waren, ist in Seenot geraten. Zahlen der Interner Link: Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge sind in diesem Jahr Externer Link: 1.569 Personen (Stand: 30.05.2017) bei der Überfahrt über das Mittelmeer umgekommen. Seit Jahresbeginn bis Ende Mai flüchteten fast 70.000 Personen über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa. Mehr als 80 Prozent davon erreichten Italien. Im Vorjahreszeitraum waren es knapp 200.000 gewesen. Anfang Mai meldete die EU-Grenzschutzagentur Frontex die Rettung von Externer Link: 2.800 in Seenot geratenen Geflüchteten. Schleppende Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU In Italien und Griechenland betreten die meisten Flüchtenden erstmals europäischen Boden. Um die beiden Mitgliedstaaten zu entlasten, sollen bis September dieses Jahres 160.000 Asylsuchende in andere EU-Länder Interner Link: umverteilt werden. Mitte Mai kritisierten Externer Link: Abgeordnete des Interner Link: Europäischen Parlaments die schleppende Umsetzung. Bis zum 11. Mai seien lediglich 11 Prozent der Gesamtzahl umverteilt worden. Interner Link: Polen, Ungarn und Österreich hätten im Rahmen des EU-Relocation-Programms noch keine Flüchtlinge aufgenommen. Auch andere EU-Staaten stehen einer verpflichtenden Umverteilung kritisch gegenüber. Sie nähmen lieber Strafzahlungen in Kauf. EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos drohte mit EU-Vertragsverletzungsverfahren. Außer Portugal erfülle bisher kein EU-Mitglied vollständig seine Verpflichtung zur Umverteilung.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2017-06-07T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/monatsrueckblick/249841/migrationspolitik-mai-2017/
Was ist in der Migrations- und Asylpolitik im letzten Monat passiert? Wie haben sich die Flucht- und Asylzahlen entwickelt? Wir blicken zurück auf die Situation in Deutschland und Europa.
[ "Flucht", "Migration", "Geflüchtete", "Innenpolitik", "Migrationspolitik", "Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge", "BAMF", "Bootsunglück", "Mittelmeer", "FRONTEX", "Internationalen Organisation für Migration" ]
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Bis die Bänder reißen? | Bundesliga: Spielfeld der Gesellschaft | bpb.de
Neben der sozialen Bedeutung des Fußballs im Allgemeinen sind gerade im Profibereich wirtschaftliche Faktoren dominierend. Die Gesamtumsätze sind allein in der 1. Bundesliga seit 1990 um das 20-Fache auf fast zwei Milliarden Euro angewachsen. So liegt es auf der Hand, dass die Gesundheit der Spieler seitens der Vereine eine hohe Priorität haben sollte. Titel können nicht gewonnen werden, wenn Leistungsträger über längere Zeit verletzungsbedingt fehlen. Darüber hinaus sind auch die ökonomischen Folgen von Verletzungen nicht zu unterschätzen. So fallen bei einem verletzungsbedingt nicht einsetzbarem Spieler Gehaltskosten von durchschnittlich gut 3.500 Euro pro Tag an. Der Bereich „Sicherheit im Sport“ an der Ruhr-Universität Bochum hat in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Fußball-Bund e. V. (DFB) und der Deutschen Fußball Liga GmbH (DFL) sowie der Verwaltungsberufsgenossenschaft (VBG) als dem Unfallversicherer der deutschen Fußballprofis über mehrere Jahre die Verletzungen im Berufsfußball und deren Folgen genauer analysiert. Ziel ist es, über die Entwicklung von Präventivmaßnahmen und deren Implementierung in den Spiel- und Trainingsbetrieb eine Reduzierung von Häufigkeiten und Schwere der Verletzungen zu erreichen. Körperliche Belastungs- und Beanspruchungsgrößen im Profifußball Verletzungen im Profifußball sind in Typisierung und Zustandekommen eng verknüpft mit den spezifischen Anforderungen, die dort an die Spieler gestellt werden. So haben wir es mit einem komplexen Anforderungsprofil zu tun, welches sich aus hohen physiologischen/körperlichen, technischen und taktischen Anteilen zusammensetzt. Ein Grund hierfür ist zum Beispiel in der Spielanlage zu sehen, die sich im Laufe der Zeit geändert hat. Neue taktische Ausrichtungen und Spielphilosophien im modernen Profifußball stellen die Spieler vor erhebliche konditionelle Anforderungen und verlangen technische Fertigkeiten, die unter Gegner-, Zeit- und Situationsdruck präzise ausgeführt werden müssen. Auch tragen bessere athletische und konditionelle Fähigkeiten der Spieler dazu bei, dass die Spielgeschwindigkeit in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Auch wenn die Nettospielzeit sich im Profibereich, respektive bei Weltmeisterschaften seit 1966, und auch im Ligabetrieb nicht wesentlich erhöht hat, so ist doch eine deutliche Zunahme der Intensitäten zu verzeichnen. So legen Profifußballer heutzutage im Durchschnitt pro Spiel eine Distanz zwischen zehn und zwölf Kilometern zurück, Spitzenwerte liegen bei über 14 Km. Mehr als doppelt so viel wie in den Anfangsjahren der Bundesliga. Darüber hinaus steigt neben der insgesamt zurückgelegten Distanz auch die Zahl an intensiven und hochintensiven Laufleistungen . Begründen lässt sich diese Entwicklung damit, dass sich die Aktionen auf dem Spielfeld immer häufiger in engen Räumen abspielen und pro Spiel auch vermehrt Sprints durchgeführt werden. In entscheidenden Spielsituationen dominieren schnelle Sprints zwischen 20 und 30 Metern sowie schnelle Richtungsänderungen. In der Summe kommt jeder Spieler auf 1.000 bis 1.400 Kurzaktionen pro Spiel, wobei alle vier bis sechs Sekunden eine neue Aktion stattfindet. Das körperliche Beanspruchungsprofil ist im modernen Elitefußball von hoch intensiven Aktionen sowohl mit als auch ohne Ball geprägt. Der Wettkampfumfang beläuft sich auf rund 60 Spiele pro Saison, in denen Profifußballer im nationalen und internationalen Spitzenfußball aktiv sind. Diese hohen physischen Belastungen können in erster Linie durch ein optimales Regenerationsverhalten, und darüber hinaus durch ein adäquates Training der konditionellen Fähigkeiten Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer, Beweglichkeit und der koordinativen Fähigkeiten sowie der technischen Fertigkeiten kompensiert werden. Gerade durch die verbesserte Athletik der Spieler und dem Anstieg an schnellen, intensiven und meist multidirektionalen Aktionen in kurzer Zeit, gewinnen technische Fertigkeiten an Bedeutung. Daher ist eine ausgeprägte Bewegungsökonomie und-koordination Grundvoraussetzung, um den wechselnden Belastungen im Spiel verletzungsfrei gerecht zu werden . Verletzungsformen und Verletzungshäufigkeiten im Profifußball Aus Studien und Erhebungen, die vom Lehrstuhl für Sportmedizin der Ruhr-Universität Bochum gemeinsam mit der VBG und den Spitzenverbänden im Fußball seit Anfang der 1990er-Jahre in regelmäßigen Abständen durchgeführt wurden und werden, ergibt sich für die 1. und 2. Bundesliga folgendes Bild (vgl. hierzu die Infografik zu Verletzungen im Profifußball): Verletzungen der Oberschenkelmuskulatur sowie der Knie- und Sprunggelenke sind im Profifußball dominierend. In der Summe belaufen sich die Anteile auf 50 bis 60 Prozent. Jeder Spieler im Berufsfußball erleidet pro Saison im Schnitt etwa zwei Verletzungen. Vier von fünf Spielern erleiden zumindest eine Verletzung pro Saison. Die Fußballprofis der drei höchsten Ligen kommen abzüglich einer sechswöchigen Wettkampf- und Trainingspause auf theoretisch circa 630.000 Arbeitstage. Durch Verletzungsfolgen fallen knapp 85.000 Tage hiervon weg. Umgerechnet auf einen Mannschaftskader bedeutet dies, dass 13,5 Prozent der Spieler permanent nicht einsetzbar sind. Die Kosten für Verletzungen im Profifußball summieren sich, Behandlungskosten und Personalkosten zusammengefasst, auf etwa 90 Millionen Euro pro Saison. Der Gesamtumsatz der drei ersten Ligen beträgt circa zwei Milliarden Euro pro Saison. Die Verletzungen konzentrieren sich hauptsächlich auf die Beinregion, wobei die hohe Zahl an Knieverletzungen, vorwiegend Bandrupturen, auffällt. Die Folgen sind in der Regel eine Operation im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthaltes, ambulante Nachbehandlung, Rehabilitationsmaßnahmen und eine Arbeitsunfähigkeit, die im Mittelwert bei 50 Tagen liegt. Das Risiko von Verletzungen ist in den ersten 15 Einsatzminuten etwas höher als in den übrigen Spielphasen. Knieverletzungen sind über die gesamte Spieldauer hinweg mit gleicher Häufigkeit zu beobachten, sodass hier mutmaßlich weniger Ermüdungseffekte dominierend sind als vielmehr koordinative Probleme grundsätzlicher Art. Häufig wirken keine Gegenspieler in der Spielsituation mit, die zur Knieverletzung führt. Weniger als 10% der Knieverletzungen ereignen sich im Rahmen eines Foulspiels durch den Gegenspieler. Knieverletzungen sind mit Abstand die gravierendsten Verletzungen im Profifußball. Sie verursachen Kosten in Höhe von 33 Millionen Euro, also 37 Prozent der Gesamtkosten. Danach folgen mit 14 Millionen Euro Sprunggelenkverletzungen und mit zehn Millionen Euro Oberschenkelverletzungen. Damit entfallen rund zwei Drittel der Verletzungskosten auf die funktionelle Kette „untere Extremität“. Je offensiver die Position des verletzten Spielers ist, desto häufiger steht die Verletzung mit einem Foulspiel des Gegners in Verbindung. Der Anteil der Verletzungen ohne Foul beträgt auf allen Feldpositionen etwa 80 Prozent. Vor diesem Hintergrund gibt es wichtige Hinweise darauf, mit welchen Präventivmaßnahmen vor allem das gravierende und existenzielle Problem der Knieverletzungen angegangen werden kann. Möglichkeiten zur Prävention von Verletzungen Prinzipiell kann man bei Präventivmaßnahmen zwischen vier größeren Feldern differenzieren: Training und Regeneration Konzeption und Organisation Ausrüstung und Einrichtungen Diagnostik und Versorgung Wolfram Wuttke, 1. FC Kaiserslautern, 1990 beim Rumpftraining. (© imago/Ferdi Hartung) Im Bereich Trainings und Regeneration erscheinen propriozeptive und koordinative Übungsinhalte neben spezifischem Krafttraining nach der aktuellen Literatur und den Erfahrungen das Mittel der Wahl zu sein. Insbesondere Trainingsprogramme mit einer Gewichtung von neuromuskulären und propriozeptiven Anteilen zur Vermeidung von Kreuzbandverletzungen haben in verschiedenen Studien eine signifikante Effektivität zur Reduzierung der Verletzungshäufigkeit gezeigt. . Darüber hinaus wird im Fußball das Training der Rumpfkraft, der Sprungkraft sowie der Kraft der Beinbeuger oft vernachlässigt. Gerade die Stabilisation des Rumpfes ist aber wichtig für die Kraftübertragung bzw. als Widerlager während der Flugphase, um im Lauf oder Sprung koordiniert und effektiv agieren und den Ball spielen zu können. Die angesprochenen Maßnahmen werden jedoch nur dann Akzeptanz im Profibereich finden, wenn sie zum einen fußballspezifisch auf den Profibereich adaptiert werden und zum anderen vermittelt werden kann, dass es sich nicht um ausschließlich präventive, sondern vorwiegend um leistungserhaltende und leistungsverbessernde Trainingsformen handelt. Verletzungen der Leistengegend unter Beteiligung der Adduktoren sind die häufigste Art von Leistenverletzungen im Fußball. Es finden sich Hinweise auf ein erhöhtes Risiko bei Spielern, deren Hüft-Adduktoren Kraftdefizite aufweisen. Exzentrisches Krafttraining der Hüft-Adduktoren mit Therabändern kann hier eventuelle Defizite beseitigen . Daneben sind Aufwärmen und Mobilisieren über mehrere Minuten unverzichtbare Bestandteile der Vorbereitung auf Training und Wettkampf. Dabei geht es nicht nur um die Aktivierung des Herz-Kreislauf-Systems, sondern auch darum, die Belastungstoleranz von Muskeln, Sehnen und Bändern zu erhöhen. Im Bereich Konzeption und Organisation ist eine kontinuierliche Schulung von Schiedsrichter und Offiziellen wünschenswert. Fair-Play und Respect Kampagnen werden vermutlich kaum zu einer direkten Senkung von Verletzungshäufigkeiten führen, können aber helfen, ein Problembewusstsein zu entwickeln. Wichtiger wäre hier die Einführung einer Verletzungs- und Belastungsdokumentation für die jeweiligen Teams, um individuelle Defizite der Spieler frühzeitig erkennen und mit Blick auf die Verletzungsprävention angehen zu können. Wolfram Wuttke, 1. FC Kaiserslautern, 1990 beim Rumpftraining. (© imago/Ferdi Hartung) Im Bereich der medizinischen Betreuung sind Leitlinien zu beachten, die eine Reintegration verletzter Spieler in den Wettkampfbetrieb regeln. Dies ist insbesondere nach Knieverletzungen zu beachten, da auch hier eine Vorverletzung als ein entscheidender Risikofaktor für eine Rezidiv- oder Folgeverletzung zu nennen ist. So wird z.B. bei Kreuzbandrissen eine Ausfallzeit von ca. 6 Monaten genannt. Tatsächlich sind aber je nach Schädigung der beteiligten Strukturen Heilungsprozesse erst nach 12 bis 24 Monaten abgeschlossen. . Im Falle der zunehmend häufiger berichteten Problematiken, die mit Kopfverletzungen und wiederholten, auch leichteren Gehirnerschütterungen einher gehen, gibt es seit mehreren Jahren international abgestimmte Leitlinien zur Erfassung des Schweregrades von Gehirnerschütterungen bzw. zur Rückkehr verletzter Spieler in den Spielbetrieb . Gerade mit Blick auf die Spätschäden durch wiederholte Kopfverletzungen ist eine konsequente Umsetzung und Beachtung im Profifußball erforderlich. Grafik: Verletzungen im Profifussball Quellen / Literatur Bisanz, Gero/Gerisch, Gunnar (2008): Fußball. Kondition – Technik – Taktik und Coaching. Aachen Bradley, P. S./Sheldon, W./Wooster, B./Olsen, P./Boanas, P./Krusrup, P. (2009): High-intensity running in English FA Premier League soccer matches. In: Journal of Sports Science, 27 (2), S. 159 - 168 Broich, Holger (2009): Quantitative Verfahren zur Leistungsdiagnostik im Leistungsfußball. Dissertation, Deutsche Sporthochschule Köln Dellal, Alexandre/Wong, Del P./Moalla, Wassim/Chamari, Karim (2010): Physical and technical activity of soccer players in the French First League – with special reference to their playing position. In: International SportMed Journal 11 (2), S. 278 - 290 Jensen, Jesper/Hölmich, Per/Bandholm, Thomas/Zebis, Mette K./Andersen, Lars L./Thorborg, Kristian (2012): Eccentric strengthening effect of hip-adductor training with elastic bands in soccer players: a randomised controlled trial. In: Br J Sports Med 2012; 10, S. 1 - 8 Kindermann, Wilfried (2006): Gesundheit und Leistung im Profifußball. Deutsches Ärzteblatt, 103 (23), S. 1.605 - 1.610 Ludwig, Stefan (2011): Finanzreport deutscher Profisportligen 2011, München McCrory, Paul/Meeuwisse, Willem/Johnston, Karen u. a. (2009): Consensus statement on concussion in sport: the 3rd International Conference on Concussion in Sport held in Zurich, November 2008. In: Br J Sports Med 2009; 43, S. 76 - 84 Renström, Per (2012): Eight clinical conundrums relating to anterior cruciate ligament (ACL) injury in sport: recent evidence and a personal reflection. In: Br J Sports Med 2012; 10, S. 1 - 7 Stølen, Tomas;/Chamari, Karami/Castagna, Carlo/Wislhoff, Ulrik (2005): Physiology of soccer – An Update. In: Sports Medicine, 35 (6), S. 501 - 536 Walther, Markus (2010): Fußballschuh 2010 – Eine Übersicht im Hinblick auf die Weltmeisterschaft in Südafrika. In: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 61 (6), S. 134 - 140 Bisanz, Gero/Gerisch, Gunnar (2008): Fußball. Kondition – Technik – Taktik und Coaching. Aachen Bradley, P. S./Sheldon, W./Wooster, B./Olsen, P./Boanas, P./Krusrup, P. (2009): High-intensity running in English FA Premier League soccer matches. In: Journal of Sports Science, 27 (2), S. 159 - 168 Broich, Holger (2009): Quantitative Verfahren zur Leistungsdiagnostik im Leistungsfußball. Dissertation, Deutsche Sporthochschule Köln Dellal, Alexandre/Wong, Del P./Moalla, Wassim/Chamari, Karim (2010): Physical and technical activity of soccer players in the French First League – with special reference to their playing position. In: International SportMed Journal 11 (2), S. 278 - 290 Jensen, Jesper/Hölmich, Per/Bandholm, Thomas/Zebis, Mette K./Andersen, Lars L./Thorborg, Kristian (2012): Eccentric strengthening effect of hip-adductor training with elastic bands in soccer players: a randomised controlled trial. In: Br J Sports Med 2012; 10, S. 1 - 8 Kindermann, Wilfried (2006): Gesundheit und Leistung im Profifußball. Deutsches Ärzteblatt, 103 (23), S. 1.605 - 1.610 Ludwig, Stefan (2011): Finanzreport deutscher Profisportligen 2011, München McCrory, Paul/Meeuwisse, Willem/Johnston, Karen u. a. (2009): Consensus statement on concussion in sport: the 3rd International Conference on Concussion in Sport held in Zurich, November 2008. In: Br J Sports Med 2009; 43, S. 76 - 84 Renström, Per (2012): Eight clinical conundrums relating to anterior cruciate ligament (ACL) injury in sport: recent evidence and a personal reflection. In: Br J Sports Med 2012; 10, S. 1 - 7 Stølen, Tomas;/Chamari, Karami/Castagna, Carlo/Wislhoff, Ulrik (2005): Physiology of soccer – An Update. In: Sports Medicine, 35 (6), S. 501 - 536 Walther, Markus (2010): Fußballschuh 2010 – Eine Übersicht im Hinblick auf die Weltmeisterschaft in Südafrika. In: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 61 (6), S. 134 - 140 Ludwig 2011 Bisanz/Gerisch 2008; Broich 2009; Walther 2010 Bradley 2009 Walther 2010 Stølen 2005 Dellal 2010 Kindermann 2006 Renström 2012 Jensen 2012 Renström 2012 McCrory 2009
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Thomas Henke
2022-01-20T00:00:00
2013-02-27T00:00:00
2022-01-20T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/sport/bundesliga/155696/bis-die-baender-reissen/
Die Spielgeschwindigkeit sowie die Anzahl der Aktionen im Spiel erhöhen sich. Die physischen Anforderungen an die Spieler steigen. Aber der Körper des Spielers ist keine Maschine und die Verletzungsgefahren steigen. Was bedeutet das für das Training
[ "Fußball", "Bundesliga", "Sport", "Leistungssport", "Gesundheit", "Verletzung", "Deutschland" ]
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September 2015 Thema: Flucht | Schulnewsletter | bpb.de
Sehr geehrter Lehrerin, sehr geehrter Lehrer, täglich erreichen uns dramatische Bilder der Flüchtlinge, die alles riskieren, um nach Europa zu gelangen. Deutschland erwartet rund 800.000 Flüchtlinge in diesem Jahr, was auch den Alltag an unseren Schulen verändern wird - zumal ein großer Teil der Flüchtlinge minderjährig und schulpflichtig ist. Mehr als jemals zuvor ist es wichtig, dass sich Lehrkräfte gemeinsam mit ihren Schülerinnen und Schülern über die Hintergründe der Flüchtlingsbewegungen informieren, sich mit den vielfältigen Motiven für Flucht auseinandersetzen und an ihrer Schule die Grundlagen für ein friedliches Miteinander legen. Der aktuelle Schulnewsletter versucht einen Einblick in die Thematik zu geben, der Sie und Ihre Schülerinnen und Schüler befähigt, ein ebenso sensibles wie umstrittenes Thema differenziert zu betrachten. Dafür haben wir Ihnen eine Auswahl an informierenden bpb-Materialien, Unterrichtsmaterialien und relevante Beiträgen aus der Mediathek zusammengestellt: https://www.bpb.de/212843/ HanisauLand Spezial: Menschen auf der Flucht Weltweit sind 2015 ungefähr 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Etwa die Hälfte aller Flüchtlinge sind unter 18 Jahre alt. Sie wollen Kriegen und Konflikten in ihren Heimatländern entkommen. Eine Flucht ist oft gefährlich, sie kann lange dauern. Meistens wissen die Flüchtlinge nicht, wo ihr Ziel sein wird. Das Spezial "Menschen auf der Flucht" stellt die Flüchtlingsthematik für Kinder dar. Externer Link: https://www.hanisauland.de/spezial/flucht-fluechtlinge/ Themenblätter im Unterricht (Nr. 109): Flüchtlinge Über eines scheinen sich zumindest alle einig: Die derzeit wachsende Zahl an Menschen in Deutschland, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind, wird unser Zusammenleben verändern, oder ist bereits dabei, dies zu tun. Weniger Einigkeit besteht jedoch in praktisch allen anderen Aspekten des Themas. Die verschiedenen Positionen werden mit Zahlen, Fakten und Argumenten unterlegt, deren Stichhaltigkeit sich jedoch nicht immer so leicht erklärt. Hier schafft das neue Themenblatt Abhilfe. Lernende können damit mögliche Fluchtursachen nachvollziehen, sich mit Fluchtbewegungen und der Aufnahme in unterschiedlichen Regionen, darunter der EU, auseinandersetzen und damit auch die Verknüpfung zur eigenen Lebenswelt reflektieren. Interner Link: http://www.bpb.de/211708/ kinofenster.de: Flucht und Asyl Die wenigsten von uns verstehen, was es für einen Menschen bedeutet, sein Heimatland unter Lebensgefahr verlassen zu müssen, um in einer fremden Kultur ein neues Leben zu beginnen. Schon in den letzten zehn Jahren hat sich das Weltkino verstärkt mit diesem Thema beschäftigt. Aus aktuellem Anlass haben wir einige Filmkritiken und Hintergrundartikel aus dem Kinofenster-Archiv zusammengestellt, die dabei helfen sollen, im Schulunterricht mit Kindern und Jugendlichen die Themen Flucht und Migration zu behandeln. Externer Link: http://www.kinofenster.de/aktuelles-thema/aktuelles-thema-flucht-und-asyl/ Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 25/2015): Flucht und Asyl Immer mehr Menschen sind gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, um in Sicherheit leben zu können. Weit über 50 Millionen Menschen befinden sich weltweit auf der Flucht, die Hälfte davon sind Minderjährige. Von den über 16 Millionen, die nicht nur ihre Stadt oder ihr Dorf, sondern auch ihr Heimatland verlassen mussten, suchen die meisten Zuflucht in einem direkten Nachbarland; nur ein kleiner Teil macht sich auf den Weg nach Europa. Dennoch fordern die stark steigenden Zahlen derjenigen, die von ihrem Grundrecht auf Asyl Gebrauch machen (möchten), die bisherigen Strukturen und Verfahren heraus. Interner Link: http://www.bpb.de/207997/ Unterrichtsmaterial für Willkommensklassen Wir haben verschiedene bpb-Materialien zusammengestellt, die Sie auch non-verbal oder wenig Spracheinsatz in Klassen mit Flüchtlingskindern nutzen können: neben Karten, Wimmelbilder zum Grundgesetz, gibt es Spiele, Infografiken und Comics. Interner Link: http://www.bpb.de/212105/ Kurzdossiers: Zuwanderung, Flucht und Asyl Die Kurzdossiers legen komplexe Zusammenhänge aus den Bereichen Zuwanderung, Flucht und Asyl sowie Integration auf einfache und klare Art und Weise dar. Sie bieten fundierte Einstiege in eine bestimmte Thematik, in dem sie Hintergründe näher beleuchten und verschiedene Standpunkte wissenschaftlich und kritisch abwägen. Darüber hinaus enthalten sie Hinweise auf weiterführende Literatur und Internet-Verweise. Dies eröffnet Ihnen und Ihren Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, sich eingehender mit der Thematik zu befassen. Interner Link: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/ Länderprofile Migration: Daten - Geschichte - Politik Ein Länderprofil enthält Informationen über Zuwanderung, Flucht und Asyl sowie Integration in einem bestimmten Land. Diese Informationen bestehen aus: Daten und Statistiken, geschichtlichen Entwicklungen, rechtlichen und politischen Maßnahmen und aktuellen Debatten in den Ländern. Des Weiteren bieten die umfangreichen Quellenangaben und Internet-Verweise am Ende jedes Länderprofils die Möglichkeit, sich intensiver mit dem jeweiligen Land zu beschäftigen. Interner Link: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/ Info-Grafik: Flüchtlinge Die Info-Grafik visualisiert anschaulich Flüchtlingsgruppen und ihre globalen Fluchtwege. http://www.bpb.de/38809/ Mediathek: Gekommen, um zu bleiben? Flucht, Vertreibung, Asyl sind Themen, die in der Gesellschaft kontrovers diskutiert werden. Mit dem Gesprächsabend "Gekommen, um zu bleiben? Flucht und Asyl in Deutschland und Europa" loten wir die grundlegenden rechtlichen Rahmenbedingungen des Flüchtens nach und des Ankommens in Europa und Deutschland aus und wollen fragen, welcher politische Gestaltungswille dahinter steht - und welche Veränderungen aktuell gefordert werden. Interner Link: http://www.bpb.de/184902/ Mediathek: Willkommen! Bis zu 800.000 Menschen nimmt Deutschland in diesem Jahr auf, so die Prognose von August 2015. Für die Kommunen bedeutet das eine immense Belastung. Immer mehr Menschen engagieren sich für die Flüchtlinge - und entspannen so auch die Lage vor Ort. Der Mediathek-Beitrag "Willkommen" nennt gelungene, die sie entweder im Unterricht diskutieren oder als Ausgangspunkt für eigene Aktivitäten nutzen können. Interner Link: http://www.bpb.de/211134/ fluter (Nr. 55): Flucht In den letzten Monaten ist die Flucht von Tausenden Menschen über das Mittelmeer nach Europa in den Fokus gerückt. Für eine realistische Perspektive lohnt der Blick auf die konkrete Vielfalt dieses Geschehens: Flucht hat viele Gesichter, denen sich die fluter-Ausgabe widmet. Interner Link: http://www.bpb.de/208588/ Newsletter "Migration und Bevölkerung" Der Newsletter informiert über neue Ergebnisse der Migrations- und Integrationsforschung, über Bevölkerungstrends sowie politische Diskussionen und neue gesetzliche Regelungen in diesem Bereich. Darüber hinaus finden sich im Newsletter ausgewählte Zahlen und Fakten zu internationalen Wanderungen, der Situation von Immigranten und zu Bevölkerungsfragen. Ferner verweist der Newsletter auf aktuelle Publikationen und Veranstaltungen. Der Schwerpunkt der Berichterstattung liegt bei deutschen, europäischen und US-amerikanischen Themen. http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/newsletter/ Im Praxistest: Schriftenreihe (Bd. 1621) Bekenntnisse eines Menschenhändlers Die Medien berichten nahezu täglich darüber: Menschen auf der Flucht vor Krieg und Elend vertrauen sich Schleppern und Schleusern an, die sie, oft für horrende Summen, auf lebensgefährliche Weise nach Europa bringen. Das Buch versucht einen Blick auf die Nutznießer und Organisatoren dieses kriminellen Handels. Sebastian Staack rezensierte dieses Buch für den Einsatz im Schulunterricht. Das Buch finden Sie unter: http://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/211423/bekenntnisse-eines-menschenhaendlers Zur Rezension: Interner Link: http://www.bpb.de/212661 Ihre Meinung Wie finden Sie unseren Schulnewsletter? Was fehlt, was wäre Ihnen wichtig? Möchten Sie gerne als Autor für eine Rezension für uns honoriert tätig werden? Schreiben Sie uns unter E-Mail Link: online@bpb.de. bpb Newsletter hier bestellen oder kündigen: Interner Link: http://www.bpb.de/newsletter Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, 2015, http://www.bpb.de/impressum
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2015-09-30T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/angebote/schulnewsletter-archiv/212897/september-2015-thema-flucht/
Täglich erreichen uns dramatische Bilder der Flüchtlinge, die alles riskieren, um nach Europa zu gelangen. Deutschland erwartet rund 800.000 Flüchtlinge in diesem Jahr, was auch den Alltag an unseren Schulen verändern wird - zumal ein großer Teil der
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Weltflüchtlingstag: UN mahnt hohe Flüchtlingszahlen an | Hintergrund aktuell | bpb.de
45,2 Millionen Menschen waren 2012 weltweit auf der Flucht. Das geht aus dem Jahresbericht des Interner Link: UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR hervor, der am Mittwoch (19. Juni) in Genf vorgestellt wurde. Danach werden weltweit rund 15,4 Millionen Menschen auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention formal als Flüchtling anerkannt. Hinzu kommen 937.000 Asylsuchende und etwa 28,8 Millionen Binnenvertriebene. Die Gesamtzahl der Menschen auf der Flucht ist gegenüber dem Vorjahr stark gestiegen, 2011 zählte das UN-Hilfswerk knapp drei Millionen weniger. Auch die Zahl der Binnenflüchtlingen war nie so hoch wie heute. Den Anstieg führt das UNHCR vor allem auf die bewaffneten Konflikte und Kriege in Mali, der Demokratischen Republik Kongo und Syrien zurück. Allein in Syrien zählen rund zwei Millionen Menschen als Binnenvertriebene. Konstant hoch ist die Zahl der Minderjährigen unter den anerkannten Flüchtlingen: fast die Hälfte ist jünger als 18 Jahre. Wer gilt als Flüchtling? Nach der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 werden Menschen als Flüchtlinge anerkannt, die ihr Heimatland verlassen haben, weil sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, Nation, Religion, politischen Meinung oder sozialen Gruppierung verfolgt oder von Verfolgung bedroht werden. Über 10 Millionen der anerkannten Flüchtlinge stehen unter dem Schutz des UNHCR. Hinzu kommen die palästinensischen Flüchtlinge und ihre Nachkommen, die von einem eigenen Hilfswerk der UN betreut werden, dem Externer Link: UNRWA. Woher kommen die vertriebenen Menschen? Nach Angaben des UNHCR stammen über 55 Prozent aller anerkannten Flüchtlinge unter seinem Mandat aus Afghanistan, Somalia, Irak, Syrien oder dem Sudan und Süd-Sudan. Afghanistan führt seit über drei Jahrzehnten die Liste der Herkunftsländer an. Jeder vierte anerkannte Flüchtling unter UNHCR-Mandat kommt aus dem Land am Hindukusch (rund 2,6 Millionen), 95 Prozent von ihnen wurden von den benachbarten Staaten Pakistan und Iran aufgenommen. Somalia steht weiterhin an zweiter Stelle der Herkunftsländer mit den meisten anerkannten Flüchtlingen (rund 1,1 Millionen). Die Zahl der syrischen Flüchtlinge stieg 2012 wegen des Bürgerkriegs stark an: Innerhalb eines Jahres flohen rund 650.000 Menschen in Nachbarstaaten, auch sie fallen unter die Definition der Genfer Flüchtlingskonvention. Damit standen 2012 weltweit 730.000 anerkannte syrische Flüchtlinge unter dem Mandat des UNHCR. Arme Staaten sind Aufnahmeländer Noch vor einem Jahrzehnt flohen nur etwa 70 Prozent der anerkannten Flüchtlinge in Entwicklungsländer. Laut UNHCR nehmen Entwicklungsländer heute über 80 Prozent von ihnen auf. Wie auch im Jahr 2011 lebten 2012 die meisten anerkannten Flüchtlinge (rund 1,6 Millionen) in Pakistan, darauf folgen Iran (etwa 870.000 Menschen) und Deutschland (fast 590.000). Europäische Länder nahmen 2012 über 245.000 anerkannte Flüchtlinge auf, das ist ein Anstieg um 16 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der Anstieg erklärt sich zum größten Teil durch den Syrien-Konflikt. Mehr als 300.000 anerkannte syrischen Flüchtlinge sind 2012 vor dem Bürgerkrieg über die Grenze in das Nachbarland Türkei geflohen. Ursachen und Versagen Als Ursachen für die Fluchtbewegungen nennt der UNHCR bewaffnete Konflikte einhergehend mit Verfolgung, kriegerischen Auseinandersetzungen und anderen Menschenrechtsverletzungen. Die hohen Flüchtlingszahlen belegten die großen Schwierigkeiten der internationalen Gemeinschaft, solche Konflikte zu verhindern oder diese zu lösen, sagte UN-Flüchtlingskommissar António Guterres am Mittwoch in Genf. Ein Rückgang der Flüchtlingszahlen ist derzeit nicht in Sicht: Nur etwa eine halbe Million anerkannte Flüchtlinge kehrten 2012 in ihre Heimatländer zurück. Etwa 70.000 konnten durch die Bemühungen des UNHCR eine dauerhafte Heimat in Drittstaaten finden. Der UNHCR-Jahresbericht Die Daten aus dem Externer Link: Jahresbericht des UNHCR stammen neben eigenen Zählungen auch von Regierungen und NGOs. Das Hilfswerk unterstützt Flüchtlinge und Binnenvertriebene durch humanitäre Hilfe vor Ort, aber auch z.B. durch die Neuansiedlung in Drittstaaten. Binnenvertriebene Menschen kann die Unterstützung des UNHCR nur dann erreichen, wenn betroffene Regierungen diese Hilfe erbitten. Das größte UNHCR-Flüchtlingslager liegt in Dadaab im Nordosten von Kenia und wurde im Jahr 2012 zwanzig Jahre alt. Es wurde in den frühen 1990er Jahren gegründet, um den steten Strom somalischer Flüchtlinge aufzunehmen, die vor dem Krieg in ihrem Heimatland flohen. Ursprünglich war es für 90.000 Flüchtlinge ausgelegt, heute leben dort über eine halbe Million Menschen. Mehr zum Thema Interner Link: Hintergrund aktuell (24.05.2013): Vor zwanzig Jahren: Einschränkung des Asylrechts 1993 Interner Link: Hintergrund aktuell (19.06.2012): Weltflüchtlingstag Interner Link: Hintergrund aktuell (15.03.2013): Syrien: Zwei Jahre Bürgerkrieg Nach der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 werden Menschen als Flüchtlinge anerkannt, die ihr Heimatland verlassen haben, weil sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, Nation, Religion, politischen Meinung oder sozialen Gruppierung verfolgt oder von Verfolgung bedroht werden. Über 10 Millionen der anerkannten Flüchtlinge stehen unter dem Schutz des UNHCR. Hinzu kommen die palästinensischen Flüchtlinge und ihre Nachkommen, die von einem eigenen Hilfswerk der UN betreut werden, dem Externer Link: UNRWA. Die Daten aus dem Externer Link: Jahresbericht des UNHCR stammen neben eigenen Zählungen auch von Regierungen und NGOs. Das Hilfswerk unterstützt Flüchtlinge und Binnenvertriebene durch humanitäre Hilfe vor Ort, aber auch z.B. durch die Neuansiedlung in Drittstaaten. Binnenvertriebene Menschen kann die Unterstützung des UNHCR nur dann erreichen, wenn betroffene Regierungen diese Hilfe erbitten. Das größte UNHCR-Flüchtlingslager liegt in Dadaab im Nordosten von Kenia und wurde im Jahr 2012 zwanzig Jahre alt. Es wurde in den frühen 1990er Jahren gegründet, um den steten Strom somalischer Flüchtlinge aufzunehmen, die vor dem Krieg in ihrem Heimatland flohen. Ursprünglich war es für 90.000 Flüchtlinge ausgelegt, heute leben dort über eine halbe Million Menschen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-09-05T00:00:00
2013-06-19T00:00:00
2021-09-05T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/163620/weltfluechtlingstag-un-mahnt-hohe-fluechtlingszahlen-an/
Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni zieht das UN-Flüchtlingswerk eine negative Bilanz: So viele Menschen wie 2012 waren zuletzt im Jahr 1994 auf der Flucht. Eine Ursache für den starken Anstieg ist der Bürgerkrieg in Syrien. Die meisten Flüchtlinge we
[ "aufgenommene Flüchtlinge", "Binnenflüchtlinge", "Flüchtlinge", "UNHCR", "Asyl" ]
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Staatlicher Umgang mit Linksterrorismus | Deutschland Archiv | bpb.de
Innere Sicherheit und Linksterrorismus Stephan Scheiper: Innere Sicherheit. Politische Anti-Terror-Konzepte in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970er-Jahre, Paderborn: Schöningh 2010, 452 S., € 48,–, ISBN 97835036769237. Volker Friedrich Drecktrah (Hg.): Die RAF und die Justiz. Nachwirkungen des "Deutschen Herbstes", München: Meidenbauer 2010, 278 S., € 42,90, ISBN 97838997517864. Johannes Hürter, Gian Enrico Rusconi (Hg.): Die bleiernen Jahre. Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1969–1982 (Zeitgeschichte im Gespräch; 8), München: Oldenbourg 2010, 128 S., € 16,80, ISBN 973486596434. "Innere Sicherheit" Scheiper: Innere Sicherheit (© Verlag Ferdinand Schöningh) Wie soll der Staat – genauer: der demokratische Rechtsstaat – auf die Herausforderungen des Terrorismus reagieren? Diese Frage wird heute anhand der Bedrohung durch islamistische Gewalttäter diskutiert. Hierbei wiederholen sich mitunter Kontroversen, die man noch aus der Ära des Linksterrorismus kennt. Daran erinnert auch die Studie des Historikers Stephan Scheiper. Sie versteht sich als eine politikgeschichtliche Abhandlung zum staatlichen Handeln gegen den Terrorismus der "Rote Armee Fraktion" im Schlüsseljahr 1977. Dabei geht es dem Autor aber nicht nur um die Beschreibung der seinerzeitigen Ereignisse mit einer staatlichen Perspektive. Vielmehr soll seine Abhandlung diskutieren, "welche grundsätzlichen Elemente moderner Politik sich in diesem Zusammenhang auflösten oder einen grundlegenden Wandel im Sinne einer Entterritorialisierung und einer transnationalen Vernetzung erfuhren" (30). Nach einer Einleitung mit Ausführungen zu Forschungsstand, Methode und Quellen geht es zunächst um die biografische Darstellung der staatlichen "Krisenstäbler", die Informationspolitik der Regierung, die Mediendiskussion über "den Staat", die Bedeutung der Sympathisanten und das Kontaktsperregesetz. Danach widmet sich Scheiper ausführlicher dem stillen Wandel von Gesellschaft und Staat im Kontext der linksterroristischen Bedrohung. Hierbei greift er zunächst weit in die deutsche Geschichte zurück, um dann das Konzept der "inneren Sicherheit" darzustellen. Dem folgen ausführliche Beschreibungen zu dem institutionellen, juristischen und politischen Wandel. Hierbei geht es nicht nur um die Planung von Reformen in der Polizei, sondern auch um die stärkere Wahrnehmung von sozialwissenschaftlichen Forschungen zum Thema. In der Gesamtschau führte diese Entwicklung in Gänze zu einem neuen Gesellschaftskonzept im Namen "Innerer Sicherheit" im transnationalen sozialen Rechtsstaat. Der Autor formuliert in diesem Sinne denn auch bilanzierend bezügliche der Veränderungen: "Unter der Oberfläche der Terrorismusbekämpfung richteten die staatlichen Akteure das politische System in den 70er Jahren neu aus. Im Verbund mit Wissenschaft und Medien vermochten sie dem Staat neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, damit er seiner verfassungsgemäßen Aufgabe weiterhin innerhalb einer gewandelten Gesellschaft gerecht werden konnte. Während einerseits Tätigkeitsfelder ausgelagert und anderweitigen Regulierungsmöglichkeiten zugeführt wurden, entwickelten zentrale Netzwerke aus Politik und Wissenschaft transnationale, reflexive und zivile Handlungsmuster, die auf dem Gebiet der Sicherheit begrifflich noch oftmals in der Vergangenheit verortet werden konnten, inhaltlich aber bereits deutlich in die Zukunft einer grenzendurchlässigen Weltgesellschaft wiesen. Hieran lässt sich die Scharnierfunktion der 70er Jahre zwischen dem 20. und 21. Jahrhundert wie an keiner anderen Stelle erkennen" (422). Scheipers Darstellung beeindruckt allein schon durch ihren Informationsgehalt und die Materialfülle, konnte er doch umfangreiches Aktenmaterial bezüglich der Handlungen auf Seiten der Repräsentanten des Staates auswerten. Dabei weist Scheiper auch der Persönlichkeit der Akteure eine herausragende Bedeutung zu, gelten ihm doch die "Krisenstäbler" als "demokratisierte Kriegsgeneration". In der Tat spielen diese biografischen Gesichtspunkte wohl gerade in Konfliktsituationen eine herausragende Rolle. Der Autor lenkt gleichwohl auch den Blick auf die strukturellen Gegebenheiten und die Lernprozesse im demokratischen Staat. Durch die Art der Präsentation seiner Studie gelingt ihm die damit beabsichtigte Vermittlung von Einsichten in seine zentralen Deutungen allerdings nicht. Den Leser konfrontiert Scheiper mit einer solchen Fülle an Einzelinformationen, dass dabei häufig der Kontext seines eigentlichen Erkenntnisinteresses verloren geht. Hier wäre – im Sinne einer klaren Konzentration eben darauf – weniger mehr gewesen. "Die RAF und die Justiz" Drecktrah: Die RAF und die Justiz (© Martin Meidenbauer Verlag) Dem Thema "Linksterrorismus und Justiz" widmete sich auch das "Forum Justizgeschichte" in Tagungen, die bereits im Herbst 2006 durchgeführt wurden. Unter der Herausgeberschaft des Richters Volker Friedrich Drecktrah liegen die seinerzeit gehaltenen Vorträge in Aufsatzform in dem Sammelband "Die RAF und die Justiz" vor. Es geht um die Entstehungsbedingungen der RAF, die Entwicklung zum terroristischen Handelns als psychosozialer Prozess, das gesellschaftlich-politische Umfeld der RAF, Mythen in der Geschichte dieser linksterroristischen Gruppe, ihren hohen Frauenanteil, Stammheim aus der Sicht des Strafprozessrechts, die Wahrnehmung von Justiz und Öffentlichkeit durch die Strafverteidiger, die Rolle der "Roten Hilfe" im Umfeld, die Position des Bundesverfassungsgerichts, den Stellenwert der Staatsräson bei den Erpressungsabsichten, die niederländischen Verteidiger der RAF-Gefangenen und den Kontext von Linksterrorismus und Vietnam-Krieg. Entgegen des Titels finden sich demnach in dem Sammelband auch zahlreiche Beiträge, die nicht-juristische Fragestellungen und Themen behandeln und von Historikern oder Sozialwissenschaftlern stammen. Dadurch entsteht ein weiter Blick für die Analyse des Phänomens. Mitunter wiederholen die Autoren nur bereits seit längerer Zeit Bekanntes. Gleichwohl findet man auch Beiträge, die bislang nur am Rande thematisierte Aspekte beleuchten. Hierzu gehört etwa die Abhandlung, die nach den Erklärungsmustern für den relativ hohen weiblichen Anteil von RAF-Terroristen fragt. Ähnliches gilt für die Ausführungen zu der auch heute noch aktiven linksextremistischen "Gefangenenhilfsorganisation" mit der Bezeichnung "Rote Hilfe". Bedauerlich ist, dass nur wenige ursprüngliche Vorträge zu wissenschaftlichen Aufsätzen umgearbeitet wurden. So wirken manche Abhandlungen mitunter doch mehr wie ein Essay. Eine Überarbeitung hätte der Qualität dieser Beiträge sicher genutzt. "Die bleiernen Jahre" Hürter/Rusconi: Die bleiernen Jahre (© Oldenbourg Verlag) Den Blick über die Grenze wie in den beiden letztgenannten Aufsätzen wirft auch ein anderer Sammelband, der ebenfalls auf eine Tagung (des Italienisch-Deutschen Instituts und des Instituts für Zeitgeschichte im Mai 2008) zurückgeht. Deren Inhalte sind in dem von dem Historiker Johannes Hürter und dem Politikwissenschaftler Gian Enrico Rusconi herausgegebenen Sammelband "Die bleiernen Jahre" nachzulesen. Bei dessen Konzeption gelang es, eine klare Struktur durchzusetzen. In fünf Kapiteln finden sich jeweils zwei Aufsätze, welche den Umgang mit dem Linksterrorismus in einem bestimmten Bereich in der Bundesrepublik und in Italien darstellen und einschätzen: Regierung und Parlament, Polizei, Justiz, Öffentliche Meinung und Staatsverständnis. Abgeschlossen wird der Band noch durch einen Forschungsbericht, der einen Überblick zu Publikationen über den Linksterrorismus der 1970er-Jahre in Deutschland und Italien liefert. Bei diesem Band fand eine Überarbeitung der Texte in Richtung von wissenschaftlichen Aufsätzen statt. Darüber hinaus erhielten die Autoren offenbar eine klare und verbindliche Vorgabe für die inhaltliche Gestaltung. Beides ist dem "Gesamtprodukt" zugute gekommen. Dies gilt auch für die eher knappe Darstellung, sind doch die meisten Texte nicht länger als zehn Druckseiten. Entsprechend mussten sich die Autoren auch auf den Kern ihrer "Botschaft" konzentrieren. An einem systematischen Vergleich mangelt es indessen. Wie in vielen Monografien und Sammelbänden zu länderübergreifenden Phänomenen dominieren Fallstudien zu einem Komplex in einem Land. Gerade aus der kritischen Betrachtung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden lässt sich aber gesondert lernen. Etwas verwundert ist man darüber hinaus, dass der seinerzeit besonders gefährlich agierende Rechtsterrorismus in Italien nicht genügend Aufmerksamkeit erhielt. Bilanzierend betrachtet handelt es sich gleichwohl um einen gelungenen Sammelband zum Thema. Scheiper: Innere Sicherheit (© Verlag Ferdinand Schöningh) Drecktrah: Die RAF und die Justiz (© Martin Meidenbauer Verlag) Hürter/Rusconi: Die bleiernen Jahre (© Oldenbourg Verlag)
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Armin Pfahl-Traughber
2023-02-17T00:00:00
2012-01-11T00:00:00
2023-02-17T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/54033/staatlicher-umgang-mit-linksterrorismus/
Bücher zum Umgang von Innenpolitik und Justiz mit dem Linksterrorismus in Deutschland und Italien in den 1970er-Jahren.
[ "Literatur", "Deutschland Archiv", "Innenpolitik", "Justiz", "Rechtsextremismus", "Populismus", "Judentum", "Deutschland" ]
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"Starling and Lyre" | The Celluloid Curtain | bpb.de
Nach ihrer erfolgreichen Arbeit während des Zweiten Weltkriegs setzen die beiden verheirateten Sowjetspione Ludmila und Fedor ihre Arbeit in der Bundesrepublik fort. Dort dringen sie in höchste Unternehmerkreise vor, wo von Amerikanern unterstützte Wirtschaftsbosse Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zu neuem Glanz verhelfen wollen - und das notfalls mit militärischen Mitteln auch gegen die Sowjetunion? Skvorets i Lira / Starling and Lyre wurde 1974 in der Sowjetunion fertiggestellt. Der Film wurde sehr teuer produziert, aufwendig ausgestattet und opulent in CinemaScope gedreht. Der Regisseur Grigori Aleksandrov, einer der großen Altmeister des sowjetischen Kinos, hatte einst an der Seite des legendären Sergej Eisenstein als Ko-Regisseur an Oktjabr / Oktober (UdSSR 1927) und Staroje i nowoje / Die Generallinie (UdSSR 1929) gearbeitet, ehe er 1934 mit Vesiolyje rebjata / Lustige Burschen das sogenannte Red Hollywood einläutete und erfolgreiche Musical-Comedies im Geiste Hollywoods drehte. Die weibliche Hauptrolle in Skvorets i Lira ist mit Ljubov Orlova besetzt, einem großen Star, einer altgedienten Filmdiva, die im Übrigen mit Aleksandrov liiert war. Mit Skvorets i Lira entstand 1974 demnach eine veritable Großproduktion, geschaffen für ein breites, internationales Publikum. Der Film in DatenStarling and Lyra Originaltitel: Skvorets i Lira Sowjetunion 1974, 142 Min., OmeU Regie: Grigori Aleksandrov Darsteller: Lyubov Orlova, Pyotr Velyaminov, Nikolai Grinko u. a. Doch nach seiner Fertigstellung und einigen wenigen Vorführungen wurde der Film rasch wieder aus den russischen Kinos verbannt. Bis in die 1990er-Jahre, als er erstmals im russischen Fernsehen lief, wurde er nicht wieder aufgeführt und auch nach der Fernsehausstrahlung gab es keine öffentlichen Kinovorführungen. Warum verschwand dieses so aufwendig produzierte Werk sang- und klanglos in den Archiven? Doch vorab zum Plot des Films: Skvorets i Lira erzählt von einem verheirateten sowjetischen Agentenpaar, Ludmila (Codename Lira, womit das Musikinstrument Leier gemeint ist) und Fedor Grekov (Codename Skvorets, auf deutsch der Vogel Star), die während des Zweiten Weltkriegs sehr erfolgreich als undercover-Spione in Deutschland arbeiten. So erfolgreich, dass ihre Mission auch nach Kriegsende von russischer Seite fortgesetzt wird, wenngleich sich beide lange Zeit nicht sehen und Lira nichts vom Schicksal des Geliebten weiß, der nach der deutschen Kapitulation im Westteil Berlins geblieben war. Beide dringen nun bis in die höchsten Unternehmerkreise vor, in denen von Amerikanern gesteuerte, mächtige Lenker wirken, die Deutschland notfalls mit militärischen Mitteln zu neuem Glanze verhelfen wollen. Es gibt mindestens zwei Erklärungsansätze für die langjährige Absenz des Films. Der erste ist möglicherweise im Alter der Hauptdarstellerin begründet. Die bereits erwähnte Filmdiva Ljubov Orlova spielt Lira, eine Figur, die im Film eine Entwicklung von ca. zwanzig Jahren durchläuft. Zu Beginn der Erzählung ist Lira etwa dreißig Jahre alt. Tatsächlich war die Schauspielerin aber bereits über siebzig, was auch damals bei der Rezeption des Films schon zu Glaubwürdigkeitsproblemen geführt haben dürfte. Außerdem wirkte der Film altmodisch, schien handwerklich nicht auf der Höhe der Zeit zu sein, war also weit entfernt von dem, was das sowjetische Kino Mitte der 1970er-Jahre ansonsten zu bieten hatte. Dass jedoch allein qualitative Mängel für den Startverzicht des Films ausschlaggebend gewesen sein sollen, ist sehr unwahrscheinlich. Vielleicht ist der zweite Erklärungsansatz überzeugender, denn Skvorets i Lira ist sicherlich einer der ideologisch härtesten Filme des Kalten Krieges. Der Film erzählt von Amerikanern, die mit Hilfe ehemaliger Wehrmachtsoffiziere und deutscher Business-Leute den Dritten Weltkrieg planen. Ein US-amerikanischer Verbindungsmann vertritt im Film beispielsweise die These, die USA hätten den Zweiten Weltkrieg zwar gewonnen, allerdings gegen das falsche Land – gegen Deutschland und nicht gegen Russland. Diese direkte Suggestion kriegerischer Absichten der Westmächte gegen die Sowjets wird mit großer Ernsthaftigkeit thematisiert. Skvorets i Lira hatte mit S. K. Svigun, der an hoher Stelle für den KGB tätig und auch für Kriegsspionage zuständig war, einen prominenten Berater. Der Film sollte ursprünglich im Herbst 1974 nach einem Screening vor dem Zentralkomitee der KPdSU ins Kino kommen, doch kurz zuvor ereignete sich mit der Guillaume-Affäre und dem Rücktritt Willy Brandts einer der brisantesten deutsch-deutschen Spionageskandale. Da die Filmhandlung zu deutlich an jenen realen Vorfall erinnerte und die Machthaber im Osten nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf die Affäre ziehen wollten, wurde Skvorets i Lira ins Archiv verbannt. Aus heutiger Sicht erstaunt die ideologische Härte des Films besonders, da Mitte der 1970-er Jahre ein politisches Tauwetter zwischen den Mächten und eine Annäherungspolitik an den Westen vorherrschte, in deren Sinne Skvorets i Lira absolut nicht funktioniert hätte. Somit stellt dieser Film ein extremes Beispiel offener propagandistischer Ausrichtungen dar. Warum sich das Genre des Agentenfilms wunderbar für derartige Tendenzen eignet, zeigt der Film ebenfalls sehr gut. Beide Agenten arbeiten – das ist im osteuropäischen Spionagefilm sehr oft zu finden – jahrelang undercover im Westen, in der gegnerischen Gesellschaft, der sie sich anpassen und deren Ideologie sie unterwandern müssen. Es ist wohl kaum eine geeignetere Figur denkbar als der Agent, der derart praktisch das ideologisch Unterlegene und moralisch Verfehlte einer Gesellschaftsordnung aufzeigen kann, indem er gezwungen ist, sich zu Tarnungszwecken genau jene Lebensweise anzueignen. In anderen Filmen hat diese Repräsentationsweise allerdings einen unbeabsichtigten Nebeneffekt: Ihre schwelgerische Darstellung des kapitalistischen Lotterlebens bot der Ost-Bevölkerung die seltene Möglichkeit, einen Blick auf das zu erhaschen, worauf sie selbst zu verzichten gezwungen war. Durch seine starke propagandistische Einfärbung ist dies beim russischen Genre-Beispiel Skvorets i Lira sicherlich nicht der Fall. Originaltitel: Skvorets i Lira Sowjetunion 1974, 142 Min., OmeU Regie: Grigori Aleksandrov Darsteller: Lyubov Orlova, Pyotr Velyaminov, Nikolai Grinko u. a.
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Oliver Baumgarten
2022-01-26T00:00:00
2012-02-14T00:00:00
2022-01-26T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/63087/starling-and-lyre/
Die Sowjetspione Ludmila und Fedor dringen in westdeutsche Unternehmerkreise vor, welche mit Unterstützung der USA Deutschland zu neuem Glanz verhelfen wollen, notfalls mit militärischen Mitteln.
[ "Celluloid Curtain", "Kino", "Film", "Kalter Krieg", "Starling and Lyre" ]
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6. Statusbericht: Bürgerhaushalte in Deutschland (Januar 2013) | Netzwerk Bürgerhaushalt | bpb.de
Dies ist vor allem auf die wachsende Vielfalt der unterschiedlichen Verfahrenstypen zurückzuführen. Zum Relaunch von buergerhaushalt.org wurde daher intensiv an einer Überarbeitung gearbeitet. Insgesamt wurden 403 Kommunen recherchiert, darunter alle deutschen Kommunen mit mehr als 40.000 Einwohnern sowie den bereits in den Vorjahren auf buergerhaushalt.org erfassten kleineren Kommunen. Der vollständige Bericht kann hier als PDF runtergeladen werden. Mittlerweile sind dementsprechend 274 Kommunen in der Karte der Bürgerhaushalte in Deutschland erfasst. Der leichte Wachstumstrend der Vorjahre zeichnet sich also fort – im letzten Jahr waren es noch 237 Kommunen. Neben der Aufzeichnung von Statusentwicklung wurde in dem diesjährigen Statusbericht auch versucht, die vielfältigen Verfahren, die sich in Deutschland im Laufe der letzten Jahre entwickelt haben, näher einzugrenzen und zu kategorisieren. Betrachtet wurden dabei folgende Dimensionen: Der Haushaltsgegenstand Welche Teile des Haushaltes sind Gegenstand des Bürgerhaushaltes? die Beteiligungsart Wie können Bürgerinnen und Bürger sich beteiligen? die Inputmöglichkeiten Welche Art von Vorschlägen können Bürger und Bürgerinnen einbringen? der Beteiligungskanal Mit Hilfe welcher Kommunikationskanäle können Bürgerinnen und Bürger am Bürgerhaushalt teilnehmen? die Rechenschaft Wie erfolgt die Rechenschaftslegung?
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-11-18T00:00:00
2022-09-12T00:00:00
2022-11-18T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/stadt-land/buergerhaushalt/512949/6-statusbericht-buergerhaushalte-in-deutschland-januar-2013/
Der 6. Statusbericht über Bürgerhaushalte in Deutschland bietet einen Überblick über alle auf der Seite buergerhaushalt.org erfassten Kommunen. Seit dem ersten Statusbericht im Jahr 2007 ist nicht nur die Anzahl der hier aufgeführten Kommunen stetig
[ "Bürgerhaushalt – Bürgerbudget", "Statusbericht" ]
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2014-11-05T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/daten/datenschutz/194453/redaktion/
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Dschihad per Smartphone: Islamisten ködern Kinder und Jugendliche | Presse | bpb.de
Sehr geehrte Damen und Herren, wir laden Sie herzlich ein zur Pressekonferenz am Montag, 28. November 2016 um 11 Uhr in den Räumen der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Friedrichstraße 50, 10117 Berlin. Gemeinsam mit jugendschutz.net und der Aktion Gemeinwesen und Beratung e.V. (AGB e.V.) stellt die bpb zwei von ihr geförderte Projekte zur Islamismusprävention vor. Gezielt nutzen islamistische Akteure das Social Web, um dschihadistische Propaganda zu verbreiten und Jugendliche zu ködern. Insbesondere jugendaffine Dienste wie der Messenger Telegram gewinnen an Relevanz. Auch Kinder werden systematisch umworben: Apps, die bunte Bilder mit militanten Botschaften mischen, sollen schon die Kleinsten an die extremistische Ideologie heranführen und ein positives Bild vom Dschihad im Sinne des bewaffneten Kampfes erzeugen. jugendschutz.net betreibt ein intensives Monitoring islamistischer Online-Aktivitäten. Schulen reagieren oft hilflos auf Extremismus unter ihren Schülern. Mit Hilfe eines hochstrukturierten Clearingverfahrens soll in einem Modellprojekt Radikalisierung vorgebeugt und mögliche Radikalisierungsprozesse unterbrochen werden. Die AGB e.V. führt das Projekt an bundesweit sechs Schulen durch. Teilnehmende: Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung Stefan Glaser, stellvertretender Leiter von jugendschutz.net Dr. Michael Kiefer, AGB e.V., Projektleiter „Clearingverfahren und Case Management - Prävention von gewaltbereitem Neosalafismus und Rechtsextremismus“ Im Anschluss gibt es bei einem Imbiss die Möglichkeit zum Gespräch. Wir bitten um eine formlose Anmeldung bis zum 26. November 2016 unter E-Mail Link: presse@bpb.de Auf einen Blick: Pressekonferenz Zeit: 28. November 2016, 11:00 Uhr Ort: Bundeszentrale für politische Bildung, Friedrichstraße 50, 10117 Berlin, 4. Stock, Veranstaltungssaal Wir freuen uns auf Ihr Kommen! Mit freundlichen Grüßen, Daniel Kraft - Pressesprecher - Presseeinladung als Interner Link: PDF. Pressekontakt: Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2016-11-21T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/237655/dschihad-per-smartphone-islamisten-koedern-kinder-und-jugendliche/
Wir laden Sie herzlich ein zur Pressekonferenz am Montag, 28. November 2016 um 11 Uhr in den Räumen der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Gemeinsam mit jugendschutz.net und der Aktion Gemeinwesen und Beratung e.V. (AGB e.V.) stellt die bpb z
[ "PE PK Jugendschutz.net 2016" ]
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Irregular migration | Brazil | bpb.de
Irregular migration from Brazil Since opportunities for entering the USA were tightened up in the 1990s, many Brazilians try to enter the country illegally. Initially they travel to Mexico as tourists and then cross the border into Texas in buses or on foot with the help of people smugglers. Many Brazilians pay sums of up to US$ 8,000 to Mexican or US American smugglers for this service. The number of Brazilians apprehended at the USA border was quantified in 2005 as up to 2000 a month. In view of these figures, in 2006 the Brazilian Congress set up an investigative commission with the task of researching the situation and rights of those who entered the USA illegally or were apprehended. There has also been an increase in irregular emigration to Europe, especially Portugal, in the last ten years. In 2003 during a state visit by Brazilian President Luiz Inácio Lula da Silva, Portugal and Brazil negotiated a legalisation programme for Brazilians living illegally in Portugal, whereby some 30,000 were to be legalised within five years. This presupposed entry into the country after 2001 and a valid employment contract. Complicated bureaucracy and the migrants´ failure to possess the documents necessary for the process have meant that by 2008 only around two thirds have been legalised. Illegal and irregular immigration Regional irregular immigration is determined above all by two groups of immigrants: firstly, labour migrants, including those who do not have papers, migrate within the border areas between Brazil and its neighbouring states in the wake of the Mercosur agreement (cf. "Regional Migration"); and secondly the civil war-like conflict in Columbia drives around 2000 people a year across the borders into the north-western part of Brazil. The number of Africans fleeing the civil war and war of independence in Angola (1975 to 2002) and entering Brazil irregularly was similarly high. At the beginning of the 1990s their number was estimated at over 15,000 (cf. Refugeeism and asylum). However there is also prohibited immigration by sea from other African states such as Nigeria. In 1998, under the then President Fernando Henrique Cardoso, the law governing illegal immigration (No. 7,685 of 1988) was amended by a new amnesty law (No. 9,675). During a period of 90 days in the same year, 40,000 foreigners received a temporary residence permit of up to two years with the option for extension by the same period through to achieving permanent residence status. The biggest groups to profit from this amnesty were Bolivians (approx. 14,000), Chinese (approx. 9,900) and Lebanese (approx. 3,100) followed by South Koreans, Peruvians, Uruguayans and Argentinians, each with a four-figure number. Although Africans probably make up the greatest proportion of irregular immigrants, only 435 persons from Angola (9th place) and 225 from Nigeria (in 13th place) profited from the amnesty. Critics decry the fact that in total only very few immigrants are regularised. Moreover, the common practice of deporting children is an object of criticism in connection with controlling irregular migration. Human trafficking Of all the countries in the world, Brazil is one that is worst affected by human trafficking. It is very frequently the country of origin of women and children who are sexually exploited. Women are enticed with false offers into other regions within the country, into neighbouring countries or to Western Europe, Japan, the United States and the Middle East, where they are forced into prostitution. There is a close association between the sex tourism in Brazil´s coastal cities and the trafficking of women. Children are also enslaved as domestic servants. Men are trafficked above all for agricultural work and forced to work in slavelike conditions in the Brazilian states of Amazonas, Mato Grosso and Pará. According to the US Department of State's annually published report on people trafficking, in 2006 close to 70,000 Brazilians were working as prostitutes abroad, many of them victims of people trafficking, and 25,000, mostly males, were working as forced labourers in Brazilian agriculture. Prosecuting those involved in forced labour continues to be a major problem in combating people trafficking in Brazil. According to the law, trafficking in people for purposes of sexual exploitation carries a punishment of six to ten years' imprisonment. Similarly, forced labour is forbidden under the terms of the Brazilian constitution and can be penalised with confinement, but to date this has rarely been pursued. Although in recent years the government has made increasing efforts to punish internal and international people-trafficking and take targeted action against forced labour, measures proclaimed by the Lula administration for eliminating slave labour and child prostitution are making only slow headway. In October 2006, President Lula da Silva had initiated and provided the relevant finances for a national plan of action against all forms of exploitation, including nationally coordinated measures to combat people trafficking. In 2006 there were more than 100 missions to remote areas along the Amazon River to uncover forced labour. See: MIGRATION NEWS; Vol. 12, No. 3, July 2005: "Mexico: Legalization, Brazilians, Economy": Externer Link: http://migration.ucdavis.edu/mn/more.php?id=3114_0_2_0. See Baeninger (2000): Africanos no Brasil: Dubiedade e Estereótipos: Externer Link: http://www.comciencia.br/reportagens/migracoes/migr11.htm. See Barreto (2001). See U.S. Department of State: Trafficking in Persons Report 2007 Externer Link: www.state.gov. See U.S. Department of State: Trafficking in Persons Report 2007 Externer Link: www.state.gov.
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Sabina Stelzig
2022-01-18T00:00:00
2012-01-25T00:00:00
2022-01-18T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/58269/irregular-migration/
Since opportunities for entering the USA were tightened up in the 1990s, many Brazilians try to enter the country illegally. Initially they travel to Mexico as tourists and then cross the border into Texas in buses or on foot with the help of people
[ "Brasilien", "Brazil", "irreguläre Migration", "irregular migration", "illegale Einwanderung" ]
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Juni 2016. Thema: Spielend lernen | Schulnewsletter | bpb.de
Sehr geehrte Lehrerin, sehr geehrter Lehrer, Spiele machen Spaß, aktivieren und motivieren - besonders am Ende des Schuljahres. Es gibt mittlerweile zahlreiche kreative Spiele für den Unterricht, die das Lernen einfacher, abwechslungsreicher und manchmal auch ein wenig spannender machen. Das Angebot der bpb reicht hier von ausgearbeiteten und thematisch breit gefächerten Spielen für die Grundschule (hanisauland.de), über die Mittelstufe (Kartenspiele) bis hin zur Oberstufe (Planspiele). Spiele - und dabei besonders die Computerspiele - sind mittlerweile ein großer und wichtiger Teil der Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern, der Pädagogen und Eltern oft ein Rätsel ist. Die bpb bietet dazu Informationsmaterial, Interviews, Workshops sowie einer eigenen Internetseite (spielbar.de) - für Pädagogen und Eltern. Entdecken Sie mit uns die Welt der Spiele! werkstatt.bpb.de: Themenschwerpunkt "Spielend lernen - digitale Spiele in der Bildung" neu ab Juli Spielend lernt es sich viel leichter, oder? Und welche Möglichkeiten hier erst die Digitalisierung bietet! - Aber was bringen Minecraft, Classcraft, Twine und Co. wirklich im Klassenzimmer? Und welche Voraussetzungen - nicht nur technischer Art - braucht es, damit Lernen im (digitalen) Spiel gelingt? Im kommenden Themenschwerpunkt "Spielend lernen" beschäftigt sich die Werkstatt der bpb mit digitalen Spielen in der Bildung - beleuchtet Potenziale, betrachtet Risiken und fragt: Welche Spiele eignen sich wo? Lesen Sie bald mehr auf Interner Link: www.bpb.de/230247 Dossier: Computerspiele Zwei Striche und ein Punkt, das ergab 1958 "Tennis für Zwei", das erste Computerspiel. Heute führen Millionen Erdenbürger ein zweites Leben in Online-Rollenspielen. Digitale Spiele setzen jährlich 20 Milliarden Euro um, Wirtschaft und Militär verwenden Simulationsspiele zur Ausbildung, Hochschulen gründen Institute für "Spielstudien", und Künstler drehen Filme mit Ego-Shootern. Leben wir also in einer Spielgesellschaft? Das Dossier führt in die Formen und Geschichte der Computerspiele ein. Es fragt nach ihrer Faszination und Wirkung, beleuchtet mögliche Folgen für Gesellschaft und Bildung und lässt Experten über die Politik der Spiele sprechen. http://www.bpb.de/gesellschaft/medien/computerspiele/ spielbar.de Spielbar.de ist die Plattform der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema Computerspiele. Spielbar.de informiert über Computerspiele und erstellt pädagogische Beurteilungen. Pädagogen, Eltern und Gamer sind eingeladen, ihre eigenen Beurteilungen, Meinungen und Kommentare zu veröffentlichen. Spielbar.de fördert den Austausch zwischen Spielenden und Nicht-Spielenden und hilft Eltern und pädagogisch Verantwortlichen beim Einstieg in das Thema und stellt Tipps und Materialien für den Alltag und pädagogische Praxis bereit. Externer Link: http://www.spielbar.de/ spielbar.de: Broschüre Faszination Computerspiele Computerspiele sind Teil unserer Alltagskultur und für viele Menschen ein wichtiger Bestandteil ihrer Freizeitbeschäftigung. Die besonders große Beliebtheit bei Kindern und Jugendlichen stellt Eltern und Pädagogen vor die Herausforderung, aktuelle Games einschätzen und bewerten zu können, auch in Hinblick auf gewalthaltige Inhalte und Suchtpotentiale. Externer Link: http://www.spielbar.de/neu/wp-content/uploads/2014/01/spielbar_broschuere_2014_web.pdf Debatte: Verbotene Spiele Seit dem Amoklauf von Erfurt streiten Spieler und Eltern, Forscher und Lehrer, Politiker und Interessenverbände in Deutschland über gewalthaltige Computerspiele. Seit 2005 steht der Vorschlag im Raum, die Herstellung von "Killerspielen" gesetzlich zu verbieten. Mit jedem jugendlichen Amoklauf flammt der Verdacht gegen die Spiele neu auf, und mit ihm Verbotsrufe. Die Debatte selbst wird dabei zusehends komplexer. War die einzige Sorge anfangs, ob Spiele gewalttätig machen können, fragt man heute auch: Wie groß ist ihr Suchtpotenzial? Wie "normal" ist Gewalt in den Medien? Wie muss Jugendschutz bei Spielen aussehen, im Zeitalter des Internet? Und wie wichtig sind Computerspiele als Wirtschafts- und Kulturgüter? Die Online-Debatte bietet erschließt Hintergründe und Fakten. Experten, Politiker und Interessenvertreter erläutern ihre Positionen. http://www.bpb.de/gesellschaft/medien/verbotene-spiele/ Dossier: Methoden für den Unterricht: Planspiele Planspiele gewinnen als handlungsorientierte Methode in der schulischen und außerschulischen Bildung für die Vermittlung komplexer Zusammenhänge in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft immer mehr an Bedeutung. Lernende übernehmen dabei die Rollen diverser Akteure innerhalb eines vorgegebenen Szenarios und können so selbst darin ablaufende Vorgänge erfahren. Planspiele können innerhalb einer Projektwoche, eines einzelnen Seminar- oder Unterrichtstages oder auch, je nach Komplexität, stundenweise durchgeführt werden. Interner Link: http://www.bpb.de/70254/ bpb Werkstatt: Digitale Bildung in der Praxis: Interaktives Storytelling mit Twine Mit interaktivem Storytelling können Lernende leichter in Texte eintauchen, mehr Spaß am Lesen entwickeln und Entscheidungen besser nachvollziehen. Wie Lehrende mit der kostenfreien Open-Source-Software Twine schnell eigene interaktive Erzählungen am Computer erstellen, erklärt unser Gast-Autor Frank Sindermann. Er stellt Ihnen die wichtigsten Schritte, einige Einsatzmöglichkeiten und alternative Softwarelösungen vor. Interner Link: https://www.bpb.de/227691/ lernen/digitale Bildung: Faszination Medien - Computerspiele Held oder Heiler, Retter, Killer oder Soldat sein - virtuelles Spielen ist längst ein Massenphänomen geworden, das weit über die viel diskutierten Ego-Shooter hinausgeht. Der Themenblock "Computerspiele" befasst sich damit, was digitale Spiele attraktiv macht und was Nutzerinnen und Nutzer motiviert, sich in virtuellen Welten zu verlieren. Die Spielindustrie verzeichnet das größte Wachstum aller Medienanbieter. Am Beispiel der Computerspieladaption Tomb Raider wird gezeigt, wie vielfältig die crossmediale Vermarktung von Spielen angelegt ist - und wie erfolgreich dies ist. Neben den großen Markenspielen gibt es mit Spin-Offs, Sequels, Strategiespielen oder Social Games eine Vielzahl an Genres und Subgenres von Computerspielen, die beispielhaft vorgestellt werden. Interner Link: http://www.bpb.de/191665/ hanisauland.de: Spiele Für alle HanisauLand-Fans gibt es hier eine große Vielfalt an Spielen, wie etwa Saudoku, Memospiel zur Deutschen Einheit, ein Quiz zur WM 2016, den Trixomat, Ausmalbilder oder etwa ein Quiz zu den Wahrzeichen Deutschlands. Externer Link: https://www.hanisauland.de/spiele/ Aus der Mediathek: Interviews zum Thema Spiele Was wir aus den Spielen lernten Interner Link: http://www.bpb.de/347/ Kriegsdarstellungen im Computerspiel Interner Link: http://www.bpb.de/136306/ Gestaltung von Computerspielen Interner Link: http://www.bpb.de/136307/ Workshop: Eltern-LAN auf der Gamescom in Köln (20.08.2016 in Köln) Im Rahmen der Gamescom stellen wir das Projekt Eltern-LAN vor, berichten über Erkenntnisse und Entwicklungen aus der Praxis, spielen mit den Teilnehmenden das Konzept exemplarisch durch und stellen Wege vor, wie eine Eltern-LAN vor Ort durchgeführt werden kann. http://www.bpb.de/228823/ Im Praxistest: Kartenspiele der bpb im Geschichts- und Politikunterricht Die Sommerferien nahen. Wenn man versuchen möchte, die seitens der Schülerinnen und Schüler nach Notenschluss oft geforderten "Spielstunden" noch mit fachlich relevanten und spannenden Inhalten zu füllen, empfiehlt sich ein Blick in die Spielangebote der bpb. Hier finden sich unter anderem Kartenspiele zu diversen politischen, historischen und auch moralisch-ethischen Themen, von denen zwei exemplarisch vorgestellt werden sollen. Eine Rezension von Christina Brüning. Das Material finden Sie unter: Interner Link: http://www.bpb.de/shop/lernen/spiele/ Zur Rezension: Interner Link: http://www.bpb.de/230272/ Ihre Meinung Wie finden Sie unseren Schulnewsletter? Was fehlt, was wäre Ihnen wichtig? Möchten Sie gerne als Autor für eine Rezension für uns honoriert tätig werden? Schreiben Sie uns unter E-Mail Link: online@bpb.de. bpb Newsletter hier bestellen oder kündigen: Externer Link: http://www.bpb.de/newsletter Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, 2016, Externer Link: http://www.bpb.de/impressum
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-06-23T00:00:00
2016-06-30T00:00:00
2021-06-23T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/angebote/schulnewsletter-archiv/230313/juni-2016-thema-spielend-lernen/
Spiele machen Spaß, aktivieren und motivieren - besonders am Ende des Schuljahres. Es gibt mittlerweile zahlreiche kreative Spiele für den Unterricht, die das Lernen einfacher, abwechslungsreicher und manchmal auch ein wenig spannender machen. Das A
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Die Parteien und das Frauenwahlrecht im Kaiserreich | Frauenwahlrecht | bpb.de
Die Frauenrechtsbewegung und damit auch die Bewegung für die Einführung des Frauenstimmrechts war im Interner Link: Deutschen Kaiserreich im Wesentlichen eine zivilgesellschaftliche Bewegung, also in unterschiedlichen Vereinen und Verbänden organisiert. Dabei war die Frauenbewegung ideologisch ähnlich aufgebaut, wie die Parteien auch. So gab es eine sozialdemokratische, eine bürgerlich geprägte, die ein breites Spektrum zwischen einem radikalen und einem gemäßigten Pol abdeckte, eine katholisch-konfessionelle und schließlich auch eine konservative Frauenbewegung, die zugleich zu einem Großteil evangelisch orientiert war. Die entsprechenden Vereine betonten zwar in aller Regel ihre parteipolitische Neutralität, bewegten sich aber trotzdem in der Vorstellungswelt 'ihres' politischen Lagers, das in puncto Frauenstimmrecht klare Position bezog. Dabei befand sich die Frage danach in den Wahlrechtsdebatten des späteren Kaiserreichs nicht unbedingt an der ersten Stelle der Agenda. Der größte Zankapfel war das preußische Dreiklassenwahlrecht, das besonders die SPD extrem benachteiligte und den konservativen Parteien eine strukturell dominierende Position im wichtigsten Land des Reiches sicherte. Auf Reichsebene galt zwar ein allgemeines und gleiches Männerwahlrecht, aber auch hier kam es zu erheblichen Verzerrungen, weil die Wahlkreise seit 1873 nicht an das enorme Bevölkerungswachstum und die Binnenwanderung im Zuge der Industrialisierung angepasst worden waren. Diese Fragen beschäftigten die Männer-Parteien mehr als die Frage nach dem Frauenstimmrecht, die von allen drei Fragen aber wohl am meisten polarisierte. Die Sozialdemokratie Allein die SPD verknüpfte frühzeitig und offensiv die Wahlrechtsfragen mit der Forderung nach der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für Männer und Frauen und öffnete sich – wenn auch nicht immer unter heller Begeisterung der männlichen Genossen – für die aktive und gleichberechtigte Mitgliedschaft von Frauen in der Partei. Seit dem Erfurter Programm 1891 forderte sie die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung für Frauen, eine Position, die Interner Link: Clara Zetkin in die Debatte eingebracht und durchgesetzt hatte. Ein prominenter Fürsprecher im Reichstag wurde August Bebel, der schon 1879 mit "Die Frau und der Sozialismus" den Best- und Longseller der sozialistischen Frauenbewegung veröffentlicht hatte. Im Jahr 1908 hatte die Partei 30.000 weibliche Parteimitglieder, deren Zahl bis zum Ersten Weltkrieg auf über 175.000 anstieg. Kaum war die Mitgliedschaft von Frauen in politischen Parteien erlaubt (1908), wählte der Nürnberger Parteitag der SPD 1908 mit Luise Zietz auch schon die erste Frau in den Parteivorstand einer deutschen Partei. Allerdings: So vehement die SPD im Vergleich zu allen anderen Parteien für das Frauenwahlrecht eintrat, so 'sekundär' blieb die Forderung im eigenen Ideenhaushalt. Denn die Frauenfrage blieb unter den Vorzeichen marxistischer Gesellschaftsanalyse ein 'Nebenwiderspruch', der sich mit der Lösung des 'Hauptwiderspruchs' der Klassengegensätze in der sozialistischen Gesellschaft ohnehin erübrigen würde. Das Frauenwahlrecht war im besten Fall ein Schritt auf dem Weg dahin, aber auch verzichtbar, wenn das Ziel anders erreicht werden könnte. Dabei wurde die Forderung nach dem Frauenstimmrecht auch in die Austragung des sogenannten Interner Link: Revisionismusstreits hineingezogen. Dieser drehte sich um die Frage, ob die SPD auf einen reformorientierten Kurs innerhalb des bestehenden Systems einschwenken oder an der klassischen marxistischen Revolutionstheorie festhalten sollte. Vertreter/innen des ersten Lagers, wie etwa Wally Zepler, waren zur Zusammenarbeit mit progressiven Bürgerlichen bereit und das ausdrücklich auch in der Wahlrechtsfrage. So waren hier Kompromisse denkbar, erste Schritte und gegebenenfalls auch die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts in Preußen als Auftakt zu einer kontinuierlichen Demokratisierung des Wahlrechts, der das Frauenwahlrecht schon noch folgen würde. Anders das marxistische Lager, für das Clara Zetkin steht: Dort versuchte man mit Maximalforderungen die Brücken ins bürgerliche Lager abzubrechen und lehnte jede kleinere Verbesserung, die nicht das Ziel des allgemeinen und gleichen Wahlrechts auf allen Ebenen umfasste, als 'Kompromisselei' ab. Daher war die Forderung für die SPD lange Zeit beides: ernst gemeintes Bemühen um Demokratisierung und Emanzipation und gegen das traditionelle System gerichtete Provokation. Die Linksliberalen Der potenzielle Kooperationspartner der reformorientierten Sozialisten befand sich im liberalen Lager, genauer gesagt im linksliberalen, das der bürgerlichen Frauenbewegung am nächsten stand. Bis zur Vereinigung zur Fortschrittlichen Volkspartei im Jahr 1910 existierten hier drei kleinere Parteien, aber keine von ihnen ging mit Enthusiasmus auf die Forderungen ihrer Gesinnungsschwestern ein oder öffnete ihre Reihen weit für weibliche Mitglieder. 1907 verabschiedete die Freisinnige Vereinigung nach einem Referat von Else Lüders zwar eine Resolution, in der sie die "grundsätzliche Anerkennung der politischen Gleichberechtigung der Frauen insbesondere in bezug auf das aktive und passive Wahlrecht in Reich, Staat und Gemeinde" forderte. Bis zum Krieg stellte jedoch keine der liberalen Parteien die Forderung explizit in ihrem Programm auf. Auch die Fortschrittliche Volkspartei (FVp) lavierte in der Frage, forderte entweder nur minimale Verbesserungen (Wahlrecht für Kaufmanns- und Gewerbegerichte oder die 'Heranziehung der Frauen zur Kommunalverwaltung') oder bezog nur in unverbindlichen Deklarationen und in wachsweichem Ton Stellung für die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung. Nur die 'Demokratische Vereinigung', die sich 1908 von der 'Freisinnigen Vereinigung' abgespalten hatte, trat aktiv für das Frauenwahlrecht ein, war aber eine Splittergruppe ohne parlamentarischen Einfluss. Allerdings hatte sie mit Theodor Barth, Rudolf Breitscheid und Hellmut von Gerlach einflussreiche Mitglieder und Befürworter des Frauenwahlrechts und mit Minna Cauer auch eine bedeutende Aktivistin der radikal-demokratischen Frauenrechtsbewegung in ihren Reihen. Nationalliberale, Konservative, Zentrum Das nationalliberale Lager stand weltanschaulich, in allen Wahlrechtsfragen und damit auch in seiner Positionierung zum Frauenwahlrecht viel näher an den Konservativen als an den Linksliberalen. Schon das allgemeine Männerwahlrecht zum Reichstag war ihnen lange Zeit ein Dorn im Auge. Sie bekannten sich erst 1907 dazu, ohne aber seine Ausdehnung auf die Landesebene zu fordern oder gar das Frauenwahlrecht in Erwägung zu ziehen. Viel zu sehr war man hier den klassischen Rollenbildern verhaftet, die das Öffentliche und die Politik als die Domäne der Männer betrachteten, und die häusliche Arbeit als 'natürliche' Aufgabe der Frauen ansahen. Für die konservativen, stärker von der Ideenwelt des Adels geprägten Akteure hatte diese Frage noch größere symbolische Bedeutung. Denn für sie war die Forderung nach dem Frauenwahlrecht ein klares Signum dafür, dass 'ihre' Welt einer göttlich-natürlichen Ordnung und des monarchischen Prinzips im Modernisierungsprozess ins Rutschen geraten war. Dem hielten sie ein Bild der deutschen und christlichen Frau entgegen, die sich bereitwillig und würdevoll in eine 'Ordnung der Ungleichheit' (Stefan Breuer) einfügt und natürlich auf das gleiche Stimmrecht verzichtet. Die Konservativen lehnten das allgemeine und gleiche Wahlrecht insgesamt ab, und damit natürlich auch das der Frauen. Nicht ganz so scharfe, im Grunde aber ähnliche Rollenbilder vertrat man im katholischen Milieu und damit in der Zentrumspartei. Dort fehlte allerdings die nationalistische Aufladung und es herrschte eine größere Offenheit für die karitativen Leistungen der Frauen, die in das öffentliche Leben ausstrahlten und zumindest indirekt eine politische Dimension hatten. Das ging aber keinesfalls soweit, dass sich die Zentrumspartei als ganze vor dem Ersten Weltkrieg für ein gleiches Wahlrecht ausgesprochen hätte. Individuelle Ausnahmen gab es allenfalls in ihrem demokratischen Flügel. Alle drei Parteien öffneten ihre Reihen nach 1908 wenn überhaupt nur äußerst zögerlich für Frauen und immer nur mit beschränkten Befugnissen. Gegenentwürfe Allerdings konnten die Gegner des Frauenwahlrechts in Nationalliberaler Partei, Deutschkonservativer Partei und dem Zentrum vor den gesellschaftlichen Realitäten in der 'Frauenfrage' nicht die Augen verschließen. Sie waren als reine Männerparteien jeweils mit Vereinen der Frauenbewegung 'konfrontiert', die diese Probleme durchaus aus ihrer weltanschaulichen Perspektive aufgriffen. Bei den Konservativen war das etwa der 'Deutsche Evangelische Frauenbund' oder ab 1913 auch die 'Vereinigung konservativer Frauen'. Das Thema war also da und konnte nicht gänzlich ignoriert werden. Neben der kategorischen Ablehnung gab es daher auch Ansätze des Entgegenkommens, die aber in aller Regel Alternativen zur Gleichberechtigung darstellten und dem 'Faktum der natürlichen Ungleichheit' zwischen Mann und Frau, aber auch zwischen den Klassen Rechnung tragen sollten. Ständische Repräsentationsmodelle, ein "Gutachterinnenmodell", wie Kirsten Heinsohn es nennt, bei dem sich verdiente Frauen beratend in den Politikprozess einbringen könnten, oder ein doppeltes Stimmrecht für verheiratete Männer, die dann auch im Namen ihrer Ehefrau votieren dürften, waren Alternativvorschläge aus dieser Richtung. Auch auf kommunaler Ebene konnte man sich eine Mitwirkung der Frauen in karitativen Politikbereichen vorstellen, ohne sie deshalb aber gleich zu Vollbürgern machen und ihnen einen Zugriff auf die 'echten' Politikbereiche gewähren zu müssen. Eine weitere mögliche Position, die vor allem von gemäßigten Liberalen eingenommen wurde, bestand darin, die Gleichstellung der Frau im bestehenden Wahlsystem in Erwägung zu ziehen, was aus deren Perspektive immerhin das ungleiche, teils ständische, teils nach Klassen strukturierte Wahlrecht in den Einzelstaaten und auf kommunaler Ebene bewahrt hätte. Von den Sozialistinnen wurde dies als 'Damenwahlrecht' verspottet. Dass diese Vorschläge nicht geeignet waren, der Forderung nach voller staatsbürgerlicher Gleichberechtigung den Wind aus den Segeln zu nehmen, verwundert kaum. Man darf darüber aber nicht vergessen, dass vor allem die Konservativen und Nationalliberalen die Funktions- und Deutungseliten des Kaiserreichs ausmachten, an den Schaltstellen der Macht saßen und so jede Reform faktisch blockieren konnten. Zudem hatten sie gerade in Preußen mit dem Haus Hohenzollern einen Vetospieler des politischen Systems auf ihrer Seite, der bis 1918 jede Demokratisierung des Wahlrechts erfolgreich blockiert hatte und sicher nicht damit anfangen würde, es den Frauen zuzugestehen. Ähnliches gilt für andere Fürstenhäuser. Wie sehr dieses Lager gesellschaftlich, politisch und ideell in die Defensive geraten war, zeigte erst der Kollaps des Kaiserreichs im Herbst 1918, die revolutionäre und umfassende Einführung des Frauenwahlrechts durch den Rat der Volksbeauftragten am 12. November und die unverzügliche Bereitschaft aller ehemaligen Gegner, es als politische Gegebenheit anzuerkennen und als politisches Instrument zu nutzen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2021-12-04T00:00:00
2018-10-19T00:00:00
2021-12-04T00:00:00
https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/frauenwahlrecht/278831/die-parteien-und-das-frauenwahlrecht-im-kaiserreich/
Seit 1908 durften Frauen in Deutschland Mitglieder in einer politischen Partei werden. Spätestens ab diesem Zeitpunkt mussten sich die politischen Richtungen mit Frauen als Politikerinnen und zum Frauenwahlrecht auseinandersetzen.
[ "Frauenwahlrecht", "Frauenstimmrecht", "Parteien", "Deutsches Kaiserreich", "Sozialdemokraten", "Konservative", "Parteienlandschaft", "Zentrumspartei" ]
30,596
Thomas Heise über "Stau – Jetzt geht's los" (1992) | DEFA & Dokumentarfilm im Zeichen der Wende | bpb.de
Thomas Heise wird 1955 in Ost-Berlin geboren. Nach einer Druckerlehre und Regieassistenzen im DEFA-Studio für Spielfilme studiert er an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg. Seit 1982 arbeitet er freiberuflich als Autor und Regisseur für Film, Fernsehen und Theater und ist mittlerweile Professor für Film an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Einen Namen hat sich Heise unter anderem mit seiner Externer Link: "Neustadt-Trilogie" gemacht, zu der auch der Dokumentarfilm Interner Link: Stau – Jetzt geht's los gehört. Das Interview mit Thomas Heise führte Raphael Jung. Es erschien erstmals am 2.1.2019 auf Externer Link: kinofenster.de, dem Onlineportal für Filmbildung der Bundeszentrale für politische Bildung.
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-13T00:00:00
2019-10-24T00:00:00
2022-01-13T00:00:00
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/299362/thomas-heise-ueber-stau-jetzt-geht-s-los-1992/
Der Regisseur Thomas Heise erzählt, wie er Kontakt zu den rechtsextremen Protagonisten seines Films knüpfte und was das Ende der DDR für die damaligen Jugendlichen und deren Eltern bedeutete.
[ "Thomas Heise", "Halle", "Film", "Wende", "Deutsche Einheit", "Ostdeutschland" ]
30,597
Energieimport der EU-28 | Europa | bpb.de
Während die Erzeugung von Energie in der Europäischen Union seit Jahren rückläufig ist, haben sich die Energieimporte insgesamt erhöht. Inzwischen deckt die EU mehr als die Hälfte ihres Energiebedarfs durch Energielieferungen aus Nicht-EU-Staaten ab (2016: 53,6 Prozent). Von den gesamten Energieimporten der EU-28 entfielen 63,5 Prozent auf Rohöl und Mineralölerzeugnisse, 24,1 Prozent auf Gas und 9,1 Prozent auf feste Brennstoffe (insbesondere Kohle). Der mit Abstand wichtigste Zulieferer von Rohöl und Mineralölerzeugnissen ist Russland (2016: 34,6 Prozent). An zweiter Stelle steht Norwegen (2016: 10,8 Prozent). Bei den Gasimporten ist die Abhängigkeit noch ausgeprägter: Fast zwei Drittel der gesamten Importe der EU-28 stammten 2016 aus nur zwei Staaten: Russland und Norwegen (39,9 bzw. 24,8 Prozent). Und auch bei den festen Brennstoffen ist Russland der wichtigste Zulieferer (2016: 30,2 Prozent). Fakten Seit Jahren ist die Erzeugung von Energie in der Europäischen Union (EU) rückläufig. Im Jahr 1996 lag die Primärenergieerzeugung der EU noch bei 988 Millionen Tonnen Rohöleinheiten (t ROE), 2016 waren es nur noch 755 Millionen Tonnen – das entspricht einem Rückgang von fast einem Viertel (minus 23,6 Prozent). Gleichzeitig haben sich die Energieimporte insgesamt erhöht. Inzwischen deckt die EU mehr als die Hälfte ihres Energiebedarfs durch Energielieferungen aus Nicht-EU-Staaten ab. Die Energieabhängigkeitsquote – also der Anteil der Nettoenergieeinfuhren am Bruttoinlandsverbrauch an Energie – liegt seit 2004 bei mehr als 50 Prozent (2016: 53,6 Prozent). Im Jahr 2016 importierte die EU 1.483 Millionen Tonnen Rohöleinheiten (Öläquivalent) aus Drittstaaten. Von den Gesamtimporten entfielen 63,5 Prozent auf Rohöl und Mineralölerzeugnisse, 24,1 Prozent auf Gas und 9,1 Prozent auf feste Brennstoffe (darunter insbesondere Kohle). Rohöl und Mineralölerzeugnisse haben nicht nur den höchsten Anteil am Energieverbrauch der EU-28, auch die Abhängigkeit von Nicht-EU-Staaten ist größer als bei anderen Energieträgern – 2016 lag die Energieabhängigkeitsquote bei 86,7 Prozent. Beim Gas betrug sie im selben Jahr 70,4 Prozent und bei festen Brennstoffen lag die Quote bei 40,2 Prozent. Der EU-Import von Rohöl und Mineralölerzeugnissen lag im Jahr 2016 bei 941,6 Millionen Tonnen Rohöleinheiten (Öläquivalent). Der mit Abstand wichtigste Zulieferer war dabei Russland – gut ein Drittel der Extra-EU-Importe stammte von dort (34,6 Prozent). An zweiter und dritter Stelle standen Norwegen und Saudi-Arabien mit 10,8 bzw. 7,5 Prozent, gefolgt vom Irak und Kasachstan (6,2 bzw. 5,3 Prozent). Die 5 wichtigsten Zulieferer deckten 2016 knapp zwei Drittel des gesamten EU-28-Imports ab (64,3 Prozent). Werden noch die Importe von Rohöl und Mineralölerzeugnissen aus den USA, Nigeria, Aserbaidschan und Algerien hinzugerechnet, steigt der Anteil auf 79,9 Prozent. In den 10 Jahren von 2007 bis 2016 lag der Anteil Russlands an den Importen von Rohöl und Mineralölerzeugnissen der EU durchgehend bei rund einem Drittel. Ebenso war Norwegen durchgehend der zweitwichtigste Lieferant für die EU. Fast zwei Drittel gesamten Gasimporte der EU-28 in Höhe von 357,1 Millionen Tonnen Rohöleinheiten (Öläquivalent) stammten 2016 aus nur zwei Staaten: Russland und Norwegen (39,9 bzw. 24,8 Prozent). Darauf folgten Algerien (12,4 Prozent), Katar (5,6 Prozent) und Nigeria (2,0 Prozent). Die Top-5-Gas-Lieferanten hatten also einen Anteil von 84,7 Prozent an den gesamten Extra-EU-Gasimporten. Wie beim Rohöl und beim Gas ist Russland auch bei den festen Brennstoffen (insbesondere Kohle) der wichtigste Zulieferer. Von den Extra-EU-Importen im Jahr 2016 – insgesamt 134,9 Millionen Tonnen Rohöleinheiten (Öläquivalent) – stammten 30,2 Prozent aus Russland. Knapp ein Viertel wurde aus Kolumbien importiert (23,4 Prozent). Auf Platz drei und vier standen Australien und die USA mit Anteilen von 14,6 bzw. 14,1 Prozent an. Zusammen mit Südafrika (5,1 Prozent) entfielen auf die Top 5 der Zulieferer im Bereich feste Brennstoffe 87,4 Prozent der EU-Importe des Jahres 2016. Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen Weitere Informationen zu den Energieabhängigkeitsquoten der EU und ihrer Mitgliedstaaten erhalten Sie Interner Link: hier... Informationen zu den Haupthandelsströmen – Erdöl und Erdgas (Europa und Welt) erhalten Sie Interner Link: hier... Als Primärenergieerzeugung wird jede Gewinnung von Energie in nutzbarer Form aus natürlichen Quellen bezeichnet, also die Ausbeutung natürlicher Quellen wie Kohleminen, Rohölfelder und Wasserkraftanlagen bzw. die Erzeugung von Biokraftstoffen. Die Umwandlung der Energie von einer Form in eine andere, z. B. die Strom- bzw. Wärmeerzeugung in Wärmekraftwerken (durch Verbrennung von primären Energiequellen) oder die Koksproduktion in Koksöfen, ist keine Primärerzeugung. Die Energieabhängigkeitsquote gibt den Anteil der Energie an, den eine Volkswirtschaft einführen muss. Die Energieabhängigkeitsquote entspricht den Nettoenergieeinfuhren (Gesamteinfuhren minus Gesamtausfuhren) dividiert durch den Bruttoinlandsenergieverbrauch zuzüglich der Energie für den grenzüberschreitenden Seeverkehr (Bunker), ausgedrückt in Prozent. Eine negative Abhängigkeitsquote bedeutet, dass das Land Nettoexporteur von Energie ist; Werte von über 100 Prozent ergeben sich, wenn Energieerzeugnisse bevorratet werden. Der Bruttoinlandsverbrauch an Energie (verkürzt: Bruttoinlandsverbrauch) ist der gesamte Energiebedarf eines Landes oder einer Region. Der Wert entspricht der Menge an Energie, die notwendig ist, um den Inlandsverbrauch der betrachteten geografischen Einheit zu decken. Quellen / Literatur Eurostat: Online-Datenbank: Imports - oil - annual data (04/2019), Energieerzeugung und -einfuhren: Tabellen und Abbildungen (06/2018) Eurostat: Online-Datenbank: Imports - oil - annual data (04/2019), Energieerzeugung und -einfuhren: Tabellen und Abbildungen (06/2018)
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Bundeszentrale für politische Bildung
2022-01-13T00:00:00
2012-05-12T00:00:00
2022-01-13T00:00:00
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/europa/135830/energieimport-der-eu-28/
Die EU deckt mehr als die Hälfte ihres Energiebedarfs durch Energielieferungen aus Nicht-EU-Staaten ab. Bei Öl, beim Gas und bei festen Brennstoffen (wie Kohle) ist Russland der wichtigste Zulieferer.
[ "Energieimporte der EU-28", "Energieabhängigkeit", "Energieimport", "Russland", "Norwegen", "Energie", "Zahlen und Fakten", "Europa", "EU", "EU-28", "EU-27" ]
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Regulierungsansätze in der Datenökonomie | Datenökonomie | bpb.de
Gemessen an ihrem Marktwert, stehen die fünf "Internetriesen" Microsoft, Apple, Alphabet (Google), Amazon und Facebook inzwischen unangefochten an der Spitze der weltweit wertvollsten Unternehmen. Google und Facebook sowie viele andere digitale Plattformen bieten ihre Dienste kostenfrei an; ihre Einnahmen generieren sie überwiegend aus dem Verkauf von Werbeanzeigen, die durch die Analyse der Nutzungsdaten und durch die Erstellung von digitalen Profilen zielgruppengerecht dargeboten werden. Fragen der Sammlung, Aggregation, des Zugangs und des Ausschlusses von Daten sind inzwischen stark mit Machtfragen verknüpft, die über bloße Marktmarkt hinausreichen. Die neuen Machtasymmetrien der Datenökonomie rufen daher auch in der Politik Besorgnis hervor. So sagte etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel im Januar 2018 beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos: "Daten sind der Rohstoff des 21. Jahrhunderts. Die Antwort auf die Frage ‚Wem gehören diese Daten?‘ wird letztendlich darüber entscheiden, ob Demokratie, Partizipation, Souveränität im Digitalen und wirtschaftlicher Erfolg zusammengehen. (…) Wir brauchen eine Soziale Marktwirtschaft 4.0, nicht nur eine Industrie 4.0." Daten als solche sind, jedenfalls in Europa, nicht eigentumsfähig.Sie können aber als Geschäftsgeheimnisse oder urheberrechtlich geschützt werden. Die Rechtsfigur eines Dateneigentums widerspricht dem traditionellen deutschen Zivilrecht, das (sachenrechtliches) Eigentum nur körperlichen, materiellen Gütern zuerkennt. Daten dagegen sind immaterielle Güter, sie gleichen einem öffentlichen Gut, zumindest im Hinblick auf den Aspekt der nicht rivalisierenden Nutzung: Sie können in der Regel nahezu unendlich oft von vielen Akteuren gleichzeitig genutzt werden, ohne dass sie sich aufbrauchen; sie unterliegen weder einer Verknappung noch einer Abnutzung. Deshalb kann eine "Übernutzung" wie bei klassischen Allmendegütern (etwa einer gemeinschaftlich genutzten Weide) bei Daten nicht geschehen. Bei der Diskussion um Dateneigentum oder data ownership geht es daher vor allem um Zugangs- und Verfügungsrechte über Daten. Im Folgenden werde ich vier Regulierungsformen untersuchen, die Daten als privates Gut, als öffentliches Gut, als Allmendegut und mittels einer Treuhandschaft verwaltet und bewirtschaftet sehen wollen. Dabei werde ich jeweils der Frage nachgehen, wie die informationelle Selbstbestimmung der Datengebenden gewahrt und ob ein Brückenschlag zwischen regulierter kommerzieller Nutzung und der Nutzbarmachung für das Gemeinwohl ermöglicht werden kann. Daten als privates Gut Idee und Ansatz Der Informatiker und Internetpionier Jaron Lanier schlägt eine "humanistische Informationsökonomie" vor, die darauf beruht, die menschliche Herkunft personenbezogener Daten nicht als weniger wertvoll als ihre algorithmische Analyse und Weiterverwertung zu erachten. Da jede Art von automatisierter Datenanalyse auf zuvor von Menschen erzeugten Daten angewiesen sei, liege genau darin die eigentliche Wertquelle der digitalen Welt. Online-Übersetzungsdienste beispielsweise basierten auf zuvor von Menschen geleisteten Übersetzungen für das maschinelle Lernen. Diese Arbeit tauche jedoch in keiner Unternehmensbilanz auf und würde auch aus der ökonomischen Gesamtrechnung ausgeschlossen. Diese "Entrechtung" und Entwertung sei nur zu stoppen, wenn die Menschen nicht länger nur als Konsumenten wahrgenommen, sondern zu Akteuren der Datenökonomie, also zu "Prosumenten" (Hybridform zwischen Produzenten und Konsumenten) würden, so Lanier. Der Faktor Mensch als Urheber von Daten müsse explizit in die ökonomische Wertschöpfungskette aufgenommen und entlohnt werden. Es dürfe nicht sein, dass eine riesige Anzahl von Menschen über soziale Netzwerke und Suchmaschinen eine enorme Menge wertvoller Informationen produziere, der Löwenanteil des Wertes aber an die Unternehmen gehe, die die Daten sammeln, aggregieren und weiterverarbeiten. Lanier plädiert daher für ein Mikrozahlungssystem: Jeder aktiv oder passiv generierte Beitrag in einer digitalen Datenbank oder einem Netzwerk soll in Form eines Kleinstbetrages entlohnt werden. Über die Speicherung der Datenherkunft, die Verknüpfung der Daten mit ihrer Urheberin oder ihrem Urheber, solle jeder Zugriff und jede Nutzung der Daten registriert und ein entsprechender Betrag vom Datennutzenden automatisch auf ein digitales Konto des Datengebenden transferiert werden. Die Entscheidung, welche Daten man zu welchem Preis am Markt anbiete, solle jede und jeder für sich selbst festlegen. Der Markt regele Angebot und Nachfrage. Die Überwachung der Regeleinhaltung und die Sanktionierung etwaiger Verstöße könne der Staat übernehmen. Zugleich fordert Lanier eine Abkehr von der Umsonstmentalität. Die Zeit, in der gefordert wurde, im Internet müsse jegliche Information frei verfügbar sein, sei Geschichte. Die Etablierung eines Marktes für Daten beziehungsweise einer solchen "Pay-per-View-Wirtschaft" bedeutet, dass Lanier Daten letztlich als privates Gut konzipiert. Das erklärte Ziel ist dabei die Festschreibung eines Hoheitsrechts jeder Person über ihre persönlichen Daten. Er verspricht sich davon mehr Selbstbestimmung und ein Empowerment der Datengebenden sowie einen Abbau von Machtasymmetrien. Würdigung und Kritik Lanier sieht im Markt nach wie vor die zentrale Koordinationsinstanz, fordert innerhalb dieses Systems aber eine Beteiligung der Datenurheberinnen und -urheber. Ihren Beitrag möchte er allerdings nicht nur ideell wertgeschätzt, sondern auch materiell in die Wertschöpfungskette aufgenommen sehen. Er konzipiert somit eine Art Angebot- und Nachfragemodell für persönliche Daten und suggeriert, die individuellen Nutzerinnen und Nutzer könnten dadurch Marktmacht erlangen. Insgesamt bleibt Lanier allerdings im Ungefähren. Sollte es jeweils Einzelentscheidungen zur Datenfreigabe geben, erscheint dies nicht zu Ende gedacht. Eine ständige Fall-zu-Fall-Entscheidung über die Datenfreigabe würde rasch zu Überforderung führen: Beim Aufruf einer einzigen Website werden heute unter anderem durch Cookies 50 bis 100 Verbindungen zu Internetdomains von Dritten hergestellt. Laniers Prosument müsste mit jedem dieser Datenverwerter in Preisverhandlungen treten. Und selbst wenn man die Aushandlung durch ein Daten-Clearinghouse automatisieren würde, indem man seine Präferenzen angibt, mit wem man zu welchem Preis Daten gegen Geld zu teilen bereit wäre, würden dadurch hohe Transaktionskosten entstehen. Zudem ist zweifelhaft, ob die Nutzerinnen und Nutzer tatsächlich bargaining power erhalten würden, denn die Asymmetrie der Marktmacht bleibt bestehen – die Verhandlungsmacht der Plattform wäre noch immer wesentlich größer. Lanier berücksichtigt zudem zu wenig, dass die Wertschöpfung der Daten im Aggregieren und Auswerten der Daten liegt, nicht aber in einem individuellen, einzelnen Datum. Auch in sozialpolitischer Hinsicht ist sein Modell zweifelhaft: Mikrozahlungen könnten gerade finanzschwache Nutzerinnen und Nutzer dazu verleiten, einer unethischen Datennutzung durch Dritte zuzustimmen oder große Anteile ihres täglichen Lebens tracken zu lassen. Datenschutz sollte aber nicht von finanziellen Möglichkeiten abhängen. Überdies werden viele Datengebende den Wert ihrer Daten möglicherweise überschätzen – und die Konsequenzen, die eine Datenfreigabe für sie hat, eher unterschätzen. Berechnungen zufolge würden nur Bruchteile von Centbeträgen für die Preisgabe einzelner Daten fällig. Selbst wenn man den (Werbeeinnahmen-)Umsatz der Unternehmen auf alle Nutzerinnen und Nutzer umlegte, ergäben sich etwa bei Facebook nur acht Euro pro Jahr, bei Google etwa 150 Euro – abzüglich der Unterhaltskosten für die Plattform. Es stellen sich weitere offene Fragen zur Operabilität. Dass mit der Abrechnungsinfrastruktur für die Mikrozahlungen ein gigantisches Überwachungsnetzwerk orwellschen Ausmaßes aufgebaut würde, negiert Lanier. Zuletzt stellt sich die Frage, wie er die Aufsichts-, Kontroll- und Sanktionskompetenz, die er dem Staat zuspricht, umgesetzt sehen wollte. Denn sein Modell ist rein zivilrechtlich zwischen Datenverkäufer und Datenkäufer angelegt. Offensichtlich hat Lanier nur demokratische Staaten im Sinn, nicht aber autoritäre oder korrupte, die aus dem Datenmarkt Renten abschöpfen oder ihn zu Hyperüberwachung und Repression nutzen könnten. Auch wenn positiv hervorzuheben ist, dass Lanier den Beitrag der Datenurheber explizit anerkennt, erweist sich sein Datenmarktmodell insgesamt als unzulänglich, würde es doch eine ganze Reihe nicht intendierter Folgeprobleme aufwerfen. Daten als öffentliches Gut Idee und Ansatz Das Gegenmodell zu dem von Lanier propagierten Datenmarkt bildet der Ansatz des Publizisten Evgeny Morozov, der Daten als öffentliches Gut konzipiert sehen will. Datengetriebene Technologie berge sowohl Gefahren als auch Potenziale für die Gesellschaft. Menschliches Verhalten in Echtzeit zu erfassen und Profile zu speichern, könne richtig eingesetzt zu effizienterem Ressourceneinsatz, Nachhaltigkeit und entsprechenden Innovationen beitragen. Morozovs Anliegen ist daher keine Technologiekritik, sondern eine politökonomische Kritik des "datenorientierten Kapitalismus", der auf "Datenextraktivismus" basiere. Morozov plädiert daher dafür, die bislang von Unternehmen gesammelten Daten zu vergesellschaften und als Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge zu verstehen: Die Daten müssten von der marktwirtschaftlichen Dynamik abgekoppelt, die gewerbliche Datensammlung eingedämmt werden. Staatlich reguliert könnten Teile der in den digitalen Profilen gespeicherten Daten in anonymisierter Form von öffentlichen Stellen (Städten, Gemeinden, städtischen Versorgungsunternehmen) genutzt werden, um Dienstleistungsangebote wie etwa die Taktung des öffentlichen Nahverkehrs effektiver an den Bedarf der Bevölkerung anzupassen. Auch andere Dienstleistungen in Verkehr, Bildung, Energieversorgung und Gesundheit könnten auf diese Weise effizienter, innovativer und nützlicher gestaltet werden. Private Unternehmen könnten weiterhin personalisierte Dienstleistungen anbieten, sofern sie für die Datennutzung bezahlten. Die dafür notwendigen Datenbanken könnten auf kommunaler, nationaler oder sogar übernationaler Ebene angesiedelt sein: "All of the nation’s data, for example, could accrue to a national data fund, co-owned by all citizens (or, in the case of a pan-European fund, by Europeans). Whoever wants to build new services on top of that data would need to do so in a competitive, heavily regulated environment while paying a corresponding share of their profits for using it." Der breitere Zugang zu personenbezogenen, aber anonymisierten Daten könne auch das gegenwärtige Problem der Monopolstellung einiger weniger großer Unternehmen lösen, denn innovative Start-ups könnten durch Zugang zu den Daten konkurrenzfähige Alternativen aufbauen. Morozovs Vision ist also eine öffentliche, gemeinwohlorientierte Nutzung von Daten mithilfe staatlicher Regularien zur Koordination des Datenzugriffs und zum Schutz vor Missbrauch. Finanziert werden solle ein solches System zudem durch Steuern beziehungsweise eine Pflichtabgabe aller Bürgerinnen und Bürger. Werbung und die kommerzielle Datensammlung solle jedenfalls nicht länger das indirekte Zahlungsmittel für die Nutzung solcher Dienste sein. Würdigung und Kritik Bei Morozovs Modell von Daten als öffentlichem Gut handelt es sich letztlich um eine Verstaatlichung von Daten. Unklar bleibt, ob er diese Vergesellschaftung auf kommunaler, regionaler, nationaler oder gar supranationaler Ebene angesiedelt sehen will – oder eventuell sektoral organisiert, etwa für Energie- oder Verkehrsdaten. Positiv wäre sicherlich, dass kleinen und mittleren Unternehmen dadurch gleiche Zugangschancen eröffnet würden. Eine zentralisierte öffentliche Datenverwaltung kann zudem sozialverträgliche und nachhaltig orientierte Forschung und Innovation erleichtern. Wie aber wäre mit Mehrfachnutzungen von Daten umzugehen? Denn aus jeder Datenanalytik erwächst gewissermaßen eine neue "Datenschicht" – soll diese ebenfalls in den staatlichen Datenpool eingebracht oder darf diese privatwirtschaftlich genutzt werden? Morozovs Vorschlag impliziert unausgesprochen ein Zentralisierungsmodell, das real durch eine zentrale Datenbank oder virtuell durch Verknüpfung verschiedener dezentraler Datenbanken ausgestaltet werden kann. In beiden Fällen stellt sich die Frage, ob die Bürgerinnen und Bürger der Datenerfassung überhaupt noch zustimmen dürften. Wie wäre es mit der Freiwilligkeit und der Wahrung informationeller Selbstbestimmung bestellt? Ist jeweils eine Zweckbindung gegeben, oder sollten Bürgerinnen und Bürger breit einwilligen, ohne über die vielfältigen Nutzungszwecke aufgeklärt zu werden? Dies wäre ein erheblicher Rückschritt im Datenschutz. Letztlich wäre damit eine Bringschuld der Bürgerinnen und Bürger sowie eine Sozialpflichtigkeit ihrer Daten festgeschrieben. Gewisse Abhilfe könnte durch eine Pseudonymisierung und Verschlüsselung der Daten geschaffen werden. Doch sollte die staatliche Datensammlung wirklich auf Online-Dienstleistungen ausgeweitet werden? Zudem besteht die Gefahr des Missbrauchs durch staatliche Überwachung und Repression bis hin zum völligen Verlust der Privatsphäre. Schließlich stellt sich auch hier die Frage der Regulation: Durch welchen Staat oder staatliche Agentur sollte diese erfolgen? Kann der Nationalstaat hier überhaupt noch agieren, wenn es um transnationale Datenflüsse geht? Und wer entscheidet über die Datenfreigabe für wen, nach welchen demokratisch festgelegten und gegebenenfalls gerichtlich anfechtbaren Kriterien? Welche Sanktionsmöglichkeiten sollte es bei Missbrauch geben? Und soll die Verstaatlichung der Daten erst ab einem bestimmten Zeitpunkt erfolgen oder rückwirkend? Wird damit in Eigentumsbestände von Unternehmen eingegriffen, und wieweit ist dies verfassungsrechtlich zulässig? Auf alle diese Fragen gibt Morozov in seinen Schriften keine Auskunft. Daten als Allmende Idee und Ansatz Das dritte hier vorgestellte Modell, wie Daten alternativ bewirtschaftet und genutzt werden könnten, ist an die Allmendekonzeption von Elinor Ostrom angelehnt. Die Politikwissenschaftlerin Ostrom, die für die Erforschung von Gemeingütern 2009 als bisher einzige Frau den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, geht es um eine Perspektive "jenseits von Staat und Markt". Sie untersuchte, wie sich natürliche Ressourcen wie Wälder und Weiden nachhaltig bewirtschaften und im Sinne des Gemeinwohls nutzen lassen. Dabei interessierte sie sich für Handlungsformen, wie sich Gruppen organisieren können, um langfristig gemeinsame Vorteile zu realisieren und negative Folgen individueller Nutzenmaximierung zu verhindern. Ostrom entdeckte solche Formen von Selbstorganisation, Entscheidungsfindung und Selbstverwaltung in gemeinschaftlich ausgehandelten Zugangs- und Nutzungsregeln, mittels derer sich Interessenkonflikte entschärfen lassen. Sie widersprach damit der gängigen Annahme, dass Allmendeprobleme nur durch eine Privatisierung von Ressourcen oder durch Kontrolle eines Zentralstaats gelöst werden könnten, und wies nach, dass sich gemeinschaftlich genutzte Güter durch von unten organisierte und institutionalisierte lokale Kooperation der Betroffenen in angemessener, fairer und nachhaltiger Form bereitstellen und aneignen lassen. Aus der Betrachtung von gelungenen und gescheiterten Lösungen leitete sie schließlich die folgenden acht "Design-Prinzipien" für eine erfolgreiche Allmendenführung ab. Abgrenzbarkeit: Es gibt eindeutige und akzeptierte Grenzen zwischen legitimen Nutzern und nicht Nutzungsberechtigten sowie zwischen einer bestimmten Gemeinressource und ihrer Umwelt. Kongruenz mit lokalen Bedingungen: Die Regeln für die Aneignung und Bereitstellung einer Ressource entsprechen den örtlichen und kulturellen Bedingungen. Die Verteilung der Kosten erfolgt proportional zur Verteilung des Nutzens. Gemeinschaftliche Entscheidungen: Die an der Allmendenutzung Beteiligten können die Nutzungsregeln mitgestalten. Monitoring: Es gibt ausreichend Kontrolle über die Nutzung und den Allgemeinzustand der Allmenderessource, um Regelverstößen vorbeugen zu können. Personen, die mit der Überwachung betraut sind, sind rechenschaftspflichtig. Abgestufte Sanktionen: Verhängte Sanktionen sollen in einem vernünftigen Verhältnis zum verursachten Problem stehen. Die Bestrafung von Regelverletzungen beginnt auf niedrigem Niveau und verschärft sich, wenn Nutzer eine Regel mehrfach verletzen. Konfliktlösungsmechanismen: Festgelegte lokale Arenen sollen helfen, Konflikte zwischen Nutzern sowie zwischen Nutzern und Behörden möglichst rasch, günstig und direkt beizulegen. Anerkennung von Rechten: Die Regierung räumt Nutzern ein Mindestmaß an Rechten ein, sich eigene Regeln zu setzen. Eingebettete und verschachtelte Institutionen: Ist eine Gemeinressource eng mit einem sie umgebenden, großen Ressourcensystem verbunden, werden die Governance-Strukturen auf mehreren, ineinandergreifenden Ebenen miteinander verschachtelt (polycentric governance). Ostrom beschäftigte sich zwar vor allem mit natürlichen, ökologischer Nachhaltigkeit bedürfenden Ressourcen beziehungsweise Allmendegütern. Gleichwohl können aber zumindest einige ihrer Prinzipien auch auf die Verwaltung und Bewirtschaftung von Daten angewandt werden. Als praktische Anschauungsbeispiele bestehender digitaler Allmenden dienen insbesondere Open-Source-Software, Creative-Commons-Lizenzen und digitale Commons wie etwa die Online-Enzyklopädie Wikipedia oder das Online-Kartendienst- und Navigationssystem Open Street Map. Würdigung und Kritik Im Gegensatz zum Marktmodell von Lanier und dem Staatsmodell von Morozov verortet das Modell der Allmende Daten als Gemeingut. Zentraler Akteur ist damit die Gemeinschaft. Damit wird ein Modell nahegelegt, wie es etwa durch Kooperativen und Genossenschaften bei materiellen Gütern bereits seit Langem etabliert ist. Positiv an diesem Modell erscheint zunächst die Transparenz über die Datennutzung und die potenzielle Beteiligung aller Datengebenden über die Festlegung von Regeln, mittels derer die Daten kollektiv bewirtschaftet werden. Die Daten – und die Erträge daraus – blieben zumindest anteilig an ihre Erzeuger beziehungsweise deren digitale Identitäten gekoppelt. Die Gemeinschaftsmitglieder könnten Ansprüche gegenüber den Datenverwertern kollektiv geltend machen, was ihnen größere Verhandlungsmacht sichern würde. Auch die Verwerter könnten gegebenenfalls Teil der Gemeinschaft sein – oder aber als externe Dienstleister für die Gemeinschaft auftreten. Da alle Kompetenzen von der Entscheidung über die Datenaufnahme bis zur Festlegung legitimer Verwendungszwecke idealtypischerweise in der Hand der Gemeinschaft liegen, wäre die Kontrolle der Datengebenden und ihre wirkungsvolle Selbst- und Mitbestimmung in der Datenökonomie gesichert. Fragen stellen sich allerdings dahingehend, inwieweit Ostroms Modell von natürlichen Ressourcen auf immaterielle, nicht rivalisierende Güter wie Daten übertragen werden kann. Schon das erste Designprinzip Ostroms, die Abgrenzbarkeit, ist bei Daten schwer zu realisieren. Wer gehört zur Gemeinschaft, wer darf ihr beitreten und wer nicht? Sind die Datengebenden auch Datennutzende oder gehören sie zu getrennten Kategorien? Wie soll das gemeinschaftliche Handeln zum gemeinwohlverträglichen und nachhaltigen Nutzen der Daten praktisch umgesetzt werden? Und welcher Staat autorisiert die Gemeinschaft? Die bereits bei Lanier und Morozov angesprochenen Probleme von Staatlichkeit und Territorialität bei transnationalen Datenflüssen gelten auch hier. Zudem sind bei großen Gemeinschaften ein Repräsentationsmodell und die Delegation von Entscheidungen nötig. Wie diese demokratisch ausgestaltet werden sollten, bleibt offen. Daten-Treuhandschaft Idee und Ansatz Das vierte Modell, das in der Datenökonomie Anwendung finden könnte, ist das einer Treuhandschaft. Ein Treuhandverhältnis liegt vor, wenn vertraglich oder kraft Gesetzes die Ausübung oder Verwaltung bestimmter Rechte (eines Treugutes) vom Treugeber "zu treuen Händen" an den Treunehmer (Treuhänder) übertragen wird. Hier lässt sich an Überlegungen des Wissenschaftsforschers David E. Winickoff anknüpfen, der in Bezug auf genomische Biobanken – bei denen sensible Datenschutzfragen mit der wissenschaftlichen Nutzung der Daten in Einklang zu bringen sind – ein Treuhandmodell entwickelt und hierfür als Rechtsform eine gemeinnützige Einrichtung (charitable trust) vorgeschlagen hat. Winickoff setzte sich intensiv mit der Frage auseinander, wie Verfügungsrechte an gespendeten Biomaterialien (wie Gewebe, Blut, DNA) und an dazugehörigen Daten (aus Patientenakten, Gen- und Analysedaten) geregelt werden sollten. Dabei ging es insbesondere um Zugangsfragen, ethische Aspekte der informierten Zustimmung zu Forschungen sowie um mögliche Gewinne und deren Verteilung. Er kam zu dem Schluss, dass durch den Aufbau einer treuhänderischen Einrichtung eine angemessene Regulierung von Biobanken erreicht werden könne, um den Schutz der Interessen der Daten- und Materialspender zu garantieren. Spender könnten ihre Verfügungsinteressen über das Biomaterial und die Daten an diese Einrichtung übertragen, die damit wiederum die treuhänderischen Pflichten zur Aufbewahrung und Nutzung übernehme. Gemeinnützigkeit weise dabei als Organisationsform eine Reihe von ethischen, rechtlichen und wissenschaftlichen Vorteilen auf und sichere Vertrauen und langfristige Beteiligung. Durch die beratende Beteiligung der Spendergruppe in Gremien und die Einrichtung einer Ethikkommission solle die Wahrung der Spenderinteressen zusätzlich gesichert werden. Das Treuhandmodell könne Altruismus, gute Governance und öffentlichen Nutzen für das Gemeinwohl miteinander vereinbaren und damit sowohl strikte Regeln zum Datenschutz implementieren wie auch den wissenschaftlichen Wert der Biobank sicherstellen. Dass das Modell einer Treuhandschaft auch auf die Verwaltung und Bewirtschaftung von Daten übertragbar ist, zeigen Zertifizierungsprozesse von deutschen Datenschutzbehörden zum Spenderschutz durch Datentreuhänderschaft: Demnach müsse der Treuhänder rechtlich und finanziell unabhängig sowie weisungsungebunden sein. Er müsse der Schweigepflicht und dem Forschungsgeheimnis unterliegen und dürfe keinesfalls von der wirtschaftlichen Wertschöpfungskette abhängig sein. Eine Datentreuhand könne nur dann unabhängig agieren, wenn sie ausschließlich gemeinwohlorientiert orientiert sei. Auch in einem Report des britischen Unterhauses wurde jüngst für die Errichtung von "Data Trusts" im Rahmen eines "Center for Data Ethics & Innovation" plädiert. Regierung und Industrie sollten ein Programm zur Entwicklung von Datentreuhändern aufbauen, durch die Dateninhaber und Datennutzer auf "faire, sichere und gerechte Weise" Daten austauschen könnten. Durch eine derartige Regulierung solle gewährleistet werden, dass die Stimmen der interessierten Parteien vertreten sind, und der Wert, der aus diesen Daten abgeleitet werden kann, gerecht aufgeteilt wird. Würdigung und Kritik Das Governance-Modell der gemeinnützigen Datentreuhandschaft basiert auf der Vorstellung einer unabhängigen dritten Instanz, die Hoheitsrechte über Daten ausübt, sowie von delegierter Kontrolle der Datengebenden, die gleichwohl mit Partizipationselementen ausgestattet sind. Positiv an der Übertragung von Vollmachten auf einen unabhängigen Treuhänder ist die Entlastung der Datengebenden, die aber durch ein Widerrufsrecht dennoch gewisse Kontrolle über ihre Daten behalten. In gewissem Umfang wäre somit eine Zweckbindung der Daten gesichert, und durch das Transparenzgebot über die Nutzung durch Dritte verbliebe den Datengebenden ein Entscheidungsspielraum darüber, welche Unternehmen zu welchen Zwecken auf welche persönlichen Daten zugreifen dürfen. Dies würde den Stellenwert des Datenschutzes deutlich erhöhen. Auch die Repräsentations- und Partizipationsmöglichkeiten der Datengebenden über Beiräte sind positiv zu vermerken. Allerdings bleibt wie bei den anderen Modellen offen, welche staatliche Stelle genau den Treuhänder autorisieren würde. Ebenso wäre zu definieren, auf welcher sektoralen oder verwaltungspolitischen Ebene die Treuhand angesiedelt werden soll. Schließlich bliebe zu klären, wie sich eine Beteiligung und Teilhabe der Datengebenden demokratisch und gegebenenfalls transnational realisieren ließe. Weitere wichtige Fragen münden schließlich in die alte Frage "Quis custodiet ipsos custodes?" – "Wer aber überwacht die Wächter?": Wie kann der Treuhänder effektiv kontrolliert und rechenschaftspflichtig werden, sodass dieser keine partikularen Eigeninteressen verfolgt, in Interessenkonflikte gerät und damit seine Vertrauenswürdigkeit gefährdet? Wie kann die Unabhängigkeit des Treuhänders gegenüber staatlichen oder ökonomischen Instanzen langfristig gesichert werden? Und wie kann die Gemeinwohlorientierung der Datennutzung gewährleistet werden? Fazit Die vier vorgestellten politökonomischen Regulierungsmodelle für die Datenökonomie liefern spannende konzeptionelle Ideen, bisher ist aber keines so ausgereift, dass es bereits unmittelbar anwendbare Lösungen bereitstellt. Als Alternativen zu den bisherigen Praktiken und Geschäftsmodellen der Plattformökonomien und deren inhärenten Machtasymmetrien sind sie allerdings durchaus bedenkenswert. Insgesamt sind die vier Governance-Modelle eher als Idealtypen oder regulative Ideen zu verstehen, nicht als "reine" Formen. In der Wirklichkeit sind Mischformen denkbar, sowohl als Hybridformen zwischen privaten und öffentlichen Gütern oder etwa zwischen Allmendegut und Treuhandschaft. Diese bedürfen weiterer Diskussion und Konkretisierung. Es sind klare und nachvollziehbare Regeln für die Sammlung, den Zugriff und die Verwendung von Daten nötig, dies erfordert aber kein Eigentumsrecht an Daten.Wichtig ist ein fairer Interessenausgleich zwischen Datengebenden und Datenverwertenden. Hierzu ist insbesondere die Vertretung der schwachen Interessen der individuellen Datengebenden, deren Organisierung und Repräsentation schwerlich umzusetzen ist, gegenüber machtstarken Verwertungsinteressen vonnöten. Solche Interessen könnten von Verbraucherschutzorganisationen und Datenschutzbehörden wahrgenommen werden, wenn sie mit entsprechenden Ressourcen und Mandaten ausgestattet würden. Auch die Vertretung der normativen Ansprüche an einen ethischen, fairen und gerechten Umgang mit den Daten und eine Orientierung der Datenverwertung an einer nachhaltigen, sozial- und umweltverträglichen, insgesamt menschenwürdigen Innovation statt ausschließlicher Profitorientierung ist eine wichtige Aufgabe. Diese kann nur mit starker staatlicher Regulation und der Einbindung einer lebendigen und pluralen Zivilgesellschaft erreicht werden und sollte daher nicht allein den Marktkräften und der Selbstregulierung von Unternehmen überlassen werden. Die Komplexität der Datenaggregation und -analyse wird mit der Ausbreitung des Internets der Dinge, der Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz und weiteren Digitalisierungsschüben noch zunehmen. Sowohl eine Zentralisierung der Datenhaltung (angelegt bei Morozov und Winickoff) als auch eine Dezentralisierung (inhärent bei Ostrom) hätte jeweils Vor-und Nachteile, die von Fall zu Fall abzuwägen sind. Ebenso bedürfen die Finanzierungsaspekte bei den vorgestellten Datenmodellen weiterer Ausarbeitung. Zu erinnern ist zudem an die janusköpfige Rolle des Staates, der ein Garant der Datenverwendung für Gemeinwohl und Gemeinsinn sein kann, sich unter anderen Umständen aber auch in einen "Big Brother" verwandeln könnte. Der Verlust der Steuerungskapazität des Nationalstaats aufgrund der transnationalen Datenflüsse sollte zur Entwicklung supranationaler Lösungsstrategien auffordern. Die Europäische Union wird hierbei eine wichtige Gestaltungsmacht für eine Regulierung der Datenökonomien bleiben. Vgl. Wolfie Christl, Corporate Surveillance in Everyday Life, Wien 2017, Externer Link: http://crackedlabs.org. Angela Merkel, Rede beim Jahrestreffen des World Economic Forum, Davos 24.1.2018. Vgl. Johanna Jöns, Daten als Handelsware, Hamburg 2016, S. 66. Vgl. Wolfgang Kerber/Louisa Specht, Datenrechte. Eine rechts- und sozialwissenschaftliche Analyse im Vergleich Deutschland–USA, 2017, Externer Link: http://www.abida.de/sites/default/files/ABIDA_Gutachten_Datenrechte.pdf. Zum Folgenden vgl. Jaron Lanier, Wem gehört die Zukunft?, Hamburg 2014; ders., Wenn Träume erwachsen werden, Hamburg 2015. Vgl. Justin Brookman et al., Cross-Device Tracking: Measurement and Disclosures, in: Proceedings on Privacy Enhancing Technologies 2/2017, S. 133–148. Vgl. Nicolas Agar, How to be Human in the Digital Economy, Cambridge 2019, S. 73–79. Vgl. Jan Schwenkenbecher, Eine Mail-Adresse bringt 0,75 Cent, in: Süddeutsche Zeitung, 2.11.2018, S. 16. Zum Folgenden vgl. Evgeny Morozov, Eine humane Gesellschaft durch digitale Technologien?, Essen 2015, S. 29; ders., "Ich habe doch nichts zu verbergen", in: APuZ 11–12/2015, S. 3–7; ders., Digitale Abhängigkeit. Die Menschen müssen die Daten der Internet-Giganten zurückerobern, in: Süddeutsche Zeitung, 19.1.2018. Evgeny Morozov, To Tackle Google’s Power, Regulators Have to Go After Its Ownership of Data, in: The Guardian, 2.7.2017. Zum Folgenden vgl. Elinor Ostrom, Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt, Tübingen 1999; dies./Silke Helfrich, Was mehr wird, wenn wir teilen, München 2011; Volker Stollorz, Elinor Ostrom und die Wiederentdeckung der Allmende, in: APuZ 28–30/2011, S. 3–8. Zum Folgenden vgl. David E. Winickoff/Richard N. Winickoff, The Charitable Trust as a Model for Genomic Biobanks, in: New England Journal of Medicine 12/2003, S. 1180–1184; David E. Winickoff/Larissa B. Neumann, Towards a Social Contract for Genomics: Property and the Public in the "Biotrust" Model, in: Genomics, Society and Policy 3/2005, S. 8–21. Vgl. Wolfgang Zimmermann, Spenderschutz durch Datentreuhänderschaft, Beitrag zur Tagung "Die datenschutzgerechte Auditierung von Biobanken", Kiel 4. 7. 2008, Externer Link: http://www.datenschutzzentrum.de/projekte/bdc-audit. Vgl. UK House of Commons Science and Technology Committee, Algorithms in Decision-Making, HC 351, 23.5.2018, S. 15f. Vgl. Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb, Argumente gegen ein "Dateneigentum", 1.8.2017, Externer Link: http://www.ip.mpg.de/fileadmin/ipmpg/content/forschung/Argumentarium_Dateneigentum_de.pdf. Vgl. Ingrid Schneider, Bringing the State Back in: Big Data-Based Capitalism, Disruption, and Novel Regulatory Approaches in Europe, in: dies. et al. (Hrsg.), The Politics of Big Data: Big Data, Big Brother?, New York 2017, S. 129–175.
Article
, Ingrid Schneider
2022-02-16T00:00:00
2019-06-06T00:00:00
2022-02-16T00:00:00
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/292347/regulierungsansaetze-in-der-datenoekonomie/
Wie lässt sich eine Brücke zwischen regulierter kommerzieller Datennutzung und Gemeinwohl schlagen? Sollten Daten dafür eher als privates Gut, öffentliches Gut, Allmendegut oder mittels Treuhandschaft bewirtschaftet werden?
[ "Datenökonomie", "Daten", "Digitalisierung", "Eigentum", "Governance", "Datenschutz", "Privatsphäre" ]
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