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Aufstieg und Krise des deutschen Steuerstaats | Steuerpolitik | bpb.de
Der deutsche Steuerstaat, so hört und liest man, stecke in einer Krise. Steuerhinterziehung, Steuerflucht und Schattenwirtschaft nähmen zu; Internationalisierung und Europäisierung der Steuerpolitik ließen den Staat "zerfasern". Um die aktuellen Probleme zu erfassen, die von vergangenen finanzpolitischen Entscheidungen herrühren, muss man den langen Aufstieg des Steuerstaats verfolgen. Dieser erstreckte sich über etwa vier Jahrhunderte, verlief weder gradlinig noch kontinuierlich und blieb trotz seiner "Pfadabhängigkeit" zukunftsoffen. Steuer und Staat bedingen sich wechselseitig: Moderne Staatlichkeit und Besteuerung sind von Anfang an miteinander verknüpft. Das drückt der Begriff "Steuerstaat" aus. Als einer der ersten verwendete ihn 1895 der Finanzwissenschaftler Albert Schäffle. Der Steuerstaat finanziere sich, indem er die private Wirtschaft mit Abgaben belege. Das mache die Besteuerung zu einer eminent politischen Frage, bedürfe jene doch zu ihrer Legitimation einer Vertretung und Mitwirkung der Besteuerten. Auch bleibe, wie immer sich das Verhältnis von Finanz- und Privatwirtschaft ausforme, der Steuerstaat von dieser abhängig. Der Nationalökonom Joseph Schumpeter nahm Schäffles Gedanken auf und trug entscheidend dazu bei, den Begriff Steuerstaat in der Wissenschaft zu etablieren. Dessen Inhalt blieb freilich ungenau, führte es doch kaum weiter, darunter einen Staat zu verstehen, der sich überwiegend durch Steuern finanziert. Obwohl mehrfach versucht wurde, den Terminus präziser zu fassen, fehlt bis heute eine allgemein verbindliche Definition. Eine solche könne es gar nicht geben, meint der Staatsrechtler Josef Isensee. Denn als "Staatstypus" sei der Steuerstaat "zugleich Ergebnis wie Ursache einer bestimmten, geschichtlich gewachsenen Ordnung von Staat und Wirtschaft". Was der Steuerstaat war und ist, kann man darum nur historisch erklären. Seine säkulare Entwicklung lässt sich am besten an "Wendepunkten" oder "Wendeepochen" verfolgen, "in denen Vorhandenes abzusterben und in Neues überzugehen" beginnt. Drei solcher Wendeepochen treten hervor: das 16. und 17. Jahrhundert (Anfänge), die Jahrzehnte um 1800 (Durchbruch) und die Jahre an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (Expansion). Ob die Debatte um die Krise des Steuerstaats eine neuerliche Wendeepoche anzeigt, müssen zukünftige Historiker beurteilen. Anfänge Die Anfänge des Steuerstaats fallen in das 16. und 17. Jahrhundert, in eine Zeit der Krisen und Kriege, die geprägt war durch Reformation und Gegenreformation, "Türkengefahr" und Dreißigjährigen Krieg, wirtschaftliche Probleme und soziale Konflikte. Die wachsenden Herausforderungen zwangen die Territorialstaaten, nach außen wie nach innen nicht nur mehr, sondern auch neue Aufgaben zu übernehmen und dazu innovative Formen der Finanzierung zu erproben. Dabei entwickelten sie eigene Ideen und griffen auf Anregungen von außen zurück. In diesem kompetitiven und imitativen Prozess, den ein Transfer von Wissen und Personen begleitete, entstand der Steuerstaat. Zwar galt noch bis ins 19. Jahrhundert die Rechtsauffassung, der Herrscher habe die Ausgaben für sich, den Hof und die Regierung des Landes aus den Erträgen des Kammerguts zu bestreiten. Dazu zählten nicht nur die Einnahmen aus Domänen, Forsten und anderen Gütern (also die Erwerbseinkünfte in heutiger Terminologie), sondern auch jene aus nutzbaren Rechten wie dem Maut-, Zoll-, Münz- und Bergregal sowie aus den landesherrlichen Monopolen etwa bei Salz oder Tabak. Nur wenn diese Kameraleinkünfte nicht ausreichten, durfte ein Herrscher Steuern erheben, und das geschah anfangs nur in Not- und Ausnahmefällen wie Kriegen oder Katastrophen. Auf jeden Fall benötigte der Regent dafür die Zustimmung der Steuerzahler oder ihrer Vertreter, der Landstände. Wegen des steigenden Bedarfs der stehenden Heere und wachsenden Bürokratien sowie der expandierenden öffentlichen Aufgaben wandelte sich die Steuer allmählich von einer subsidiären, unregelmäßigen und freiwilligen zu einer am Ende unverzichtbaren ständigen Zwangsabgabe. Die territorialstaatlichen Steuersysteme entwickelten sich vielgestaltig, wiesen aber einige Gemeinsamkeiten auf. So lasteten die direkten Steuern – unter Bezeichnungen wie Kontribution, Schatzung oder Landsteuer erhoben – überwiegend auf dem Grundbesitz. Das entsprach zwar der Steuerkraft in einer agrarischen Wirtschaft, begünstigte aber Gewerbe, Handel und Kapital. Auch regional waren die Steuern ungleich verteilt. Zudem genossen Adel und Klerus Steuerprivilegien. Solange aber solche großen Unterschiede in der Abgabenbelastung bestanden, ließ sich das Aufkommen der Steuern nur begrenzt steigern, wollte man nicht Teile der Pflichtigen überbürden. So wichen die Territorialstaaten auf Verbrauch- und Verkehrsteuern aus, die in unterschiedlicher Form und unter mannigfachen Bezeichnungen erhoben wurden. Solche indirekten Steuern waren weniger spürbar und doch ergiebig, trafen auch die Privilegierten und ließen sich, oft an den Landständen vorbei, leichter durchsetzen und ausgestalten. Durchbruch In der deutschen Staatenwelt des Ancien Régime sind bis ins ausgehende 18. Jahrhundert nur Frühformen des Steuerstaats auszumachen. Erst in den Jahrzehnten um 1800 erfolgte dessen Durchbruch, wiederum in einer Zeit der Krisen und Kriege. Eine Finanzkrise hatte sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts abgezeichnet. In vielen Territorien des Heiligen Römischen Reichs stiegen die Ausgaben rascher als die Einnahmen, wachsende Haushaltsdefizite und Schulden waren die Folge. An den Rand des Bankrotts gerieten die Staaten durch die Revolutions- und napoleonischen Kriege, die von 1794 an über zwei Jahrzehnte fast ununterbrochen geführt wurden. Hinzu kamen die Gebietsveränderungen, welche die französische Expansion auf dem Kontinent mit sich brachte. Nicht zuletzt zwang das nachrevolutionäre Frankreich die deutschen Staaten zu einschneidenden Reformen, wollten sie sich im napoleonischen Europa behaupten. Die Finanzreformen beruhten teils auf eigenen Plänen, teils orientierten sie sich am Vorbild des französischen Finanz- und des englischen Steuersystems. Im Zentrum der Reformen stand das Steuerwesen. Dass die Steuerprivilegien fallen sollten, entsprach den Idealen der Zeit. Breiter und gleichmäßiger, mithin gerechter verteilte Abgaben ließen sich gegenüber dem Steuerzahler besser rechtfertigen und brachten auch mehr ein. Außerdem vereinheitlichten und vereinfachten die Reformer das historisch gewachsene, vielgestaltige, durch die Gebietsveränderungen noch unübersichtlicher gewordene Steuersystem. Überall im Staat sollten dieselben, dabei möglichst wenige und ergiebige Steuern erhoben sowie nach der Leistungsfähigkeit der Pflichtigen bemessen werden. Glichen sich die Ziele, wiesen die Ergebnisse der Steuerreform erhebliche Unterschiede auf. Die süddeutschen Staaten setzten unter französischem Einfluss auf Objektsteuern, die den reinen Ertrag von Liegenschaften, Gebäuden und Gewerben zum Maßstab steuerlicher Leistungsfähigkeit nahmen. Diese Ertragsteuern wurden durch eine Personalsteuer ergänzt, mit der die Einkünfte von Beamten und freiberuflich Tätigen, aber auch Pensionen und Kapitalerträge erfasst werden sollten. Zu den direkten kamen indirekte Steuern wie Zölle und spezielle Verbrauchsteuern zumeist auf alkoholische Getränke. In Preußen blieb eine ähnlich durchgreifende Reform aus. Hier wurden die Steuerfreiheiten erst im Laufe des 19. Jahrhunderts schrittweise abgebaut. Zudem ließen sich die unterschiedlichen Steuersysteme weder vereinheitlichen noch zu einer Ertragbesteuerung fortbilden. Der Versuch, statt einer solchen Objekt- eine Einkommen- als Personalsteuer nach englischem Vorbild einzuführen, scheiterte an erhebungstechnischen Schwierigkeiten. Die Zeit war noch nicht reif. Übrig blieb eine nach äußeren Merkmalen in fünf Klassen gestaffelte Personalsteuer. Während diese Klassensteuer nur auf dem Land erhoben wurde, fiel in den Städten die Mahl- und Schlachtsteuer auf den Konsum von Brot, Backwaren und Fleisch an. Hinzu kamen spezielle Verbrauchsteuern auf alkoholische Getränke, Tabak und Salz sowie an den Grenzen erhobene Zölle. Insgesamt führte das Steuersystem weniger aus den gewohnten Bahnen heraus als in den süddeutschen Staaten. Dafür ersparte sich Preußen zeitaufwendige und kostspielige Reformen, die nicht ohne Widerstand der Besteuerten umgesetzt worden wären. Bei allen Unterschieden waren im Norden wie Süden der deutschen Staatenwelt um 1800 in einer "Finanziellen Revolution" die Grundlagen moderner öffentlicher Finanzen und mit ihnen eines Steuersystems gelegt worden, das die Prinzipien von Allgemeinheit und Gleichheit sowie der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu verwirklichen suchte. Auf dieser Linie entwickelten sich die Steuersysteme in den folgenden Jahrzehnten weiter: im Süden mit einem Schwerpunkt auf Objekt-, im Norden mehr auf Personalsteuern. Hier wie dort übten die Steuern einen massiven politischen Druck aus, der Machtverhältnisse verschieben oder sogar die Staatsverfassung verändern konnte. Je mehr sich die Staaten statt aus Domänen und Regalien durch Steuern und Kredite finanzierten, desto stärker mussten sie Repräsentanten der Besteuerten an den politischen Entscheidungen partizipieren lassen. Im Ancien Régime hatte die Macht der Landstände auf einem Zusammenspiel von Steuern, Kredit und Repräsentation beruht. Nachdem diese mit dem Heiligen Römischen Reich 1806 untergegangen, die deutschen Staaten souverän sowie zu einer eigenen Rechtsperson geworden waren und sich die Finanzgewalt in der Hand des Staats konzentriert hatte, mussten neue Institutionen und Verfahren gefunden werden, um Eingriffe in das Eigentum der Bürger zu legitimieren. Deshalb gaben sich die süddeutschen Staaten, voran Bayern, Württemberg und Baden, zwischen 1818 und 1820 Verfassungen. Diese räumten einer Volksvertretung das Recht ein, Steuern wie Kredite zu bewilligen und dazu den Staatshaushalt zu prüfen. Einige norddeutsche Staaten zogen in den 1830er Jahren nach, während Preußen erst in der Revolution 1848/1849 in den Kreis der konstitutionellen Staaten aufstieg. Zwar kam es um die Zustimmungs- und Mitwirkungsrechte der Parlamente noch zu heftigen Auseinandersetzungen, die etwa im preußischen Verfassungskonflikt der 1860er Jahre kulminierten; auf lange Sicht aber sorgten die Parlamente dafür, dass die Abgaben sich trotz aufflammender Steuerproteste und verbreiteter Steuerhinterziehung zu einer akzeptierten Form öffentlicher Finanzierung entwickelten. Expansion Die Wendeepoche am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert löste eine Expansion des Steuerstaats aus. Möglich wurde diese zum einen durch eine "Aufholjagd" der Staaten, zum anderen durch eine Zentralisierung des Finanz- und Steuersystems sowie schließlich durch einen Funktionswandel der Finanz- und Steuerpolitik. Mit einer "Aufholjagd" wollten sich die Staaten aus dem Dilemma befreien, in das sie die Industrialisierung zu bringen drohte. Denn die Umstellung der Wirtschaft auf fabrikmäßige Produktion und die sozialen Folgen, welche diese zeitigte, luden ihnen einerseits viele neue Aufgaben auf, sodass die öffentlichen Ausgaben rapide anstiegen. Andererseits erlaubten weder die Ertragsteuersysteme im Süden noch die Personalbesteuerung im Norden, dass die Einnahmen mit dem Wachstum der Wirtschaft Schritt hielten. Hier wie dort zwangen die wachsenden Ausgaben dazu, eine moderne Einkommensteuer einzuführen. Den Anfang machte 1878 das industrialisierte Sachsen. Preußen folgte 1891/1893 mit der Miquelschen Finanzreform. Die neu eingeführte Einkommensteuer erfasste mit einer geänderten Veranlagungs- und Erhebungstechnik alle Arten von Einkommen, die den Steuerpflichtigen aus genau bezeichneten Quellen zuflossen. Zugleich setzte sich mit einer noch milden Progression der Steuersätze von 0,7 bis 4 Prozent, einem steuerfreien Existenzminimum und der Möglichkeit steuermindernder Abzüge das Prinzip durch, alle Besteuerten nach ihrer individuellen Leistungsfähigkeit zu veranlagen. Preußen wurde mit dieser Reform zum Vorbild für viele Staaten mit Ertragsteuern, die sich nur zögerlich für die neue Besteuerung entschieden. Den Anfang machte Baden 1884. Die Einkommensteuer sollte eigentlich nur die Ertragsteuern ergänzen, entwickelte sich aber rasch zur wichtigsten Steuer. In Württemberg verlief die Entwicklung nach 1903 ähnlich. Nur Bayern hielt noch lange an seinen Ertragsteuern fest und ergänzte diese erst 1912 durch eine Einkommensteuer. Mit der Besteuerung des Einkommens koppelten sich die Staaten an die Dynamik der Wirtschaft an. Gleiches bewirkte die Umsatzsteuer, die im Ersten Weltkrieg als Bruttoallphasensteuer in Höhe von 0,5 Prozent eingeführt und bis zur Umstellung auf ein Mehrwertsteuersystem in der Bundesrepublik 1967 erhoben wurde. Mit Einkommen- wie Umsatzsteuer erschlossen sich die Staaten ergiebige Steuerquellen, die das Aufkommen, vor allem aber den Anteil der Steuern an den Staatseinnahmen weiter steigerten. Zentralisierung des Steuersystems Dagegen folgte die Verteilung der Steuern auf Gemeinden, Bundesstaaten und Zentralstaat, seit 1871 das Deutsche Reich, weiterhin der föderalen Tradition. Diese wies dem Reich die weniger ergiebigen Verbrauch-, den Einzelstaaten dagegen die ertragreiche Einkommensteuer zu. Erst die desolate Lage der öffentlichen Finanzen in der Weimarer Republik zwang dazu, das Finanz- und Steuersystem zu zentralisieren. Im Ersten Weltkrieg war die deutsche Gesellschaft verarmt und ein Schuldenberg von 150 Milliarden Mark aufgehäuft worden. Zu Buche schlugen außerdem die Kosten der Demobilmachung, die territorialen und wirtschaftlichen Verluste durch den Versailler Vertrag sowie die Leistungen für die Kriegsopfer und die Reparationszahlungen an die Alliierten. Die finanziellen Folgen des verlorenen Kriegs verlangten mehr staatliche Interventionen, trieben den Anteil der öffentlichen Ausgaben am Volkseinkommen in die Höhe und vergrößerten das Defizit in den Haushalten. Um die entstandenen Probleme zu lösen, peitschte Reichsfinanzminister Matthias Erzberger zwischen Juli 1919 und März 1920 ein Reformpaket durch die Entscheidungsgremien, welches das Finanz- und Steuersystem von Grund auf umgestaltete. An die Stelle des herrschenden Finanzföderalismus trat ein entschiedener Unitarismus. Künftig lag die Finanzhoheit beim Reich, sodass sich jetzt unter dem Reichsfinanzministerium eine zentrale Finanzverwaltung organisieren ließ. Diese sorgte dafür, dass alle Abgaben nach einheitlichen Prinzipien, Verfahren und Sätzen erhoben werden konnten. Zum anderen änderte sich die Verteilung der Steuern. Von nun an hingen die Länder, die den Zugriff auf die Einkommensteuer eingebüßt hatten, am Tropf des Zentralstaats und nicht mehr dieser an ihrem. Erzberger schnürte ein Bündel aus neuen und bestehenden, aber gründlich umgearbeiteten Steuern. Dazu zählten die Kriegsabgaben vom Einkommen- beziehungsweise Vermögenszuwachs, vor allem aber das "Reichsnotopfer", eine progressive Vermögensteuer mit Spitzensätzen von 65 Prozent. Zu den einmaligen kamen laufende Abgaben: eine zupackende Erbschaftsteuer, weitere Verbrauchsteuern und nicht zuletzt die neu gestaltete Reichseinkommensteuer. Diese erfasste das Einkommen natürlicher Personen sowie die Kapitalerträge und die Gewinne von Kapitalgesellschaften mit einem scharf progressiven Tarif, dessen Sätze von 10 auf 60 Prozent stiegen. Die Steuern dienten nicht nur fiskalischen Zielen; sie sollten auch für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen und so für die junge Republik werben. Funktion der Steuerpolitik Die Expansion des Steuerstaats beruhte nicht nur auf der Einkommen- und Umsatzsteuer sowie der Zentralisierung des Finanz- und Steuersystems, sondern auch auf einer veränderten Funktion der Finanz- und Steuerpolitik. Ausgaben wie Einnahmen des Staats, zumal die Steuern, wirkten stets auf Wirtschaft und Gesellschaft ein. Diese Effekte standen aber lange Zeit nicht im Zentrum der Finanzpolitik. Bewusst und in größerem Umfang zu einem Mittel der Umverteilung entwickelten sich die Steuern erst seit den 1880er Jahren, zu einem konjunkturpolitischen Instrument seit den 1920er Jahren, vor allem aber seit den 1960er Jahren, und zu einem Hebel der Umweltpolitik am Ende des 20. Jahrhunderts. Selten entsprachen die intendierten den tatsächlichen Wirkungen. Das galt schon für die Umverteilung. Oft wurden die Steuern nicht von jenen getragen, die sie hätten tragen sollen. Denn wie Steuern wirken, hängt zwar auch von den gesetzlichen Regelungen, mehr dagegen von marktvermittelten Prozessen der Steuerüberwälzung ab. Das begünstigt die "Fiskalillusion", die sich über die umverteilende Wirkung einzelner Steuern und erst recht des ganzen Steuersystems täuscht. Die Veränderungen in den Jahrzehnten um 1900 ließen ein Finanz- und Steuersystem entstehen, das im Zusammenspiel von Ausgaben, Steuern und Schulden den Anteil des Staats am Sozialprodukt in einem Prozess sich selbsttragenden Wachstums schubweise vergrößerte und zugleich die Rangfolge der öffentlichen Ausgaben veränderte. Auch wenn diese nicht kontinuierlich expandierten, es vielmehr Phasen der Beschleunigung und der Stagnation, ja, der Kontraktion gab, ändert das nichts am säkularen Trend: Beanspruchte der öffentliche Bedarf vor dem Ersten Weltkrieg knapp 17 Prozent des Sozialprodukts, war es am Ende des 20. Jahrhundert fast die Hälfte. Mit der Expansion veränderte sich das Profil der öffentlichen Ausgaben: Um 1900 dienten etwa 46 Prozent dazu, das Kaiserreich nach außen zu sichern und im Inneren zu verwalten; rund 44 Prozent flossen in Infrastruktur, Bildung und Soziales. Umgekehrt sah es am Übergang zum 21. Jahrhundert in der Bundesrepublik aus: 77 Prozent entfielen auf Soziales, Bildung und Infrastruktur; Verwaltung und Militär kamen auf 12 Prozent. Zugleich ging der Anteil der Personal- und Sachausgaben zugunsten von Transferzahlungen und Subventionen zurück. Es wuchsen also jene Ausgaben, die beim Empfänger einen unmittelbaren, individuell zurechenbaren Nutzen stifteten. Die Expansion des Steuerstaats machte vor politischen Systembrüchen nicht halt. In den Jahren der Weimarer Republik schoss die Entwicklung über die wirtschaftlichen Möglichkeiten einer Nachkriegszeit hinaus. Denn die Finanzpolitik stand nach 1918 vor einem Dilemma. Sie musste in einer Zeit "relativer" Stagnation, also bei schwachem Wirtschaftswachstum, nicht nur die inneren und äußeren Lasten des verlorenen Kriegs bewältigen, sondern auch die wünschbaren staatlichen Leistungen mit den finanziellen Möglichkeiten in Einklang bringen. Darum prägten nationale wie internationale Verteilungskonflikte die Finanzpolitik und drohten, den Steuerstaat mit Aufgaben zu überlasten und finanziell zu überbürden. Die politische Polyvalenz und Instrumentalisierbarkeit des Steuerstaats führte die nationalsozialistische Diktatur vor Augen, als sie ihn in den Dienst ihrer Gewalt- und Eroberungspolitik stellte. So wurde nicht nur die Besteuerung an der "nationalsozialistischen Weltanschauung" ausgerichtet, sondern auch für die Verfolgung von Juden in den Dienst genommen. Diese standen bald steuerlich unter Sonderrecht, wurden durch die "Judenvermögensabgabe" von 1938 sowie weitere fiskalische Maßnahmen ausgeplündert und, falls sie emigrieren konnten, durch die Reichsfluchtsteuer und die Devisenbewirtschaftung ihres Vermögens beraubt. Auch andere "Reichsfeinde" unterlagen der steuerlichen Diskriminierung. Von einem funktionsfähigen, demokratisch legitimierten Steuerstaat lässt sich darum erst für die Jahre der Bundesrepublik sprechen. Dieser knüpfte an das bestehende, durch alliierte Einflüsse modifizierte Steuersystem an und profitierte vor allem vom wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegsjahre. Trotzdem blieb die Dynamik des Steuerstaats zunächst gebremst. Diese brach sich erst im Zeichen einer "Expansionskoalition" seit den 1960er Jahren Bahn, die von der Vorstellung getragen wurde, der Staat müsse mehr öffentliche Güter bereitstellen, um den entstandenen Nachholbedarf zu befriedigen. Es ist bezeichnend für den bundesdeutschen Steuerstaat, dass die Staatsquote in den 1970er Jahren auf fast 50 Prozent sprang, während die Steuerquote nur geringfügig anstieg. Durch höhere Sozialabgaben, vor allem aber eine drastische Ausweitung der Nettokreditaufnahme konnten zwar kurzfristig die öffentlichen Ausgaben erhöht werden, ohne die Steuerschraube anziehen und über die Verteilung der Lasten politische Konflikte riskieren zu müssen. Auf längere Sicht zerstob aber die "Schuldenillusion", da der wachsende Schuldenberg den finanziellen Spielraum von Bund, Ländern und Gemeinden zunehmend einengte, sich zu einer immer schwereren Last entwickelte und zukunftsorientierte, investive Ausgaben blockierte. Krise des Steuerstaats Die rund 400-jährige Geschichte der Besteuerung mündet über die Finanzierung der deutschen Einheit und die Bemühungen um Haushaltskonsolidierung seit den späten 1990er Jahren in die Gegenwart und die aktuelle Debatte über die Krise des Steuerstaats. Deren Analyse ist ebenso wenig Aufgabe des Historikers wie ein Blick in die Zukunft. Doch mehren sich für ihn zumindest die Anzeichen, dass das "gute zwanzigste Jahrhundert" des Steuerstaats, also die Zeit seiner scheinbar ungehinderten Expansion, zu Ende geht. Die Flut an Einsprüchen gegen Steuerbescheide, mittlerweile über drei Millionen pro Jahr, und die bei den Finanzgerichten anhängigen Prozesse deuten darauf hin, dass das Steuersystem den Gerechtigkeitsvorstellungen einer wachsenden Zahl von Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr entspricht und an Legitimität einbüßt. Steuerhinterziehung, Steuerflucht und Schattenwirtschaft weisen in dieselbe Richtung. Demografische Veränderungen, zumal die wachsende Zahl von Rentnerinnen und Rentnern, verstärken den Druck auf den Steuerstaat. Dieser muss sich obendrein der zunehmenden Mobilität des Kapitals und neuen Formen des E-Commerce anpassen sowie auf den internationalen Steuerwettbewerb und die Ausweichstrategien multinationaler Konzerne reagieren. Schließlich ist noch offen, wie stark der Finanzbedarf der erweiterten Europäischen Union wachsen und der nationalstaatliche Handlungsspielraum durch die Europäisierung der Besteuerung schrumpfen wird. Die Debatte über die "Zerfaserung von Staatlichkeit", besonders der Steuerstaatlichkeit, wirft ein Schlaglicht auf diese Probleme. In der Diskussion über die Krise des Steuerstaats kann der Historiker zumindest darauf verweisen, dass in der Vergangenheit immer wieder, zumal nach Krisen und Kriegen, über die Zukunft des Steuerstaats debattiert worden ist und dieser durch alle drei Wendeepochen hindurch eine erstaunliche Lebens- und Anpassungsfähigkeit bewiesen hat. Es spricht deshalb einiges für den Gedanken, dass sich der Steuerstaat gegenwärtig in einer weiteren Wendeepoche befindet. Solche Epochen, das wusste schon Joseph Schumpeter, sind "stets finanzielle Krisen der jeweils alten Methoden". Der Beitrag greift Überlegungen meiner Bücher "Der deutsche Steuerstaat" (München 2005) sowie "Staat und Schulden" (Göttingen 2009) auf und führt diese weiter. In beiden Bänden finden sich ausführliche Literaturhinweise. Josef Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: Rolf Stödter/Werner Thieme (Hrsg.), Hamburg – Deutschland – Europa, Tübingen 1977, S. 414. Vgl. auch: Albert Schäffle, Die Steuern, Bd. 1, Leipzig 1895, S. 74ff.; Joseph Schumpeter, Die Krise des Steuerstaats, in: Rudolf Goldscheid/ders., Die Finanzkrise des Steuerstaats, herausgegeben von Rudolf Hickel, Frankfurt/M. 1976, S. 329–379. J. Schumpeter (Anm. 2), S. 332. Vgl. Uwe Schultz (Hrsg.), Mit dem Zehnten fing es an, München 1986; Eckart Schremmer (Hrsg.), Steuern, Abgaben und Dienste vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1994; Holger Nehring/Florian Schui (Hrsg.), Global Debates about Taxation, Houndmills 2007. Vgl. Kersten Krüger, Public Finance and Modernisation, in: Peter-Christian Witt (ed.), Wealth and Taxation in Central Europe, Leamington Spa 1987, S. 49–62. Vgl. Hans-Peter Ullmann, Staatsschulden und Reformpolitik, Göttingen 1986. Vgl. Eckart Schremmer, Steuern und Staatsfinanzen während der Industrialisierung Europas, Berlin 1994. Vgl. Mark Spoerer, Steuerlast, Steuerinzidenz und Steuerwettbewerb, Berlin 2004; Rosemarie Siegert, Steuerpolitik und Gesellschaft, Berlin 2001. Vgl. Andreas Thier, Steuerverfassung und Gesetzgebung in der konstitutionellen Monarchie, Frankfurt/M. 1999. Vgl. Michael Peter Zerres, Die Entwicklung der Mehrwertsteuer, Frankfurt/M. 1978. Vgl. Klaus Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Berlin 1962. Vgl. William Mark Ormrod/Richard Bonney (eds.), Crisis, Revolutions, and Self-Sustained Growth, Stanford 1999. Ormrod und Bonney gehen von einer eigenen Entwicklungsstufe aus, die sie fiscal state nennen. Vgl. Gerold Ambrosius, Staat und Wirtschaft im 20. Jahrhundert, München 1990, S. 38; berechnet nach VGR des Bundes, COFOG 2000, Datenbank Genesis. Vgl. Norbert Leineweber, Das säkulare Wachstum der Staatsausgaben, Göttingen 1988. Diesen Fragen geht eine unabhängige Historikerkommission im Auftrag des Bundesministeriums der Finanzen nach. Als erster Band wird das Buch von Christiane Kuller, Bürokratie und Verbrechen, München 2013, erscheinen. Der Verfasser arbeitet an einer Studie über die öffentlichen Schulden und die Schuldenpolitik in der Bundesrepublik der 1960er bis 1980er Jahre. Vgl. Thazha V. Paul et al. (eds.), The Nation-State in Question, Princeton 2003, S. 213–233. Vgl. Stephan Leibfried/Michael Zürn (Hrsg.), Transformationen des Staates?, Frankfurt/M. 2006. J. Schumpeter (Anm. 2), S. 332.
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, Hans-Peter Ullmann
"2021-12-07T00:00:00"
"2013-02-27T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/155701/aufstieg-und-krise-des-deutschen-steuerstaats/
Der Steuerstaat ist ein Kind moderner Staatlichkeit. In seiner mehr als 400-jährigen Geschichte bewies er eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit. Einiges spricht dafür, seine gegenwärtige Krise als einen Aufbruch zu neuen Ufern zu deuten.
[ "Steuern", "Steuerstaat", "Steuerhinterziehung", "Steuerflucht", "Bundesrepublik Deutschland", "Deutschland" ]
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Vor 30 Jahren: Rechtsextremer Brandanschlag in Solingen | Deine tägliche Dosis Politik | bpb.de
🍵 Guten Morgen, gestern vor 30 Jahren wurden in Solingen fünf Frauen und Mädchen mit türkischer Migrationsgeschichte getötet. Es war der bis dato schwerste rassistische Anschlag in der Geschichte der BRD. 🔍 Der 29. Mai 1993 In der Nacht zum 29. Mai wurde das Haus der Familie Genç im nordrhein-westfälischen Solingen in Brand gesetzt. Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç kamen bei dem verheerenden Anschlag ums Leben. 14 weitere Familienmitglieder wurden teils lebensgefährlich verletzt. Kurze Zeit später verhaftete die Polizei die Täter: vier junge Männer aus der Solinger Neonazi-Szene. 📰 Hintergrund Anfang der 1990er Jahre führten Politik und Medien eine aggressive Debatte über den Umgang mit steigenden Asylanträgen. Im sog. "Asylkompromiss" wurde schließlich das Grundgesetz geändert und das Asylrecht eingeschränkt. Eine Welle rassistisch motivierter Anschläge erschütterte zu der Zeit D., neben Solingen u.a. in Hoyerswerda, Mölln und Rostock. Im Fall Solingen wurden die Täter in einem vielbeachteten Prozess zu Jugend- und Haftstrafen zwischen zehn und 15 Jahren verurteilt. Im Urteil wurden die rassistischen Motive der Tat bestätigt. 🕯️ Die Folgen Das öffentliche Bewusstsein für die Kontinuität rassistischer Verbrechen in D. hat sich mittlerweile gewandelt. Damals noch bestritten, findet das strukturelle Problem immer mehr öffentliche Anerkennung. An der gestrigen Gedenkveranstaltung in Solingen nahmen u.a. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und die Präsidentin des Bundestages Bärbel Bas (SPD) teil. Die Gemeinschaft gedenkt auch der im letzten Jahr verstorbenen Mevlüde Genç. Für ihren Einsatz im Sinne des Friedens und der Toleranz hatte sie in der Folge des Anschlags das Bundesverdienstkreuz erhalten. ➡️ Mehr Infos findest du im Podcast: Externer Link: https://kurz.bpb.de/dtdp1948 Viele Grüße Deine bpb Social Media Redaktion
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-05-30T00:00:00"
"2023-05-30T00:00:00"
"2023-05-30T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/taegliche-dosis-politik/521438/vor-30-jahren-rechtsextremer-brandanschlag-in-solingen/
Gestern vor 30 Jahren wurden in Solingen fünf Frauen und Mädchen mit türkischer Migrationsgeschichte getötet. Es war der bis dato schwerste rassistische Anschlag in der Geschichte der BRD.
[ "Deine tägliche Dosis Politik", "Brandanschlag", "Rechtsextremismus", "Solingen" ]
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Matthias Domaschk - das abrupte Ende eines ungelebten Lebens | Deutschland Archiv | bpb.de
Ein Zeitsprung über 40 Jahre zurück Am 10. April 1981 fuhren die beiden Jenaer Freunde Peter Rösch und Matthias Domaschk ("Matz") gemeinsam mit dem Zug nach Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR. Ihr Ziel, eine Einweihungs- beziehungsweise Geburtstagsfeier in einer von Freunden in Ost-Berlin besetzten Wohnung. Doch dort kamen sie nicht an. In Jüterbog wurden sie von der DDR-Transportpolizei aus dem Zug geholt und einer stundenlangen Befragung unterzogen. Grundlage ihrer Festsetzung war ein Stasi-Auftrag an die Transportpolizei, "daß verhindert werden muß, daß diese Personen in die Hauptstadt gelangen". Die DDR-Geheimpolizei Stasi als "Schild und Schwert" der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) fürchtete, dass die jungen Leute, die das MfS wegen "Kontakten zu politisch-negativen Personen in Jena unter operativer Kontrolle" hielt, gegen den X. Parteitag der SED in Ost-Berlin demonstrieren könnten. Eine Überprüfung ihrer Gepäckstücke ergab aber "keine operative Bedeutsamkeit". Dennoch wurde ihre "Rückführung" beschlossen. Information des "Operativen Einsatzstabs" (OES) des MfS Gera vom 10. April 1981 (Ausschnitt). (© BStU, MfS_BV-Gera_AP_Nr-1097-81_Bl-012) Am Abend des 11. April transportierten Mitarbeiter der Staatssicherheit die beiden von Jüterbog nach Gera in die Untersuchungshaftanstalt des Bezirks, wo sie erneut verhört wurden - fast 13 Stunden am Stück. Erst am Mittag des 12. April eröffneten ihnen laut Unterlagen der Staatssicherheit dortige Beschäftigte, dass sie gegen frühen Nachmittag nach Jena entlassen würden. Aber nur einer kam raus, der andere zu Tode. Anschließend stand die Behauptung im Raum, Matthias Domaschk habe am 12. April 1981 kurz vor seiner Entlassung im "Besucherraum 121" der Untersuchungshaftanstalt in der Zeit zwischen 14:00 und 14:30 Uhr Suizid begangen. Bleibende Zweifel Bis heute zweifeln Angehörige und Freunde an der These einer Selbsttötung. Der Versuch zwischen 1990 und 1994, die Todesumstände juristisch zu ermitteln, scheiterte. Die damals zuständige Staatsanwaltschaft stellte 1994 fest: „Die umfangreichen Ermittlungen haben keinen Hinweis darauf erbracht, dass es sich im Fall des Matthias Domaschk nicht um eine Selbsttötung gehandelt hat.“ Die überlieferten Dokumente der Staatssicherheit gelten seit ihrer Entdeckung als einzige Quelle. Ihnen zu misstrauen war Anlass, 2015 den Hergang in der Untersuchungshaftanstalt Gera und die Umstände des Todes von Matthias Domaschk erneut zu untersuchen. Das Land Thüringen setzte auf Anregung von Domaschks seinerzeitigen Freundin Renate Ellmenreich eine unabhängige Arbeitsgruppe ein, die die Vorgänge in der Untersuchungshaftanstalt prüfen sollte. Federführend wurde die Arbeitsgruppe von der Thüringer Staatskanzlei unterstützt und begleitet. Der Rechtsanwalt Wolfgang Loukidis erwies sich als besonderer Motor der Arbeitsgruppe, zumal er einige wichtige Zeitzeugen beibrachte. Die Ausgangslage war komplex. Zahleiche Indizien lagen vor. Vermutungen zirkulierten seit Jahren. Indizien und Vermutungen spiegelten nicht nur den Mangel an seriösen Quellen. Sie zeigten deutlich auf, dass vieles ungereimt war und blieb, besonders mit Blick auf die Quellen des MfS. 2004 kam der Thüringer Jugendpfarrer Walter Schilling im Rahmen einer Filmdokumentation deshalb zu dem Schluss: „Fragt erst einmal nicht, wie er gestorben ist. Fragt, wo er gestorben ist. Und das ist in der Untersuchungshaftanstalt in Gera gewesen. Und fragt, wer dafür verantwortlich ist. Das waren die Stasimitarbeiter. Und da liegt euer Zorn richtig!“ Information des "Operativen Einsatzstabs" (OES) des MfS Gera vom 10. April 1981 (Ausschnitt). (© BStU, MfS_BV-Gera_AP_Nr-1097-81_Bl-012) Renate Ellmenreich, die ehemalige Lebensgefährtin von Matthias Domaschk, drückte es 2019 auf einer Pressekonferenz zum Abschlussbericht der Arbeitsgruppe in Erfurt so aus: „Natürlich wäre es mir am liebsten, die beteiligten MfS-Offiziere würden endlich reden. Mit mir oder Herrn Ramelow, oder mit wem auch immer, und die, die die Wahrheit kennen, die sie bisher verschwiegen haben, offenlegen. Die wissen es doch, ja, die dabei waren. Es gibt vier verschiedene Leute, die vor der Staatsanwaltschaft behauptet haben, ich war der erste, der ihn (Domaschk , d.A.) abgehängt hat. Also war es ein Gerangel? Und ich würde gern lieber wissen, wer hat ihn denn aufgehängt?!“ Roland Jahn , der Matthias Domaschk persönlich kannte und mit ihm befreundet war, ergänzte: Der ehemalige Jenenser Bürgerrechtler (und noch bis Juni 2021 amtierende Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen), Roland Jahn, am Grab des 1981 in Geraer Stasi-Haft zu Tode gekommenen Matthias Domaschk. (© Holger Kulick) „Für mich kann man aus den Erkenntnissen der Arbeitsgruppe hier keine klaren Schlüsse ziehen. Es ist aber wichtig, dass die Widersprüche, die von der Arbeitsgruppe aufgezeigt worden sind, weiter aufgekärt werden. Dabei ist es immer wichtig, als Journalist, als Arbeitsgruppe, als Wissenschaftler, Quellenkritik zu üben, und dann natürlich durch Zeitzeugenbefragungen versuchen, das Bild abzurunden. Aber ich bin immer eher dafür, hier zu sagen, es ist jemand unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen als voreilig Thesen aufzustellen, für die es keine Belege gibt.“ Belege sind wesentliche Erkenntnisse, die den konkreten Hergang der Ereignisse in der Untersuchungshaftanstalt Gera dokumentieren. Das kann durch Dokumente verschiedenster Art geschehen oder durch Zeitzeugen, also Personen, die mittelbar oder unmittelbar in das damalige Geschehen einbezogen und Handelnde waren. Weder die überlieferte Vorgangsakte zum Tod von Matthias Domaschk noch damals handelnde Personen können und konnten bisher dazu beitragen, eine Eindeutigkeit über die konkreten Vorgänge am 12. April 1981 in der MfS-Untersuchungshaftanstalt Gera herzustellen. Dies nährt die anhaltenden Zweifel seiner Freunde und Familie, vor allem vor dem Hintergrund seines Engagements im damals oppositionellen Netzwerk von Jena im Rahmen der kirchlichen Jugendarbeit. Zahlreiche Akteure waren operatives Ziel des MfS. Die 2015 von der Thüringer Staatskanzlei unter Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten Bodo Ramelow eingesetzte Arbeitsgruppe machte es sich zur Aufgabe, alle noch verfügbaren Quellen und Zeitzeugnisse zu finden und heranzuziehen, um die Ungewissheit der Todesumstände zu klären. Es war nicht Ziel, eine erneute juristische Verfolgung daraus abzuleiten. Die unmittelbar beteiligten MfS-Mitarbeiter wurden im Jahr 2000 wegen Freiheitsberaubung mit Strafbefehlen belegt. Ziel der Arbeitsgruppe war die Ermittlung belegbarer Widersprüche in den Dokumenten, um eine Rekonstruktion der Ereignisse zu ermöglichen. Neben überlieferten Dokumenten des MfS wurden Akten der Jenaer Pathologie ausgewertet. Auch die Akten der juristischen Ermittlungsverfahren zwischen 1989 und 1999 wurden gesichtet und ausgewertet. Darüber hinaus konnten zahlreiche Zeitzeugen befragt werden. Unglaubwürdige MfS-Akten Nicht überraschend war, dass bereits angestellte Vermutungen über die Nichtglaubwürdigkeit der MfS-Akten schnell herausgearbeitet werden konnten. Die Protokolle des MfS zu den konkreten Abläufen innerhalb der Untersuchungshaftanstalt sind nicht nur widersprüchlich, sie wurden teilweise nachweislich verändert oder manipuliert. Das beginnt mit den Bewegungsprofilen der namentlich beteiligten MfS-Mitarbeiter, zum Ereignisort generell, zur kriminaltechnischen wie pathologischen Untersuchung, sowie zur Frage nach der Echtheit einer Verpflichtungserklärung von Matthias Domaschk zur konspirativen Zusammenarbeit mit dem MfS, datiert vom 12.4.1981, also unmittelbar vor seinem protokollierten Tod. Derlei Dokumente waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sie dienten der internen Darstellung in Verantwortlichkeit gegenüber der eigenen wie übergeordneten Dienststelle. Es muss auch davon ausgegangen werden, dass das MfS in dieser Zeit kein operatives oder politisches Interesse an einem derartigen „Vorfall“ in einem seiner Häuser hatte. Der ehemalige Jenenser Bürgerrechtler (und noch bis Juni 2021 amtierende Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen), Roland Jahn, am Grab des 1981 in Geraer Stasi-Haft zu Tode gekommenen Matthias Domaschk. (© Holger Kulick) Fest steht aus heutiger Erkenntnis: Die Mitarbeiter des MfS widersprachen sich in den staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen in den Jahren 1991 bis 1992 erheblich in Bezug auf ihre jeweilige Beteiligung und die durchgeführten Handlungen. Der Ereignisort, an dem Matthias Domaschk zu Tode gekommen sein soll, konnte im Abgleich mit Bauunterlagen des MfS nicht verifiziert werden. Die MfS-Dokumente zum Suizid erwähnen stets einen „Besucherraum 121“ als Ereignisort. In den Bauunterlagen war dieser „Raum“ aber das Treppenhaus. Der so genannte Besucherraum firmierte unter der Raumnummer 124 und war über alle Etagen des Hauses so durchnummeriert. Die Heizungsrohre in dem angeführten Raum unterhalb der Decke, wo sich Matthias Domaschk erhängt haben soll, wiesen nach dem Bildbericht des MfS eindeutig zu erkennende Wischspuren auf, die nicht zum Tatwerkzeug, dem angeblich verknoteten Hemd von Matthias Domaschk, passten. Breite, Anlage und Verteilung der Wischspuren konnten nicht von einem Hemd stammen. Die MfS-Mitarbeiter der kriminaltechnischen Abteilung hielten in ihrem Protokoll lediglich fest, der Tatort sei verändert vorgefunden worden. Die Leiche des Domaschk lag mit freiem Oberkörper auf dem Rücken am Boden – und das bereits vor dem Eintreffen der Kriminaltechniker und nachdem Matthias Domaschk von MfS-Mitarbeitern vom Heizungsrohr abgenommen worden sein soll. Das kriminaltechnische Protokoll wurde zudem eine Woche später angefertigt und rückdatiert. Auch eine Manipulation des Totenscheines ist nicht auszuschließen, darin reihen sich Widersprüche um Widersprüche aneinander. Fest steht auch, er wurde nicht vor Ort erstellt. Dort erfolgte am 12. April 1981 um 16 Uhr nur ein handschriftlicher Eintrag mit Unterschrift eines Geraer Facharztes für Allgemeinmedizin, der ankreuzte "nichtnatürliche Todesursache". Der weitgehend vom MfS ausgefüllte Totenschein Matthias Domaschks vom 13.4.1981 (© BStU Gera KD) Nach der offiziellen Obduktion des Leichnams am 13. April 1981 in Jena wurden von MfS-Mitarbeitern maschinenschriftliche Eintragungen zur Todesursache vorgenommen, die rechtlich verschieden interpretierbare Schlussfolgerungen zulassen („Äußere Ursache: Selbstmord durch Erhängen“, „Feststellung bei der Leichenschau: Traumatische Strangulation“, „Ergebnis der Autopsie: Erhängen“). Diese Einträge stammten nicht von dem unterzeichnenden Oberarzt namens "Disse", sondern von den Mitarbeitern des MfS. Dr. Disse aus Jena unterschrieb lediglich das Formular, so wie zuvor der Allgemeinarzt Dr. Hagner. Das bestätigte Dr. Disse später in einem Zeitzeugengespräch. Er selbst habe nie von "Erhängen" sondern stets nur neutral von "Strangulation" gesprochen. Dies sei in seinem Obduktionsbericht auch so festgestellt, was belegt ist. Offen blieb der Nachweis dafür, ob es bereits am 12. April 1981 eine Erstobduktion im Waldkrankenhaus in Gera gab. Hinweise und Zeitzeugenaussagen lassen dies nach wie vor vermuten, aber nicht eindeutig belegen. Daraus abzuleiten ist, dass die Unterlagen des MfS in ihrer Glaubwürdigkeit gering einzuschätzen sind. Sie dienten der dienstlichen Vergewisserung in Verantwortung gegenüber den Dienststellen beziehungsweise der Hauptabteilung XX/4 des MfS in Ost-Berlin. Die Handlungen der beteiligten Personen konnten teilweise rekonstruiert werden. Der weitgehend vom MfS ausgefüllte Totenschein Matthias Domaschks vom 13.4.1981 (© BStU Gera KD) Umstritten bleibt auch, ob und wenn ja, warum Matthias Domaschk am 12.4.1981 eine schriftliche Verpflichtungserklärung gegenüber dem MfS abgegeben haben soll, verfasst in säuberlicher Handschrift ohne jedes Anzeichen von Nervosität oder Erschöpfung nach 13 Stunden Verhör. Die Protokolle zu angeblich gemachten Aussagen von Matthias Domaschk gegenüber den Vernehmern der Abteilung IX der Untersuchungshaftanstalt Gera ergaben jedenfalls keinen eindeutigen Beleg dafür, dass das Dokument zwingend von Matthias Domaschk stammen muss. Ein Schriftgutachten im Rahmen der staatsanwaltlichen Untersuchung stellte fest, dass die Handschrift in der Verpflichtungserklärung sehr wohl von Matthias Domaschk stammen könne. Andererseits sei es aber genauso möglich, dass das Dokument nachträglich erstellt worden ist. Technisch wäre dies durchführbar gewesen. Das Ergebnis des Schriftgutachtens war daher konkret unkonkret. Es attestierte ein Sowohl-als-auch. Das trifft auch auf das etwa zeitgleich angefertigte so genannte Rohrgutachten zu. Als der Hauskomplex der Untersuchungshaftanstalt noch existierte, wurde ein Gutachten ausgearbeitet, ob die in Frage kommenden Heizungsrohre eine Person wie Matthias Domaschk tragen und als geeignet eingeordnet werden könnten, um einen Suizid in der vom MfS genannten Weise umzusetzen. Die Gutachter besichtigten den Ort, maßen die Höhe des angenommenen Fallweges, die Belastbarkeit der Rohre und testeten deren Tragekraft. Sie kamen zu dem Schluss, dass das betreffende Rohr die Durchführung eines Suizids erlaubt habe. Noch sichtbare Staubrillen in Übereinstimmung mit den 1981 angefertigten Fotos vom Ereignisort wurden jedoch nicht in Bezug gesetzt, was die Möglichkeit einer Strangulation in Zweifel hätte ziehen müssen. Schon die kriminaltechnische Untersuchung der Mitarbeiter des MfS am 12. April 1981 zeigte erhebliche Defizite auf. Nicht nur, wie oben erwähnt, dass der Ereignisort verändert vorgefunden wurde. Die Leiche wurde nur aus einer Sichtposition fotografiert, nämlich von oben in Richtung rechts des Körpers, der bereits mit dem Rücken auf dem Boden lag. Der eintreffende Arzt, der den Tod bescheinigen sollte, erhob seinerseits keine Zweifel an der von den MfS-Mitarbeitern angegeben Todesursache. Weder im Totenschein noch im kriminaltechnischen Bericht werden zum Beispiel. Hämatome, Einnässung oder eine konkrete Beurteilung der Strangmarke vorgetragen. Eine Sicherung von Materialien oder Spuren, beispielsweise Stoffresten am Hals oder am betreffenden Rohr, wurde nicht mal in Erwägung gezogen. Offensichtlich glaubten die eintreffenden Kriminaltechniker wie auch der den Tod feststellende Arzt ohne weitere Detailkenntnisse und Untersuchung, was ihnen die MfS-Mitarbeiter vortrugen. Undurchschaubare Zeitabläufe Die Dokumente der kriminaltechnischen Untersuchung, die gerichtsmedizinische Untersuchung des toten Matthias Domaschk sowie die Handlungen und Handlungsorte der Beteiligten stimmen in ihren zeitlichen Abläufen wie konkreten Handlungen nicht miteinander überein. Sie weisen im Gegenteil erhebliche Mängel sowie offenkundige Manipulationen auf. Um diese Widersprüche aufzuklären, reichte es der Arbeitsgruppe nicht, Strukturen, Verfahrensweisen und normative Vorgaben des MfS zu erschließen. Deshalb war die Suche nach aussagewilligen Zeugen ein zweiter wesentlicher Schritt, um Erkenntnisse über die Ereignisse in der Untersuchungshaftanstalt zu erlangen. Das gestaltete sich erwartungsgemäß schwierig. Neben den ermittelten Hauptverantwortlichen waren vor allem jene Personen von Interesse, die zwar nicht unmittelbar, aber durch ihre Aufgabe innerhalb oder außerhalb des MfS mit diesem „Fall“ zu tun hatten und/oder zumindest entscheidende Kenntnisse darüber haben konnten. Personalakten der damaligen MfS-Mitarbeiter, Dienstbücher sowie Protokolle von Dienstbesprechungen wurden ausfindig gemacht und ausgewertet. Die Personalakten sollten nicht nur den Werdegang, sondern vor allem die Glaubwürdigkeit der beteiligten MfS-Leute in ihren Aussagen gegenüber der Staatsanwaltschaft widerspiegeln. Die Dienstbücher und die Protokolle der Dienstbesprechungen waren für einen Abgleich dessen nützlich, was über die Vorgänge in der Untersuchungshaftanstalt innerhalb des MfS und außerhalb der so genannten Todesakte von Matthias Domaschk in den beteiligten Diensteinheiten des MfS kommuniziert wurde. Streit in den Reihen des MfS? Auffällig war dabei, dass sich dort nicht ein einziger Eintrag zu dem doch außergewöhnlichen Ereignis finden ließ. Das ist um so bemerkenswerter, da es gegenüber der Staatsanwaltschaft mindestens zwei Aussagen gab, die einen anderen Eindruck vermittelten. Danach sei es zu Auseinandersetzungen innerhalb der beteiligten Jenaer Diensteinheit gekommen. Zwei Beteiligte, der damalige Referatsleiter der verantwortlichen Diensteinheit, Peter Urbansky, Hauptmann der Abt. XX/4 der Kreisdienststelle (KD) Jena, und Roland Mähler, Leutnant, Vernehmer der Abt. XX/4 der KD Jena, rückten dabei ins Zentrum des Interesses. Der Referatsleiter und der Mitarbeiter "Operativ", beide an jenem Wochenende nicht im Dienst, mussten die Diensteinheit ein Jahr später verlassen. Es gab innerhalb der Einheit gegen Beide erhebliche dienstliche Beschwerden, ausgelöst vom letzten Vernehmer von Matthias Domaschk am 12. April 1981 in Gera, Horst-Henno Köhler, Hauptmann und stellvertretender Referatsleiter der Abt. XX/4 der KD Jena. Köhler arbeitete unter Peter Urbansky, Roland Mähler war Kollege. Mähler arbeitete zuletzt belastendes Material zur Person Matthias Domaschk heraus. Danach stand ein vermeintlicher Terrorverdacht im Raum durch angebliche Äußerungen von Matthias Domaschk über die italienische Terrorgruppe „Rote Brigaden“. Sie und ihre Methoden des politischen Kampfes soll er bei einem privaten Treffen mit anderen Personen als Vorbild bezeichnet und deren Handlungen befürwortet haben. Bewiesen war das nicht. Beteiligte des angeblichen Gesprächs widersprachen später dieser Darstellung vehement. Roland Mähler verließ das MfS 1982 freiwillig. Peter Urbansky wurde in eine andere Abteilung des MfS versetzt, wo er bis Ende 1989 unauffällig weiter seinen Dienst versah. Horst-Henno Köhler stieg dagegen 1983 parallel zu den vorgenannten Ereignissen zum Referatsleiter der Abteilung XX/4 der KD Jena auf und gehörte der so genannten Kaderreserve des MfS an. 1984 erfolgte seine Beförderung zum Major. Er ist bis heute diejenige Person, auf die sich der Verdacht einer direkten oder indirekten Mitwirkung am Tod von Matthias Domaschk richtet. 1985 wechselte er zur Hauptabteilung XX des MfS in Ost-Berlin als Offizier für Sonderaufgaben. 1987 wurde er dort erneut Referatsleiter. Nach den Ereignissen im April 1981 erhielt er mehrere Geldprämien und Auszeichnungen für seine langjährige MfS-Zugehörigkeit sowie seine vorbildliche Arbeit „bei der Bekämpfung des Klassenfeindes“. Peter Urbansky und Roland Mähler hätten mehr über die Vorgänge erzählen können. Sie können oder wollen es bis heute nicht. Keine interne Untersuchung? Eine interne Untersuchung des MfS über die Vorgänge in der Untersuchungshaftanstalt Gera scheint es nicht gegeben zu haben. Wenn doch, wurden die Dokumente vermutlich vernichtet. Zu vermuten ist das, weil die internen Auseinandersetzungen über das „Vorkommnis“ belegt sind und die überlieferte MfS-Todesakte untypisch gering in ihrem Umfang ausfällt. 2018 entschloss sich die Arbeitsgruppe, die Dokumente der kriminaltechnischen Untersuchung, zur Pathologie und den Totenschein anhand der überlieferten Fotos noch einmal fachlich prüfen zu lassen. Dafür konnte der renommierte Pathologe der Berliner Charité, Prof. Michael Tsokos, gewonnen werden. Anhand der ihm vorliegenden Dokumente des MfS sollte er eine unabhängige Begutachtung und Einschätzung vornehmen. In seinem Schreiben vom 18. Mai 2018 kam er zu dem Ergebnis: „Zusammenfassend ergeben sich aus rechtsmedizinischer Sicht an der Todesursache Erhängen einige Zweifel. Als weiterer todesursächlicher Mechanismus kommt eine andere Form der Strangulation in Betracht, nämlich ein Erdrosseln von hinten. Ausweislich der fotografischen Befunde fand sich eine Strangmarke (Drosselmarke?) an der Halsvorderseite, die leicht zum Nacken hin anstieg und sich dort verlor. Eine solche Strangmarke kann ebenso bei einem Erdrosseln (auch hierfür würde der zusammengedrehte Hemdsärmel in Betracht kommen) entstehen, wenn nämlich der Täter (der Drosselnde) hinter dem Opfer (dem Gedrosselten) steht und der Gedrosselte sich in sitzender Position mit dem Rücken zur Körpervorderseite des Drosselnden befindet. Einen ähnlichen Fall kenne ich aus meiner eigenen praktischen Erfahrung als Sachverständiger vor Gericht." Freilich beantwortet auch diese Einlassung nicht, wie die konkreten Umstände, also der konkrete Hergang, der schließlich zum Tod von Matthias Domaschk führte, aussah. Diese Beurteilung zeigt aber auf, dass nach genauer Prüfung der überlieferten Dokumente, selbst nach so vielen Jahren, eine andere als die vom MfS vorgetragene Behauptung vom Suizid in den Raum gestellt werden kann. Ramelow: "DDR war kein Rechtsstaat" Bei der Vorstellung des Abschlussberichts der Arbeitsgruppe erklärte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow 2019: „Heute kann man sagen, wir haben Zeitzeugengespräche geführt mit Menschen, wo wir nicht dachten, dass sie sich melden. […] Wir näherten uns immer mehr ein Stück weit der Erkenntnis, dass der Verdacht, den sie immer geäußert haben, liebe Frau Ellmenreich, dass es sich nicht um einen Selbstmord handelt, dass es nicht einfach nur ein Verdacht ist, sondern dass es stimmt. Und ich denke, dass das, was heute hier vorgelegt wird, auch dokumentiert, dass das nicht stimmen kann. Aber es bleibt dabei, der letzte Beweis ist uns nicht gelungen. Wir hätten ihn gerne bewiesen, wir hätten ihn gern belegt. Ich kann heute nur danke sagen. Sie haben mich mitgenommen auf eine Zeitreise, in eine Welt, die ich als Außenstehender immer nur literarisch betrachten kann. Sie haben mich in eine sehr praktische, menschliche, lebensmenschliche Reise mitgenommen, bei der deutlich wird, die DDR war kein Rechtsstaat. Der Tod von Matthias Domaschk ist einer, der für viele steht, bei dem der Machterhalt über allem anderen gestanden hat. Und deshalb darf man keine romantische Betrachtung auf die DDR haben, sondern man muss sich daran messen, dass das, was wir an Taten zu bewerten haben, der Maßstab ist.“ Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (l.) neben Renate Ellmenreich und Peter Rösch 2017 (© Pietzsch) Diesen Aussagen von Bodo Ramelow kann man aus meiner Sicht nur folgen. In der Tat wurde nach vier Jahren erneuter Arbeit klar, dass zwar etliche „Ungereimtheiten“ in den MfS-Dokumenten weitgehend aufgeklärt werden konnten. Nicht geklärt werden konnte dagegen der exakte Ablauf der letzten Stunden von Matthias Domaschk, auch weil relevante Zeitzeugen nicht befragt werden konnten oder wollten. Renate Ellmenreich und die gemeinsame Tochter, Julia, fordern bis heute von den ehemaligen MfS-Mitarbeitern, insbesondere vom ehemaligen MfS-Hauptmann Horst- Henno Köhler, Aufklärung darüber, wie und unter welchen konkreten Umständen Matthias Domaschk zu Tode kam. Die Anzeige gegen Unbekannt wegen des Verdachtes auf Mord wurde noch im Jahr 1989 vom Vater gestellt. Die bis 1993 andauernden staatsanwaltlichen Untersuchungen verliefen unter keinem glücklichen Stern. Zunächst wurde das Verfahren von zwei Staatsanwälten in Gera durchgeführt, die dort bereits in der DDR als Staatsanwälte tätig waren. Danach wurde das Verfahren an die Staatsanwaltschaft Erfurt abgegeben. Diese kam ohne rechtliche Bewertung zu dem Ergebnis: „Natürlich war Matthias Domaschk das Opfer der damals in der DDR Herrschenden, er war das Opfer der Machenschaften des MfS. Streng hiervon zu trennen ist jedoch die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, die aus heutiger rechtsstaatlicher Sicht nicht nachgewiesen werden konnte, weshalb das Ermittlungsverfahren einzustellen war.“ So hieß es 1994. 15 Jahre später konnte die eingesetzte Arbeitsgruppe immerhin anhand ihrer Untersuchung belegen, dass die Dokumente des MfS den Tathergang zweifelsfrei nicht richtig wiedergaben. Weitere Erkenntnisse haben sich seitdem leider nicht mehr ergeben. Am 7. Januar 1992 wurde, nur wenige Tage nach der gesetzlichen Öffnung der Stasi-Personenakten, von der ehemaligen DDR-Bürgerbewegung ein weiteres Archiv vorgestellt, das seitdem das Studium von Stasiakten ermöglicht, das "Matthias Domaschk Archiv" der Robert-Havemann Gesellschaft. Hervorgegangen ist das Archiv aus der von der DDR-Opposition 1986 in zwei Kellerräumen der Zionskirche gegründeten "Umweltbibliothek". Zusammen mit ihr zog das Archiv zunächst in vier Räume in der Schliemannstraße im Prenzlauer Berg, heute befindet es sich in der Lichtenberger Normannenstraße. Das Archiv trägt bewusst den Namen von Matthias Domaschk, um an den ehemaligen Mitakteur der Jenenser Friedensbewegung zu erinnern, der 1981 unter bisher ungeklärten Umständen in Stasi-U-Haft ums Leben kam. (© picture-alliance/dpa, Klaus Franke) Ein Symbol für den Unrechtsstaat Nach außen ist Matthias Domaschk längst ein Symbol für das Unrecht im SED-Staat geworden. Ein Unrecht, das jeden treffen konnte. Symbolisch hat die Robert-Havemann-Gesellschaft ihre Bibliothek "Matthias-Domaschk-Archiv" genannt und auch das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte "Matthias Domaschk" trägt seinen Namen. Filmberichte und Bücher haben sich mit seinem Schicksal befasst, immer wieder fragend, wie die Quellen, die Erinnerungen an ihn und die Ergebnisse der Staatsanwaltschaften zwischen 1989 und 1994 einzuordnen und einzuschätzen sind. Darüber hinaus wird spekuliert, ob Matthias Domaschk eine Art Märtyrer war. Oder war er schlicht ein „ganz normaler Jugendlicher“, so, wie Hunderte andere Jugendliche insbesondere in Jena auch? War ihm ein Suizid überhaupt zuzutrauen? Womöglich als „Rache“ gegen die handelnden MfS-Mitarbeiter? Aus Verzweiflung und Ohnmacht gegenüber dem repressiven Staat? Aus Frust, sich eine Verpflichtungserklärung abgepresst haben zu lassen? Diese und viele weitere Fragen können bis heute nur ambivalent beantwortet werden. Am ehesten nähern sich jene Beschreibungen dem Menschen Matthias Domaschk an, die aufzeigen, welche Bedeutung er als Mensch für andere Jugendliche in dieser Zeit hatte. Sie beleuchten sein Herkommen, sein politisches Engagement, seine Verzweiflung und Wut und sein konsequentes Handeln. Vor allem aber zeigen sie die Folgen seines frühen Todes auf. Matthias Domaschk war Freund, junger Vater, politisch interessiert und engagiert, in manchen Momenten sicher auch hoffnungslos und dann auch wieder sehr mutig, wenn er konspirative Aktionen selbst unternahm oder sich daran beteiligte. Er war fürsorglich gegenüber seinen Mitmenschen, oft lustig und zutiefst poetisch, wissensdurstig. Er war ein rebellischer Geist und Zweifler, ein Mensch, der in seiner Zeit lebte und sich in Gefahr brachte, in Gefahr gebracht wurde durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer Diktatur. Sein Tod wurde so zur „Keimzelle“ von neuerlichem Engagement vieler Jugendlicher auf ihrem Weg in die Opposition gegenüber dem SED-Staat. Peter Rösch, sein Freund und Mitinhaftierter, verstarb am 17. Mai 2017. Er erlebte den Abschluss der Recherchen der Arbeitsgruppe nicht mehr. Als Freund von Matthias Domaschk hatte er nicht nur einen sehr großen Anteil an der Prägung einer potentiellen Opposition in Jena, als Betroffener hoffte er bis zum Schluss, dass die Todesumstände seines Freundes aufgeklärt werden könnten. Hass oder gar Rachegefühle gegen die Verantwortlichen im ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit in der DDR hatte er dabei nie. Wichtig war und blieb ihm die Vergewisserung darüber, wie und warum sein Freund Matthias Domaschk starb. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (l.) neben Renate Ellmenreich und Peter Rösch 2017 (© Pietzsch) Am 7. Januar 1992 wurde, nur wenige Tage nach der gesetzlichen Öffnung der Stasi-Personenakten, von der ehemaligen DDR-Bürgerbewegung ein weiteres Archiv vorgestellt, das seitdem das Studium von Stasiakten ermöglicht, das "Matthias Domaschk Archiv" der Robert-Havemann Gesellschaft. Hervorgegangen ist das Archiv aus der von der DDR-Opposition 1986 in zwei Kellerräumen der Zionskirche gegründeten "Umweltbibliothek". Zusammen mit ihr zog das Archiv zunächst in vier Räume in der Schliemannstraße im Prenzlauer Berg, heute befindet es sich in der Lichtenberger Normannenstraße. Das Archiv trägt bewusst den Namen von Matthias Domaschk, um an den ehemaligen Mitakteur der Jenenser Friedensbewegung zu erinnern, der 1981 unter bisher ungeklärten Umständen in Stasi-U-Haft ums Leben kam. (© picture-alliance/dpa, Klaus Franke) Was bleibt, ist die Gesamtschuld eines politischen Systems Am Mittag des 11. April 2021 begingen Freunde und Familienangehörige ein stilles Gedenken auf dem Jenaer Nordfriedhof. Und am 12. April, also 40 Jahre nach Matthias Domaschks Tod, veröffentlichte die Thüringer Gedenkstätte Andreasstraße einen Externer Link: Podcast über Matthias Domaschk, zu Wort kommt darin auch Thüringens Ministerpräsident Ramelow, der Renate Ellmenreich zugleich ein persönliches Schreiben schickte: Quellentext"Schreiendes Unrecht" - Ein Brief von Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow an Renate Ellmenreich vom 31. März 2021 Der Wortlaut: Liebe Frau Ellmenreich, die Mitteilung des Staatsicherheitsdienstes der DDR, dass sich Matthias Domaschk am 12. April 1981 in der Untersuchungshaft in Gera umgebracht haben soll, war für alle, die ihn kannten und machten, unfassbar. Zweifel an der Version seines Seibstmords bestanden von Anfang an und haben sich über die lange Zeit bis heute erhärtet. Der Brief Bodo Ramelows vom 31.3.2011 zum Fall Domaschk an Renate Ellmenreich Fest steht, Matthias Domaschk ist schreiendes Unrecht geschehen. Schreiendes Unrecht durch die SED-Diktatur, die nicht zuließ, dass sich junge Menschen von Brill und Gängelei des „Systems DDR“ frei machen wollten. Die Menschen für ihre Unangepasstheit, ihren Ungehorsam und Widerstand einen hohen Preis zahlen ließen. Im Fall von Matthias Domaschk war der Preis sein Leben. Sie und Ihre gemeinsame Tochter Julia, Angehörige und Freunde mussten seitdem mit der quälenden Ungewissheit zu den letzten Stunden von Matthias Domaschk und der Frage nach dem Warum seines sinnlosen Todes leben lernen. Dass mehr gegen als für einen Selbstmord spricht, hat die Arbeitsgruppe zum Tod von Matthias Domaschk, zu deren Einrichtung im März 2015 Ihr offener Brief den Anstoß gab, im Juni 2017 festgestellt. Jedoch hat sie bis heute nicht geschafft, die Mauer des Schweigens von Mitwissern, Mittätern und Tätern zu durchbrechen. Was am 12. April 1981 mit Matthias Domaschk tatsächlich geschah, wissen nur die beteiligten MfS-Offiziere, die darüber schweigen. Weil Tochter, Lebenspartnerin und Freunde ein Recht darauf haben zu wissen, was tatsächlich geschehen ist, geht die Aufarbeitung des Lebens und Todes von Matthias Domaschk weiter. Es ist wichtig, dass junge Menschen wissen, welche furchtbaren Folgen die Willkür eines allmächtigen Sicherheitsapparates haben kann und sie lernen, dass der Tod das Ergebnis eines gegen junge Menschen mit eigener Lebenskultur agierenden repressiven Staates sein kann. Deshalb tragen in Jena eine Straße, ein Hörsaal der Friedrich-SchilIer-Univer— sität und das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte den Namen von Matthias Domaschk. Deshalb wurden die aktuellen Untersuchungsergebnisse der Arbeitsgruppe in der Publikation von Dr. Henning Pietzsch und dem Dokumentarfilm von Tom Franke „Matthias Domaschk 2.0 — Suizid oder Mord in U-Haft 89?" im August 2019 veröffentlicht. Deshalb führt Peter Wensierski derzeit Interviews für sein Buch über das Leben und den Tod von Matthias Domaschk. Deshalb erinnert die jüngste Episode des Externer Link: Podcasts „Horchpost DDR“ an Matthias Domaschk. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte soll insbesondere junge Menschen zum Nachdenken über die DDR anregen und bei ihnen die Herausbildung demokratischer Werte befördern. Ich habe die Hoffnung, dass ihr Engagement und ihre Fragen bewirken, dass sich Menschen dem Gespräch nicht länger verweigern können, die am „System DDR“ beteiligt waren, und somit die Mauer des Schweigens auch im Fall Matthias Domaschk doch noch durchbrochen werden kann. Die gemeinsame inhaltliche Arbeit von Betroffenen, zivilgesellschaftlichen Akteuren und Regierungsstellen zur Aufarbeitung der ungeklärten Todesumstände von Matthias Domaschk haben zu einer den mitmenschlichen Umgang in unserer Gesellschaft bereichernden Form einer anderen Kultur des Vertrauens geführt. Dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen, fühle ich mich als Ministerpräsident verpflichtet. Das Gedenken an den Tod von Matthias Domaschk vor 40 Jahren steht für die Erinnerung an die DDR und die Bewertung ihrer politischen Ordnung und gesellschaftlichen Lebensverhältnisse. Es ist wichtiger Teil einer lebendigen Demokratiearbeit, das einem wesentlich durch Stasi-Akten und öffentliche Verdrängung mitgeprägten Bild der Lebenswirklichkeit in der DDR deutlich entgegen tritt. Herzlichst Ihr Bodo Ramelow Quelle: Henning Pietzsch, "Interner Link: Vor 40 Jahren - Matthias Domaschk - das abrupte Ende eines ungelebten Lebens", Deutschland Archiv vom 12.4.2021 Interner Link: Downloaden 2023 wäre "Matz" 66 Jahre alt geworden und wäre jetzt im Ruhestand. Wir wissen nicht, wie er sein Leben gelebt hätte. Was wir aber wissen, ist, dass sein Leben im Alter von 23 Jahren abrupt endete in den Händen des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Unabhängig von der möglichen Einzelschuld der beteiligten MfS-Mitarbeiter am Tod Matthias Domaschks bleibt die Gesamtschuld eines politischen Systems. Ein System, das seine Bürger im Namen einer heilsversprechenden Ideologie mit den Machttechniken und Machtmitteln einer autokratischen Diktatur einsperrte, bevormundete und, wo „nötig“, mit Repressionen überzog, oft genug politisch-willkürlich organisiert und motiviert. Feind war, wer anders denkt! Wer anders leben wollte, galt als "feindlich-negativ" und war Staatsfeind. All jene, die sich dem politischen System anpassten beziehungsweise anpassen konnten, lebten in einer heilen Welt der Diktatur. Der Wortlaut: Liebe Frau Ellmenreich, die Mitteilung des Staatsicherheitsdienstes der DDR, dass sich Matthias Domaschk am 12. April 1981 in der Untersuchungshaft in Gera umgebracht haben soll, war für alle, die ihn kannten und machten, unfassbar. Zweifel an der Version seines Seibstmords bestanden von Anfang an und haben sich über die lange Zeit bis heute erhärtet. Der Brief Bodo Ramelows vom 31.3.2011 zum Fall Domaschk an Renate Ellmenreich Fest steht, Matthias Domaschk ist schreiendes Unrecht geschehen. Schreiendes Unrecht durch die SED-Diktatur, die nicht zuließ, dass sich junge Menschen von Brill und Gängelei des „Systems DDR“ frei machen wollten. Die Menschen für ihre Unangepasstheit, ihren Ungehorsam und Widerstand einen hohen Preis zahlen ließen. Im Fall von Matthias Domaschk war der Preis sein Leben. Sie und Ihre gemeinsame Tochter Julia, Angehörige und Freunde mussten seitdem mit der quälenden Ungewissheit zu den letzten Stunden von Matthias Domaschk und der Frage nach dem Warum seines sinnlosen Todes leben lernen. Dass mehr gegen als für einen Selbstmord spricht, hat die Arbeitsgruppe zum Tod von Matthias Domaschk, zu deren Einrichtung im März 2015 Ihr offener Brief den Anstoß gab, im Juni 2017 festgestellt. Jedoch hat sie bis heute nicht geschafft, die Mauer des Schweigens von Mitwissern, Mittätern und Tätern zu durchbrechen. Was am 12. April 1981 mit Matthias Domaschk tatsächlich geschah, wissen nur die beteiligten MfS-Offiziere, die darüber schweigen. Weil Tochter, Lebenspartnerin und Freunde ein Recht darauf haben zu wissen, was tatsächlich geschehen ist, geht die Aufarbeitung des Lebens und Todes von Matthias Domaschk weiter. Es ist wichtig, dass junge Menschen wissen, welche furchtbaren Folgen die Willkür eines allmächtigen Sicherheitsapparates haben kann und sie lernen, dass der Tod das Ergebnis eines gegen junge Menschen mit eigener Lebenskultur agierenden repressiven Staates sein kann. Deshalb tragen in Jena eine Straße, ein Hörsaal der Friedrich-SchilIer-Univer— sität und das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte den Namen von Matthias Domaschk. Deshalb wurden die aktuellen Untersuchungsergebnisse der Arbeitsgruppe in der Publikation von Dr. Henning Pietzsch und dem Dokumentarfilm von Tom Franke „Matthias Domaschk 2.0 — Suizid oder Mord in U-Haft 89?" im August 2019 veröffentlicht. Deshalb führt Peter Wensierski derzeit Interviews für sein Buch über das Leben und den Tod von Matthias Domaschk. Deshalb erinnert die jüngste Episode des Externer Link: Podcasts „Horchpost DDR“ an Matthias Domaschk. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte soll insbesondere junge Menschen zum Nachdenken über die DDR anregen und bei ihnen die Herausbildung demokratischer Werte befördern. Ich habe die Hoffnung, dass ihr Engagement und ihre Fragen bewirken, dass sich Menschen dem Gespräch nicht länger verweigern können, die am „System DDR“ beteiligt waren, und somit die Mauer des Schweigens auch im Fall Matthias Domaschk doch noch durchbrochen werden kann. Die gemeinsame inhaltliche Arbeit von Betroffenen, zivilgesellschaftlichen Akteuren und Regierungsstellen zur Aufarbeitung der ungeklärten Todesumstände von Matthias Domaschk haben zu einer den mitmenschlichen Umgang in unserer Gesellschaft bereichernden Form einer anderen Kultur des Vertrauens geführt. Dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen, fühle ich mich als Ministerpräsident verpflichtet. Das Gedenken an den Tod von Matthias Domaschk vor 40 Jahren steht für die Erinnerung an die DDR und die Bewertung ihrer politischen Ordnung und gesellschaftlichen Lebensverhältnisse. Es ist wichtiger Teil einer lebendigen Demokratiearbeit, das einem wesentlich durch Stasi-Akten und öffentliche Verdrängung mitgeprägten Bild der Lebenswirklichkeit in der DDR deutlich entgegen tritt. Herzlichst Ihr Bodo Ramelow Quelle: Henning Pietzsch, "Interner Link: Vor 40 Jahren - Matthias Domaschk - das abrupte Ende eines ungelebten Lebens", Deutschland Archiv vom 12.4.2021 Interner Link: Downloaden Der Brief Bodo Ramelows vom 31.3.2011 zum Fall Domaschk an Renate Ellmenreich Literatur - Peter Wensierski, "Jena-Paradies - Die letzte Reise des Matthias Domaschk", Berlin 2023 - Aktion Gegenschlag. BStU-Außenstelle Gera, Berlin/Gera 2013. - Die "andere" Geschichte, So besteht nun in der Freiheit zu der uns Christus berufen hat..., Autorenkollektiv, Matthias-Domaschk-Archiv Jena im Verein Künstler für Andere, Erfurt 1993. - Julia Batz/Martin Olaf Klause, Matthias Domaschk. Gedenkstätte Amthordurchgang e.V., Gera 2012. - Renate Ellmenreich, Die Geschichte eines politischen Verbrechens in der DDR und die Schwierigkeiten, dasselbe aufzuklären, 2. Aufl., Erfurt 1998. - Jürgen Fuchs, Magdalena, Berlin 1998. - Antje Hirsch, Jugendopposition. Kirche und Legitimationsverfall der SED, Göttingen 1997. - Gerold Hildebrand, Politisches Tötungsverbrechen an Matthias Domaschk als Bagatelle. Geldstrafen für MfS-Offiziere wegen Freiheitsberaubung, in: Horch und Guck, Heft 30, Berlin 2000. - Idea-Dokumentation 15/96, Meister. Die MfS-Vorlaufakte des Thüringer Landesbischofs Werner Leich im Spiegel seiner Vermerke, idea.e.V. (Hg.), Wetzlar 1996. - Walter Jahn, Du bist wie Gift. Erinnerungen eines Vaters, Erfurt 1996. - Freya Klier, Matthias Domaschk und der Jenaer Widerstand, Berlin 2007. - Katharina Lenski, Im Schweigekreis. Der Tod von Matthias Domaschk zwischen strafrechtlicher Aufarbeitung und offenen Fragen, in: Jörg Ganzenmüller (Hg.), Recht und Gerechtigkeit. Die strafrechtliche Aufarbeitung von Diktaturen in Europa, Köln/Weimar/Wien 2017. - Matthias Domaschk. Horch und Guck, Sonderheft I, Berlin 2003. - Matthias Domaschk, Sonderheft der Zeitschrift „Gerbergasse 18“ 2019, Geschichtswerkstatt Jena (Hg.). - Björn Mensing/ Heinrich Radtke (Hg.), Widerstehen. Wirkungsgeschichte und aktuelle Bedeutung christlicher Märtyrer, Leipzig 2002. - Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, 2. Aufl., Bonn 1998. - Siegfried Reiprich, Der verhinderte Dialog, 2. erw. Auflage, Robert Havemann-Gesellschaft, Berlin: Robert Havemann-Gesellschaft 2001. - Ulrich Schacht, Hohenecker Protokolle. Zeitzeugengespräch mit Kerstin Hergert, Zürich 1984. - Udo Scheer, Vision und Wirklichkeit, Berlin 1999. - Henning Pietzsch, Jugend zwischen Kirche und Staat, Weimar 2005. - Henning Pietzsch, Matthias Domaschk 2.0. Suizid oder Mord in Stasi-Haft 81?, Landeszentrale für politische Bildung Thüringen (Hg.), Erfurt 2019. - Jochen Wich/Martin Morgner, Das verlorene Leben des Matthias D., Musiktheaterstück, 2016. Zitierweise: Henning Pietzsch, "Matthias Domaschk - das abrupte Ende eines ungelebten Lebens“, in: Deutschland Archiv, erstveröffentlicht am 12.04.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/330728. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Mehr Informationen über das MfS: - Stasi-Dossier der bpb Interner Link: www.bpb.de/stasi - Externer Link: Aktensammlung des Stasiarchivs im Bundesarchiv zum Fall Domaschk - Interner Link: Wie Stasihaft aushalten? Ein Fallbeispiel aus Potsdam. Deutschland Archiv vom 9.4.2021 - Website Externer Link: www.jugendopposition.de der Robert-Havemann-Gesellschaft - Eine Interner Link: Spurensuche der Redaktion Kontraste aus der ARD zum Fall Domaschk aus dem Jahr 1993 Peter Rösch (* 15. Oktober 1953; † 17. Mai 2017) war ein DDR-Bürgerrechtler. Maßgeblich war er in den Jahren 1973 bis 1982 an Aktionen und DDR-weiten Vernetzungen der „Offenen Arbeit“ der Jungen Gemeinde Jena-Stadtmitte beteiligt. Quelle: BStU, MfS_BV-Gera_AP_Nr-1097-81_Bl-012 Freistaat Thüringen, Staatsanwaltschaft Erfurt, Aktenbestand 6-83-0414, Signatur 4212-4232, 8464, 9823. Vollständige Aktensammlung der Haupt-, Neben- und Beiakten der Staatsanwaltschaften Gera und Erfurt zum Fall Matthias Domaschk. Renate Ellmenreich (geb. Groß, * 28. April 1950), nach ihrem Theologiestudium in Berlin Tätigkeit als Katechetin in Jena-Neulobeda. Hier lernt sie Matthias Domaschk kennen. Sie ist Mutter der gemeinsamen Tochter Julia. Zum Zeitpunkt des Todes von Domaschk war sie bereits in die Bundesrepublik ausgereist (1980) und als Pfarrerin in Frankfurt/Main tätig. Seit den 1990er-Jahren bemüht sich Ellmenreich um die Aufklärung der Todesumstände von Domaschk. Der Arbeitsgruppe gehörten Renate Ellmenreich als Betroffene, Peter Rösch † 2017 als damals Mitinhaftierter (2017 verstorben), Wolfgang Loukidis als Rechtsanwalt und der Autor in seiner Funktion als Historiker an. Das Ergebnis waren zwei Veröffentlichungen: Henning Pietzsch,: Matthias Domaschk 2.0, Suizid oder Mord in Stasi-Haft 81, Thüringer Landeszentrale für politische Bildung, Erfurt 2019, ISBN: 978-3-946939-71-9; Gerbergasse 18, Sonderheft „Matthias Domaschk“, Jena 2019, ISSSN 1431-1607. Walter Schilling (* 28. Februar 1930; † 29. Januar 2013 in Saalfeld), war ein deutscher evangelisch-lutherischer Pfarrer und Repräsentant der Kirche von Unten. Tod im Stasiknast. Warum starb Matthias Domaschk? ©, 2005, Erstausstrahlung am 02.10.2005 / ARD, https://armadafilm.de/tod-im-stasiknast/, zuletzt aufgerufen am 20.3.2021 Matthias Domaschk 2.0 - Suizid oder Mord in Stasi-Haft 81,. https://www.youtube.com/watch?v=E4jQadB2hew, zuletzt aufgerufen am 21.3.2021. Roland Jahn (* 14. Juli 1953), deutscher Journalist und Leiter der Stasiunterlagenbehörde BStU. Als Dissident, SED-Gegner und Bürgerrechtler gehörte er in der DDR zur Jenaer Opposition. DVD "Tod im Stasiknast. Warum starb Matthias Domaschk 2.0", Armadafilm & Stiftung Aufarbeitung 2019. Vgl. Henning Pietzsch, Jugend zwischen Kirche und Staat. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit in Jena 1970-1989, Böhlau Verlag Köln/ Weimar/ Wien 2005; Matthias Domaschk: Sonderheft der Zeitschrift „Gerbergasse 18“ 2019, Hg. Geschichtswerkstatt Jena (Hg.). Sonderheft 1/2003 - Matthias Domaschk, iIn: Zeitschrift „Horchk & Guck“, Hg.: Bürgerkomitee 15. Januar Berlin (Hg.). Vgl. Henning Pietzsch,: Matthias Domaschk 2.0. Suizid oder Mord in Stasi-Haft 81?, Hg. Landeszentrale für politische Bildung Thüringen (Hg.), Erfurt 2019. Michael Tsokos ist ein deutscher Rechtsmediziner und Professor an der Charité in Berlin. Er leitet seit 2007 das Institut für Rechtsmedizin der Charité und gleichzeitig das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin-Moabit. Bodo Ramelow (* 16. Februar 1956), Politiker (Die Linke). Seit dem 5. Dezember 2014 Ministerpräsident des Freistaates Thüringen. Rede des Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen Bodo Ramelow am 13. August 2019 über die Ergebnisse der Arbeitsgruppe "Tod von Matthias Domaschk". Das Sonderheft für Matthias Domaschk ist bei der Geschichtswerkstatt Jena erhältlich,. http://www.geschichtswerkstatt-jena.de/; https://www.facebook.com/geschichtswerkstatt.jena/videos/vb.207593082733261/793582167776820/?type=2&theater, beide zuletzt aufgerufen am 21.3.2021 Staatsanwaltschaft Erfurt, Aktenbestand 6-83-0414, Signatur 4212-4232, 8464, 9823. Vgl. auch Björn Mensing/ Heinrich Radtke (Hg.), Widerstehen. Wirkungsgeschichte und aktuelle Bedeutung christlicher Märtyrer,. Leipzig 2002. Renate Ellmenreich, Die Geschichte eines politischen Verbrechens in der DDR und die Schwierigkeiten, dasselbe aufzuklären, 2. Aufl., Erfurt 1998; Freya Klier, Matthias Domaschk und der Jenaer Widerstand, Berlin 2007. Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Berlin 1998.
Article
Henning Pietzsch
"2023-06-13T00:00:00"
"2021-04-01T00:00:00"
"2023-06-13T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/330728/matthias-domaschk-das-abrupte-ende-eines-ungelebten-lebens/
Matthias Domaschk wäre in diesen Tagen 66 geworden. Er wurde am 12. Juni 1957 in Görlitz geboren. Er starb am 12. April 1981 im Alter von 23 Jahren in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Gera.
[ "Stasi", "Gera", "Jena", "Domaschk", "Selbstmord", "Stasi-Haft", "MfS", "DDR" ]
30,302
M 01.09 Karikatur: Geschichte zum Einsturz bringen | 8. Mai 1945 - erinnern heute | bpb.de
Karikatur von Murschetz. (ZEIT)
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-10-30T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/ende-des-zweiten-weltkriegs/171323/m-01-09-karikatur-geschichte-zum-einsturz-bringen/
Eine Karikatur, welche die Bestrebungen der NPD zeigt, die Erinnerung an den Holocaust zu untergraben.
[ "GrafStat 8. Mai 1945 - erinnern heute" ]
30,303
Der Deutsche Fußball-Bund hebt das Frauenfußballverbot auf | Die graue Spielzeit | bpb.de
Der Druck auf den Deutschen Fußball-Bund wächst. Die Frauen überlegen ernsthaft, einen eigenen Verband zu gründen, abseits des DFB. Das bestätigt auch die langjährige Spitzenspielerin der TuS Wörrstadt Bärbel Wohlleben: "Der DFB hatte lange geschlafen und wollte partout nicht über seinen Schatten springen und das offiziell einfach nicht zulassen, und als der DFB gemerkt hat, dass sich da Vereine in Deutschland selbständig machen wollten, wollten einen eigenen Verband gründen, wurden die wach und haben gesagt, bevor die in eine andere Richtung tanzen, dann holen wir die doch rüber". (Bärbel Wohlleben, Interview 2007). Im März 1970 befasst sich der DFB-Beirat mit dem Thema und erklärt in einer unveröffentlichten Resolution: "Auf Grund der eingetretenen Entwicklungen und als Ergebnis seiner Beratungen vom 21.3.1970 hält es der DFB-Beirat für erforderlich, daß der Deutsche Fußball-Bund seine bisherige ablehnende Einstellung gegenüber dem Frauenfußball aufgibt". (Ratzeburg, Biese 1995. Frauen Fußball Meisterschaften... S.12) Am 31. Oktober 1970 schließlich beschließt der DFB-Bundestag in Travemünde mit zwei Gegenstimmen: "Der im Jahre 1955 gefaßte Beschluß, Spiele von Damenfußball nicht zu gestatten, wird aufgehoben. Der DFB-Vorstand wird beauftragt, die erforderlichen Richtlinien zur Durchführung von Damenfußballspielen aufzustellen und deren Annahme zu empfehlen." Gegen eine vollkommene Gleichberechtigung auf dem Platz setzen die Verbandsfunktionäre zunächst jedoch ein besonderes Regelwerk. Die Frauen müssen mit einem Jugendball spielen, Stollenschuhe sind verboten und die Spielzeit wird auf 2 x 30 Minuten begrenzt. "Das waren eigentlich alles Regeln, die uns mehr behindert als gefördert haben", erklärt Monika Koch-Emsermann, langjährige Spielerin und Trainerin beim FSV Frankfurt. (Monika Koch- Emsermann, Interview 1997) Die Herausgeberin von Dieda, der ersten Frauenfußball-Zeitschrift Deutschlands und ehemalige Chefin des FF-Magazins erinnert sich auch an eine "riesengroße Diskussion um einen Brustpanzer", einen verstärkten BH, den sich ein findiger Geschäftsmann für die Kickerinnen ausgedacht und als Patent angemeldet hatte. Doch der geschäftstüchtige Kaufmann kann mit seiner Erfindung weder bei den Fußballerinnen selbst noch beim DFB und seinen sportärztlichen Beraterinnen landen. Der "Brustpanzer" ist noch vor der Marktreife ein Auslaufmodell. Die "Bild-Zeitung" rät dennoch: "Fußball ist gesund, aber Steckt Watte in den BH!" Das Boulevardblatt zitiert im November 1970 den Schweizer Professor Gottfried Schönholzer, Vorsitzender der FIFA-Ärztekommission: "Es gibt keine oder nur unwesentliche Argumente gegen den Frauen-Fußball ... Frauen sind zumeist beweglicher und leichter gebaut. Wenn sie mit mehr Technik spielen, ist der Fußball auch für sie ungefährlich... Die Brust ist beim Frauen-Fußball mehr störend als gefährdet. Ich würde den Damen einen dicken wattierten Büstenhalter empfehlen." Des weiteren meint der Schweizer Mediziner, Frauenfußball habe wenig Aussicht, eine echte Mannschaftssportart zu werden, denn "Frauen haben keine so große Antenne für den Teamgeist wie Männer. Ihr Kameradschaftsgeist ist nicht so ausgeprägt..." (BILD, 4.11.1970) Von der Stadtliga zur ersten Deutsche Frauenfußball-Meisterschaft Wenn auch im März 1971 bereits 28 Frauen-Teams in Hamburg in einer Stadtliga spielen, so hält sich der DFB mit der Förderung und Entwicklung eines bundesweiten Frauenfußball-Spielbetriebes sehr zurück. Wenig Gefallen findet Frauenfußball in weiten Kreisen des Fachpublikums. Der damalige Bundestrainer Helmut Schön findet Frauenfußball "nicht gerade ästhetisch" und urteilt im Kölner Boulevardblatt "Express" ganz im Geiste der 50er Jahre: "Die Frau ist von der Natur her nicht für diesen Sport geeignet." Der ehemalige "Bomber der Nation" Gerd Müller meint, dass Frauen lieber kochen statt kicken sollen und der Berliner Hertha-Star Uwe Witt verkündet in der Bild-Zeitung: "Wenn meine Frau spielt: Scheidung!" (BILD, 4.11.1970) Im rheinhessischen Wörrstadt, unweit von Mainz, wird Philipp "Fips" Scheid mit einer erstklassigen Elf Anfang der 70er Jahre zur treibenden Kraft im deutschen Frauenfußball. Gemeinsam mit dem Südwest-Konkurrenten Bad Neuenahr, den Frankfurterinnen von "Oberst Schiel" und den Frauen vom FC Bayern München engagieren sich die Wörrstädter für eine Deutsche Frauenfußball-Meisterschaft. Doch das geht der Frankfurter DFB-Zentrale alles viel zu schnell. Als Fips Scheid ein bundesweites Turnier unter dem Namen "Deutschlandpokal" organisieren will, legt sich die DFB-Spitze mit Präsident Hermann Neuberger und Generalsekretär Horst Schmidt quer. "Als ich dann mit der Bildzeitung gedroht habe", erklärt Fips Scheid, "dass die eine große Überschrift auf der ersten Seite bringen: DFB verbietet Fußballspielen für die Damen, da hat dann Horst Schmidt doch eingelenkt und da haben wir uns dann geeinigt auf den Namen Goldpokal." (Fips Scheid, Interview 2005) Das attraktive Turnier wird 1973 ein voller Erfolg und eine große Werbung für den Frauenfußball. Die eingeladenen DFB-Funktionäre scheinen überzeugt und organisieren ein Jahr später, 1974, die erste Deutsche Frauenfußball-Meisterschaft. Für das Finale in Mainz am 8. September 1974 qualifizieren sich DJK Eintracht Erle aus Gelsenkirchen und die TuS Wörrstadt. 4:0 siegen die Rheinessen vor 4.000 Zuschauern und werden erster Deutscher Frauenfußball-Meister. Zu Hause in Wörrstadt werden die Meisterinnen zünftig empfangen. Das ganze Dorf ist auf den Beinen und man feiert bis spät in die Nacht, erinnert sich Bärbel Wohlleben: "Das war schon im Damenfußball eine Hochburg und das wurde von den Wörrstädtern unterstützt. Also die Nacht wurde zum Tag gemacht, da war ordentlich was los, die Feuerwehr kam und so n Blasorchester, halb Wörrstadt war am Römerbrunnen gewesen, an dem kleinen Marktplatz und hatte uns da empfangen, das war schon toll". (Bärbel Wohlleben, Interview 2007) Schließlich wird Bärbel Wohllebens 3:0 im Meisterschaftsfinale in der ARD-Sportschau sogar zum Tor des Monats gewählt. Zum ersten Mal erhält damit eine Frau diese Auszeichnung.
Article
Eduard Hoffmann
"2022-02-08T00:00:00"
"2012-02-17T00:00:00"
"2022-02-08T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/sport/graue-spielzeit/65068/der-deutsche-fussball-bund-hebt-das-frauenfussballverbot-auf/
Aufgeweckt durch die Drohungen der Fußballerinnen, einen eigenen Frauenfußball-Verband zu gründen, hebt der DFB am 31. Oktober 1970 das langjährige Verbot auf. Ab sofort ist es den DFB-Vereinen wieder gestattet Frauenfußball-Abteilungen zu gründen.
[ "Frauenfußball", "Damenfußball", "Verbot", "Fußballgeschichte", "Fußball", "DFB", "Deutschland" ]
30,304
Die 1960er Jahre | Deutsche Fernsehgeschichte in Ost und West | bpb.de
"Jugend diskutiert über aktuelle Politik" mit Willy Brandt (© Radio Bremen/Darchinger) Diskussionen und Politisierung im Westen Auch in den 1960er Jahren blieben die Jugendsendungen auf der Suche nach einer spezifischen Form der Ansprache. Die Zwischenstellung zwischen dem Kinderfernsehen und einem Erwachsenen-Angebot war letztlich nicht aufzuheben. Jugend war und ist eine Lebensphase des Übergangs. Dementsprechend entstand eine Vielfalt von unterschiedlichen Angeboten.  Das breite Themenspektrum der frühen Jugendsendungen entsprang einer gewissen Unsicherheit darüber, was nun der Kern eines Jugendfernsehens sein sollte, und entsprach dem in den Rundfunkgesetzen verankerten Programmauftrag des Fernsehens, "Bildung, Information und Unterhaltung" zu liefern. In der zweiten Hälfte der 1950er setzte eine Politisierung von Jugendgruppen ein, auf die das Fernsehen ab Mitte der 1960er Jahre auch reagierte und sich auch mit politischen Angeboten an die Jugendlichen richtete. Der Wandel deutete sich bereits 1963 an, als Radio Bremen (RB) mit der Sendereihe "Jugend diskutiert über aktuelle Politik" eine regelmäßige Diskussionssendung mit jugendlichen Gesprächspartnern einrichtete, im Jahrbuch des Senders definiert als "monatliche live-Sendung, an der jeweils ein Publizist, drei Schüler und drei Berufstätige aus verschiedenen Städten der Bundesrepublik teilnehmen" .  Sich treffen darüber sprechen im ZDF  Konfessionell ausgerichtet war die von der Kirchenredaktion betreute Reihe "Treffpunkt – Unser Jugendclub" in dem seit 1963 bestehenden ZDF-Programm, deren Urheber vermitteln wollten, "wie offen junge Leute miteinander reden und umgehen können und müssen, wenn ihr Meinungsaustausch einen Sinn haben soll" . Im Bemühen, alle Familienmitglieder zu erreichen und zu Diskussionen untereinander anzuregen, wurden im ZDF außerdem Themen, die Jugendliche betrafen (wie z. B. Wahlalter von Jugendlichen, Berufswahl, Musikkultur), in bestehende Reihen wie "Darüber muss gesprochen werden" eingebunden .  Berichterstattung über die Studentenbewegung Benno Ohnesorg stirbt durch den Schuss eines Polizisten, neben ihm Friederike Hausmann. (© picture-alliance/akg, Henschel) Die politischen Kontroversen, die im Rahmen der Studentenbewegung über den als autoritär eingeschätzten Staat, die Bewältigung der NS-Vergangenheit und die mangelnde Toleranz gegenüber pluralen Lebensformen geführt wurden, wirkten sich stark im Fernsehen aus. Hier war es die Berichterstattung in den Informationssendungen, die vor allem ab 1967 – insbesondere nach dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration gegen den persischen Schah in West-Berlin – in den Medien präsent war, und die die Jugend in den Blick der Zuschauer rückte. Die Jugendsendungen selbst waren davon nur mittelbar betroffen, da sie diese Themen zwar auch ansprachen, aber nicht in den Vordergrund rückten. So gab es z. B. im "Beat-Club" ab der Ausgabe 35 einen vom WDR beigesteuerten Nachrichtenblock, in dem solche Ereignisse thematisiert wurden.  "Jugend fragt Politiker" (WDR)   Der Westdeutsche Rundfunk (WDR) brachte – vor dem Hintergrund der Studentenbewegung, die ab 1968 auch zu einer Schülerbewegung mit politischen Demonstrationen und Protesten wurde – in der Reihe "Jugend fragt Politiker" unter Beteiligung namhafter Fernsehjournalisten wie Gerd Ruge und Friedrich Nowottny junge Zuschauer und prominente Politiker miteinander ins Gespräch. Dabei konnte es mitunter sehr lebhaft zugehen. Vereinzelt kam es zu regelrechten Eklats, für die sich der zuständige Redakteur Hans Gerd Wiegand gegenüber der Leitung des WDR zu rechtfertigen hatte. Mit Uschi Obermaier und Rainer Langhans bewarben sich zwei prominente Vertreter des Jugendprotests um die Mitwirkung . Diese Bewerbungen wurden jedoch abgelehnt.  "Jugend diskutiert über aktuelle Politik" mit Willy Brandt (© Radio Bremen/Darchinger) Benno Ohnesorg stirbt durch den Schuss eines Polizisten, neben ihm Friederike Hausmann. (© picture-alliance/akg, Henschel) Neue Inhalte und Formen  In dem Maße, wie das inzwischen von jüngeren Redakteuren betreute Jugendprogramm moderner und fortschrittlicher wurde, häuften sich die Konflikte. Bei der Reihe "baff" waren es neben den Inhalten auch die Formen, die die Gemüter erregten. Gesellschaftspolitische und kulturelle Themen wurden hier nicht wie gewohnt in einem Mix aus Reportagebildern, Sprechertext und Interviewaussagen aufgearbeitet, sondern durch das Aneinanderreihen unterschiedlichster Beiträge und Szenen ohne Zusammenhang, ohne Erklärung, ohne Kommentar, ohne einheitliches Thema. Da folgten beispielsweise auf eine Tanz- und Musiknummer die rituelle Ansprache zum Semesterbeginn in einer katholischen Studentenverbindung und zornige Reden der Bundestagspolitiker Richard Jaeger und Rainer Barzel gegen die Studentenproteste. Hinter dieser Form stand die Idee, die Zuschauer durch eine irritierende Schnittfolge zu eigener gedanklicher Mitwirkung anzuregen. Zu den Vätern der Reihe gehörten neben Hans Gerd Wiegand die experimentierfreudigen niederländischen Regisseure Bob Rooyens und Gied Jaspars. "baff" war ab November 1970 kurzzeitig im Abendprogramm der ARD zu sehen, wurde mit einer Goldenen Kamera und einem Goldenen Bildschirm ausgezeichnet, aber 1971 eingestellt.  "Sympathy For The Devil" (ARD)   Der Erkundung jugendlicher Subkulturen widmete sich das Team der einflussreichen Reihe "Sympathy For The Devil" (13 Teile, 1971–1977), die von mehreren Regionalanstalten der ARD im Rahmen des Bildungsprogramms produziert wurde und unter Aufbietung von Rockstars wie Rod Stewart, Alexis Korner oder Maggie Bell pro Folge einzelne Stile der Popmusik, die Mythenbildung des Kinos und andere Themen kritisch aufarbeitete.  Die Zielsetzungen der einzelnen ARD-Anstalten und des ZDF waren uneinheitlich, so dass ein pluralistisches Angebot entstand: Zum einem wollten Sendereihen die Unruhe in der Jugend durch Gesprächs- und Diskussionssendungen befrieden, zum anderen sollten Sendungen, wie sie gerade auch vom WDR kamen, Jugendlichen eine Plattform bieten, damit sie sich artikulieren und Protest öffentlich machen konnten. Diese Tendenz nahm in den 1970er Jahren noch zu.  Musiksendungen für Jugendliche (BRD) Mit der Beatkultur schufen sich die Jugendlichen ihre eigene kulturelle Welt und entzogen sich damit immer mehr der Kontrolle durch ihre Eltern. (© Günter Zint) Musiksendungen, die sich speziell an jugendliche Zuschauer wandten, setzten mit Jazz-Sendungen ein. Olaf Hudtwalcker, Hörfunkmoderator und Präsident der Deutschen Jazz Föderation, präsentierte nachmittags die Reihe "Jazz für junge Leute" (HR, 1958–1966). Siegfried Schmidt-Joos, der als Jugendlicher gegen erhebliche Widerstände den ersten offiziell genehmigten Jazz-Club der DDR gegründet hatte, moderierte in den 1960er Jahren im Westen den "Jazz Workshop" und ab 1966 die Pop-Sendung "Swing In", in der nun auch Interpreten wie die Rolling Stones, Aretha Franklin und B. B. King vorgestellt wurden. Ab 1966 lud Dieter Pröttel in den "Talentschuppen" (SWF, bis 1985), in dem sich Sänger, Bands und Entertainer einer Jury stellten, die aus einer Schauspielerin, einem Journalisten, einem Orchesterleiter und einem Vertreter der Musikbranche bestand.  Der "Beat-Club" (RB)  Radio Bremen richtete am 25. September 1965 den "Beat-Club" ein (bis 1972) und folgte dabei Vorbildern wie der britischen Reihe "Ready Steady Go". Anfangs dominierte der im Titel verewigte Musikstil, doch dabei blieb es nicht. Die Bandbreite lässt sich an den gelegentlichen Konzert-Specials erkennen, in denen unter anderem die Latin-Soul-Band War, Johnny Cash, Duane Eddy und The Osmonds auftraten. Nach der Ausweitung der Sendezeit von 30 auf 60 Minuten im Jahr 1968 lieferte der Koproduktionspartner WDR zusätzlich zur Musik aktuelle Filmberichte über jugendgemäße Themen.  "Beat Beat Beat" (HR) und "4-3-2-1 Hot and Sweet" (ZDF)  Zugkräftige Stars wie The Kinks, Tom Jones, Eric Burdon und Julie Driscol gab es unter dem Titel "Beat Beat Beat" ab dem 7. Januar 1966 bis 1969 im Abendprogramm des Hessischen Rundfunks zu sehen, das gemeinsam mit dem US-amerikanischen Soldatensender US Armed Forces Network (AFN) produziert wurde. Moderator der ersten sechs Ausgaben war der US-Radio-DJ Mal Sondock, der nach seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst im deutschen Hörfunk tätig wurde ("Diskothek im WDR"). Die Auftritte fanden in der Offenbacher Stadthalle statt, ähnlich wie im "Beat Club", teils inmitten tanzfreudiger Zuschauer. Das ZDF bediente die Nachfrage ab Juli 1966 bis 1970 in monatlichem Turnus samstags mit "4-3-2-1 Hot and Sweet" und erzielte eine durchschnittliche Sehbeteiligung von 18 %.  Selten und versteckt  Der Norddeutsche Rundfunk schickte in seinem Regionalprogramm ab 1968 die schweizerisch-deutsche Koproduktion "Hits à Gogo" bis 1973 ins Rennen. Der Hessische Rundfunk und der Südwestfunk schlossen sich an. Damit schien für viele Jugendliche der Bedarf keineswegs gedeckt, wie eine Leserzuschrift an die TV-Zeitschrift "Funk Uhr" aus dem Jahr 1968 verrät: "Die Sendungen wie '4-3-2-1 Hot and Sweet' sowie 'Beat-Club' können nicht genug gelobt werden. Leider werden sie viel zu selten ausgestrahlt. Musik für die ältere Generation wird fast jedes Wochenende gesendet, für uns junge Leute aber nur alle vier Wochen" .  Beim ZDF immerhin konnte man gelegentlich an versteckter Stelle fündig werden. Das wöchentliche "Sonntagskonzert" bot sonntags um zwölf in der Regel Klassik, Musical oder Operette, zwischendurch aber auch schon mal einen Auftritt der Blues-Sängerin Willie Mae "Big Mama" Thornton oder ein Konzert der britischen, der Musikrichtung des Progressiven Rocks zugerechneten Gruppe Gentle Giant.  Integration der Jugend in die DDR "Jugend, Beruf und Perspektiven" – eine Ausstellung in Leipzig informiert über Berufsperspektiven für Jugendliche. (© Bundesarchiv Bild 183-D0929-0091-003 / Fotograf: Heinz Koch) Die Themen der Jugendsendungen des DDR-Fernsehens folgten nach 1961 nicht mehr einer gesamtdeutschen Zielsetzung. Sie richteten sich stärker auf die Integration der Jugendlichen in die DDR. Häufiges Thema waren Ratschläge zur beruflichen Orientierung. Dabei besaßen diese Sendungen auch eine lenkende Absicht, folgte doch die Wahl der vorgestellten Berufe den Vorgaben des 1959 vom Staat beschlossenen Siebenjahresplans.  Sendereihen wie "Palette der Jugend" (1966–1967) und "Treff mit Petra" (1962–1966) versuchten sich an bunt gemischten Themen aus der jugendlichen Lebenswelt. Sie verfehlten aber oftmals den richtigen Ton, wie eine Kritik der "Neuen Deutschen Presse" an der Reihe "Junge Optik" (1963–1964) illustrierte, in der es hieß: "Es war alles andere als jung, alles andere als optisch interessant, die Konzeption fehlte".  Jugendgemäß präsentierte Themen im "Basar"   Dies änderte sich mit der 1965 eingerichteten Reihe "Basar", die bis Ende 1972 im Programm blieb und damit eine ungewöhnlich lange Laufzeit erreichte. Das monatlich ausgestrahlte Magazin bot vor abwechslungsreichen Kulissen jugendgemäß aufgemachte Themen aus Kunst, Literatur, Mode, Ferien und Musik, verbunden durch singende Moderatoren wie den Schauspieler Dieter Mann. Nach 1966 trat eine politische Ausrichtung in den Vordergrund, die stärker die Vorzüge der DDR herausstellte, um damit Einflüsse abzuwehren, die durch die Politisierung der Jugend im Westen auch auf die DDR überzuschwappen drohten. Themen wie "Musenappell bei der Nationalen Volksarmee" versuchten, den Wehrdienst schmackhaft zu machen. Auch in der Sendung "Palette der Jugend" dominierte der sozialistische Zeigefinger – kritisiert wurden jugendlicher Leichtsinn und fehlende Dankbarkeit angesichts des "Glücks, im Kommunismus zu leben".  "Programmoffensive im Jahr 1969"  Ende der 1960er Jahre wurde das Programmangebot für Jugendliche verstärkt. Nicht zuletzt deshalb, weil nun die westlichen Programme Bilder der westlichen Jugendrevolten ins Haus brachten. Dem wollten die Programmverantwortlichen des DDR-Fernsehens begegnen. Deshalb kam es 1969 zu einer 'Programmoffensive', in deren Verlauf gleich fünf neue Jugendsendungen auf den Weg gebracht wurden. Diese waren das jeweils einem Einzelthema gewidmete "Freitag-Journal", das Frage- und Antwortmagazin "Postfach 70" mit dem Untertitel "Briefkasten der Jugend", die Ratgebersendung "Mode und Musik" mit den Schlagerstars Chris Doerk und Frank Schöbel, das "Freizeit-Magazin" und schließlich die dem Studium des Marxismus-Leninismus gewidmete Bildungsreihe "Kompaß" (alle bis 1970). .  Musiksendungen für Jugendliche (DDR) In den Angeboten zur musikalischen Unterhaltung für Jugendliche gab es Abgrenzungsversuche gegenüber der westlichen Unterhaltungsmusik. Den im Westen immer beliebter werdenden Richtungen Rock'n'Roll, Beat und Twist begegnete die DDR-Staatsführung mit Misstrauen. Walter Ulbricht forderte 1959 explizit, der kapitalistischen Dekadenz, der "Hotmusik" und den "ekstatischen Gesängen eines Presley" etwas Besseres entgegenzustellen [8]). Zum Beispiel einheimische Arbeiterlieder und internationale Protestsongs. Der US-Folksänger Perry Friedman stellte zunächst in den DDR-Jugendclubs und ab 1961 auch in einigen "Hootenanny"-Shows solche Stücke vor. 1963 kam es kurzfristig zu einer Liberalisierung. Der Zentralrat der FDJ hatte zutreffend erkannt, dass es sich bei den neuen Klängen um "eine progressive Erscheinung der Tanzmusikentwicklung" handelte. Man sprach von "Gitarren-Gruppen", wenn man Beat-Bands meinte. Es startete der Versuch, diese Formationen – viele davon junge Amateurbands – ins offizielle Kulturleben der DDR zu integrieren. Unter anderem fand ein Talentwettbewerb statt.  Skandal im "Amiga-Cocktail" Mit der Beatkultur schufen sich die Jugendlichen ihre eigene kulturelle Welt und entzogen sich damit immer mehr der Kontrolle durch ihre Eltern. (© Günter Zint) "Jugend, Beruf und Perspektiven" – eine Ausstellung in Leipzig informiert über Berufsperspektiven für Jugendliche. (© Bundesarchiv Bild 183-D0929-0091-003 / Fotograf: Heinz Koch) Insgesamt aber blieb die Popmusik unverstanden und auch weiterhin im Verdacht, der Zersetzung der DDR-Gesellschaft Vorschub zu leisten. Der Argwohn bekam neue Nahrung, als sich am 17. November 1964 in der TV-Sendung "Amiga-Cocktail" ein regelrechter Skandal ereignete. Das Programm bot einen bunten Querschnitt durch das Angebot der staatlichen Plattenfirma Amiga: Orchestermusik, Schlager, ostdeutsche Beat-Bands. Das Publikum reagierte bereits voller stürmischer Begeisterung auf die Sputniks und das Franke-Echo-Quintett. Es geriet gänzlich außer sich, als das Hemmann-Quintett eingedeutschte Beatles-Hits zum Besten gab. Heinz Quermann kam als Moderator nicht umhin, eine weitere Zugabe zuzulassen, und konnte später nicht verhindern, dass die Schlagersängerin Vanna Olivieri einem lautstarken Pfeifkonzert ausgesetzt wurde. Eine nachträgliche Manipulation der live ausgestrahlten Ereignisse war nicht möglich. Die 1958 gestartete Fernsehreihe "Amiga-Cocktail" fand damit ihr Ende.  Ablehnung westlicher Popkultur  Die Rolling Stones 1965 auf der Waldbühne Berlin. Das Konzert endete mit Krawallen. (© picture-alliance, United Archives/TopFoto) Als sich 1965 in West-Berlin nach einem Konzert der Rolling Stones massive Krawalle ereigneten, nahm die DDR-Führung diese Vorfälle zum Anlass, die gerade erst aufblühende Jugendkultur rigoros zu unterbinden. Für öffentliche Auftritte war fortan eine staatliche Lizenz erforderlich, die nur nach eingehender Prüfung vergeben wurde. Aber nicht allein Musiker waren betroffen. Wessen Kleidung oder Frisur herrschenden Vorstellungen nicht entsprach, musste mit Schikanen rechnen – vom erzwungenen Abschneiden langer Haare bis hin zu verordneter Zwangsarbeit. Es ist bemerkenswert, dass die DDR-Führung bei dieser Kampagne ähnliche Töne anschlug wie konservative Kreise in der Bundesrepublik, die ansonsten als Klassengegner Ziel heftiger Anfeindungen waren.  Musikalische Beiträge in jugendorientierten DDR-Fernsehsendungen wie dem Vorabendmagazin "Basar" kamen in dieser Phase vor allem von den "Singeclubs", die die "Grundsätze sozialistischer Kulturarbeit" einhielten, wonach in der Populärmusik "melodischer und harmonischer Reichtum, Volkstümlichkeit und Verständlichkeit der musikalischen Aussage" gegeben sein sollten.  Die Ablehnung westlicher Popmusik hatte neben ideologischen auch wirtschaftliche Gründe. Für jede musikalische Aufführung sind Urheberrechtstantiemen zu zahlen, im Falle der DDR handelte es sich dabei um wertvolle Devisen. Um den Valuta-Abfluss in Grenzen zu halten, war bereits 1958 die "60:40"-Regelung erlassen worden, der zufolge Musikprogramme höchstens 40 % devisenpflichtige Titel enthalten durften. Die Rolling Stones 1965 auf der Waldbühne Berlin. Das Konzert endete mit Krawallen. (© picture-alliance, United Archives/TopFoto) Quellen / Literatur Interner Link: Beat- und Rockmusik Interner Link: US Armed Forces Network Interner Link: Schulfernsehen in der DDR Interner Link: Rock-/Popmusik im DDR-Fernsehen Interner Link: "Beat-Probleme" in der DDR Interner Link: Beat- und Rockmusik Interner Link: US Armed Forces Network Interner Link: Schulfernsehen in der DDR Interner Link: Rock-/Popmusik im DDR-Fernsehen Interner Link: "Beat-Probleme" in der DDR Radio Bremen 1964, S.128. ZDF, 1967, S.53. ZDF, 1962/64, S.68. Vgl. Wiegand 1970, vgl. auch Spiegel 1970, S.20f. Funk-Uhr 32/1968, S.23. Zit. n. Reibold/Teichert 1998, S.350. Ziegert 1997, S.26f. Ebd., S.126. Zit. n. Rauhut 2000, S.124.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-07-04T00:00:00"
"2017-04-17T00:00:00"
"2022-07-04T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/deutsche-fernsehgeschichte-in-ost-und-west/246636/die-1960er-jahre/
In den 1960er Jahren entstand eine Vielfalt unterschiedlicher Angebote für Jugendliche. Auf die Politisierung von Jugendlichen reagierte das Fernsehen ab Mitte der 1960er Jahre beispielsweise mit Diskussionssendungen.
[ "Tele-Visionen", "Jugendprogramme", "Politisierung", "Studentenbewegung", "Benno Ohnesorg", "ARD", "ZDF" ]
30,305
Analyse: Zur Genese des neuen russischen Konservatismus | Russland-Analysen | bpb.de
Dieser Artikel analysiert den neuen russischen Konservatismus als eine Gegenbewegung zu Sozialismus und Liberalismus im Sinne von Karl Mannheim und Michael Freeden. Man darf diesen neuen Konservatismus nicht mit einem wie auch immer definierten "Putinismus" gleichsetzen, auch wenn die Akteure das Ziel verfolgen, eine konservative Staatsideologie zu etablieren. Der Artikel skizziert den Aufschwung des neuen russischen Konservatismus zwischen 2003 und 2007 und zeigt anhand einflussreicher Texte und "Manifeste" die Verknüpfung von Modernisierung und Geopolitik als eines seiner Grundthemen. Mit dem Beginn von Wladimir Putins dritter Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation gruppiert sich der konservative Diskurs neu und führt zu einer zunehmenden Ideologisierung der russischen Gesellschaft von oben. Konservatismus als Bewegungsideologie In diesem Beitrag unternehme ich einen Deutungsversuch des neuen russischen Konservatismus, der bei seinen Grundthemen ansetzt, die sich aus Zeitdiagnosen, Reformvorschlägen und deren historisch-philosophischer Einbettung ablesen lassen. Diese Grundthemen liegen quer zu den von Protagonisten selbst vorgeschlagenen Sortierungsschemata wie "links-rechts", "rot-weiß", liberal-, sozial- oder nationalkonservativ. Sie tragen auch zur Erklärung der auf den ersten Blick erstaunlichen Koalitionen und sich wandelnden Gruppierungen unter den Konservativen bei, wenngleich von klar konturierten Strömungen keine Rede sein kann. Mit meiner Deutung schließe ich an Michael Freeden an, der insbesondere Karl Mannheim in einer Weise neu akzentuiert, die ich in zweierlei Hinsicht für den russischen Kontext für produktiv halte. Erstens betont Freeden mit Mannheim die Dynamik des modernen Konservatismus, dem es nicht um den Erhalt eines Status quo oder um die Rückkehr zu einem früheren Zustand geht. Konservatismus hat daher nichts mit einem einfachem Traditionalismus, einem Festhalten an "traditionellen" Werten oder Lebensweisen, zu tun. Der moderne Konservatismus stellt vielmehr eine situative Bewegungsideologie dar, die nach Freeden einen besonderen Typ von Bewegung präferiert, nämlich einen geordneten, kontinuierlichen und in diesem Sinne natürlichen Wandel. Beide Überlegungen erscheinen mir als geeignete Ausgangspunkte, um die Grundthemen des neuen russischen Konservatismus in seiner Kontextgebundenheit zu identifizieren. Der neue russische Konservatismus lässt sich nicht mit einem wie auch immer definierten "Putinismus" gleichsetzen, auch wenn die Etablierung einer konservativen Staatsideologie für deren Protagonisten ein wichtiges Ziel darstellt, dem sie über die letzte Dekade näher gekommen zu sein scheinen. Sein konstitutives Thema als zeitgenössische intellektuelle Gegenbewegung ist – so meine These – die Verknüpfung von Modernisierung und Geopolitik, welches in unterschiedlicher Prägnanz formuliert und mit anderen Themen kombiniert wird. Erst durch diesen Zugang lässt sich das Neue am neuen russischen Konservatismus erkennen. In ihm lediglich eine Neuauflage der 1833 von Bildungsminister Uwarow unter Nikolai I. geprägten Formel "Autokratie – Orthodoxie – Nation" zu sehen, wie etwa von der britischen Historikerin und Journalistin Lesley Chamberlain pointiert, verkennt die Zeitgebundenheit dieser Gegenbewegung, die sich zwar in Interaktion mit dem politischen Zentrum formiert, teilweise darin inkorporiert und von dort gelenkt wird, gleichwohl aber in einem latenten Spannungsfeld zum politischen System unter Putin steht. Im ersten Schritt wird der Aufschwung des neuen russischen Konservatismus in der Interaktion mit der politischen Macht skizziert, der nach einer längeren Inkubationszeit ab 2003 in Fahrt kommt und ungefähr bis 2007 reicht. Das ist die Zeit des Suchens, Experimentierens, der Gruppierung und Re-Gruppierung seiner Protagonisten. Im Fokus stehen Intellektuelle, die explizit an der Programmatik einer neuen konservativen Ideologie arbeiten und sich selbst als Konservative bezeichnen. Anhand einflussreicher "Manifeste" dieser "Ideologieproduzenten" werden im zweiten Schritt dann die Grundthemen des neuen russischen Konservatismus aufgezeigt, die in dieser Zeit formuliert werden. Der Beginn von Wladimir Putins dritter Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation kann als Neugruppierung im konservativen Diskurs gewertet werden, die in einem dritten Schritt dargestellt wird. Zwei neue Initiativen stehen hier im Mittelpunkt: der seit September 2012 bestehende "Isborsker Klub", der mit dem 2009 gegründeten Institut des dynamischen Konservatismus fusionierte – der Klub ist eine der treibenden intellektuellen Kräfte des neuen russischen Konservatismus. Zum anderen beziehe ich mich auf die 2013 gegründete Stiftung "Institut für sozio-ökonomische und politische Forschung" (Stiftung ISEPI), die seit 2014 die "Hefte über Konservatismus" herausgibt. Der "Isborsker Klub" ist die bisher größte Plattform der russischen Konservativen. Trotz der Nähe einiger seiner Mitglieder zum Machtzentrum steht gerade dieser Klub für das latente Spannungsfeld zwischen dem neuen russischen Konservatismus und der politischen Macht. Diese Spannung tritt zwar – spätestens seit der Annexion der Krim – in kanalisierter Form auf, das heißt als Kampagne gegen die liberale "fünfte Kolonne" des "Westens" in der Opposition, aber vor allem in der Partei "Einiges Russland" und in der Regierung. Sie ist aber keineswegs verschwunden. Demgegenüber repräsentiert die Stiftung ISEPI mit ihren Heften fast in Reinform den Typus einer Gründung "von oben", einer "Government-Organized Non-Governmental Organization" (GONGO). Die "Hefte über Konservatismus" haben sich primär der Traditions- und Identitätskonstruktion verschrieben und versuchen sich offenbar als intellektuelles Gegengewicht zu den "Isborskern" zu etablieren. Im Resümee dieses Beitrages wird es um die Frage gehen, was neu ist am neuen russischen Konservatismus. Initiativen und Manifeste von 2003 bis 2007 in der Zeit des Wirtschaftsaufschwungs Eine zeitliche Datierung des beginnenden Aufschwungs des neuen russischen Konservatismus auf das Jahr 2003 bedeutet nicht, dass Konservatismus vorher kein Thema war. Bereits 1993 gründete der Wirtschaftsminister und Initiator der "Einführung der kapitalistischen Marktwirtschaft in 500 Tagen", Jegor Gajdar, ein Zentrum liberalkonservativer Politik, dem übrigens auch der 2015 ermordete Boris Nemzow angehörte. Anfangs wurde Putin in einem einflussreichen Aufsatz von Leonid Poljakow, heute Mitglied des Isborsker Klubs, ebenfalls als "liberaler Konservativer" bezeichnet, weil er eine neoliberale Wirtschaftspolitik (Flatrate in der Steuerpolitik, Deregulierung und Öffnung für ausländische Direktinvestitionen) mit einer Rezentralisierung und Konsolidierung der Staatsmacht verband. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums standen "patriotische Kräfte" wie die Kommunisten und die Vertreter eines neuen Eurasianismus, vor allem Alexandr Panarin (1930–2003), Wadim Zymburskij (1957–2009) und Alexandr Dugin (geb. 1962), deren Themen und Motive in den neuen russischen Konservatismus einflossen. Für diese Autoren bildete aber Konservatismus nicht das übergreifende Etikett. Ab 2003 mehrten sich jedoch die Initiativen und Manifeste, die den Konservatismus als neue Leitideologie zu etablieren suchten. Der Zeitpunkt ist aus mehreren Gründen interessant. 2003 wurde Russland gegenüber dem IWF schuldenfrei, der Ölpreis stieg (was eine Steigerung des Massenkonsums ermöglichte), Goldman Sachs publizierte seinen berühmten "BRIC Report", in dem prognostiziert wurde, dass Russland in Bälde zur fünften Wirtschaftsmacht in der Welt aufsteigt. Während die Oligarchen eben erst ihre Massenmedien an den Staat abtreten mussten, schickte sich Putin an, den Machtkampf mit dem Jukos-Chef Michail Chodorkowskij zu gewinnen. Vor allem aber standen die Parlamentswahlen bevor, in der die Kommunisten – bisher ein wichtiges Zentrum der Patrioten – ihre Position als stärkste Partei an die neue Partei "Einiges Russland" verlor, die als "Partei der Macht" aus einer Fusion zweier bisher konkurrierender Gruppen der politischen Elite und der Administration hervorgegangen war. Mit den neuen Spielräumen wurde die Frage "Wie weiter?" zu einem Dreh- und Angelpunkt des russischen politischen Diskurses, der teils im Richtungsstreit innerhalb der neuen Partei, teils außerhalb beziehungsweise an deren Rand geführt wurde. Dieser Kampf um Ideen war kein offener Wettbewerb, sondern ein Wettbewerb mit zunehmend eingeschränkten nichtstaatlichen, dezentralen Ressourcen. Der Aufschwung der konservativen Ideologie steht im engen Kontext mit dem Übergang von der "gelenkten" zur "souveränen" Demokratie, die der neue junge Chefideologe und frühere PR-Mann Chodorkowskijs, Wladislaw Surkow, konzipierte. Surkow verlieh auch der Partei Einiges Russland das Etikett einer "konservativen" Partei. Die die zunehmend an Bedeutung gewinnende Förderung einer "loyalen" Zivilgesellschaft spielt für Entstehen und Vergehen von Initiativen, Instituten und Plattformen eine erhebliche Rolle. Zu den ersten Initiativen, die den Aufschwung des Konservatismus in Russland ab 2003 markieren, gehört die Gründung des Seraphim-Klubs ("Serafimowskij klub") im Umkreis der Zeitschrift "Experte" und dessen "Memorandum: Von der Politik der Angst zur Politik des Wachstums", das am 15. Januar 2003 in Wedomosti, der wichtigsten liberalen Wirtschaftszeitung Russlands, erschien. Gründer und Autoren des insgesamt als "liberalkonservativ" eingeschätzten Klubs waren der damalige Chefredakteur von "Experte", Walerij Fadejew, und Alexandr Priwalow, der heute als Generaldirektor des Journals fungiert. Mit von der Partie war auch der bekannte Fernsehjournalist Michail Leontj‘ew. Ungefähr zur gleichen Zeit gründen Journalisten um Jegor Cholmogorow und den Politologen Michail Remisow den "Konservativen Presseklub" (KPK). Beide gehören, wie das Gros der neuen Konservativen, der spätsowjetischen Generation an, die zu der Zeit, als die Sowjetunion zerfiel, junge Erwachsene bis Anfang 30 Jahre waren. Deren neue Zeitschrift "Der Konservative" musste aber mangels Finanzierung bald wieder eingestellt werden. Langlebiger erwies sich die Gründung der Plattform "pravaya.ru" im Jahre 2004, die rasch zum zentralen Medium des "Orthodoxen Neokonservatismus" wurde. Im Frühjahr 2006 verfasste Cholmogorow zusammen mit weiteren Politologen und Publizisten die "Imperative der nationalen Wiedergeburt", die in sieben Punkten zur Bildung einer Nationalkonservativen Union aufrief. Der Text wurde auf der Plattform pravaya.ru veröffentlicht. Zentraler politischer Spieler hinter diesem Aufruf war Sergej Baburin, der die Gründung einer neuen, unabhängigen Partei rechts neben den bestehenden Parteien vorbereitete, darin aber vom Kreml gestoppt wurde. Der Aufruf wird deshalb mitunter auch als "Manifest der Nationalkonservativen Union" bezeichnet. Im gleichen Jahr entstand auch das Manifest des "Russischen politischen Konservatismus", an dem wieder Remisow maßgeblich beteiligt war und das auf APN veröffentlich wurde. Während die beiden Manifeste – "Imperative der nationalen Wiedergeburt" und "Russischer politischer Konservatismus" von 2006 – eher in Konkurrenz oder am Rande der Partei Einiges Russland formuliert wurden und vermutlich keine Rolle für die innerparteiliche Debatte spielten, standen zwei weitere Manifeste aus den Jahren 2005 und 2007 als programmatische Grundlage der Partei zumindest kurzfristig in der Diskussion. Dabei handelt es sich zum einen um das "Russische Manifest" ("Russkij manifest") oder "Russische Projekt" des "Zentrums für sozialkonservative Politik", eines zwei Jahre zuvor unter Leitung des Politikers Boris Gryzlow gegründeter Think Tanks der Partei Einiges Russland. Das "Russische Manifest" wurde im Februar 2007 publiziert und bildet die Grundlage für eine 2011 im Rahmen der Partei gegründeten "Sozialkonservativen Union". Der umfangreichste Entwurf, der den Rahmen eines Manifests gänzlich sprengt, stammt aus der Feder des 2005 gegründeten Zentrums und späteren "Instituts des dynamischen Konservatismus". Zwischen 2005 und 2007 erarbeitete und diskutierte ein breiter Kreis von Autoren das rund 800 Seiten starke Buch "Russische Doktrin – eine Waffe des Bewusstseins". Auf der Webseite des Instituts wird es bis heute als Schlüsseldokument für die Bildung einer "neuen Generation von Konservativen" präsentiert. Zu den Hauptautoren gehören die beiden Gründer des Zentrums, der der Orthodoxie nahestehende Philosoph Witalij Awerjanow und der Ökonom Andrej Kobjakow, sowie der Publizist Wladimir Kutscherenko, der unter dem Pseudonym Maxim Kalaschnikow in hoher Frequenz populistische Streitschriften verfasst. An der Doktrin haben zudem wieder Cholmogorow, Remisow und Leontjew mitgeschrieben. Ebenso wirkte einer der bekanntesten russischen Ökonomen, Michail Chasin, mit, der bereits 2003 zusammen mit dem Zentrumsgründer Kobjakow und einem weiteren Autor ein in Russland einflussreiches Buch verfasste, das die Weltwirtschaftskrise von 2007/08 vorhersah und das Ende der "Pax Americana" prognostizierte. Die "Russische Doktrin" bildet einen gewissen Endpunkt der Experimentierphase, weil sie versucht, eine Synthese des neuen russischen Konservatismus zu liefern, ohne für sich zu beanspruchen, eine in sich geschlossene Theorie zu sein. Dieser Syntheseversuch reicht von der Formulierung philosophisch-theologischer Grundlagen bis zu detaillierten Reformvorschlägen in fast allen zentralen Bereichen des russischen Staates. Die "Doktrin" gewann im Übrigen auch deshalb an Gewicht, weil sie eine Weile das wohlwollende Interesse des späteren Patriarchen Kirill fand, der sich an den Diskussionen beteiligte. Modernisierung und Geopolitik im Neuen Konservatismus In der westlichen Öffentlichkeit wird der neue russische Konservatismus vor allem mit Putins Auftritten zu Beginn seiner dritten Amtszeit ab 2012 assoziiert, bei denen der alte-neue Präsident der Welt einen Katalog universeller konservativer "Werte" wie (heterosexuelle) Familienwerte, traditionelle Religion, Patriotismus und staatliche Souveränität präsentierte. Dieser vorgebliche Rückzug auf dauerhafte, "traditionelle" Werte verdeckt indes eher seinen Charakter als situative Gegenbewegung zu den "progressiven" Ideologien, vor allem zum Liberalismus beziehungsweise Neoliberalismus. In den genannten Manifesten spielen diese "Werte" eine auffällig nachgeordnete Rolle. Das, was die neuen Konservativen primär umtrieb, war nicht die Dekadenz des Westens, sondern die Frage nach einem eigenständigen politischen Kurs Russlands. Vor allem in den drei weiter unten ausgeführten Manifesten bildet die Verknüpfung von Modernisierung und Geopolitik das Grundthema. Im "Memorandum: Von der Politik der Angst zur Politik des Wachstums", das am 15. Januar 2003 in Wedomosti erschien, ist das Grundthema "Modernisierung und Geopolitik" noch wenig ideologisch aufgeladen. Dem "Russischen Manifest" der Sozialkonservativen in der Partei Einiges Russland von 2007 sieht man seinen politisch-instrumentellen Zweck an. In kräftigen Worten werden die Zerstörung der "ideologischen Basis" des Staates, von Verwaltung, Wissenschaft und Bildung und der Verfall der sozialen Infrastruktur des Landes beklagt, die zu einer "Systemkrise im Inneren" unter Bedingungen "äußerer Bedrohung" (hier noch allgemein als Bedrohung durch eine globale Krise) geführt hätten. Trotz der drastischen Worte kommt Elitekritik jedoch nur als Kritik an den Liberalen vor, die trotz der Katastrophe der 1990er Jahre das "soziale Experiment" des Wirtschaftsliberalismus fortsetzen wollten. Die Verknüpfung von Modernisierung und Geopolitik ist in der "Russischen Doktrin" sehr präsent. Mit der Wahl des Begriffs "dynamischer Konservatismus" zielen die Autoren bewusst auf die Ausformulierung einer auf Tradition aufbauenden Bewegungsideologie im Sinne Freedens. Rückbezug auf Tradition dient nicht der Wiederherstellung eines vergangenen Zustands (weder der traditionellen Autokratie noch der Sowjetunion). Man gibt sich betont anti-revolutionär (das heißt, Revolution als radikaler Bruch mit der Tradition wird als zentrales Übel in der russischen Geschichte abgelehnt) und restaurativ (Wiederherstellung der angestammten Rolle Russlands in der Welt). In seinen Gesellschafts- und Weltentwürfen und in seiner Elitekritik ist die Doktrin aber zugleich radikal. Wie Modernisierung und Geopolitik im neuen russischen Konservatismus zu einer Gegenbewegung verknüpft werden, sieht man hier besonders deutlich: Eine geopolitische Neupositionierung Russlands gilt als erforderlich, um die äußeren Modernisierungsblockaden durch die neoliberale Globalisierung unter US-amerikanischer Hegemonie und das aufoktroyierte liberale Wirtschaftsmodell zu beseitigen. Die "Russische Doktrin" folgt der Idee von Russland als einer eigenständigen Zivilisation, die auf der Orthodoxie basiert. Während die "konservative Inanspruchnahme der Religion" kein exklusiv russisches Phänomen ist, ziehen die Autoren der Doktrin daraus einige spezifische Konsequenzen: Erstens wird die orthodoxe Wirtschaftsethik für die neue Phase "postindustrieller" Entwicklung und für einen sozialen Konservatismus als hervorragend geeignet angesehen. Zweitens wird mit der Orthodoxie als autochthoner "Kraft" der russischen Zivilisation deren Konzeption des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat übernommen: Die "Symphonia" des Geistigen und Politischen (auch als Definition des "dynamischen Konservatismus" eingeführt) wird unter das Primat der Politik gestellt. Gleichzeitig wird das westliche Konzept der Trennung von Staat und Nation abgelehnt. Drittens wird auch die prätendierte geopolitische Mission Russlands mit der Orthodoxie verknüpft. Die Orthodoxe Kirche sei als einzige russische Institution im ganzen postsowjetischen Raum präsent und somit in der Lage, dort den Einfluss Russlands neu festigen zu helfen. Dabei verstehen die Autoren Rechtgläubigkeit nicht bloß als eine Konfession (das sei zu äußerlich) oder Kirche, sondern als eine "soziale und nationale Existenzweise", was auch eine "rechtgläubige Säkularisierung" einschließt – eine Säkularisierung, die anders als in der europäischen Aufklärung nicht als Bruch mit der Religion auftritt, sondern deren moralischen und kulturellen Kern tradiert. Politische Konstellationen ab 2012 Laut Andrei Yakovlev, einem profunden Analytiker der russischen Wirtschaft und politischen Elite, veränderten zwei Einschnitte die politische Konstellation, noch bevor sich 2014 der Konflikt mit den USA und der EU um die Ukraine zuspitzte (s. auch Interner Link: Yakovlevs Beitrag in dieser Ausgabe). Den ersten Einschnitt stellt die globale Finanzkrise dar, die die Schwächen des sich seit 2003 entwickelnden Modells von Staatskapitalismus, basierend auf großen Staatskonzernen und der föderalen Bürokratie, aufzeigte. Der zweite geht vom "Arabischen Frühling" und den Protesten im Inland gegen den Wahlbetrug bei den Parlamentswahlen 2011 aus. Diese Ereignisse stärkten die Position des Sicherheits- und Militärapparates innerhalb der Machtelite weiter und führten offenbar Putin zu der Einschätzung, dass der Kurs einer "konservativen Modernisierung" für den Machterhalt und als Wirtschaftsprogramm unzureichend ist. Die Neuaufstellung der Kreise und Zirkel des russischen Konservatismus ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Der Isborsker Klub und die Stiftung ISEPI mit ihren "Heften über Konservatismus" bilden zwei neue Zentren, deren Personal sich nur wenig überschneidet. Beide Initiativen sind mit anfänglicher Unterstützung der Administration des Präsidenten entstanden. Beträchtliche Mittel flossen in die Webseiten und Medienpräsenz. Die politischen Gewichte wie das konservative Profil unterscheiden sich indes klar. Während der Isborsker Klub eine Bündelung wirkmächtiger Propagandisten politisch-gesellschaftlicher Veränderungen ist und im Spannungsfeld zur politischen Macht steht, versuchen die Herausgeber der Hefte einen auf den ersten Blick, moderateren russischen Konservatismus philosophiegeschichtlich zu begründen und gleichzeitig international bündnisfähig zu machen. Damit tritt ein vermeintlicher Wertkonservatismus gegenüber den politischen Forderungen in den Vordergrund. Der neue Konservatismus im Spannungsverhältnis zur Politischen Macht Externe Beobachter deuten den neuen russischen Konservatismus mitunter als erneute Etablierung einer Staatsideologie, die die alte kommunistische Staatsideologie ersetzt und Bestrebungen nach einer Restauration der Sowjetunion mit vorsowjetischen Traditionsbeständen verknüpft. Konservatismus und Putinismus erscheinen als ein und dasselbe. Andere betonen vor allem den "rein instrumentellen Charakter" der konservativen Ideologie für Putin, die vornehmlich als innen- und außenpolitisches Legitimationsmittel dient (einschließlich der Disziplinierung der eigenen Eliten). Ein neues "Potemkin’sches Dorf" werde gebaut, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den sozialpolitischen und ökonomischen Problemen des Landes abzulenken. Die zunehmende Ideologisierung der russischen Gesellschaft von oben und der dabei auf unterschiedlichen Ebenen freigesetzte Eifer ließen sich als Belege für beide Argumente lesen. Die instrumentelle Beziehung der politischen Macht zur Ideologie sollte indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass der neue russische Konservatismus tatsächlich eine Gegenbewegung zu Sozialismus und Liberalismus im Sinn Mannheims und Freedens darstellt. Deren intellektuelle Protagonisten gehören zu den späten Kohorten der "sowjetischen Generation", die zwischen 1960 und Ende 1970 geboren wurden und damit ihre primäre Bildungssozialisation noch in der Sowjetunion erlebt haben, aber den Hauptteil ihres beruflichen Lebens nach 1989 verbringen und Erfahrungen dieser Zeit verarbeiten. Diese "Ideologieproduzenten" wurden zwar teil- und vielleicht auch nur zeitweise in die Elite kooptiert, sind aber keineswegs bloße Erfüllungsgehilfen des politischen Establishments. Der neue russische Konservatismus ist weder ein in sich geschlossenes Denkgebäude, noch lassen sich distinkte Strömungen klar abgrenzen. Stattdessen überwiegen einige Grundthemen, die unterschiedlich rekombiniert und akzentuiert werden. Die Abstoßungsbewegung vom Liberalismus in seiner zeitgenössischen Form – vom neoliberalen Wirtschaftsmodell und von der liberalen Wettbewerbsdemokratie – steht im Zentrum des neuen russischen Konservatismus. Beides wird als Weg zu einem "abhängigen (liberalen) Kapitalismus" (wie er sich in Ostmitteleuropa herausgebildet hat) und in die geopolitische Bedeutungslosigkeit abgelehnt. Es geht um ein anderes Modell politischer Ökonomie, national wie international, um effizientere Staatlichkeit und (zumindest in der Anfangsphase) gerechtere Verteilung, ohne die Marktwirtschaft aufheben zu wollen. Das macht aus meiner Sicht einen wesentlichen Teil seiner Attraktivität aus. Ziel ist also weder eine Rückkehr der Sowjetunion noch einfach die Restauration eines traditionellen Imperiums. Die Vehemenz des Modernisierungsproblems unterscheidet die neuen russischen Konservativen von den philosophisch-kulturologischen Neo-Eurasianern der 1990er Jahre. Erst mit weiterer Radikalisierung rückt die geopolitische Komponente im neuen konservativen Denken in den Vordergrund, und die Auseinandersetzung mit der inneren Situation tritt zurück. In der Forschungsliteratur werden die neuen russischen Konservativen häufig als "Nationalkonservative" oder Nationalisten bezeichnet. Dies entspricht ja zum Teil auch der Selbstbezeichnung, verdeckt aber das traditionelle Spannungsfeld von Nation und Imperium im russischen Denken, das eben deshalb einen ethnisch oder rassisch geprägten Nationalismus ablehnt. Viele der neuen Konservativen wenden sich mit diesem Argument gegen ein klassisches europäisches Nationalstaatskonzept und bleiben dem Zivilisationskonzept verhaftet, das eine widersprüchliche Spannung zum sich universell gebenden Wertekonservatismus schafft, der ab 2012 an Bedeutung gewinnt. Mit den US-amerikanischen "Neocons", die mit Bush Jr. an die Macht kamen und in der Experimentierphase eine wichtige Reflexionsfolie für die neuen russischen Konservativen bildeten, teilen sie zwar ein Denken in geopolitischen Kategorien. Die US-amerikanischen "Neocons" haben aber weder das Problem nachholender Modernisierung, noch ist das amerikanische Staatsverständnis mit der russischen Idee vom "Staatsvolk" vereinbar. Letztlich lehnen die neuen russischen Konservativen die spezifische Kombination von Konservatismus, Neoliberalismus und libertärem Denken der "Neocons" ab. Die kritische Grundhaltung gegenüber der westlich dominierten Globalisierung und der Rückzug auf die "Nation" als Wirtschafts- und Schutzraum teilen die russischen Konservativen mit europäischen Globalisierungs- und EU-Kritikern. Dabei verweigern sie sich bewusst einer Links-Rechts-Zuordnung, die die Fremdzuschreibung als "rechtsextrem" schwierig macht. Erst durch die zunehmende Aufladung mit "universellen" konservativen Werten bewegt sich der neue russische Konservatismus im europäischen Richtungsspektrum klar nach rechts. Die kulturellen Unvereinbarkeiten der europäischen Linken und Rechten im Hinblick auf die angebotenen klassisch "modernen" oder "europäischen Werte" scheinen die neuen russischen Konservativen in der Suche nach Bündnispartnern jedoch nicht weiter zu beeindrucken. Ob und inwieweit für die europäischen Rechten dieses Angebot attraktiv ist, hängt indes wieder stark von ihrer geopolitischen Positionierung ab. So mag sich Marine Le Pen von Putin finanziell unterstützen lassen und dabei dessen geopolitische Ambitionen billigend in Kauf nehmen. Für die polnischen National- und Sozialkonservativen um Jarosław Kaczyński werden jedoch ideologische Gemeinsamkeiten mit den neuen russischen Konservativen kaum ausreichen, um ein Bündnis zu schmieden. Lesetipps Bluhm, Katharina: Machtgedanken. Ideologische Schlüsselkonzepte der neuen russischen Konservativen, in: Mittelweg 36, 2016, Heft 6 (Dezember/Januar), S. 56–75.Bluhm, Katharina: Modernisierung, Geopolitik und die neuen russischen Konservativen, in: Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 44.2016, Heft 1, S. 36–64.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2017-02-17T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-330/242788/analyse-zur-genese-des-neuen-russischen-konservatismus/
Dass die Ideologie des modernen Konservatismus nicht gleichzusetzen ist mit einem Traditionalismus oder einem Putinismus, macht Katharina Bluhm deutlich, in dem sie die Entwicklungsgeschichte dieses politischen Konstrukts skizziert und wichtige Akteu
[ "Konservatismus Russland", "Putin", "Einiges Russland", "Russland" ]
30,306
Wuppertal: Mehr Chancengleichheit beim Bürgerbudget | Netzwerk Bürgerhaushalt | bpb.de
Hürden abbauen und mit dem Bürgerbudget mehr Bürger/-innen erreichen – eine Möglichkeit dazu zeigt das Beispiel Wuppertal: Dort bringt schon seit einigen Jahren eine Bürger/-innen-Begleitgruppe ihre Ideen und Anregungen ein, um Fehler zu vermeiden und das Beteiligungsprojekt ansprechender zu gestalten. Seit 2021 unterscheidet die Stadt in Nordrhein-Westfalen nun zwischen (umfangreichen) Projekten und sogenannten „Mikroprojekten“. Für solche kleineren Projekte mit Kosten bis zu 2.000€ wird ein Teilbudget von 20.000€ aus dem Gesamttopf des Bürgerbudgets reserviert. So will das Team Bürgerbeteiligung noch mehr Menschen motivieren mizumachen und besonders auch Einzelpersonen und kleinere Initiativen unterstützen. Neben mehr Chancengleichheit geht es dabei auch um weniger Bürokratie: So durchlaufen Mikroprojekte zwar zusammen mit den anderen Projektideen die ersten beiden Phasen der Auswahl, Ideensammlung und Abstimmung, das Teilbudget wird danach aber gleich den Bestplatzierten unter den Top 100 zugewiesen. Die Umsetzung beginnt dann wieder regulär mit den "großen" Gewinner-Projekten – für den aktuellen Doppelhaushalt 2022/2023 wurde das Geld im April dieses Jahres ausgezahlt. Zahlreiche spannende Projekte gingen seit dem Frühjahr an den Start, kleine sowie große Ideen befinden sich in der Umsetzung. Unter ihnen das Projekt "Externer Link: Decolonize Wuppertal": Bei einem der Gewinnerprojekte im Bürgerbudget wollen die Antragssteller/-innen mit den ihnen zugesprochenen 20.000€ einen Beitrag zur Aufarbeitung der Kolonialgeschi"chte Wuppertals leisten. So ein umfangreiches Vorhaben ist durchaus aufwändig: Zunächst gründete sich dafür ein Arbeitskreis, jetzt kommt die konkrete Umsetzung. "Die Idee ist, Wuppertaler Kolonialgeschichte und Gegenwart öffentlich zu machen", erklärte Heiko Schnickmann, Teil des Arbeitskreises, gegenüber der Westdeutschen Zeitung Anfang des Jahres. Dafür möchte "Decolonize Wuppertal" mit einem Stadtrundgang starten, sich aber auch breiter mit historischen Kontexten und aktuellen post-kolonialen Strukturen auseinandersetzten. Die Mikroprojekte mit der meisten Zustimmung sind dagegen überschaubarer in der Umsetzung und machen klar, wie groß die Bandbreite eingereichter Ideen beim Bürgerbudget sein kann: So möchte beispielsweise das Aktionsbündnis "Externer Link: Talbuddeln" Obstbäume auf öffentlichen Stadtflächen pflanzen, der Verein "Externer Link: Lebendige Landwirtschaft" beantragte eine mehrtägige Veranstaltungsreihen zum Thema Ernährungspolitik. Das Budget von insgesamt 200.000€ für Projekte in den Jahren 2022/2023 wird in Wuppertal dabei nicht von der Stadt alleine gestemmt, sondern gemeinsam mit Kooperationspartnern wir der BARMER oder der Gemeinschaftsstiftung für Wuppertal bereitgestellt. Die nächste Auflage des Bürgerbudgets für den folgenden Doppelhaushalt ist für das Jahr 2023 geplant. Mehr zum laufenden Beteiligungsverfahren und dem Bürgerbudget in Wuppertal finden Sie auf Externer Link: wuppertal.de.
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Redaktion Netzwerk Bürgerhaushalt - Lea Crescenti
"2022-12-16T00:00:00"
"2022-08-16T00:00:00"
"2022-12-16T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/stadt-land/buergerhaushalt/511954/wuppertal-mehr-chancengleichheit-beim-buergerbudget/
Mehr Motivation auch für kleine Initiativen oder Einzelne – erreichen möchte das die Stadt Wuppertal, indem ein Teil des Bürgerbudgets gesondert für sogenannte „Mikroprojekte“ reserviert ist. Die Umsetzung der Ideen läuft in diesem Jahr.
[ "Bürgerhaushalt - Bürgerbudget", "kommunaler Haushalt", "Mitbestimmung" ]
30,307
Filmpädagogische Arbeit an der Deutschen Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen | Kulturelle Bildung | bpb.de
Interner Link: Link zum Praxisbeispiel "Film in der DDR – die DDR im Film" Die technischen, inhaltlichen und ästhetischen Entwicklungen in der Welt des bewegten Bildes, sowohl in Bezug auf Film und Fernsehen als auch auf die Neuen Medien, verlaufen sehr schnell. Angesichts dessen fällt es Pädagoginnen und Pädagogen häufig schwer, sich ausreichend Medienkompetenz anzueignen, um diese im schulischen oder auch außerschulischen Kontext weiterzugeben. Zeit und Know-how sind für viele der Menschen, die im Bildungskontext arbeiten, zwei große Hürden auf dem Weg zur praktischen Verankerung von Medien- und Filmbildung in ihrer alltäglichen Bildungsarbeit. Großer Bedarf an Auseinandersetzung mit dem bewegten Bild Während die schulischen Lehrpläne der "Medienkompetenz" und auch spezifisch den Medien Film und Fernsehen zunehmend Platz einräumen (z.B. im Fachunterricht Geschichte und Deutsch) und deren Vermittlung fordern, wächst der Bedarf an Filmbildungs-Konzepten, die im (schulischen oder außerschulischen) Alltag realisierbar sind. Doch der Bedarf einer intensiveren Beschäftigung mit dem bewegten Bild ergibt sich nicht allein aus curricularen Vorgaben. Vielmehr ist es die Bedeutung der bewegten Bilder für den Alltag, ihre Einbettung in die Lebenswelt besonders jüngerer Menschen, die sowohl die Auseinandersetzung mit den Medien als auch deren Integration in die Bildungsarbeit unbedingt erforderlich machen. Dabei geht es nicht allein um die Auseinandersetzung mit den technischen Aspekten der Medien und den filmpraktischen Einsatz. Es geht vielmehr auch um die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Filmen, als Kunstwerken und Produkten ihrer Zeit, mit einem spezifischen Entstehungskontext, einer impliziten oder expliziten Verarbeitung historischer und politischer Ereignisse uvm. Filme können, sofern sie als Quelle ernst genommen werden, dem kritischen Betrachter weitaus mehr erzählen, als es Drehbuchautor und Regisseur womöglich zum Produktionszeitpunkt vorgesehen haben – genau letzterer Aspekt kann von besonderem Interesse sein. Methodensteckbrief Kurzbeschreibung Kleingruppen recherchieren ausgewählte Aspekte der Alltags- und Filmgeschichte der DDR. Gearbeitet wird mit Ausstellungexponaten, Filmausschnitten und weiteren Quellenmaterialien. In Einstiegs- und Abschlussdiskussionen werden die Themen besprochen und Rechercheergebnisse zusammengetragen. Grundwissen zur allgemeinen DDR-Geschichte ist dabei erforderlich. ZieleGrundzüge der Alltags- und Filmgeschichte der DDR sowie Möglichkeiten kritischer Medienanalyse werden vermittelt. Teilnehmerzahl20-30 Personen AltersstufeSek I und II Zeitbedarf 3 Std. RaumSeminarraum und Ausstellungsräume des Museums für Film und Fernsehen Berlin Benötigte Ausstattung / Materialien Projektionstechnik Filmausschnitte Arbeits- und Quellenmaterialien Sparte / Bereich / Feld Film / Video/ TVNeue Medien Vorteile außerschulischer Lernorte Die Nachfrage nach Fortbildungsmöglichkeiten, nach fachlich und pädagogisch geschulten Personen, aber auch der Bedarf an alltagstauglichen Konzepten hat stark zugenommen. Ansprechpartner sind häufig externe Fachleute und Bildungsabteilungen der außerschulischen Lernorte, denn manch ein Thema lässt sich außerhalb der schulischen Räume und fern regulärer Unterrichtsformate abwechslungs- und kenntnisreicher aufbereiten. Neben einem Fundus an themenbezogenen Materialien – so im Falle der Deutschen Kinemathek die Ausstellungsexponate sowie die Bestände aller Sammlungen und Archive – sind es kreative Konzepte und ein engagiertes pädagogisches Personal, die außerschulische Lernorte mit ihren vielfältigen Bildungsangeboten zu optimalen Orten filmischer Bildungsarbeit machen. Hier werden Anregungen bei der filmpädagogischen Arbeit ebenso geboten wie erprobte pädagogische Konzepte, die Privatgruppen, Schulen und Universitäten ansprechen. Als Institution, die im gesamten Bundesgebiet und auch darüber hinaus Ansprechpartner für Fragen der Filmbildung ist, hat die Deutsche Kinemathek in den vergangenen Jahren ein umfassendes Bildungsangebot erarbeitet, das den Interessen sowie den Bedürfnissen vielfältiger Zielgruppen gerecht wird. Das bewegte Bild fasziniert insbesondere junge Menschen und ist zunehmend mit ihrem Alltag verwoben, über das Internet im Allgemeinen und Social Media sowie entsprechend attraktive Hardware im Besonderen. Doch alle Altersgruppen und nahezu alle gesellschaftlichen Schichten interessieren sich für Ästhetik und Technik, Filmsprache und Filmpraxis sowie Geschichte und Gegenwart der Medien, oder für eine der vielen weiteren Facetten des bewegten Bildes. Der Faszination für das bewegte Bild muss daher ebenso entsprochen werden wie dem gesellschaftlichen Bedürfnis, einen differenzierten Umgang – insbesondere mit den Medien Film und Fernsehen - zu schaffen. Neben oder sogar anstelle des reinen Konsums bewegter Bilder kann eine kritische und reflektierte Auseinandersetzung treten. So widmet sich beispielsweise das Filmbildungsprojekt der Deutschen Kinemathek "Sehen lernen – bewegte Bilder in Schule und Museum" seit 2008 der Frage, wie das bewegte Bild sowohl innerhalb als auch außerhalb der schulischen Lehrpläne stärker in der Bildungsarbeit verankert und dort differenzierter behandelt werden kann. Filmbildung im Workshop-Format Die Erfahrungen der praktischen Bildungsarbeit haben gezeigt, dass besonders Workshop-Formate in Umfang, Arbeitsformen und inhaltlicher Ausgestaltung dem Bedarf Vieler entsprechen, sich eingehend mit dem bewegten Bild auseinanderzusetzen. Die Vorzüge solcher Formate sind vielfältig: Der mögliche zeitliche Umfang von Workshop-Formaten lässt eine besonders tiefgehende Auseinandersetzung mit einem Thema und die Anwendung von Erlerntem zu. So wird eine bessere Verankerung der angeeigneten Inhalte und Kompetenzen ermöglicht. Ein Workshop sollte mindestens drei Stunden dauern, bestenfalls aber länger (z.B. Durchführung im Rahmen eines Projekttages). Die Teilnehmenden haben so Zeit sich im angemessenen Umfang mit dem jeweiligen Thema zu beschäftigen. Fehlende Grundlagen (z.B. zu Filmsprache, Genres, historischem und politischem Kontext uvm.) können erarbeitet, ergänzende Quellenmaterialien ggf. recherchiert und herangezogen werden. Außerdem – dies ist besonders wichtig – können Filme vollständig (besonders geeignet in einer größeren Gruppe oder im Klassenverband) oder in ausgewählten Ausschnitten (besonders geeignet für Partnerarbeit oder Kleingruppen) angesehen werden. Die Nutzung von Filmausschnitten hat dabei zudem den großen arbeitspraktischen Vorzug, dass dank des Zitatrechts in der Regel keine Rechte Dritter verletzt werden.Die Workshoparbeit ermöglicht die Herausbildung und Förderung wichtiger Kompetenzen für Schule und Alltag. In Partner- und Gruppenarbeit können Recherche- und Arbeitsaufgaben bearbeitet werden. Gemeinsame Diskussionen in der Arbeitsgruppe und eine abschließende Ergebnis-Präsentation fördern nicht nur die intensive Auseinandersetzung mit den Workshopinhalten, auch Kompetenzen wie Kommunikations- und Teamfähigkeit, Kritikfähigkeit, eigenständiges Recherchieren und Erarbeiten von weiterführenden Informationen werden erworben und trainiert – ganz abgesehen von der vielseits eingeforderten Medienkompetenz, bei Filmen spezifischer auch der "Filmlesekompetenz".Fachlich kompetente pädagogische Referentinnen und Referenten sind nicht nur mit der spezifischen Materie und den behandelten Inhalten sowie Materialien gut vertraut. Zugleich sind es in den Augen der Workshopteilnehmenden "neue Gesichter", die Abwechslung von den gewohnten Lernabläufen und der Methodenwahl versprechen. Dieser personelle "frische Wind" erleichtert ungemein die Arbeit und damit Vermittlung von Wissen. Workshops an der Deutschen Kinemathek – einige Anregungen Angesichts der zahlreichen Vorzüge bietet auch das Bildungsangebot der Deutschen Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen eine Reihe an rezeptiv oder produktiv ausgerichteten Workshops und Filmkursen für diverse Alters- und Zielgruppen. Einige Beispiele, die als Anregung dienen können: Während des filmpraktisch-produktiv ausgerichteten Workshops "Mein eigener Trickfilm!" werden Interessenten die Funktionsweise des bewegten Bildes und ausgewählte Trickfilmtechniken erläutert, um anschließend gemeinsam einen eigenen kurzen Trickfilm-Clip zu entwickeln und in Stop-Motion-Technik umzusetzen. Es handelt sich dabei um ein Angebot, das altersunabhängig auf große Resonanz stößt und in technisch reduzierter Form auch von jedem engagierten Pädagogen in der Schule oder in "Heimarbeit" umgesetzt werden kann. In dem rezeptiv ausgestalteten Workshop "Drehbuch, Storyboard und filmische Umsetzung" beschäftigen sich die Teilnehmenden mit dem Entstehungsprozess eines Films vom Drehbuch über das Storyboard bis hin zur filmischen Umsetzung. Grundlagenkenntnisse zu filmischen Gestaltungsmitteln, der Funktion und Ausgestaltung von Storyboard und Drehbuch werden vermittelt. Anhand von Originalquellen deutscher und internationaler Filmproduktionen werden anschließend die Storyboards zu einzelnen Drehbuchsequenzen sowie deren filmische Umsetzung analysiert. Auch dieses Workshop-Format lässt sich in ähnlicher Form selbstständig erarbeiten und durchführen. Drehbücher und Storyboards sind teilweise online verfügbar – oder sie sind im Schriftgut- und Nachlassarchiv der Deutschen Kinemathek in Berlin zu finden. Filmausschnitte dazu können im rechtlich zulässigen Rahmen technisch unkompliziert selbst erstellt werden. Mit den "Filmkursen" bietet das Museum für Film und Fernsehen zudem ein besonderes filmpädagogisches Workshop-Format. Diese Workshops sollen dazu anregen, sich besonders intensiv mit einem ausgewählten Werk der deutschen Filmgeschichte – sowohl Klassiker als auch zeitgenössische Filme – zu beschäftigen. Der Film wird mit seinen vielfältigen Facetten analysiert und thematisch, historisch sowie ästhetisch eingeordnet. Abhängig vom gewählten Schwerpunkt bestehen die Kurse aus Vollsichtung, Sichtung von Filmausschnitten, angeleitetem Filmgespräch, Erarbeiten des Entstehungskontextes und der Rezeptionsgeschichte anhand der Ausstellungen und verschiedener Archiv- und Quellenmaterialien sowie eines Vergleichs mit anderen filmischen Werken. Bei öffentlichen oder teilöffentlichen Vorführungen müssen jedoch entsprechende Rechte vorab geklärt und ggf. abgegolten werden. Filmbildung und Friedliche Revolution Im Jubiläumsjahr 2009 genoss die Friedliche Revolution in der DDR 1989 große Aufmerksamkeit. Im gesamten Bundesgebiet entstanden vielfältige und umfassende Bildungsangebote. Oft wurde der Zugang zum Thema über die Medien Film und Fernsehen gesucht, was sich aus zwei Motiven erklären lässt: Film und Fernsehen waren in der DDR stark durch das Regime beschränkt, beeinflusst und somit geprägt. Der von der Bevölkerung erzwungene Niedergang des Regimes, die Umbruchszeit 1989/1990, wurde – oftmals ohne Überwachung und frei von Zensureingriffen – intensiv medial begleitet. Spielfilme verarbeiteten wiederum im Nachhinein das Geschehene. So wird heute die Vorstellungswelt von den Ereignissen durch einen reichen fotografischen und filmischen Bilderfundus geprägt. Bewegte und unbewegte Bilder stellen den Alltag und seine Probleme in der DDR dar, dokumentieren und kommentieren die Umbruchszeit und verarbeiten im Rückblick das Leben und die Beschränkungen, denen die Bürger der DDR - weit über das Filmschaffen hinaus – unterworfen waren. Obwohl sie durch einseitige Betrachtungsweisen das Verständnis der Ereignisse verzerren können, werden sie mittels angemessener Analyse zu einer unschätzbaren Quelle. Hinzu kommt, dass bewegte Bilder gegenwärtig eine zentrale Bedeutung für die Lebenswelt junger Menschen besitzen. Sie sind in der Freizeit ebenso präsent wie in der Schule oder am Arbeitsplatz. Die Bereitschaft gerade junger Menschen, sich anhand dieser Medien mit der Umbruchszeit zu beschäftigen, ist daher besonders groß. Auch die Deutsche Kinemathek hat seit dem zwanzigjährigen Jubiläum der Friedlichen Revolution eine Reihe von Filmbildungsangeboten entwickelt, die sich mit unterschiedlichen Facetten der DDR, der Umbruchszeit und auch der rückblickenden Aufarbeitung beschäftigen. Neben dem frei zugänglichen Internet-Portal "unterricht.wir-waren-so-frei.de", das private Film- und Fotoaufnahmen der Umbruchszeit für den schulischen Kontext aufarbeitet und in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung entstanden ist, lädt des Weiteren ein Filmkurs sowie der Workshop "Film in der DDR – die DDR im Film" zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Themenfeld ein. Bei Stop-Motion oder Stopptrick wird ein Film oder eine Filmszene Bild für Bild produziert. Dabei zeichnet die Kamera jeweils ein einziges Bild auf, anschließend werden die Gegenstände, Figuren etc. vor der nächsten Einzelbildaufnahme manuell neu arrangiert. Beim Abspielen der Einzelbilder in Folge wird die Wirkung eines bewegten Bildes erzielt (Animation). Die Kamera bleibt bei dieser Technik in gleicher Position, während die von ihr erfassten Bildelemente verändert werden. Wenn bei einem Stop-Motion-Film nicht mit räumlichen, sondern mit zweidimensionalen Materialien gearbeitet wird, spricht man auch von "Legetrick".
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Jurek Sehrt, Stefan Zollhauser
"2023-02-17T00:00:00"
"2012-01-26T00:00:00"
"2023-02-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/60401/filmpaedagogische-arbeit-an-der-deutschen-kinemathek-museum-fuer-film-und-fernsehen/
Filmbildung findet sehr erfolgreich an außerschulischen Lernorten wie Museen statt. Ein Beispiel ist die pädagogische Arbeit der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen in Berlin.
[ "Deutsche Kinemathek" ]
30,308
Schließung der Landeszentrale für politische Bildung in Niedersachsen | Presse | bpb.de
Am 19. Juli haben sich die Leiterinnen und Leiter der Landeszentralen für politische Bildung und der Bundeszentrale für politische Bildung in Frankfurt a.M. zu einer außerordentlichen Sitzung getroffen. Anlass für dieses Treffen war der unerwartete Beschluss der niedersächsischen Landesregierung, die niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung zum 31.12.2004 zu schließen. Die Teilnehmenden brachten ihr Unverständnis zum Ausdruck, dass die Landesregierung mit der Schließung der Landeszentrale ein Element aus dem bewährten System der staatlichen politischen Bildung in Deutschland herausbricht. Nach Auffassung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer könnte die Entscheidung das Risiko erhöhen, dass sich der Staat aus seiner Verantwortung für die politische Bildung in Deutschland generell zurückzieht und damit unabhängige und überparteiliche politische Bildung preisgibt. Vor diesem Hintergrund halten es die Teilnehmenden für zwingend erforderlich, den Diskurs über die Zukunft der politischen Bildung auf breiter gesellschaftlicher Basis zu führen. Eine gemeinsame Veranstaltung im kommenden Herbst wird dazu ein Forum bieten. Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Swantje Schütz Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel.: +49 228 99515-284 Fax: +49 228 99515-293 E-Mail: E-Mail Link: schuetz@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50798/schliessung-der-landeszentrale-fuer-politische-bildung-in-niedersachsen/
Am 19. Juli haben sich die Leiterinnen und Leiter der Landeszentralen und der Bundeszentrale für politische Bildung zu einer außerordentlichen Sitzung getroffen. Anlass war der unerwartete Beschluss der niedersächsischen Landesregierung, die Landesze
[ "Unbekannt (5273)" ]
30,309
"Deutschland schreibt Klassenarbeit" | Digitalisierte Demokratie | bpb.de
Sie haben mit Ihrer Studie versucht, die gesamtgesellschaftliche digitale Nachrichtenkompetenz altersübergreifend zu erfassen. Wieso? Anna-Katharina Meßmer: Es gab schon einige Studien, die sich damit beschäftigt haben, ob Menschen denken, dass sie beispielsweise Desinformationen erkennen. Aber das waren alles Selbstauskunftsangaben, daher haben wir uns dazu entschlossen einen Test mit ganz klassischen Wissensfragen und Screenshots aus der alltäglichen Medienumgebung zu entwickeln. Intern hieß das bei uns immer "Deutschland schreibt Klassenarbeit". Über die Studie "Quelle:Internet?" Für die Studie Externer Link: "Quelle:Internet? Digitale Nachrichten- und Informationskompetenzen der deutschen Bevölkerung im Test" der Externer Link: Stiftung Neue Verantwortung (SNV) hat ein interdisziplinäres Forschungsteam im Herbst 2020 die digitale Informations- und Nachrichtenkompetenz der deutschen Bevölkerung mittels einer repräsentativen Stichprobe geprüft. Insgesamt konnten in dem Test 30 Punkte erreicht werden, allerdings erreichten die Teilnehmenden im Durchschnitt nur 13,3 Punkte. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die erwachsene Bevölkerung mit Internetanschluss in Deutschland. Die Forschung wurde von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, der Landesanstalt für Medien NRW und der Medienanstalt Berlin Brandenburg (mabb) unterstützt. Für die Studie Externer Link: "Quelle:Internet? Digitale Nachrichten- und Informationskompetenzen der deutschen Bevölkerung im Test" der Externer Link: Stiftung Neue Verantwortung (SNV) hat ein interdisziplinäres Forschungsteam im Herbst 2020 die digitale Informations- und Nachrichtenkompetenz der deutschen Bevölkerung mittels einer repräsentativen Stichprobe geprüft. Insgesamt konnten in dem Test 30 Punkte erreicht werden, allerdings erreichten die Teilnehmenden im Durchschnitt nur 13,3 Punkte. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die erwachsene Bevölkerung mit Internetanschluss in Deutschland. Die Forschung wurde von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, der Landesanstalt für Medien NRW und der Medienanstalt Berlin Brandenburg (mabb) unterstützt. Was sind die zentralen Erkenntnisse der Studie? Anna-Katharina Meßmer: Im Durchschnitt wurden weniger als die Hälfte der Punkte in unserem Test erreicht. Je höher der Bildungsabschluss war, desto besser fielen auch die Ergebnisse aus. Und: Die digitale Nachrichtenkompetenz sinkt mit dem Alter. Bis heute beschäftigt mich am meisten, dass Menschen mit niedriger Bildung in der jüngeren Altersgruppe von 18-39 Jahren besonders schlecht abgeschnitten haben. In den höheren Altersgruppen war der Bildungsunterschied nicht so stark. Ein zweiter Aspekt sind die unterschiedlichen Wissens- und Vertrauensdimensionen, wenn es um das Zusammenspiel von Medien und Politik geht. Es gibt ein allgemeines Medienmisstrauen und die Vorstellung, dass Medien und Politik Hand in Hand arbeiten würden, um die Bevölkerung zu beeinflussen. Wenn man aber nach dem Vertrauen in ganz konkrete Medien fragt, dann sieht man, dass zum Beispiel das Vertrauen in die öffentlich-rechtlichen Medien eher hoch ist. Allerdings differenziert sich das wieder aus, wenn man auf verschiedene Bildungsgrade schaut. Auch hier zeigt sich: Vor allem jüngere Menschen mit niedriger Bildung haben ein geringes Vertrauen in konkrete Medien wie beispielsweise den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Was glauben Sie, woran das liegt? Anna-Katharina Meßmer: Niedrige Bildung hängt oft auch mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status zusammen. Und die Anliegen dieser Menschen werden weniger politisch aufgegriffen. Das lässt sich empirisch gut belegen. Dass dann Menschen das Gefühl haben, sie werden von der Politik nicht gehört und nicht vertreten, hat eine signifikante Berechtigung. Meines Erachtens gilt das Gleiche auch für journalistische Angebote. Ich habe den Eindruck, dass viele davon sehr akademisch sind. Studienleiterin Anna-Katharina Meßmer. (© Sebastian Heise) In der Studie taucht auch die Variable der demokratischen Grundhaltung auf. In welchem Zusammenhang steht diese mit der gemessenen Medienkompetenz? Anna-Katharina Meßmer: Hinter Definitionen der Medienkompetenz steht oft die Grundannahme, dass diese für eine demokratische Grundhaltung wichtig sei. Deswegen haben wir unter anderem auch nach dem Politik- und Nachrichteninteresse gefragt sowie nach Vertrauen in Medien und Demokratie oder wie wichtig die Teilnehmenden unabhängigen Journalismus für das Gelingen einer Demokratie finden. Es zeigte sich eine sehr hohe Korrelation zwischen Nachrichtenkompetenz und demokratischer Grundhaltung. Das kann zwei Dinge bedeuten: Dass es Menschen, die ein hohes Vertrauen in Medien und Demokratie aufzeigen, leichter fällt, belastbare Informationen zu finden und sie deswegen eine höhere Nachrichten- und Informationskompetenz haben. Oder andersherum, dass Menschen, die eine sehr hohe Nachrichten- und Informationskompetenz haben, besser darin sind, zuverlässige Informationen zu finden, deswegen weniger anfällig für Desinformationen sind und so ein höheres Nachrichtenmedien- und Demokratievertrauen haben. Vermutlich ist es eine Wechselwirkung aus beidem. Welche politischen Implikationen ergeben sich durch die Studienergebnisse? Anna-Katharina Meßmer: Zum einen die stärkere Regulierung von Social-Media-Plattformen. Da geht es etwa um die Frage, wie Plattformen ihren Nutzerinnen und Nutzern mehr Übersichtlichkeit über verschiedene Formate bieten können. Zum anderen haben wir in Deutschland ein massives Defizit in der digitalen Bildung. Da sehen wir, dass bis vor 2-3 Jahren vor allem über Bedienkompetenz und die technische Ausstattung an Schulen diskutiert wurde. Aber es wurde nicht so viel darüber nachgedacht, was eigentlich eine veränderte Medienlandschaft für die alltägliche Nachrichtennutzung von Schülerinnen und Schülern bedeutet. Wie sähe eine bessere schulische Medienkompetenzbildung aus? Anna-Katharina Meßmer: Ich fürchte, dass wir noch einen Schritt weiter vorne anfangen müssen. Wir brauchen eine bessere digitale Bildung in der Lehrkräfteausbildung. Und wir brauchen Formate, in denen Lehrerinnen und Lehrer auch dazu bereit sind, von ihren Schülerinnen und Schülern zu lernen. Und wo liegen die Wissenslücken? Anna-Katharina Meßmer: Es gibt sehr große Defizite in allgemeinem Grundwissen über journalistisches Arbeiten. Zum Beispiel darüber, dass Berichte über einen Minister veröffentlicht werden können, ohne dass das Ministerium diesen Bericht freigibt. Oder, dass der Bundestag nicht darüber mitbestimmen darf, was die Öffentlich-Rechtlichen berichten. Anderes Beispiel: Nur 23 Prozent unserer Testpersonen haben auf einer Nachrichtenseite ein "Advertorial" als Werbung erkannt. Advertorials zielen ja genau darauf ab, so zu tun, als wären sie ein richtiger Artikel – dabei sind es eingekaufte Werbebeiträge. Da könnte man politisch strengere Richtlinien verlangen, dass da dann einfach "Werbung" steht. Freiwillig würden die Nachrichtenanbieter das wohl nicht machen, weil sie damit Geld verdienen. Gleiches gilt bei Kommentaren. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass nicht allen klar ist, was ein Kommentar ist. Man könnte den einfach als das benennen, was er ist: Meinung. Ich habe den Eindruck, dass sich hier das Zusammenspiel von demokratischer Grundhaltung und Nachrichtenkompetenz herauskristallisiert. Vielleicht sollten wir deswegen nicht immer nur fragen: "Was sind die politischen Implikationen?", sondern auch "Was können, müssen, sollten journalistische Formate eigentlich leisten, um Leserinnen und Leser besser darüber zu informieren, wie ihr journalistisches Arbeiten im Alltag aussieht?" Wie könnte das konkret aussehen? Anna-Katharina Meßmer: Zum Beispiel, indem man stärker zwischen den verschiedenen Formaten unterscheidet und man diese auch erklärt. In der Zeitung sind die häufig noch klarer räumlich getrennt, online geht das stärker durcheinander. Ist Medienkompetenz Ihrer Meinung nach heute wichtiger als in der Vergangenheit? Anna-Katharina Meßmer: Ich glaube nicht, dass es wichtiger ist, sondern dass sich verändert hat, worauf der Fokus liegt. Als ich studiert habe, war zum Beispiel gerade ein großes Thema, welchen Einfluss Frauen- und Jugendzeitschriften auf Körperbilder von jungen Mädchen haben. Ich würde nicht sagen, dass Medienkompetenz weniger wichtig war, aber statt Social Media sah man damals Zeitschriften und Fernsehsendungen als zentrale Herausforderung. Zum Abschluss: Stimmen die Studienergebnisse Sie eher optimistisch oder pessimistisch? Anna-Katharina Meßmer: Mein Grundgefühl ist: Da ist noch ganz schön viel zu tun. Ich glaube aber, dass die Studie geholfen hat, zu verstehen, wo Wissen fehlt und wo nicht. Wenn wir da systematisch in allen Bereichen angreifen, bildungspolitisch, in der Plattformregulierung, aber auch bei journalistischen Angeboten, dann werden sich die Ergebnisse verbessern. Wir haben in den letzten drei Jahren schon gesehen, dass die Awareness durch die Pandemie und den russischen Angriffskrieg angestiegen ist. Das Interview führte Leonie Meyer. Studienleiterin Anna-Katharina Meßmer. (© Sebastian Heise)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-04-12T00:00:00"
"2023-03-30T00:00:00"
"2023-04-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/519632/deutschland-schreibt-klassenarbeit/
Die Studie "Quelle:Internet?" hat die digitale Nachrichten- und Informationskompetenz untersucht. Trotz ernüchternder Ergebnisse gibt sich Forscherin Anna-Katharina Meßmer im Interview optimistisch.
[ "Medienkompetenz", "Nachrichtenkompetenz", "Informationskompetenz", "Digitalisierung", "Demokratie", "Journalismus" ]
30,310
Das Flüchtlingsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei | Türkei | bpb.de
Die Vereinbarung sieht insbesondere vor, dass Asylsuchende, die die Türkei als Transitland genutzt haben und auf den griechischen Inseln erstmals das Territorium der EU betreten, wieder in die Türkei abgeschoben werden sollen. Für jede von den griechischen Inseln in die Türkei abgeschobene Person aus Syrien soll eine andere syrische Person aus der Türkei in der EU neu angesiedelt werden (1:1-Mechanismus). Darüber hinaus hat die Interner Link: EU allgemein zugesichert, dass die Mitgliedstaaten schutzbedürftige Personen aus der Interner Link: Türkei aufnehmen werden, sofern die irregulären Grenzüberschreitungen zwischen der Türkei und der EU erheblich und nachhaltig zurückgehen. Des Weiteren hat die EU eine schnelle Auszahlung von drei Milliarden Euro und bis Ende 2018 weitere drei Milliarden Euro für konkrete Projekte in den Bereichen der Grundversorgung, Gesundheit und Bildung für Personen zugesagt, die in der Türkei vorübergehenden Schutz genießen. Außerdem ist beabsichtigt, die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei zu vertiefen. Hierzu sollen insbesondere die Verhandlungen zu einem Beitritt der Türkei zur EU und zur Visaliberalisierung beschleunigt werden. Die Visumspflicht für türkische Staatsangehörige in EU-Mitgliedstaaten hätte danach bereits Ende Juni aufgehoben werden sollen. Vor allem sollen nach der Vereinbarung Menschen, die seit dem 20. März 2016 auf den griechischen Inseln ankommen, wieder in die Türkei abgeschoben werden. Zugleich sieht die Vereinbarung die Möglichkeit vor, einen Asylantrag stellen zu können, wobei alle Asylanträge von den griechischen Behörden einzeln bearbeitet werden. Das "Interner Link: EU-Recht und das Völkerrecht" werde dabei "uneingeschränkt" gewahrt, so heißt es in der Vereinbarung. In der Praxis ist die EU-Türkei-Vereinbarung vor allem von Interner Link: Griechenland umzusetzen. Bevor die Vereinbarung in Kraft trat, wurden Asylsuchende, die auf den griechischen Inseln eintrafen, in so genannten "Hot Spots", aufgenommen und registriert, nicht aber inhaftiert. Nunmehr sind die "Hot Spots" faktisch zu Hafteinrichtungen geworden. Geschah die Inhaftierung zunächst ohne gesetzliche Grundlage, sieht das griechische Gesetz seit Anfang April die Möglichkeit vor, die Freiheit der Betroffenen bis zu 28 Tage einzuschränken. Mit welchem Ergebnis die griechischen Asylbehörden die bisher gestellten Asylanträge entschieden haben, ist weitestgehend unklar. Öffentlich bekannt wurde bisher insbesondere eine Entscheidung, die den Asylantrag einer syrischen Person für zulässig erachtet hat. In der Begründung der Entscheidung wurde ausgeführt, dass die Türkei nicht Interner Link: als "sicher" eingestuft werden könne. In Reaktion darauf kam es bereits zu einer Intervention von der Interner Link: EU-Kommission, die Anfang Mai einen Brief an griechische Stellen geschickt hat. Darin erläuterte sie, warum die Türkei Interner Link: als "sicher" betrachtet werden könne. Tatsächlich strebt die griechische Regierung - in Übereinstimmung mit der EU-Kommission – bei den Interner Link: Asylverfahren eine Entscheidungspraxis an, in der im Sinne der EU-Kommission entschieden und abgeschoben werden soll. Zum Thema Interner Link: Hendrik Cremer: Menschenrechtliche Bewertung des Flüchtlingsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Türkei Interner Link: Länderprofil Türkei Interner Link: Länderprofil Griechenland Interner Link: Kurzdossier: Flucht und Asyl: Grundlagen Interner Link: Kurzdossier: Deutsche Asylpolitik und EU-Flüchtlingsschutz im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems Kurzdossier: Frontex und das Grenzregime der EU
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-12T00:00:00"
"2017-02-23T00:00:00"
"2022-01-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/243222/das-fluechtlingsabkommen-zwischen-der-europaeischen-union-und-der-tuerkei/
Die Europäische Union (EU) hat am 18. März 2016 eine Vereinbarung mit der Türkei getroffen, die dazu führen soll, dass weniger Menschen Europa erreichen, um hier Asyl beantragen zu können. Welche Regelungen beinhaltet das Abkommen im Einzelnen?
[ "Flüchtlingsabkommen", "Türkei", "Europäische Union" ]
30,311
Einwanderung und Einwanderungspolitik | Philippinen | bpb.de
Die Volkszählung (Zensus) im Jahr 2010 registrierte 177.368 ausländische Staatsangehörige, die auf den Philippinen lebten und 0,2 Prozent an der Gesamtbevölkerung des Landes stellten. Es handelt sich dabei überwiegend um Erwachsene im Alter von 20 bis 59 Jahren, wobei Männer dominieren (vgl. Tabelle 1). Die Herkunftsländer sind heterogener als noch vor 40 Jahren. Damals stammten rund drei Viertel aller Ausländer im Land aus China, Japan, Südkorea und den USA. Die Hauptherkunftsländer 2010 waren die Vereinigten Staaten (16.9 Prozent), China (16.2 Prozent), Japan (6.5 Prozent), Indien (5.1 Prozent) und Südkorea (3.3 Prozent). Ausländische Staatsangehörige nach Geschlecht, Alter, Bildungsniveau und Staatsangehörigkeit 1970 –2010 Hinweis: Die Zahlen für 1970 sind folgender Publikation entnommen: Concepcion, M.B. (Hg.) (1977): Population of the Philippines. Quezon City: UP Population Institute. Die Schätzungen für 1990 beruhen auf einer Stichprobe (10%) des Zensus. Die Zahlen für 2010 beruhen auf den vollständigen im Rahmen des Zensus erhobenen Daten. Die Verteilung nach Bildungsniveau bezieht sich auf Personen im Alter von fünf Jahren und älter. 197019902010 Gesamt219.438158.974177.368 Nach Geschlecht (in %) männlich52,652,656,7 weiblich47,447,443,3 Nach Altersgruppe (in %) unter 20 Jahre-41,134,9 20 – 59-48,558,2 über 59 Jahre-10,56,9 Nach Bildungsniveau (in %) Ohne Grundschulabschluss -27,7- Grundschulbildung abgeschlossen-20,5- Sekundarabschluss -25,1- Akademischer Abschluss-10,8- Nicht bekannt-3,2- Nach Land der Staatsangehörigkeit (in %) China39,637,816,2 Japan23,62,06,5 Südkorea5,70,33,3 USA8,713,616,9 Andere22,546,357,1 Quelle: Battistella und Asis (2013). Lizenz: Creative Commons by-nc-nd/3.0/de Bundeszentrale für politische Bildung, 2014, Externer Link: www.bpb.de Dem Büro für Einwanderung (Bureau of Immigration) obliegt die alleinige Zuständigkeit der Umsetzung von Gesetzen im Bereich der Einwanderung ausländischer Staatsangehöriger. Dazu zählen sowohl die Verwaltung, Registrierung, der Ausschluss, die Ausweisung und die Rückschiebung ausländischer Staatsangehöriger als auch die Kontrolle der Einwanderung. Im Jahr 2012 registrierten sich 203.753 ausländische Staatsangehörige beim Einwanderungsbüro im Rahmen seines jährlichen Programms zur Registrierung von Ausländern. Ein Gesetz verlangt seit 1950, dass sich Ausländer jährlich registrieren lassen. Von den registrierten Ausländerinnen und Ausländern waren 28,9 Prozent Studierende. Die Zahl ausländischer Studierender hatte sich damit seit 2008 vervierfacht. Bei 47.000 ausländischen Staatsangehörigen handelte es sich um so genannte "non-immigrant aliens", also Ausländer ohne Einwandererstatus. Zwischen 2004 und 2012 dominierten Männer unter den Neuzuwanderern (vgl. Tabelle 2). Im selben Zeitraum hat der Anteil dauerhafter Einwanderer abgenommen. Gleichzeitig ist die temporäre Zuwanderung von Studierenden und Arbeitskräften mit vor der Zuwanderung abgeschlossenem Arbeitsvertrag gestiegen. Das Ministerium für Arbeit und Beschäftigung (Department of Labor and Employment, DOLE) stellt Arbeitsgenehmigungen für ausländische Staatsangehörige aus, die das Recht haben, in den Philippinen eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Zwischen 1978 und 2010 hat die Zahl der jährlich ausgestellten Arbeitsgenehmigungen 15.000 nicht überschritten. Die 14.325 Arbeitsgenehmigungen, die 2010 ausgestellt wurden, gingen zu 33,2 Prozent an Arbeitskräfte im produzierenden Gewerbe, zu 22,9 Prozent an Arbeitskräfte im Bereich Transport, Lagerung und Kommunikation; 15,4 Prozent der Arbeitserlaubnisse wurden an Beschäftigte im Immobiliensektor vergeben sowie 7,6 Prozent an Arbeitskräfte im Bausektor. Insgesamt wurden Arbeitsgenehmigungen vor allem für hochqualifizierte Beschäftigungsbereiche vergeben, insbesondere an Verwaltungs- und leitende Angestellte sowie Manager (55,7 Prozent) und an Fachkräfte und Techniker (38,3 Prozent). Obwohl das Land eher eine konservative protektionistische Politik in Bezug auf Anteilseignerschaften von Ausländern verfolgt, ist das Visa-System verhältnismäßig liberal. Ausländische Staatsangehörige dürfen ohne Visum für 30 Tage auf den Philippinen verbleiben. Dieses Privileg gilt für Staatsangehörige aus 151 Ländern mit Pässen, die bei der Einreise noch mindestens sechs Monate gültig sind. Für einen längeren Aufenthalt muss in der Regel ein Visum nach dem philippinischen Einwanderungsgesetz von 1940 (Comonwealth Act (CA) No. 613, in aktuellster Fassung) beantragt werden. Ehemalige philippinische Staatsangehörige, die die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes angenommen haben, und ihre ausländischen Familienangehörigen dürfen sich visumfrei bis zu einem Jahr auf den Philippinen aufhalten. Seit den 1980er Jahren wurden auch spezielle Visa z.B. für Rentner, Arbeitgeber und Investoren geschaffen, um ausländische Investitionen anzuziehen und die heimische Wirtschaft zu stimulieren. Dies war in den vergangenen 30 Jahren die Grundintention der philippinischen Einwanderungspolitik. Auch wenn die Philippinen in Bezug auf ihre Offenheit gegenüber Einwanderern positiv bewertet worden sind, hat das Thema Integrationspolitik bislang keine besondere Bedeutung in der öffentlichen Debatte eingenommen. Dennoch gab es einige Bemühungen, zielgerichtete Dienstleistungen für spezifische Einwanderergruppen zur Verfügung zu stellen. 1985 zum Beispiel wurde die philippinische Rentenbehörde (Philippine Retirement Authority) eingerichtet, um Programme und Dienstleistungen für ausländische Staatsangehörige einzurichten, die ihren Lebensabend auf den Philippinen verbringen wollen. Bis 2012 wurde insgesamt 27.000 Rentnern aus 107 verschiedenen Ländern eine Aufenthaltserlaubnis (Special Resident Retiree’s Visum) von der Behörde ausgestellt. Die Regierung verlangt, dass sich Ausländer, die in den Philippinen leben, jährlich registrieren lassen. Dies umfasst in der Regel Personen, die keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus besitzen. Während diese “non-immigrant aliens” nicht dauerhaft in den Philippinen verbleiben dürfen, gibt es bestimmte Gruppen, wie z.B. Rentner, die über einen längeren Zeitraum im Land leben dürfen. Die Verfassung von 1987 limitierte ausländische Anteilseignerschaften in wichtigen Wirtschaftssektoren. Ausländer dürfen demnach nur maximal 40% der Anteile an einem Unternehmen besitzen. 2011 rangierten die Philippinenen laut Forbes Magazine beispielsweise auf Platz 8 von 31 im Rahmen des HSBC Expat Explorer Surveys analysierten Ländern in Bezug auf die Freundlichkeit gegenüber entsandten Arbeitnehmern (Expatriates).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-21T00:00:00"
"2014-02-03T00:00:00"
"2022-01-21T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/178386/einwanderung-und-einwanderungspolitik/
Die Volkszählung im Jahr 2010 registrierte 177.368 ausländische Staatsangehörige, die auf den Philippinen lebten und 0,2 Prozent an der Gesamtbevölkerung des Landes stellten. Es handelt sich dabei überwiegend um Erwachsene im Alter von 20 bis 59 Jahr
[ "Einwanderung", "Einwanderungspolitik", "Migration", "Migrant", "Gastarbeiter", "Philippinen" ]
30,312
Hinschauen statt glauben. Ein Erfahrungsbericht aus der Langstrecken-Marxlektüre - ESSAY | "Das Kapital" | bpb.de
First of all, I’m glad you like a book. Patton Oswalt Seit ungefähr 30 Jahren lese ich "Das Kapital" und beobachte andere dabei, wie sie darin lesen, damit beginnen oder auch aufhören. Man kann sich in den drei Bänden leicht verlaufen, je nachdem, welchem Lektüreplan man folgt. Wer zum Beispiel denkt, Karl Marx hätte das Buch geschrieben, um zu erklären, wie der Kapitalismus funktioniert, wird in die Irre gehen. Das Buch handelt davon, wie der Kapitalismus eben nicht funktioniert, warum er nicht funktioniert und was man für eine Kritik an ihm zustande bringt, wenn man, wie Marx, dieser Kritik eine ganz bestimmte implizite Vorstellung vom Funktionieren einer Wirtschaftsweise zugrunde legt. Marx glaubt nicht, dass es der Sinn einer Wirtschaftsweise sei, den Menschen das Überleben zu ermöglichen. Pflanzen und Tiere, weiß Marx, überleben gern, aber sie wirtschaften nicht. Sie arbeiten nicht einmal. Am Arbeiten fällt Marx auf, dass es mehr hervorbringt, als diejenigen verbrauchen können, die arbeiten. Den Überschuss nennt er das Mehrprodukt, es ist die gegenständliche Seite dessen, was Marx am menschlichen Wirtschaften und Arbeiten überhaupt interessiert, nämlich dass diese beiden Tätigkeiten geschichtsbildende Potenz haben. Damit ist gemeint, dass sich mit ihrer Hilfe das Reich der Naturnotwendigkeit einschränken und das Reich der menschlichen Freiheit (also Sinnlichkeit, Neugier, Wissenschaft, Ästhetik) ausdehnen lässt. Was Marx mit seinem Hauptwerk überhaupt will, kann man unmöglich verstehen, wenn man nicht sieht, wie er den historischen Verlauf bis zum Kapitalismus sieht: Ganz am Anfang wird für den individuellen Verbrauch erzeugt, dann kommt der Tausch dazu, dann der Markt, dann wird das Arbeiten selbst Teil des Marktes, indem es aus klassisch-persönlichen Ausbeutungs- und Unterdrückungszusammenhängen befreit und in Gestalt der Ware Arbeitskraft auf den Markt gebracht wird. Damit aber wird die Erzeugung tendenziell allgemein oder "abstrakt" – man stellt jetzt nicht mehr her, was irgendwer konkret will, sondern was irgendwer gegen abstraktes Äquivalent, gegen Geld, verkaufen kann, und das ist nichts Spezifisches mehr, sondern allgemein die Ware. Hier erst bietet sich die Chance, von der allgemeinen Erzeugung für den Markt zur allgemeinen Erzeugung für den allgemeinen, nicht festgelegten, freien, immer mehr erweiterten Verbrauch zu produzieren, für die Veränderung der Bedürfnisse, für ihre Emanzipation von Naturnot, für Freiheit. Schimpfwort "Anarchie" Was Marx dem Kapitalismus in diesem Zusammenhang nun vorwirft, wurzelt stets darin, dass dieses Wirtschaftssystem jene geschichtsbildende Potenz der Arbeit und des Wirtschaftens hemmt und beschädigt. Die Verallgemeinerung der Erzeugung hat eine Schranke an einem letzten spezifischen Gebrauchswert: dass sie profitabel sein soll. Das setzt die Freiheit einem Zwang aus, der genauso dumm ist wie früher die Natur. Marx hasst diesen Zwang. Die Erscheinungsebene der kapitalistischen Wirtschaftsweise findet Marx durchweg entstellt durch seine üblen Folgen, nämlich durch, wie es im ersten Band des "Kapital" an sehr grundsätzlicher Stelle heißt, "die Anarchie und Katastrophen der kapitalistischen Produktion im großen und ganzen, die Intensität der Arbeit und die Konkurrenz der Maschinerie mit dem Arbeiter". "Anarchie" ist hier ein Schimpfwort, nicht der Name eines künftigen Paradiesgartens, in dem niemand mehr irgendwen schikaniert, ausbeutet, einsperrt, ausgrenzt oder verkommen lässt. An anderen Stellen benutzt er für das, was er mit "Anarchie" meint, das Adjektiv "naturwüchsig". Das Hauptwort bezeichnet einen beobachtbaren Zustand, das Adjektiv seine Herkunft. Wenn Marx sich über Anarchie und Natur beschwert, ist er das denkbar radikalste Gegenteil eines grünen südwestdeutschen Gemeinschaftskundelehrers im Jahr 1985, der sowohl Anarchie als auch Natur liebt, als einerseits ersehnte (Anarchie) und andererseits vor der Haustür vorfindliche, aber bedrohte (Natur) Ideale. Meine erste eigene Begegnung mit den drei "Kapital"-Bänden fiel in die Zeit, da ich als Schüler die wenig vergnügliche Bekanntschaft besagter Gemeinschaftskundelehrerei machen musste. Mehr als drei Jahrzehnte "Kapital"-Lektüre haben mich seit damals gelehrt, dass es sich lohnt, die Durchdringung, das Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten immer kürzerer syntaktischer Einheiten, einzelner Sätze, ja Nebensätze anhand der Lebenserfahrung, die man parallel dazu macht, in den Mittelpunkt dieser Lektüre zu stellen, statt ein Glaubenssystem aus dem Text zu saugen. Details sind wichtiger als ein imaginärer Riesendurchblick, man kann sie scharf einstellen und dann vergleichen mit dem, was draußen los ist. Die "Intensität der Arbeit" zum Beispiel, die Marx in der zitierten Stelle moniert, kann man an jedem menschlichen Wesen, das in der extrem arbeitsteiligen, durchflexibilisierten und durchmodularisierten Produktionssphäre der Gegenwart sein Geld zum Leben verdienen muss, mühelos agnoszieren. Was er mit der "Konkurrenz der Maschinerie mit dem Arbeiter" meint, ist sogar noch leichter zu erkennen. Es hat sich, seit er den Satz niederschrieb, weit über die wirtschaftlichen Ursache-und-Wirkungszusammenhänge hinaus ausgeweitet, denen man die abstrakte Figur mit Namen "Arbeiter" zur Zeit der Abfassung jenes Satzes zugewiesen hätte: Wer Angst haben muss, in der Produktions- oder Servicelandschaft durch einen Rechner oder gar eine App ersetzt zu werden, kennt diese Konkurrenz als brutale, äußerst effiziente, tägliche, unübersehbare Selektion. Was aber meint Marx nun eigentlich genau mit der im selben Satz erwähnten "Anarchie"? Im ersten "Kapital"-Band erfährt man gar nicht allzu viel darüber. Hat man aber den zwei Folgebänden, die selbst immer anarchischer, da immer weniger von Marx fertiggestellt wurden, genügend Zeit, Aufmerksamkeit und Hirnanstrengung geschenkt, so schält sich ein Bild heraus, in dem jene Anarchie in Gestalt der Reibungsverluste der innerkapitalistischen Konkurrenz sowie der Überproduktionskrisen nichts anderes ist als allgemeine Verschwendung von Ressourcen und Arbeit, ein Produzieren an Bedürfnissen vorbei. Dass es sinnlose, ja destruktive Aspekte an der Konkurrenz gibt, und dass Momente, in denen Werte zerschlagen werden, weil sich für irgendwelche nun einmal produzierten Güter keine Abnehmer finden, nicht schön sind, erkennen inzwischen auch Nichtmarxisten an, sogar Wirtschaftsliberale. Sie sagen dann gern etwas wie: Ja, das ist bedauerlich, aber nur der Pferdefuß am immer noch besten System der Erzeugung und Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtreichtums, das je ersonnen wurde. Der kapitalistische Markt, so sagen sie, ist unparteilich, er baut auch mal Mist, aber er korrigiert sich wieder und ist daher einer Diktatur, einer Kommandowirtschaft, die sich nicht korrigieren lässt, bis sie vielleicht eines Tages gewaltsam umgestoßen wird, allemal vorzuziehen. Es gibt recht anspruchsvolle Versionen dieser Argumentation, in klassischer Fassung vor allem von den Radikalliberalen Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises. Seit ich den Schriften dieser beiden erstmals begegnet bin, habe ich ihnen viele nützliche Übungen zu verdanken: Ihre Ansätze sind präzise, selbst ihre Denkfehler sind meist intelligent, erfordern also Intelligenz bei der Widerlegung, und derlei hält das marxistische Hirn fit – wer sich nicht gelegentlich der Herausforderung schlüssig ausgearbeiteter Gegenpositionen zu den eigenen Überzeugungen stellt, hat wahrscheinlich überhaupt keine diskussionswürdigen Überzeugungen. Mangelnde Preisermittlungspräzision Der Kernbestand der liberalen Argumentation wider alle von Marx inspirierten Versuche, die erwähnte Anarchie abzustellen, hängt mit der Schwierigkeit der Preisermittlung unter Bedingungen zusammen, unter denen die menschliche Arbeitskraft vom Markt genommen und dieser Markt also um einen tragenden Pfeiler beraubt würde. Das ist es ja, was Marx unter anderem will, aber Markt funktioniert nur, so sagen die Hayek- und Mises-Inspirierten, wenn alles, was überhaupt einen Gebrauchswert hat, auch zur Ware werden kann, und wenn dem Markt ferner gestattet wird, jeder Ware einen Preis zuzuordnen, den nach Meinung dieser Liberalen Angebot und Nachfrage ermitteln. Die Rechnungen, die an diesem Problem hängen, sind komplex, selbst für elementare Beispiele fehlt hier der Raum. Es gibt diesen Einwand der mangelnden Preisermittlungspräzision bei Aufhebung der Anarchie aber auch gleichsam entkernt, ohne die Preisfrage selbst. Dabei kommt dann die weniger anspruchsvolle Behauptung heraus, jede Einschränkung jener Anarchie müsse auf irgendeine Form der Planung von Produktion und Verteilung im großen Maßstab hinauslaufen, diese aber sei unmöglich, weil Produktion und Verteilung nur nach Nachfrage reguliert werden könnten und Nachfrage nicht planbar sei; nicht einmal mit sehr schnell verfügbaren, sehr hochauflösenden Datenmassen übers Benötigte. Das Argument geht zum Beispiel so: "Gewiss, Konsumentenbeobachtung und Big Data erlauben heute erstaunlich verlässliche Vorhersagen über das Verhalten von großen Menschengruppen. Wo diese Technologien indes immer wieder versagen, ist die Vorhersage des Einzelfalls, weswegen sie beispielsweise im Kampf gegen den Terrorismus nur von begrenzter Reichweite sind. Ich erlebe ihre Unzulänglichkeit jeden Tag, wenn mir beispielsweise Anzeigen auf Facebook Dinge empfehlen, die ich entweder kürzlich erworben habe oder mit Sicherheit nie kaufen würde. Die Menschen sind nun einmal Individuen, und changierende noch dazu. Bedürfnisse, Präferenzen, Risikobereitschaft, das sind alles wandelbare Größen. (…) Nur wer sich die Zukunftsgesellschaft als statisch vorstellt, wird ihr eine Planwirtschaft wünschen, sei diese nun basisdemokratisch oder zentralistisch, das ist sowieso egal." Das liest sich für den, der es geschrieben hat, bestimmt plausibler als aus kritischer Distanz. Das Simpelste zuerst: Nur wer im Leben selten herumkommandiert wurde und den Unterschied nicht kennt zwischen einer Entscheidung, die andere für mich treffen, und einer, die ich selbst treffen kann, nur wer also mit vielen Freiheiten, Vorrechten und Möglichkeiten geboren wurde und genügend davon genutzt hat, wird den Unterschied zwischen basisdemokratisch und zentralistisch "sowieso egal" nennen. Aber nehmen wir den flapsigen Satz mal beiseite, was bleibt? Planung, sagt der Passus, kann nur große Gruppen steuern, keine Individualvorgänge. Soll das bedeuten, dass der Mensch, der das geschrieben hat, seine Bedürfnisse nur mit für ihn persönlich angefertigten Individualgütern befriedigt? Will er sagen, dass er noch nie im Kaufhaus oder Supermarkt war, dass er nur maßgeschneiderte Kleidung trägt? Das kann nicht sein, er ist ja kein König aus dem Märchenbuch, sondern ein Deutscher des Jahres 2017. Im Ernst: Dass die Bahn nicht weiß, wann Tante Ursula von Konstanz nach Stuttgart fährt, heißt doch beim besten Willen nicht, dass sie keine Fahrpläne machen kann. Warum legt ein intelligenter Mensch etwas so evident Törichtes nahe? Weil er, so schreibt er, sich einerseits das Recht vorbehält, seinen Bedarf zu ändern, gehört er doch zu den "changierenden Individuen" – wobei schon die Bemerkung, Menschen seien "changierende Individuen", das heißt Veränderliche in der Mehrzahl, den schönen Individualismus indirekt als etwas anerkennt, das eben doch in großen Gruppen gedacht werden kann, aber sei’s drum –, und andererseits die Unmöglichkeit, seine Individualität zu berechnen, beispielhaft daran festmacht, dass man ihm manchmal Sachen empfiehlt, die er "mit Sicherheit nie" kaufen würde. Seltsamer Gedanke: Ich bin unberechenbar veränderlich, das sieht man daran, dass es bei mir Vorlieben gibt, die sich niemals ändern werden. Hinter dem befremdlichen Unsinn steckt die empirische Gewohnheit des Verfassers, auf dem Markt ganz gut versorgt zu werden. Darüber sollte man gerade von sozialistischer und marxistischer Seite nicht vorschnell spotten, sind doch die peinlichen Versorgungsengpässe und sonstigen Ärgernisse der sowjetischen Ära Russlands und Osteuropas und einiger verflossener Bündnispartner jener Region noch in beschämender Erinnerung. Der Verfasser des genannten Zitats ist Gero von Randow, ein Hamburger Journalist und Wissenschaftspublizist, dessen Name mir in den 1980er Jahren, als ich, umzingelt von naturliebenden, anarchistischen Gemeinschaftskundelehrern, anfing, im "Kapital" zu lesen, erstmals als Autorenzeile in Artikeln begegnete, die man an Orten fand, wo die Kader der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) ihre Gedanken veröffentlichten. Denn Gero von Randow gehörte dieser Partei an. Unter dem Einfluss von Michail Gorbatschows "Neuem Denken" nahm er Ende der 1980er Jahre dann Abstand von der marxistischen Orthodoxie und leistet seither immer mal wieder Kritik an Sätzen, an die er einst glaubte. Wirklichkeit zerstörte einen Glauben Solche Lebensläufe kann ich dutzend-, ja hundertfach erzählen; sie gehören zu den Erscheinungen, die man zu sehen und zu hören bekommt, wenn man jahrzehntelang bei den Texten von Marx, bei Marx’ Sache bleibt, und man wird beiden nicht gerecht, wenn man diese Lebensläufe ignoriert. Leute verabschieden sich, manche schnell, andere später, und fühlen sich dann von dieser Entscheidung genötigt, ihre Gründe öffentlich zu machen. Ich glaube wirklich, man kann und soll nicht über Marx und den Marxismus reden, ohne die möglichen Entscheidungen zur Abkehr von dem, was Marx mit dem "Kapital" und seinen anderen Schriften erreichen wollte, zu bedenken – egal, ob es sich dabei um Entscheidungen von Individuen, größeren Menschengruppen oder ganzen Gesellschaften handelt. Man muss die Gründe, die jemanden bewegen, eine Überzeugung zu verändern oder gar aufzugeben, nicht sachlich richtig finden, um sie zu respektieren. Man versteht und respektiert jemanden wie Gero von Randow aber auf jeden Fall, wenn man ihm die merkwürdigen sachlichen Einwände gegen Marx, die er so widersprüchlich vorträgt, nicht vorhält, ohne einzusehen, dass andere ihm in Wahrheit wichtiger sind; moralische vor allem. In der Wochenzeitung "Die Zeit" veröffentlichte er im Februar 2014 einen Artikel mit dem Titel "Die Zwangsarbeiter und wir", geschrieben gemeinsam mit dem Journalisten Thomas Kerstan. Die beiden Autoren (und ehemaligen DKP-Genossen) wollten diesen Text als Beitrag zur Aufarbeitung einer Schuld verstanden wissen: Inhaftierte in den Gefängnissen der DDR hatten im Auftrag westlicher Firmen Güter produziert, zu den Gewinnern des Handels mit diesen Gütern gehörte auch die von der DDR subventionierte DKP. Wenn man dieser Partei, ihrer Jugendorganisation oder verwandten Einrichtungen irgendetwas verdankt, wie das bei den beiden Artikelautoren der Fall gewesen war, hat man zumindest indirekt von der Arbeit jener Gefangenen profitiert. Zwar arbeiten Gefängnisinsassen fast überall da, wo es überhaupt Gefängnisse gibt, für irgendeinen Zweig der jeweiligen Volkswirtschaften. Aber darum ging es von Randow und Kerstan nicht. Man kann leicht nachvollziehen, worum es ihnen ging: Sie hatten an etwas geglaubt, an eine emanzipatorische Idee, den Horizont einer Gesellschaft ohne Zwang, ohne Ausbeutung, Ausgrenzung, Einschließung. Heute glauben sie daran nicht mehr, weil die politische Realität dieser Idee nicht ohne Zwang durchsetzbar gewesen war. Eine Wirklichkeit hatte einen Glauben zerstört. Es kann für Menschen sehr schmerzhaft und beschämend sein, wenn sie Politik, also etwas sehr Diesseitiges, mit Heilserwartungen, Glauben, Liebe zur Menschheit und anderen Jenseitigkeiten vermengen, jene Erwartungen enttäuscht zu sehen. Man sollte politische Überzeugungen und deren Wandel, von solchen Fällen gewarnt, daher eher an Argumente und Beobachtungen als an Glaube, Liebe oder Hoffnung knüpfen, was nicht heißt, dass man diesen Anspruch an sich selbst als fehlbares Wesen immer einlösen kann. Vor 20 Jahren war ich noch ein Bewunderer mancher Gedanken und Schriften Leo Trotzkis, die ich heute, bei genauerer Kenntnis einiger Dinge, von denen jener schrieb, und nach gewissenhaftem, kritischem Nachvollzug seiner Folgerungen, erheblich skeptischer sehe. Ich hatte Glück: Mir ist da kein Heiland gestorben, kein Prophet hat sich als Verbrecher enthüllt, ich habe nur Einwände gegen Argumente gefunden, die ich einst plausibel fand und jetzt verwerfen muss. Wo politische Texte sehr grundsätzlich werden, darf man sich nicht einschüchtern lassen und sollte an diesem Verfahren festhalten, statt gläubig zu werden oder sich erschrocken und anders- oder ungläubig zu bekreuzigen. Gewöhnt man sich an, das, was bei Marx steht, nicht nur mit persönlichen Erwartungen, sondern auch mit dem als Lebenserfahrung zugänglichen Handeln großer Gruppen – sprich der gesellschaftlichen Wirklichkeit – zu vergleichen, entwickelt man im Laufe der Zeit einen horizontweitenden Sinn für historische Ironie. Marx selbst hat ihn; man merkt das, wenn er sich etwa zu Beginn des ersten "Kapital"-Bandes mit der Tatsache befasst, dass das, was er und Engels gern "Maschinerie" und "große Industrie" nennen, theoretisch den Arbeitsaufwand der Menschheit hätte verkürzen müssen, in der Realität aber den Arbeitstag einiger Menschen fürchterlich verlängert hat. Ironisch ist dies in dem Sinn, dass die Leute oft weder so handeln, wie es die Theorie will, an die sie sich in Form von Überzeugungen oder Glauben explizit binden, noch so, dass sie wenigstens aus den guten oder schlechten Erfahrungen irgendetwas lernen, die sie machen. Die Theorie des Marktes, an die Gero von Randow heute glaubt, besagt, dass der Markt und die Konkurrenz am Markt allerlei Innovationen begünstigen, Stagnation verhindern, weil sie neue Bedürfnisse ermitteln, weshalb sie das Gegenteil einer statischen Gesellschaft hervorbringen. In der tatsächlichen Geschichte hat gerade die Erfahrung des Zusammenbruchs der sozialistischen Staaten, mit denen von Randow als DKP-Mitglied einmal hatte solidarisch sein wollen, gezeigt, dass Gemeinwesen einen hohen Preis dafür zahlen, wenn sie die "Anarchie" in der Produktion, die Konkurrenz, die Naturwüchsigkeit nicht entschieden genug bekämpfen, egal, wie oft und laut sie sich auf Marx berufen, während sie diesen Kampf versäumen. Im Westen haben die Mächtigen nicht an Marx geglaubt, aber sie haben dem marktfernsten Sektor ihrer Wirtschaft, nämlich erst dem Militär und dann der Großforschung, die Erschaffung des World Wide Web anvertraut. Im Osten hat die unübersehbare Konkurrenz und das Gewurstel lauter kleiner fiktiver Profitcenter genau das verhindert; man kann das nachlesen in dem faszinierenden Buch "How Not To Network A Nation: The Uneasy History of the Soviet Internet" von Benjamin Peters, der alles andere als ein Marxist ist, aber dafür doch ein gewissenhafter Historiker. Er kommt zu Ergebnissen, bei denen Marx grimmig genickt hätte, weil er hinschaut. Dass nicht nur Konkurrenz an sich, sondern vor allem über Märkte vermittelte Konkurrenz geeignet sei, die Nachfrage nach Innovation zu ermitteln, ist ein Märchen, an das gerade die Leitungen großer Konzerne heute nicht mehr glauben. Wer da arbeitet, weiß, dass Märkte bestenfalls die zahlungskräftige Nachfrage ermitteln können, und das noch nicht einmal immer richtig, das heißt, man kriegt über sie nur so ungefähr raus, wer sich im Moment ein wegen hoher Entwicklungskosten teures neues Produkt leisten könnte und es haben wollen würde, erfährt aber zum Beispiel nicht, wie viele Leute es kaufen würden, wenn es so billig wäre, wie man es bei Herstellung in größter rentabler Menge machen könnte. Ab 1990 wurde von klugen Marktteilnehmern gegen diesen Pferdefuß des Marktsystems viel unternommen; die Einführung des supply chain management durch IBM war beispielgebend, man sparte Milliarden, indem man alle Teilbereiche einer Großwirtschaftseinheit auf Datenbasis koordiniert. Dazu kam bald das, was man heute concurrent engineering oder simultaneous engineering nennt: Schon wenn ein Produkt entworfen wird, versucht man alles abzufangen, was später stromabwärts auf dem Markt Probleme verursachen könnte. Während die Antikapitalisten noch streiten, ob die Anarchie in der Produktion weg soll oder toleriert werden muss, verhalten sich die Kapitalbesitzenden, als hätten sie "Das Kapital" gelesen. Zu Optimismus besteht für Leute, die das, was Marx behauptete und wollte, für richtig halten, dennoch kein Grund. Die Kapriolen der historischen Ironie nämlich gehen meistens mit gewaltigen Wertvernichtungen, Krisen, Katastrophen einher, zum Beispiel mit Krieg. Wer Lehren, die auf Glauben keine Rücksicht nehmen, nicht ziehen kann, wird böse Überraschungen erleben und sollte "Das Kapital" am besten gar nicht erst aufschlagen. Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 23, Berlin (Ost) 1962, S. 526. Gero von Randow, Wenn das Volk sich erhebt. Schönheit und Schrecken der Revolution, Köln 2017, S. 134f.
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, Dietmar Dath
"2021-12-07T00:00:00"
"2017-05-03T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/247637/hinschauen-statt-glauben-ein-erfahrungsbericht-aus-der-langstrecken-marxlektuere-essay/
"Das Kapital" kann jahrelange Lektürezeit in Anspruch nehmen. Wenn man dabei die wirkliche Welt nicht aus den Augen verliert, kann eigene Weltbeobachtung die Orientierung im Buch erleichtern, wie das Buch umgekehrt dabei hilft, die Welt zu verstehen.
[ "Karl Marx; „Das Kapital“" ]
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Ist Vollbeschäftigung für Männer und Frauen möglich? | Vollbeschäftigung? | bpb.de
Einleitung Mitten in der schärfsten Wirtschaftskrise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geschieht in der Bundesrepublik Deutschland Bemerkenswertes: Die Zahl der Beschäftigten ist unerwartet hoch, so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr, die registrierte Arbeitslosigkeit geht zurück und liegt mit einer Arbeitslosenquote von 7,5% für Männer und 7,0% für Frauen im Januar 2012 auf einem niedrigeren Niveau als vor der Krise 2009. Im internationalen Vergleich ist Deutschland heute von einem Land mit relativ hoher Arbeitslosigkeit zu dem Land mit der viertniedrigsten Arbeitslosenquote geworden, noch besser war die Lage nur noch in Österreich, Luxemburg und den Niederlanden. Regional gibt es große Unterschiede in der Arbeitsmarktentwicklung, in manchen Regionen Deutschlands sind die Arbeitslosenquoten auf Werte von unter 5% gesunken. So verwundert es nicht, dass das Thema Vollbeschäftigung wieder diskutiert wird. Schon im Jahre 2010 publizierten Wirtschaftsforschungsinstitute wie das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) Prognosen, wonach schon bald Vollbeschäftigung erreicht sein könnte. Thomas Straubhaar, Direktor des HWWI, schreibt: "Wer noch vor kurzem behauptet hätte, dass in Deutschland Vollbeschäftigung möglich ist, wäre für verrückt erklärt worden. Aber nun kann das für viele schon zur Utopie gewordene Ziel der Vollbeschäftigung sogar bereits bis zum Jahr 2015 Wirklichkeit werden." Und er führt aus, was aus seiner Sicht Vollbeschäftigung ist: eine Arbeitslosenquote von 2 bis 5% aller Erwerbsfähigen. Davon seien wir zwar noch weit entfernt, aber die Zeichen stünden auf Vollbeschäftigung, auch aufgrund des demografischen Wandels. Um Vollbeschäftigung zu erreichen, müsste jedoch noch einiges getan werden: Straubhaar verweist darauf, dass die Arbeitslosigkeit und die Erwerbschancen sehr ungleich verteilt seien: "Damit Vollbeschäftigung tatsächlich erreicht wird, ist noch einiges zu tun. Ältere müssen so gut wie Jüngere, Frauen so gut wie Männer und Menschen mit Migrationshintergrund so gut wie Menschen ohne Migrationshintergrund in das Erwerbsleben integriert werden. Gelingt das, dann gelingt auch Vollbeschäftigung." Der Hinweis auf geschlechtsspezifische Unterschiede in den Arbeitsmarktchancen ist - gemessen an anderen wissenschaftlichen und politischen Diskussionen um Vollbeschäftigung - bemerkenswert und zeigt, dass die soziale Realität in der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2012 doch eine andere ist als in den 1960er Jahren, als schon einmal die Verwirklichung der Vollbeschäftigung ausgerufen wurde. Heute ist den Beteiligten durchaus bewusst, dass Männer und Frauen gleichermaßen zu den (Erwerbs-)Arbeitskräften der Gesellschaft gehören und Vollbeschäftigung beide Geschlechter einbeziehen muss. 1960er Jahre: Vollbeschäftigung nur für Männer Das war in den "goldenen" 1960er Jahren in Westdeutschland anders, Frauenbeschäftigung war nur am Rande ein Thema. Unmittelbar nach dem Krieg bis zur Währungsreform war eine große Zahl an Frauen beschäftigt, teils sogar auf Arbeitsplätzen, die noch während der Nazi-Zeit für Frauen als ungeeignet galten. Danach setzte eine Verdrängung der Frauen aus dem Arbeitsmarkt ein: So wurden beispielsweise Beschäftigungsverbote für Frauen in den Bauberufen und im Landverkehr wieder in Kraft gesetzt, bei den verheirateten Beamtinnen wurde eine "Zölibatsklausel" eingeführt, die eine Kündigung der Frauen dann erlaubte, wenn auch der Ehemann im öffentlichen Dienst beschäftigt war. Anfang der 1950er Jahre waren knapp 35% der Erwerbstätigen weiblich, die Erwerbstätigenquote, das heißt der Anteil der erwerbstätigen Frauen an allen Frauen zwischen 15 und 65 Jahren, betrug 46%, die Arbeitslosenquote der Frauen lag mit 11,5% deutlich über der der Männer mit 8,8%. Ende der 1960er Jahre lag der Frauenanteil an den Erwerbstätigen bei 37%, die Erwerbstätigenquote war auf den historischen Tiefststand von 45% gesunken. Allerdings war die Arbeitslosigkeit ebenfalls gesunken und betrug über die gesamten 1960er Jahre weniger als 2% sowohl für Männer als auch für Frauen. Hatten wir also bei den Frauen Vollbeschäftigung erreicht? Gemessen an der Zahl der registrierten Arbeitslosen ja, gemessen an der Zahl der Erwerbstätigen dagegen nein. Was drückt sich in der Arbeitslosenquote aus? Zunächst einmal, dass sich nur wenige Frauen in diesen Jahren bei den Arbeitsämtern als arbeitslos registrieren ließen. Bedeutet sie aber auch, dass die anderen, die nicht erwerbstätigen Frauen, die ja die Mehrheit der Frauen in der Altersgruppe der 15- bis 65-Jährigen waren, keine Erwerbstätigkeit suchten, sich selbst nicht als arbeitslos sahen oder vielleicht auch keinen Anreiz hatten, sich bei den Arbeitsämtern zu melden? Wurden sie von den Umständen auf dem Arbeitsmarkt, in der Familienpolitik und in der Ideologie daran gehindert, erwerbstätig sein zu wollen oder zu können? Ist es also angemessen, von einer niedrigen Arbeitslosigkeit auf den Zustand Vollbeschäftigung zu schließen? Wenn man Vollbeschäftigung als Abwesenheit von registrierter Arbeitslosigkeit definiert, dann waren die 1960er Jahre eine Verwirklichung der Utopie: Arbeitslosenquoten von Männer und Frauen von weit unter 2%. Hinzu kommt, dass die Erwerbstätigenquote der Männer bis Anfang der 1970er Jahre bei über 87% lag, das heißt Männer im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 65 Jahren erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert waren. Das entsprach der herrschenden Ideologie der westdeutschen Gesellschaft: Wichtig war, dass der männliche Ernährer zu einem ausreichend hohen Lohn voll beschäftigt war, so dass nur junge und/oder unverheiratete oder geschiedene Frauen arbeiten "mussten". Das Ideal dieser Zeit war die Hausfrau mit alleinverdienendem Ehemann. Dies war zwar eine Fiktion, denn schon damals gab es Frauen, die keine Ehemänner mit ausreichendem Einkommen hatten und "gezwungen" waren, arbeiten zu gehen, die Ernährerehe war jedoch rechtlich lange Zeit abgesichert und wirkt in manchen Bereichen (zum Beispiel Ehegattensplitting) bis heute nach. In der Entwicklung der gesetzlichen Rahmenbedingungen in Westdeutschland lässt sich nachvollziehen, dass die Hausfrauen-/Ernährerfamilie lange Zeit vom Staat explizit unterstützt und propagiert wurde. Das Familienwohl stand über dem individuellen Wohl der Frau. Bis 1953 konnte der Mann alles im Haushalt entscheiden und damit auch über Wohnort, Wohnung sowie die Erwerbstätigkeit der Frau bestimmen. Ab 1958 durfte die Frau immerhin erwerbstätig sein "soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist" (Paragraf 1356 BGB alt). Erst seit 1977 ist die Gleichstellung in der Familie erreicht worden: "Beide Ehegatten sind berechtigt (Hervorhebung F.M.), erwerbstätig zu sein" (Paragraf 1355 BGB). Ihre ungeschmälerte Berufs- und Arbeitsvertragsfreiheit erlangten Ehefrauen erst 1977. Wenn also in den 1960er Jahren von Vollbeschäftigung die Rede war, dann war damit in erster Linie die Beschäftigungssituation von Männern gemeint. Für sie sollte "ein hoher Beschäftigungsstand" erreicht werden. Die Feststellung, dass Vollbeschäftigung herrschte, ignorierte also, dass die Erwerbstätigenquote der Frauen unter 46% lag. Über die Hälfte der Frauen im erwerbsfähigen Alter war nicht in die marktvermittelte Erwerbsarbeit integriert. Obwohl die Erwerbstätigenquote der Frauen so gering war, gerieten inländische Frauen als Arbeitskraftreserven nur sehr eingeschränkt ins Blickfeld von Wirtschaft und Politik. Als im neu reformierten Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969 verankert wurde, dass "Frauen, deren Unterbringung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erschwert ist, weil sie verheiratet oder aus anderen Gründen durch häusliche Pflichten gebunden sind oder waren, beruflich eingegliedert werden" sollen (AFG, Paragraf 2,5), rief dies sofort die Wahrer(innen) der Hausfrauenehe auf den Plan. Ein zeitgenössischer Kommentar zum AFG versicherte deswegen auch: "Die Vorschrift darf aber keineswegs als Aufforderung zu uferloser Werbung von Frauen für die Aufnahme beruflicher Arbeit um jeden Preis verstanden werden. Der Schutz der Ehe und Familie, wie er durch Art. 6 GG gewährleistet ist, bleibt hiervon unberührt, ebenso natürlich der Schutz der Frau selbst unter Wahrung ihrer Eigenart i.S. des Art. 22 GG." Wandel der Arbeitsmarktintegration der Frauen Das Zurückdrängen der Frauen in die Familie war aber nicht auf Dauer durchzuhalten, drohte es doch zu einer kontrazyklischen Bremse marktvermittelten ökonomischen Wachstums zu werden. Wirtschaft, Politik und Gesellschaft veränderten sich allmählich und die Hausfrauenehe wandelte sich zu einem Erwerbsmuster von Ernährer und Zu-Verdienerin als Regelfall. Wir beobachten also seit Beginn der 1970er Jahre einen kontinuierlichen Anstieg der Erwerbstätigenquoten der Frauen, parallel geht die Erwerbstätigenquote der Männer seit dieser Zeit kontinuierlich zurück (vgl. Abbildung 1 in der PDF-Version). Durch diese Entwicklung ist der Gender Gap, das heißt der Unterschied in der Erwerbstätigkeit der Männer und Frauen, der 1969 bei 43 Prozentpunkten lag (Männer 88%, Frauen 45%) in 1989, dem letzten Wert für Westdeutschland, auf 27 Prozentpunkte (Männer 77%, Frauen 50%) gesunken. Durch die Wiedervereinigung stieg die Erwerbstätigenquote der Frauen mit einem Schlag um 4 Prozentpunkte an, für die folgenden Jahre sehen wir dann zunächst einen leichten Rückgang. Jedoch folgt ab 1995 ein kontinuierlicher Anstieg bei den Frauen, so dass der Gender Gap in der Erwerbstätigenquote nunmehr auf 9 Prozentpunkte im Jahr 2010 gesunken ist (Männer 75%, Frauen 66%). Es lässt sich somit für 2010 konstatieren, dass wir für Frauen einen wesentlich höheren Beschäftigungsstand messen als dies in den Vollbeschäftigungsjahren im Westdeutschland der 1960er Jahre der Fall war. Gemessen am Kriterium Arbeitslosigkeit haben weder Westdeutschland noch das vereinigte Deutschland einen Zustand der Vollbeschäftigung erreicht - aber ist die registrierte Arbeitslosigkeit oder die in Abbildung 2 (vgl. Abbildung 2 in der PDF-Version) dargestellte Erwerbslosigkeit tatsächlich ein Maß für Vollbeschäftigung? Erwerbstätigkeit als Maßstab für Vollbeschäftigung Die Definition eines Vollbeschäftigungszustandes über die Festlegung einer Arbeitslosenquote, die dies ausdrücken soll (wenn 2 bis 5% aller Erwerbsfähigen arbeitslos sind, wäre dies laut Straubhaar Vollbeschäftigung gleichzusetzen), ist relativ willkürlich (warum 2 bis 5% und nicht 3 bis 4%?) und wenig aussagekräftig: Folgt man einer rein ökonomischen Definition, dann bedeutet Vollbeschäftigung die Integration aller verfügbaren Produktionsfaktoren, darunter auch Arbeitskräfte, in die Erwerbsarbeit (marktvermittelte Produktion). So gesehen müsste man Vollbeschäftigung nicht an der Arbeitslosigkeit messen, sondern an der Erwerbsquote (Erwerbstätige und Arbeitslose) oder noch präziser an der Erwerbstätigenquote. Denn diese Quote allein sagt aus, welche Anteile der Personen im erwerbsfähigen Alter tatsächlich am Markt arbeiten und aus dieser Tätigkeit auch ein Einkommen erzielen. Wie hoch diese Quote ist, hängt von vielen Faktoren ab: auf der Nachfrageseite, das heißt der Seite der privaten und öffentlichen Unternehmen, primär von deren ökonomischer Situation und der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (konjunkturelle und strukturelle Auf- und Abschwünge). Auf der Angebotsseite, das heißt der Seite der Arbeitskräfte, hängt sie ab von der Organisation zum Beispiel des Bildungswesens (Verweildauer im Bildungssystem, Lernphasen im Lebensverlauf) und den Regeln der sozialen Sicherheit (soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit, im Alter). Quer zu diesen Faktoren liegen die Normen und Werte in einer Gesellschaft hinsichtlich der Rollen von Männern und Frauen im Allgemeinen und von Vätern und Müttern im Speziellen. Werden Frauen, insbesondere Mütter, überhaupt als Teil der erwerbsfähigen Menschen angesehen und wenn ja, was unternehmen Gesellschaft und Wirtschaft, damit Frauen erwerbstätig sein können? Hier kommt ins Spiel, wie die institutionellen Regelungen einer Gesellschaft sind: Orientieren sie sich am Individuum, das eine Chance auf Erwerbsarbeit zur Sicherung des Lebensunterhalts bekommen muss und falls dies - aufgrund einer Nachfrageschwäche - nicht möglich ist, in die Lage versetzt werden muss, existenzsichernde Lohnersatzleistungen zu bekommen? Oder gehen sie davon aus, dass es für Frauen, insbesondere Mütter, nur zweitrangig ist, Erwerbsarbeit zu haben, da sich ihre Absicherung primär nicht über eigene Erwerbsarbeit, sondern über den Familienernährer ergibt? Ist Ersteres der Fall, das heißt, Frauen wie Männer sollen in die Erwerbsarbeit integriert werden und ihren Lebensunterhalt darüber sichern, dann hat das Folgen zum Beispiel für die Kinderbetreuung, die Prinzipien des Bildungssystems (Vollzeit oder Teilzeit), die Teilung der Hausarbeit. In Westdeutschland wurde eine präzisere Festlegung, was ein "hoher Beschäftigungsstand" für Männer und für Frauen sein soll, nie getroffen, obwohl es natürlich denkbar ist, eine Zielgröße zum Beispiel für eine angestrebte Erwerbsbeteiligung zu formulieren. In Bezug auf die Frage, wie und für wen Vollbeschäftigung erreicht werden soll, gingen andere Länder, an ihrer Spitze Schweden, in den 1960er Jahren einen anderen Weg: Sie suchten und fanden Wege für eine Vollbeschäftigungspolitik, die alle erwerbsfähigen Männer wie Frauen einschloss und die sich an der Zielvorstellung orientierte, dass jede und jeder ihren und seinen eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit sichern soll. Das erklärte Ziel der schwedischen Arbeitsmarktpolitik ist dabei Vollbeschäftigung, die als erreicht gilt, wenn 80% der 20- bis 64-Jährigen erwerbstätig sind. Um dieses Ziel erreichen zu können, sind dann Maßnahmen und institutionelle Regelungen in vielen Feldern notwendig; bezogen auf die Geschlechterdimension ist insbesondere die Frage der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Elternschaft zu lösen. In anderen Ländern wurden dazu über einen Zeitraum von nun mehr als 40 Jahren (die aktive schwedische Gleichstellungspolitik beginnt in den frühen 1970er Jahren) Politiken entwickelt, die es Eltern erlauben, Erwerbsarbeit und Kinder zu vereinbaren, ohne die Erwerbsarbeit lange unterbrechen zu müssen, ohne zwangsweise in Teilzeitarbeit gehen zu müssen, ohne große Einkommenseinbußen in der Phase aktiver Elternschaft hinnehmen zu müssen. Die Bundesrepublik Deutschland blieb in dieser Hinsicht weit hinter anderen Ländern zurück und hat diesen Rückstand bis heute nicht aufgeholt. Trotz aller Gleichstellungspolitiken ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein Frauenthema geblieben, da es Männern in der Regel gut gelingt, Erwerbsarbeit und Familie unter einen Hut zu bekommen. Insofern ist Thomas Straubhaar zuzustimmen, dass eine steigende Erwerbstätigkeit von Frauen, und damit Vollbeschäftigung auch für Frauen, mit den Rahmenbedingungen zusammenhängen: Es "bleibt die Forderung nach einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie - beispielsweise durch verbesserte Angebote zur Kinderbetreuung aber auch durch vermehrte Teilzeitstellen - ganz oben auf der arbeitspolitischen Agenda. Vor allem Alleinerziehende müssen im Fokus stehen, weil sie ganz besonders von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind". Vollbeschäftigung für beide Geschlechter als politisches Ziel Obwohl es in Deutschland bis heute keine Verständigung darüber gibt, was ein hoher Beschäftigungsstand denn sein könnte, ist man in Europa weiter. Schon in der sogenannten Lissabon-Strategie zur Koordinierung der Beschäftigungspolitik wurde eine Zielvorstellung formuliert: 60% der Frauen zwischen 15 und 64 Jahren sollten erwerbstätig sein, bei den Männern sollte diese Quote bei 70% liegen. Dieses in der EU-Beschäftigungsstrategie gesetzte Ziel hat Deutschland bereits seit dem Jahr 2005 erreicht. Inzwischen (2010) wird für Deutschland ein Wert von 66% für die Erwerbstätigenquote von Frauen und 75% für Männer ausgewiesen. Die europäische Kommission hat mittlerweile gemeinsam mit dem Mitgliedsländern eine neue Strategie verabredet: "Europa 2020 - eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum im nächsten Jahrzehnt". Im beschäftigungspolitischen Teil ist festgehalten, dass bis 2020 eine Beschäftigungsquote von 75% der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter zwischen 20 und 64 Jahren erreicht werden soll. Die Begrenzung des erwerbsfähigen Alters auf 20 bis 64 Jahre reflektiert, dass die Länder unterschiedliche Bildungssysteme haben. Dadurch ist eine Erwerbstätigenquote, die auch die Altersgruppen der unter 20-Jährigen einbezieht, nicht präzise genug ist: Eine niedrige Erwerbstätigkeit von jungen Menschen kann auch das Ergebnis einer gewünschten höheren und längeren Bildungsbeteiligung sein. Das Ziel von 75% kann nur erreicht werden, wenn es in den Mitgliedsländern gelingt, mehr Frauen in das Beschäftigungssystem zu integrieren. Wie die Tabelle (vgl. Tabelle in der PDF-Version) zeigt, hat von 33 Ländern nur ein kleine Minderheit diese Zielgrößen bereits jetzt erreicht und es sind die Länder, in denen wir es erwartet haben: Schweden, Island und Norwegen. Schon Finnland hat - zwar für beide Geschlechter gleichermaßen - eine Erwerbstätigenquote, die unter 75% liegt. Insgesamt ist die Beschäftigungssituation in einer Mehrheit der europäischen Länder für beide Geschlechter noch weit von der Zielmarke entfernt. Es gibt eine große Zahl von Ländern, in denen weder 70% der Männer noch 70% der Frauen erwerbstätig sind, darunter viele süd- und osteuropäische Länder. Keineswegs erstaunlich ist, dass sich Deutschland in der Gruppe wiederfindet, in der zwar die Quote der Männer schon über der Zielmarke liegt, aber noch nicht bei den Frauen. Dennoch ist die Position Deutschlands in diesem Feld nicht mehr so schlecht wie noch vor zehn Jahren und dies ist darauf zurückzuführen, dass die Erwerbstätigkeit der Frauen kontinuierlich gestiegen ist. Existenzsichernde Erwerbstätigkeit für beide Geschlechter Bemerkenswert an der Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit in Deutschland ist allerdings die Tatsache, dass die Erhöhung der Zahl und des Anteils erwerbstätiger Frauen kaum mit einer Ausweitung des von Frauen geleisteten gesamtgesellschaftlichen Arbeitsvolumens einhergegangen ist. Abbildung 3 (vgl. Abbildung 3 in der PDF-Version) ist zu entnehmen, dass das Arbeitszeitvolumen insgesamt in Deutschland seit 1991 stark zurückgegangen ist und erst in jüngster Zeit mit 48 Millionen Stunden pro Jahr wieder ein Niveau wie vor 2002 erreicht hat. Der Anteil der Frauen am Arbeitsvolumen ist in der Zeit zwischen 1991 und 2010 von 38% auf 42,9% gestiegen, ihr Anteil an den Beschäftigten im gleichen Zeitraum ist von 44% auf 49,8% gestiegen. Das bedeutet, dass die Zahl der Frauen im Beschäftigungssystem höher ist als ihr Anteil am Arbeitsvolumen, das heißt, das von Frauen geleistete Volumen an Erwerbsarbeitsstunden verteilt sich heute auf mehr (weibliche) Schultern. Rechnet man das auf Frauen und Männer entfallende Arbeitsvolumen in sogenannte Vollzeitäquivalente (VZÄ) um, dann wird deutlich, dass der Gender Gap in der Erwerbstätigenquote noch sehr groß ist: Nach Angaben des Europäischen Statistischen Amts Eurostat betrug die vollzeitäquivalente Erwerbstätigenquote der Männer 2009 72,2%, die der Frauen nur 50,7%, das heißt der Gender Gap beträgt noch 22 Prozentpunkte (gegenüber 9 Prozentpunkten ohne Berücksichtigung der Arbeitszeiten). Mit dieser Entwicklung nimmt Deutschland in Europa - sieht man von wenigen Ländern wie beispielsweise den Niederlanden ab - eine Sonderstellung ein. In Vollzeitäquivalenten gerechnet liegt Deutschland bei der Frauenerwerbstätigkeit nur noch knapp über dem Durchschnitt in Europa. Im Bericht des Sachverständigengutachtens für den ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung wird darauf hingewiesen, dass die Form der Erwerbstätigkeit erhebliche Folgen für die eigenständige Existenzsicherung hat: "Da die Möglichkeiten für eine eigenständige Existenzsicherung über Erwerbseinkommen und (vielfach an dieses gekoppelte) Leistungen der sozialen Sicherungssysteme maßgeblich über den Erwerbsumfang bestimmt werden, vermag die VZÄ-Quote die Performanz des Beschäftigungssystems sehr viel besser zu beschreiben als die Erwerbstätigenquote." Auffällig ist an der Entwicklung, dass der Anstieg der Erwerbstätigkeit der Frauen vor allem über eine Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung, darunter auch über die sogenannten Mini-Jobs erfolgt ist. Die Vollzeitbeschäftigung ist dagegen bei Frauen wie Männern rückläufig. Die starke Zunahme bei der Teilzeitbeschäftigung (seit 1991 fast verdoppelt) verteilt sich etwa gleich auf reguläre Teilzeit und Mini-Jobs: "Neben sozialversicherungspflichtiger Teilzeit hat sich die geringfügige Beschäftigung (insbesondere Mini-Jobs) in den vergangenen Jahren zu einer immer weiter um sich greifenden Erwerbsform vor allem für weibliche Beschäftigte entwickelt; gerade für Frauen handelt es sich dabei häufig um das einzige Erwerbseinkommen. Allein zwischen 2001 und 2006 stieg die Zahl der ausschließlich geringfügig Beschäftigten um 1,13 Millionen Personen an, 715000 von ihnen (63 Prozent) waren Frauen. Gleichzeitig gingen 1,63 Millionen Vollzeitarbeitsplätze verloren - 670.000 von Frauen (41 Prozent) (...)." Auch immer mehr Männer arbeiten in Teilzeit, größtenteils in Mini-Jobs. Der Anteil der Männer an allen Teilzeitbeschäftigten betrug 2010 rund 25% (1991: 14%). Aus Sicht der Gleichstellungspolitik ist die starke Expansion der Teilzeit eher ambivalent zu bewerten: Einerseits trägt ihre Ausweitung zur Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit bei, andererseits verbergen sich heute hinter dem Begriff Teilzeitarbeit viele unterschiedliche Beschäftigungsverhältnisse, angefangen bei den sozialversicherungsfreien Mini-Jobs bis hin zu Teilzeit in qualifizierten Angestelltenberufen mit Arbeitszeiten nahe der Vollzeitschwelle von 36 Stunden. Nur ein geringer Teil dieser Beschäftigungsverhältnisse bringt ein Einkommen mit sich, das eine eigenständige Existenzsicherung erlaubt. Thomas Straubhaar ist deswegen in seiner pauschalen Forderung nach mehr Teilzeitbeschäftigung zu widersprechen: Alle Arbeitsmarktexpertinnen sind sich einig, dass eine Ausweitung der vollzeitnahen, in alle Sozialversicherungen integrierten Teilzeit sinnvoll, eine weitere Ausweitung der ungesicherten Beschäftigungsverhältnisse, insbesondere der Mini-Jobs, dagegen gesetzlich einzudämmen ist. Diese frauen- und gleichstellungspolitische Sackgasse des deutschen Beschäftigungswunders gehört wieder gesperrt. Vgl. Bundesagentur für Arbeit, Der Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Deutschland, Monatsbericht Januar 2012, online: http://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Monatsbericht-Arbeits-Ausbildungsmarkt-Deutschland/Monatsberichte/Generische-Publikationen/Monatsbericht-201201.pdf (15.2.2012). Thomas Straubhaar, Vollbeschäftigung ist möglich - Arbeitgeber, denkt um!, in: Süddeutsche Zeitung vom 5.5.2011, online: www.sueddeutsche.de/karriere/vollbeschaeftigung-ist-moeglich-arbeitgeber-denkt-um-1.1093115 (15.2.2012). Ebd.; vgl. auch den Beitrag desselben in dieser Ausgabe. Ich konzentriere mich in der Darstellung zunächst auf Westdeutschland - in der DDR haben sich Erwerbsarbeit und Geschlechterverhältnis anders entwickelt: Die vollzeitbeschäftigte Frau und Mutter war dort das gesellschaftliche und politische Leitbild, an dem sich auch die entsprechenden sozialpolitischen Regelungen orientierten. Durch die Vereinigung wurden die meisten Regelungen der alten Bundesländer auch auf die neuen Bundesländer übertragen, allerdings hat sich die Erwerbsorientierung der Frauen kaum an die westdeutschen Leitbilder angepasst. Vgl. Elke Holst/Jürgen Schupp, Situation und Erwartungen auf dem Arbeitsmarkt, in: Statistisches Bundesamt/Wissenschaftszentrum Berlin (Hrsg.), Datenreport 2011, S. 109ff. Vgl. zur Beschäftigung in der DDR auch den Beitrag von Toni Pierenkemper in dieser Ausgabe. Vgl. Friederike Maier, Zwischen Arbeitsmarkt und Familie - Frauenarbeit in den alten Bundesländern, in: Gisela Helwig/Hildegard Maria Nickel (Hrsg.), Frauen in Deutschland 1945-1989, Berlin 1993, S. 259. Erwin Schönefelder/Günter Kranz/Richard Wanka, Arbeitsförderungsgesetz (AFG), Kommentare, Kohlhammer, August 1972, RN 47 zu Paragraph 2, Nr. 5 . Vgl. Hanne Martinek, Schweden: Vorbild für die Förderung individueller Existenzsicherung von Frauen, Berlin 2006, online: http://web.fu-berlin.de/ernaehrermodell/2_WorkingP_Hanne_1206-2.pdf (21.2.2012). Vgl. Mechthild Veil, Kinderbetreuungskulturen in Europa: Schweden, Frankreich, Deutschland, in: APuZ, (2003) 44, S. 12-22. T. Straubhaar (Anm. 2). Vgl. Friederike Maier, Die wirtschaftspolitischen Leitlinien der Europäischen Union - eine feministische Kritik, in: Christine Bauhardt/Gülay Caglar (Hrsg.), Gender and Economics. Feministische Kritik der politischen Ökonomie, Wiesbaden 2010, S. 233-257; dies., Gleichstellungspolitische Fortschritte durch Europäische Beschäftigungsstrategie und Gender Mainstreaming?, in: dies./Angela Fiedler (Hrsg.), Gender Matters - Feministische Analysen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 2002, S. 61-88. Vgl. Eurostat, Indicators for monitoring the Employment Guidelines including indicators for additional employment analysis, 2010 compendium, online: http://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=4093&langId=en (21.2.2012). Gutachten der Sachverständigenkommission, in: Erster Gleichstellungsbericht. Neue Wege - Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf, Bundestagsdrucksache 17/6240, online: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/062/1706240.pdf (21.2.2012), S. 111. Susanne Wanger, Ungenutzte Potentiale in der Teilzeit - Viele Frauen würden gerne länger arbeiten, IAB-Kurzbericht 9/2011. Vgl. ebd.; Gutachten der Sachverständigenkommission (Anm. 13); WSI-Mitteilungen, (2012) 1, zum Schwerpunktthema Mini-Jobs.
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, Friederike Maier
"2021-12-07T00:00:00"
"2012-03-29T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/126006/ist-vollbeschaeftigung-fuer-maenner-und-frauen-moeglich/
Die 1960er Jahre als Jahre der Vollbeschäftigung zu bezeichnen bedeutet, sich allein auf Männer zu beziehen. Heute müssen beide Geschlechter berücksichtigt und ungesicherte Beschäftigung für Frauen eingedämmt werden.
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UN-Sicherheitsrat stützt französische Offensive in Mali | Hintergrund aktuell | bpb.de
Frankreich erhält Rückendeckung vom UN-Sicherheitsrat für seinen Militäreinsatz im Norden Malis. Die Mitglieder des Sicherheitsrates waren sich darüber einig, dass die Intervention mit dem Völkerrecht vereinbar sei. Am Freitag (11. Januar) hatte sich Paris in den Konflikt eingeschaltet und eine Luft-Offensive gegen die islamistischen Rebellen gestartet. Mit seinem Einsatz will Frankreich die geschwächte Übergangsregierung in Mali dabei unterstützen, den Vormarsch islamistischer Rebellen Richtung Süden zu stoppen. Die Islamisten beherrschen seit Monaten den Norden des Landes und rücken immer weiter in den Süden vor. Bei den Kämpfen sollen bislang mehr als 100 Islamisten durch das französische Militär getötet worden sein. Trotz der Militäraktion gelang es den Islamisten am Montag, die 400 Kilometer nördlich der Hauptstadt Bamako gelegene Stadt Diabali unter ihre Kontrolle zu bringen. Frankreichs Präsident François Hollande hofft nun auf Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Bereits Ende Dezember 2012 hatte der Sicherheitsrat mit der Resolution 2085 eine internationale Unterstützungsmission für Mali unter afrikanischer Führung genehmigt. Auch die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Externer Link: ECOWAS hatte aufgrund der eskalierenden Gewalt die umgehende Entsendung einer 3.300 Mann starken Eingreiftruppe entschieden. Paris hatte daraufhin eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates in New York beantragt, um die Zusage des UN-Gremiums zur Entsendung der Truppen der ECOWAS-Staaten zu beschleunigen. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon betonte bei der Sitzung am Montag, dass die Resolution komplett umgesetzt werden solle, um die volle konstitutionelle Ordnung und territoriale Integrität Malis wiederherzustellen. Die Rolle Deutschlands Die UN-Staaten, die den Einsatz Frankreichs mehrheitlich tolerieren, wollen die Soldaten der ECOWAS-Mitgliedsländer mit Ausrüstung und Logistik unterstützen. Großbritannien will Transportflugzeuge beisteuern, die USA wollen das Land beim Transport und bei der Kommunikation unterstützen. Die EU plant mehr als 200 Soldaten in das Bürgerkriegsland zu schicken, um die Regierungstruppen für den Kampf gegen die Islamisten auszubilden. Noch in dieser Woche will die EU bei einer Sondersitzung der EU-Außenminister über die Lage in Mali beraten. Außenminister Guido Westerwelle und Verteidigungsminister Thomas de Maizière bezeichneten den französischen Militäreinsatz als richtig - der Einsatz deutscher Kampftruppen stehe jedoch nicht zur Debatte, so Westerwelle. Regierung und Opposition diskutieren derzeit eine mögliche Beteiligung an der EU-Ausbildermission, die bereits seit Monaten beschlossen ist. Zudem verabredeten Westerwelle und der französische Außenminister Laurent Fabius am 14. Januar gemeinsam zu prüfen, wie Deutschland den französischen Einsatz - mit Ausnahme der Entsendung von Kampftruppen - politisch, logistisch, medizinisch und humanitär unterstützen könne. Die Entwicklung des Konfliktes Karte von Mali (© Wikimedia, Stefan Kühn / CIA World Factbook) Seit der 1960 ausgerufenen Unabhängigkeit Malis von der französischen Kolonialmacht bestimmen Auseinandersetzungen zwischen nach staatlicher Unabhängigkeit strebenden Tuareg und den jeweiligen Regierungen das Konfliktgeschehen. Die in der Sahara lebenden Tuareg werfen der Regierung des westafrikanischen Staates vor, den Nomadenstamm politisch, sozial und ökonomisch zu marginalisieren. Anfang des Jahres 2012 eskalierte der Dauerkonflikt zwischen der Rebellionsbewegung der Tuareg und der Regierung erneut. Im April 2012 rief die "Nationale Bewegung für die Befreiung von Azawad" (Mouvement National de Libération de l'Azawad, MNLA) - eine von Tuareg dominierte Organisation - einen unabhängigen Staat "Azawad" im Norden Malis aus. Um ihre Ziele zu verwirklichen, hatten sich die Tuareg mit der radikalislamistischen Gruppierung Ansar Dine ("Verteidiger des Glaubens") verbündet. Auch die Islamisten kämpfen für einen Staat im Norden - anders als die MNLA, denen ein religiös neutraler Nationalstaat vorschwebt, will Ansar Dine aber einen islamistischen Staat mit der Scharia als Rechtsgrundlage durchsetzen. Inzwischen kämpfen auch die einstigen Verbündeten gegeneinander. In den letzten Monaten gelang es den Islamisten den Norden sukzessive in ihre Gewalt zu bringen. Viele Schulen wurden unter der Herrschaft der Islamisten geschlossen, Kinder werden zwangsrekrutiert. Frauen, die sich nicht verschleiern, sind harten Repressionen ausgesetzt. Mali ist faktisch geteilt Seit dem Vormarsch der Islamisten ist Mali de facto geteilt. Im Norden herrschen neben Ansar Dine zwei weitere islamistische Gruppierungen: die al-Qaida im islamischen Maghreb (AQMI), die insbesondere den Drogenhandel in der Region kontrolliert und für mehrere Entführungen verantwortlich gemacht wird, sowie die "Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika" (MUJAO), die sich von der AQMI abgespalten hat. Experten befürchten, dass sich die Sahara-Region dauerhaft in ein Operationsfeld islamistischer Terroristen verwandelt. InfoboxMali Mali galt lange als demokratischer Vorzeigestaat in Afrika. Zugleich zählt es zu den ärmsten Ländern der Erde: 59 Prozent der rund 14 Millionen Einwohner leben unter der Armutsgrenze. Dürreperioden haben der Landwirtschaft nachhaltig geschadet. 65 Prozent des Landes ist von Wüste oder Halbwüste bedeckt. Im Konfliktgeschehen spielen neben der politischen und sozialen Dimension auch die Bodenschätze in der Sahara eine große Rolle. Bodenschätze wie Gold, Diamanten, Mangan, Phosphat sowie Erdöl und Erdgas machen die Region wirtschaftlich und politisch attraktiv. Auch der Süden ist politisch instabil. In der Hauptstadt Bamako hatte am 22. März eine Gruppe von Offizieren die Macht übernommen und Präsident Amadou Toumani Touré gestürzt. Inzwischen ist wieder eine Übergangsregierung um Präsident Dioncounda Traoré an der Macht. Doch Traoré fehlt es an finanziellen und militärischen Mitteln, um die Lage zu stabilisieren - daher bat der Präsident die einstige Kolonialmacht Frankreich um Unterstützung bei der Bekämpfung der Rebellen. Die Folgen des Konfliktes Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass bisher mehr als 410.000 Menschen aus dem Norden Malis geflohen sind, rund fünf Millionen Menschen seien von dem Konflikt betroffen. Mehr zum Thema Interner Link: Fischer Weltalmanach: Mali Interner Link: Sven Bernhard Gareis: Internationale Friedenssicherung Karte von Mali (© Wikimedia, Stefan Kühn / CIA World Factbook) Mali galt lange als demokratischer Vorzeigestaat in Afrika. Zugleich zählt es zu den ärmsten Ländern der Erde: 59 Prozent der rund 14 Millionen Einwohner leben unter der Armutsgrenze. Dürreperioden haben der Landwirtschaft nachhaltig geschadet. 65 Prozent des Landes ist von Wüste oder Halbwüste bedeckt. Im Konfliktgeschehen spielen neben der politischen und sozialen Dimension auch die Bodenschätze in der Sahara eine große Rolle. Bodenschätze wie Gold, Diamanten, Mangan, Phosphat sowie Erdöl und Erdgas machen die Region wirtschaftlich und politisch attraktiv.
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"2021-09-04T00:00:00"
"2013-01-15T00:00:00"
"2021-09-04T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/153024/un-sicherheitsrat-stuetzt-franzoesische-offensive-in-mali/
Der UN-Sicherheitsrat hat am Montag (14. Januar) in einer Sondersitzung den französischen Militäreinsatz im Norden Malis gebilligt. Seit Freitag (11. Januar) greift Frankreich Stellungen der Islamisten an, um einen weiteren Vormarsch der Rebellen in
[ "Mali", "UN-Sicherheitsrat", "Frankreich", "Intervention", "Islamisten" ]
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"Meine Damen und Herren, wir schaffen uns ab!" | Deutschland Archiv | bpb.de
Wir haben Lothar de Maizière gebeten, etwas mitzubringen, was ihn an die Zeit erinnert, als er – der erste frei gewählte und letzte Ministerpräsident der DDR – sein Land in die deutsche Einheit führte, den eigenen Staat abschaffte, dessen Regierung und am Ende auch sein Amt. De Maizière, 80, läuft nicht mehr so gut, kommt aber noch zweimal in der Woche mit dem Auto in seine Kanzlei am Kurfürstendamm. Dort, tief im Westen, findet das Interview statt. Bevor es beginnt, zieht er eine Medaille aus der Tasche und legt sie auf den Tisch. Lothar de Maizière: Das Problem ist, dass ich meinen ganzen Krempel dem Bundesarchiv gegeben habe. Aber ich habe noch etwas gefunden, zwei Dinge. Das hier hat mir Richard Schröder (der letzte ostdeutsche SPD-Chef, Anm. d. Red.) am 3. Oktober 1990 geschenkt. Berliner Zeitung: Ein Pionierorden. Für vorbildliche Leistungen zu Ehren der DDR. Schröder gab ihn mir am 3. Oktober um zwei Uhr nachts, kurz nachdem die DDR beigetreten war, für vorbildliche Leistungen. Und das hier hab ich auch nicht weggegeben, weil mir das zu nah war ... Das ist eine Menükarte. Ja, am 12. September 1990 haben wir in Moskau den Zwei-plus-Vier-Vertrag unterschrieben, danach gab Gorbatschow ein Essen, und wir alle haben auf der Menükarte unterschrieben. Sehen Sie: Lothar de Maizière, Roland Dumas, Eduard Schewardnadse, James Baker, Douglas Hurd, Hans-Dietrich Genscher und Michail Gorbatschow. Das Menü steht auch noch drauf: Körniger Kaviar, Fischauswahl, Fleischauswahl, Krabbensalat. Wie war die Atmosphäre? Ausgelassen? Sehr entspannt. Wir hatten bis in die Nacht verhandelt, weil Douglas Hurd im Auftrag seiner Premierministerin Frau Thatcher versuchte zu stören. Er wollte, dass auf dem Boden der DDR sofort nach der Wiedervereinigung Nato-Manöver stattfinden. Ich hab gesagt, das geht nicht. Wir können nicht den 400.000 Russen, die noch da sind, zumuten, dass der alte Feind unter ihren Fenstern Manöver veranstaltet. Ich sagte, Übungen auf dem Boden der DDR finden erst statt, wenn wir vorher auf Ihrer grünen Insel Manöver gemacht haben. Ich wusste ja, dass die Engländer bei der Nato durchgesetzt hatten, dass bei ihnen niemals nicht-englische Truppen Manöver machen würden. Damit war das Thema erledigt. Wir würden gerne mit Ihnen über den 3. Oktober 1990 reden. Wie haben Sie sich gefühlt, als alles vorbei war? Zum einen war da Erleichterung. Ich wusste, ich werde dieses Joch los am Abend, dann sind andere dran. Zwei Tage später bin ich ins Bett gefallen und war eine Woche krank. Was haben Sie gehabt? Totale Erschöpfung, Fieber und alles Mögliche. Sie waren, das sieht man auf den Fotos, sehr dünn damals. Als ich mit der Politik begann, wog ich 68 Kilo und am Tag der deutschen Einheit noch 51 Kilo. Ich habe nur noch geraucht und Kaffee getrunken. Was haben Sie in den letzten Stunden vor der Wiedervereinigung gemacht? Da waren im Prinzip alle Messen gesungen. Am 2. Oktober war ich vormittags im Büro, und wir haben eine Fernsehansprache von mir aufgenommen, die den gleichen Inhalt hatte wie die Rede abends im Schauspielhaus, wo wir die DDR verabschiedet haben. Das Gewandhausorchester hat Beethovens Neunte gespielt. Wir standen draußen, Kurt Masur und ich, und ich sagte zu ihm: "Ich hab ja solches Fracksausen." Und er: "Und ich erst!" – "Das kann doch nicht sein", sagte ich. "Sie haben doch die Neunte schon x-mal dirigiert." – "Ja", sagte er, "aber noch nie zur deutschen Einheit." Ich weiß noch, wie ich als Kind auf so einem kleinen Volksempfänger, auch "Goebbels-Schnauze" genannt, Beethovens 9. Sinfonie hörte. Meine Mutter sagte, wenn ein Volk etwas ganz Großes zu feiern hat, dann spielen sie Beethovens Neunte. Das war zum Ende des Krieges. Das heißt, Sie haben die Musik für die Einheitsfeier ausgesucht? Ja. Ich habe zu Helmut Kohl gesagt: Es gibt ganz wenige Dinge, von denen ich mehr verstehe als Sie. Und das hat er akzeptiert. Wir sind ja keine Freunde geworden. Den historischen Moment der Maueröffnung ein Jahr zuvor haben Sie verpasst. Sie waren gerade in der Kirche. Ja, im Französischen Dom, bei einem Treffen der Ost-CDU. Wir diskutierten darüber, wie wir das Land verändern können. Als die Nachricht kam, die Mauer ist gefallen, wollten wir alle auseinanderrennen. Aber der Moderator sagte, zwei von den neuen Gruppierungen hätten ihre Zukunftsvorstellungen für die DDR noch nicht ausbreiten können. Das wäre unfair. Da haben Sie sich wieder hingesetzt? Ja, und danach bin ich nach Hause gegangen, denn ich sollte mich am nächsten Tag zur Wahl stellen als CDU-Vorsitzender Ost. Ich habe die ganze Zeit gedacht: Hoffentlich geht das gut. Ich hatte ja als Anwalt in der DDR häufig mit Grenzsachen zu tun und wusste, dass man da nicht zimperlich ist. Wenn da nur einer durchgedreht wäre! Der Oberstleutnant Jäger von der Bornholmer Straße, der müsste eigentlich das Bundesverdienstkreuz kriegen. Der hat seine Leute die Waffen abgeben lassen und gesagt: Jetzt machen wir die Tür auf. Ein Mann, der ein Leben lang in der Disziplin dieser Grenztruppen gestanden hat, beweist im richtigen Moment Klugheit. Aber waren das beim Mauerfall nicht viele, die so handelten? Ja, es waren viele. Was wir alle immer vergessen: Die, die Macht hatten, haben sie nicht ausgeübt. Auch beim nächsten SED-Parteitag, wenn da einer aufgestanden wäre und noch mal alle Sicherheitstruppen hinter sich versammelt hätte! Das hat Gregor nicht zugelassen. Gregor Gysi? Ja, er hat eine 2,4 Millionen mitgliederstarke Partei abgeschmolzen, in die Demokratie überführt und verhindert, dass sie sich radikalisiert. Es hätte ja nur einer Radikalinski zu spielen brauchen. Haben Sie damals, im November ’89, schon an die deutsche Einheit gedacht? Ja, schon. Wissen Sie, die Teilung war bei uns in der Familie immer gegenwärtig, da ein größerer Teil im Westen wohnte und der andere hier. Mein Vater war aus russischer Kriegsgefangenschaft in die Sowjetzone entlassen worden und Thomas’ Vater (Thomas de Maizière d. Red.) aus englischer in die Bundesrepublik. Wir haben jedes Jahr ein Familientreffen gemacht. Immer bei mir, weil die Verwandtschaft von West-Berlin mit einem Tagespassierschein kommen konnte. Über Politik haben wir aber besser nicht gesprochen. Mein Onkel Ulrich war General bei der Bundeswehr, und zu dem hab ich mal gesagt: "Also nach eurer Nato-Strategie sollt ihr einen Angriff auf dem Boden des Gegners vernichtend schlagen. Das heißt, auf dem Territorium, wo deine Familie wohnt." – Das wäre ja nicht so gemeint gewesen, sagte er. Es war schon eine irre Situation, die in der Familie stand. Noch mal: Sie haben gedacht, als Sie hörten, die Mauer fällt, dass jetzt das vereinigte Deutschland bevorsteht? So direkt nicht, aber wir hatten ja Mitte Dezember CDU-Parteitag, und da haben wir die Einheit Deutschlands als Ziel unserer Politik dargestellt. Wir waren die Ersten. West-Berliner wie Walter Momper haben uns erzählt, sie hatten schon versucht, Turnhallen freizuschaufeln. Aber die DDR-Bürger haben sich nur ein Glas Sekt geben lassen, sind wieder nach Hause gegangen und am nächsten Tag zur Arbeit. Es war eine Feierabend-Revolution. Die Leute gingen von 7 bis 17 Uhr arbeiten, und danach haben sie Revolution gemacht. Sehr diszipliniert alles. Sehr deutsch. Ja, das erinnert ein bisschen an diese Lenin-Anekdote, dass die Deutschen sich erst eine Bahnsteigkarte kaufen, wenn sie den Bahnhof stürmen sollen. Auch mit der Disziplin am runden Tisch war es so. Der erste fand am 7. Dezember statt. Es ging drunter und drüber, und ich habe mich in die Ecke gesetzt und eine Geschäftsordnung entworfen. Meine Töchter sagen immer: Die ganze Republik macht Revolution, und was macht unser Vater? Der schreibt dafür die Geschäftsordnung. Später hatten Sie dann West-Berater, die für Ordnung sorgten. Wie haben Sie die eigentlich gefunden? Also mein Büroleiter war Dr. Fritz Holzwarth. Der war vorher Büroleiter bei Heiner Geißler gewesen und ist zusammen mit ihm in Ungnade gefallen unter Helmut Kohl. Heiner Geißler gehörte ja zu denen, die 1988 versucht hatten, gegen Kohl zu putschen. Der schien mir der Geeignete zu sein. Walter Romberg, der Finanzminister, hatte zwei Berater aus NRW, die berieten ihn nicht im Sinne der DDR, sondern im Sinne der westdeutschen Bundesländer. Deshalb musste ich mich von ihm trennen. Das war das Ende der Großen Koalition. Es war ja auch noch eine eigene DDR-Verfassung erarbeitet worden. Nicht von mir, nicht von meiner Regierung. Sie wollten gar keine eigene Verfassung? Ich war der Meinung, dass das Grundgesetz die beste Verfassung war, die wir je haben konnten. Ich hab gesagt: Ihr könnt nicht erwarten, dass wir für euch durchsetzen, was ihr 40 Jahre nicht habt durchsetzen können. Was hätte mit der Verfassung werden sollen? Wir hatten schon in die Koalitionsvereinbarung geschrieben, welche Dinge im neuen Grundgesetz verankert werden. Welche waren das? Der verrückte Kampf um den Paragrafen 218, wo mich Kohl einbestellt hat: Ob es stimme, dass ich dafür sei, die DDR-Regelung beizubehalten? Oder die Erbregelung: In der DDR wurden auch Kinder außerhalb der Ehe voll erbberechtigt. Das sollte auch gestrichen werden. Wir hätten damit 35 Prozent aller Kinder in Ostdeutschland enterbt, mit einem Strich. Es klingt jetzt überheblich, aber ich wusste in Detailfragen besser Bescheid als meine Verhandlungspartner. Die hatten sich mit DDR-Recht nie befasst. Wir mussten ihnen erst mal erklären, warum unsere Regelung besser ist als ihre. Wie sind Kohl und Sie miteinander zurechtgekommen? Sie waren ja sehr gegensätzlich, schon rein äußerlich. Verhandelt hab ich mit Wolfgang Schäuble, der war der geistige Kopf bei dem ganzen Prozess. Kohl hat sich für die außenpolitischen Seiten interessiert und dafür, was mal in den Geschichtsbüchern stehen wird. Wenn man mit Einzelheiten zu ihm kam, hieß es: Reden Sie mit Wolfgang. Wir haben viele Dinge durchgesetzt, indem wir Wolfgang Schäuble auf unsere Seite gezogen haben. Ich bin heute noch mit ihm befreundet. Können Sie ein Beispiel nennen? Ich habe gesagt, wir können den Leuten doch nicht ihre Biografie wegnehmen, indem ihr Doktortitel und Hochschulabschluss nichts mehr gelten. Der Einigungsvertrag, das ist kein Kaufvertrag, sondern ein contrat social, ein Gesellschaftsvertrag. Wir müssen mit dem Ergebnis hinterher zusammen leben. Ich habe gedacht, dass die mentale Einigung leichter gehen würde als die der Infrastruktur. Letztendlich ist es umgekehrt gekommen. Die modernere Infrastruktur steht in Ostdeutschland, die Bürgermeister von Essen und sonstwo sind der Meinung, sie kämen zu kurz. Die wechselseitige Anerkennung dessen, was das Leben ausgemacht hat, funktioniert nur bedingt. In der nächsten Generation vielleicht. Geschichte denkt nicht in Jahren, Geschichte denkt in Generationen. Was würde in Ihrem Geschichtsbuch stehen? Ich habe Kohls Erinnerungen von 1980 bis 1992 gelesen. Da steht drin, de Maizière war ein Versager. Wenn das seine Meinung ist, soll er es reinschreiben. Was hatte Kohl denn gegen Sie? Ostdeutscher Protestant, das war ihm zu viel. Sie müssen mal sehen, von wem er umgeben war: alles Leute, die ihm gegenüber bis zur Unkenntlichkeit loyal waren und später in Ungnade gefallen sind, Schäuble, Norbert Blüm und so weiter. Aber an sich redeten ihm alle zu Munde. Und das konnte ich nicht, wollte ich auch nicht. Ich habe mich offen mit ihm im Bundesvorstand angelegt. Die ostdeutsche CDU hatte dadurch, dass wir die Wahl gewonnen hatten, sehr viel Geld, 26 Millionen plus. Und die Bundes-CDU hatte damals 60 Millionen Schulden. Ein paar Tage vor der Einigung habe ich eine Rückstellung gebildet für die Sozialpläne der entlassenen Mitarbeiter der ostdeutschen CDU; den Rest habe ich an die fünf ostdeutschen Landesverbände verteilt. Am 4. Oktober kam eines von Kohls Geschöpfen, wollte das Geld auf ein Konto im Westen überweisen, und es war nichts mehr da. Sie waren schneller, und Kohl war sauer? Der soll im Quadrat gesprungen sein. Er hatte wohl nicht angenommen, dass ich so clever bin. Warum soll ich die bundesdeutsche CDU sanieren mit dem Geld, das wir in bitteren Wahlkämpfen verdient haben? Kohl und Sie haben sich im August 1990 am Wolfgangsee getroffen und den Beitritt zur Bundesrepublik vereinbart. Über dieses Treffen gibt es viele Legenden. Erzählen Sie uns bitte, wie es war. Ich habe zu ihm gesagt, wir werden die Regierung nicht stabil halten können bis zum Dezember, bis zu den gesamtdeutschen Wahlen. Ich bin dafür, dass wir die Wahlen vorziehen, zum 14. Oktober, an dem die ostdeutschen Landtage gewählt werden. Wir haben das vereinbart, und ich habe es so in der Pressekonferenz verkündet. Aber Kohl hat nicht mehr zu der Zusage gestanden und mich im Regen stehen lassen. Da war ich natürlich stinksauer. Kohl hat es einfach abgestritten? Ja, und ich stand dann da mit der Behauptung. Ich glaube, das war auch bewusst so gemacht. Er wollte mich einkürzen. Wie haben Sie sich dann auf den 3. Oktober geeinigt? Wir mussten den Zwei-plus-Vier-Vertrag abwarten, der war die Voraussetzung für die Einheit. Dann wollten wir den 13. Oktober, der war auch strittig. Wolfgang Thierse sagte: 11. Oktober. Dann hieß es, die Erklärung der vier Außenminister bei der UNO auf den Verzicht der alliierten Rechte soll am 1. Oktober anfallen, nehmen wir den 2. Oktober. Ich hab zu den Liberalen gesagt: Am 2. ist aber euer Oberguru Genscher noch in New York. Und so wurde es der 3. Oktober? Ja. Es gibt das Gerücht, dass Kohl Sie damals am Wolfgangsee unter Druck gesetzt hätte: Wenn Sie mit dem sofortigen Beitritt nicht einverstanden sind, dann enttarnen wir Sie als Stasi-IM. Barer Unsinn. Wir sind ziemlich einvernehmlich gewesen. Ich habe noch lange mit Frau Kohl in der Küche gesessen und Kohl mit Günter Krause. Günter hat die ganze Zeit auf dem Klavier das Deutschlandlied geklimpert. Kannte Kohl Ihre Stasiakte? Weiß ich nicht, ist mir auch wurscht. Es hieß immer, dass es keine Akte gibt. Die sollte irgendwann im November 1989 vernichtet worden sein, als die Staatssicherheit quasi schon am Wanken war. Da haben wohl viele die Akten vernichtet, von denen sie meinten, dass sie sie selbst belasten. Sie hatten einen Schutzengel bei der Stasi? Das glaub ich nicht. Ich kannte eigentlich niemanden groß dort. Es gibt ein Papier, da steht drin, es ist nicht feststellbar, ob ich für die Staatssicherheit gearbeitet habe, und wenn überhaupt, in welchem Umfang. Damit ist die Sache für mich gegessen. Ich weiß, was ich gemacht habe und was nicht, und natürlich hatte ich Kontakte zur Stasi durch meine Tätigkeit, jede Menge. Es gab nach der Wende eine ziemliche Hysterie, was das Thema anbelangt. Fast alle, die sich damals für die Erneuerung der DDR oder auch die Einheit engagierten, hatten Stasi-Vorwürfe am Hals. Wolfgang Schnur, Ibrahim Böhme, später Gysi. Klar, wenn Sie Politikern schaden wollen, sind es entweder Geld- oder Frauengeschichten; und bei DDR-Leuten kam noch die Stasi dazu. Das Schlimme daran war, dass fast eine Umkehr der Beweislast stattfand: Nicht die anderen mussten beweisen, dass man bei der Stasi war, sondern man selbst musste beweisen, dass man nicht dabei war. Wie hat Sie das damals getroffen? Es kann keiner behaupten, dass einen so etwas kaltlässt. Aber ich habe damals gesagt: Selbst wenn sie behaupten, ich hätte meine drei Töchter umgebracht, ich werde es nicht mehr dementieren. Man kann nichts mehr tun. Es gab genug in der Union, die froh waren, dass ich weg war. Wissen Sie, wer die Geschichte vom angeblichen Erpressungsversuch am Wolfgangsee gestreut hat? Bei den meisten Dingen weiß ich, wie sie zustande kamen, aber hier weiß ich es nicht. Angela Merkel hat später Kohl zur Strecke gebracht. Hat sie Ihre Widerspenstigkeit damals als stellvertretende Regierungssprecherin bei Ihnen gelernt? Angela Merkel braucht keine Lehrmeister. Das kann sie von sich aus. Jeden Morgen mussten entweder der Regierungssprecher, Matthias Gehler, oder sie berichten, was die Presse deutschlandweit und weltweit über unsere Tätigkeiten sagte. Wenn sie dran war, kam in der gleichen Zeit doppelt so viel Inhalt rüber wie bei Matthias Gehler. Und sie hatte auch gleich Vorschläge, wie man reagieren sollte, parat. Es gibt dieses symbolische Foto von Ihnen und Helmut Kohl, als Sie in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober am Reichstag stehen. Kohl groß und siegessicher und Sie klein und kaum zu sehen. Wie kam es dazu? Das Foto ist amüsant, mit jedem Jahr wird jemand abgeschnitten. Bei den letzten Fotos war ich noch dabei. Meine Frau, die daneben stand, aber nicht mehr. Links sind Weizsäcker und Brandt. Der weinte übrigens richtig dicke Tränen. Ich drehe mich um und sage: "Herr Bundeskanzler, kann ich irgendetwas für Sie tun?" – "Nee, Junge. Ich muss nur weinen, dass ich das noch erlebe." Haben Sie auch geweint? Nein. Ich hatte schon vorher im Schauspielhaus Probleme bei meiner Rede, dass ich trocken bleibe. Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, wenn Sie einen Staat, der Ihre gesamte bisherige Biografie war, aus der Geschichte verabschieden, und morgen gibt es den nicht mehr. Ich war neun, als die DDR gegründet wurde, und 50, als ich sie abgeschafft habe. Und ich habe es selber gemacht. Es gibt in meiner Rede einen Satz vom "Abschied ohne Tränen", den hatte ich ganz bewusst so gesagt, aber der stimmte nicht. Einige Mitglieder Ihrer Regierung sind gar nicht zur Feier erschienen. Waren die nicht eingeladen oder wollten die nicht? Doch, die waren eingeladen. Aber Rainer Eppelmann (ehemaliger Verteidigungsminister, d. Red.) war in Strausberg bei seinen Offizieren und andere in ihren ehemaligen Häusern mit ihren Mitarbeitern. Die hätten selbstverständlich kommen können. Es war aber auch für jeden klar, das ist mein Abschied vom Amt. Wie konnten Sie sich motivieren, wenn Sie wussten, dass sowieso alles zu Ende geht? Normalerweise versucht man vom ersten Tag an, seine Wiederwahl zu organisieren. Uns war klar, dass wir das nicht machen. Ich habe in der ersten Kabinettssitzung gesagt: Meine Damen und Herren, unsere Aufgabe ist, uns abzuschaffen. Das ist ein bisschen so, als würde man seine eigene Beerdigung vorbereiten, oder? Ja, wenn Sie so wollen. So viel Zeit, über uns selbst nachzudenken, hatten wir nicht. Jeden Tag fielen uns neue Probleme auf die Füße. Allein die Frage, wie das Geld umgetauscht wird. Die Westseite sagte, jeder kann 4000 Mark umtauschen, 1:1. Und dann kamen diese Briefe, 7500 Briefe von alten Leuten, die mir schrieben, ich habe die Inflation erlebt, den Ersten Weltkrieg und den Zweiten, und jetzt soll ich wieder mein ganzes Geld loswerden? Wie haben Sie das hingekriegt mit dem Umtausch? Ich habe mich daran erinnert, wie mir Hannelore Kohl anbot, wenn ich mal Probleme hätte, die ich nicht lösen kann, soll ich sie anrufen und sie redet mit ihrem Mann. Ich hab sie angerufen und gesagt: "Frau Kohl, ich bin der Meinung, Kinder bis 14 Jahre können 2000 Mark 1:1 umtauschen, der Normalbürger 4000 und die alten Leute 6000. Damit die das Gefühl haben, sie kommen nicht unter die Räder. Aber das ist mit Ihrem Mann schwer zu besprechen." Da sagte sie: "Ich rede mit ihm." Aber ich müsste ihn in dem Glauben lassen, er habe sich das ausgedacht. Am Montag rief mich Kohl an, er hätte sich das überlegt, die alten Leute sind ja die zuverlässigsten CDU-Wähler, die könne man nicht im Regen stehen lassen. Ich sagte: "Herr Bundeskanzler, genial, wunderbar." So ist es gekommen. Hat Sie das gewurmt, dass Kohl die Lorbeeren bekommt? Mir war wichtig, dass das Richtige dabei rauskommt. Mir war von Anfang an klar, ich bin ein Diener. Ich wusste, ich stehe vor einem Scherbenhaufen, also kann ich nur sehen, dass ich versuche zu retten, was zu retten ist. Ich wollte nicht, dass die DDR-Bürger unter die Räder kommen. Sie haben sich als Anwalt der DDR-Bürger gesehen? Ja. Waren Sie deshalb so blass am Tag der Wahl im März 1990, als klar war, die CDU hat gewonnen? Das war der größte Schreck in meinem Leben. Der Tag der Wahl. Damit hatten Sie nicht gerechnet? Nein. Wir hatten damals gedacht, wir kriegen eine Pattsituation zwischen CDU und SPD, und dann suchen wir uns einen raus, der für beide Seiten vermittelbar ist. Stolpe war im Gespräch. Wenn Sie dann abends in der Prognose hören, dass Sie 41 Prozent der Stimmen gekriegt haben, können Sie nicht mehr abhauen, dann rollt das Amt auf Sie zu, ob Sie wollen oder nicht. Und dann haben Sie aufgehört zu essen? Manche Leute mit Nervenproblemen fressen und werden immer fetter. Andere können überhaupt nicht mehr essen. Zu denen gehöre ich. Und wenn man dann noch viel raucht ... Ich hatte in meinem Zimmer mehrere Aschenbecher, ich bin von Aschenbecher zu Aschenbecher gerannt. Jeden Tag kamen neue Hiobsbotschaften. Die DDR-Wirtschaft ist ja über Nacht an eine der härtesten Währungen der Welt angekoppelt worden. Wir hatten lauter Produkte, die nicht marktfähig waren. Ich kriegte einen Anruf vom ungarischen Ministerpräsidenten, ein kluger Mann, der fragte: "Warum kaufen deine Leute nicht mehr meinen Ikarus?" Ich sagte: "Weil sie in Bayern für die Hälfte des Geldes einen doppelt so guten Bus kriegen können. Und warum kauft ihr nicht mehr unseren Trabant?" Da sagte er: "Weil die Leute den auch nicht mehr haben wollen." Gab es zwischen November ’89 und Oktober ’90 einen Moment, wo man noch Industriestandorte hätte retten können? Eine Tonne Walzstahl kostete im Westen damals 8500 DM. In Eisenhüttenstadt produzierten wir die gleiche Menge für 12.000 DM. Wir waren also fast unverkäuflich. Als die Mauer gefallen war, hieß es: Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr. Es gingen 2000 bis 3000 Leute pro Tag noch nach dem Fall der Mauer. Und es gingen ja nicht die Alten und Rentenbezieher, sondern die Jungen, die gut Ausgebildeten. Und es waren ja auch nicht die besten Leute, die sie uns geschickt haben. Als in Chemnitz ein neuer Oberbürgermeister gewählt wurde, schnauzte mich der Kohl an: "Den haben wir bei uns durchgereicht. Warum habt ihr den bei euch gewählt?" Wenn Sie eine Sache anders machen könnten, was wäre das? Ich hätte am ersten Tag zurücktreten können. Am Tag nach der Wahl? Ich habe meiner Partei gesagt: So, vortreten, wer will Ministerpräsident werden? War keiner da. Bereuen Sie es? Nein. Ich könnte mir ja gar nicht mehr ins Gesicht sehen. Klingt ein bisschen überheblich, aber: Ein Maizière tritt nicht zurück. Wenn Sie zurückschauen, würden Sie sagen, die Einheit ist geglückt? Ich glaube, mit geglückt oder nicht geglückt kann man das nicht fassen. Mit Ja oder Nein. Vieles ist geglückt, ja, auch bei denen, die so unzufrieden sind. Stellen wir uns mal vor, die DDR hätte noch drei, vier Jahre weiterexistiert, wie unsere historischen Städte und Gebäude aussähen. Die Fachwerkhäuser und alles, das wäre hinüber. Eine Befragung aus dem Jahr 2019 hat ergeben, dass sich 50 Prozent der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse fühlen. Verstehen Sie das? Sie begründen es ja meist nicht. Doch, in einer Studie wird es mit niedrigerem Einkommen, den Renten, mit der Elitenproblematik begründet. Das mit den Eliten stimmt. Wir haben 81 Hochschulen in Ostdeutschland, davon ist eine einzige mit einem ostdeutschen Rektor besetzt. Das mit den Einkommen sehe ich ein bisschen anders. Ein Quadratmeter in München ist eben zehnmal so teuer wie in Neubrandenburg. Die AfD wird oft von Menschen gewählt, die in der Nachwendezeit groß wurden. Wie erklären Sie sich das? Das ist ein Thema, bei dem ich völlig hilflos bin. Dresden und Pegida. Weil da auch Leute dabei sind, denen es materiell gut geht. Ergibt es überhaupt Sinn, diese Diskussionen zu führen? Zu fragen, was damals schiefgelaufen ist? Ob es Sinn ergibt, weiß ich nicht. Die Frage ist, wann die richtige Zeit für die Betrachtung der Geschichte ist. Die einen sagen, nach 30 Jahren, dann ist die Quellenlage klar. Die handelnden Personen sind abgetreten, auf die müssen wir keine Rücksicht mehr nehmen. Nehmen Sie diese Bilder vom Reichstag: Ich bin der Einzige, der noch lebt. Alle anderen sind inzwischen weg. Brandt ist weg, Kohl ist weg, Genscher ist weg. Was war der emotionalste Moment für Sie als Regierungschef? Die Unterschrift unter Zwei-plus-Vier. Das Gefühl, ich sitze hier in Moskau und unterschreibe den Friedensvertrag, wir machen die Geschichte zu, die mit dem Reichstagsbrand begonnen hat. Wissen Sie, ich hatte eine sehr fromme Großmutter. Die erwartete von uns Kindern, dass wir jeden Sonntag einen Gesangbuchvers auswendig lernten. Ich hatte gelernt: Bleib mit deiner Gnade bei uns, Herr Jesu Christ. Da hat sie gesagt, Junge, wenn du erwachsen bist, wirst du mal erfahren, was Gnade ist. Als ich den Zwei-plus-Vier-Vertrag unterschrieben habe, habe ich gedacht: Großmutter, jetzt weiß ich, was Gnade ist. Die Griechen hatten zwei Begriffe für Zeit: Chronos war die ewig dahinfließende, ruhige Zeit. Und der Moment, wo man zugreifen muss, das war Kairos. Wir hatten viele Kairos-Momente 1990. Man hat das Gefühl, jetzt ist keine Zeit für Kairos-Momente. Es dauert eigentlich immer mindestens zwei Generationen, bis sich die Bevölkerung vom Durchgeschütteltwerden erholt hat. Die Ostdeutschen sind ja in einer Weise durchgeschüttelt worden, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr geschehen ist. Und es ist die Ungleichzeitigkeit, dass die Ostdeutschen mit all ihrem Tun auf den Prüfstand gestellt werden, während die Westdeutschen sagen konnten, wir leben so weiter wie bisher … Ich werde mich jetzt nach Hause begeben und ein bisschen Bratsche üben. Heute Abend ist noch Orchesterprobe. Haben Sie hier im Büro auch ein Instrument? Nee. Sonst hätten wir Sie gebeten, uns noch was vorzuspielen. Ich hatte 1990 eins im Ministerrat. Dass ich die Zeit schadlos überstanden habe, lag vielleicht daran, dass ich jeden Tag eine Stunde hatte, wo ich nur was für mich getan habe. Interview: Anja Reich und Sabine Rennefanz, unter MItarbeit von Jenni Roth. Das Gespräch erschien zunächst in der Serie "Zeitenwende" der Berliner Zeitung. Zitierweise: Lothar de Maizière, "Meine Damen und Herren, wir schaffen uns ab!“, in: Deutschland Archiv, 04.01.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/325011. Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer folgen nach und nach. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Herbstes 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. In dieser Reihe bereits erschienen: - Sabine Bergmann-Pohl, Interner Link: "Ein emotional aufgeladenes Parlament" - Rüdiger Fikentscher, Interner Link: "Die 10. Volkskammer als Schule der Demokratie" - Gregor Gysi - Externer Link: Ein urdemokratischer Impuls, der buis ins Heute reicht - Hinrich Kuessner Interner Link: „Corona führt uns die Schwächen unserer Gesellschaft vor Augen“ - Klaus Steinitz, Interner Link: "Eine äußerst widersprüchliche Vereinigungsbilanz" - Richard Schröder -Interner Link: "Deutschland einig Vaterland" - Maria Michalk, Interner Link: "Von PDS-Mogelpackungen und Europa?" - Markus Meckel, Interner Link: "Eine Glücksstunde mit Makeln" - Hans-Peter Häfner, Interner Link: "Brief an meine Enkel" - Konrad Felber, Interner Link: "Putins Ausweis" - Walter Fiedler, Interner Link: "Nicht förderungswürdig" - Hans Modrow, Interner Link: "Die Deutsche Zweiheit" - Joachim Steinmann, "Interner Link: Antrag auf Staatsferne" - Christa Luft, Interner Link: "Das Alte des Westens wurde das Neue im Osten" - Dietmar Keller, "Interner Link: Geht alle Macht vom Volke aus?" - Rainer Jork, Interner Link: "Leistungskurs ohne Abschlusszeugnis" - Jörg Brochnow, Interner Link: "Vereinigungsbedingte Inventur" - Gunter Weißgerber, "Interner Link: Halten wir diese Demokratie offen" - Hans-Joachim Hacker, Interner Link: "Es gab kein Drehbuch" - Marianne Birthler - Interner Link: "Das Ringen um Aufarbeitung und Stasiakten" - Stephan Hilsberg - Interner Link: "Der Schlüssel lag bei uns" - Ortwin Ringleb - Interner Link: "Mensch sein, Mensch bleiben" - Martin Gutzeit, Interner Link: "Gorbatschows Rolle und die der SDP" - Reiner Schneider - Interner Link: "Bundestag - Volkskammer 2:2" - Jürgen Leskien - Interner Link: "Wir und der Süden Afrikas" - Volker Schemmel - Interner Link: "Es waren eigenständige Lösungen" - Stefan Körber - "Interner Link: Ausstiege, Aufstiege, Abstiege, Umstiege" - Jens Reich - Interner Link: Revolution ohne souveränes historisches Subjekt - Carmen Niebergall - Interner Link: "Mühsame Gleichstellungspolitik - Eine persönliche Bilanz" - Susanne Kschenka - Interner Link: "Blick zurück nach vorn" - Wolfgang Thierse - Interner Link: "30 Jahre später - Trotz alldem im Zeitplan" - u.a.m. Mehr zum Thema: - Die Interner Link: Wahlkampfspots der Volkskammerwahl - Die Interner Link: Ergebnisse der letzten Volkskammerwahl - Film-Dokumentation Interner Link: "Die letzte Regierung der DDR" - Analyse von Bettina Tüffers: Interner Link: Die Volkskammer als Schule der repräsentativen Demokratie, Deutschland Archiv 25.9.2020
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-01-04T00:00:00"
"2020-12-31T00:00:00"
"2021-01-04T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/325011/meine-damen-und-herren-wir-schaffen-uns-ab/
Der Rechtsanwalt Lothar de Maizière, letzter DDR-Regierungschef, war sechs Monate im Amt und hatte nur einen Auftrag: das eigene Land aufzulösen. Im Interview erzählt er, wie Helmut Kohl ihn verriet, Hannelore Kohl heimlich vermittelte und warum er a
[ "Lothar de Maiziere", "DDR", "Deutsche Einheit", "Wiedervereinigung", "Helmut Kohl", "Wolfgang Schäuble", "DDR" ]
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Österreich | Fachtagung "Grenzenloser Salafismus - Grenzenlose Prävention?" | bpb.de
Ab 2013/14 habe in Österreich im Umgang mit "foreign fighters" ein Umdenken eingesetzt und es wurde eine "progressive" Lösung im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Lösung gesucht. Dafür sei man auf europäische Partner, die Wissenschaft und die (österreichische) Zivilgesellschaft zugegangen. Ein bundesweites Netzwerk aus den Bereichen Extremismusprävention und Radikalisierungsprävention wurde aufgebaut und institutionalisiert. Unter anderem finden alle zwei Monate ganztägige Arbeitssitzungen statt, in denen die Teilnehmenden zuerst auf den gleichen Wissensstand gebracht und Verständnisprobleme ausgeräumt werden würden, im zweiten Teil fände dann der inhaltliche Austausch statt. Diese Strategie befindet sich noch im Aufbau und ist als Denkanstoß zu verstehen, an dem sich Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Bund und Bundesländer beteiligen. Beispielsweise gab es in Österreich bisher nur wenig Angebote für bereits Radikalisierte. Dafür wurde nun ein Pilotprojekt mit drei zivilgesellschaftlichen Organisationen gestartet, welches von Sicherheitsbehörden zwar initiiert wurde, die Fallidentifikation, -bearbeitung und -evaluierung wird jedoch durch die Zivilgesellschaft vorgenommen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-12-14T00:00:00"
"2018-01-03T00:00:00"
"2021-12-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/islamismus/fachtagung-salafismus-2018/262384/oesterreich/
David Blum, Bundesministerium des Inneren, Wien
[ "Salafismus", "Radikalisierungsprävention", "Extremismusprävention", "Österreich", "Bundesministerium des Inneren" ]
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Chronik: Vom 25. Januar bis 28. Februar 2012 | Ukraine-Analysen | bpb.de
25.1.2012 Der Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) sagt, dass er einen Brief an die inhaftierte ehemalige Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko geschrieben habe, in dem er ihr versichere, dass sie viele Freunde habe, die versuchen würden, ihr in dieser dramatischen Situation der Inhaftierung zu helfen. 25.1.2012 Präsident Wiktor Janukowytsch unterschreibt ein Dekret zur Formierung einer Verfassungsversammlung und zu deren Organisation. Er verfolgt damit eine Idee des ehemaligen Präsidenten Leonid Krawtschuk. 26.1.2012 Auf dem Weltwirtschaftstreffen in Davos treffen die Präsidenten der Ukraine und Polens, Wiktor Janukowytsch und Bronisław Komorowski, zusammen und besprechen Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. In einem anderen Zusammenhang erklärt Janukowytsch, dass die Ukraine ihre Zukunft in der EU sehe und danach strebe, Vollmitglied der EU zu werden. 26.1.2012 Die Parlamentarische Versammlung des Europarates verabschiedet eine Resolution zur Situation in der Ukraine. Darin werden die Verfahren gegen ehemalige Mitglieder der Regierung Tymoschenko als politisch motiviert kritisiert. 30.1.2012 Es wird bekannt, dass der inhaftierte ehemalige Innenminister Jurij Luzenko Klage bei einem amerikanischen Gericht gegen Generalstaatsanwalt Wiktor Pschonka, dessen Stellvertreter Rinat Kusmin und weitere Personen eingereicht hat, da er seine Rechte bei der Verhaftung und während der Inhaftierung nicht gewahrt sieht. Am 24.2.2012 wird die Klage wegen technischer Fehler abgewiesen. 30.1.2012 Arsenij Jazenjuk, Vorsitzender der Partei Front der Veränderung, erklärt, dass sich das Komitee gegen die Diktatur (Zusammenschluss von oppositionellen Parteien und Organisationen) nicht an der von Präsident Wiktor Janukowytsch ins Leben gerufenen verfassungsgebenden Versammlung beteiligen werde. Die Partei Udar von Witalij Klytschko schließt sich dieser Position an. Die Opposition hatte eine solche Versammlung zunächst befürwortet, wollte diese jedoch beim Parlament und nicht beim Präsidenten angesiedelt sehen. 1.2.2012 Die Download-Seite EX.UA wird von der Polizei wegen Verstoßes gegen das Urheberrechtsgesetz geschlossen. Als Zeichen des Protests legen Nutzer der Seite die Homepage des Innenministeriums, der Regierung, des Geheimdienstes und der Präsidialadministration lahm. Tags darauf kann der Filehoster seinen Betrieb im Wesentlichen wieder aufnehmen. 1.2.2012 Das Katastrophenschutzministerium gibt bekannt, dass 43 Personen in den letzten Tagen aufgrund der niedrigen Temperaturen gestorben seien. Bisher wurden 1.735 so genannte Wärmepunkte eröffnet, in denen warme Mahlzeiten und Tee ausgeschenkt werden. Etwa drei Viertel aller Schulen werden aufgrund der Kälte geschlossen. 1.2.2012 Abermals registriert die Opposition im Parlament einen Antrag aufÄnderung des Strafgesetzbuches, vor allem soll der Paragraph, nach dem die ehemalige Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko verurteilt worden war, abgeändert werden und der Präsident, der Ministerpräsident und andere Regierungsmitglieder nicht mehr für politische Entscheidungen haftbar sein. Auch in der PACE-Resolution vom 26.1.2012 waren diese Paragraphen kritisiert worden. Am Abend erklärt Präsident Wiktor Janukowytsch, dass die Gesetze mit den europäischen Standards in Einklang gebracht würden. 1.2.2012 In Lwiw unterschreiben Vertreter der Regionalorganisationen der Parteien Freiheit, Vaterland und Front der Veränderung eine Vereinbarung über das gemeinsame Auftreten bei den Parlamentswahlen im Oktober 2012. Andere dem Komitee gegen Diktatur angehörende Parteien kritisieren diesen Vormarsch. 1.2.2012 Die Leiterin des Staatlichen Migrationsdienstes erklärt, dass die im Migrationslager Schurawytschi festgehaltenen Asylsuchenden nur beweisen müssten, dass sie aus Somalia kämen, dann würde sie auch niemand ausweisen. 58 von ihnen waren am 6.1.2012 gegen ihre Inhaftierung in Hungerstreik getreten. 2.2.2012 Zwei Tage nachdem Energieminister Jurij Bojko erklärt hatte, die Ukraine habe die Europäische Kommission zu den Gasgesprächen mit Russland hinzugeladen, vermeldet Gasprom, die Ukraine entnehme den Leitungen derzeit wesentlich mehr Gas als vertraglich vereinbart. Naftohas bestreitet dies. Kurz zuvor hatten die europäischen Partner Gasproms das Unternehmen beschuldigt, weniger Gas in die Transitleitungen einzuspeisen. 3.2.2012 Präsident Wiktor Janukowytsch ernennt Ihor Kalinin zum Leiter des Geheim- und Sicherheitsdienstes. Der bisherige Leiter, Walerij Choroschkowskyj, war am 18.1.2012 zum Finanzminister ernannt worden. 3.2.2012 Die Zahl der Kälteopfer in der Ukraine erhöht sich um 38 auf 101 Personen. In der Nacht werden bis zu -32°C gemessen. Mittlerweile sind 2.940 Wärmepunkte für Obdachlose und Schutzbedürftige geöffnet. 3.–4.2.2012 Präsident Wiktor Janukowytsch besucht die internationale Sicherheitskonferenz in München. Er erklärt, die Ukraine sei um einen intensiveren Dialog mit der EU bemüht. Später sagt er, die Ukraine werde ihre Beziehungen zu Russland auf paritätischen Bedingungen aufbauen. 7.2.2012 Russland verbietet die Einfuhr von Käseerzeugnissen von verschiedenen ukrainischen Produzenten. Schon zu Beginn des Jahres war an der Qualität des Käses gezweifelt worden, in erster Linie wegen der Verwendung von nicht ausgewiesenem Pflanzenfett. 7.2.2012 Die 10. Sitzungsperiode des Parlaments beginnt mit einem Pfeifkonzert der Opposition für Präsident Wiktor Janukowytsch, der eine Eröffnungsrede hält. 7.2.2012 Nina Karpatschewa, Menschenrechtsbeauftragte beim Parlament, erklärt in ihrem Jahresbericht, dass lediglich 33 % der Gerichtsurteile in der Ukraine umgesetzt würden, besonders brisant sei die Situation bei den Urteilen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes. Karpatschewas Amtszeit läuft am Folgetag aus. 8.2.2012 Präsident Wiktor Janukowytsch entlässt Verteidigungsminister Mychajlo Jeschel und ernennt Dmytro Salamatin zu dessen Nachfolger. Der Präsident erwartet von ihm die baldige Vorbereitung eines realistischen Konzeptes zur Reformierung der Streitkräfte. 8.2.2012 Roman Sabsaljuk erklärt seinen Austritt aus der Abgeordnetengruppe Reformen für die Zukunft und seine Rückkehr in die Fraktion Block Tymoschenko/Vaterland. Er sagt, er habe 500.000 US-Dollar für den Wechsel zu der Abgeordnetengruppe erhalten. Ihor Rybakow, Leiter dieser Gruppe, erklärt, das Geld habe Sabsaljuk für eine medizinische Behandlung erhalten. Zwei Wochen später urteilt die Generalstaatsanwaltschaft, dass sie hier keinen Gesetzesverstoß erkennen könne. 14.2.2012 Vertreter der staatlichen Anklage fordern die Verurteilung des ehemaligen Innenministers Jurij Luzenko zu viereinhalb Jahren Haft und einer Geldstrafe wegen Amtsmissbrauchs. Luzenko war bereits am 26.12.2010 festgenommen worden. 14.2.2012 In Charkiw trifft eine 14-köpfige Medizinerkommission zur Untersuchung der inhaftierten ehemaligen Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko ein. Auch drei kanadische und zwei deutsche Ärzte gehören dem Team an. 14.2.2012 Präsident Wiktor Janukowytsch entlässt Andrij Kljujew aus seinem Amt als Stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister und ernennt ihn zum Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates. Dieses Amt wurde frei nachdem Janukowytsch Rajisa Bohatyrjowa zur Gesundheitsministerin ernannt hatte.Von diesem Posten entließ er am gleichen Tag Oleksandr Anischtschenko. 14.2.2012 Die Regierung einigt sich auf einen Entwurf für ein neues Passgesetz, womit sie einer entscheidenden Forderung der EU im Rahmen der Visaliberalisierung nachkommt. Im Herbst 2011 war das erste Gesetz zu diesem Thema verabschiedet und dann von Präsident Wiktor Janukowytsch mit einem Veto belegt worden. In diesem sollten noch in 16 verschiedeneDokumente biometrische Daten aufgenommen werden. Das neue Gesetz sieht dies nur noch für den Pass vor. 17.2.2012 Präsident Wiktor Janukowytsch gratuliert dem in der Präsidentschaftswahl in Turkmenistan bestätigten Gurbanguly Berdimuhamedow zum Wahlsieg. 17.2.2012 Die russische Regierung bietet der ukrainischen an, die Gespräche über den Gaspreis wieder aufzunehmen. Laut Pressemeldungen ist Russland zu einem 10%-igen Preisrabatt bereit. 18.2.2012 Präsident Wiktor Janukowytsch entlässt Generalstabschef Hryoryj Pedtschenko aus dem Amt. Kurz darauf ernennt er Wladymyr Samana zu dessen Nachfolger. Bei einem ersten Treffen mit ihm und dem neu ernannten Verteidigungsminister Dmytro Salamatin bezeichnet er die Entwicklung des militärisch-industriellen Komplexes als vorrangige Aufgabe. 18.2.2012 Dmytro Firtasch wird von Präsident Wiktor Janukowytsch zum Chef des Nationalen Trilateralen Sozialwirtschafsrates, der als Beratungsgremium bei der Präsidialverwaltung der Ukraine fungiert, ernannt. 20.2.2012 In Kiew treffen sich Präsident Wiktor Janukowytsch und Ministerpräsident Mykola Asarow mit dem Sprecher der russischen Duma, Sergej Naryschkin. 20.2.2012 Der Neurologe Karl Max Einhäupl und der Orthopäde Norbert Haas vom Universitätsklinikum Charité in Berlin, die in das Frauengefängnis in Charkiw gereist waren, bestätigen, dass die inhaftierte ehemalige Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko ernsthaft krank ist. Weitere Aussagen könnten aber derzeit nicht gemacht werden. Zwei Tage später erklärt die Abgeordnete des Europäischen Parlaments, Zuzana Roithova, dass Tymoschenko eine angemessene medizinische Versorgung verweigert werde. 21.2.2012 Ca. 300 Menschen besetzen in Kiew die Präsidialadministration. Sie tragen Plakate mit der Losung »Lasst die Märkte leben«. 22.2.2012 Walerij Choroschkowskyj, der erst am 18.1.2012 zum Finanzminister ernannt worden war, wird zum Ersten Stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt und löst damit Andrij Kljujew ab. Ministerpräsident Mykola Asarow erklärt tags darauf, dass in den Aufgabenbereich Choroschkowskyjs die Europäische Integration falle. 23.2.2012 Jurij Stez vom Block Unsere Ukraine wird Vorsitzender des parlamentarischen Komitees zu Fragen der Meinungs- und Informationsfreiheit. 24.2.2012 Etwa 30 Abgeordnete vom Block Tymoschenko blockieren die Rednertribüne im Parlament aus Protest gegen ein Gesetz, das der Regierung die Reorganisation des staatlichen Gasversorgers Naftohas ermöglichen soll. 24.2.2012 Präsident Wiktor Janukowytsch erklärt, dass Andrij Kjujew nach seinem Ausscheiden aus dem Ministeramt auch nicht den Wahlkampfstab der Partei der Regionen im Kampf um die Parlamentswahlen im Oktober 2012 leiten wird, obwohl der politische Rat der Partei ihn im Dezember 2011 mit dieser Aufgabe betraut hatte. 25.2.2012 In Lwiw demonstrieren ca. 7.000 Menschen aus Anlass der zweijährigen Präsidentschaft Wiktor Janukowytschs gegen dessen Politik. 27.2.2012 Der russische Erste Kanal zeigt einen Bericht, demzufolge Anfang Februar in Odessa zwei Männer unter dem Verdacht, einen Anschlag auf den russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin geplant zu haben, vom ukrainischen und russischen Geheimdienst verhaftet worden sind. 27.2.2012 Das Petschersker Bezirksgericht in Kiew verurteilt den ehemaligen Innenminister der Regierung Tymoschenko, Jurij Luzenko, wegen Amtsmissbrauchs und Unterschlagung zu vier Jahren Haft. Darüber hinaus wird eine Geldstrafe in Höhe von 65.000 Euro gegen ihn verhängt und drei Jahre lang darf er nicht für ein politisches Amt kandidieren. Damit liegt das Strafmaß kurz unter dem von der Staatsanwaltschaft beantragten. Die Vorwürfe, er habe dem Fahrer seines Dienstwagens zu einer Zusatzrente sowie einer Wohnung verholfen und er habe für Polizeifeste in den Jahren 2008 und 2009 zu viel Geld ausgegeben, hatte er stets scharf zurückgewiesen. Die EU kritisiert das Urteil als politisch motiviert. 27.2.2012 Vor dem Gebäude der Präsidialadministration findet erstmals eine gemeinsame Protestveranstaltung der Jugendorganisationen der oppositionellen Parteien, die zum Komitee gegen die Diktatur gehören, statt. 28.2.2012 Das Oberste Verwaltungsgericht der Ukraine weist die Klage des Abgeordneten Jurij Odartschenko (Fraktion Block Tymoschenko) gegen den Präsidenten und die Oberste richterliche Qualifizierungskommission wegen ungesetzlicher Ernennung Rodion Kirejews zum Richter am Petschersker Bezirksgericht zurück. Kirejew hatte die ehemalige Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko zu sieben Jahren Haft verurteilt.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-05-14T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/136009/chronik-vom-25-januar-bis-28-februar-2012/
Chronologie der Ereignisse vom 25. Januar bis zum 28. Februar 2012.
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Dokument 3.3: "Fremdes Brot." Valentin Wiens über die Verfolgung der deutschen Aktivisten, die für das Recht auf Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland kämpfen, 1975 | Russlanddeutsche | bpb.de
Erste handgeschriebene Seite der Schrift "Fremdes Brot" aus der Ermittlungsakte, Blatt 224. (© Staatsarchiv des Gebiets Karaganda/Kasachstan) "Sie, Deibert, haben fremdes, sowjetisches Brot gegessen, sie arbeiteten ohne jegliche Ausbildung als Ingenieur. Ja, man musste Ihnen eigentlich 60–70 Rubel monatlich bezahlen und nicht mehr!", so tobte der Staatsanwalt im Prozess gegen den 1942 geborenen Eduard Wendelinowitsch Deibert. Gegen den sowjetdeutschen Sklaven, dessen ganze Schuld es war, dass er große Anstrengungen unternahm, um in die BRD auszureisen. Die Gerichtsverhandlung dauerte schon zwei Tage [24.-25. Februar 1975] und näherte sich dem Ende. Herangezogen wurden 13 Personen, mit denen er als Ingenieur-Einrichter in Karaganda arbeitete. Offiziell wurde er nach Artikel 170-1 des Strafgesetzbuches der Kasachischen Unionsrepublik (KasSSR) verurteilt, der besagt: "Wegen systematischer Verbreitung in Wort und Schrift wissentlich unwahrer Erfindungen, die das sowjetische System verleumden." Tatsächlich hat er keine Verbreitung von erfundenen Behauptungen betrieben, sondern war dem KGB schlicht ein Dorn im Auge, das ihm oft mit einer Gefängnisstrafe gedroht hatte, sollte er mit seinen, ihnen unerwünschte Aktivitäten nicht aufhören. Was waren diese unerwünschten Aktivitäten? Bereits 1973 sammelte er in Karaganda zusammen mit Abel Listen von Personen, die in die BRD ausreisen wollten. Er nahm aktiv an der spontanen Bewegung der Deutschen teil, was zu einer stark besuchten Kundgebung führte. Wegen derartiger Tätigkeit führte der KGB bei ihm drei Durchsuchungen je 6–8 Stunden durch. […] Aber zurück zum Prozess. Hier sind die wichtigsten Zeugenaussagen. Im März 1973 war er auf Geschäftsreise in Schachty, in der örtlichen Stadtbäckerei. In Anwesenheit von Iwanow V. und Deis K. erklärte Deibert E., dass es in der UdSSR keine Rede- und Pressefreiheit, keine Gerechtigkeit gibt und Menschen deutscher Nationalität unterdrückt werden […]. Hier noch eine weitere Zeugenaussage: Im Juni 1974 erklärte Deibert E. den Arbeitern seiner eigenen Abteilung, dass das sowjetische Wahlsystem eine Formalität und eine Fiktion sei, und die Abgeordneten der Sowjets nicht vom Volk gewählt werden […]. Alle 13 Zeugen hatten ähnliche Aussagen. Und bei der Verhandlung behaupteten sie alle, er hatte vor, in die BRD überzusiedeln und wollte niemanden überzeugen, sondern äußerte bei Diskussionen nur seine Meinung. Aber sein Schicksal war bereits entschieden, und der Prozess war nur eine Formalität. […] Lasst uns kurz den Lebensweg von Deibert verfolgen, den er vor der Gerichtsverhandlung durchschritt. E. Deibert wurde in einem Dorf im Gebiet Odessa geboren. Während des Krieges war auch seine Familie in Deutschland. Nun war der Krieg vorbei und die Deutschen, die aus Russland [d.h. aus der UdSSR] nach Deutschland kamen, blieben herrenlos. Es war eine der schwierigsten, kritischen Phasen in ihrem Leben. Hier liefen überall sowjetische Propagandisten herum und versprachen allen eine Rückkehr in ihre Heimat, woher sie kamen, d.h. aus den ukrainischen Gebieten. Einige Leute, die den Wert sowjetischer Versprechen wussten, versteckten sich und verblieben in Deutschland. Aber der größte Teil wurde mit Gewalt und Betrug in die UdSSR, in die "Heimat" gebracht. Bei der Überschreitung der Grenze der UdSSR ist alles klar geworden. Niemanden wurde vergönnt, die Ukraine wieder zu sehen, wo sie alle geboren sind und die sie mal als ihre Heimat betrachteten. Alle Deutschen wurden in die Zwangsansiedlungen, zusammen mit den Strafgefangenen in die nördlichen Regionen und nach Kasachstan geschickt. Jetzt war ihr "Heimatland" eine unbewohnte Steppe, in der nichts wuchs und nur einige Baracken für Häftlinge zu sehen waren oder die unpassierbaren Wälder im Norden, in der Komi ASSR und im Ural, wieder neben den Strafgefangenen. Ihre Siedlungen nannte man die Zonen. Zu jeder Zone gehörte eine eigene Kommandantur, in der jeder Deutsche, der 16 Jahre alt geworden ist, jeden Monat unterschreiben musste, dass er nirgendwohin flüchten würde. […] So verbüßten die in Russland geborenen Deutsche zehn Jahre lang die Strafe, weil sie als Deutsche geboren wurden. Die Hauptanklage gegen sie war die Volkszugehörigkeit. Ob jemand ein Mitglied des Komsomols [kommunistischer Jugendverband] oder der [kommunistischen] Partei war, zählte nichts; wenn du ein Deutscher bist, dann bist du ein Feind des russischen Volkes und deshalb musst du ausgerottet werden. Foto eines russischsprachigen Zeitungsartikels über Deibert und seinen Strafprozess. (© Staatsarchiv des Gebiets Karaganda/Kasachstan) Später, nach dem Prozess gegen Deibert, veröffentlichte die Zeitung "Industrialnaja Karaganda" ["Industrielle Karaganda", die einzige Gebietszeitung] am 2. April [1975] einen Artikel "Fremdbestimmt", in dem über diese Nachkriegszeit berichtet wurde: Der Krieg verstummte. Und viele Deutsche kehrten in ihre Heimat zurück. Die Familie Deibert kehrte ebenfalls zurück. Wie alle Sowjetmenschen begannen die Bürger deutscher Nationalität, die durch den Krieg zerstörte Volkswirtschaft wiederherzustellen. Aus der Zeitung geht hervor, dass die Deutschen nicht zwangsausgesiedelt wurden, sondern dass sie in ihre Heimat, in die Ukraine, zurückkehrten. Nirgendwo ist eine Quelle zu finden, in der angegeben wäre, auf welche Art und Weise es plötzlich die Deutschen nach Kasachstan verschlagen hat. Nach 1956 zog die Familie von Deibert nach Karaganda, wo Eduard die 10. Klasse an einer Abendschule absolvierte und vorhatte, in einer Fliegerschule zu studieren. Er war zu dieser Zeit ein Mitglied des Komsomol und stand einer primären Komsomolorganisation vor. Er wollte ein Radarspezialist werden, aber durfte keine Prüfungen ablegen. Es stellte sich heraus, dass er im Lebenslauf "verschwieg", dass er von 1945 bis 1956 in einer Sondersiedlung in der Komi ASSR war. Man zwang ihn, seinen Lebenslauf zu ändern, aber gab ihm zu verstehen, dass er in dieser Lehranstalt keine Chance hat, aufgenommen zu werden. Da gingen ihm erst die Augen auf und er erkannte, dass ein Deutscher in der UdSSR immer ein minderwertiges Mitglied der Gesellschaft sein wird. Das war ein schwerer Schlag für ihn, nach dieser "Entdeckung" fand er keine Ruhe mehr. Er trat danach in das Polytechnische Institut in Karaganda ein und brach das Studium nach anderthalb Jahren ab. Zu dieser Zeit begann, initiiert vom Bundeskanzler Willy Brandt, die Politik der Entspannung zwischen der UdSSR und der BRD. Dann gab es Gerüchte, dass Leute mit der Hochschulbildung bei der Ausreise große Summen bezahlen mussten und er hat das Studium deswegen aufgegeben. Zusammen mit Abel trat er engagiert in den Kampf für die Ausreise der Deutschen in die Bundesrepublik Deutschland. Und nun im Jahr 1973 wurde Abel für 3 Jahre eingesperrt, er [Deibert] wurde indes auf freiem Fuß gelassen, aber streng verwarnt. Der KGB sagte ihm, dass er nur für sich allein [um die Ausreise] bemühen musste. Und er hat sich bemüht. Er schrieb an alle städtischen [gemeint wohl: staatlichen] Organisationen bis hin zu L.I. Breschnew, an den Innenminister der UdSSR, Schtschelokow, an den internationalen Berichterstatter der Zeitung "Prawda", Juri Shukow, an die UNO, aber jegliche Antwort blieb aus. Der Sekretär des Vorsitzenden des [Karagandaer] Gebietsexekutivkomitees erklärte ihm zum Beispiel die Bedeutung des Wortes "Freiheit" [in der Sowjetunion]: "Freiheit ist das Recht zu arbeiten, und die Arbeit ist eben die Freiheit." […] Und schließlich hat der OWIR im September [1973] Dokumente zur Bearbeitung des Antrages auf die Ausreise in die BRD endlich angenommen. Eine Beurteilung [Charakteristik] wurde ihm auf einer Betriebsversammlung erstellt, die sich als ein eigenartiges Gewissensgericht aufspielt. Die Person, die in die BRD übersiedeln möchte, gilt hier als Verräter. Und kann ein Verräter irgendwelche Rechte besitzen? Natürlich nicht. Auf der Versammlung schallten ihm solche Worte entgegen: "Wenn ich eine Maschinenpistole bekäme, würde ich alle Deutschen töten!" oder "Meine Mutter starb vorzeitig wegen der Deutschen, weil sie während des Krieges viel erdulden musste!" So werden die Beurteilungen fast in allen Organisationen ausgehändigt. Aber hier könnte man eine weitere Besonderheit beobachten. Wenn über den Krieg gesprochen wird, über die Vergangenheit, dann sind alle Deutschen gleich, sie sind alle Faschisten, obwohl sie hier geboren sind. Dies folgt eindeutig aus dem vom Staat [propagierten] Slogan: "Wir werden nichts vergessen, wir werden nichts vergeben." In der Tat wird nichts vergessen und nichts wird vergeben. Wenn man Radio und Fernsehen hört, Zeitungen und Bücher liest, so könnte man denken, dass der Krieg nicht vor 30 Jahren, sondern erst gestern zu Ende ging. Jawohl, der Deutsche in der UdSSR auch jetzt, 30 Jahre nach dem Krieg, bleibt ein Faschist. Und 1942 geborene E. Deibert ist dafür verantwortlich, dass jemandes Mutter vorzeitig gestorben sei. Tatsächlich tragen [die Berichterstattungen durch] das Fernsehen, Radio und die Presse ihre Früchte [beim Anheizen antideutscher Ressentiments]. Fernsehen und Presse verkünden eine weitere These: "Wir werden die Deutschen lebenslang verfolgen, gegen sie werden wir lebenslang giften und stänkern." Deibert beendete seine Verteidigungsrede, in der er alle seine Handlungen und Gedanken nur durch den einzigen Wunsch erklären will, in die BRD zu gehen. Aber der Richter herrscht ihn an: "Wir verurteilen dich nicht wegen deines Wunsches, in die BRD auszureisen, sondern nach dem Tatbestand." Am Ende der Rede sagt Deibert, dass er aus Protest gegen die Entscheidung des Gerichts in einen Hungerstreik treten wird. Das Gerichtsurteil wurde verkündet: zwei Jahre in einem Lager des allgemeinen Regimes. […] Damit endet unsere Erzählung über Eduard Deibert, der in die BRD ausreisen wollte und dafür eine zweijährige Strafe verbüßen musste. […] Foto eines Zeitungsberichts über den Prozess gegen Erich Abel, erschienen in der FAZ-Ausgabe vom 14. Februar 1975. (© Privatsammlung Eduard Deibert (Iserlohn)) In der Umgebung der Stadt Uralsk büßt seine dreijährige Freiheitsstrafe E[rhard] Abel ab. Er leidet derzeit stark an Asthma. Bis jetzt blieb im Gedächtnis der Menschen seine feste und entschiedene Rede während der Gerichtsverhandlungen. Hier gab es keinen Kompromiss mit dem Gewissen, keine Reue. Hier ist das Ende seiner Rede: Bürger Richter! Was immer sie als Haftstrafe für mich verhängen werden, ich werde es ehrlich absitzen, aber wenn ich frei bin, werde ich niemals in meinem Leben einen Sowjetpass nehmen. Ich würde lieber einen Hungertod sterben. Meinerseits fühle ich keine Schuld und bekenne mich in keiner Weise schuldig. Mein Hauptziel ist es, in die BRD auszureisen. Von Abels Worten, dass er nie wieder einen sowjetischen Pass in seinem Leben nehmen würde, was praktisch eine offizielle Weigerung der sowjetischen Staatsbürgerschaft bedeutete, fühlten sich die Richter wie vor den Kopf geschlagen. Sie verfielen in Hektik wie Mäuse. Dazu fangen die beim Gericht anwesenden Menschen noch an, einmütig zu klatschen, wie auf einem Konzert, um die Zugabe zu erhalten und unterstützten damit Abel. Die Offiziellen konnten nur schreien: "Pause für eine Stunde!" Aber die Leute kamen nicht heraus. Aufgebracht konnten sie nur schreien: "Pause für 2, für 3 Stunden!!!" Später teilte der stellvertretende Staatsanwalt Abels Frau mit, dass wenn er davon gewusst hätte, würde er für Abel einen Artikel [aus dem Strafgesetzbuch] aussuchen, der erlauben würde, ihm eine fünfjährige Strafe zu verhängen. […] Vergleicht man die gegenwärtige Situation der Sowjetdeutschen und jener Deutschen, unserer Vorfahren, die einst als freie Menschen nach Russland kamen, so wird es deutlich, wie ein freier Mensch zum Sklaven wurde. Er isst bereits das fremde Brot. Im Streben nach dem größeren Wohlstand büßten sie ihre Freiheit. Ja, sie sind die wirklichen Sklaven des 20. Jahrhunderts. Und diese Sklaverei existiert in der UdSSR. Während der Vernehmung im regionalen Exekutivkomitee nahm zum Beispiel [Wladimir] Pelke aus Saran seinen Pass aus der Tasche, warf ihn auf den Tisch und sagte: "Dieser Pass ist kein Pass, sondern eine Bescheinigung, dass ich ein Sklave bin!" […] Im Bildungsbereich stehen die Deutschen unter anderen Nationen in der UdSSR an letzter Stelle. Es ist vorteilhaft für den Staat, unter den Deutschen hauptsächlich Arbeitskräfte [für körperlich beanspruchende Tätigkeiten] zu haben. Für die Deutschen wurde die Nationalität [hier im Sinne: Volkszugehörigkeit] sozusagen zum Kennzeichen im Pass, das einen gleichberechtigten Bürger von einem Sklaven unterscheidet. Zeigt der Deutsche bei der Einreichung von Dokumenten für ein Touristikvisum seinen Pass , sind die Reiseschecks vergriffen. Zeigt er seinen Pass bei der Einschreibung in eine Hochschule für solche Fachrichtungen wie etwa die Funktechnik, so wird er garantiert die Aufnahmeprüfungen "nicht bestehen" oder aus gesundheitlichen Gründen nicht durchkommen. Also, die Hauptanklage gegen die Deutschen in der UdSSR ist ihre Nationalität. Dies war der Grund für die Auflösung der Republik im Jahr 1941, und nach dem Krieg für die Verhängung einer zehnjährigen Haftstrafe, gleich wie bei den Kriegsgefangenen. Und davon ausgehend ist es schon möglich, folgende These aufzustellen: Die Regierung der UdSSR betrachtete ihre Deutschen ähnlich wie die Deutschen in Deutschland. Die Regierung der BRD hat daher das volle (jedenfalls moralische) Recht, die Ausreise der Deutschen in die BRD genauso einzufordern, wie sie die Ausreise [d.h. Rückführung] von Kriegsgefangenen verlangt hat. Die Grundlage dafür bilden zahlreiche und endlose Eingaben der Sowjetdeutschen. Die Sowjetdeutschen kommen langsam zu dem Schluss, dass sie ihre Heimat verloren haben. Man kann eine Person von ihrer Dienstelle herabsetzen und dann den vorherigen Zustand wiederherstellen, aber die Heimat kann [so] nicht wiederhergestellt werden. Der Begriff Heimat beinhaltet vielleicht mehr als ein Stück Brot, das man jemandem geben und dann wieder wegnehmen könne. Zu diesem Schluss gelangt, gehen die Sowjetdeutschen jedes Risiko ein, nur um in die BRD zu entkommen. Sie denken so: Wenn sie dort auch nicht alle Höhen erreichen werden, aber die Hauptsache ist doch, dass ihre Kinder vollwertige Bürger des Staates sein werden, eines solchen Staates, in dem ihre Muttersprache die Staatssprache [im Sinne: offizielle Amts- und Bildungssprache] ist. […] Von Stadt Karaganda April 1975 Erste handgeschriebene Seite der Schrift "Fremdes Brot" aus der Ermittlungsakte, Blatt 224. (© Staatsarchiv des Gebiets Karaganda/Kasachstan) Foto eines russischsprachigen Zeitungsartikels über Deibert und seinen Strafprozess. (© Staatsarchiv des Gebiets Karaganda/Kasachstan) Foto eines Zeitungsberichts über den Prozess gegen Erich Abel, erschienen in der FAZ-Ausgabe vom 14. Februar 1975. (© Privatsammlung Eduard Deibert (Iserlohn)) Valentin Wiens (1937–2001), einer der Aktivisten der Ausreisebewegung in der UdSSR. Geboren im Rayon Chortitza, Gebiet Saporoshje in der Ukraine, musste er gleich vieler seiner Landsleute die Verfolgungen und Diskriminierungen in der Nachkriegszeit erleben. Trotzdem gelang es ihm, 1965 das Studium an der Polytechnischen Hochschule in Karaganda als Bauingenieur abzuschließen; er arbeitete zuletzt als Gruppenleiter in einem Projektinstitut. Seit 1974 schoss er sich der Ausreisebewegung der Deutschen in Karaganda an, sammelte Unterschriften und verfasste einige Schriften, in denen er die missliche Lage seiner Landsleute schilderte und das Recht auf das Verlassen der UdSSR forderte. Dafür wurde er am 22. Oktober 1975 verhaftet und am 8. April 1976 zu drei Jahren Freiheitsentzug in einem Straflager verurteilt. Als kranker Mann zurückgekehrt, durfte Wiens auf Druck internationaler Menschenrechtsorganisationen mit seiner Familie 1981 nach Westdeutschland ausreisen. Von den Folgen der Lagerhaft konnte er sich nie erholen und verstarb nach langem Krebsleiden in Bielefeld. Die Handschrift ist aus den Unterlagen des politischen Strafprozesses gegen drei deutsche Aktivisten entnommen, der mit der Verhaftung von Arnold Winschu (auch: Winschuh) am 30. August 1975 begonnen hat und mit der Verurteilung der Angeklagten am 8. April 1976 in der Stadt Karaganda, Kasachische Unionsrepublik endete: Gosudarstvennyj archiv Karagandinskoj oblasti (GAKO – Staatsarchiv des Gebiets Karaganda), f. 731, op. 3, d. 5071, t. 1, ll. 224–234 (Strafsache gegen Arnold Winschu, Valentin Wiens und Livia Winschu). Derselbe Text mit minimalen Abweichungen, in anderer Handschrift gefertigt, befindet sich im zweiten Band der Ermittlungsunterlagen in dieser Strafsache: ibid., d. 5072, t. 2, ll. 161–167. Und, schließlich, im Privatarchiv von Eduard Deibert aus Iserlohn befindet sich eine handschriftliche Fassung dieses Samisdat-Werkes mit einem identischen Inhalt, die dem Übersetzer in Kopie vorliegt. Zu Deibert und seinen Aktivitäten siehe ausführlich im Interner Link: Abschnitt III (Lebensläufe der nonkonformen Aktivisten). Der Artikel 170-1 des Strafgesetzbuches der KasSSR ist dem Artikel 190-1 des Strafgesetzbuches der RSFSR (Russländischer Unionsrepublik) identisch: "Verbreitung der wissentlich unwahren Behauptungen, die die sowjetische Staats- und Gesellschaftsordnung verleumdeten. Die systematische Verbreitung von vorsätzlich falschen Behauptungen in mündlicher und schriftlicher Form, die die sowjetische Staats- und Gesellschaftsordnung diffamieren, sowie die Erstellung oder Verbreitung von Werken des gleichen Inhalts in schriftlicher, gedruckter oder anderer Form, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Besserungsarbeiten [d.h. mit Zwangsarbeit] bis zu zwei Jahren oder mit einer Geldstrafe bis zu dreihundert Rubel geahndet." Über den Lebenswerk und -lauf von Erich (auch: Erhard) Abel siehe ausführlich im Interner Link: Abschnitt III (Lebensläufe der nonkonformen Aktivisten) Anfang der 1970er Jahre entstanden in vielen Orten und Regionen in der UdSSR spontane Gruppen von Menschen, die das Ziel, die Ausreise in die Bundesrepublik, verfolgten. Einer der Zentren dieser Bewegung war Karaganda. Hier fand am 30. September 1973 eine stark besuchte Kundgebung mit mindestens 400 Teilnehmern statt, die gegen die Behördenwillkür in der Sache der Ausreisegenehmigungen ihren Unmut äußerten. Siehe hierzu den Zeugenbericht von Eduard Deibert, einem der Mitveranstalter dieser Protestaktion: Unvergessliches Ereignis in Karaganda, in: Deibert: Zusammenfassung der Gefangenenliste (1996), S. 37. Siehe Foto dieses Zeitungsartikels auf Russisch. Im Originalartikel der Zeitung fehlt das Wort "Deutsche". Im August 1972 wurde eine Verordnung erlassen, das von Personen, die in kapitalistische Länder emigrierten, die Rückzahlung für die Staatskosten für die höhere Ausbildung verlangte: je nach der Art des Studiums handelte es zwischen 4 000 und 25 000 Rubel. Aufgrund zahlreicher Proteste im Ausland verzichtet die Regierung seit Frühjahr 1973 auf die Erhebung dieser Gelder, siehe: Armborst, Ablösung von der Sowjetunion (2001), S. 102–103, 115. Erhard/Erich Abel wurde am 28. September 1973 verhaftet und am 21. Januar 1974 zu dreijährigen Lagerhaft verurteilt, siehe etwa seine Interner Link: Anklageschrift vom 4. Januar 1974 im "Archiv des Samisdat", Nr. 2709 (russisch). Leonid Breschnew war als Generalsekretär des ZK der KPdSU (1964–1982) der wichtigste und einflussreichste Mann im Sowjetstaat. Nikolaj Schtschelokow war in den Jahren 1966 bis 1982 Minister des Inneren der UdSSR. Abteilung für Visen und Erlaubnisse (Otdel Wis i Rasrescheni – OWIR) bei der Gebietsverwaltung Karaganda des Innenministeriums, die u.a. für die Bearbeitung der Anträge der Sowjetbürger zuständig war, die, wie es in der Behördensprache so hieß, ins Ausland wegen eines ständigen Wohnsitzes ausreisen wollten. Solch eine Beurteilung von der Arbeitsstelle musste unbedingt bei der Beantragung vorgelegt werden. Das ist die Abwandlung des in der Sowjetunion weit verbreiteten Spruches in Bezug auf den Krieg: Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen. Der gesamte Prozess und insbesondere die abschließende Gerichtsverhandlung gegen Erhard (auch Erich genannt) Abel fanden eine breite Berichterstattung in den bundesdeutschen Medien, siehe z.B.: Claus-Einar Langen: Genossen, eines Tages fahre ich doch nach Deutschland. Aufzeichnungen des Prozesses gegen den deutschstämmigen Sowjetbürger Erich Abel, in: FAZ Nr. 38 vom 14. Februar 1975, Online: Die prekäre Informationslage zeigt sich in Berichten dadurch, dass einige Tatsachen oder Namen entstellt oder falsch angegeben wurden etc. So etwa wie im obengenannten Artikel falsch angegeben wird, dass E. Abel Ende 1974 gestorben sein sollte. In dem FAZ-Artikel aus dem Jahr 1975 wird sein Schlusswort folgendermaßen wiedergegeben: Ich, Erich Abel, fühle mich nicht schuldig. 29 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges ist die Zeit gekommen, die Grenzen zu öffnen. Ich werde mich immer für eine gerechte und freie Übersiedlung in die Bundesrepublik einsetzen. Die Deutschstämmigen, die ausreisen möchten, sollen sich frei entscheiden können. Der Genosse Staatsanwalt droht mir mit einer fünfjährigen Freiheitsstrafe. Ich zweifle nicht daran, dass das Gericht seine Forderung erfüllt. Nach der Gefängnishaft werde ich aber niemals einen sowjetischen Pass in die Hand nehmen. Lieber will ich hungern und sterben. Ob Sie es wollen oder nicht, Genossen, eines Tages fahre ich doch nach Deutschland.Das Wort "Deutschstämmig" wurde gewiss vom Journalisten in den Mund des Angeklagten gelegt. Bei den Russlanddeutschen ist solch eine Selbstbezeichnung unüblich. Eine Kleinstadt im Gebiet Karaganda. Gemeint ist hier v.a. der Grad der Akademisierung. Vgl. hierzu: Viktor Krieger: Intellektuelle Rückentwicklung der Russlanddeutschen in der UdSSR, in: Volk auf dem Weg 3/2006, S. 12–14, Online: http://www.viktorkrieger.homepage.t-online.de/Maerz2006.pdf"> Im sowjetischen Inlandpass – der in der UdSSR als Personalausweis diente – wurde die Volkszugehörigkeit des Inhabers nach dem Vor-, Vaters- und Nachnamen und dem Geburtsjahr und -ort zuerst an dritten und im neuen Pass seit 1973 an fünfter Stelle (der berühmt-berüchtigte fünfte Punkt!) vermerkt. Gemeint ist das Regime der Sonderkommandantur, unter dem sich die Deutschen bis Ende 1955 befanden.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2019-01-11T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/russlanddeutsche/283746/dokument-3-3-fremdes-brot-valentin-wiens-ueber-die-verfolgung-der-deutschen-aktivisten-die-fuer-das-recht-auf-uebersiedlung-in-die-bundesrepublik-deutschland-kaempfen-1975/
[ "Russlanddeutscher Samisdat", "Dokumentation", "Kampf", "Ausreise", "UdSSR", "Deutschland", "BRD", "DDR", "Fremdes Brot.", "Verfolgung deutscher Aktivisten", "Recht auf Übersiedlung" ]
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M 04.05 Wie liest man eine Statistik? | Mobbing – bei uns nicht?! | bpb.de
In unserem Alltag begegnen uns in den Medien fast tagtäglich Statistiken: Statistiken zur Arbeitslosenzahl, Unfall- und Verkehrs-Statistiken, Statistiken zu Krankheiten, Statistiken im Rahmen der Wahlforschung (Politbarometer), Statistiken zu Gewaltverbrechen, im Sport – bspw. gerade bei der WM zu Torchancen und Trefferquoten – aber auch zu vielem anderen mehr. Wie entstehen Statistiken? Diese Statistiken sind – simpel ausgedrückt – eine zahlenmäßige Erfassung von Erscheinungen und zumeist Ergebnisse empirischer Erhebungen und Untersuchungen, häufig im Rahmen empirischer Sozialforschung (Empirie von griechisch empireia = Erfahrung, Erfahrungswissen). Gewonnen werden die Daten und Zahlen auf unterschiedliche Weise und mittels verschiedener Methoden der empirischen Sozialforschung (vgl. Interner Link: M 01.04 ), z.B. mit Hilfe von Gesamterhebungen (Beispiel Volkszählung), repräsentativen Untersuchungen (z.B. Shell-Jugendstudie), verschiedenen Arten von Umfragen (z.B. telefonische Kundenbefragungen), längerfristig angelegten Beobachtungen, Inhaltsanalysen etc. Die ermittelten Zahlen werden ausgewertet und oftmals in Form von Tabellen oder Diagrammen veröffentlicht. Solche Diagramme und Tabellen findet man in den Medien recht häufig. Doch wie liest man sie? Und worauf sollte man achten? Was man beim Lesen und Auswerten einer Statistik beachten sollte: Das Tabellendiagramm Das Tabellendiagramm stellt die Daten – wie der Name schon sagt – in Form einer Tabelle dar. Meistens enthalten Tabellendiagramme eine Fülle von Zahlen. Sollen hier gezielt Informationen entnommen werden, ist es wichtig, sich zunächst einen Überblick über den Aufbau der Tabelle zu verschaffen, um sich zu orientieren. Die Tabellenüberschrift gibt einen ersten Anhaltspunkt für die Auswertung. In Verbindung mit der Kopfleiste und der Randspalte der Tabelle enthält sie die zum Verständnis der Tabelle notwendigen Informationen über die Merkmale/Items (= Fragen) und Antwortmöglichkeiten, deren Daten in der Tabelle angezeigt werden. Von Bedeutung ist es auch, sich der Art der Zahlen bewusst zu machen. Werden absolute Zahlen (die Mengen, Größen, Häufigkeit angeben) oder relative Zahlen (die einen Zusammenhang zwischen einem Zahlenwert zu einer anderen Größe, meist der Grundgesamtheit, herstellen) verwendet? Manchmal kann es sinnvoll sein, das vorliegende Zahlenmaterial weiter auszuarbeiten. Man könnte beispielsweise überlegen, ob sich aus absoluten Zahlen aussagekräftige Prozentwerte errechnen lassen oder einzelne Werte innerhalb der Tabelle miteinander bzw. die Ergebnisse mit Daten aus anderen Untersuchungen verglichen werden können. Grafische Diagramme Häufiger als Tabellendiagramme findet man grafische Diagramme zu den Daten, da mit ihnen oft eine bessere Übersichtlichkeit erreicht wird. Auch hier muss man sich zunächst orientieren: Was befindet sich auf der x-Achse, was ist auf der y-Achse dargestellt? Handelt es sich bei den Werten um absolute oder prozentuale Zahlen? Fängt die Skala der y-Achse bei 0 an oder aber erst später, also wird hier evtl. nur ein Ausschnitt aus dem eigentlichen Diagramm wiedergegeben? Meist ist auch ein Blick auf die Quellenangabe hilfreich, denn sie gibt Informationen über die Herkunft – und somit meist auch über die Glaubwürdigkeit – sowie das Alter der Daten. Häufig werden zusammen mit den Statistiken/Diagrammen auch begleitende Texte veröffentlicht, diese enthalten z.B. Angaben zur Grundgesamtheit [N], bei Umfragen also die Anzahl der insgesamt befragten Personen, sowie weitere Hintergrundinformationen, die für die Einordnung und Interpretation der Ergebnisse von Bedeutung sein könnten. Von den Tücken und Gefahren, die in Statistiken lauern Statistiken erscheinen uns oft als objektiv und wahr/richtig, dabei können sie durch eine falsche bzw. verzerrende Darstellungsweise der Daten oder durch fehlende Informationen den Betrachter in seiner Wahrnehmung manipulieren und einen falschen Eindruck erwecken. Zitate zum "Lügen mit Statistik": "Vertraue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast!" (Laut Wikipedia von der deutschen Propaganda während des Zweiten Weltkriegs erfunden und von dieser Winston Churchill zugeschrieben) "Statistics are like bikinis. What they reveal is suggestive, but what they conceal is vital." (Aaron Levenstein) Deutsche Übersetzung: "Die Statistik ist wie ein Bikini: Sie ist andeutungsvoll, aber das Wesentliche bleibt doch verborgen." "Statistik ist für mich das Informationsmittel der Mündigen. Wer mit ihr umgehen kann, kann weniger leicht manipuliert werden. Der Satz "Mit Statistik kann man alles beweisen" gilt nur für die Bequemen, die keine Lust haben, genau hinzusehen." (Elisabeth Noelle-Neumann) Diese Statements zeigen sehr schön, wie sensibel der Umgang mit Statistiken ist und dass man mit Hilfe von Statistiken auch falsche Aussagen stützen und verbreiten kann! Es ist daher stets angebracht, Statistiken zu hinterfragen und ihnen z.T. sogar mit Misstrauen und Skepsis zu begegnen. Wenn man mit dem Werkzeug der Statistik vertraut ist, kann man oft ganz schnell einen Fehler oder eine Manipulation in einer statistischen Darstellung entlarven. Schauen wir uns folgendes Beispiel aus einer TV-Werbesendung an: Andreas QuatemberUnsinn in den Medien. Vom allzu sorglosen Umgang mit Daten: Grafische Darstellungen Andreas Quatember Zweifelhafte Fakten (© Andreas Quatember) Grafische Darstellungen wählt man, wenn die wichtigsten Informationen möglichst auf einen Blick vermittelt werden sollen (siehe etwa: Quatember, A. (2008). Statistik ohne Angst vor Formeln. 2. Auflage, Pearson Studium, München, Abschnitt 1.2). Sie eignen sich für diesen Zweck deshalb, weil dabei auf die geübte menschliche Wahrnehmung von Proportionen zurückgegriffen werden kann. Verfälscht man aber die dargestellten Proportionen bewusst oder unbewusst, dann wird die Wahrnehmung des Betrachters trotz korrekter Zahlangaben unweigerlich zu einer "Falschnehmung". In diesem Fall liegt das Übel darin, dass die y-Achse nicht bei Null beginnt und somit werden die Säulen nicht in ihren korrekten Proportionen dargestellt. "Nachher" scheint doppelt so hoch (= viel) zu sein wie "vorher". Korrekte Darstellung. (© Andreas Quatember) Eine korrekte Darstellung würde weniger spektakulär so aussehen: Quelle: Externer Link: Quatember, A.: Unsinn in den Medien - vom sorglosen Umgang mit Daten. Grafische Darstellung. Veröffentlicht auf den Seiten des Instituts für Angewandte Statistik der Johannes Kepler Universität Linz. Hier wird schnell deutlich, warum es wichtig ist, bei Statistiken/Diagrammen kritisch hinzuschauen. Eine moderne statistische Fälschung liegt weniger in der Veränderung der Zahlen selbst, sondern beispielsweise in der Kombination von ermittelten Zahlen oder einer fehlerhaften Darstellung. Das Lügen mit Hilfe der Statistik ist heutzutage kinderleicht, weil dem Zauber der Zahlen gerne ungeprüft Glauben geschenkt wird. "Lügen" mit Statistik kann aber auch unfreiwillig geschehen: Mögliche Fehlerquellen beim Erstellen und Lesen von Statistiken sind zum Beispiel: Fehler beim Sammeln der Daten: z.B. eine falsche/ungeeignete Stichprobe. Wenn man beispielsweise eine Aussage über das Klima in der eigenen Klasse machen möchte, reicht es nicht aus, nur die besten 10 Schülerinnen und Schüler in der Klasse zu fragen; man müsste die komplette Klasse befragen. Fehler beim Behandeln der Daten: z.B. Verzerrungen durch Gruppen-/Klassenbildung. Wenn man beispielsweise bei einer 5er-Skala zwei neue Antwortgruppen bildet und dabei in der einen Gruppe drei Antwortmöglichkeiten und bei der zweiten nur zwei zusammenfasst, entsteht der Eindruck, es handle sich um zwei gleiche Gruppen, obwohl die Aufteilung der eigentlichen Antwortmöglichkeiten der Skala nicht gleichmäßig erfolgt ist. Fehlerhafter Sprachgebrauch bei der Beschreibung der Zahlen im begleitenden Text: Wenn im Text beispielsweise "41% aller Befragten" steht, sich die Prozentzahlen aber nur auf die Gruppe der weiblichen Befragten bezieht, so ist die Formulierung im Text falsch und führt zu Missverständnissen (Insbesondere bei der Beschreibung der Zahlen in Kreuztabellen sollte man beachten, auf welche Grundgröße sich die Prozentwerte beziehen!). Fehlerhafter Sprachgebrauch kann aus Unklarheit der statistischen Begriffe resultieren: Wofür stehen sie? Was sagen sie aus? z.B. Prozente: können Informationen/Aussagen über ein Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen geben, können Informationen schlucken, sehen oft – vor allem bei kleinen Zahlen – besser aus. z.B. Mittelwerte: Median <-> arithmetisches Mittel-> Fehler bei der Interpretation der Daten: Ein Fehler bei der Interpretation der Daten kann z.B. die fehlende Unterscheidung von Kausalität <-> Korrelation sein: Eine Korrelation stellt nicht unbedingt einen Kausalzusammenhang her. "Bierverbrauch pro Kopf in Deutschland ist signifikant höher als in Finnland." und "Die Pisa Ergebnisse in Finnland liegen deutlich höher als in Deutschland.": Daraus folgt natürlich nicht, dass der Bierverbrauch Schuld am schlechten Abschneiden Deutschlands an der Pisa Studie ist.-> Unzulässige Verallgemeinerung oder Herausstellungen von Ergebnissen: Ergebnisse der Klassenbefragung können z.B. nicht auf die gesamte Schule oder Jahrgangsstufe übertragen werden. Fehlerhafte Bilddarstellung: Die Darstellungsform ist eine der häufigsten Fehlerquelle, so findet man recht häufig Darstellungsformen, die eine Tendenz unterstützen (z.B. durch Skalierungen, die nicht bei 0 anfangen --> Zuwächse/Steigerungen sehen viel größer aus, als sie in Wirklichkeit sind.) Fehlende wichtige Zusatzinformationen: Durch versehentliche oder aber auch absichtliche Unterschlagung von wichtigen Zusatzinformationen zur Befragtengruppe, dem genauen Wortlaut der Frage(n), Zeitpunkt der Befragung etc. wird die Aussagekraft von Statistiken gemindert, was u.U. zu Fehldeutungen führen kann. Merke: Kenntnisse über diese Fehlerquellen helfen uns, Fehler zu vermeiden, Statistiken kritisch zu betrachten und somit Betrug zu erkennen. Arbeitsaufträge: Im Text sind viele Aspekte genannt worden, die man bei der Betrachtung und Interpretation einer Statistik beachten sollte. Markiere im Text die wichtigsten Punkte und Schritte für den "Statistikcheck" und schreibe dir Stichpunkte/Schlagworte heraus. Erstelle eine Checkliste für den "Statistikcheck" mit den wichtigsten Punkten, auf die du beim Lesen und Interpretieren von Statistiken achten musst. Quelle: Eigener Text nach Informationen aus dem Online-Angebot von Externer Link: Andreas Quatember. Andreas Quatember Zweifelhafte Fakten (© Andreas Quatember) Grafische Darstellungen wählt man, wenn die wichtigsten Informationen möglichst auf einen Blick vermittelt werden sollen (siehe etwa: Quatember, A. (2008). Statistik ohne Angst vor Formeln. 2. Auflage, Pearson Studium, München, Abschnitt 1.2). Sie eignen sich für diesen Zweck deshalb, weil dabei auf die geübte menschliche Wahrnehmung von Proportionen zurückgegriffen werden kann. Verfälscht man aber die dargestellten Proportionen bewusst oder unbewusst, dann wird die Wahrnehmung des Betrachters trotz korrekter Zahlangaben unweigerlich zu einer "Falschnehmung". In diesem Fall liegt das Übel darin, dass die y-Achse nicht bei Null beginnt und somit werden die Säulen nicht in ihren korrekten Proportionen dargestellt. "Nachher" scheint doppelt so hoch (= viel) zu sein wie "vorher". Korrekte Darstellung. (© Andreas Quatember) Eine korrekte Darstellung würde weniger spektakulär so aussehen: Quelle: Externer Link: Quatember, A.: Unsinn in den Medien - vom sorglosen Umgang mit Daten. Grafische Darstellung. Veröffentlicht auf den Seiten des Instituts für Angewandte Statistik der Johannes Kepler Universität Linz. Zweifelhafte Fakten (© Andreas Quatember) Korrekte Darstellung. (© Andreas Quatember)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-09-21T00:00:00"
"2011-12-06T00:00:00"
"2021-09-21T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/mobbing/46603/m-04-05-wie-liest-man-eine-statistik/
Mit diesem Material wird erklärt, worauf man beim Lesen und Interpretieren von Statistiken achten sollte. Der Text stellt zudem die Grundlage für eine Checkliste "Statistiken lesen und interpretieren", die die Schülerinnen und Schüler anfertigen soll
[ "Statistik", "Andreas Quatember", "Grafstat", "Diagramm", "Mobbing" ]
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Wo bleibt die Zeit? | Zeitverwendung: Männer, Frauen, Kinder | bpb.de
Gesellschaftliche Arbeit - bezahlt und unbezahlt 24 Stunden hat der Tag - für jeden Menschen, egal ob alt oder jung, Mann oder Frau. Wie Menschen ihre Tageszeit verbringen, fand schon immer das Interesse von GesellschaftswissenschaftlerInnen. WirtschaftswissenschaftlerInnen interessierte demgegenüber lange lediglich die Zeit, die für Erwerbsarbeit verbraucht wird. Die bezahlten Arbeitsstunden fließen in die volkswirtschaftliche Kennzahl "Bruttoinlandsprodukt" ein. Wie die Menschen außerhalb der Büros und Betriebe ihre Zeit verbringen, galt eher als uninteressant, solange die Vorstellung dominierte, der Wert einer Volkswirtschaft bestehe ausschließlich aus den in ihr produzierten marktgängigen Waren und Dienstleistungen, alles andere gehöre zum "persönlichen Bereich". "Wer Schweine aufzieht, ist ein produktives, wer Kinder erzieht ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft." (Friedrich List) Zwar hatten bereits Karl Marx und Friedrich Engels analysiert, dass die "Produktion und Reproduktion der Ware Arbeitskraft" in den Familien stattfindet. In der bürgerlichen Wirtschaftslehre setzte sich aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Einsicht durch, dass auch die unbezahlte Erstellung von Gütern und Dienstleistungen Anteil an der Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft hat. Die Frauenbewegung der siebziger und achtziger Jahre machte darauf aufmerksam, dass diese unbezahlte Arbeit im Haus und in der Landwirtschaft weltweit ganz überwiegend von Frauen erbracht wird. Solange die "Eigenarbeit" in den offiziellen Wirtschaftsstatistiken nicht berücksichtigt werde, bleibe der wesentliche Beitrag von Frauen zum Wirtschaftsleben unsichtbar, so die Kritik der internationalen Frauenbewegung. In der Bundesrepublik focht unter anderen die Gießener Haushaltsökonomin Rosemarie von Schweitzer für die statistische Darstellung der in den Privathaushalten geschaffenen Werte. 1985 forderte die UNO-Weltfrauenkonferenz in Nairobi die Staaten auf, auch den "informellen Sektor" in die Berechnung des Bruttosozialprodukts einfließen zu lassen. Die Gegenargumente kamen schnell: Um die internationale Vergleichbarkeit zu gewährleisten, müssten die Wirtschaftskennzahlen auf die marktgängigen Waren und Dienstleistungen beschränkt bleiben. Allerdings gibt es seit 1993 eine Empfehlung der UNO, die Haushaltsproduktion als sogenanntes "Satellitensystem" in ein neues System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen ("System of National Accounts") einzubeziehen. Dies geschieht in der Bundesrepublik Deutschland seit Anfang der neunziger Jahre. Die Zeitbudget-Erhebungen 1991/92 und 2001/02 1991/92 führte das Statistische Bundesamt eine erste repräsentative Zeitbudgeterhebung durch, deren Daten - 1994 veröffentlicht - die Grundlage für die Erstellung des Satellitensystems Haushaltsproduktion bildeten. Zehn Jahre später (Erhebungszeitraum 2001/2002) wurde wiederum eine repräsentative Gruppe der deutschen Bevölkerung nach ihren Zeitmustern befragt: Rund 12 000 Personen, zehn Jahre und älter, führten in 5 400 Haushalten an zwei Wochentagen und einem Wochenendtag ihre jeweiligen Tätigkeiten im Zehn-Minuten-Rhythmus auf. Die Ergebnisse wurden unterschieden nach individuellen Regenerationszeiten (Schlafen, Essen, Körperpflege), Freizeit (Sport, Hobbys, Mediennutzung, Besuch von Veranstaltungen, Geselligkeit), schließlich nach den für bezahlte und unbezahlte Arbeit verwendeten Zeiten. Um Letztere zum Beispiel vom Posten "Freizeit" abzugrenzen, verwenden die StatistikerInnen das so genannte Dritt-Personen-Kriterium: Tätigkeiten der Haushaltsökonomie sind demnach solche, die prinzipiell auch von Dritten gegen Bezahlung übernommen werden könnten, also Waschen, Kochen, Bügeln, Einkaufen, Reparieren, Putzen, Kinderbetreuung, Alten- oder Krankenpflege, ehrenamtliche Tätigkeit, Nachbarschaftshilfe oder Gartenarbeit. 96 Milliarden Stunden dauerte 2001 die unbezahlte Arbeit deutscher Haushalte - fast doppelt so lang wie die mit Erwerbsarbeit verbrachte Zeit der Haushaltsmitglieder (56 Milliarden Stunden). Gemäß dem Auftrag, nicht nur die Dauer, sondern auch den Wert der Haushaltsproduktion zu erfassen, wurde das Jahresvolumen an unbezahlter Arbeit mit fiktiven Stundenlöhnen multipliziert. Hinzu kamen die Ausgaben für Lebensmittel, Kücheneinrichtung und anteilige Mietkosten. Die so ermittelte "Gesamtwertschöpfung der Haushaltsproduktion" summierte sich 2002 auf 820 Milliarden Euro. Damit entsprach die Wertschöpfung in den Privathaushalten in etwa der Wertschöpfung der deutschen Industrie, des Handels, des Verkehrs und des Gastgewerbes zusammen. Eine insgesamt beeindruckende Menge an größtenteils gesellschaftlich notwendiger Arbeit wird somit sichtbar. Im Zehn-Jahres-Vergleich ist dennoch die Summe der gesamtgesellschaftlichen Arbeit insgesamt zurückgegangen. Verglichen mit den Jahren 1991/92 leisten die Deutschen - trotz leicht gestiegener Bevölkerungszahl - sowohl weniger Erwerbsarbeit als auch weniger Hausarbeit (vgl. Abbildung 1: PDF-Version). Die schrumpfende Zahl von Erwerbsarbeitsplätzen bei gleichzeitiger Steigerung des Anteils alter Menschen an der Bevölkerung erklärt den Rückgang an Jahresarbeitsstunden bezahlter Arbeit. Was aber sind die Gründe dafür, dass die "Eigenarbeit" schrumpft? Schließlich wird in deutschen Haushalten weiterhin gekocht, geputzt, werden Kinder und Alte betreut, wird die Wäsche gepflegt. Aber offensichtlich geschieht dies nicht mehr ganz so intensiv wie noch vor zehn Jahren. Offenbar wirken sich die rückläufige Zahl der Geburten und der hohe technische Standard vieler Haushalte aus. Es gibt mehr Geschirrspülmaschinen und Mikrowellen in deutschen Küchen; es wird häufiger "convenience food" eingekauft, Tiefkühlkost oder Fertiggerichte kommen auf den Tisch. Dennoch beträgt die unbezahlte Arbeit immer noch etwa das 1,7fache der Erwerbsarbeit. Anders ausgedrückt: 63 Prozent der gesamtgesellschaftlichen Arbeit bestand Anfang der neunziger Jahre aus Haus-, Familien- und verwandter "Gratisarbeit". Zehn Jahre später waren es 62 Prozent. Im Schnitt verbringt jede(r) Deutsche ab dem zehnten Lebensjahr 3,5 Stunden mit unbezahlter Arbeit in Familie, Haushalt und Ehrenamt. Demgegenüber beträgt die durchschnittlich mit Erwerbsarbeit (inklusive berufsbezogene Bildung, Arbeitssuche und Wegezeiten) verbrachte Zeit lediglich 3 Stunden. Ein gutes Drittel der täglichen 24 Stunden verschläft der statistische Durchschnittsmensch. Rund zweidreiviertel Stunden benötigen er oder sie für Tätigkeiten wie Anziehen, Körperpflege und Essen. Und ein Viertel des Tages, das sind sechs Stunden, wird Freizeitaktivitäten gewidmet: Fernsehen, Sport, Hobbys, Spiele und Geselligkeit. In anderen Ländern, in denen ähnliche Zeitbudgetstudien durchgeführt wurden, wird länger gearbeitet. So liegt die tägliche Stundenzahl der durchschnittlichen Erwerbsarbeitszeit in Großbritannien und Finnland - Länder, in denen mehr Menschen erwerbstätig sind - zum Beispiel um eine halbe Stunde über der in Deutschland. Dafür wird in beiden Ländern pro Tag 15 Minuten weniger unbezahlte Arbeit geleistet. Ist doch etwas dran an der Rede vom "Freizeitpark Deutschland"? Die statistischen Durchschnittszahlen sagen wenig über die täglichen Belastungen Einzelner. Extreme Verdichtung der Zeit und Arbeitsstress kennzeichnen den Alltag bestimmter Bevölkerungsgruppen, während andere über relativ viel freie Zeit verfügen. Extrem belastet: Alleinerziehende Zu den am stärksten belasteten Gruppen in der Gesellschaft gehören erwerbstätige Alleinerziehende mit Kindern unter 18 Jahren. Dies sind ganz überwiegend Frauen (84 Prozent der insgesamt 1,5 Millionen Alleinerziehenden). Durchschnittlich sind sie täglich 9 Stunden 12 Minuten mit Beruf, Haushalt und Kinderbetreuung beschäftigt, arbeiten also 2 Stunden 42 Minuten länger als der fiktive Durchschnittsmensch der Bevölkerung. An Wochentagen summiert sich ihre Arbeitsbelastung gar auf 11 Stunden. Kinderbetreuung als Hauptaktivität fällt mit 54 Minuten werktäglich bei den allein erziehenden berufstätigen Müttern vergleichsweise knapp aus - berufstätige Mütter in Paarhaushalten finden hierfür durchschnittlich 23 Minuten länger Zeit. Dazu muss man wissen, dass die Kinder erwerbstätiger allein erziehender Mütter im Schnitt etwas älter sind - älter als die Kinder sowohl nichterwerbstätiger Mütter als auch erwerbstätiger Mütter in Paarhaushalten. Der Umfang, in dem Frauen einem Beruf nachgehen, hängt wesentlich vom Alter des jüngsten Kindes ab. Den allein erziehenden Erwerbstätigen bleiben wochentäglich knapp 4 Stunden Freizeit, die sie mit sozialen Kontakten, Sport, Hobbys und Fernsehen füllen. Ein großer Teil davon findet zu Hause statt und ist "Bereitschaftszeit", in der die Mutter für das Kind ansprechbar bleibt. Auch Hausarbeitstätigkeiten wie Einkaufen, Kochen, Bügeln oder Putzen sind im allgemeinen Zeiten, in denen parallel Kinder betreut werden. Wochentäglich verbringt die allein erziehende berufstätige Frau 3 Stunden 28 Minuten mit Hausarbeit. Ihre zeitliche Belastung mit bezahlter und unbezahlter Arbeit insgesamt ist vergleichbar mit derjenigen von vollzeiterwerbstätigen Vätern in Paarhaushalten. Damit ist allerdings wenig über den zeitlichen Druck gesagt, unter dem die Alleinerziehenden bei der Bewältigung ihres Alltags stehen. Auch für sie hat der Tag nur 24 Stunden. Es wird also Zeit gespart, wo es nur geht. Alleinerziehende gönnen sich zum Beispiel eine halbe Stunde weniger für Schlaf, Essen und Körperpflege als erwerbstätige Mütter, die in Paarhaushalten leben. "Alleinerziehende erscheinen als Jongleure der verschiedenen Lebensbereiche und vieles erfolgt im Alltag unter Zeitdruck. Äußere Rahmenbedingungen, beispielsweise verlässliche Betreuungsangebote, aber auch Unterstützung aus dem sozialen Netzwerk, können Entlastung schaffen, erfordern aber wiederum ein (noch) höheres Maß an Koordination. Dieser Eindruck verschärft sich bei denen, die um der materiellen Absicherung willen einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen - wie dies von den meisten allein erziehenden Frauen ausdrücklich gewünscht wird." Wenig belastet - die Alten und die Jungen Rentnerinnen und Rentner (60 Jahre und älter) sind im Vergleich dazu wenig belastet. Knapp 5 Stunden umfasst ihr tägliches Arbeitsprogramm im Schnitt. Anders als in Haushalten von Alleinerziehenden, die sich durch eine extreme Verdichtung von Arbeit im Laufe eines Tages auszeichnen, werden im RenterInnen-Haushalt die Tätigkeiten über den Tag gestreckt. 11 Minuten gehören der Erwerbstätigkeit, Bildung und Weiterbildung. 4 Stunden 46 Minuten sind mit unbezahlter Arbeit ausgefüllt, im Wesentlichen mit Hausarbeit. Aber auch nachbarschaftliche Hilfe oder die Betreuung von Enkeln fällt hierunter. Rentnerinnen und Rentner sind den ganzen Tag mit ihrer Hausarbeit beschäftigt, unterbrochen von vielen Pausen. Manches geht im Alter langsamer. Die Erholungszeiten werden länger: Fast 12 Stunden verbringen die Älteren täglich mit Schlafen, Essen und Körperpflege - fast anderthalb Stunden länger als in Vollzeit erwerbstätige Personen. Auch das Betätigungsfeld "Sport, Hobbys, Spiele, Mediennutzung" nimmt mit fast 5 Stunden täglich viel Zeit in Anspruch, wobei das Fernsehen die Hauptrolle spielt. Nimmt man noch den Bereich "Kontakte, Unterhaltung, Veranstaltungen" hinzu (2 Stunden 14 Minuten), so übertrifft die den RentnerInnen zur Verfügung stehende Freizeit noch die der Jugendlichen zwischen zehn und vierzehn Jahren. Diese verbringen an Wochentagen knapp 6 Stunden täglich mit Mediennutzung, Sport, Spiel, Geselligkeit und Hobbys und entsprechen damit dem statistischen Durchschnittsdeutschen. Gibt es den "neuen Mann"? Rechnet man die Arbeitszeiten der Bevölkerung ab dem zehnten Lebensjahr zusammen, so ergibt sich alles in allem eine stärkere Belastung des weiblichen Teils. Weibliche Personen ab zehn Jahren sind mit bezahlter und unbezahlter Arbeit durchschnittlich 43 Stunden in der Woche beschäftigt; männliche Personen bringen es auf 42 Wochenstunden (vgl. Abbildung 2: PDF-Version). Das Schwergewicht liegt dabei bei Frauen auf der unbezahlten Arbeit: 31 Stunden pro Woche gegenüber 19,5 bei den Männern. In der Erwerbsarbeit, einschließlich Arbeitssuche und Wegezeiten, verhält es sich umgekehrt: Männer sind im Schnitt 22,5 Stunden in der Woche erwerbstätig, Frauen lediglich 12 Stunden. An dieser Mehrbelastung des weiblichen Teils der Bevölkerung mit Arbeit insgesamt hat sich im Zehn-Jahres-Abstand nichts Wesentliches geändert. Sie geht auch nicht allein auf das Konto der RenterInnen. Auch in Single-Haushalten lassen sich traditionelle Muster feststellen: Allein lebende Männer verwenden weniger Zeit auf Hausarbeit als allein wohnende Frauen. Auch die Freizeitmuster sind geschlechtsspezifisch geprägt. So haben Männer von der gegenüber dem Beginn der neunziger Jahre gestiegenen Freizeit stärker profitiert als Frauen. Für Mediennutzung, Sport, Spiel, Kontakte und Unterhaltung steht ihnen mit 6 Stunden 11 Minuten täglich (montags bis sonntags) im Schnitt eine halbe Stunde mehr zur Verfügung als Frauen. Neben der Kontaktepflege/Unterhaltung ist das Fernsehen die hauptsächliche Freizeitbeschäftigung von Männern wie Frauen. Die Beschäftigung mit Computerspielen und die Mediennutzung per Computer hat vor allem beim männlichen Segment der Bevölkerung gegenüber den neunziger Jahren stark zugenommen. Nach wie vor ist die geschlechtliche Arbeitsteilung in den östlichen Bundesländern etwas weniger stark ausgeprägt als im Westen: Die Frauen östlich der Elbe wenden für Arbeiten in Haushalt, Garten und bei der Familienbetreuung etwas weniger Zeit (1,4-mal soviel Zeit wie die Männer) auf als ihre Geschlechtsgenossinnen im Westen (1,6-mal soviel Zeit wie die Männer). Allerdings hat sich die Belastung der Frauen mit Hausarbeit im Zehn-Jahres-Vergleich insgesamt um 21 Minuten verringert. Die Erklärung dafür liegt in der Entwicklung der Haushaltstechnik, dem kulturellen Wandel und dem Rückgang der Geburtenzahlen. Konkret: Es gibt mehr Geschirrspülautomaten und weniger Kinder. Außerdem erlaubt es der gestiegene Lebensstandard den Frauen heute in der Regel, darauf zu verzichten, Bettlaken zu flicken oder Socken zu stopfen. Schließlich gibt es aus feministischer Sicht noch einen kleinen Lichtblick: Im Zeitraum von 1991/92 bis 2001/02 ist der Anteil, den Männer an der Hausarbeit leisten, um 14 Minuten täglich gestiegen. Männer greifen etwas häufiger zum Kochlöffel als noch vor zehn Jahren, und offenbar verwenden sie auch mehr Zeit auf den Einkauf der Zutaten (vgl. Abbildung 3: PDF-Version). Detailliertere Auswertungen zeigen jedoch, dass es nach wie vor insgesamt wenige Männer sind, die überhaupt regelmäßig täglich Hausarbeit verrichten. "Diejenigen allerdings, die das tun, beteiligen sich mit einem deutlich höheren Zeiteinsatz als in der Vergangenheit." Arbeitsteilung bei Paaren - alles wie gehabt? In Mann-Frau-Haushalten ohne Kinder, in denen beide berufstätig sind, ist das Zeitbudget ausgeglichen. Allerdings sind die Männer täglich ein bisschen länger im Büro oder Betrieb, die Frauen verwenden mehr Zeit auf die Ordnung in Küche, Bad und Kleiderschrank. Bei Paaren mit Kindern ist die Gesamtbelastung der Frauen geringer, wenn nur der Mann erwerbstätig ist und sie sich allein um Haushalt und Kind(er) kümmert. Sind Vater und Mutter erwerbstätig, kommen mit bezahlter und unbezahlter Arbeit beide auf eine etwa gleich starke Belastung. Durch sämtliche Mann-Frau-Konstellationen hindurch zieht sich der Tatbestand, dass Frauen den größten Teil der Haus- und Betreuungsarbeit leisten, und zwar umso mehr, je weniger Zeit sie auf berufliche Arbeit verwenden. Aber auch wenn sie und er in Vollzeit erwerbstätig sind, dauert ihre "zweite Schicht" zu Hause etwas länger. Hält man bei der statistischen Auswertung die Erwerbsarbeitszeit beider konstant, betrachtet also zum Beispiel Teilzeit arbeitende Eltern mit genau gleicher Stundenzahl, dann stellt sich heraus: Frauen machen doch wieder etwas mehr Hausarbeit als ihre männlichen Partner. Rein quantitativ gesehen bilden allerdings erwerbstätige Väter (zusammen mit allein erziehenden erwerbstätigen Müttern) eine zeitlich besonders belastete Gruppe. Nur scheint ihre Freiheit, für welche Arbeiten sie sich entscheiden, größer zu sein als jene der Frauen. Wie bisher fühlen Männer sich vor allem für handwerkliche Arbeiten rings um Haus und Wohnung zuständig sowie für Reparaturen am Familienauto. Die Zeitbudget-Untersuchung schreibt ihnen das beim Posten "unbezahlte Arbeit" gut. Die Übergänge zu den Beschäftigungen "Hobby/Freizeit" erscheinen jedoch nicht immer klar abgrenzbar. Wann wird das Basteln am Auto zum Freizeitspaß? Ist der Einbau einer neuen Wohnzimmerdecke eine notwendige Reparatur im Haushalt oder eher ein handwerkliches Hobby? Nach wie vor scheuen Männer den Umgang mit Textilien. In Paarhaushalten wenden sie für die Wäschepflege täglich gerade zwei Minuten auf (Frauen: eine halbe Stunde), womit gegenüber 1991/92 keine Veränderung erfolgt ist. "Zwei Minuten reichen höchstens, um die Krümel von Hemd und Anzug zu bürsten", kommentierten die StatistikerInnen damals lakonisch das Ergebnis. Dafür ist das ehrenamtliche Engagement der Männer größer als das der Frauen, wobei auch hier die Übergänge zur Freizeit fließend erscheinen. Ist der Vorsitz im Sportverein nun Freizeitspaß oder "Bürgerarbeit"? Während es beim ehrenamtlichen Engagement von Singles, was den zeitlichen Aufwand anbelangt, kaum geschlechtsspezifische Unterschiede gibt, leisten Männer in (kinderlosen) Paarhaushalten wesentlich mehr "Bürgerarbeit" - wohl, weil ihnen die Partnerin durch Übernahme der Hausarbeit den zeitlichen Freiraum dafür verschafft. Das Übergewicht der Männer beim ehrenamtlichen Engagement bleibt auch dann erhalten, wenn sie Väter sind, und sogar dann, wenn beide Eltern berufstätig sind. Viel ist von "neuen Vätern" die Rede, die sich intensiver um ihre Kinder kümmern als das noch vor zehn Jahren der Fall war. Im Rahmen der Zeitbudgetuntersuchung wurde nicht nur nach tatsächlich verbrachter Zeit gefragt, sondern auch nach Wunschvorstellungen. Es zeigte sich, dass jeder dritte Vater gerne mehr Zeit für sich und seine Familie hätte. Ob sich das auf das tatsächliche Verhalten auswirkt? Der Zeitaufwand der Männer für die Erwerbsarbeit nimmt jedenfalls mit der Zahl der Kinder stetig zu. Und zumindest so lange die Kinder klein sind, wächst, wenn auch in weit geringerem Maß, das Engagement bei der Kinderbetreuung. Mütter werden staunend zur Kenntnis nehmen, dass sich Väter in Paar-Haushalten täglich im Durchschnitt 1 Stunde und 15 Minuten ihrem Nachwuchs widmen (Mütter: 2 Stunden und 45 Minuten). Weniger überraschend ist das Detail, dass diese "Kinderbetreuungszeit als Hauptaktivität" der Väter hauptsächlich am Wochenende stattfindet und vorzugsweise aus "Spiel und Sport" besteht. Erstaunlicherweise verwenden Väter auch für Wohnungs- und Fahrzeugreparaturen mehr Zeit auf als kinderlose Männer in Paarbeziehungen. Das geht allerdings auf Kosten ihrer Beteiligung an klassischer Hausarbeit. Das schon lange bekannte Muster einer "Retraditionalisierung" der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung nach der Geburt eines Kindes wird durch die Zeitbudgetuntersuchung 2001/02 wieder einmal bestätigt (vgl. Abbildung 4: PDF-Version). Hoffnung auf die junge Generation? Leider ist der männliche Unwille, die Hälfte der Arbeit auch zu Hause zu übernehmen und damit den Frauen eine planmäßigere berufliche Karriere zu ermöglichen, keine Generationenfrage. Zwar tragen Kinder und Jugendliche insgesamt weniger zur Hausarbeit im Elternhaus bei als noch vor zehn Jahren. Die Jungen haben ihren Beitrag aber deutlicher reduziert als die Mädchen, so dass die Geschlechterkluft sogar gewachsen ist. Bereits im Alter zwischen 10 und 14 leisten Mädchen täglich eine Viertelstunde länger Hausarbeit als gleichaltrige Jungen. Hier spiegelt die Statistik wider, was Kindern auch heute meist in der Familie vorgelebt wird: dass die Mutter jeden Tag kocht, wäscht und bügelt, dass dieses also "Frauenarbeit" ist, während der Vater vor allem durch Abwesenheit glänzt. Nach der Pubertät wirken die kindlichen Lernprogramme doppelt: Im Alter von 15 bis 20 Jahren sind junge Frauen bereits täglich eine halbe Stunde länger mit Hausarbeit eingedeckt als junge Männer. Auch wenn einiges dafür spricht, dass Eltern Jungen und Mädchen zunehmend egalitär zu erziehen versuchen, so hat sich das auf die Arbeitsteilung im Haushalt offenbar kaum ausgewirkt. Berufstätige Söhne, die im Elternhaus leben, werden weniger zur Hausarbeit herangezogen als Töchter in der gleichen Situation. Das "Hotel Mama" lohnt sich also vor allem für junge Männer. Entsprechend sind die Freizeitmuster bereits der jungen Generation geschlechtsspezifisch geprägt. Die 10- bis 14-jährigen Mädchen haben täglich rund eine halbe Stunde weniger Freizeit als die Jungen. Der Rückstand im Freizeitbudget der 14- bis 18-jährigen Mädchen beläuft sich sogar auf 50 Minuten täglich. Im Zehn-Jahres-Vergleich sind die Abstände noch größer geworden: Beide Geschlechter haben heute mehr freie Zeit als noch zu Beginn der neunziger Jahre: Jungen fast 40 Minuten mehr; die Mädchen eine knappe halbe Stunde. Es tröstet auch nicht, dass die jungen Frauen bis 18 Jahre sich alles in allem zufrieden über die für Hausarbeit verwendete Zeit äußern, während junge Männer ihren insgesamt bescheidenen Beitrag zur Familienarbeit eher lästig finden. Internetverweis Die Broschüre "Wo bleibt die Zeit" kann über das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bestellt werden: Externer Link: www.bmfsfj.de. Sie kann darüber hinaus als Externer Link: PDF-Version (1.439 KB) über die Internetseite des Statistischen Bundesamts heruntergeladen werden: Externer Link: www.destatis.de Vgl. Dieter Schäfer/Norbert Schwarz, Der Wert der unbezahlten Arbeit der privaten Haushalte - Das Satellitensystem Haushaltsproduktion, in: Zeit im Blickfeld. Ergebnisse einer repräsentativen Zeitbudgeterhebung. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Band 121, Stuttgart 1996, S. 15. Zusammenfassung der Ergebnisse in: Zeit im Blickfeld (Anm. 2). Zusammenfassung der Ergebnisse in der Broschüre: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend/Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Wo bleibt die Zeit? Die Zeitverwendung der Bevölkerung in Deutschland 2001/2002, o. O., o.J. (Berlin/Wiesbaden 2003). Vgl. ebd., S. 13. Vgl. Dieter Schäfer, Unbezahlte Arbeit und Haushaltsproduktion, in: Ergebniskonferenz (Anm: 1), Manuskript S. 12; vgl. auch: Uta Meier/Christine Küster/Uta Zander, "Alles wie gehabt?" Geschlechtsspezifische Arbeitsteilungs- und Mahlzeitenmuster im Zeitvergleich, ebd., S. 11. Vgl. Wo bleibt die Zeit ? (Anm. 4), S. 7. Vgl. ebd., S. 27; Irene Kahle, Zeitverwendung/Zeitsituation von Alleinerziehenden, in: Ergebniskonferenz (Anm. 1), Manuskript, S. 8. Ebd., S. 15. Vgl. Wo bleibt die Zeit? (Anm. 4), S. 8, S. 41. Kam man bei der Auswertung der Zeitbudgetstudie 1991/92 noch zu dem Ergebnis, dass die Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit insgesamt zwischen den Geschlechtern ausgewogen sei (eine Minute mehr leisteten demnach die Frauen täglich), so konstatierte Dieter Schäfer vom Statistischen Bundesamt bei der Auswertungskonferenz im Februar 2004, man habe den Posten "Erwerbsarbeit" zehn Jahre zuvor "massiv überschätzt". Mit anderen Worten: Der Anteil der Frauenarbeit an der gesamtgesellschaftlichen Arbeit wurde Anfang der neunziger Jahre massiv unterschätzt. Vgl. Brigitte Sellach/Uta Enders-Dragässer, Geschlechterspezifische Besonderheiten der Zeitverwendung/Zeitstrukturierung im theoretischen Konzept des Lebenslagenansatzes, in: Ergebniskonferenz (Anm. 1). Vgl. Wo bleibt die Zeit? (Anm. 4), S. 37. U. Meier/Ch. Küster/U. Zander (Anm. 6), S. 9. Vgl. Wo bleibt die Zeit? (Anm. 4), S. 16. Vgl. Bundesministerium für Familie und Senioren/Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Wo bleibt die Zeit? Die Zeitverwendung der Bevölkerung in Deutschland, Wiesbaden 1994, S. 12. Vgl. Wo bleibt die Zeit? (Anm. 4), S. 21. Vgl. Peter Döge/Rainer Volz, Was machen Männer mit ihrer Zeit? Zeitverwendung bundesdeutscher Männer nach den Ergebnissen der Zeitbudgetstudie 2001/2002, in: Ergebniskonferenz (Anm. 1), Manuskript, S. 21. Vgl. Waltraud Cornelißen/Karen Blanke, Zeitverwendung von Mädchen und Jungen, in: Ergebniskonferenz (Anm. 1), Manuskript, S. 9. Vgl. ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 9.
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Pinl, Claudia
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-04T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/28182/wo-bleibt-die-zeit/
Die Deutschen wenden heute weniger Zeit für Erwerbs- und Hausarbeit auf als noch vor zehn Jahren. Allerdings leisten Frauen nach wie vor den Löwenanteil an unbezahlter Arbeit.
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30,322
Editorial: Lehrende der Zukunft – Digitale Bildung zwischen Mensch und Maschine | Lehrende der Zukunft | bpb.de
Mit der Externer Link: Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und der Externer Link: Strategie "Bildung in der digitalen Welt" der Kultusministerkonferenz (KMK) sind Ende 2016 zwei Papiere vorgelegt worden, mit denen die Digitalisierung im Bildungsbereich konkret vorangetrieben werden soll. Der in der BMBF-Strategie enthaltene DigitalPakt#D sieht vor, die Schulen in Deutschland im Rahmen eines 5-Milliarden-Euro-Pakets technisch aufzurüsten und mit den richtigen Werkzeugen für die digitale Bildung auszustatten. Im Zuge dessen sollen entsprechende pädagogische Konzepte erarbeitet und die Aus- und Fortbildung von Lehrenden angepasst werden. Gleichzeitig entsteht das Internet der Dinge (IoT) in rasantem Tempo und Interner Link: wird auch den Bildungsbereich erfassen, auch wenn die Entwicklungen hier noch in den Kinderschuhen stecken. Schwerpunktmäßig liegen sie auf der Entstehung von intelligenten Lernumgebungen, Interner Link: Smart Learning Environments (SLEs), in denen digitalisierte Lerngegenstände selbständig miteinander kommunizieren und so das individuelle und gemeinschaftliche Lernen unterstützen. Das können zum Beispiel Geräte sein, die ihre Nutzerin oder ihren Nutzer individuell erkennen, sich auf persönliche Bedürfnisse wie etwa eine bestimmte Schriftgröße einstellen und mit den Lehrenden Daten, zum Beispiel gelöste Aufgaben austauschen. Beide Entwicklungen haben grundlegende Auswirkungen auf die Bildungslandschaft. Manche Bildungsakteure mögen aufatmen und die Veränderungen angesichts des Externer Link: Nachholbedarfs Deutschlands im Bereich digitale Bildung als überfällig betrachten. Bei anderen mögen sie Ängste und Unsicherheiten hervorrufen, verändern sie doch viele Aspekte des Lehrendenberufs und werfen zahlreiche Fragen auf: Wie (schnell) werden sich Berufsbild, Kompetenzen und Aus-/Fortbildung von Lehrenden im Zuge der Digitalisierung anpassen oder haben es bereits getan? Welche Auswirkungen wird die Digitalisierung auf die Gestaltung des Unterrichts und auf die Rollenverteilung zwischen Lehrenden und Lernenden haben? Ist die digitale Technik eine sinnvolle Ergänzung oder sogar ein adäquater Ersatz für Lehrende? Wie können Schulen und Lehrende die Digitalisierung der Bildung positiv bewältigen? Und was wünschen sich Schülerinnen und Schüler vom Lehrenden der Zukunft? Mit dem Themenschwerpunkt nehmen wir die zukünftige Rolle der Lehrenden in einer zunehmend digitalisierten Bildungslandschaft in den Fokus, stellen kritische Fragen nach der Ersetzbarkeit von Mensch durch Maschine und überlegen, wie der Digitalisierungsprozess für Lehrende, Lernende und Schulen positiv und sinnvoll gestaltet werden kann. Sie sind Lehrende/r und haben Lust, selbst einen Beitrag für werkstatt.bpb.de zu schreiben oder den Schwerpunkt anderweitig mitzugestalten? Sie haben Fragen oder Anregungen oder möchten einen Vorschlag machen, welche Aspekte wir unbedingt berücksichtigen sollten? Dann freuen wir uns über Ihre Nachricht an info[at]werkstatt.bpb.de oder einen Kommentar unter diesem Artikel.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-10T00:00:00"
"2017-04-28T00:00:00"
"2022-01-10T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/243955/editorial-lehrende-der-zukunft-digitale-bildung-zwischen-mensch-und-maschine/
Die Digitalisierung wird das Berufsbild der Lehrenden, ihre Kompetenzen und Rolle grundlegend verändern. Wie sehen unsere Lehrenden der Zukunft aus?
[ "Lehrende der Zukunft" ]
30,323
Digitale Bildung & Geflüchtete | Open Space Digitale Bildung & Geflüchtete | bpb.de
Viele Menschen flüchten vor Krieg und Not nach Deutschland. Sie hoffen auf ein neues und sichereres Leben, auf Teilhabe an der Gesellschaft, auf eine Zukunft für ihre Kinder. Dies können Bildungsangebote in unterschiedlicher Form unterstützen. Doch es mangelt an Lehrkräften, und die Heterogenität der Lerngruppen in Bezug auf Bildungsstand und Alter ist eine echte Herausforderung, Interner Link: wie auch Volker Meyer-Guckel im Interview erklärt. Können digitale Angebote helfen? Die meisten Geflüchteten bringen Smartphones mit, wenn sie nach Deutschland kommen – und damit nicht nur die Technik, sondern auch das Wissen, digitale Anwendungen zu nutzen. Anderseits unterstützen digitale Bildungsangebote oft individuelles und selbstständiges Lernen. Liegt es da nicht auf der Hand, dieses Wissen auch für die Bildungsvermittlung einzusetzen? Passiert das bereits? Welche Angebote gibt es schon und wie erfolgreich sind sie? An welchen Stellen gibt es noch Mangel und was sind Herausforderungen? Wo ist Kritik angebracht? Und wer sind die Akteure? Diesen Fragen geht die Werkstatt der Bundeszentrale für politische Bildung am 8./9. April 2016 beim "Open Space Digitale Bildung & Geflüchtete" nach. Die Veranstaltung in Berlin vernetzt Akteure aus dem Bereich "Digitale Bildung & Geflüchtete", zeigt gute Beispiele und stellt Bedürfnisse von Geflüchteten und Bildnerinnen und Bildnern heraus. Partner der Veranstaltung sind das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das Goethe-Institut und das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). Das Programm zur Veranstaltung finden Sie auf der Seite von werkstatt.bpb.de. Ebenso wie das Interview mit Volker Meyer-Guckel vom Stifterverband der Deutschen Wissenschaft, in dem er davon berichtet, wie digitale Angebote dabei helfen können, Geflüchteten Zugang zu Bildung und damit Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Die Veranstaltung wird dokumentiert und wir stellen Ihnen in Interviews und Steckbriefen Projekte vor, die Geflüchteten bereits digital Zugang zu Bildung ermöglichen, befragen Expertinnen und Multiplikatoren und lassen Geflüchtete selbst zu Wort kommen und von ihren Erfahrungen und Einschätzungen zum Thema Digitale Bildung berichten. Sie haben Fragen oder Anregungen zum Thema "Digitale Bildung & Geflüchtete"? Dann schreiben Sie uns an E-Mail Link: info[at]werkstatt.bpb.de.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-13T00:00:00"
"2016-03-31T00:00:00"
"2022-01-13T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/223838/digitale-bildung-gefluechtete/
Bildung ist Menschenrecht – festgeschrieben in Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Bildung ist Teilhabe an der Gesellschaft, Schlüssel zur Integration – und eine große Herausforderung. Wie erhalten die vielen Geflüchteten, die in
[ "Geflüchtete", "Digitale Bildung" ]
30,324
Participatory Budgeting and the Media – the Role of Journalists | Netzwerk Bürgerhaushalt | bpb.de
What is the role of journalists in participatory processes, like participatory budgets? What do journalists need for reporting on participatory budgeting in a qualified manner? And how can municipalities support qualified media coverage? The following observations are based on Michelle Ruesch’s experiences with participatory budgeting processes in Germany. a) What is the role of journalists in participatory (budgeting) processes? Journalists can fulfil five core functions in the context of participatory budgeting processes: 1. Agenda-setting and mobilisation First of all, journalists play a central role for publicity. An event that is not covered by the media does not attract people’s attention. That also counts for participatory budgeting. Participatory budgeting processes that are only mentioned in a small notice on a newspaper’s last page will hardly make it into public discussion. That means, that journalists can help participatory processes to attain public visibility. Without visibility, participatory processes are doomed to fail. 2. Public opinion formation on the process Not only the extent of media coverage is important - the kind of coverage also plays an important role. Citizens will hardly consider participatory budgeting processes as successful, which are covered in a very critical or negative way by the media. Thus, few people will want to engage in a process, which evokes negative connotations in public discussion. 3. Critical review of the process (watchdogs) Even if critical reporting can harm participatory processes, it is very important. Like in other political processes, the media act as a “forth power” alongside the legislature, the executive and the judiciary. The media have an important control function. They scrutinize politics and administration, and for example denounce lacks of transparency. It is important though, not to be overly critical, and above all, to make meaningful comparisons. Only qualified journalists can interpret participation statistics properly, and can produce a critical and at the same time fair review of the process. 4. Information transfer and “translating” expert knowledge Another important role of journalists is to convey expert information on the topic. While administrative staff often struggle to give a comprehensible account of their complex expert knowledge, this is one of the main competences of journalists. By processing information provided by the municipality’s administration, for instance by creating appealing visualisations, journalists can strongly support participatory budgeting processes. This function could be extended in the future. 5. Demanding accountability and feedback Journalists play an important role not only during the information and participation phases. Also during the accountability phase, journalists are to a large extent responsible for information on decision-making reaching the public. It can also be helpful if journalists critically enquire, when information on the outcome of the participation phase will be provided. In practice however, this is often forgotten. Not only policy makers, but also the media tend to consider participatory budgeting processes to be completed after the end of the active participation phase. A detailed account on what happened with the results of the participatory process is not often provided. Knowing the functions that journalists can fulfil in the context of participatory budgeting processes, induces the following two questions: What do journalists need, in order to give an informed report on participatory budgeting processes? And what can municipalities do, to ensure a more qualified reporting? b) How can municipalities support an active and positive engagement of journalists during the process? It is essential, to engage and educate journalists early on in the process. Inconsiderate comparisons of participation and population statistics result from journalists having little experience with participatory processes, especially with online-based processes. They need information, for instance on participatory processes in other cities, and on goals, limits and chances of participatory budgeting, in order to form their opinion, and not to rely on individual opinions. In addition to providing journalists with sufficient information, transparency and openness are essential. Municipalities should incorporate critical media feedback in a constructive way – especially since the media also mirror tendencies and opinions within society. c) How can journalists support participatory budgeting processes? Obviously, journalists should not become advertisers for municipalities. Independent, critical journalism is one of the foundations of democracy. Still, journalists should be aware, that overly critical reporting can stifle attempts towards public participation at the very beginning. It is important to understand that participatory budgeting processes are still being developed, and that journalists can help in a constructive way to shape new forms of participation, and more transparent policy-making. For journalists it is furthermore essential, to not only rely on what others write or say. If for instance a mayor expresses his or her disappointment with the numbers of people involved in a participatory process, one should not automatically conclude that participation was too low. Rather, journalists should critically investigate such statements. Of course, the statements made above do not only apply to conventional, professional journalists, but also to bloggers, citizen journalists, and other disseminators. All of these should critically evaluate their own role. This also applies to the editorial staff of buergerhaushalt.org.
Article
Redaktion Netzwerk Bürgerhaushalt
"2022-11-18T00:00:00"
"2022-09-23T00:00:00"
"2022-11-18T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/stadt-land/buergerhaushalt/513395/participatory-budgeting-and-the-media-the-role-of-journalists/
What is the role of journalists in participatory processes, like participatory budgets? What do journalists need for reporting on participatory budgeting in a qualified manner? And how can municipalities support qualified media coverage? Some answers
[ "Bürgerhaushalt – Bürgerbudget", "Participatory Budgeting", "Journalismus" ]
30,325
Fachzeitschriften | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Zeitschriften mit Schwerpunkt Prävention & Deradikalisierung Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Schriftenreihe von Violence Prevention NetworkViolence Prevention Network Interner Link: Ligante. Fachdebatten aus der PräventionsarbeitBundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Interner Link: Journal Exit-Deutschland. Zeitschrift für Deradikalisierung und demokratische KulturZentrum Demokratische Kultur (ZDK) Interner Link: Interventionen. Zeitschrift für VerantwortungspädagogikViolence Prevention Network Interner Link: forum kriminalpräventionStiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention (DFK) Schriftenreihe von Violence Prevention Network Violence Prevention Network Der Fokus der Schriftenreihe von Violence Prevention Network liegt auf dem Umgang mit Rückkehrerinnen und Rückkehrern aus dem sogenannten Islamischen Staat sowie auf Tertiärprävention/Deradikalisierung. Ausgabe 1: Rückkehrer*innen aus den Kriegsgebieten in Syrien und im Irak Ausgabe 2: Einschätzung und Bewertung von Risiken im Kontext der Extremismusprävention und Deradikalisierung Ausgabe 3: Zivilgesellschaftliche Organisationen in der Tertiärprävention Ausgabe 4: Rückkehrerinnen und ihre Kinder seit 2019 | Violence Prevention Network Zum kostenfreien Download auf Externer Link: violence-prevention-network.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Ligante. Fachdebatten aus der Präventionsarbeit Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Die BAG RelEx gibt eine Schriftenreihe heraus. Sie möchte darin unter anderem die Ergebnisse ihrer Fachtage der pädagogischen Praxis, der Wissenschaft und der Politik zur Verfügung stellen. Damit will sie auch zur Vernetzung der Akteure beitragen. Ausgabe 1: Herausforderungen online & jenseits des Salafismus Ausgabe 2: "Für Volk und Glaube?" Die extreme Rechte und religiös begründeter Extremismus Ausgabe 3: Radikalisierungsfaktor soziale Ungleichheit? Sonderausgabe: Standards für das zivilgesellschaftliche Engagement gegen religiös begründeten Extremismus seit 2018 | Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus Zum kostenfreien Download auf Externer Link: bag-relex.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Journal Exit-Deutschland. Zeitschrift für Deradikalisierung und demokratische Kultur Zentrum Demokratische Kultur (ZDK) Das ZDK befasst sich seit 1997 mit radikalen Strömungen wie dem Rechtsextremismus und dem Islamismus. Schwerpunkte des Journals sind Analysen und Erfahrungen im direkten Kontakt mit dem extremistischen "Feld" – in Gestalt von Ideologien, Personen, Netzwerken, Bewegungen, Parteien und anderen Organisationen. Ausgewählte Ausgaben: Ausgabe 3: Zwischen Hölle und Paradies. Jugendliche im Kontext salafistischer Radikalisierung und Deradikalisierung Ausgabe 6: Zurück aus dem Kalifat seit 2013 | Zentrum Demokratische Kultur Zum kostenfreien Archiv auf Externer Link: journal-exit.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Interventionen. Zeitschrift für Verantwortungspädagogik Violence Prevention Network Jede Ausgabe der "Interventionen" widmet sich einem anderen Schwerpunktthema aus dem Kontext Radikalisierung, Prävention und Ausstiegsarbeit. seit 2012 | Violence Prevention Network Zum kostenfreien Download auf Externer Link: violence-prevention-network.de Interner Link: Zum Anfang der Seite forum kriminalprävention Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention (DFK) Die Zeitschrift des DFK möchte eine Brücke zwischen Theorie und Praxis schlagen. Autorinnen und Autoren berichten von Erkenntnissen aus Wissenschaft und Forschung, von aktuellen (kriminal-)politischen Strategien, von neuen Projekten und Programmen, von den Erfahrungen einzelner Akteure, über kontroverse Standpunkte sowie über relevante Literatur und interessante Veranstaltungen im Themenfeld. seit 2001 | Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention Zum kostenfreien Archiv auf Externer Link: forum-kriminalprävention.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Einzelne Ausgaben von Zeitschriften zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: 9/11Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) Interner Link: Frühe ExtremismuspräventationDie Grundschulzeitschrift Interner Link: (De-)RadikalisierungBehemoth. A Journal on Civilisation Interner Link: Demokratieförderung vs. politische Bildung?Journal für politische Bildung Interner Link: Digitalität. Religion. Pluralismusmerz. medien + erziehung. zeitschrift für medienpädagogik Interner Link: RadikalisierungDemokratie gegen Menschenfeindlichkeit Interner Link: Salafismus – Ideologie der ModerneInformationen zur politischen Bildung – aktuell Interner Link: TerrorismusAus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) Interner Link: Warum sich junge Menschen radikalisierenErziehung & Wissenschaft Interner Link: DeradikalisierungAus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) Interner Link: 11. September 2001Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 9/11 Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 2021 jähren sich die verheerenden Anschläge vom 11. September 2001 zum 20. Mal. "9/11" forderte fast 3000 Menschenleben und wirkte sich noch über Jahre hinaus politisch und mental aus. Wie werden die Ereignisse und ihre Folgen heute bewertet? 7/2021 | Bundeszentrale für politische Bildung | 56 Seiten | Print & PDF: kostenfrei Zur kostenfreien Bestellung auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Frühe Extremismuspräventation Die Grundschulzeitschrift Die Ausgabe informiert über Ursachen sowie Erscheinungsformen von Radikalisierung und Extremismus. Die Beiträge stellen Herausforderungen für Lehrkräfte vor und bieten Lösungsansätze und Praxisideen an. Dabei folgt das Heft dem Ansatz einer primären/universellen Prävention, die alle Kinder in der Grundschule stark und resistent machen möchte gegen menschenfeindliche Einstellungen sowie ausgrenzende Verhaltensweisen. 6/2019 | Friedrich Verlag | 56 Seiten | Print: 26,00 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: friedrich-verlag.de Interner Link: Zum Anfang der Seite (De-)Radikalisierung Behemoth. A Journal on Civilisation In der 12. Ausgabe des Journals werden Radikalisierung und Deradikalisierung aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven betrachtet. Die Ausgabe enthält unter anderem Beiträge zu Radikalisierung im digitalen Zeitalter und auf Online-Plattformen sowie Beiträge, die den Radikalisierungsbegriff diskutieren. 2019 | Uni Freiburg | 74 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download auf Externer Link: ojs.ub.uni-freiburg.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Demokratieförderung vs. politische Bildung? Journal für politische Bildung In den Artikeln der Ausgabe wird der Strukturwandel der politischen Bildung diskutiert und eingeordnet. Programme wie "Demokratie leben", das "Nationale Präventionsprogramm gegen islamischen Extremismus" sowie das angekündigte "Demokratiefördergesetz" führen laut Benedikt Widmaier, dem verantwortlichen Redakteur der Ausgabe, zu einem signifikanten Strukturwandel der non-formalen politischen Bildung in Deutschland. 2019 | Wochenschau Verlag | 80 Seiten | PDF: 13,99 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: wochenschau-verlag.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Digitalität. Religion. Pluralismus merz. medien + erziehung. zeitschrift für medienpädagogik In der Ausgabe geht es um Glauben und Religionen im digitalen Wandel. Insbesondere drei Beiträge sind für die Präventionspraxis relevant: Islamistische Angebote in Sozialen Medien (Götz Nordbruch und Pierre Asisi), Bilder des Islams in medialen Lebenswelten (Jawaneh Golesorkh) sowie die Vorstellung des Projekts "bildmachen – Politische Bildung und Medienpädagogik zur Prävention von religiös-extremistischen Ansprachen in Sozialen Medien" (Nicole Rauch). 2019 | JFF – Institut für Medienpädagogik | 96 Seiten | Print: 10,00 Euro | PDF: 10,00 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: kopaed.ciando.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Radikalisierung Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit Die Beiträge der Ausgabe beleuchten den Begriff "Radikalisierung" kritisch aus verschiedenen Perspektiven. Sie beschäftigen sich unter anderem mit Radikalisierung im Internet, dem Zusammenspiel von politischer Bildung und Radikalisierungsprävention, der Hassrede als Alltagsphänomen oder dem Zusammenhang zwischen islamistischer und muslimfeindlicher Mobilisierung. 12/2018 | Wochenschau Verlag | 160 Seiten | Print: 26,80 Euro | PDF: 26,80 Euro Zur Bestellung auf Externer Link: wochenschau-verlag.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Salafismus – Ideologie der Moderne Informationen zur politischen Bildung – aktuell Die Ausgabe gibt einen Überblick darüber, wie die salafistische Ideologie entstanden ist, welche Erscheinungsformen sie annimmt, welche Ziele sie verfolgt, welcher Strategien sie sich bedient und wie ihr präventiv begegnet werden kann. 2018 | Bundeszentrale für politische Bildung | 24 Seiten | Print & PDF: kostenfrei Zur kostenfreien Bestellung auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Terrorismus Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) Die Ausgabe enthält unter anderem Beiträge über "Terrorbilder" und die Frage, warum Sichtbarkeit ein wesentliches strategisches Element des Terrors ist. Ebenfalls behandelt werden der Begriff "Terrorismus" und Abgrenzungsprobleme. Weitere Beiträge befassen sich mit dem "Islamischen Staat" und Boko Haram. 6/2016 | Bundeszentrale für politische Bildung | 56 Seiten | PDF: kostenfrei Zur kostenfreien Bestellung auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Warum sich junge Menschen radikalisieren Erziehung & Wissenschaft Die Ausgabe beschäftigt sich mit der Frage, warum sich junge Menschen radikalisieren. Sie enthält ein Interview mit Professor Haci-Halil Uslucan zu den Ursachen von Islamismus bei muslimischen Jugendlichen, einen Beitrag zu den Präventionsbemühungen der Bremer Bildungsbehörde sowie ein Interview mit dem Bremer Sozialarbeiter David Aufsess, der mit islamistisch orientierten Jugendlichen arbeitet. 2/2016 | Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft | 48 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download auf Externer Link: gew.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Deradikalisierung Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) Die Beiträge in dieser Ausgabe setzen sich mit verschiedenen Aspekten von Deradikalisierung auseinander. Neben einer soziologischen Perspektive auf das Thema Radikalisierung geht es unter anderem um dschihadistische Radikalisierung im Internet und Gegenmaßnahmen, Deradikalisierung durch gezielte Interventionsmöglichkeiten sowie Narrative und Gegen-Narrative. 7/2013 | Bundeszentrale für politische Bildung | 48 Seiten | PDF: kostenfrei Zur kostenfreien Bestellung auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 11. September 2001 Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) Die Beiträge in dieser Ausgabe setzen sich anlässlich des zum Erscheinungszeitpunkt zehn Jahre zurückliegenden Terroranschlags in den USA mit den daraus entstandenen Folgen auf deutscher und internationaler Ebene für Sicherheit, Militär und Politik auseinander. 7/2011 | Bundeszentrale für politische Bildung | 56 Seiten | PDF: kostenfrei Zum kostenfreien Download auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-02-06T00:00:00"
"2021-08-05T00:00:00"
"2023-02-06T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/337803/fachzeitschriften/
Zeitschriften, die sich schwerpunktmäßig mit Diskussionen und Ansätzen aus den Bereichen Prävention und Deradikalisierung beschäftigen oder eine Ausgabe Radikalisierung und Prävention gewidmet haben
[ "Islamismus", "Radikalisierung", "Extremismus", "Prävention", "Ausstiegsarbeit", "Zeitschriften", "Deradikalisierung", "Demokratieförderung" ]
30,326
Methan in der Atmosphäre (CH4) | Anthropozän | bpb.de
Einführung Methan (CH4) ist ein farb- und geruchloses Gas und ein wichtiger Bestandteil des globalen Kohlenstoffkreislaufes. Es entsteht hauptsächlich durch Umwandlung von organischer Materie unter Abwesenheit von Sauerstoff. Ein großer Teil des Methans wird durch den Stoffwechsel von Mikroorganismen gebildet. Nicht Verbrennen steht hier im Vordergrund, sondern Verfaulen, Vermodern und Verdauen. Auch in tieferen Schichten der Erdkruste kommt Methan vor. Es ist z. B. der Hauptbestandteil von Erdgas. Auch bei der Entstehung von Kohle entsteht Methan. Methan ist ein langlebiges Treibhausgas. Auch wenn es eine deutlich geringere atmosphärische Konzentration als CO2 aufweist, gehört es zu den drei wichtigsten Treibhausgasen, da CH4 ein 21-fach höheres Treibhauspotential besitzt als CO2. Historische Entwicklung Die atmosphärische Methan-Konzentration (CH4) ist von 730 ppb (parts per billion) im Jahr 1750 auf etwa 1.800 ppb angestiegen. Dies ist ein Anstieg um 150% und wie beim Kohlenstoffdioxid (CO2) der höchste Stand seit mindestens 800.000 Jahren. Etwa zwei Drittel aller Methanemissionen sind heute menschlichen Ursprungs. Die größten Verursacher sind in absteigender Reihenfolge: Viehzucht, die Nutzung fossiler Energieträger, Mülldeponien, Reisanbau und die Verbrennung von Biomasse. Die menschengemachten Methanemissionen tragen mit ca. 16 % zur globalen Erwärmung bei. Damit ist atmosphärisches Methan der zweitwichtigste Antreiber des aktuellen Klimawandels. Landwirtschaft als Methan-Emittent Besonders zwei Sektoren der Landwirtschaft verursachen einen großen Teil der anthropogenen Methanemissionen: die Viehzucht und der Reisanbau. In der Viehzucht ist es vor allem die Haltung von Rindern und Schafen: In den Mägen von Wiederkäuern entsteht Methan, welches durch Aufstoßen und Exkremente in die Atmosphäre gelangt. Die weltweit steigende Fleischproduktion gilt als ein wichtiger Antreiber der globalen Erwärmung. Den zweitgrößten Methanausstoß aus der Landwirtschaft verursacht der sogenannte Nassanbau von Reis. Durch die starke Wässerung des Bodens entsteht ein nahezu sauerstofffreier Lebensraum für methanbildende Mikroorganismen. Der Methanausstoß lässt sich vermindern, indem man die Böden zwischenzeitlich austrocknen lässt. Organischer Kohlenstoff in Permafrostböden In den dauerhaft gefrorenen Permafrostböden der nördlichen Hemisphäre sind nach aktuellen Modellrechnungen bis zu ca. 15.000 Gigatonnen organischen Kohlenstoffs gespeichert. Dies entspricht etwa der doppelten Menge des CO2 in der Atmosphäre. Die Temperaturen an der Erdoberfläche steigen in diesen Regionen etwa doppelt so schnell wie im globalen Durchschnitt, teilweise um ca. 1,8 °C allein in den letzten drei Jahrzehnten. Das bereits einsetzende Auftauen der Permafrostböden könnte große Mengen an Kohlenstoff in Form von Methan (CH4) und Kohlenstoffdioxid (CO2) in die Atmosphäre freisetzen und somit die globale Erwärmung beschleunigen. Über den Netto-Effekt der möglichen Emissionen besteht noch keine Klarheit, da sich in und auf den aufgetauten Böden auch neue Pflanzengemeinschaften ansiedeln, die CO2 aus der Atmosphäre aufnehmen und auch an den Boden weitergeben. Quellen / Literatur Intergovernmental Panel on Climate Change - IPCC (2013): Climate Change 2013: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Cambridge University Press, Cambridge, United Kingdom and New York, NY, USA. Loulergue, L. et al. (2008): Orbital and millennial-scale features of atmospheric CH4 over the past 800,000 years. Nature (453), 383–386. Schuur, E. A. G. et al. (2015). Climate change and the permafrost carbon feedback. Nature, (520), 171–179. Steffen, W., Broadgate, W., Deutsch, L., Gaffney, O., & Ludwig, C. (2015): The trajectory of the Anthropocene: The Great Acceleration. The Anthropocene Review, 2(1), 81–98. Intergovernmental Panel on Climate Change - IPCC (2013): Climate Change 2013: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Cambridge University Press, Cambridge, United Kingdom and New York, NY, USA. Loulergue, L. et al. (2008): Orbital and millennial-scale features of atmospheric CH4 over the past 800,000 years. Nature (453), 383–386. Schuur, E. A. G. et al. (2015). Climate change and the permafrost carbon feedback. Nature, (520), 171–179. Steffen, W., Broadgate, W., Deutsch, L., Gaffney, O., & Ludwig, C. (2015): The trajectory of the Anthropocene: The Great Acceleration. The Anthropocene Review, 2(1), 81–98.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-05T00:00:00"
"2022-01-05T00:00:00"
"2022-01-05T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/umwelt/anthropozaen/503732/methan-in-der-atmosphaere-ch4/
Der zweitgrößte Antreiber des menschengemachten Klimawandels ist die starke Zunahme der Methan-Konzentration. Ursachen sind vor allem Viehhaltung und der Nassanbau von Reis. Auch das Auftauen der Permafrostböden in den nördlichen Hemisphären gilt als
[ "Anthropozän", "Treibhausgaseffekt", "Treibhausgas", "Klimawandel" ]
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Das bedingungslose Grundeinkommen zerstört den Wohlfahrtsstaat | Zukunft der Arbeit | bpb.de
Mittels eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE), das auch als "Bürger-" bzw. "Existenzgeld", als "Sozialdividende" oder als „negative Einkommensteuer" firmiert und Inländern ohne Bedürftigkeitsprüfung gezahlt werden soll, hoffen vor allem Bezieher staatlicher Transferleistungen (Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe) sowie ihre organisatorischen Netzwerke, die Bedürftigkeit und die bürokratische Gängelung durch das Jobcenter bzw. das Grundsicherungsamt überwinden zu können. Sieht man genauer hin, überwiegen jedoch eindeutig die Nachteile: Es handelt sich beim BGE um eine alternative Leistungsart, die mit der Konstruktionslogik des bestehenden, früher als Jahrhundertwerk gefeierten Wohlfahrtsstaates bricht sowie seine ganze Architektur bzw. Struktur zerstören würde. Dieser basiert seit dem 19. Jahrhundert auf Sozialversicherungen, die Standardlebensrisiken (Krankheit, Alter, Invalidität, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit) kollektiv absichern, sofern der versicherte Arbeitnehmer und sein Arbeitgeber vorher entsprechende Beiträge gezahlt haben. Nur wenn dies nicht der Fall oder der Leistungsanspruch bei Arbeitslosigkeit erschöpft ist, muss man auf steuerfinanzierte Leistungen (Arbeitslosengeld II, Sozialgeld bzw. Sozialhilfe) zurückgreifen. Das Gießkannenprinzip funktioniert nicht Das bedingungslose Grundeinkommen soll den Armen nützen, ist aber nach dem Lebensmodell eines reichen Müßiggängers konstruiert und funktioniert nach dem Gießkannenprinzip. Auf ungleiche Einkommens- und Vermögensverhältnisse würde mit einer Geldzahlung in gleicher Höhe reagiert, obwohl Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden muss, soll es gerecht zugehen. Außerdem stellt die Finanzierung des Grundeinkommens seine Befürworter vor ein Dilemma: Entweder erhält jeder Bürger das Grundeinkommen, unabhängig von seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen. In diesem Fall müssten riesige Finanzmassen bewegt werden, die das Volumen des heutigen Bundeshaushaltes (ca. 300 Mrd. Euro) um ein Mehrfaches übersteigen, die öffentliche Armut vermehren dürften und die Verwirklichung des BGE per se ins Reich der Utopie verweisen. Außerdem würde sich unter Gerechtigkeitsaspekten die Frage stellen, warum selbst Milliardäre vom Staat monatlich ein von ihnen vermutlich als "Peanuts" betrachtetes Zubrot erhalten sollten, während beispielsweise Schwerstbehinderte viel mehr als den für alle Bürger einheitlichen Geldbetrag viel nötiger hätten. Alternativ bekommen wohlhabende und reiche Bürger das Grundeinkommen nicht bzw. bekommen es im Rahmen der Steuererhebung wieder abgezogen. Dann wäre es allerdings weder allgemein und bedingungslos. Auch würde die Prüfung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse nicht entfallen, müsste doch in jedem Einzelfall herausgefunden werden, ob die Anspruchsvoraussetzungen nicht durch (verdeckte) anderweitige Einkünfte verwirkt sind. Hinsichtlich seiner Kontrollfunktion träte das Finanzamt also an die Stelle des Jobcenters. Arbeit bedeutet mehr als finanzielle Absicherung Man kann die soziale Sicherung nicht von der Erwerbsarbeit entkoppeln, basiert Erstere doch auf Letzterer. Allenfalls können Teile der Bevölkerung leben, ohne zu arbeiten, aber nur so lange, wie das andere (für sie) tun und den erzeugten Reichtum mit ihnen teilen. Selbst wenn Erwerbslose durch ein Grundeinkommen materiell besser abgesichert wären, bliebe das Problem ihrer sozialen Ausgrenzung bestehen. Denn in einer Arbeitsgesellschaft hängen Lebenszufriedenheit, sozialer Status und Selbstwertgefühl an der Berufstätigkeit.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-07T00:00:00"
"2015-03-02T00:00:00"
"2022-02-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/netzdebatte/217778/das-bedingungslose-grundeinkommen-zerstoert-den-wohlfahrtsstaat/
Das Bedingungslose Grundeinkommen ist eine Utopie. Wer schon reich ist, braucht es nicht, für die Armen reicht es nicht. Außerdem kann das BGE nie wirklich gerecht sein, findet Christoph Butterwegge.
[ "bedingungsloses Grundeinkommen", "Arbeitsmarkt", "Zukunft der Arbeit", "Grundeinkommen" ]
30,328
Die Bedeutung der Kulturvermittlung und –Rezeption | Deutsch-polnische Beziehungen | bpb.de
Die Kulturbeziehungen zwischen Deutschen und Polen, Nachbarn in der Mitte Europas, sind mehr als tausend Jahre alt. Kennzeichnend sind einerseits Vielzahl und große Bandbreite, andererseits starke Asymmetrie, da das Interesse an Deutschland in Polen stets größer war als umgekehrt. Für Polen war Deutschland immer, auch in Zeiten größter historischer Belastungen, eine große europäische Kulturnation, im Kulturbereich wichtigster Nachbar und oft Bezugspunkt und Vermittler (ähnlich wie Frankreich für Deutschland). In Polen konnte so zwischen beiden Weltkriegen ein jüdischer Junge namens Marceli Reich in einer Kleinstadt an der Weichsel in die deutsche Literatur als geistige Heimat hineinwachsen, als die reale Heimat ihm mehrfach von Polen und Deutschen unerträglich gemacht wurde. Deutsche lebten seit dem Mittelalter in größeren oder kleineren Gruppen in allen Teilen Polens und standen mit ihren Nachbarn in einem ständigen kulturellen Austausch auf zwischenmenschlicher, nachbarschaftlicher Ebene. Im Gegensatz dazu ist Polen für Deutschland nur einer von mehreren kleineren Nachbarn im Osten, das Wissen über Polen gering, von Stereotypen bestimmt und überwiegend nicht mit Kultur verbunden. Unter deutschen Intellektuellen wäre disqualifiziert, wem etwa Shakespeare oder Camus kein Begriff sind, während niemandem verübelt wird, wenn er Adam Mickiewicz oder die Nobelpreisträger Czeslaw Milosz und Wieslawa Szymborska nicht kennt. Bestenfalls gilt Polen als Land mit schöner Natur und einigen bedeutenden Städten, wobei auch Masuren und Schlesien oder Danzig und Breslau für viele Deutsche noch stärker mit ihrer Geschichte und Kultur als mit Polen verbunden werden und z.B. städtebauliche Perlen wie Thorn oder Zamosc unbekannt sind. Polen ist im deutschen Bewusstsein positiv vor allem im Zusammenhang mit politischen Ereignissen präsent, so im 19. Jahrhundert dem polnischen Aufstand gegen russische Unterdrückung, der 1830/31 große Sympathiebekundungen in Deutschland ("Polenlieder") hervorrief, ähnlich wie die Gewerkschaftsbewegung Solidarność (Solidarität) und ihr Kampf gegen das kommunistische System Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Trotz der mehrfachen großen polnischen Einwanderungswellen, als Arbeitsmigranten nach Berlin und in das Ruhrgebiet schon im 19. Jahrhundert, den polnischen politischen Flüchtlingen nach 1945 und besonders ab 1981, sind Polen für die meisten Deutschen nicht als normale Wohnnachbarn, sondern vor allem als Erntearbeiter, geschickte Helfer am Bau oder Krankenpfleger präsent. Aber Polen ist bei deutschen Intellektuellen auch als von deutschen Staaten in der Geschichte mehrfach geteiltes Land präsent, als Hauptschauplatz des Holocaust im Zweiten Weltkrieg und, allerdings stärker erst in den letzten Jahren, auch mit der brutalen NS-Besatzungspolitik von 1939-1945. Das damit gegenüber Polen verbundene Schuldgefühl ließ seit den siebziger Jahren die Erinnerung an deutsche Gebietsverluste an Polen oft verdächtig erscheinen, wenn sie außerhalb der Gruppe der unmittelbar Betroffenen artikuliert wurde. Entsprechend wird die jüngste deutsche Beschäftigung auch mit deutschen Opfern des Zweiten Weltkrieges in Polen als Paradigmenwechsel verstanden und weckt Befürchtungen. Entwicklung der Kulturbeziehungen Erfreulicherweise hatten die politischen Spannungen in Vergangenheit und Gegenwart kaum Einfluss auf die Entwicklung der Kulturbeziehungen, trugen allerdings auch nicht zum Abbau der oben genannten Asymmetrie bei. Allerdings ist das Bemühen deutlich, hier eine positive Entwicklung anzustoßen. Staatlicherseits wurde dafür mit dem 1997 abgeschlossenen deutsch-polnischen Kulturabkommen eine Grundlage geschaffen. Das Auswärtige Amt, der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, öffentliche Einrichtungen und Mittler der auswärtigen deutschen Kulturpolitik wie das Goethe-Institut oder der Deutsche Akademische Austauschdienst DAAD stellen jährlich erhebliche Summen für den deutsch-polnischen Kulturaustausch zur Verfügung, der heute jeden Bereich der weitgefassten Kultur, also neben Literatur, Musik, Theater, Bildender Kunst und Film auch Wissenschaft und Bildung, Sprachförderung, Jugendaustausch und Medien umfasst. Polen unterhält in Deutschland drei Kulturinstitute, in Berlin, Düsseldorf und Leipzig, letzteres seit 2009 allerdings nur noch als Dependance von Berlin. Auch die Generalkonsulate in München und Hamburg organisieren kulturelle Veranstaltungen, und zusätzlich gibt es in Darmstadt noch das Deutsche Polen-Institut, dessen Bedeutung für die Kulturvermittlung nicht hoch genug geschätzt werden kann. Dem stehen zwei Goethe-Institute in Warschau und Krakau sowie Lesesäle in Breslau, Kattowitz, Posen und Stettin sowie ein Goethe-Zentrum in Lublin gegenüber. Botschafter im Kleinen sind aber auch die jährlich mehr als 40 deutschen Lehrer an polnischen Schulen und die Lektoren des DAAD sowie die Vertreter der politischen Stiftungen, die in Warschau, aber auch in anderen wichtigen Städten vertreten sind und eine bedeutende Mittlerarbeit betreiben. Der Aufbau eines Hauses der deutsch-polnischen Zusammenarbeit in Gleiwitz 1998, zu dem später ein weiteres Haus in Oppeln hinzukam, wurde beispielsweise von der Friedrich-Ebert- und der Konrad-Adenauer-Stiftung gemeinsam unterstützt. Akademische Zusammenarbeit Im akademischen Bereich sind ferner zahlreiche deutsch-polnische Hochschulpartnerschaften und Stipendienprogramme zu nennen, die zunehmend stärker auch deutsche Studenten nach Polen führen, während die Zahl der an deutsche Universitäten gehenden polnischen Studenten immer noch höher ist, aber zugunsten von Studienaufenthalten im angelsächsischen Raum deutlich zurückgeht. Ein Anfang 2009 vom Deutschen Polen-Institut in Darmstadt mit Unterstützung der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit veranstaltetes Symposium der deutschen Polen-Forschung zeigte zu allgemeiner Überraschung mit weit über 200 Projekten jüngerer Historiker, Politologen, Soziologen, Wirtschafts- und Musikwissenschaftler, wie stark der deutsche Nachwuchs in der Polenforschung inzwischen geworden ist. Die Europauniversität Viadrina in Frankfurt/Oder mit einem polnischen Collegium Polonicum auf der östlichen Oderseite ist sicherlich die wichtigste universitäre Institution in der akademischen Zusammenarbeit. Sie wird seit Herbst 2008 durch eine ebenfalls in Frankfurt/Oder gegründete deutsch-polnische Wissenschaftsstiftung flankiert. Auch die Neisse-Universität Görlitz-Zittau ist hier zu nennen, und, wenngleich weniger auf die deutsch-polnischen Beziehungen konzentriert sondern gesamteuropäisch ausgerichtet, das Europa-Kolleg in Natolin bei Warschau. Der Jugendaustausch hat mit dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk eine institutionelle Verankerung und wird mit jährlich mehr als vier Millionen Euro unterstützt. Privates Engagement, Initiativen und Stiftungen im Kulturaustausch Neben den staatlichen Fördermaßnahmen lebt der deutsch-polnische Kulturaustausch aber vor allem auch vom privaten Engagement. Das Bedürfnis, nach allen Hypotheken der Vergangenheit zwischen Deutschen und Polen gute Beziehungen zu fördern, ist bei den deutschen Eliten seit den sechziger Jahren weit verbreitet und hat auch in entsprechenden Kreisen in Polen eine feste Verankerung. Die beiden großen Kirchen haben hier früh wichtige Akzente gesetzt, die katholischen Bischöfe Polens 1966 mit ihrer Botschaft "Wir vergeben und bitten um Vergebung" und entsprechender Reaktion ihrer deutschen Amtsbrüder, die Evangelische Kirche in Deutschland mit ihrer Ostdenkschrift von 1965. Aber auch viele private Initiativen, auch und gerade von vertriebenen Deutschen, haben Deutsche und Polen einander näher gebracht. Besondere Bedeutung haben private Stiftungen wie die Robert Bosch Stiftung oder die Stiftung Erinnerung, Vergangenheit und Zukunft in Deutschland und die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit in Warschau, die über Stipendienprogramme, Gesprächsforen oder Projektförderung einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Kulturbeziehungen leisten. In Deutschland darf auch die Arbeit der rund 50 deutsch-polnischen Gesellschaften und die Bedeutung der mehr als 400 deutsch-polnischen Städtepartnerschaften nicht vergessen werden. Das von beiden Regierungen 2005/06 ausgerufene Deutsch-Polnische Jahr brachte zwar nur wenige speziell dafür initiierte Projekte, zeigte aber durch die auf einer eigenen, bis heute fortgeführten Internetseite (www.de-pl.info) dokumentierten mehr als 2.000 alleine von Mai 2005 bis Mai 2006 stattgefundenen und zum Teil längerfristigen deutsch-polnischen Initiativen die Breite und Intensität des beiderseitigen Kulturaustausches. Es ist ein großes Verdienst dieser Internetseite, etwas Übersicht in diese Fülle von Veranstaltungen und Projekten zu bringen. Denn ein Kennzeichen des deutsch-polnischen Kulturaustausches ist seine Unübersichtlichkeit und mangelnde Koordination. Bis heute wissen die Verantwortlichen vieler ähnlicher deutsch-polnischer Projekte nichts voneinander und können dadurch auch nichts voneinander lernen und durch Zusammenarbeit Synergien erreichen. Sicherlich ist es grundsätzlich erfreulich, wenn Initiativen nicht nur von oben organisiert werden, sondern von unten wachsen. Allerdings könnten bei besserer Information manche unnötigen Fehler und Doppelarbeiten vermieden und die vorhandenen, begrenzten Mittel sinnvoller eingesetzt werden. Bedenkt man bei den rund 2.000 Projekten des Deutsch-Polnischen Jahres, dass wir hier von den Kulturbeziehungen zwischen achtzig Millionen Deutschen und rund vierzig Millionen Polen sprechen, ist die Bilanz wieder etwas ernüchternder. Es sind auch leider immer wieder die üblichen Verdächtigen, unermüdliche Aktivisten und Urgesteine der deutsch-polnischen Verständigung, die sich hier Jahr für Jahr engagieren. Bei vielen Älteren spielte noch die eigene teilweise tragische Biographie durch Kriegserlebnisse die entscheidende Rolle, sich lebenslang für die Verbesserung der Beziehungen zwischen den einstigen Gegnern Deutschland und Polen einzusetzen. Bei den nachwachsenden Generationen ist eine solche emotionale Bindung an die Sache nicht mehr zu erwarten. Rolle der Vergangenheit in Kulturbeziehungen Es kennzeichnet den Kulturaustausch, dass beide Seiten beim Dialog oft die Diskussion um schwierige Themen vermeiden und eine unverbindliche Scheinharmonie pflegen, die zu Recht auch schon als "Versöhnungskitsch" charakterisiert wurde. Dabei sollte inzwischen klar geworden sein, dass nur gründliche Aufarbeitung der schwierigen Vergangenheit eine solide Basis für eine friedliche und fruchtbare Gestaltung der gemeinsamen Zukunft in Europa darstellen kann. Während in Polen häufig noch Schlachten der Vergangenheit immer wieder neu geschlagen werden, sind die Deutschen oft ohne genaue Kenntnis der gemeinsamen Vergangenheit in Gefahr, polnische Empfindlichkeiten zu unterschätzen oder überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Eine tausendjährige gemeinsame Geschichte wird so von beiden Seiten völlig unterschiedlich im kollektiven Gedächtnis bewahrt und auch die vielfältigen kulturellen Gemeinsamkeiten schützen nicht vor Verdächtigungen und Misstrauen. Die verhältnismäßig große Zahl von deutsch-polnischen Kulturbegegnungen und darin engagierten Institutionen und Personen steht deshalb auch in krassem Gegensatz zu der Erfahrung, wie oft marginale politische Probleme die deutsch-polnischen Beziehungen wieder zurückwerfen und belasten. Der jüngste Streit um die Besetzung des Beirats für das "Sichtbare Zeichen" gegen Vertreibungen in Berlin ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel. Im Kulturbereich ist die Vertreibung der Deutschen in Polen heute kein Tabuthema mehr. In polnischen Schulbüchern findet sie, allerdings mit Hinweis auf die alliierte Verantwortung dafür, meist kurze Erwähnung. Ausstellungen und Veröffentlichungen zum Thema gibt es in beiden Ländern, in den früheren deutschen Gebieten haben einige lokale Initiativen mit und ohne Unterstützung der Behörden die Erinnerung an die früheren Bewohner und ihre Vertreibung in Gedenksteinen und Erinnerungstafeln öffentlich sichtbar gemacht. Zu den wichtigsten und erfolgreichsten Initiativen im Bereich der wissenschaftlichen Zusammenarbeit gehört ein Ende der neunziger Jahre durchgeführtes deutsch-polnisches Projekt zur Erforschung der Vertreibung der Deutschen aufgrund polnischer Archivmaterialien, dessen Ergebnisse als mehrbändige Dokumentation in deutscher und polnischer Sprache "Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden..." veröffentlicht wurden. Dies alles darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Vergangenheitsbewältigung in Polen erst seit 1990 wirklich möglich ist. Ähnlich wie in den neuen Bundesländern das DDR-Erbe noch lange nicht wirklich verarbeitet wurde, hat die polnische Gesellschaft noch einen schmerzhaften und schwierigen Weg der Auseinandersetzung mit den dunkleren Abschnitten ihrer Geschichte vor sich. Dabei stehen sich den Deutschen stärker vertrauende und stärker misstrauende Kreise in etwa gleich stark gegenüber. Jeder Druck von außen ist dabei eher geeignet, den Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit, der vor allem in der Frage des Umgangs mit dem kommunistischen Erbe die Gesellschaft teilt, zu erschweren und zu hemmen. Die deutschen Vertriebenen stellen dabei einen beständigen Stachel im Fleisch dar, da man mit der Anerkennung ihres Schicksals in Polen häufig die Infragestellung des polnischen Rechts auf ihre Herkunftsgebiete verbindet. Die jahrzehntelange Propaganda der kommunistischen Regierung hat ihre Wirkung bis heute. Unternehmen wie die "Preußische Treuhand", die Polen vor internationalen Gerichten (vergeblich) auf Entschädigung deutscher Vertriebener verklagte, schüren solche Befürchtungen zusätzlich. So sind deutsche Vertriebene und vor allem ihre verbandspolitischen Repräsentanten in Polen bis heute Reizfiguren. Dabei stellen deutsche Vertriebene, auch wenn dies häufig weder zu ihrem Selbst- noch zu ihrem Fremdbild gehört, de facto die stabilste Polen-Lobby in Deutschland dar. Denn sie besuchen ungleich häufiger als ihre Landsleute die nunmehr polnische alte Heimat, unterhalten oft sehr enge und freundschaftliche Beziehungen zu den heutigen Bewohnern, engagieren sich zum Teil nicht oder nicht nur in deutschen Landsmannschaften, aber oft auch in deutsch-polnischen Gesellschaften, stellen beträchtliche Mittel etwa für die Bewahrung kultureller Denkmäler in Polen zur Verfügung und sind generell an Polen stärker interessiert als andere Deutsche. Unterschiedliche Sichtweisen am Beispiel Reich-Ranickis Die Person Marcel Reich-Ranicki ist ein Beispiel für völlig unterschiedliche Sichtweisen von Deutschen und Polen. Seine Autobiographie wurde in Deutschland ein Bestseller und hat vielen Deutschen erstmals die frühere polnisch-jüdisch-deutsche Vergangenheit und Geschichte in Ostmitteleuropa mit allen Höhen und Tiefen bis zu ihrer Vernichtung im Warschauer Ghetto vor Augen geführt. Während Reich-Ranicki in Deutschland als streitbarer Literaturpapst und Medienkritiker zwar polarisiert, was sich oft in der Karikatur von Sprechweise und Auftreten entlädt, aber seine Bedeutung für die deutsche Literaturrezeption und damit die deutsche Kultur unbestritten ist, hat er in Polen ganz überwiegend schlechte Kritiken. Er gilt dort zum einen für manche als Vaterlandsverräter, der seine eigentlich angeborene polnische Literatur gering schätzt und sich opportunistisch auf die Seite des Stärkeren, der deutschen Literatur geschlagen hat. Andere werfen ihm vor, dass er in der Nachkriegszeit Mitarbeiter des kommunistischen polnischen Geheimdienstes war, zeitweise sogar dessen Londoner Regionalleiter. Obwohl ihm bis heute keine konkreten Vergehen nachgewiesen werden konnten, macht man ihn für die Bespitzelung der damals in London ansässigen bürgerlichen polnischen Opposition verantwortlich, so dass er für viele Polen persona non grata ist. Ausblick Ein reger Kulturaustausch schützt zwar nicht vor politischen Spannungen. Aber jeder Kulturschaffende, der mit einem Partner des anderen Landes erfolgreich zusammengearbeitet hat, ist in der Regel künftig ein Multiplikator zum Abbau von Vorurteilen und dem Werben für Interesse und Verständigung. Die große Bedeutung der Kulturvermittlung liegt auch darin, dass sie heute gleichermaßen in beide Richtungen erfolgt, also keine Einseitigkeit festzustellen ist. Polen ist im Kulturbereich zwar für viele Deutsche eine Entdeckung, die allenfalls von polnischer Film- oder Plakatkunst gehört haben und ganz erstaunt sind, wenn sie die reiche polnische Literatur-, Musik-, Theater- oder Bildende Kunst-Landschaft kennen lernen. Auch spielt in manchen Kulturbereichen wie der Musik die Sprachbarriere keine große Rolle und erleichtert den Austausch. Aber hier begegnen sich Deutsche und Polen tatsächlich und nicht nur aus Höflichkeit auf Augenhöhe. Und die Deutschen können vieles von ihren kreativen und improvisationsgeübten östlichen Nachbarn lernen. Dabei wird deutlich, dass sowohl Deutschland wie Polen aufgrund ihrer Lage in Europa traditionelle Vermittler zwischen West und Ost waren und auf diese Weise eine wichtige Rolle in der europäischen Kulturentwicklung gespielt haben. Trotz aller Erfolge und insgesamt erfreulicher Entwicklung des deutsch-polnischen Kulturaustauschs auf die Gesamtgesellschaft, konnte noch kein wirkliches Miteinander von Deutschen und Polen in Europa erreicht werden. Immer noch bestimmen Missverständnisse und Misstrauen auf polnischer, Unkenntnis und vielfach Desinteresse auf deutscher Seite das Verhältnis. Gerade in den Grenzregionen, wo die Begegnungsmöglichkeiten besonders groß und das Bedürfnis danach stärker sein sollte, ist derzeit noch das genaue Gegenteil festzustellen. Hier wirkt die latente Polenfeindschaft des DDR-Regimes und die faktische Undurchlässigkeit der früher so genannten "Friedensgrenze" an Oder und Neisse nach. Sicherlich ist die Sprachproblematik immer noch ein Hauptproblem für engere menschliche Beziehungen. Auch hier finden wir wieder die alte Asymmetrie, nämlich erstaunlich viele Deutschlerner und Deutschsprechende in Polen, viele Schulen mit Deutschunterricht und hervorragende Germanistiklehrstühle an polnischen Universitäten, und vergleichsweise wenig Deutsche mit Polnischkenntnissen, wenig Polonistik an deutschen Universitäten und nur Einzelfälle von Schulen mit Polnischunterricht. Doch allein das kann als Begründung nicht ausreichen. In der mittleren und älteren Generation in Polen finden sich viele Deutschsprachige, und die jüngere Generation kann mit ihren Altersgenossen in Deutschland auf Englisch kommunizieren. So ist in den deutsch-polnischen Beziehungen noch ein weiter Weg zur völligen Normalisierung zurückzulegen. Die Bedeutung des deutsch-polnischen Kulturaustauschs liegt darin, zwar kleine, aber konkrete Schritte auf diesem Weg zu gehen und durch die direkten Kontakte und die Zusammenarbeit alte, überholte Vorstellungen abzubauen und zunehmend mehr Verständnis für die jeweils andere Seite zu entwickeln.
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Joachim Rogall
"2021-11-11T00:00:00"
"2011-11-12T00:00:00"
"2021-11-11T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europaeische-geschichte/deutsch-polnische-beziehungen/39768/die-bedeutung-der-kulturvermittlung-und-rezeption/
Welche Rolle spielt Kultur bei den deutsch-polnischen Beziehungen? Wie sieht die Zusammenarbeit aus und wie haben sich die Kulturbeziehungen entwickelt? Ist Annäherung möglich und welche Rolle spielt die Politik dabei? Antworten von Joachim Rogall.
[ "Deutsch-polnische Beziehungen", "Polen", "Deutschland", "Kulturvermittlung", "Austausch" ]
30,329
Zurück auf Los!? – Abschiebungen als Teil der europäischen Migrationskontrollpolitik in Afrika | Innerafrikanische Migrationen | bpb.de
Höhere Abschiebezahlen als politische Maßnahme Das Thema Abschiebungen hat in Deutschland seit der sogenannten "Flüchtlingskrise" stark an Bedeutung gewonnen. Von staatlicher Seite wurden die erzwungenen Rückführungen von MigrantInnen ohne Aufenthaltserlaubnis und abgelehnten AsylbewerberInnen in die Herkunftsländer lange Zeit eher im Verborgenen gehalten: Staatliche Akteure sprachen in Medien und Öffentlichkeit selten über diesen, als notwendig betrachteten, administrativen Akt. Dies sollte unter anderem Interner Link: substanzielle zivilgesellschaftliche Proteste vermeiden, die sich regelmäßig am Thema Abschiebung entzünden. Neuerdings werden Abschiebungen allerdings zunehmend als erfolgreiche Strategie deklariert, um Handlungsfähigkeit im Blick auf den Aufenthalt unerwünschter MigrantInnen zu demonstrieren und die Grenzen von Nationalstaat und Europäischer Union zu kontrollieren – nicht zuletzt als eine Sicherheitsstrategie im Namen der Terrorismusbekämpfung. So sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Beginn 2017 von einer "nationalen Kraftanstrengung" für die Durchsetzung von Abschiebungen, denn "wer kein Aufenthaltsrecht hat, muss zurückgeführt werden". Ebenso verteidigt Bundesinnenminister Thomas De Maizière die Abschiebung afghanischer "Straftäter, Gefährder und hartnäckige[r] Mitwirkungsverweigerer" immer wieder gegen harsche Kritik, die aufgrund der Interner Link: angespannten Sicherheitslage in Afghanistan an solchen Abschiebungen geübt wird. Abschiebungen manifestieren dominante Vorstellungen von Souveränität und Staatsbürgerschaft. Deutschland steht dabei nicht allein. Seit 2001 hat sich die Zahl der Abschiebungen aus vielen (westlichen) Industrienationen im Vergleich zu den 1990er Jahren zeitweise mehr als verdoppelt. Ein Beispiel sind die Interner Link: USA, wo unter der Obama-Administration in den Jahren 2012 und 2013 416.324 bzw. 434.015 Menschen zwangsweise zurückgeführt wurden. 2001 waren es lediglich 189.026 gewesen, Anfang der 1990er Jahre 33.189. In Deutschland verfünffachte sich die Zahl der Rückführungen zwischen 2008 (14.295) und 2016 (75.815); dies hat neben der Verschärfung der Abschiebungspolitik auch damit zu tun, dass 2016 deutlich mehr Asylbewerber nach Deutschland kamen (und damit auch abgelehnt werden konnten) als 2008. Diese Entwicklung wird in der Wissenschaft als "Deportation Turn" bezeichnet. Der Begriff "Deportation Gap" verweist wiederum auf die Diskrepanz zwischen der Zahl der ausreisepflichtigen Ausländer und der Zahl der tatsächlich Abgeschobenen, v.a. in Deutschland und der EU. Diese Abweichung kommt u.a. dadurch zustande, dass aufgrund administrativer Hürden und Unregelmäßigkeiten im Asylverfahren sowie häufig wegen anhaltender gewaltsamer Konflikte in den Herkunftsländern viele Menschen faktisch nicht abgeschoben werden können. Zu den administrativen Hürden zählen z.B. fehlende Papiere, die Nicht-Existenz von Rückübernahmeabkommen oder spezifischen Migrationsvereinbarungen mit dem betreffenden Herkunftsland, die Weigerung des Herkunftslandes, bestimmte Staatsbürger wieder aufzunehmen, sowie eine fehlende Abschiebeerlaubnis wegen Krankheit, psychischer Probleme oder Bedrohung im Herkunftsland. Verfahrensunregelmäßigkeiten führen beispielsweise dazu, dass die Rechtmäßigkeit der Asylablehnung häufig von den Ausreisepflichtigen oder zivilgesellschaftlichen Unterstützergruppen vor Gericht angefochten wird. Trotzdem verließen im Jahr 2017 mehr abgelehnte AsylbewerberInnen Deutschland, als in derselben Zeit ausreisepflichtig geworden sind, womit sich eine Kritik am "Vollzugsdefizit" aktuell als unbegründet erweist. Innerafrikanische Abschiebungen als Teil von EU-Externalisierungsbestrebungen Bereits seit Beginn der 2000er Jahre sind Abschiebungen in die Türkei, die Länder des Balkans und Zentralasiens sowie Nord- und zunehmend Sub-Sahara-Afrikas grundlegendes Element der Externalisierung von Migrations- und Grenzkontrollen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten. Drittstaaten werden dabei aufgefordert, Menschen, die unter dem Verdacht stehen, nach Europa migrieren zu wollen, zu identifizieren und ggf. wieder in ihre Herkunfts- oder Transitländer zurück zu schicken. Für den afrikanischen Kontinent bedeutete das einen starken Anstieg innerafrikanischer Abschiebungen aus den Transitländern des Maghreb (v.a. Interner Link: Marokko, Algerien, Interner Link: Libyen sowie Mauretanien). Diese erfolgen zumeist im Rahmen eines bi- oder multilateralen Abkommens mit der EU und/oder ihren Mitgliedstaaten. Diese Abkommen knüpfen, vereinfacht gesagt, die Zahlung von Entwicklungsgeldern an die Bedingung, dass die Vertragsstaaten irreguläre Migration in Richtung Europa verhindern, u.a. durch Rückübernahme unerwünschter MigrantInnen und Geflüchteter der eigenen Staatsangehörigkeit; unter bestimmten Bedingungen auch von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen. QuellentextZu Europäischen Migrations- und Rücküberahmevereinbarungen Seit dem Vertrag von Amsterdam 1999 ist die EU mit den rechtlichen Kompetenzen ausgestattet, Migrations- sowie Rückübernahmeabkommen mit Drittstaaten zu schließen. Von Beginn an wurde dabei Migrationsmanagement an Handel und Entwicklungshilfe geknüpft und Migrations- sowie Rückkehrpolitik zunehmender Bestandteil der EU-Außenbeziehungen. Das politische Vorzeigeprojekt "Global Approach to Migration and Mobility (GAMM)" legte seit 2005 einen geographischen Schwerpunkt auf Afrika und den Mittelmeerraum, um Migration aus diesen Regionen besser zu steuern. Im Rahmen des Rabat- und des Karthum-Prozesses wurden (nicht-bindende) "Mobilitätsparterschaften" und "gemeinsame Absichtserklärungen" unterzeichnet, die einerseits eine restriktive Agenda legaler Einreisemöglichkeiten und andererseits v.a. die Rückkehr und Wiederaufnahme sogenannter irregulärer MigrantInnen umsetzen sollten. Die angesichts der "Flüchtlingskrise" entwickelte "Europäische Agenda für Migration" verbindet seit Mai 2015 noch stärker EU-Migrationsinnen- mit Außenpolitik. Neue "Migrations-Partnerschaften" insbesondere mit den Prioritätsländern Niger, Mali, Nigeria, Senegal und Äthiopien sollen Migration noch effektiver steuern; parallel betrifft das Nordafrika, v.a. Libyen, sowie Asien. Konkret bedeutet das v.a. die Zusammenarbeit im Grenzschutz, den Kampf gegen Menschenhandel und -schmuggel sowie im Rahmen der Rückkehr und Wideraufnahme irregulärer MigrantInnen eine verstärkte Zusammenarbeit mit der Interner Link: Internationalen Organisation für Migration (IOM) und dem UN-Flüchtlingshilfswerk Interner Link: UNHCR. In Bezug auf Rückübernahmeabkommen verfolgen die EU und ihre Mitgliedstaaten dabei einen zunehmend flexiblen Ansatz unterschiedlicher Rahmenverträge und Absichtserklärungen. Diese fordern weniger Verbindlichkeit von Kooperationspartnern und werden so den vielseitigen Interessen (auch in Bezug auf Widersprüche zwischen den Hoheitsrechten der EU sowie einzelner Mitgliedstaaten) gerecht. Gegebenenfalls sind sie leichter umzusetzen als formelle Abkommen. Abgesehen davon geht es bei Rückübernahmeabkommen häufig um Verhandlungsmasse bei umfassenderen Vereinbarungen, beispielsweise zu Energiesicherheit, Terrorismusbekämpfung, Grenz- oder Polizeikooperation. In den letzten Jahren ist so weltweit ein dichtes Netzwerk unterschiedlicher Rückübernahmevereinbarungen entstanden, die eine neue Dimension internationaler Zusammenarbeit zur erzwungenen Rückkehrmigration bedeuten. Der EU Emergency Trust Fund for Africa ergänzt die Europäische Agenda für Migration durch Maßnahmen für Arbeit, Bildung sowie humanitären Schutz für MigrantInnen sowie Maßnahmen zum Grenzschutz und zur Rückkehr und Reintegration von MigrantInnen im Herkunftsland. Mehr als bisher ist die europäische Agenda zudem an einen umfassenden externen Europäischen Investitionsplan (v.a. mit dem Ziel der "Bekämpfung" von Fluchtursachen) geknüpft. Ähnliche Investitionsmaßnahmen haben bislang aber kaum positive Auswirkungen in Herkunfts- und Transitländern von MigrantInnen erzielen können. Fußnoten Siehe Externer Link: https://ec.europa.eu/home-affairs/what-we-do/policies/international-affairs/global-approach-to-migration_en (Zugriff: 21.12.2017). Siehe Externer Link: https://ec.europa.eu/home-affairs/what-we-do/policies/european-agenda-migration_en (Zugriff: 21.12.2017). Konkret ist hier der Bereich Asylpolitik gemeint, die innerhalb der EU weiter harmonisiert werden soll, sowie die Entwicklung einer neuen Einwanderungs- und Arbeitsmigrationspolitik, z. B. durch die Anerkennung von in Drittstaaten erworbenen Berufsqualifikationen. Siehe Externer Link: http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-2072_en.htm (Zugriff: 21.12.2017). Vgl. Cassarino, Jean-Pierre; Guiffré, Mariagiulia, Finding its Place in Africa: Why the EU opted for flexible arrangements on readmission? FMU Policy Brief Nr. 01/2017 (1. Dezember 2017). Externer Link: http://www.nottingham.ac.uk/hrlc/documents/pb-1-finding-its-place-in-africa.pdf (Zugriff: 21.12.2017). Siehe Externer Link: https://ec.europa.eu/europeaid/regions/africa/eu-emergency-trust-fund-africa_en (Zugriff: 21.12.2017). Externer Link: https://eeas.europa.eu/sites/eeas/files/factsheet_migration_partnership_framework_update13_12_2016.pdf (Zugriff: 21.12.2017). Seit der europäischen "Interner Link: Flüchtlingskrise" ist eine Intensivierung der Externalisierungsbestrebungen, also der verstärkten Einbindung von Drittstaaten in das Grenzregime der EU, zu beobachten. So wurden seit 2015 zum Teil sehr umstrittene Vereinbarungen u.a. mit Niger, Ägypten und zuletzt mit Interner Link: Libyen geschlossen. Abkommen der EU mit Gambia sowie Äthiopien zur Rückführung tausender nicht-anerkannter Asylsuchender sind in Vorbereitung. Lediglich ein Interner Link: vergleichsweise kleiner Teil afrikanischer MigrantInnen kommt nach Europa: Nur etwa 10 Prozent der afrikanischen MigrantInnen verteilen sich auf Europa, die USA, Kanada und zunehmend auch Asien . Mangels legaler Einreisemöglichkeiten müssen viele von ihnen Interner Link: gefährliche Land- und Seewege Richtung Europa nutzen. Menschen können damit bereits weit außerhalb des EU-Territoriums der irregulären Einreise verdächtigt, möglicherweise festgenommen und zurückgeschoben werden. (Lokale) Menschrechts- und internationale Organisationen haben viele Fälle dokumentiert, in denen MigrantInnen in afrikanischen Transitstaaten misshandelt oder in der Wüste ausgesetzt wurden. Die meisten Menschenrechtsverletzungen geschehen jedoch verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit. So sind etwa der "Sklavenhandel" mit afrikanischen MigrantInnen sowie die desaströsen Zustände in libyschen Gefängnissen, die beim Gipfel der Afrikanischen Union und der EU in Abidjan Ende November 2017 für Verstörung sorgten, bisher einfach nicht in entsprechendem Maße an die Öffentlichkeit geraten. QuellentextDokumentation von Menschenrechtsverletzungen im Rahmen von Migration Während lokale Menschenrechtsorganisationen und JournalistInnen seit Jahren Fälle von Menschenrechtsverletzungen im Kontext von Migration dokumentieren und publizieren, tun dies internationale (Regierungs-)Organisationen erst seit kurzem. Seit 2016 erstellt das International Centre for Migration and Policy Development (ICMPD) die "Externer Link: Interactive Map on Migration" (i-Map) , um Migration, v.a. in Richtung Europa, aufzuzeichnen und damit Informationen zur Politikentwicklung zu generieren.Seit 2011 dokumentieren die "Regional Mixed Migration Secretariats" unter der Ägide des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) und in Zusammenarbeit mit der Internationalen Organisation für Migration, dem Dänischen Refugee Council, Save the Children und dem UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) die Migrationsrouten Richtung Europa in Ost-, West- und Nordafrika. Fußnoten Für Westafrika siehe Externer Link: http://westafrica.regionalmms.org/index.php (Zugriff: 21.12.2017). Für Ostafrika und Jemen siehe Externer Link: http://regionalmms.org/index.php (Zugriff: 21.12.2017). Wissenschaftliche Aufarbeitung u.a. von: Trauner, F./Deimel, S., The Impact of EU Migration Policies on African Countries – the Case of Mali; in: International Migration, 51 (4), August 2013, S. 20-32. Der italienische Journalist Fabrizio Gatti beschrieb in "Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa" basierend auf seinen Reisen bereits 2005/06 die unmenschlichen Zustände auf den Migrationsrouten durch die Sahara. Auch afrikanische Staaten, wie Angola, Gabun, Äquatorial-Guinea oder Nigeria, die nur indirekt unter dem Einfluss der EU-Externalisierungspraktiken stehen, tragen substanziell zu den massiven Abschiebungen in den letzten zwei Jahrzehnten bei, die seit der Unabhängigkeit dieser Länder stattfinden. Statistiken der Generaldelegation für Malier im Ausland beispielsweise schätzen, dass 91,8 Prozent aller Abschiebungen von Maliern zwischen 2002 und 2014 aus anderen afrikanischen Staaten erfolgten, verglichen mit 6,6 Prozent aus Europa. Die öffentliche, mediale, politische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Abschiebungen reicht oft nur bis an die Landesgrenze. Wenig ist bislang darüber bekannt, Interner Link: wie die Abgeschobenen in ihren Herkunftsländern mit der Erfahrung der Abschiebung umgehen, wie sie nach der Abschiebung leben und was mit den Gesellschaften geschieht, in die diese Menschen abgeschoben werden. Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Innerafrikanische Migrationen. Seit dem Vertrag von Amsterdam 1999 ist die EU mit den rechtlichen Kompetenzen ausgestattet, Migrations- sowie Rückübernahmeabkommen mit Drittstaaten zu schließen. Von Beginn an wurde dabei Migrationsmanagement an Handel und Entwicklungshilfe geknüpft und Migrations- sowie Rückkehrpolitik zunehmender Bestandteil der EU-Außenbeziehungen. Das politische Vorzeigeprojekt "Global Approach to Migration and Mobility (GAMM)" legte seit 2005 einen geographischen Schwerpunkt auf Afrika und den Mittelmeerraum, um Migration aus diesen Regionen besser zu steuern. Im Rahmen des Rabat- und des Karthum-Prozesses wurden (nicht-bindende) "Mobilitätsparterschaften" und "gemeinsame Absichtserklärungen" unterzeichnet, die einerseits eine restriktive Agenda legaler Einreisemöglichkeiten und andererseits v.a. die Rückkehr und Wiederaufnahme sogenannter irregulärer MigrantInnen umsetzen sollten. Die angesichts der "Flüchtlingskrise" entwickelte "Europäische Agenda für Migration" verbindet seit Mai 2015 noch stärker EU-Migrationsinnen- mit Außenpolitik. Neue "Migrations-Partnerschaften" insbesondere mit den Prioritätsländern Niger, Mali, Nigeria, Senegal und Äthiopien sollen Migration noch effektiver steuern; parallel betrifft das Nordafrika, v.a. Libyen, sowie Asien. Konkret bedeutet das v.a. die Zusammenarbeit im Grenzschutz, den Kampf gegen Menschenhandel und -schmuggel sowie im Rahmen der Rückkehr und Wideraufnahme irregulärer MigrantInnen eine verstärkte Zusammenarbeit mit der Interner Link: Internationalen Organisation für Migration (IOM) und dem UN-Flüchtlingshilfswerk Interner Link: UNHCR. In Bezug auf Rückübernahmeabkommen verfolgen die EU und ihre Mitgliedstaaten dabei einen zunehmend flexiblen Ansatz unterschiedlicher Rahmenverträge und Absichtserklärungen. Diese fordern weniger Verbindlichkeit von Kooperationspartnern und werden so den vielseitigen Interessen (auch in Bezug auf Widersprüche zwischen den Hoheitsrechten der EU sowie einzelner Mitgliedstaaten) gerecht. Gegebenenfalls sind sie leichter umzusetzen als formelle Abkommen. Abgesehen davon geht es bei Rückübernahmeabkommen häufig um Verhandlungsmasse bei umfassenderen Vereinbarungen, beispielsweise zu Energiesicherheit, Terrorismusbekämpfung, Grenz- oder Polizeikooperation. In den letzten Jahren ist so weltweit ein dichtes Netzwerk unterschiedlicher Rückübernahmevereinbarungen entstanden, die eine neue Dimension internationaler Zusammenarbeit zur erzwungenen Rückkehrmigration bedeuten. Der EU Emergency Trust Fund for Africa ergänzt die Europäische Agenda für Migration durch Maßnahmen für Arbeit, Bildung sowie humanitären Schutz für MigrantInnen sowie Maßnahmen zum Grenzschutz und zur Rückkehr und Reintegration von MigrantInnen im Herkunftsland. Mehr als bisher ist die europäische Agenda zudem an einen umfassenden externen Europäischen Investitionsplan (v.a. mit dem Ziel der "Bekämpfung" von Fluchtursachen) geknüpft. Ähnliche Investitionsmaßnahmen haben bislang aber kaum positive Auswirkungen in Herkunfts- und Transitländern von MigrantInnen erzielen können. Fußnoten Siehe Externer Link: https://ec.europa.eu/home-affairs/what-we-do/policies/international-affairs/global-approach-to-migration_en (Zugriff: 21.12.2017). Siehe Externer Link: https://ec.europa.eu/home-affairs/what-we-do/policies/european-agenda-migration_en (Zugriff: 21.12.2017). Konkret ist hier der Bereich Asylpolitik gemeint, die innerhalb der EU weiter harmonisiert werden soll, sowie die Entwicklung einer neuen Einwanderungs- und Arbeitsmigrationspolitik, z. B. durch die Anerkennung von in Drittstaaten erworbenen Berufsqualifikationen. Siehe Externer Link: http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-2072_en.htm (Zugriff: 21.12.2017). Vgl. Cassarino, Jean-Pierre; Guiffré, Mariagiulia, Finding its Place in Africa: Why the EU opted for flexible arrangements on readmission? FMU Policy Brief Nr. 01/2017 (1. Dezember 2017). Externer Link: http://www.nottingham.ac.uk/hrlc/documents/pb-1-finding-its-place-in-africa.pdf (Zugriff: 21.12.2017). Siehe Externer Link: https://ec.europa.eu/europeaid/regions/africa/eu-emergency-trust-fund-africa_en (Zugriff: 21.12.2017). Externer Link: https://eeas.europa.eu/sites/eeas/files/factsheet_migration_partnership_framework_update13_12_2016.pdf (Zugriff: 21.12.2017). Siehe Externer Link: https://ec.europa.eu/home-affairs/what-we-do/policies/international-affairs/global-approach-to-migration_en (Zugriff: 21.12.2017). Siehe Externer Link: https://ec.europa.eu/home-affairs/what-we-do/policies/european-agenda-migration_en (Zugriff: 21.12.2017). Konkret ist hier der Bereich Asylpolitik gemeint, die innerhalb der EU weiter harmonisiert werden soll, sowie die Entwicklung einer neuen Einwanderungs- und Arbeitsmigrationspolitik, z. B. durch die Anerkennung von in Drittstaaten erworbenen Berufsqualifikationen. Siehe Externer Link: http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-2072_en.htm (Zugriff: 21.12.2017). Vgl. Cassarino, Jean-Pierre; Guiffré, Mariagiulia, Finding its Place in Africa: Why the EU opted for flexible arrangements on readmission? FMU Policy Brief Nr. 01/2017 (1. Dezember 2017). Externer Link: http://www.nottingham.ac.uk/hrlc/documents/pb-1-finding-its-place-in-africa.pdf (Zugriff: 21.12.2017). Siehe Externer Link: https://ec.europa.eu/europeaid/regions/africa/eu-emergency-trust-fund-africa_en (Zugriff: 21.12.2017). Externer Link: https://eeas.europa.eu/sites/eeas/files/factsheet_migration_partnership_framework_update13_12_2016.pdf (Zugriff: 21.12.2017). Während lokale Menschenrechtsorganisationen und JournalistInnen seit Jahren Fälle von Menschenrechtsverletzungen im Kontext von Migration dokumentieren und publizieren, tun dies internationale (Regierungs-)Organisationen erst seit kurzem. Seit 2016 erstellt das International Centre for Migration and Policy Development (ICMPD) die "Externer Link: Interactive Map on Migration" (i-Map) , um Migration, v.a. in Richtung Europa, aufzuzeichnen und damit Informationen zur Politikentwicklung zu generieren.Seit 2011 dokumentieren die "Regional Mixed Migration Secretariats" unter der Ägide des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) und in Zusammenarbeit mit der Internationalen Organisation für Migration, dem Dänischen Refugee Council, Save the Children und dem UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) die Migrationsrouten Richtung Europa in Ost-, West- und Nordafrika. Fußnoten Für Westafrika siehe Externer Link: http://westafrica.regionalmms.org/index.php (Zugriff: 21.12.2017). Für Ostafrika und Jemen siehe Externer Link: http://regionalmms.org/index.php (Zugriff: 21.12.2017). Wissenschaftliche Aufarbeitung u.a. von: Trauner, F./Deimel, S., The Impact of EU Migration Policies on African Countries – the Case of Mali; in: International Migration, 51 (4), August 2013, S. 20-32. Der italienische Journalist Fabrizio Gatti beschrieb in "Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa" basierend auf seinen Reisen bereits 2005/06 die unmenschlichen Zustände auf den Migrationsrouten durch die Sahara. Für Westafrika siehe Externer Link: http://westafrica.regionalmms.org/index.php (Zugriff: 21.12.2017). Für Ostafrika und Jemen siehe Externer Link: http://regionalmms.org/index.php (Zugriff: 21.12.2017). Wissenschaftliche Aufarbeitung u.a. von: Trauner, F./Deimel, S., The Impact of EU Migration Policies on African Countries – the Case of Mali; in: International Migration, 51 (4), August 2013, S. 20-32. Der italienische Journalist Fabrizio Gatti beschrieb in "Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa" basierend auf seinen Reisen bereits 2005/06 die unmenschlichen Zustände auf den Migrationsrouten durch die Sahara. Siehe Externer Link: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/merkel-kuendigt-nationale-kraftanstrengung-bei-abschiebungen-an-14611483.html (Zugriff: 21.12.2017). Siehe Externer Link: https://www.zdf.de/nachrichten/heute/de-maiziere-verteidigt-sammelabschiebung-von-afghanen-100.html (Zugriff: 21.12.2017). Siehe Nyers, Peter, Migrant Citizenships and Autonomous Mobilities; in: Migration, Mobility, & Displacement, 1(1) 2005, S. 23-39 sowie De Genova, Nicholas und Peutz, Natalie, The Deportation Regime: Sovereignty, Space, and the Freedom of Movement. Durham, NC, 2010. Siehe Externer Link: https://www.dhs.gov/immigration-statistics/yearbook/2015/table39 (Zugriff: 21.12.2017); vgl. dazu auch Kanstroom, Daniel, Deportation Nation. Outsiders in American History, Harvard University Press 2010. Für Deutschland und Europa siehe Externer Link: http://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/show.do?dataset=migr_eirtn&lang=de (Zugriff: 21.12.2017). Im Jahr 2016 setzten sich diese Zahlen aus etwa 25.000 Abschiebungen und etwa 54.000 "freiwilligen Ausreisen" zusammen, was in der Gesamtschau eine andere Zahl ergibt als die EU-Statistik. Dabei ist die Rückkehr-Praxis je nach Bundesland sehr unterschiedlich: Einige Bundesländer bevorzugen freiwillige Rückreisen, während andere tendenziell mehr Menschen abschieben. Der Mediendienst Integration bietet hierzu mehr Hintergrundinformationen: Externer Link: https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/abschiebungen.html (Zugriff: 20.02.2018). Gibney, M.J., Asylum and the Expansion of Deportation in the United Kingdom. Government and Opposition, 43 (2) 2008, S. 146-167. Siehe dazu Externer Link: https://www.zdf.de/nachrichten/heute/zdfexklusiv-recherche-die-abschiebe-illusion-zahl-der-100.html (Zugriff: 21.12.2017) oder Externer Link: http://www.dw.com/de/pew-studie-die-wenigsten-werden-abgeschoben/a-40632437 (Zugriff: 21.12.2017). Im zweiten Halbjahr 2017 beauftragte die Bundesregierung die Beraterfirma McKinsey, um dieses "Problem" zu lösen. Sie schlug einen 14-Punkte-Plan für eine "konsequentere Rückführung" von abgelehnten Asylbewerbern vor. Siehe Externer Link: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/mckinsey-studie-abschiebetipps-von-der-consulting-firma-a-1124326.html (Zugriff: 21.12.2017). Siehe Externer Link: https://mediendienst-integration.de/artikel/gibt-es-zu-wenige-abschiebungen-abgelehnte-asylbewerber-ausreisepflichtige.html (Zugriff: 21.12.2017). Für mehr Informationen siehe Externer Link: http://www.migrationsrecht.net/nachrichten-auslaenderrecht-europa-und-eu/1843-rueckuebernahmeabkommen-eu-assoziierungsabkommen.html (Zugriff: 21.12.2017) sowie das umfassende Verzeichnis formeller (standard) und flexibler (non-standard) Rückübernahmeabkommen erstellt durch den Politikwissenschaftler Jean-Pierre Cassarino: Externer Link: http://www.jeanpierrecassarino.com/datasets/ra/ (Zugriff: 21.12.2017). Siehe dazu beispielsweise: Externer Link: http://www.migazin.de/2017/12/12/scharfe-kritik-amnesty-eu-stopp/ (Zugriff: 20.02.2018); https://www.medico.de/kritik-an-eu-afrika-gipfel-in-abidjan-16896/ (Zugriff 20.02.2018). Für einen detaillierteren Überblick siehe De Haas, Hein/Flahaux, Marie-Laurence, African Migration: Trends, Patterns, Drivers, Comparative Migration Studies, 2016. Externer Link: https://comparativemigrationstudies.springeropen.com/articles/10.1186/s40878-015-0015-6 (Zugriff: 21.12.2017). Der Historiker Daouda Gary Tounkara z.B. vergleicht die heutige Abschiebepraxis Nigerias im "Kampf gegen den Terrorismus von Boko Haram" mit den massiven Ausweisungen von 1983 im Zuge der nigerianischen Wirtschaftskrise ("A Reappraisal of the Expulsion of Illegal Immigrants from Nigeria in 1983"; in: International Journal of Conflict and Violence". Externer Link: http://ijcv.org/index.php/ijcv/article/view/477 [Zugriff: 21.12.2017]), während die Anthropologin Sylvie Bredeloup die innerkontinentalen Abschiebungen von WestafrikanerInnen insbesondere seit den afrikanischen Unabhängigkeiten zusammenfasst: Tableau Synoptique. Expulsions des ressortissants ouest-africaines au sein du continent africain; in: Mondes en Developpement, 23, 1995, S. 91. Externer Link: http://horizon.documentation.ird.fr/exl-doc/pleins_textes/divers17-08/010009204.pdf (Zugriff: 21.12.2017). Document de Politique National de Migration 2015, S. 54. Externer Link: http://www.maliens-exterieur.gouv.ml/docs/Brochures_Politiques.pdf (Zugriff: 21.12.2017).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-11-17T00:00:00"
"2018-03-06T00:00:00"
"2021-11-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/265839/zurueck-auf-los-abschiebungen-als-teil-der-europaeischen-migrationskontrollpolitik-in-afrika/
Deutschland und andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union schieben abgelehnte AsylbewerberInnen verstärkt in ihre Herkunftsländer ab. Auf Druck der EU tun Drittstaaten dies ebenfalls. Für den afrikanischen Kontinent bedeutet das einen starken Ans
[ "Innerafrikanische Migration", "Abschiebungen", "Drittstaaten", "EU-Grenze" ]
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"Eines der üblichen und häufigsten Missverständnisse ist, dass jeder Mensch seine bestimmten Eigenschaften habe, dass der eine Mensch gut sei, ein anderer schlecht, klug, dumm, energisch, apathisch usw. So sind die Menschen nicht. Die Menschen sind wie Flüsse: Das Wasser ist überall genau gleich, aber einige Flüsse sind schmal, andere breit, einige fließen schnell, andere langsam, einige Flüsse sind klar und kalt, andere trüb und warm. So ist es auch mit den Menschen. Jeder Mensch trägt in sich den Keim aller menschlichen Eigenschaften und zeigt bald diese, bald die andere, und oft geschieht es, dass ein Mensch nicht einmal sich selbst gleicht, obwohl er die ganze Zeit ein und derselbe bleibt." Der russische Dichter und Religionsphilosoph Lew Tolstoj wählt den Vergleich von Flüssen und Menschen nicht von ungefähr: Der Lauf eines Flusses – von der Quelle bis zur Mündung – unterliegt wie der Lauf des menschlichen Lebens – von der Geburt bis zum Tod – Veränderungen, die oft nicht vorhersagbar sind. Auch Thomas von Aquin stellte den Zusammenhang zwischen Natur, Mensch und dem Kreislauf der Dinge her. Das menschliche Dasein vergleicht der Scholastiker mit dem Lauf von Flüssen. In den Worten "Die Flüsse kehren zum Ort ihres Ursprungs zurück" machte Thomas von Aquin das Mysterium der Inkarnation als Kern des christlichen Glaubens aus. Der Ort, in dem die Flüsse entspringen, ist Gott selbst. Nach von Aquin sind die Flüsse von Gott gegebene Natürlichkeiten, die den Menschen "Sein", "Denken" und "Leben" vermitteln. Alles Leben erscheint dabei im Fluss und bildet einen Kreislauf. Göttlicher Fluss und sentimentaler Fluss Flüsse sind seit jeher fester Bestandteil menschlicher Glaubensvorstellungen – aber auch Gegenstand von Konflikten und Bedrohungen. Schon die Bibel erwähnt die Auseinandersetzungen der Israeliten mit ihren Nachbarvölkern um Wasser. Wasser war aber auch gefährlich: Bei starken Regenfällen füllten sich die trockenen Flusstäler und rissen alles mit sich. Nach der Genesis förderten Überschwemmungen an Nil, Euphrat und Tigris das Wachstum der für den Menschen nutzbaren Vegetation und Fauna. In den Versen 20 und 21 der Genesis I heißt es: "Es wimmelte im Wasser von lebendigem Getier… Und Gott sah, dass es gut war." Die Tradition der religiösen Verehrung von Flussgottheiten spiegelt sich in der nationalen Denkmalkultur des 19. Jahrhunderts wider. Am Berliner Neptunbrunnen stellen neben Rhein und Elbe auch Oder und Weichsel personifizierte Flussgöttinnen dar. Die Namen der beiden Flüsse Oder/Odra und Weichsel/Wisła sind im deutschen wie polnischen weiblich, während sich mit dem Rhein eine Vatergestalt verbindet. Personifizierte Flussgottheiten unterliegen einer dauerhaften Mythologisierung. Von einer "sentimentalen Intention", die sich mit großen Flüssen verbindet, spricht der polnische Historiker Stanisław Gierszewski, denn seit Jahrhunderten betrachtet der Mensch den Fluss als "Leben spendende Wasserader". Auch für die Menschen hatte der Fluss eine symbolische Bedeutung, wurde er doch zum Gegenstand zahlreicher Legenden, Erzählungen und ‒ mit den großen Vertreibungen des 20. Jahrhunderts – auch autobiografischer Berichte. Gierszewski sieht in einem solchen narrativen Raum den "volkstümlichen Charakter" eines Flusses. Die Konnotation des Volkstümlichen hat sich durch die nationalistischen Volkstumsbewegungen in Deutschland, Polen und Litauen sowie durch die Erfahrungen mit dem Totalitarismus ins Gegenteil verkehrt – ursprünglich war mit dem Volkstümlichen bäuerliche Alltagskultur gemeint. Das wirft die Frage auf, welche Spuren die Flüsse in der Erinnerung der Menschen hinterlassen haben, jenseits des ideologisch aufgeladenen Nationsbegriffes. Alltagskultur und Heimat am Fluss Die Niederungslandschaft zwischen Oder, Weichsel und Memel ist durch die deutsch-polnisch-litauische Grenzkultur geprägt. Naturräumlich gesehen bilden diese Ströme und ihre zahlreichen Nebenflüsse ein Netzwerk in der Landschaft. Auch in kultureller Hinsicht zeigen sich fließende Übergänge, die jedoch durch die nationale Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts verschüttet wurden. Der Fluss war für die Menschen, ungeachtet der ethnischen Vielfalt, in erster Linie Heimat. Im Umgang mit der natürlichen Ressource entwarfen sie Überlebensstrategien, die sich nicht sehr voneinander unterschieden. Gerade das Leben von Polen, Deutschen und Litauern in einer gemeinsamen Flusslandschaft, das weitgehend agrarisch geprägt war, weist auf die bisher kaum beachteten transnationalen Facetten des Alltagslebens. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden die Bilder vom Fluss und seiner Anwohner von der Heimatliteratur aufgegriffen. Für den westpreußischen Schriftsteller Oskar Loerke (1884-1941) symbolisiert der Strom (hier die Weichsel) in seiner Naturmächtigkeit das "Überzeitliche", das – wie in seinem Gedichtzyklus Pansmusik ‒ nationale und kulturelle Grenzen überwindet. In Pansmusik hat Loerke seine Kindheitserinnerungen an die polnischen Holzflößer auf der Weichsel verarbeitet. Schließlich wird in den Gedichten Weichselfahrt und Graudenz die Fahrt auf dem Strom zu einem Dahinfließen in einen metaphysischen Raum. Die Topografie bleibt nebulös, die historische Wirklichkeit wird nur in Umrissen gezeichnet. Ziel ist es, einen historischen Erinnerungsraum über die Zeitlichkeit hinaus zu schaffen. Einen ähnlichen – allerdings rein nationalen – historischen Erinnerungsraum schuf der polnische Schriftsteller Stefan Żeromski in seinem 1922 erschienenen Werk Wiatr od morza (Wind vom Meer). In dem entwirft er in mehreren Erzählungen eine polnisch geprägte Flusslandschaft in Ostmitteleuropa zwischen Oder und Weichsel – und thematisierte dabei gleichzeitig das Jahrhunderte alte Trauma der polnischen Nation, zwischen den beiden mächtigen Nachbarn Deutschland und Russland bestehen zu müssen. Żeromski traf bei seiner Fahrt nach Danzig den Zeitgeist einer polnischen Leserschaft, die sich im wiedererstandenen Polen der Zwischenkriegszeit nach den alten slawischen Gebieten im Westen sehnte. Żeromskis Motiv der Flusslandschaft als Ort des polnischen Märtyrertums findet sich auch in Der getreue Strom (Wierna rzeka) von 1912, ein Roman, in dem der polnische Aufstand von 1863 im Weichselland gegen die russische Besatzungsmacht zum Sujet wurde. Das Trauma der polnischen Teilungen, dass sich in der Flusslandschaft widerspiegelt, zeigt die tiefe Verletzungen und die Verwundbarkeit auf. Verlust von Heimat erhält eine ästhetische Repräsentation in Flussbildern. Flüsse werden zu Kulturlandschaften Zu Recht spricht Uwe Rada davon, die ostmitteleuropäischen Flusslandschaften aus der Ecke des Revanchismus, aber auch der Folklore und Tradition herauszuholen und sie zu einem Feld der kulturellen Begegnung zwischen Deutschen und den Völkern Ostmitteleuropas zu machen. Die Literatur kann dabei helfen. Flussmotive wurden von Dichtern und Schriftstellern ‒ sei es Theodor Fontane oder Oskar Loerke ‒ aufgenommen, um nach den Quellen nationaler Kultur zu fragen. Es waren die Fragen nach dem Woher, das heißt der Vergangenheit, dem Ursprung einer Nation, und dem Wohin, der Zukunft einer Nation. Diese Fragen waren oft von Brüchen gekennzeichnet ‒ wie gerade die Revanchismusdebatte im Verhältnis der ostmitteleuropäischen Nationen zeigte. Doch die Flüsse richteten den Blick auch auf die gemeinsamen Quellen, dem gemeinsamen Woher und Wohin. Eine Fragestellung die angesichts der EU-Osterweiterung und der touristischen Erschließung der ostmitteleuropäischen Niederungslandschaften nichts an Aktualität verloren hat. Das gemeinsame Woher und Wohin lässt sich in die vornationale Zeit, bis ins Mittelalter verfolgen. Seit dem frühen Mittelalter waren die Niederungslandschaften Ostmitteleuropas zwischen Oder, Weichsel und Memel einem Landesausbau deutscher, slawischer sowie westeuropäischer Siedler unterworfen. Landesausbau bedeutet nach der neueren Forschung die Umwandlung einer Natur- zu einer Kulturlandschaft, wie wir sie für das mittelalterliche Ostmitteleuropa, aber auch andere Flusslandschaften Europas ausmachen können. Seit dem Mittelalter wurde das komplexe Ökosystem der ostmitteleuropäischen Flussniederungen sukzessiv in eine Kulturlandschaft umgewandelt. Die Erschließung folgte entlang der Flüsse und wurde von einer breit angelegten Urbarmachung, zu der natürlich auch die Eindeichung gehörte. "Lebenswelt“ im europäischen Osten Nach dem Soziologen Alfred Schütz liegt die positive Symbolik des Begriffes "Lebenswelt" in der gelungenen Kommunikation zwischen Individuen, Gruppen und Völkern. Dies trifft auf den europäischen Landesausbau und die Ökonomisierung der ostmitteleuropäischen Flusslandschaft in der vornationalen Zeit zu. Die Siedler stammten von der Elbe, dem unteren Rhein, aber auch aus Holland und Flandern. Es entstand quasi eine europäische Kulturlandschaft von der Maas, dem Rhein bis an die Memel. Diese Flüsse wurden zu Arterien der europäischen Geschichtslandschaft. Auch die Städte besaßen ein europäisches Gepräge. Zwar herrschte deutsches Stadtrecht, doch es wohnten und handelten hier nicht vorwiegend deutsche Bürger, wie die ältere Forschung lange Zeit behauptet hat. So waren etwa polnische Kaufleute im Weinhandel aktiv und handelten mit Litauen, Ungarn und Russland im Osten sowie mit Holländern und Flamen im Westen. Marcell Sebök hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die deutsche Historiografie lange Zeit den Anteil anderer Europäer, wie zum Beispiel der Holländer und Flamen, an der Ostsiedlung heruntergespielt und statt dessen einseitig die deutschen Kulturleistungen hervorgehoben habe. Die holländische Zuwanderung erfolgte vor allem während des Dreißigjährigen Krieges. In den Weichselniederungen siedelten sich Mennoniten aus den Niederlanden an; sie legten im Weichsel-Nogat-Delta und stromaufwärts bei Marienwerder, Graudenz, Kulm und Thorn zahlreiche neue Bauernhöfe an. Dabei wurde ihnen auch ein Sonderrecht zuteil, das „Holländerrecht”, nach dem sie ihre Grundstücke in Erbpacht besitzen und ihre Gemeindeangelegenheiten selbständig regeln konnten. Noch im 19. Jahrhundert machte sich in den Weichselniederungen der niederländisch-mennonitische Einfluss an Tracht, Sitte und Häuserbau bemerkbar. Das Beispiel Oderbruch Die Landschaft des Interner Link: Oderbruchs war ähnlich wie die Weichselniederung durch Sümpfe und Moore, von verzweigten Flussarmen sowie von urwaldähnlichen Wäldern und sandigen Hügeln geprägt. Die erhöhten Flächen boten Schutz vor Überschwemmungen, und so entstanden auf ihnen die ersten Bruchdörfer – auch hier liegt eine auffällige Analogie zum Weichselwerder vor. Es handelte sich dabei um Rundlingsdörfer, die von aus Kuhmist, Abfall und Astwerk bestehenden Wasserwehren umgeben waren. Die Bruchdörfer waren untereinander nur mit dem Kahn zu erreichen, weil das Wasser jeden Weg fortspülte. Immer schon versuchten die Bewohner, die Flussnatur zu bändigen. Bereits im Mittelalter schütteten sie Wälle auf, allerdings nur mit zeitweiligem Erfolg. Vor den friderizianischen Meliorationen war Ackerbau im Oderbruch nur an den höher gelegenen Rändern möglich. Im Jahr 1717 war der neue Deich von Zellin bis Lebus fertig gestellt. Vor und hinter dem Damm pflanzte man je eine Reihe Kopfweiden. Durch die Trockenlegung des Oberoderbruchs, das sich ungefähr bis nach Groß Neuendorf erstreckt, gewann Friedrich Wilhelm I. 117.000 Morgen Ackerfläche. Aber was für das Oberoderbruch nützlich war, brachte für das ohnehin feuchte Niedere Oderbruch katastrophale Folgen: Der Fluss suchte sich an dieser Stelle eine Ausweichmöglichkeit und überschwemmte das Land. Die Konsequenz daraus war, dass auch das Niedere Oderbruch trockengelegt werden musste. Diese Maßnahme erfolgte unter Friedrich II. Zur Kultivierung wurden Kolonisten herangezogen. Dabei rekrutierte der König auch Einwanderer aus dem Ausland. Diese stammten unter anderem aus Schweden und Polen. Ähnlich wie im Mittelalter war die Erschließung und Landnahme der ostmitteleuropäischen Flusslandschaft ein gesamteuropäisches Phänomen, an dem Deutsche, Polen, Holländer und andere beteiligt waren. Nationale Konflikte spielten keine Rolle. Die Kultivierung des Oderbruches, als Prototyp, auch der Erschließung anderer Flüsse Ostmitteleuropas wie zum Beispiel der Lausitzer Neiße, der Netze, der Warthe, der Nogat und der Weichsel. Von der europäischen "Lebenswelt" zum nationalen "Lebensraum" Die Mündung der Weichsel kurz vor dem Stadtgebiet von Danzig. (© Inka Schwand) Mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts erfolgte ein extremer Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse, die vor allem die ländliche "Lebenswelt" erschütterte. Gleichzeitig schuf die Moderne die Nation und den Nationalismus. So wurde in Preußen der friderizianische Gedanke der "inneren Kolonisation" wieder aufgenommen, jedoch mit einer anderen Zielsetzung. Dies galt vor allem für die Provinzen Posen und Westpreußen, wo die verstärkte staatliche Ansiedlung von deutschen Erbpächtern aus nationalen, polenfeindlichen Überlegungen heraus gefördert wurde. Ziel war es,"das Vordringen des Polentums" einzudämmen. Im Gegensatz zu den preußischen Trockenlegungen des 18. Jahrhunderts waren die Ansiedlung und Förderung polnischer Kolonisten nicht mehr vorgesehen. An ihre Stelle traten west- und süddeutsche Ansiedler sowie Rückwanderer aus dem Zarenreich. Insgesamt wollte man den deutschen Anteil stärken: Die staatlicherseits geprägte Kolonisation war nun eindeutig deutsch geprägt. "Innere Kolonisation" war auch in den 1920er Jahren Thema der innenpolitischen Diskussion in der Weimarer Republik und erhielt mit dem Rückgriff auf die „deutsche Ostkolonisation“ im Mittelalter eine Scheinlegitimation. Die spätere Forschung in der Volksrepublik Polen nach 1945 sah in der "inneren Kolonisation" der Zwischenkriegszeit den Versuch, die polnische Bevölkerung zu verdrängen. Implizit weist der Historiker Matthias Weipert daraufhin, dass die Reagrarisierung und innere Kolonisation ländlicher Räume in der Weimarer Republik zugleich als Ausdruck einer Remilitarisierung im Zeichen der Nation zu verstehen waren. Im Diskurs um den "Agrarstaat" stellten die Landwirtschaft und der ländliche Raum die Basis für eine "wehrtüchtige" Gesellschaft dar. Die Entdeckung des agrarischen Osten diente als Projektionsfläche für die nach dem Ersten Weltkrieg verloren gegangene Weltgeltung des Deutschen Reiches. Der Schritt zu späteren Expansionsplänen der Nationalsozialisten, kulminierend im rassistischen Konzept des "Lebensraumes", war damit im Ansatz bereits gegeben. Flüsse als fremde Heimat und Neuanfang Nach Ende des Zweiten Weltkrieges stand auch in den neu gegründeten sozialistischen Gesellschaften der DDR und der Volksrepublik Polen die Gestaltung von Großräumen im Vordergrund – im Staatssozialismus wurden Boden und Wasser als natürliche "Produktionsmittel" angesehen. Den Raumplanern ging es um die agrarische Flächennutzung im großen Maßstab, also wurden in den 1960er Jahren erneut Meliorationsarbeiten durchgeführt. Gleichzeitig wurde der größtenteils noch verminte Ackerboden wieder nutzbar gemacht. Das war vor allem das Werk der Flüchtlinge und Vertriebenen. So wurden die Flusslandschaften zur Metapher des Neuanfangs und des Aufbruchs in eine sozialistische Zukunft – in der Interner Link: DDR wie in der Volksrepublik Polen. Die Aneignung der sozialistischen Flusslandschaft durch die Umsiedler war allerdings ein schwieriger Prozess. Die dauernde Unsicherheit, ob die neue Heimat auch tatsächlich dauerhaft und eine Rückkehr in die alte Heimat ausgeschlossen sei, führte zu einer zögerlichen Verwurzelung. Von einer "Landnahme" konnte man schwerlich sprechen. Aufschlussreich ist, dass die polnischen Umsiedler die ökologisch-physiographische Umwelt der Niederungslandschaft Oder nicht als fremd empfanden, wohl aber die kulturelle, die die Deutschen hinterlassen hatten. Nicht die physiographische Natur, sondern die kulturelle Konnotation mutete den Umsiedlern unpolnisch an. Im Frühjahr und Sommer 1945 kam der Plan der Ansiedlung von polnischen Wehrbauern an der Oder und Neiße auf: Demobilisierten polnischen Soldaten und ihren Familien wurden Höfe in Aussicht gestellt, um − wie es national-patriotisch hieß – den starken polnischen Geist auszustrahlen. In einer Proklamation der polnischen Volksarmee vom April 1946 hieß es: "In den westlichen Gebieten der Rzeczpospolita, von den Quellen der Lausitzer Neiße bis zu den graublauen Wellen der Ostsee, steht eine treue Wache – der polnische Soldat. Vor einem Jahr donnerten hier die Geschütze, brannten Siedlungen und Wälder, die Straßen waren erfüllt vom Knirschen der Raupenketten. Die polnische I. und II. Armee befreiten die uralten Piastenlande aus der jahrhundertelangen deutschen Gefangenschaft. In Oder und Neiße fließen Heldenblut zur Ostsee. (…) Heute ist an der Westgrenze Polens ein Damm der Polonität gewachsen und erstarkt − das Militärsiedlungswesen. Die Körper der Gefallenen zeugen besser als alle Grenzpfähle von unseren Rechten auf die Grenze an Oder, Neiße und Ostsee. Und es zeugt von der Arbeit des polnischen Bauern und Arbeiters. Schon zum zweitenmal innerhalb eines Jahres ackert und sät der Soldatensiedler in den Wiedergewonnenen Gebieten." Hier wurden Oder und Neiße als historisch gewachsene Wehrgrenze gegenüber dem ethnisch Fremden konstruiert. Die eigene Ethnizität (Polonität) erscheint als eine dem Deichwesen entlehnte Metapher (Damm), die die Flut des Deutschen zurückhalten soll. Ungeachtet der offiziellen Erklärung zur „sozialistischen Friedensgrenze“ im Verhältnis DDR – Volksrepublik Polen, betrachtete die polnische Regierung die Oder-Neiße-Grenze zugleich als militärische Sicherheitszone. Das änderte sich erst mit der Ost-West-Entspannung in den 1970er Jahren. Europäische Flusslandschaften Erst Anfang der 1970er Jahre kam es zu einem lebhaften Reiseverkehr – der europäische Entspannungsprozesses und die Ostverträge der Bundesrepublik Deutschland haben es möglich gemacht. Auch in der Frage der Oder-Neiße-Linie setzte eine Entspannung im deutsch-polnischen Verhältnis ein. Zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen wurde eine grenzüberschreitende technologische Zusammenarbeit zur Erschließung der Niederungslandschaft an der Oder vereinbart. Im September 1974 trat die "Ständige Kommission Infrastruktur Oder-Neiße des Wirtschaftsausschusses DDR/VRP" ins Leben. Die Implentierung einer effizienten Wasserwirtschaft wurde zum Leitfaden des "sozialistischen Aufbaus" in beiden Ländern. Neben der beiderseitigen Nutzung des Oderwassers für die Landwirtschaft sollten die Wasserversorgung, die Abwasserentsorgung, die Kontrolle der Grundwasserstände in dem Niederungsgebiet sowie hydrologische Messungen gemeinsam geregelt werden. Das Prinzip Nachhaltigkeit stand dabei sowohl auf ostdeutscher als auch polnischer Seite bis in die späten 1980er Jahre nicht zur Debatte. Der exzessive Ausbau der chemischen Industrie (etwa in Schwedt an der Oder und Tarnówskie Góry) führte zu einer starken Gewässerbelastung. Allein auf polnischer Seite werden die Sanierungskosten heute auf zwei Milliarden US-Dollar beziffert. Der militär- und sicherheitspolitische Duktus der polnischen Westforschung, insbesondere im Hinblick auf die Oder-Neiße-Grenze, verlor sich endgültig mit den Verträgen zwischen dem wiedervereinigten Deutschland und Polen in den Jahren 1990 und 1991. So gehört die Heimat Fluss wieder allen. Flüsse als nationale Grenzen haben gegenüber dem Verbindenden an Bedeutung verloren. Die ostmitteleuropäische Flusslandschaft der Oder ist zu einer "Euroregion" geworden. Allerdings lässt die Erweiterung der Europäischen Union weiter östlich neue Grenzlandschaften entstehen. Die Mündung der Weichsel kurz vor dem Stadtgebiet von Danzig. (© Inka Schwand)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-12-09T00:00:00"
"2012-05-14T00:00:00"
"2021-12-09T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europaeische-geschichte/geschichte-im-fluss/135928/heimat-fluss/
Das Leben am Fluss hat die Menschen im östlichen Mitteleuropa geprägt. Oder, Weichsel und Memel waren Lebensader und Handelsraum für Deutsche, Polen und Litauer. Im gemeinsamen Europa knüpft man wieder an das unmittelbare Verhältnis von Mensch und Fl
[ "Fluss", "Mitteleuropa", "Oder", "Weichsel", "Memel", "Nationalität", "Polen", "Litauen" ]
30,331
Hannes Loh und Stephan Versin, Gangsta-Rap und Ethik | Fachtagung: "Streiten lernen. Wer streitet mit wem und wie?" | bpb.de
Zum Auftakt der Tagung verhandelten Hannes Loh, der sich seit 30 Jahren mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Deutschrap beschäftigt und heute als Lehrer arbeitet, und Stephan Versin, der als Philosophie- und Geschichtslehrer tätig ist, den Zusammengang von pädagogischen Streitformen und dem subkulturellen Phänomen Gangsta-Rap. In ihrer Diskussion, die performativ als Streitgespräch konzipiert war, machten Loh und Versin anhand verschiedener Beispiele rassistische, sexistische und verletzende Rede im Rap sichtbar, um sie gemeinsam mit den Teilnehmenden zu reflektieren. Am Beispiel eines provokanten Videos des Frankfurter Rap-Künstlers Haftbefehl nahmen Loh und Versin dafür verschiedene pädagogische Perspektiven auf die gezeigte Vulgarität und Gewaltverherrlichung ein. Vor dem Hintergrund der Frage "Ist das Kunst oder kann das weg?" bemerkte Versin, dass das Video schlichtweg inakzeptabel sei, weil es Aggressionen provoziere. Loh, der in den 1990er Jahren selbst mit Anarchist Academy szeneweit als Rapper bekannt war, erwiderte hingegen, dass er Haftbefehl durchaus künstlerisches Potenzial zusprechen wolle, weil die Einbindung von Rotwelsch-Begriffen und Phrasen aus dem Jiddischen lyrisch interessant seien und von Kreativität zeugen. Gemeinsam mit den Teilnehmenden diskutieren Loh und Versin, bis zu welchem Punkt Gangsta-Rap sich noch im Feld der künstlerischen Freiheit bewege und ab wann Rap-Musik als gewaltverherrlichende Handlungsanweisung agiere. Die Teilnehmenden waren sich dabei weitegehend einig, dass in dem Moment in dem Jugendliche ohnehin mit dem subkulturellen Phänomen Rap konfrontiert seien, die pädagogische Reflexion darüber auch im Unterricht stattfinden müsse. "Wir müssen darüber reden, wie Berliner Mädels sich die Kunst erobern." Anhand eines weiteren Videos des weiblichen Berliner Rap-Duos SXTN erklärte Loh, Rap sei als Jugendphänomen eng mit Milieu-Fragen verknüpft und könne deshalb durchaus auch ein Ausdruck von Empowerment insbesondere für junge Frauen darstellen. Loh pointierte: "Wir müssen darüber reden, wie Berliner Mädels sich die Kunst erobern". Zentral für die pädagogische Diskussion über Rap sei die Tatsache, dass die HipHop-Kultur bei Jugendlichen aus ganz unterschiedlichen individuellen Lebenswirklichkeiten beliebt sei. Gangsta-Rap finde Loh zufolge sowohl im bürgerlichen Reihenhaus als auch in sogenannten Problembezirken Anklang und sei deshalb ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Gefahr der Reproduktion diskriminierender Narrative Anhand weiterer Videos aus dem sogenannten Battle-Rap-Genre, in denen Rapper/-innen sich teilweise mit offen rassistischen und antisemitischen Äußerungen verbal angreifen, grif-fen die Referenten das Tagungsthema auf. Loh verdeutlichte, dass rassistische und antisemi-tische Äußerungen im Rap nur funktionieren, weil Rassismus und Antisemitismus in der Gesellschaft bereits offen zutage treten. Ziel der pädagogischen Arbeit sei es deshalb, Schüler/-innen für die Gefahr der Reproduktion von menschenverachtenden Narrative zu sensibilisieren. Loh und Versin zufolge gebe es durchaus Tabubrüche in Rap-Texten; insbesondere, wenn diese mit dem demokratischen Grundkonsens grundsätzlich konfligieren. Diese roten Linien gelte es transparent zu machen, indem man nicht über, sondern mit den Jugendlichen spreche. Den Referenten zufolge sei dabei jedoch zu beachten, dass im Rap die Form über dem Inhalt stehe. Versin brachte diese Herausforderung für Pädagog/-innen und Lehrkräfte auf den Punkt: "Was ist aber, wenn der mit den menschenverachtenden Texten der bessere Rapper ist?" Nach Meinungen der Teilnehmenden stoße die Reflexion im Unterricht über das Format Battle-Rap hier auf einen kritischen Punkt. Kontroversität statt Konsens Zum Abschluss der gemeinsamen Diskussion einigten sich die Referenten und Teilnehmenden auf Potenziale, die die Reflexion über Rap im Unterricht haben könne: Aus einem philosophischen Blickwinkel sei klar, dass Sprache Bewusstsein forme und die Diskussion über Rap eine Möglichkeit sein könne, Schüler/-innen dafür zu sensibilisieren. Die Reflexion über Jugendkultur diene hier der Begriffsschärfung und Kennzeichnung von verletzender, rassistischer und antisemitischer Rede. Außerdem produziere die Auseinandersetzung mit Rap-Texten Kontroversität und Widerspruch statt Konsens, was – wie der weitere Verlauf der Tagung deutlich machte – für eine Demokratie prinzipiell erstrebenswert ist. Darüber hinaus bekräftigte Loh, dass die pädagogische Bearbeitung von Jugendkultur im Unterricht das Potenzial bürge, Bezugspunkte zur historischen und kulturellen Bildung zu finden. Als Beispiel nannte er eine Diskussion mit seinem Geschichtsleistungskurs, in der er gemeinsam mit den Schüler/-innen antisemitische Videos des Rap-Künstlers Kollegah diskutierte, um Beziehungen zur NS-Symbolik sichtbar zu machen und in das Unterrichtsthema Nationalsozialismus und Shoa einzuführen. In diesem Zusammenhang wiesen die Referenten darauf hin, dass es für die kritische Bearbeitung und Reflexion von Phänomenen der Rap-Kultur im Unterricht kein Patentrezept gebe: Als Prüfstein zur Verwendung eines Rap-Videos im Unterricht müsse die didaktische Frage gestellt werden, ob das gezeigte Video antisemitische und rassistische Äußerungen aufgreife, mit denen die Schüler/-innen ohnehin bereits konfrontiert seien oder ob durch die Thematisierung solcher exkludierender Narrative antisemitische und rassistische Sprache unter den Schüler/-innen erst gefestigt und normalisiert werde. Loh erklärte zudem, dass es für eine gelungene pädagogische Reflexion unabdingbar sei, mit einem Schüler oder einer Schülerin, der/die aufgrund phänotypischer Merkmale von Diskriminierung betroffen (markiert) sein könnte, vorher abzusprechen, ob die Thematisierung eines brisanten Rap-Videos in Ordnung sei. Als Schlussplädoyer insistierten Loh und Versin, mit Gangsta-Rap müsse sich beschäftigt werden, weil er Teil einer milieuübergreifenden Jugendkultur sei. Dazu gehöre aber auch eine selbstkritische Perspektive: Nicht nur Pädagog/-innen, sondern die gesamte ältere Generation müsse sich die Frage stellen: "Was haben wir [Jugendlichen] für eine Gesellschaft gegeben, dass sie sich da ihren Kick holen?" von Niko Gäb Haftbefehl: Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=dDnhthI27Fg Rotwelsch ist ein Sammelbegriff für sondersprachliche Soziolekte marginalisierter sozialer Gruppen auf der Basis des Deutschen, wie sie seit dem späten Mittelalter besonders bei Bettlern, Vaganten und Vertretern sogenannten unehrlicher Berufe und in kriminellen Subkulturen in Gebrauch kamen. SXTN: Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=6zoX6Dknqis
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-14T00:00:00"
"2019-08-28T00:00:00"
"2022-01-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/295849/hannes-loh-und-stephan-versin-gangsta-rap-und-ethik/
Zum Auftakt der Tagung erörterten die Pädagogen und Didaktiker Hannes Loh und Stephan Versin, wie pädagogische Streitformen und das (sub-)kulturelle Phänomen Gangsta-Rap eigentlich zusammengehen.
[ "Fachtagung", "Philosophie", "Veranstaltungsdokumentation", "Gangsta-Rap und Ethik", "Rap" ]
30,332
Das Ende der Gewissheiten | Europäische Baustellen | bpb.de
London, Mitte Mai 2020: Das Wembley-Stadion ist geschlossen, und auch die Betonlandschaft rund um das englische Nationalstadion ist menschenleer. Statt dem üblichen Fluglärm erfüllt seit Wochen vor allem Vogelgezwitscher die Luft. Hier sollte eigentlich am 12. Juli das Finale der Fußball-Europameisterschaft stattfinden. Doch selbst wenn die berühmte Kurve der Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus bis dahin ihren Höhepunkt erreicht haben und sich endlich nach unten neigen sollte, ist längst entschieden: Die EM wird um ein Jahr verschoben. Aber auch 2021 dürfte das Turnier ein ganz anderes werden, als man sich ursprünglich gedacht hatte. Alles hängt von epidemiologischen Fakten ab, die derzeit noch keineswegs feststehen. Zugleich hält die britische Regierung noch immer an ihrer Fantasie vom zweiten diesjährigen Londoner Finale fest, nämlich dass die Übergangsphase bis zum endgültigen Brexit planmäßig am 31. Dezember 2020 enden muss. Die letzte Entscheidung darüber soll im Juni getroffen werden. Genau wie beim Fußball wird jedoch das Virus darüber bestimmen, was als nächstes geschieht. Im November 2018 gingen Experten der britischen Verwaltung davon aus, dass die britische Wirtschaft, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, durch einen Brexit ohne Abkommen mit der EU in 15 Jahren um 7,7 Prozent schrumpfen würde. Im Vergleich zur vermuteten Entwicklung mit einem Abkommen wäre das eine schlechte, aber keine katastrophale Perspektive, hieß es damals. Und sogar noch im März 2020 war vom britischen Rechnungshof zu hören, dass es durch Steueranreize und einen höheren Mindestlohn möglich wäre, in diesem Jahr ein Wirtschaftswachstum von 1,1 Prozent zu erreichen, trotz Coronavirus. Inzwischen haben wir alle Prognosen in den Wind geschlagen. Die Weltwirtschaft ist auf einer steilen Talfahrt. Zwar hat die britische Regierung 330 Milliarden Pfund für zinsgünstige Darlehen und unbegrenzte Mittel zur Aufstockung der Löhne von Arbeitern und Angestellten zugesichert, aber über das ganze Jahr gesehen könnte die britische Wirtschaftsleistung 2020 um sieben Prozent zurückgehen. Das fiskalische und geldpolitische Arsenal, das eigentlich für eine Krise nach einem harten Brexit gedacht war, ist längst überstrapaziert. Genau wie die Bestände an Masken und Medikamenten, die derzeit durch das Gesundheitsministerium verteilt werden, war es ursprünglich für einen harten Brexit gedacht. Schon für eine wachsende Wirtschaft wäre es ein perverser Akt der Selbstverletzung, freiwillig eine langfristige Wachstumseinbuße von sieben Prozent hinzunehmen. Dies sogar mit einer schrumpfenden Wirtschaft zu tun, die durch finanzielle Schockwellen akut gefährdet ist, grenzt an Wahnsinn. Doch genau das ist das Problem: Der Wahnsinn hat dieses Land inzwischen fest im Griff, und er wütet nicht nur in der politischen Klasse, sondern er hat auch große Teile der Bevölkerung erfasst. Premierminister Boris Johnson war davon ausgegangen, dass er durch die Abspaltung von der EU die Weltmärkte mit der Brechstange neu ordnen könne. Tatsächlich ist es nun ein Fledermausvirus, das diese Neuordnung in Angriff genommen hat, und wieder einmal ist das Schicksal des Vereinigten Königreiches wohl oder übel von der weiteren Entwicklung des europäischen Projekts abhängig. *** Der erste britische Covid-19-Fall wurde am 31. Januar 2020 diagnostiziert. Die erste Regierungserklärung zu dem Virus hörten wir am 3. März, nachdem Boris Johnson eine Sitzung des Zivilschutz-Krisenstabs COBRA geleitet hatte. Voller Stolz sagte er zu Journalisten: "Ich gebe Leuten die Hand. Ich war gestern Abend im Krankenhaus, da gab es wahrscheinlich Coronavirus-Patienten, und ich habe allen die Hand gegeben – und das werde ich auch weiterhin tun." Erst Tage später verstanden die Journalisten, dass die offiziellen Notfallpläne in ihrer farblosen Verwaltungssprache eine hoch umstrittene Strategie formulierten, die inzwischen als "Herdenimmunität" bekannt ist. Im Gegensatz zu den meisten anderen Staaten verfolgte Großbritannien nicht – wie von der Weltgesundheitsorganisation empfohlen – das Ziel, durch Tests und Kontaktnachverfolgung die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Stattdessen sollten sich nach und nach 60 bis 80 Prozent der Bevölkerung anstecken, wobei die Auslastung der Intensivstationen stets unterhalb der nationalen Kapazitätsgrenze bleiben sollte. Daher gab die Regierung zunächst keine klaren Anweisungen zum Abstandhalten (social distancing) heraus und empfahl lediglich bestimmten Geschäften die Schließung. Doch im Hintergrund tobten die Epidemiologen und Fachleute für öffentliche Gesundheit, die das Land mit dieser Strategie auf dem besten Weg in die Katastrophe sahen. Angesichts der Daten aus Italien kam ein Forscherteam des Imperial College London zu dem Schluss, dass die Beibehaltung dieses Kurses etwa 250.000 Britinnen und Briten das Leben kosten könnte. Ab dem 16. März kam dann die 180-Grad-Wende: Die Regierung schränkte die persönliche Bewegungsfreiheit massiv ein, zwang die meisten Unternehmen, zu schließen, und verzehnfachte die finanzpolitischen Unterstützungsmaßnahmen für die Wirtschaft. Angesichts der traditionellen Intransparenz britischer Regierungsführung sind diverse Theorien entstanden, warum Johnson erst so spät reagierte. Ich bin der Auffassung, die Weigerung des Premierministers, das neuartige Coronavirus effektiv zu bekämpfen, war eine direkte Folge seines Einsatzes für einen harten Brexit. Vor dem 3. März hatte Johnson das Coronavirus überhaupt nur zweimal erwähnt: in einer Nachricht an den chinesischen Botschafter und, weitaus bedeutender, am 3. Februar in einer Rede im ehrwürdigen Royal Naval College in Greenwich. In dem Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, das den Aufstieg Großbritanniens zur Weltmacht symbolisiert, hatte Johnson seine neue, umstrittene Brexit-Strategie skizziert: Vom Ziel, faire Wettbewerbsbedingungen (level playing field) mit der EU auszuhandeln, war nun keine Rede mehr; vom Tisch war auch die bisher erklärte Absicht, im Rahmen eines neuen Handelsabkommens eine gemeinsame Gerichtsbarkeit zu schaffen. Sollte der EU das nicht schmecken, wäre er bereit, am 1. Juli 2020 den Brexit ohne Deal einzuleiten und somit ab 2021 Handel nach Bedingungen der Welthandelsorganisation (WTO) zu treiben. Der Premierminister war offenbar zu der Überzeugung gelangt, dass die Konfrontation mit dem Europäischen Rat ihm nicht nur Argumente für einen harten Brexit liefern, sondern auch den ersten Schritt hin zu einer Neuordnung des Welthandels ermöglichen würde. "Wenn das Risiko besteht, das neuartige Seuchen wie das Coronavirus Panik auslösen und zu dem Wunsch führen, die Märkte in einer Weise zu trennen, die über das medizinisch begründbare Maß hinausgeht, ja sogar realen unnötigen wirtschaftlichen Schaden anrichtet, benötigt die Menschheit irgendwo auf der Welt eine Regierung, die sich zumindest mit Nachdruck für (…) das Recht der Völker dieser Erde einsetzt, ohne Einschränkungen miteinander Handel zu treiben." Das Vereinigte Königreich sei bereit, diese Rolle zu übernehmen, fuhr Johnson fort. Und um "unnötigen wirtschaftlichen Schaden" zu vermeiden, unterwarf er die britische Bevölkerung einer experimentellen Gesundheitspolitik, die – bis sie auf Anraten von Wissenschaftlern korrigiert wurde – das Potenzial barg, eine Viertelmillion Menschen zu töten. Die hastige und chaotische Umsetzung der Ausgangsbeschränkungen sowie das Konjunkturpaket, dessen Kosten bisher noch niemand berechnen kann, sind nur die unmittelbaren negativen Folgen. Auf lange Sicht werden der Wirtschaftseinbruch und die sich abzeichnende Fragmentierung des Welthandels auch die gesamte Brexit-Strategie von Boris Johnson über den Haufen werfen. Die Hard-Brexit-Drohung hätte nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn zugleich alle anderen Freihandelsabkommen und Handelsblöcke aufbrächen, über die WTO hinaus und einschließlich der EU. Als relativ unbedeutender geopolitischer Player wäre Großbritannien für die Durchsetzung eines solchen Ziels auf die Hilfe der US-Regierung angewiesen. Doch es ist inzwischen offensichtlich, dass die Krise den globalen Handel kurzfristig enorm beeinträchtigen wird: In ihrem schlimmsten Szenario geht die WTO für das laufende Jahr davon aus, dass der Welthandel um 32 Prozent schrumpft. Viel entscheidender ist jedoch etwas, das uns sämtliche Konjunktureinbrüche der Vergangenheit lehren: Selbst wenn das Wachstum wieder einsetzt, erholt sich dadurch noch lange nicht der Handel. Mittelfristig ist davon auszugehen, dass diese Krise auf allen Ebenen zu einer Neuordnung führt: Der Reiseverkehr wird sich verändern, ebenso die Lieferketten und der Grad an Offenheit der Märkte – all dies könnte das gesamte multilaterale System schwer beschädigen. Das neuartige Coronavirus ist weder ein Unglücksfall, den wir isoliert betrachten können, noch ein "exogener Schock": Im Zusammenspiel mit dem Klimawandel, den alternden Gesellschaften, der Globalisierung und der Unruhe auf den Finanzmärkten sollten wir es vielmehr als integralen Bestandteil einer allgemeinen Krise des Kapitalismus betrachten. *** Für mich begann die Lockdown-Phase schon vergleichsweise früh. Am Tag der Johnson-Rede in Greenwich verließ meine Frau nach einer Routineoperation das Krankenhaus, allerdings mit einem viralen Lungeninfekt, der sich zu einer Lungenentzündung auswuchs. Obwohl wir dreimal wegen ihrer Atembeschwerden in der Notaufnahme waren, wurde sie nie getestet – wir wissen also nicht, ob es sich um eine Infektion mit dem neuartigen Coronavirus handelte. Dafür wissen wir jetzt aber, wie es ist, eine halbe Stunde auf den Rettungswagen zu warten, während man kaum noch Luft bekommt. Während die Tragödie in China, Iran und Italien ihren Lauf nahm, entschieden wir, uns Lebensmittel nur noch liefern zu lassen. Wir ließen die alte Arbeitertradition wieder aufleben, einen Milchmann zu bestellen, der im Morgengrauen Eier, Brot, Milch und Joghurt an der Türschwelle abstellt. Wir fanden auch einen lokalen Metzger, der trotz der Gentrifizierung unseres Londoner Wohnviertels noch nicht aufgegeben hat und unsere Bestellungen aufnahm. Über unseren Köpfen wurde die Einflugschneise von Heathrow jeden Tag etwas leiser und das Gezwitscher etwas lauter. Neue Vogelarten tauchten auf: Ein Stieglitz kam in unseren winzigen Garten; über unseren Köpfen zog ein Sperber unverfroren seine Kreise – und das keine halbe Meile von Westminster. Bei einem Babyboomer wie mir weckte diese neue Langsamkeit und Stille vergessen geglaubte Erinnerungen. Denselben Effekt hatten die traditionellen englischen Gerichte, die ich plötzlich aß, und die Gesundheitshinweise der Regierung, die es in der Ära des schlanken Staates nicht mehr gegeben hatte. Während der zwei Wochen "Pseudo-Ausgangssperre" ab der zweiten Märzwoche wurden die Menschen aufgerufen, daheim zu arbeiten, doch die Pubs und Cafés in unserem Viertel waren voller junger Menschen mit Laptops. Sie genossen die unerhörte Langsamkeit dieser neuen Lebensweise, und unsere Nachbarn fingen wenig später an, uns frisch gebackenes Brot über den Gartenzaun zu reichen, für das wir uns mit Steckzwiebeln revanchierten. *** Doch schon bald sollte sich die Situation zuspitzen. Anfang April starben in Großbritannien erstmals mehr Menschen an einem Tag infolge einer Coronavirusinfektion als in Italien. Die Polizei begann, in den Parks Streife zu laufen und Sonnenanbeter heimzuschicken. Und der Premierminister, der sich selbst mit Covid-19 angesteckt hatte, musste für eine Woche auf die Intensivstation. Mit den gewohnten Freiheiten schienen auch die meisten volkswirtschaftlichen und weltpolitischen Gewissheiten zu schwinden. Sicher, sobald die Pandemie nachlässt, werden die Menschen auch eine Rückkehr zur "Normalität" fordern. Doch diese Normalität wird kaum wiederkommen, da diese Krise Teil etwas Größeren ist, das weit über Epidemiologie oder Volkswirtschaftslehre hinausgeht. Sowohl der Brexit als auch das europäische Projekt stehen vor einer ungewissen Zukunft. Der plötzliche Wegfall jeglicher physischen Interaktion kann die vorhandenen Probleme nur verschärfen. Auf der persönlichen Ebene erlebe ich, wie sich mein Kalender zu einer Art Mahnmal für all die ausgefallenen Reisen und Vorträge entwickelt. Videokonferenzen können das zwar auffangen, aber sie drehen sich zunehmend um innenpolitische Themen: um unsere Regierungskrise, die Notlage unseres Gesundheitswesens, die Zukunft der Labour Party, das Wohlergehen von Freunden und Familienmitgliedern. Paradoxerweise hat man selbst als Internationalist kaum noch Gründe, das grenzübergreifende Gespräch zu suchen, wenn man von überall doch nur hört: "Hier ist es genauso wie bei euch." Im Vereinigten Königreich ist die proeuropäische Linke politisch besiegt und die proeuropäische Mitte – außer in Schottland – regelrecht zerstört. Auch wenn sich die hinter einem harten Brexit stehende "Logik" derzeit in Luft auflöst: Die fremdenfeindlichen und autoritären Gefühle, die Boris Johnson in die Downing Street verhalfen, sind auch in der Coronakrise noch quicklebendig. Aus den kleinen Arbeiterstädten, in denen viele Wählerinnen und Wähler bei der Unterhauswahl im Dezember 2019 zu den Konservativen gewechselt sind, berichten Labour-Aktivisten von völlig anderen Reaktionen auf das Virus, als man sie in den Großstädten beobachten kann. Wenn Labour-Vertreter hier auf den katastrophalen Mangel an Tests und Schutzausrüstung hinweisen, werden sie beschuldigt, die Krise politisch auszuschlachten. Der jüngere, ethnisch buntere und besser ausgebildete Teil der Erwerbsbevölkerung in den Großstädten hingegen kritisiert die Regierung genau deshalb aufs Schärfste. Daher ist nicht damit zu rechnen, dass Keir Starmer, der neue Vorsitzende der Labour Party, Johnsons Strategie aktiv infrage stellen wird – eher wird er dabei zuschauen, wie sie sich durch die vom Premierminister gesetzten Fristen selbst ad absurdum führt. Unterdessen können die Euroskeptiker angesichts der unkoordinierten europäischen Antwort auf die Krise jubilieren: So gab es erneut Streit zwischen den EU-Mitgliedsländern über die Vergemeinschaftung von Schulden, die ungarische Regierung missachtet die rechtsstaatlichen Prinzipien der EU auf das Frechste, und Griechenland hat das Asylrecht vorübergehend aufgehoben. Jene Briten, die sich eine solide Beziehung zum Binnenmarkt, einheitliche Wettbewerbsbedingungen, institutionalisierte Sicherheitsbeziehungen sowie eine gewisse gerichtliche Kontrolle wünschen, wittern jetzt Morgenluft: Sie haben die Hoffnung, dass ein Scheitern von Johnsons hartem Brexit und die negativen ökonomischen Folgen in den nächsten zwei Jahren die Umsetzung ihrer Agenda begünstigen werden. Doch ein politisches Hindernis bleibt bestehen: Für das, was wir uns wünschen, gibt es in der Wählerschaft keine Mehrheit, und das Zustandekommen einer proeuropäischen Regierung ist nicht in Sicht. Wie der Historiker Charles P. Kindleberger festgestellt hat, kommt es nach einer wirtschaftlichen Talfahrt, wie sie uns bevorsteht, nicht nur auf die Entschlossenheit an, Sparprogramme zu verhindern, sondern darauf, dass eine Weltmacht die Führung übernimmt. Solange sich kein Land findet, das willens und in der Lage ist, finanziellen Druck auszugleichen, Verhaltensstandards zu setzen und durchzusetzen sowie den Welthandel und das internationale Finanzsystem am Laufen zu halten, besteht ständig die Gefahr, dass eine Rezession zur Depression wird. Weder China noch die USA sind momentan in der Lage, auf globaler Ebene diese Rolle auszufüllen. Naheliegender ist es, zu fragen, ob die drei G7-Staaten im Herzen der Eurozone – Deutschland, Frankreich und Italien – bereit wären, diese Rolle zumindest in der EU stärker an sich zu ziehen. *** Dabei ist eine Depression noch nicht einmal das schlimmste Szenario. Wir erleben derzeit eine "Krise des neoliberalen Selbst": Der typische Sozialcharakter, der in den Jahren der freien Marktwirtschaft entstanden ist, hat eine gefährliche Neigung zum Fatalismus entwickelt und ist daran gewöhnt, die Initiative anderen zu überlassen. Wir haben 40 Jahre lang so getan, als sei der Markt eine unfehlbare Maschine, intelligenter als ein Mensch es je sein kann, ausgestattet mit dem Recht, gegen menschliche Entscheidungen über unsere sozialen Prioritäten sein Veto einzulegen. Doch 2008 erlitt diese Maschine einen Totalschaden. Die Wirtschaft wurde daraufhin an den Tropf gehängt. Aber mit einer Ideologie kann man das nicht machen, weil die entstehenden Widersprüche zum Himmel schreien würden. In das so entstandene Vakuum stießen die autoritären Konservativen, die Rechtspopulisten sowie eine radikale Linke, die aber nach kurzer Zeit scheiterte. Die weitverbreitete Anfälligkeit für Desinformation während der Pandemie, übertriebene Ängste im Hinblick auf Gesichtsmasken, chinesische Besucher oder 5G-Funkmasten, die bereitwillige Duldung des Lockdowns demokratischer Normen und Freiheiten – all das lässt sich auf eine tiefe Orientierungslosigkeit zurückführen. Die Menschen haben jahrzehntelang gehört, sie sollten den Märkten gehorchen. Doch nun, da der Markt nicht mehr in der Lage ist, sie erfolgreich zu führen, haben sich viele einfach auf die Suche nach einer neuen Instanz gemacht, der sie gehorchen können. Das schlimmste Szenario sieht also so aus, dass sparwütige Politiker uns eine lang anhaltende Rezession aufzwingen, die in einigen westlichen Ländern dazu führen könnte, dass sich ein Großteil der Wählerschaft ohne Zögern antidemokratischen politischen und ideologischen Angeboten zuwendet. Wenn das geschieht, werden wir keine Neuauflage der 1930er Jahre erleben, wie manchmal gemutmaßt wird. Damals konnten die autoritäre Rechte und die staatsgläubige Linke durch Kredite, Ausgaben und Inflation die Produktion rasch wieder ankurbeln und die Arbeitslosigkeit reduzieren. Bei den technischen Innovationen und der menschlichen Entwicklung gab es damals noch sehr viel Spielraum. Wir hingegen haben die endgültigen Grenzen der kohlenstoffgetriebenen Wirtschaft erreicht. Wenn wir nicht bis 2050 die Dekarbonisierung bewältigen, werden die chaotischen Folgen des Klimawandels, wie sie bereits am Abschmelzen des arktischen Eises, den Schwelbränden in der russischen Tundra und der Zerstörung australischer Regenwälder erkennbar sind, der menschlichen Kontrolle vollends entgleiten. Aus all diesen Gründen ist es angebracht, in dieser Zeit von einer "allgemeinen Krise" zu sprechen, und zwar nicht im Sinne der Zeit von 1929 bis 1934. Viel passender ist der Vergleich mit der Krise des Feudalismus im 14. Jahrhundert. *** In der Geschichtswissenschaft ist lange und intensiv darüber diskutiert worden, was die "allgemeine Krise" ausgelöst haben könnte, die zur Zerstörung des mittelalterlichen Wirtschaftssystems führte. Einige Historiker betonen die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen, während andere die Folgen von Klimaveränderungen in den Vordergrund stellen, die in den Jahren nach 1310 katastrophale Ernteausfälle verursachten. Forscher aus der Tradition des historischen Materialismus wiederum interessierten sich vielmehr für die veränderten Beziehungen zwischen Bauern und Landbesitzern sowie für die Verlangsamung der technischen Entwicklung nach 1300. Doch unabhängig davon, wie die inneren Ursachen für den Niedergang des Feudalismus theoretisch erklärt werden, ist es unmöglich, die Auswirkungen eines externen Schocks zu ignorieren: Die Beulenpest-Pandemie Mitte des 14. Jahrhunderts kostete nahezu einem Drittel der Bevölkerung in Europa das Leben. In der Zeit nach dem "Schwarzen Tod" fanden sich Handwerker und Bauern, deren Arbeit damals die Quelle allen Wohlstands war, durch den allgemeinen Arbeitskräftemangel in einer weitaus stärkeren Position wieder. So änderten sich auch die Merkmale ihrer Aufstände: Der Historiker Rodney Hilton schreibt, in diesen Revolten habe sich "nicht mehr nur die Unzufriedenheit wegen der lokal erlebten Unterdrückung gezeigt. Vielmehr wurden sie zum Ausdruck des Aufbegehrens gegen die gesamte Organisationsform der Gesellschaft." Aus heutiger Sicht hatte die allgemeine Krise des Feudalismus mehrere Ursachen: Klimatische Veränderungen spielten ebenso eine Rolle wie die Erschöpfung eines Wirtschaftsmodells sowie ein Zufallsereignis, das die Schwäche der gesellschaftlichen Strukturen gnadenlos offenlegte. Menschen in ganz Europa wurde klar, dass dieses Gesellschaftssystem mit seinen Institutionen und Ideologien ihnen nicht mehr das Leben ermöglichen konnte, das sie sich wünschten. Sollte es so gewesen sein, sind die Parallelen zur heutigen Zeit eindeutig. *** Noch während wir das Coronavirus bezwingen, ist es die wichtigste Aufgabe der Politiker, eine Vision von einer widerstandsfähigeren Welt zu entwickeln – oder wie der Philosoph Roberto Unger sagt: "Die Vorstellungskraft hat das zu leisten, was sonst eine Krise leisten würde, und zwar ohne, dass es zu dieser Krise kommt." Wir müssen jetzt schnell im Kopf sein, denn Covid-19 wird nicht die letzte Pandemie sein, so wie die australischen Buschfeuer von 2019 nicht die letzten sein werden und auch die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 nicht die letzte war. Für Politiker und Wirtschaftsführer ist es bereits heute zwingend erforderlich, sich ein Wirtschaftssystem jenseits fossiler Energieträger vorzustellen. Aber wie können wir es schaffen, diese Vision zu erweitern – und uns eine Welt ohne Armut, Slums, Diktatoren und räuberische Agrarwirtschaft vorzustellen, die natürliche Lebensräume zerstört? Zunächst müssen wir alle Dogmen der vergangenen 40 Jahre, wie Finanz- und Geldpolitik sowie Investitionen auszusehen haben, über Bord werfen. Staaten, die sich das leisten können, sollten jetzt Kredite aufnehmen, und zwar nicht nur, um die Zigmilliarden kurzfristigen Zusagen einzuhalten, die notwendig sind, um einen tiefen Wirtschaftseinbruch zu verhindern. Vielmehr sollten Sie langfristig in kohlenstofffreie Technologien, Umschulungen und eine intelligente Reindustrialisierung der hochentwickelten Länder investieren. Die Rechnung hierfür wird letztlich in Form von Schulden an künftige Generationen weitergereicht. Aber die Alternative wäre, unseren Enkelkindern eine zerstörte Demokratie und ein fragmentiertes globales System auf einem zunehmend unbewohnbaren Planeten zu vererben. Wir müssen verstehen, dass wir uns in einer langen Übergangsphase befinden. Wir entwickeln uns weg vom Kohlenstoff, weg von der Vorherrschaft der Finanzwirtschaft, weg von der Ausbeutung von Arbeitskräften und Ressourcen. Es kommt nun darauf an, dass wir die unkontrollierbare Dynamik akzeptieren, die diese Entwicklung mit sich bringt. *** Momentan – ich schreibe dies noch in der akuten Phase der Pandemie – sollten wir vor allem ein Inventar der verlorenen und wiedergefundenen Dinge erstellen. Auf meinem täglichen Spaziergang komme ich an geschlossenen Pubs, Cafés und Kebabbuden vorbei, doch die Lieferwagen der Onlinehändler fahren pausenlos Lebensmittel und elektronische Geräte durch die Gegend. Auch auf Zoom, der inzwischen allgegenwärtigen Videokonferenzplattform, hat sich die Art des Austauschs verändert. Exhibitionismus und Selbstinszenierung, wie sie bisher in Netzwerken wie Instagram üblich waren, werden in dieser neuen Atmosphäre durch Ernsthaftigkeit und Kooperationsbereitschaft ersetzt – die Menschen hören jetzt lieber zu, als selbst zu sprechen. Die materiellen Erscheinungsformen des Kapitalismus des 21. Jahrhunderts werden zurückkehren: Der Pub in meinem Viertel wird wieder öffnen, und irgendwann werden wir auch wieder europäischen Fußball auf dem ganz großen Bildschirm sehen. Die Menschen werden sich wieder wie Sardinen in die Londoner U-Bahn quetschen, und das Parlament wird wieder zum Leben erwachen. Doch uns wird stets eine plastische, lebendige Erinnerung an die Stille von 2020 begleiten – und an die neuen Räume, die wir in dieser Zeit geschaffen haben. Ich hoffe, dass die Erinnerung die Vorstellungskraft der Überlebenden dazu anregen wird, sich etwas Neues auszudenken. Ich hoffe, dass wir, wie die Rebellen des 14. Jahrhunderts, aus der Pandemie mit einem festeren Glauben an Wissenschaft, Rationalität und Medizin hervorgehen werden. Was das Vereinigte Königreich angeht, dessen plötzlicher Bruch mit Europa unter Rahmenbedingungen in die Wege geleitet wurde, die nun nicht mehr existieren, wage ich die Prognose, dass keine kollektive Reue über den Brexit einsetzen wird. Vielmehr wird es, sobald die unvermeidlichen Fragen aufkommen, einen Kampf um Glaubwürdigkeit geben. Das Brexit-Projekt beruhte so stark auf einem unmöglichen Traum von nationaler Größe, auf imperialer Nostalgie und der Bereitschaft, sämtliche Zweifel an einem clownartigen Anführer beiseitezuschieben, dass uns nur die Hoffnung bleibt, der plötzliche Einbruch der Wirklichkeit möge die Menschen wachrütteln. Anfang Februar schien der harte Brexit in Stein gemeißelt, und es sah so aus, als würde es keinen Deal mit der EU geben. Nun gibt es keine Gewissheiten mehr. Die letzte Hoffnung der Progressiven in dieser Situation ist, dass nach den Pubs, Fußballstadien und Einkaufszentren sich endlich auch die Köpfe der Menschen wieder öffnen. Übersetzung aus dem Englischen: Jan Fredriksson, Senden. Vgl. HM Government, EU Exit. Long-Term Economic Analysis, London, November 2018; Office for Budget Responsibility, Economic and Fiscal Outlook, 11.3.2020, Externer Link: https://obr.uk/efo/economic-and-fiscal-outlook-march-2020. Vgl. Richard Partington, UK Economy Will Take Three Years to Recover from Coronavirus – EY, 27.4.2020, Externer Link: http://www.theguardian.com/business/2020/apr/27/uk-economy-will-take-three-years-to-recover-from-coronavirus-ey. Siehe den Mitschnitt unter Externer Link: https://twitter.com/SkyNews/status/1234842251496493060?s=20. Vgl. Imperial College COVID-19 Response Team, Report 9: Impact of Non-Pharmaceutical Interventions (NPIs) to Reduce COVID-19 Mortality and Healthcare Demand, 16.3.2020, Externer Link: http://www.imperial.ac.uk/media/imperial-college/medicine/sph/ide/gida-fellowships/Imperial-College-COVID19-NPI-modelling-16-03-2020.pdf. PM Speech in Greenwich, 3.2.2020, Externer Link: http://www.gov.uk/government/speeches/pm-speech-in-greenwich-3-february-2020. Vgl. WTO, Trade Set to Plunge as COVID-19 Pandemic Upends Global Economy, Pressemitteilung, 8.4.2020, Externer Link: http://www.wto.org/english/news_e/pres20_e/pr855_e.htm. Vgl. Charles P. Kindleberger, Comparative Political Economy, Cambridge, MA 1999. Vgl. Paul Mason, Klare, lichte Zukunft. Eine radikale Verteidigung des Humanismus, Berlin 2019. Rodney Hilton, Was There a General Crisis of Feudalism?, 20.10.2017, Externer Link: http://www.versobooks.com/blogs/3449-was-there-a-general-crisis-of-feudalism. Roberto M. Unger, Imagination, Imagination, to the Rescue, CIGI ’09 Keynote 3.9.2009, Externer Link: http://www.cigionline.org/sites/default/files/cigi09_roberto_unger_keynote.pdf. Vgl. Paul Mason, Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie, Berlin 2016.
Article
, Paul Mason
"2022-02-10T00:00:00"
"2020-05-27T00:00:00"
"2022-02-10T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/310560/das-ende-der-gewissheiten/
Durch das neuartige Coronavirus ist auch der Brexit mit neuen Unsicherheiten behaftet. Im Zusammenspiel mit dem Klimawandel ist die Pandemie als Bestandteil einer allgemeinen Krise des Kapitalismus zu betrachten.
[ "europäische Union", "EU", "Brexit", "Pandemie", "Corona", "Vereinigtes Königreich", "Großbritannien", "Kapitalismus", "Krise" ]
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Reasons for Establishing a New Legal Framework | Zuwanderung, Flucht und Asyl: Aktuelle Themen | bpb.de
Inequality in Accreditation Practice The missing legal basis up to now of accreditation procedures for qualifications acquired abroad, especially in the case of citizens of third countries, led in the past to significant anomalies and inequalities in accreditation practice. The International Placement Services (ZAV) of the German Federal Employment Agency (BA) in its final report for 2009 describes the "inadequate state of information relating to the complex accrediting options and competences in Germany" (Schneider/Pfund 2009: 9). The variety of divergent regulations of the federal government, the Länder and the European Union constituted one reason for the confusion and intransparency of the system in which immigrants had to find their own way to accreditation of their qualifications acquired abroad. Fragmented areas of competence and a lack of uniform administrative practice in the various Länder resulted from the lack of nationwide uniform standards and criteria for assessment and decision-making practice. The decisions made concerning accreditation procedures were not binding throughout Germany but instead applied only for the specific Bundesland in which they had been reached. The case of doctor Yin Yu described by Ackermann/Meier (2011) illustrates the varying possibilities of qualifications accreditation from one Bundesland to the next. Ms. Yin Yu tried in vain to obtain a license in Baden-Württemberg, whereas in Bavaria she obtained one without difficulty. The reasons for this were different criteria for the granting of a license to practice. In Baden-Württemberg the accrediting agency based itself on the content and duration of her studies; the agency competent in Bavaria, on the other hand, based itself on the university at which she had studied (Ackermann et al. 2011). A positive accreditation certificate was valid only in that region which had confirmed the equivalence of an applicant’s qualifications, which in turn prevented any mobility within Germany itself. Another shortcoming of accreditation procedures so far has been their length. Because there was no fixed period for a decision, in many cases very lengthy procedures occurred, some of which lasted for years. Overall, the old system can be described as intransparent and inefficient. It disadvantaged certain groups of immigrants structurally, especially because of the lack of a general legal claim to the performance of an accreditation procedure (Integration Commissioner 2010). Lack of Information Many educated foreigners who wanted to have their certificates acquired abroad accredited in Germany failed, for instance, already during their search for the competent accrediting agency (Englmann et. al. 2007: 102). Hadeed (2004: 57) was able to show that structural obstacles could prevent integration into the labor market even in the case of highly qualified immigrants. A mere 12% of the 260 respondents interviewed by him had been informed of the possibility of having a certificate acquired abroad accredited in Germany. In addition, shortages of information also led to failure over the course of the accreditation procedure. There was uncertainty in particular concerning the issue of the sequence, the length, the compensation mechanisms, and the costs of the procedure (Braun 2011). High financial costs arose, for example, from the procedure fees at the accrediting agency, because of the translation of certificates, or because of the need to complete several months of post-qualification measures. Many of those affected were unable to come up with the financial resources required (Brussig et al. 2009: 10). Becoming aware of these shortcomings and shortages ultimately led to an insight into the need for a legal foundation for changes, which was then created by the passage of the BQFG. This text is part of the policy brief on Interner Link: "Procedures for the Assessment of Qualifications Acquired Abroad in Transition". An occupational license entitles the holder thereof to practice the profession they have learned in their country of origin in Germany. A work permit, on the other hand, entitles one to work in Germany. In 2004 Hadeed interviewed highly qualified asylum holders and Jewish quota refugees in Lower Saxony who had a permanent right of residency and hence also a work permit for Germany.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-07-31T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/141856/reasons-for-establishing-a-new-legal-framework/
The missing legal basis up to now of accreditation procedures for qualifications acquired abroad, especially in the case of citizens of third countries, led in the past to significant anomalies and inequalities in accreditation practice.
[ "immigration", "accreditation of qualifications", "BQFG" ]
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Neonazis online: massiver Missbrauch des Web-2.0 | Presse | bpb.de
Interner Link: Den vollständigen Bericht können Sie hier herunterladen. Rechtsextreme haben ihre Präsenz im Internet verstärkt, ihre Hassinhalte erreichen dadurch ein immer größeres Publikum. "Neonazis werben in Sozialen Netzwerken, auf Videoportalen und Blogs um Jugendliche", erläutert Stefan Glaser, Leiter des Bereichs Rechtsextremismus von jugendschutz.net. "Es kann nicht angehen, dass Rechtsextreme diese Dienste für ihre Hasspropaganda missbrauchen. Betreiber wie YouTube und Facebook müssen mehr tun, um das zu verhindern." Etwa 6.000 rechtsextreme Beiträge hat jugendschutz.net 2010 laut ihrem aktuellen Bericht im Web-2.0 dokumentiert und damit drei Mal so viele wie im Vorjahr. Vor allem "Autonome Nationalisten" ködern mit modernen und professionellen Angeboten, auf denen sie Action, Kommunikation und Multimedia bieten. Auch die NPD wirbt nicht mehr nur auf knapp 250 Websites um ein jugendliches Publikum, sondern längst auch mit Beiträgen in Communitys und auf Videoplattformen. Angesichts dieser Entwicklungen fordert Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung - bpb, mehr soziale Verantwortung der Netzgemeinde. "Die arabische Revolution hat gezeigt, welches demokratische Potenzial in den Plattformen steckt. Wir brauchen User, die unsere grundlegenden Werte verteidigen und Neonazis konsequent in die Schranken weisen." Die bpb fördert zahlreiche Initiativen gegen Extremismus und für Demokratie und Toleranz. Auch Familien brauchen Unterstützung. Martin Ziegenhagen, Leiter der Online-Beratung gegen Rechtsextremismus, erläutert: "Nur wenige Eltern können mit den Medienwelten ihrer Kinder mithalten, Neonazis haben da leichtes Spiel." In einem neuen Projekt im Rahmen des Bundesprogramms "Toleranz fördern – Kompetenz stärken" arbeitet die Online-Beratung daran, Eltern handlungsfähig zu machen. Aber auch auf anderen Ebenen ist Einsatz nötig. "Jugendliche selbst müssen in punkto Medienkompetenz fit gemacht werden, etwa über Peer Education. Darüber hinaus ist eine breit angelegte Aufklärung aller gesellschaftlichen Gruppen gefordert", so Ziegenhagen. Viele Kampagnen von Rechtsextremen erhalten derzeit großen Zuspruch. Ein aktueller Clip zeigt Fackelträger beim nächtlichen Marsch durch leere Straßen, die Gesichter mit weißen Masken verhüllt. Die Szenerie wird untermalt von dramatischer Musik. Dahinter stecken Neonazis, die vor dem "drohenden Volkstod" warnen und dabei rassistisches und antidemokratisches Gedankengut verbreiten. Das Video erzielte binnen weniger Wochen mehr als 20.000 Zugriffe. Vor allem bei stark emotionalen Themen sind die Zugriffszahlen sehr hoch: Ein rechtsextremes Musikvideo zum Thema Kindesmissbrauch brachte es bislang auf knapp 900.000 Klicks. Der Bericht von jugendschutz.net zeigt auch: Je stärker sich die Aktivitäten der Rechtsextremen ins Web-2.0 verlagern, desto wichtiger ist es, dass die großen ausländischen Plattformen wie Facebook und YouTube Regeln aufstellen und effektiv durchsetzen. jugendschutz.net erreicht zwar in vielen Fällen eine schnelle Entfernung von strafbaren Inhalten aus dem Netz, es gibt jedoch zu wenige Vorkehrungen, damit dieselben oder ähnliche Beiträge nicht erneut hochgeladen werden. Über jugendschutz.net jugendschutz.net unterstützt die Jugendministerien der Länder und die Kommission für Jugendmedienschutz. Die länderübergreifende Stelle, die 1997 eingerichtet wurde, drängt auf die Einhaltung des Jugendschutzes im Internet und sorgt dafür, dass Anbieter problematische Inhalte rasch ändern oder löschen. Die Arbeit gegen Rechtsextremismus im Internet wird von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. Kontakt: Kristina Hammann Tel +49 (0)6131 3285-317 E-Mail Link: kh@jugendschutz.net Externer Link: www.jugendschutz.net Über die Online-Beratung gegen Rechtsextremismus Die Online-Beratung gegen Rechtsextremismus steht Menschen, die in ihrem privaten oder beruflichen Umfeld mit Rechtsextremismus konfrontiert sind, mit Informationen und Rat zur Seite – anonym und kostenlos. Die Online-Beratung ist eine Einrichtung von "Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V." Ihre Projekte werden gefördert durch die Bundeszentrale für politische Bildung und im Rahmen des Bundesprogramms "Zusammenhalt durch Teilhabe" vom Bundesministerium des Innern sowie im Rahmen des Bundesprogramms "Toleranz fördern – Kompetenz stärken" vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Kontakt: Liane Czeremin Tel +49 (0)30 263978-43 E-Mail Link: czeremin@gegen-vergessen.de Externer Link: www.online-beratung-gegen-rechtsextremismus.de Interner Link: Pressemitteilung als PDF-Version (860 KB) Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: presse@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/49832/neonazis-online-massiver-missbrauch-des-web-2-0/
Etwa 6.000 rechtsextreme Beiträge hat jugendschutz.net 2010 laut ihrem aktuellen Bericht im Web-2.0 dokumentiert und damit drei Mal so viele wie im Vorjahr. Vor allem "Autonome Nationalisten" ködern mit modernen und professionellen Angeboten, auf den
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Brauchen wir eine neue Reformation der Gesellschaft? | Presse | bpb.de
Unter dem Titel "Ändern ist leicht, bessern ist schwer: Die Reformation der Gesellschaft neu denken" findet vom 7. bis 9. März 2014 in Bad Boll die Auftaktveranstaltung zu einer mehrjährigen Veranstaltungsreihe der Evangelischen Akademien statt. Die Reihe unter dem Titel "Die gesellschaftliche Aktualität der Reformation" wird von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb gefördert und Thomas Krüger, Präsident der bpb, eröffnet die Tagung in Bad Boll mit einer Grundsatzrede unter dem Titel "Zeitalter der Partizipation und des Diskurses: Brauchen wir eine neue Reformation der Gesellschaft?". Aktuell sind an dem Projekt 14 Evangelische Akademien beteiligt. In diesem Jahr finden 13 Veranstaltungen statt. Die Veranstaltungen umfassen klassische mehrtägige Diskurstagungen und innovative Formate wie Poetry Slam, Speakers Corner, Interaktives Open Air Konzert und vieles mehr. Im Jahr 2017 jährt sich die Reformation zum 500. Mal. Die Reformation hat alles verändert, nicht nur Kirche und Theologie, sondern auch Politik und Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Bildung und Medien, privates und öffentliches Leben. Im Vorfeld des Reformationsjubiläums diskutieren die Evangelischen Akademien mit Unterstützung der bpb, wie sehr die Folgen dieses Ereignisses unsere Welt bis heute prägen und vor welchen aktuellen Veränderungen wir jetzt wieder stehen. Weitere Informationen zur mehrjährigen Reihe: Externer Link: www.evangelische-akademien.de/reformation Weitere Informationen zur Tagung: Externer Link: http://www.ev-akademie-boll.de/tagungen/details/110314.pdf Daniel Kraft - Pressesprecher - Interner Link: Pressemitteilung als PDF. Pressekontakt bpb: Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel: +49 (0)228 99515-200 E-Mail Link: presse@bpb.de Externer Link: www.bpb.de/presse
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2014-03-04T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/179978/brauchen-wir-eine-neue-reformation-der-gesellschaft/
Unter dem Titel "Ändern ist leicht, bessern ist schwer: Die Reformation der Gesellschaft neu denken" findet vom 7. bis 9. März 2014 in Bad Boll die Auftaktveranstaltung zu einer mehrjährigen Veranstaltungsreihe der Evangelischen Akademien statt.
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Chronik: Vom 7. bis zum 21. November 2013 | Russland-Analysen | bpb.de
07.11.2013 Die russische Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina (Memorial und"Bürger-Unterstützung"), wird in Stockholm für ihre Menschenrechtstätigkeit und die Verteidigung der Rechte von Migranten mit dem Stieg Larsson Preis ausgezeichnet. 07.–08.11.2013 Im Predgornij-Rayon unweit von Pjatigorsk (Region Stawropol) werden zwei Aufständische getötet, als es bei einer Fahrzeugkontrolle zu einem Feuerwechsel kommt. In ihrem Auto wird ein Sprengsatz gefunden. 08.11.2013 Präsident Wladimir Putin empfängt den niederländischen König Willem-Alexander und dessen Frau Maxima im Kreml. Das Königspaar nimmt an den Feierlichkeiten zum Ende des russisch-niederländischen Freundschaftsjahres teil. 09.11.2013 In Moskau trifft Außenminister Sergej Lawrow mit seinem niederländischen Amtskollegen Frans Timmermans zusammen. Dabei wird u. a. die Situation der inhaftierten Greenpeace-Aktivisten besprochen. 09.11.2013 Präsident Wladimir Putin empfängt seinen ukrainischen Amtskollegen Viktor Janukowytsch. Auf dem Treffen werden die bilateralen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen besprochen. Ende November könnte die Ukraine ein Partnerschafts- und Assoziierungsabkommens mit der EU unterzeichnen, Russland sucht dies zu verhindern. 11.11.2013 Eine Sojus-Raumkapsel mit drei Astronauten und der Olympischen Fackel an Bord kehrt planmäßig zurück und landet in Kasachstan. 11.11.2013 Präsident Wladimir Putin und sein kasachischer Amtskollege Nursultan Nasarbajew nehmen in Jekaterinburg am 10. Forum der interregionalen Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern teil. Das Forum steht unter dem Thema industrielle Kooperation. 12.11.2013 Wladimir Putin trifft zu einem Staatsbesuch in Hanoi, Vietnam ein. Bei Gesprächen und Vereinbarungen mit seinem vietnamesischen Amtskollegen Truong Tan Sang stehen die bilateralen Beziehungen, darunter im Rüstungs- und Erdölsektor, im Mittelpunkt. 12.11.2013 Russland führt an den Grenzen zur Ukraine neue Einfuhrbestimmungen für Waren und Fahrzeuge ein. Danach müssen bestimmte Zertifikate für die Einfuhr in die Zollunion vorgelegt werden. Eine probeweise Verschärfung der Zollbestimmungen hatte Ende Oktober in den ukrainischen Gebieten Lugansk und Donezk zu großen Staus geführt. 12.11.2013 Ein Moskauer Bezirksgericht nimmt Eigentum und die Bankkonten der Brüder Oleg und Alexej Nawalnyj im Rahmen eines Verfahrens wegen Betrugs und Geldwäsche beim Transport von Waren des Unternehmens "Yves Rocher" unter Beschlag. 12.11.2013 Die festgenommenen 28 Greenpeace-Aktivisten und zwei freie Journalisten werden in ein Untersuchungsgefängnis in St. Petersburg verlegt. 13.11.2013 Michail Stoljarow, Bürgermeister der südrussischen Stadt Astrachan, wird wegen des Verdachts, 10 Mio. Rubel (ca. 226.000 €) Bestechungsgeld angenommen zu haben, festgenommen. Stoljarow hatte sich 2012 in umstrittenen Bürgermeisterwahlen durchgesetzt. 14.11.2013 Das Moskauer Stadtgericht löst das Geschworenengremium im Verfahren zum Mord an der Journalistin der Nowaja Gaseta Anna Politkowskaja. auf. Mehrere Geschworene hatten zuvor ihren Rückzug angekündigt. Politkowskaja wurde im Oktober 2006 ermordet. 14.11.2013 Wladimir Jakunin, Generaldirektor der russischen Eisenbahn, gibt bekannt, dass die Bahn in den kommenden Jahren die offenen Liegewagen ("Plazkartnyje") abschaffen will. 14.11.2013 Die"Pussy Riot"-Aktivistin Nadeshda Tolokonnikowa befindet sich nach der Überführung aus einem Frauengefängnis in Mordowien im Tuberkulosekrankenhaus Nr. 1 in Krasnojarsk. 15.11.2013 Die russische Staatsduma verabschiedet in zweiter und dritter Lesung Gesetzesnovellen, die Werbung für Abtreibungen und Dienstleistungen der Alternativmedizin untersagen. 15.11.2013 Präsident Wladimir Putin ist auf Staatsbesuch in Südkorea. Bei Gesprächen mit seiner Amtskollegin Park Geun-hye werden die bilateralen Beziehungen erörtert. Putin erntet Kritik, nachdem er seinen Besuch um einen Tag verkürzt und sich zum Treffen mit der Präsidentin verspätete. Zuvor hatte er vom Präsidenten der internationalen Taekwondo-Föderation den schwarzen Gürtel verleihen bekommen. 16.11.2013 In einem Vorort von Machatschkala (Dagestan) werden fünf Untergrundkämpfer getötet. Unter ihnen ist der Ehemann der Selbstmordattentäterin vom 21. Oktober in Wolgograd. 16.11.2013 Greenpeace startet weltweite Protestaktionen für die Freilassung der 30 Aktivisten, die seit zwei Monaten in russischer Untersuchungshaft sitzen. In Moskau werden mehrere Info-Zelte zur Ölförderung in der Arktis und über die gefangenen Aktivisten errichtet. 17.11.2013 Der Blogger und Oppositionsaktivist Alexej Nawalnyj wird auf einem Parteitag der"Volksallianz" in Moskau zu deren Vorsitzendem gewählt. 17.11.2013 Beim Landeanflug auf den Flughafen in Kasan (Republik Tatarstan) stürzt ein Flugzeug der Fluggesellschaft "Tatarstan" ab. Alle 50 Menschen an Bord kommen ums Leben, darunter der Sohn des Republikpräsidenten und der Leiters des Inlandsgeheimdienstes in Tatarstan. 18.11.2013 Zwei Bezirksgerichte in St. Petersburg lassen zwei der 30 Greenpeace-Aktivisten gegen die Zahlung von jeweils zwei Million Rubel (ca. 45.500€) auf Kaution frei. Dies betrifft die Ärztin Jekaterina Saspa und den Fotographen Denis Sinjakow. 19.11.2013 Zwei St. Petersburger Bezirksgerichte entlassen neun weitere Greenpeace-Aktivisten gegen die Zahlung von jeweils zwei Million Rubel (ca. 45.500€) Kaution aus der Untersuchungshaft. 19.11.2013 Unbekannte töten vor der Geistlichen Verwaltung der Muslime in Machatschkala (Dagestan) zwei Polizisten. Drei weitere Polizisten werden verletzt. Einer der Täter wird in der Folge erschossen, er war Mitorganisator des Selbstmordattentates von Wolgograd. 19.11.2013 Ein Moskauer Bezirksgericht verlängert die Untersuchungshaft und den Hausarrest von zehn Personen, die im "Bolotnaja-Verfahren" unter Anklage stehen, bis zum 24. Februar 2014. Der Föderale Dienst für den Strafvollzug sieht keine Lebensgefahr für Sergej Kriwow, einem der Angeklagten, der sich seit 60 Tagen in Hungerstreik befindet. 19.–20.11.2013 Sicherheitskräfte töten im Rayon Baksan (Kabardino-Balkarien) zwei mutmaßliche Untergrundkämpfer, die sich der Festnahme zu entziehen versuchten. 20.11.2013 Zwei Bezirksgerichte in St. Petersburg entlassen weitere acht Greenpeace-Aktivisten gegen jeweils zwei Million Rubel (ca. 45.500€) Kaution aus der Untersuchungshaft. 20.11.2013 Im Rahmen einer Spezialoperation werden in Machatschkala (Dagestan) zwei Untergrundkämpfer getötet, die als Drahtzieher des Selbstmordattentates in Wolgograd bezeichnet werden 20.11.2013 Das Moskauer Stadtgericht bestätigt ein Urteil, dem zu Folge bei der Kollision des Dienstwagens von Anatolij Barkow, einem Lukoil Vize-Präsidenten, mit einem Kleinwagen, die Schuld bei den beiden bei dem Unfall getöteten Insassen des Kleinwagens lag. Der Vorfall hatte im Februar 2010 einen Skandal ausgelöst. 20.11.2013 Präsident Wladimir Putin trifft mit Vorsitzenden ausgewählter außerparlamentarischer Parteien zusammen. Unter anderem erklärt er sich bereit, eine Liste "politischer Gefangener" sorgfältig zu überprüfen. Eine mögliche Amnestie zum 20. Jahrestag der Verfassung müsse jedoch überdacht werdenund vorsichtig erfolgen. 20.11.2013 Wladimir Putin empfängt den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu im Kreml. Neben bilateralen und wirtschaftlichen Fragen steht die Lage in Nahost auf der Tagesordnung. 21.11.2013 Präsident Wladimir Putin nimmt an der Russischen Literarischen Versammlung in Moskau teil. Diese soll die Grundlage für eine "Russische Literarische Gesellschaft" schaffen, die als Dachorganisation der Schriftstellervereinigungen und Literaturstiftungen dienen und staatliche Zuschüsse verteilen soll. Kritiker sehen darin eine Wiederauflage der sowjetischen Schriftstellervereinigung. Boris Akunin und Eduard Limonow sagen ihre Teilnahme ab. 21.11.2013 In Kiew lehnt das ukrainische Parlament sechs Gesetzesentwürfe ab, die den Weg für ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU freimachen sollten. Darauf hin beschließt das ukrainische Kabinett, den Verhandlungsprozess über die Unterzeichnung des Abkommens auszusetzen. Es wird stattdessen vorgeschlagen, eine Dreierkommission unter Beteiligungvon Russland, der EU und der Ukraine zu bilden, die die Fragen des Handelsverkehrs erörtern soll. Sie können die gesamte Chronik seit 1964 auch auf Externer Link: http://www.laender-analysen.de/russland/ unter dem Link "Chronik" lesen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-11-25T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/173445/chronik-vom-7-bis-zum-21-november-2013/
Aktuelle Ereignisse aus Russland: Die Chronik vom 07. bis zum 21. November 2013.
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تعليم المواطنة في ألمانيا | Country Profiles: Citizenship Education Around the World | bpb.de
تعرفوا على تعليم المواطنة في ألمانيا حيث ستجدون معلومات عن تعريف المواطنة، النظام البيئي لتعليم المواطنة الغير الرسمي، البيئة القانونية، الجهات المعنية و التحديات. بالإضافة سنقوم بشرح العروض التعليمية في ألمانيا و أثرها على مفهوم المواطنة في ألمانيا. المحتوى: Interner Link: 1. معلومات مرجعية Interner Link: 2. تعريف تعليم المواطنة Interner Link: 3. النظام البيئي لتعليم المواطنة غير الرسمي Interner Link: 4. العروض التعليمية من حيث المحتوى، والغرض، والمنهجية، والانتساب الفلسفي Interner Link: 5. البيئة القانونية لتعليم المواطنة الرسمية Interner Link: 6. الجهات المعنية Interner Link: 7. التحديات Interner Link: 8. الحواشي 1. معلومات مرجعية يرتبط تاريخ تعليم المواطنة في ألمانيا ارتباطًا وثيقًا بتجربة الحكم الشمولي في أيامه الديمقراطية الأولى. كان من المفهوم أنَّ تطوُّر المواقف الديمقراطية داخل ألمانيا عنصرٌ لا غنى عنه في تأسيس ديمقراطيةٍ مستقرة في الجمهورية الاتحادية بعد عام ١٩٤٥ وفي ألمانيا التي توحدت مرةً أخرى في عام ١٩٨٩. كان يُنظَر إلى فشل تجربة فايمار الديمقراطية والسهولة التي استولى بها هتلر على السلطة في ألمانيا في عام ١٩٣٣ على أنَّهما يُرجَعان بصفةٍ جزئية إلى الأنظمة التعليمية التي كانت سلطوية ومناهضة للديمقراطية في حد ذاتها، وغير قادرة على نشر فكرة القيم الديمقراطية [1]. وعلى الرغم من اختلاف إستراتيجيات قوى الاحتلال الأربع اختلافًا ملحوظًا من حيث الهدف والمحتوى والمنهجية، إلا أنَّ الجميع قد اتفقوا على أنَّ إقامة ديمقراطيةٍ مستقرة تتطلب ما هو أكثر من مواطنين يتشدَّقون بالكلام عن المبادئ الديمقراطية بينما هم يتقبلون على مضض النظام الديمقراطي الذي فرضته عليهم سلطات الاحتلال [2].وقد أكَّد هذا التشخيص أنَّ مجرد نقل المعلومات على أساس المنطق الكامن وراء الأنظمة الديمقراطية لم يكن كافيًا. كان من المطلوب التركيز على تنمية المواقف والممارسات الديمقراطية بدلًا من فرض بعض الأفكار "من قِبَل السلطات العليا". وسرعان ما ظهرت عقيدة أنَّ "الديمقراطيات بحاجة إلى ديمقراطيين" كعقيدةٍ أساسية لمفهوم تعليم المواطنة، وهي لا تزال سارية حتى اليوم. بحلول الستينيات من القرن الماضي، أخذت المقاربات اليسارية الجديدة الجدل لما هو أبعد من ذلك، حيث طالبت باكتساب تعليم المواطنة لمزيدٍ من التحرر، وشجعت الشعب على التشكيك في السلطة ومقاومتها إذا لزم الأمر. وعلى نقيض ذلك، وُجِدت مقاربات اتخذت موقفًا أكثر "عقلانية" وأقل تسييسًا، تؤكد على اكتساء المعلومات والتفكُّر قيمةً أكبر من النشاط السياسي. اعتقد أحدهم أنَّ الهدف من تعليم المواطنة كان مساعدة المواطنين على التوصل إلى أحكامٍ رشيدة؛ واعتقد الآخر أنَّ تعليم المواطنة تمثَّل في تعليم المواطنين كيفية تحرير أنفسهم من أولئك الذين قد يسعون للاستيلاء على السلطة. وبسبب المطالب الاجتماعية والسياسية التي طرحها تعليم المواطنة، كان النقاش في بعض الأحيان محل نزاع شديد. وفي صميمه، أعاد إثارة الجدل حول النظرية العلمية القائمة بين العقلانية الانتقادية والنظرية الانتقادية. بعد إعادة توحيد ألمانيا في عام ١٩٨٩، كان يُنظَر إلى "إعادة التعليم" على أنَّه ترياقٍ ضروري لسنواتٍ من التلقين المُكثَّف في ظل النظام الشمولي. ومرةً أخرى، تمَّ التأكيد على أنَّ تضمين القيم والممارسات الديمقراطية واستيعابها سيكون الأكثر فعاليةً في القضاء على الأفكار المعادية للديمقراطية بين صفوف الشعب. ولا يعتبر تعليم المواطنة في ألمانيا متحيزًا ولكنه أيضًا غير محايد؛ فهو متجذر في قيم الديمقراطية وتفسيرها الموجود في الدستور، أي في القانون الأساسي الألماني.و في مرحلة ظهوره الأولى، تمَّ اشتقاق تعليم المواطنة من مجالات التعليم والعلوم السياسية وثيقة الصلة، ولم يتطور البرنامج إلى تخصصٍ أكاديميٍّ مستقل إلا في فترة الستينيات. ومنذ ذلك الحين، طالب بالحق في مداولة المسائل المتعلقة بوضع خطط عمليات تعليم المواطنة وتنفيذها وتقييمها؛ ويتضمن هذا الدور البحث التجريبي، والتفكير (المعياري)، وتصميم عمليات التعلُّم وتنفيذها. 2. التعريف تعليم المواطنة لطالما كان التعريف الدقيق لتعليم المواطنة موضع خلاف. ويتمحور النقاش حول ماهية المعارف التي يجب تطبيقها، والتخصصات الأكاديمية التي يجدر وضعها بعين الاعتبار فيما يتعلق بموضوعات محتوى تعليم المواطنة، والأطر المفاهيمية الأكثر تبشيرًا على صعيد عمليتَي التدريس والتعلُّم المُتَّسمتَين بالفاعلية والجدوى. اجتمعت مواقفُ مختلفة خلال النقاش الأكاديمي المستمر [3]، وبُذِلت المحاولات الأولى في إعادة ترسيخ العلوم السياسية على أنَّها التخصص المرجعي لتعليم المواطنة [4]. يستخدم النموذج الثاني مجالات شتى ضمن إطار العلوم الاجتماعية، مع إعطاء كل مجال منها أهميته الخاصة، في مسعى لجعل تعليم المواطنة مادة وسيطة [5]. يشير المنظور الثالث بقدرٍ كبير إلى الخطاب الديمقراطي والإسهام المدني [6]. ويؤكد الموقف الرابع على أهمية المادة المستقلة، ويستخدم المعرفة السابقة للمتعلمين كنقطته المرجعية [7]. ما تشترك فيه المقاربات الثلاث الأولى هو أنَّها تُشدِّد على وضع مرتكز تعليم المواطنة في الإطار الأكاديمي، سواء في العلوم السياسية، أو العلوم الاجتماعية، أو دراسة الديمقراطية. أما المقاربة الرابعة، فقد ابتعدت عن المطالب التي قدمتها الدوائر الأكاديمية المؤسسية، وتُحبِّذ بدلًا من ذلك استخدام تصورات الأفراد كنقطة انطلاق من أجل تطوير مقاربات يتمحور تركيزها حول المواطنين. تُترجَم كلٌّ من أطر العمل المختلفة إلى أهداف وغايات تعليمية مختلفة يتمُّ اتباعها في الفصل الدراسي، وتتطرق في الحديث بدرجاتٍ متفاوتة إلى النماذج النظرية للمواطنة، مثل الليبرالية، والمواطنة الجمهورية، والنموذج النقدي [8]. وتُركِّز المقاربة الليبرالية لتعليم المواطنة على تنشئة مواطنين مستقلين يمكنهم العمل من أجل دعم مصلحتهم الخاصة، كما تُركِّز على تعزيز المستوى الأساسي من معرفة المواطنة لدى الأفراد وتعزيز ميولهم نحو الإسهام. وتؤكد مقاربة المواطنة الجمهورية على ضرورة انخراط المواطنين بفاعلية في المجتمع كمواطنين متساوين وأحرار. وتُشدِّد المقاربة على مسؤولية المواطنة في العمل من أجل تحقيق الصالح العامّ. وتُركِّز المقاربة النقدية على تحسين المجتمع ونقده من خلال العمل السياسي والتغيير الاجتماعي. وتعتمد هذه المقاربة على فكرة التمكين، والعدالة الاجتماعية، ونقد الوضع الراهن. وفي عام ٢٠١٦، نشر علماء من المدرسة النقدية للفكر دليلًا للمبادئ الأساسية، وهو "إعلان فرانكفورت: من أجل تربية سياسية متحررة ونقدية" [9]. وكان الدليل يهدف إلى إعادة توجيه النقاش القائم حول أهداف تعليم المواطنة وموضوعاته نحو مقاربة أقدر على إحداث تغيير في تعليم المواطنة. ويُركِّز الإعلان على ستة مجالات رئيسية، هي: الأزمة، والجدل، وانتقاد السلطة، والانعكاسية، والتمكين، والتغييرات. وعلى الرغم من الأفكار المتنافسة لتعليم المواطنة، يوجد اتفاقٌ واسع النطاق يتمثل في ثلاثة مبادئ أساسية يُعرَف باسم "اتفاق بويتلزباخ". في عام ١٩٧٦، شكَّل مؤتمر علماء التربية مدارس بيداغوجية مختلفة تناولت الحاجة إلى تجنُّب التلقين. وكان التعليم كواسطة دعائية وكوسيلة لغسل أدمغة المواطنين قضيةً ذات حساسية خاصة في الجمهورية الاتحادية بسبب سياسات التلقين النازية والشيوعية السابقة [10]. اتفق المشاركون في المؤتمر على مجموعة من المبادئ التوجيهية التي تؤكد على مفهوم التعليم "الموضوعي"، حيادي القِيَم [11]. يحظر المبدأ الأول على التربويين إغراق الطلاب وتحميلهم فوق قدرتهم بالآراء أو المواقف أو القيم السياسية. ويتعارض أي نوع من التلقين مع الفكرة الأساسية المتمثلة في تنشئة فردٍ يتحلى بالثقة بالنفس ويُقيِّم الأمور بعينٍ ناقدة، ومن ثَمَّ يتعذر التوافق بين التلقين وتعليم المواطنة بوجهٍ عامّ. وبموجب المبدأ الثاني، يُتوَقع من التربويين إمعان التفكير في تنوع وجهات النظر وتعدد المصالح وما ينطرح جراء ذلك من مشكلات. وإذا كان هناك موضوعٌ ما مثيرٌ للجدل في العلوم أو السياسة أو المجتمع بشكلٍ عامّ، فيجب أن يُدرَّس على هذا النحو أيضًا بمادة تعليم المواطنة. أما المبدأ الثالث، فيفترض أنَّ الطلاب يتعين تدريبهم على كيفية تحليل مصالحهم السياسية والتأثير في المجتمع بطريقةٍ واقعية من أجل تحقيق تلك المصالح. وقد لعب "اتفاق بويتلزباخ" دورًا بارزًا في مجال تعليم المواطنة في ألمانيا ولا يزال يُمثِّل ركيزةً أساسية. ومع ذلك، كان النُّقاد الجدد يطالبون بضرورة التشكيك بشكلٍ صريح في الافتراضات المعيارية والضمنية والآثار المترتبة على الاتفاق؛ إذ إنَّها تتحدث ضمنيًّا لصالح الوضع الراهن بدلًا من الحديث عن المفاهيم التحررية الحقيقية. تحوَّل "الاتفاق" إلى محور للنقاش العامّ في عام ٢٠١٨. وقد طالب حزب أقصى اليمين السياسي في ألمانيا "البديل من أجل ألمانيا " (AFD) بالتزام "الحيادية" بشكلٍ تام في تعليم المواطنة عند تدريس القضايا السياسية أو المثيرة للجدل. وأشار الحزب، من بين أمورٍ أخرى، إلى المبدأَين الأول والثاني لـ "اتفاق بويتلزباخ" عندما حاجوا بأنَّ المعلمين لا بد ألا يروِّجوا لوجهات نظرٍ سياسية أو تستند إلى القيم في الفصول الدراسية، بل بالأحرى عليهم أن يعرضوا وجهات النظر المعارِضة على نحوٍ متوازن، بما في ذلك وجهات النظر اليمينية. وقد أجَّج تقدُّم "حزب البديل من أجل ألمانيا" احتجاجًا شعبيًّا. وأوضحت السلطات والمؤسسات التعليمية وجماعات المناصرة أنَّ موقف الحيادية تجاه وجهات النظر اليمينية يعتبر في حد ذاته خيارًا سياسيًّا، وهو خيار يُعزِّز العنصرية ومعاداة السامية. وسرعان ما نشرت هيئة المدارس الألمانية إعلانًا توضح فيه أنَّ الممارسة داخل الفصول الدراسية لا ينبغي أن تكون حيادية بشأن القِيَم، ولكنها ملزمة باتخاذ موقفٍ مؤيد لحقوق الإنسان والقِيَم الديمقراطية [12]. في الواقع، يُحظَر على المعلمين قانونًا مناصرة الأحزاب السياسية أو الاستخفاف بها، ومع ذلك وفي الوقت نفسه، تقع على عاتقهم مسؤولية قانونية لمواجهة المواقف التي تطرح معاداة السامية والعنصرية، وكذلك التمييز ضد المثليات والمثليين، ومزدوجي الميول الجنسية، ومغايري الهوية الجنسانية، أو أي شكلٍ آخر من أشكال التمييز [13]. 3. النظام البيئي لتعليم المواطنة غير الرسمي يتميز نظام تعليم المواطنة غير الرسمي في ألمانيا بتنوعه بتنوع ست عشرة ولاية اتحادية، تُعرَف باسم Länder، تُحدِّد كلٌّ منها أولوياتها وأهدافها المتعلقة بالتعليم؛ ما يسمح بالتالي بوجود نظامٍ لامركزي للتعليم غير الرسمي. ومع ذلك، هناك بعض السياسات العامة والشاملة وبعض صناديق التمويل الاتحادية. يعتبر صندوق "Kinder- und Jugendplan des Bundes" (خطة الاتحاد بشأن الأطفال والشباب) هو الصندوق الرئيسي التابع للاتحاد الذي يسمح بالتنوع في تعليم المواطنة غير الرسمي، فهو يُموِّل مجموعة متنوعة من المنظمات غير الحكومية والمراكز الإقليمية؛ ما يضمن وجود مقارباتٍ متنوعة ومحايدة لتعليم المواطنة.و يتميز وضع تعليم المواطنة غير الرسمي بنطاقٍ من الإعالة من وكالات تقع خارج حيز المسؤولية المباشرة للحكومة الاتحادية أو الحكومات الإقليمية، مع التركيز بشكلٍ خاص على تنوع التعليم. منذ عامَي ٢٠١٩ و٢٠٢٠، عندما فقدت مجموعة من منظمات المجتمع المدني العاملة في مجال تعليم الكبار وضعها غير الربحي، خَشِيَ مقدمو الخدمات التعليمية غير الرسمية في ألمانيا من تقييد السلطات للخطاب السياسي في المجتمع المدني.و في قرارٍ نُشِر في عام ٢٠١٩، قضت محكمة ألمانيا العليا لشؤون الضرائب والجمارك بأنَّ المجموعة الناشطة "أتاك" (الرابطة المعنية بفرض الضرائب على المعاملات المالية لمساعدة المواطنين، ATTAC) لم تَعُد مؤهلة للتمتع بصفة المنظمة غير الربحية بسبب نشاطها السياسي العامّ ودعواتها لتقديم المطالبات واتخاذ الإجراءات الملموسة[14]. وينص القانون الضريبي الألماني على أنَّ الشركات التي تخدم الصالح العامّ بشكلٍ مباشر مؤهلةٌ للتمتع بحق الإعفاء الضريبي. ووفقًا للمحكمة، فإن تعزيز تعليم الكبار يتطلب مناقشة المسائل السياسية بذهنٍ متفتح، إلا أنَّه لا يجوز استخدامه لتحقيق أهدافٍ سياسيةٍ محددة. ويتعرض بقاء العديد من مؤسسات التعليم غير الرسمي للخطر إذا ما تمَّ إلغاء صفتها غير الربحية. 4. العروض التعليمية من حيث المحتوى، والغرض، والمنهجية، والانتساب الفلسفي تضطلع مجموعةٌ متنوعة من الوكالات الحكومية وغير الحكومية بتطبيق تعليم المواطنة غير الرسمي، وهي تشمل المدارس، والكليات، ومؤسسات تعليم الكبار الممولة من القطاع العامّ، والنقابات، والكنائس. ويُفسِّر تاريخ ألمانيا الدور المهم الذي تلعبه المؤسسات التي تكون بالضرورة، في بعض الحالات، فريدة من نوعها بالنسبة إلى ألمانيا؛ وينطبق ذلك بشكلٍ خاص على مجموعة متنوعة من المؤسسات السياسية والدينية وعلى الوكالة الاتحادية لتعليم المواطنة (BpB). وتعتبر الأخيرة من ضمن الوكالات التنفيذية التابعة لوزارة الداخلية الاتحادية، وتشارك في تطبيق كلٍّ من تعليم المواطنة الرسمي وغير الرسمي. ولديها مكاتب فرعية إقليمية في خمس عشرة ولاية. وترتبط المؤسسات من حيث توجهها السياسي أو الفكري أو الفلسفي أو الديني بمجتمعات دينية أو أحزاب سياسية راسخة، غير أنها مستقلة عن الأحزاب والكنائس وتقدم خدمات تعليمية متنوعة. 5. البيئة القانونية لتعليم المواطنة الرسمية يندرج تصنيف تعليم المواطنة في المدارس تحت مظلة السلطة الثقافية للولايات الألمانية المعنية؛ ما يعني أنَّ أهميتها كمادة تختلف من ولايةٍ اتحادية إلى أخرى. وفيما يتعلق بمكانتها ضمن المناهج الدراسية، يتمُّ إدراج تعليم المواطنة كمادةٍ مستقلة بذاتها. وفي حين أنَّها تقع في إطارٍ معياريٍّ للقيم الديمقراطية وحقوق الإنسان، إلا أنَّها مادةٌ غير متحيزة، حيث لا تعمل على توعية المواطنين في إطار علاقتهم بالدولة على وجه الحصر. فهي لا تهدف فحسب إلى الحفاظ على الوضع الديمقراطي الراهن؛ بل تسعى إلى تطوير قدرة المواطنين على الحكم والتصرف؛ مما يمكنهم بالتالي من إعادة التفكير وإعادة صياغة مبادئ وهياكل المواطنة، ولا سيما تلك التي تنطوي على التفكير النقدي والمشاركة السياسية [15]. يُزعَم أنَّه تمَّ إضفاء الطابع المؤسسي على تعليم المواطنة باعتباره مقررًا دراسيًّا أساسيًّا في جميع المرافق التعليمية الرسمية المتنوعة في ألمانيا وعلى كل مستوى من مستويات التعليم. ومع ذلك، توفِّر معظم المدارس على الصعيد العملي أقل من الساعتَين النموذجيتَين من تعليم المواطنة كل أسبوع. 6. الجهات المعنية إلى جانب الأنشطة المدرسية، هناك جانبٌ مهمٌ آخر من تعليم المواطنة يتمثل في إشراك الطلاب الصغار والكبار خارج الفصل الدراسي في مجموعةٍ متنوعة من فرص التعلُّم غير الرسمية التي ترعاها الدولة والهيئات الاجتماعية. تُدعَّم أنشطة تعليم المواطنة الخارجة عن المنهج الدراسي أو كانت تُموَّل من قِبَل الأحزاب السياسية، والنقابات، والجمعيات التجارية، والمؤسسات، والمجتمعات الدينية والروحية، ووسائل الإعلام، والأكاديميات، والمؤسسات المستقلة، والمبادرات التي تسعى لتطبيق تعليم المواطنة بموجب التزامها بالمُثل السياسية. ومع ذلك، فقد قامت المؤسسات العامة مؤخرًا بسحب الدعم المالي المُقدَّم في إطار هذا المجال؛ ما تسبَّب في زيادة التمويل الخاص من أجل تعليم المواطنة، والذي غالبًا ما يدعو بشكلٍ ضمنيٍّ أو صريح إلى مناصرة المعايير والقيم الجزئية. يتنافس تعليم المواطنة غير الرسمي بشكلٍ متزايد مع العروض التعليمية التي ترتبط ارتباطًا وثيقًا بمسألة الصلاحية للعمل والاحتياجات الاقتصادية؛ ما يستدعي الحاجة إلى النقاش لضمان أنَّ الصلاحية للعمل والبرامج التعليمية الخاصة بها لا تحل محل المواطنة الانتقادية. 7. التحديات فيما يتعلق بالاحتياجات البحثية، يتمثل التحدي الرئيسي لتعليم المواطنة في ألمانيا في الوقت الحالي في مواصلة البناء على الخطاب الدولي وقاعدة البحث الدولية الموجودة بالفعل؛ وذلك لمواصلة تطوُّر تعليم المواطنة إلى تخصصٍ أكاديميٍّ مستقل. وفيما يتعلق بالبحث التجريبي، يجب إيلاء الانتباه إلى ما يُعرَف بالوعي بالمواطنة [16]، وهي مقاربة تُركِّز على المواطنين وتشير إلى الأفكار البديهية لدى الأفراد بشأن العالم الاجتماعي والسياسي. وتدعو مقاربة الوعي بالمواطنة إلى التشكيك في أي عملية تدريس تُركِّز على التغطية الشاملة لمعارف تعليم المواطنة أو الأحكام المعيارية التي لا تُدرِج المعنى الذي تحويه بشكلٍ ضمني للمتعلمين. وبدلًا من ذلك، تشرع المقاربة في اقتراح بديل للمقاربات المعيارية لتعليم المواطنة التي عادةً ما تُستَمد من النظريات الليبرالية والجمهورية والنقدية (انظر "التعريف") من خلال سكب مزيدٍ من الالتزام والقيمة على المغزى الفردي. وتعني مقاربة الوعي بالمواطنة وضع المتعلم في صميم العملية. إنَّ الإسهاب في الافتراضات التي تسترشِد بها القوالب الفكرية للأفراد والقدرة على مناقشتها سيساعدان الطلاب على الفهم الحقيقي لقضايا المواطنة، وليس فقط التعلُّم بغية غايةٍ محددة. وبناءً على ذلك، من المُرجَّح اعتبار المعرفة العملية بنتائج البحث حول تصورات المتعلمين عن الواقع السياسي والاجتماعي أمرًا جوهريًّا لإعداد المعلمين مهنيًّا في هذا المجال. في السنوات الأخيرة، تزايدت الكراهية للأجانب بالخطاب العامّ الألماني، كما أصبح الحديث الذي يحض على الكراهية أكثر شيوعًا [17]. وأصبح الصعود السريع لشعبوبية جناح اليمين والهجمات العنصرية مدعاةً رئيسية للقلق، ولا سيما في أوقات الأزمات؛ إذ تُحرِز المواقف اليمينية تقدُّمًا باستخدام شعاراتٍ إقصائية و"حلولٍ" ساذجة مزعومة لأي مشكلة متوخاة. كان للخطاب المستمر حول الخوف من الإسلام وكراهية الأجانب المنبثق عن اليمين المتطرف تأثير في الخطاب السياسي السائد وحظي بتأثيرٍ ملموس في النقاش عبر الإنترنت [18]. ويلعب تعليم المواطنة في ألمانيا دورًا رئيسيًّا بلا منازع في تعزيز الخطاب السياسي للمجتمع عن التوجهات المناهضة للديمقراطية وعن التعددية في ألمانيا، وفي المساهمة في بزوغ مجتمعٍ أكثر تكاملًا تندمج فيه الأقليات والطبقات الاجتماعية [19]. ثمة مجال راهن آخر يتعين النهوض به، ألا وهو الدور المحوري الذي تلعبه المواطنة التشاركية في التعاطي مع تغيُّر المناخ والتحول إلى نموذج مستدام للنمو الاقتصادي (أو لتراجعه). ثالثًا، يتمُّ التركيز على تعليم المواطنة الرقمية؛ إذ تلعب الرقمنة دورًا مهمًّا في صياغة الحياة السياسية والاقتصادية والاجتماعية، وتحتاج إلى أن تنعكس بصورةٍ انتقادية عبر جميع أبعادها الاجتماعية، والبيئية، والاقتصادية، والسياسية. وتشمل الجوانب الأساسية آلية وإمكانات وحدود المنصات الإلكترونية، مثل إنستغرام وفيسبوك وغوغل، وتأثيرها في الثقافة الديمقراطية، والاقتصاد العالمي المستدام، والاستقلالية الفردية. 8. الحواشي [1] روبرتس، جيوفري. ٢٠٠٢. التربية السياسية في ألمانيا. في: الشؤون البرلمانية (٥٥)، ٥٥٦-٥٦٨. [2] المرجع نفسه. [3] لانغيه، ديرك. ٢٠٠٨-أ. وعي المواطن. صور وتصورات المعني في التربية السياسية. (Bürgerbewusstsein. Sinnbilder und Sinnbildungen in der Politischen Bildung.) في: مجتمع-اقتصاد-سياسة (GWP) (٣)، ص ٤٣١-٤٣٩. [4] فايسينو، عيورغ، وديتيين، ويوآخيم، ويوخلِر، إنغو. ٢٠١٠. مفاهيم السياسة. نموذج كفاءات. (Konzepte der Politik. Ein Kompetenzmodell.). بون: الوكالة الاتحادية للتربية السياسية (نُشرت السلسلة من قِبَل الوكالة الاتحادية للتربية السياسية، المجلد ١٠١٦). [5] فريق المؤلفين المعنيّ بوضع البيداغوجيا المتخصصة. بيساند، أنيا، وغرامِّس، تيلمان، وهيدتكه، راينهولد، ولانغيه، ديرك، وبِتريك، أندرياس، وراينهاردت، سِبيليه (محررون). ٢٠١١. مفاهيم التربية السياسية. مناظرة خطية. (Konzepte der politischen Bildung. Eine Streitschrift.). شفالباخ آم تاونوس: Wochenschau Verlag، سلسلة السياسة والتعليم، المجلد ٦٤. [6] هيمِلمان، غيرهارد. ٢٠١٣. الكفاءات المطلوبة لتدريس المواطنة الديمقراطية وتعلُّمها والعيش بها. في: موراي برينت وديرك لانيغه (محرران): التربية المدنية والكفاءات المطلوبة لإشراك المواطنين في الديمقراطيات. روتردام: دار نشر سينس، ص ٣-٧. بيرمان، غونتر سي.، وغرامّس، تيلمان، وراينهاردت، سِبيليه (٢٠٠٤). السياسة: المنهج الأساسي للعلوم الاجتماعية في الثانوية العامة. (Politik: Kerncurriculum Sozialwissenschaften in der gymnasialen Oberstufe). في: هاينز إلمار تينورت (محرر): المنهج الأساسي في المراحل العليا. خبرات. (Kerncurriculum Oberstufe. Expertisen.). فاينهايم: بيلتز (بيداغوجيا بيلتز)، ص ٣٢٢-٤٠٦. [7] لانغيه، ديرك. ٢٠٠٨-أ. [8] هوسكينز، بريوني. ٢٠١٣. ماذا تحتاج الديمقراطية من مواطنيها؟ تحديد الصفات المطلوبة للمواطنة الفاعلة وتوضيح القيم. في: موراي برينت وديرك لانغيه (محرران): المدارس والمناهج وتعليم المواطنة لتنشئة مواطنين ديمقراطيين. روتردام، بوسطن: دار نشر سينس (المواطنة والتثقيف السياسي، ٢)، ص ٢٣-٣٥. [9] أيس، أندرياس، ولوش، بيتينا، وشرودِر، أخيم، وشتيفينس، غيرد. ٢٠١٦. إعلان فرانكفورت: من أجل تربية سياسية متحررة ونقدية. في: مجلة تعليم العلوم الاجتماعية، المجلد ١٥، رقم ١، ص ٧٤-٧٥. [10] روبرتس، جيوفري. ٢٠٠٢. [11] شيليه، سيغفريد، وشنايدِر، هِربِرت، وفيشر، كورت غيرهارد. ١٩٧٧. مشكلة الإجماع في التربية السياسية. (Das Konsensproblem in der politischen Bildung.). شتوتغارت: إيه. كليت (ملاحظات وحجج بشأن تعليم التاريخ والتربية السياسية، ١٧). [12] مؤتمر وزراء التربية والتعليم. ٢٠١٨. الديمقراطية كهدف وموضوع وممارسة للتربية والتعليم السياسي والتاريخي في المدرسة. قرار مؤتمر وزراء التربية والتعليم بتاريخ ٠٦/٠٣/٢٠٠٩ بصيغته الصادرة بتاريخ ١١/١٠/٢٠١٨. مؤتمر وزراء التربية والتعليم. بون. [13] هيلدت، إنكين. ٢٠٢٠. تعليم حقوق الإنسان. في: سابين عاشور، وماتياس بوش، وبيتر ماسينغ، وكريستيان ماير-هايدِمان (محررون): قاموس درس التاريخ. (Wörterbuch Politikunterricht). فرانكفورت: Wochenschau Verlag، ص ١٣٩-١٤١. [14] غيسلي، جيني. ٢٠١٩. ألمانيا: المحكمة المالية الاتحادية تنزع عن رابطة "أتاك" الصفة غير الربحية. مكتبة الكونغرس (المرصد القانوني العالمي). مُتاح عبر الإنترنت على موقع: Externer Link: https://www.loc.gov/law/foreign-news/article/germany-federal-fiscal-court-revokes-nonprofit-status-of-attac/،[ آخر دخول بتاريخ ١٥/٠٧/٢٠٢٠.] [15] لانغيه، ديرك. ٢٠٠٨-ب. تعليم المواطنة في ألمانيا. في: فيولا بي. جورجي (محررة): تنشئة المواطنين في أوروبا. آفاق جديدة حول التربية المدنية. بون: الوكالة الاتحادية للتربية السياسية (Bpb) (نُشِرت السلسة من قِبَل الوكالة الاتحادية للتربية السياسية، المجلد ٦٦٦)، ص ٨٩-٩٥. [16] لانغيه، ديرك. ٢٠٠٨-أ. [17] اللجنة الأوروبية لمكافحة العنصرية والتعصُّب ٢٠٢٠. [Externer Link: https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwjU9-3u6fbwAhULDOwKHfpUCWwQFjAAegQIBhAD&url=https%3A%2F%2Frm.coe.int%2Fecri-report-on-germany-sixth-monitoring-cycle-german-translation-%2F16809ce4c0&usg=AOvVaw2ogS-s4wQWvvCFzernCMNZ [آخر دخول بتاريخ ٢٩/٠٦/٢٠٢١] [18] اللجنة الأوروبية لمكافحة العنصرية والتعصُّب ٢٠٢٠. [19] هيلدت، إنكين. ٢٠٢٠. المدرسة بتكليف حقوق الإنسان. في: جريدة Pädagogische Rundschau ٧٤. ٢٠٢٠ (٢)، ص ٣٢٣-٣٣٤. DOI: 10.3726 / PR032020.0032. Interner Link: English Version المحتوى: Interner Link: 1. معلومات مرجعية Interner Link: 2. تعريف تعليم المواطنة Interner Link: 3. النظام البيئي لتعليم المواطنة غير الرسمي Interner Link: 4. العروض التعليمية من حيث المحتوى، والغرض، والمنهجية، والانتساب الفلسفي Interner Link: 5. البيئة القانونية لتعليم المواطنة الرسمية Interner Link: 6. الجهات المعنية Interner Link: 7. التحديات Interner Link: 8. الحواشي 1. معلومات مرجعية يرتبط تاريخ تعليم المواطنة في ألمانيا ارتباطًا وثيقًا بتجربة الحكم الشمولي في أيامه الديمقراطية الأولى. كان من المفهوم أنَّ تطوُّر المواقف الديمقراطية داخل ألمانيا عنصرٌ لا غنى عنه في تأسيس ديمقراطيةٍ مستقرة في الجمهورية الاتحادية بعد عام ١٩٤٥ وفي ألمانيا التي توحدت مرةً أخرى في عام ١٩٨٩. كان يُنظَر إلى فشل تجربة فايمار الديمقراطية والسهولة التي استولى بها هتلر على السلطة في ألمانيا في عام ١٩٣٣ على أنَّهما يُرجَعان بصفةٍ جزئية إلى الأنظمة التعليمية التي كانت سلطوية ومناهضة للديمقراطية في حد ذاتها، وغير قادرة على نشر فكرة القيم الديمقراطية [1]. وعلى الرغم من اختلاف إستراتيجيات قوى الاحتلال الأربع اختلافًا ملحوظًا من حيث الهدف والمحتوى والمنهجية، إلا أنَّ الجميع قد اتفقوا على أنَّ إقامة ديمقراطيةٍ مستقرة تتطلب ما هو أكثر من مواطنين يتشدَّقون بالكلام عن المبادئ الديمقراطية بينما هم يتقبلون على مضض النظام الديمقراطي الذي فرضته عليهم سلطات الاحتلال [2].وقد أكَّد هذا التشخيص أنَّ مجرد نقل المعلومات على أساس المنطق الكامن وراء الأنظمة الديمقراطية لم يكن كافيًا. كان من المطلوب التركيز على تنمية المواقف والممارسات الديمقراطية بدلًا من فرض بعض الأفكار "من قِبَل السلطات العليا". وسرعان ما ظهرت عقيدة أنَّ "الديمقراطيات بحاجة إلى ديمقراطيين" كعقيدةٍ أساسية لمفهوم تعليم المواطنة، وهي لا تزال سارية حتى اليوم. بحلول الستينيات من القرن الماضي، أخذت المقاربات اليسارية الجديدة الجدل لما هو أبعد من ذلك، حيث طالبت باكتساب تعليم المواطنة لمزيدٍ من التحرر، وشجعت الشعب على التشكيك في السلطة ومقاومتها إذا لزم الأمر. وعلى نقيض ذلك، وُجِدت مقاربات اتخذت موقفًا أكثر "عقلانية" وأقل تسييسًا، تؤكد على اكتساء المعلومات والتفكُّر قيمةً أكبر من النشاط السياسي. اعتقد أحدهم أنَّ الهدف من تعليم المواطنة كان مساعدة المواطنين على التوصل إلى أحكامٍ رشيدة؛ واعتقد الآخر أنَّ تعليم المواطنة تمثَّل في تعليم المواطنين كيفية تحرير أنفسهم من أولئك الذين قد يسعون للاستيلاء على السلطة. وبسبب المطالب الاجتماعية والسياسية التي طرحها تعليم المواطنة، كان النقاش في بعض الأحيان محل نزاع شديد. وفي صميمه، أعاد إثارة الجدل حول النظرية العلمية القائمة بين العقلانية الانتقادية والنظرية الانتقادية. بعد إعادة توحيد ألمانيا في عام ١٩٨٩، كان يُنظَر إلى "إعادة التعليم" على أنَّه ترياقٍ ضروري لسنواتٍ من التلقين المُكثَّف في ظل النظام الشمولي. ومرةً أخرى، تمَّ التأكيد على أنَّ تضمين القيم والممارسات الديمقراطية واستيعابها سيكون الأكثر فعاليةً في القضاء على الأفكار المعادية للديمقراطية بين صفوف الشعب. ولا يعتبر تعليم المواطنة في ألمانيا متحيزًا ولكنه أيضًا غير محايد؛ فهو متجذر في قيم الديمقراطية وتفسيرها الموجود في الدستور، أي في القانون الأساسي الألماني.و في مرحلة ظهوره الأولى، تمَّ اشتقاق تعليم المواطنة من مجالات التعليم والعلوم السياسية وثيقة الصلة، ولم يتطور البرنامج إلى تخصصٍ أكاديميٍّ مستقل إلا في فترة الستينيات. ومنذ ذلك الحين، طالب بالحق في مداولة المسائل المتعلقة بوضع خطط عمليات تعليم المواطنة وتنفيذها وتقييمها؛ ويتضمن هذا الدور البحث التجريبي، والتفكير (المعياري)، وتصميم عمليات التعلُّم وتنفيذها. 2. التعريف تعليم المواطنة لطالما كان التعريف الدقيق لتعليم المواطنة موضع خلاف. ويتمحور النقاش حول ماهية المعارف التي يجب تطبيقها، والتخصصات الأكاديمية التي يجدر وضعها بعين الاعتبار فيما يتعلق بموضوعات محتوى تعليم المواطنة، والأطر المفاهيمية الأكثر تبشيرًا على صعيد عمليتَي التدريس والتعلُّم المُتَّسمتَين بالفاعلية والجدوى. اجتمعت مواقفُ مختلفة خلال النقاش الأكاديمي المستمر [3]، وبُذِلت المحاولات الأولى في إعادة ترسيخ العلوم السياسية على أنَّها التخصص المرجعي لتعليم المواطنة [4]. يستخدم النموذج الثاني مجالات شتى ضمن إطار العلوم الاجتماعية، مع إعطاء كل مجال منها أهميته الخاصة، في مسعى لجعل تعليم المواطنة مادة وسيطة [5]. يشير المنظور الثالث بقدرٍ كبير إلى الخطاب الديمقراطي والإسهام المدني [6]. ويؤكد الموقف الرابع على أهمية المادة المستقلة، ويستخدم المعرفة السابقة للمتعلمين كنقطته المرجعية [7]. ما تشترك فيه المقاربات الثلاث الأولى هو أنَّها تُشدِّد على وضع مرتكز تعليم المواطنة في الإطار الأكاديمي، سواء في العلوم السياسية، أو العلوم الاجتماعية، أو دراسة الديمقراطية. أما المقاربة الرابعة، فقد ابتعدت عن المطالب التي قدمتها الدوائر الأكاديمية المؤسسية، وتُحبِّذ بدلًا من ذلك استخدام تصورات الأفراد كنقطة انطلاق من أجل تطوير مقاربات يتمحور تركيزها حول المواطنين. تُترجَم كلٌّ من أطر العمل المختلفة إلى أهداف وغايات تعليمية مختلفة يتمُّ اتباعها في الفصل الدراسي، وتتطرق في الحديث بدرجاتٍ متفاوتة إلى النماذج النظرية للمواطنة، مثل الليبرالية، والمواطنة الجمهورية، والنموذج النقدي [8]. وتُركِّز المقاربة الليبرالية لتعليم المواطنة على تنشئة مواطنين مستقلين يمكنهم العمل من أجل دعم مصلحتهم الخاصة، كما تُركِّز على تعزيز المستوى الأساسي من معرفة المواطنة لدى الأفراد وتعزيز ميولهم نحو الإسهام. وتؤكد مقاربة المواطنة الجمهورية على ضرورة انخراط المواطنين بفاعلية في المجتمع كمواطنين متساوين وأحرار. وتُشدِّد المقاربة على مسؤولية المواطنة في العمل من أجل تحقيق الصالح العامّ. وتُركِّز المقاربة النقدية على تحسين المجتمع ونقده من خلال العمل السياسي والتغيير الاجتماعي. وتعتمد هذه المقاربة على فكرة التمكين، والعدالة الاجتماعية، ونقد الوضع الراهن. وفي عام ٢٠١٦، نشر علماء من المدرسة النقدية للفكر دليلًا للمبادئ الأساسية، وهو "إعلان فرانكفورت: من أجل تربية سياسية متحررة ونقدية" [9]. وكان الدليل يهدف إلى إعادة توجيه النقاش القائم حول أهداف تعليم المواطنة وموضوعاته نحو مقاربة أقدر على إحداث تغيير في تعليم المواطنة. ويُركِّز الإعلان على ستة مجالات رئيسية، هي: الأزمة، والجدل، وانتقاد السلطة، والانعكاسية، والتمكين، والتغييرات. وعلى الرغم من الأفكار المتنافسة لتعليم المواطنة، يوجد اتفاقٌ واسع النطاق يتمثل في ثلاثة مبادئ أساسية يُعرَف باسم "اتفاق بويتلزباخ". في عام ١٩٧٦، شكَّل مؤتمر علماء التربية مدارس بيداغوجية مختلفة تناولت الحاجة إلى تجنُّب التلقين. وكان التعليم كواسطة دعائية وكوسيلة لغسل أدمغة المواطنين قضيةً ذات حساسية خاصة في الجمهورية الاتحادية بسبب سياسات التلقين النازية والشيوعية السابقة [10]. اتفق المشاركون في المؤتمر على مجموعة من المبادئ التوجيهية التي تؤكد على مفهوم التعليم "الموضوعي"، حيادي القِيَم [11]. يحظر المبدأ الأول على التربويين إغراق الطلاب وتحميلهم فوق قدرتهم بالآراء أو المواقف أو القيم السياسية. ويتعارض أي نوع من التلقين مع الفكرة الأساسية المتمثلة في تنشئة فردٍ يتحلى بالثقة بالنفس ويُقيِّم الأمور بعينٍ ناقدة، ومن ثَمَّ يتعذر التوافق بين التلقين وتعليم المواطنة بوجهٍ عامّ. وبموجب المبدأ الثاني، يُتوَقع من التربويين إمعان التفكير في تنوع وجهات النظر وتعدد المصالح وما ينطرح جراء ذلك من مشكلات. وإذا كان هناك موضوعٌ ما مثيرٌ للجدل في العلوم أو السياسة أو المجتمع بشكلٍ عامّ، فيجب أن يُدرَّس على هذا النحو أيضًا بمادة تعليم المواطنة. أما المبدأ الثالث، فيفترض أنَّ الطلاب يتعين تدريبهم على كيفية تحليل مصالحهم السياسية والتأثير في المجتمع بطريقةٍ واقعية من أجل تحقيق تلك المصالح. وقد لعب "اتفاق بويتلزباخ" دورًا بارزًا في مجال تعليم المواطنة في ألمانيا ولا يزال يُمثِّل ركيزةً أساسية. ومع ذلك، كان النُّقاد الجدد يطالبون بضرورة التشكيك بشكلٍ صريح في الافتراضات المعيارية والضمنية والآثار المترتبة على الاتفاق؛ إذ إنَّها تتحدث ضمنيًّا لصالح الوضع الراهن بدلًا من الحديث عن المفاهيم التحررية الحقيقية. تحوَّل "الاتفاق" إلى محور للنقاش العامّ في عام ٢٠١٨. وقد طالب حزب أقصى اليمين السياسي في ألمانيا "البديل من أجل ألمانيا " (AFD) بالتزام "الحيادية" بشكلٍ تام في تعليم المواطنة عند تدريس القضايا السياسية أو المثيرة للجدل. وأشار الحزب، من بين أمورٍ أخرى، إلى المبدأَين الأول والثاني لـ "اتفاق بويتلزباخ" عندما حاجوا بأنَّ المعلمين لا بد ألا يروِّجوا لوجهات نظرٍ سياسية أو تستند إلى القيم في الفصول الدراسية، بل بالأحرى عليهم أن يعرضوا وجهات النظر المعارِضة على نحوٍ متوازن، بما في ذلك وجهات النظر اليمينية. وقد أجَّج تقدُّم "حزب البديل من أجل ألمانيا" احتجاجًا شعبيًّا. وأوضحت السلطات والمؤسسات التعليمية وجماعات المناصرة أنَّ موقف الحيادية تجاه وجهات النظر اليمينية يعتبر في حد ذاته خيارًا سياسيًّا، وهو خيار يُعزِّز العنصرية ومعاداة السامية. وسرعان ما نشرت هيئة المدارس الألمانية إعلانًا توضح فيه أنَّ الممارسة داخل الفصول الدراسية لا ينبغي أن تكون حيادية بشأن القِيَم، ولكنها ملزمة باتخاذ موقفٍ مؤيد لحقوق الإنسان والقِيَم الديمقراطية [12]. في الواقع، يُحظَر على المعلمين قانونًا مناصرة الأحزاب السياسية أو الاستخفاف بها، ومع ذلك وفي الوقت نفسه، تقع على عاتقهم مسؤولية قانونية لمواجهة المواقف التي تطرح معاداة السامية والعنصرية، وكذلك التمييز ضد المثليات والمثليين، ومزدوجي الميول الجنسية، ومغايري الهوية الجنسانية، أو أي شكلٍ آخر من أشكال التمييز [13]. 3. النظام البيئي لتعليم المواطنة غير الرسمي يتميز نظام تعليم المواطنة غير الرسمي في ألمانيا بتنوعه بتنوع ست عشرة ولاية اتحادية، تُعرَف باسم Länder، تُحدِّد كلٌّ منها أولوياتها وأهدافها المتعلقة بالتعليم؛ ما يسمح بالتالي بوجود نظامٍ لامركزي للتعليم غير الرسمي. ومع ذلك، هناك بعض السياسات العامة والشاملة وبعض صناديق التمويل الاتحادية. يعتبر صندوق "Kinder- und Jugendplan des Bundes" (خطة الاتحاد بشأن الأطفال والشباب) هو الصندوق الرئيسي التابع للاتحاد الذي يسمح بالتنوع في تعليم المواطنة غير الرسمي، فهو يُموِّل مجموعة متنوعة من المنظمات غير الحكومية والمراكز الإقليمية؛ ما يضمن وجود مقارباتٍ متنوعة ومحايدة لتعليم المواطنة.و يتميز وضع تعليم المواطنة غير الرسمي بنطاقٍ من الإعالة من وكالات تقع خارج حيز المسؤولية المباشرة للحكومة الاتحادية أو الحكومات الإقليمية، مع التركيز بشكلٍ خاص على تنوع التعليم. منذ عامَي ٢٠١٩ و٢٠٢٠، عندما فقدت مجموعة من منظمات المجتمع المدني العاملة في مجال تعليم الكبار وضعها غير الربحي، خَشِيَ مقدمو الخدمات التعليمية غير الرسمية في ألمانيا من تقييد السلطات للخطاب السياسي في المجتمع المدني.و في قرارٍ نُشِر في عام ٢٠١٩، قضت محكمة ألمانيا العليا لشؤون الضرائب والجمارك بأنَّ المجموعة الناشطة "أتاك" (الرابطة المعنية بفرض الضرائب على المعاملات المالية لمساعدة المواطنين، ATTAC) لم تَعُد مؤهلة للتمتع بصفة المنظمة غير الربحية بسبب نشاطها السياسي العامّ ودعواتها لتقديم المطالبات واتخاذ الإجراءات الملموسة[14]. وينص القانون الضريبي الألماني على أنَّ الشركات التي تخدم الصالح العامّ بشكلٍ مباشر مؤهلةٌ للتمتع بحق الإعفاء الضريبي. ووفقًا للمحكمة، فإن تعزيز تعليم الكبار يتطلب مناقشة المسائل السياسية بذهنٍ متفتح، إلا أنَّه لا يجوز استخدامه لتحقيق أهدافٍ سياسيةٍ محددة. ويتعرض بقاء العديد من مؤسسات التعليم غير الرسمي للخطر إذا ما تمَّ إلغاء صفتها غير الربحية. 4. العروض التعليمية من حيث المحتوى، والغرض، والمنهجية، والانتساب الفلسفي تضطلع مجموعةٌ متنوعة من الوكالات الحكومية وغير الحكومية بتطبيق تعليم المواطنة غير الرسمي، وهي تشمل المدارس، والكليات، ومؤسسات تعليم الكبار الممولة من القطاع العامّ، والنقابات، والكنائس. ويُفسِّر تاريخ ألمانيا الدور المهم الذي تلعبه المؤسسات التي تكون بالضرورة، في بعض الحالات، فريدة من نوعها بالنسبة إلى ألمانيا؛ وينطبق ذلك بشكلٍ خاص على مجموعة متنوعة من المؤسسات السياسية والدينية وعلى الوكالة الاتحادية لتعليم المواطنة (BpB). وتعتبر الأخيرة من ضمن الوكالات التنفيذية التابعة لوزارة الداخلية الاتحادية، وتشارك في تطبيق كلٍّ من تعليم المواطنة الرسمي وغير الرسمي. ولديها مكاتب فرعية إقليمية في خمس عشرة ولاية. وترتبط المؤسسات من حيث توجهها السياسي أو الفكري أو الفلسفي أو الديني بمجتمعات دينية أو أحزاب سياسية راسخة، غير أنها مستقلة عن الأحزاب والكنائس وتقدم خدمات تعليمية متنوعة. 5. البيئة القانونية لتعليم المواطنة الرسمية يندرج تصنيف تعليم المواطنة في المدارس تحت مظلة السلطة الثقافية للولايات الألمانية المعنية؛ ما يعني أنَّ أهميتها كمادة تختلف من ولايةٍ اتحادية إلى أخرى. وفيما يتعلق بمكانتها ضمن المناهج الدراسية، يتمُّ إدراج تعليم المواطنة كمادةٍ مستقلة بذاتها. وفي حين أنَّها تقع في إطارٍ معياريٍّ للقيم الديمقراطية وحقوق الإنسان، إلا أنَّها مادةٌ غير متحيزة، حيث لا تعمل على توعية المواطنين في إطار علاقتهم بالدولة على وجه الحصر. فهي لا تهدف فحسب إلى الحفاظ على الوضع الديمقراطي الراهن؛ بل تسعى إلى تطوير قدرة المواطنين على الحكم والتصرف؛ مما يمكنهم بالتالي من إعادة التفكير وإعادة صياغة مبادئ وهياكل المواطنة، ولا سيما تلك التي تنطوي على التفكير النقدي والمشاركة السياسية [15]. يُزعَم أنَّه تمَّ إضفاء الطابع المؤسسي على تعليم المواطنة باعتباره مقررًا دراسيًّا أساسيًّا في جميع المرافق التعليمية الرسمية المتنوعة في ألمانيا وعلى كل مستوى من مستويات التعليم. ومع ذلك، توفِّر معظم المدارس على الصعيد العملي أقل من الساعتَين النموذجيتَين من تعليم المواطنة كل أسبوع. 6. الجهات المعنية إلى جانب الأنشطة المدرسية، هناك جانبٌ مهمٌ آخر من تعليم المواطنة يتمثل في إشراك الطلاب الصغار والكبار خارج الفصل الدراسي في مجموعةٍ متنوعة من فرص التعلُّم غير الرسمية التي ترعاها الدولة والهيئات الاجتماعية. تُدعَّم أنشطة تعليم المواطنة الخارجة عن المنهج الدراسي أو كانت تُموَّل من قِبَل الأحزاب السياسية، والنقابات، والجمعيات التجارية، والمؤسسات، والمجتمعات الدينية والروحية، ووسائل الإعلام، والأكاديميات، والمؤسسات المستقلة، والمبادرات التي تسعى لتطبيق تعليم المواطنة بموجب التزامها بالمُثل السياسية. ومع ذلك، فقد قامت المؤسسات العامة مؤخرًا بسحب الدعم المالي المُقدَّم في إطار هذا المجال؛ ما تسبَّب في زيادة التمويل الخاص من أجل تعليم المواطنة، والذي غالبًا ما يدعو بشكلٍ ضمنيٍّ أو صريح إلى مناصرة المعايير والقيم الجزئية. يتنافس تعليم المواطنة غير الرسمي بشكلٍ متزايد مع العروض التعليمية التي ترتبط ارتباطًا وثيقًا بمسألة الصلاحية للعمل والاحتياجات الاقتصادية؛ ما يستدعي الحاجة إلى النقاش لضمان أنَّ الصلاحية للعمل والبرامج التعليمية الخاصة بها لا تحل محل المواطنة الانتقادية. 7. التحديات فيما يتعلق بالاحتياجات البحثية، يتمثل التحدي الرئيسي لتعليم المواطنة في ألمانيا في الوقت الحالي في مواصلة البناء على الخطاب الدولي وقاعدة البحث الدولية الموجودة بالفعل؛ وذلك لمواصلة تطوُّر تعليم المواطنة إلى تخصصٍ أكاديميٍّ مستقل. وفيما يتعلق بالبحث التجريبي، يجب إيلاء الانتباه إلى ما يُعرَف بالوعي بالمواطنة [16]، وهي مقاربة تُركِّز على المواطنين وتشير إلى الأفكار البديهية لدى الأفراد بشأن العالم الاجتماعي والسياسي. وتدعو مقاربة الوعي بالمواطنة إلى التشكيك في أي عملية تدريس تُركِّز على التغطية الشاملة لمعارف تعليم المواطنة أو الأحكام المعيارية التي لا تُدرِج المعنى الذي تحويه بشكلٍ ضمني للمتعلمين. وبدلًا من ذلك، تشرع المقاربة في اقتراح بديل للمقاربات المعيارية لتعليم المواطنة التي عادةً ما تُستَمد من النظريات الليبرالية والجمهورية والنقدية (انظر "التعريف") من خلال سكب مزيدٍ من الالتزام والقيمة على المغزى الفردي. وتعني مقاربة الوعي بالمواطنة وضع المتعلم في صميم العملية. إنَّ الإسهاب في الافتراضات التي تسترشِد بها القوالب الفكرية للأفراد والقدرة على مناقشتها سيساعدان الطلاب على الفهم الحقيقي لقضايا المواطنة، وليس فقط التعلُّم بغية غايةٍ محددة. وبناءً على ذلك، من المُرجَّح اعتبار المعرفة العملية بنتائج البحث حول تصورات المتعلمين عن الواقع السياسي والاجتماعي أمرًا جوهريًّا لإعداد المعلمين مهنيًّا في هذا المجال. في السنوات الأخيرة، تزايدت الكراهية للأجانب بالخطاب العامّ الألماني، كما أصبح الحديث الذي يحض على الكراهية أكثر شيوعًا [17]. وأصبح الصعود السريع لشعبوبية جناح اليمين والهجمات العنصرية مدعاةً رئيسية للقلق، ولا سيما في أوقات الأزمات؛ إذ تُحرِز المواقف اليمينية تقدُّمًا باستخدام شعاراتٍ إقصائية و"حلولٍ" ساذجة مزعومة لأي مشكلة متوخاة. كان للخطاب المستمر حول الخوف من الإسلام وكراهية الأجانب المنبثق عن اليمين المتطرف تأثير في الخطاب السياسي السائد وحظي بتأثيرٍ ملموس في النقاش عبر الإنترنت [18]. ويلعب تعليم المواطنة في ألمانيا دورًا رئيسيًّا بلا منازع في تعزيز الخطاب السياسي للمجتمع عن التوجهات المناهضة للديمقراطية وعن التعددية في ألمانيا، وفي المساهمة في بزوغ مجتمعٍ أكثر تكاملًا تندمج فيه الأقليات والطبقات الاجتماعية [19]. ثمة مجال راهن آخر يتعين النهوض به، ألا وهو الدور المحوري الذي تلعبه المواطنة التشاركية في التعاطي مع تغيُّر المناخ والتحول إلى نموذج مستدام للنمو الاقتصادي (أو لتراجعه). ثالثًا، يتمُّ التركيز على تعليم المواطنة الرقمية؛ إذ تلعب الرقمنة دورًا مهمًّا في صياغة الحياة السياسية والاقتصادية والاجتماعية، وتحتاج إلى أن تنعكس بصورةٍ انتقادية عبر جميع أبعادها الاجتماعية، والبيئية، والاقتصادية، والسياسية. وتشمل الجوانب الأساسية آلية وإمكانات وحدود المنصات الإلكترونية، مثل إنستغرام وفيسبوك وغوغل، وتأثيرها في الثقافة الديمقراطية، والاقتصاد العالمي المستدام، والاستقلالية الفردية. 8. الحواشي [1] روبرتس، جيوفري. ٢٠٠٢. التربية السياسية في ألمانيا. في: الشؤون البرلمانية (٥٥)، ٥٥٦-٥٦٨. [2] المرجع نفسه. [3] لانغيه، ديرك. ٢٠٠٨-أ. وعي المواطن. صور وتصورات المعني في التربية السياسية. (Bürgerbewusstsein. Sinnbilder und Sinnbildungen in der Politischen Bildung.) في: مجتمع-اقتصاد-سياسة (GWP) (٣)، ص ٤٣١-٤٣٩. [4] فايسينو، عيورغ، وديتيين، ويوآخيم، ويوخلِر، إنغو. ٢٠١٠. مفاهيم السياسة. نموذج كفاءات. (Konzepte der Politik. Ein Kompetenzmodell.). بون: الوكالة الاتحادية للتربية السياسية (نُشرت السلسلة من قِبَل الوكالة الاتحادية للتربية السياسية، المجلد ١٠١٦). [5] فريق المؤلفين المعنيّ بوضع البيداغوجيا المتخصصة. بيساند، أنيا، وغرامِّس، تيلمان، وهيدتكه، راينهولد، ولانغيه، ديرك، وبِتريك، أندرياس، وراينهاردت، سِبيليه (محررون). ٢٠١١. مفاهيم التربية السياسية. مناظرة خطية. (Konzepte der politischen Bildung. Eine Streitschrift.). شفالباخ آم تاونوس: Wochenschau Verlag، سلسلة السياسة والتعليم، المجلد ٦٤. [6] هيمِلمان، غيرهارد. ٢٠١٣. الكفاءات المطلوبة لتدريس المواطنة الديمقراطية وتعلُّمها والعيش بها. في: موراي برينت وديرك لانيغه (محرران): التربية المدنية والكفاءات المطلوبة لإشراك المواطنين في الديمقراطيات. روتردام: دار نشر سينس، ص ٣-٧. بيرمان، غونتر سي.، وغرامّس، تيلمان، وراينهاردت، سِبيليه (٢٠٠٤). السياسة: المنهج الأساسي للعلوم الاجتماعية في الثانوية العامة. (Politik: Kerncurriculum Sozialwissenschaften in der gymnasialen Oberstufe). في: هاينز إلمار تينورت (محرر): المنهج الأساسي في المراحل العليا. خبرات. (Kerncurriculum Oberstufe. Expertisen.). فاينهايم: بيلتز (بيداغوجيا بيلتز)، ص ٣٢٢-٤٠٦. [7] لانغيه، ديرك. ٢٠٠٨-أ. [8] هوسكينز، بريوني. ٢٠١٣. ماذا تحتاج الديمقراطية من مواطنيها؟ تحديد الصفات المطلوبة للمواطنة الفاعلة وتوضيح القيم. في: موراي برينت وديرك لانغيه (محرران): المدارس والمناهج وتعليم المواطنة لتنشئة مواطنين ديمقراطيين. روتردام، بوسطن: دار نشر سينس (المواطنة والتثقيف السياسي، ٢)، ص ٢٣-٣٥. [9] أيس، أندرياس، ولوش، بيتينا، وشرودِر، أخيم، وشتيفينس، غيرد. ٢٠١٦. إعلان فرانكفورت: من أجل تربية سياسية متحررة ونقدية. في: مجلة تعليم العلوم الاجتماعية، المجلد ١٥، رقم ١، ص ٧٤-٧٥. [10] روبرتس، جيوفري. ٢٠٠٢. [11] شيليه، سيغفريد، وشنايدِر، هِربِرت، وفيشر، كورت غيرهارد. ١٩٧٧. مشكلة الإجماع في التربية السياسية. (Das Konsensproblem in der politischen Bildung.). شتوتغارت: إيه. كليت (ملاحظات وحجج بشأن تعليم التاريخ والتربية السياسية، ١٧). [12] مؤتمر وزراء التربية والتعليم. ٢٠١٨. الديمقراطية كهدف وموضوع وممارسة للتربية والتعليم السياسي والتاريخي في المدرسة. قرار مؤتمر وزراء التربية والتعليم بتاريخ ٠٦/٠٣/٢٠٠٩ بصيغته الصادرة بتاريخ ١١/١٠/٢٠١٨. مؤتمر وزراء التربية والتعليم. بون. [13] هيلدت، إنكين. ٢٠٢٠. تعليم حقوق الإنسان. في: سابين عاشور، وماتياس بوش، وبيتر ماسينغ، وكريستيان ماير-هايدِمان (محررون): قاموس درس التاريخ. (Wörterbuch Politikunterricht). فرانكفورت: Wochenschau Verlag، ص ١٣٩-١٤١. [14] غيسلي، جيني. ٢٠١٩. ألمانيا: المحكمة المالية الاتحادية تنزع عن رابطة "أتاك" الصفة غير الربحية. مكتبة الكونغرس (المرصد القانوني العالمي). مُتاح عبر الإنترنت على موقع: Externer Link: https://www.loc.gov/law/foreign-news/article/germany-federal-fiscal-court-revokes-nonprofit-status-of-attac/،[ آخر دخول بتاريخ ١٥/٠٧/٢٠٢٠.] [15] لانغيه، ديرك. ٢٠٠٨-ب. تعليم المواطنة في ألمانيا. في: فيولا بي. جورجي (محررة): تنشئة المواطنين في أوروبا. آفاق جديدة حول التربية المدنية. بون: الوكالة الاتحادية للتربية السياسية (Bpb) (نُشِرت السلسة من قِبَل الوكالة الاتحادية للتربية السياسية، المجلد ٦٦٦)، ص ٨٩-٩٥. [16] لانغيه، ديرك. ٢٠٠٨-أ. [17] اللجنة الأوروبية لمكافحة العنصرية والتعصُّب ٢٠٢٠. [Externer Link: https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwjU9-3u6fbwAhULDOwKHfpUCWwQFjAAegQIBhAD&url=https%3A%2F%2Frm.coe.int%2Fecri-report-on-germany-sixth-monitoring-cycle-german-translation-%2F16809ce4c0&usg=AOvVaw2ogS-s4wQWvvCFzernCMNZ [آخر دخول بتاريخ ٢٩/٠٦/٢٠٢١] [18] اللجنة الأوروبية لمكافحة العنصرية والتعصُّب ٢٠٢٠. [19] هيلدت، إنكين. ٢٠٢٠. المدرسة بتكليف حقوق الإنسان. في: جريدة Pädagogische Rundschau ٧٤. ٢٠٢٠ (٢)، ص ٣٢٣-٣٣٤. DOI: 10.3726 / PR032020.0032. Interner Link: English Version
Article
ديرك لانغن , اينكن هلدت
"2022-05-24T00:00:00"
"2021-02-18T00:00:00"
"2022-05-24T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/nece/327145/t-lym-almwatnt-fy-almanya/
تعرفوا على تعليم المواطنة في ألمانيا حيث ستجدون معلومات عن تعريف المواطنة، النظام البيئي لتعليم المواطنة الغير الرسمي، البيئة القانونية، الجهات المعنية و التحديات. بالإضافة سنقوم بشرح العروض التعليمية في ألمانيا و أثرها على مفهوم المواطنة في ألمانيا.
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Parlament stimmt Fiskalpakt und Euro-Rettungsschirm zu | Hintergrund aktuell | bpb.de
In erster Linie hat das Parlament über den europäischen Fiskalpakt und den Euro-Rettungsschirm ESM entschieden. Beim Fiskalpakt entfielen von 608 abgebenen Stimmen 491 auf die Regierungsvorlage, 111 Parlamentarier stimmten mit Nein. Auch das Gesetz zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wurde mit Zwei-Drittel-Mehrheit angenommen. Von 604 Abgeordneten stimmen 493 dafür und 106 dagegen. Im Anschluss stimmte auch der Bundesrat zu, ebenfalls mit der von der Regierung angestrebten Zwei-Drittel-Mehrheit. Das Abstimmungsergebnis war erwartet worden, weil sich im Vorfeld sowohl Bund und Länder als auch Regierung und Teile der Opposition in Verhandlungen verständigt hatten. Die Sitzung war zu einer ungewöhnlichen Zeit am Freitagabend angesetzt, da sich zuvor noch die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel getroffen hatten. Einigung zwischen Bund und Ländern, Gauck wartet ab Im Rahmen der Verhandlungen zwischen Bund und Ländern hatten die Länder finanzielle Entlastungen für sich und für die Kommunen erreicht. Bei einem Treffen am vergangenen Sonntag (24.Juni.) war außerdem vereinbart worden, dass der Bund bei zu hoher Verschuldung von Ländern und Kommunen mögliche Strafzahlungen an die EU bei Nichtachtung des Fiskalpaktes übernimmt. Bundespräsident Joachim Gauck hat schon vor einer Woche angekündigt, die entsprechenden Gesetze nicht sofort zu unterschreiben. Das Bundesverfassungsgericht hatte ihn um diesen Aufschub gebeten, nachdem unter anderem die Linke eine Verfassungsklage gegen die Umsetzung des ESM in Deutschland angekündigt hatte. Was regelt der Fiskalvertrag im Einzelnen? Der Fiskalpakt, der am 2. März von den EU-Staaten mit Ausnahme von Großbritannien und Tschechien beschlossen wurde, betrifft vor allem die 17 Staaten der Euro-Zone. Ratifiziert werden muss er von mindestens 12 EU-Staaten. Er soll spätestens am 1. Januar 2013 in Kraft treten. Kern des Paktes für mehr Haushaltsdisziplin sind nationale Schuldenbremsen, um ausgeglichene Haushalte zu erreichen. Das jährliche strukturelle Staatsdefizit eines Landes soll demnach 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht übersteigen. Beim strukturellen Defizit handelt es sich um den Anteil des Haushaltsdefizits, der übrig bleibt, wenn Konjunktureffekte und einmalige Sonderausgaben nicht eingerechnet werden. Mitgliedstaaten, die ihre Schuldenbremse nicht strikt genug umsetzen, drohen eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof und eine Geldbuße von bis zu 0,1 Prozent ihres BIP. Bislang musste die Aufnahme eines Sanktionsverfahrens bei Verletzung der Stabilitätskriterien mit qualifizierter Mehrheit der EU-Staaten beschlossen werden. Nun soll das Sanktionsverfahren automatisch starten und nur mit einer qualifizierten Mehrheit der EU-Finanzminister gestoppt werden können. Finanzhilfen für Krisen-Staaten: Der Europäische Stabilitätsmechanismus Neben der Fiskalpakt-Abstimmung entscheidet das Parlament über den Euro-Rettungsschirm ESM. Er soll überschuldeten Euro-Ländern finanzielle Unterstützung in Form von Darlehen bieten. Das maximale Ausleihvolumen beträgt 700 Milliarden Euro. Der deutsche Anteil an den Garantien liegt bei etwa 27 Prozent, was einer Summe von etwa 190 Milliarden Euro entspricht. ESM und Fiskalpakt sind indirekt miteinander verknüpft: Ab dem 1. März 2013 sollen nur noch jene Staaten Anspruch auf Finanzhilfen des ESM haben, die den Fiskalpakt ratifiziert haben. Mehr zum Thema Fiskalpakt: EU-Staaten beschließen schärfere Haushaltskontrollen Interner Link: Die Erblast des Euro
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-26T00:00:00"
"2012-06-29T00:00:00"
"2022-01-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/139469/parlament-stimmt-fiskalpakt-und-euro-rettungsschirm-zu/
Bundestag und Bundesrat haben am Freitagabend (29. Juni) den Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin und den Europäischen Stabilitätsmechanismus mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen.
[ "Euro-Rettungsschirm", "Fiskalpakt", "Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM)", "Finanzhilfen", "Europäische Union" ]
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Der neu gewählte Deutsche Bundestag | bpb.de
Deutschland ist eine repräsentative Demokratie, in der Bürgerinnen und Bürger ihre Entscheidungsgewalt über politische Belange an gewählte Repräsentantinnen und Repräsentanten delegieren, die dann stellvertretend für sie Entscheidungen treffen. Die Abgeordneten im Bundestag regieren somit im Namen des Volkes. Um beurteilen zu können, wie gut die deutsche Demokratie in der Praxis funktioniert, ist es folglich notwendig zu bewerten, inwiefern der Bundestag ein "repräsentatives" Parlament ist. Aber was macht gute Repräsentation aus? In der politikwissenschaftlichen Forschung werden zur Beantwortung dieser Frage zwei Aspekte in den Blick genommen: Erstens, wer sind die Repräsentierenden? Und zweitens, für welche Politik setzen sie sich ein? Der vorliegende Beitrag befasst sich mit dem ersten Aspekt, der impliziert, dass Abgeordnete in einer repräsentativen Demokratie die Charakteristika der Wählerschaft so gut wie möglich abbilden sollten. Indem die Vielfalt der Bevölkerung im Parlament deutlich wird, steigt auch die Chance, dass die Vielfalt ihrer Interessen bei der politischen Entscheidungsfindung Gehör findet. Denn Interessen resultieren nicht nur aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Region oder aus unterschiedlichen Präferenzen, die letztlich zur Wahl einer bestimmten Partei führen, sondern auch aus individuellen Merkmalen der Bürgerinnen und Bürger wie beispielsweise Alter, Geschlecht oder soziale Herkunft. Diese Idee, dass Parlamente ein Spiegelbild der Bevölkerung sein sollten, wird auch als "deskriptive Repräsentation" bezeichnet. Wenn deskriptive Repräsentation als Standard angelegt wird, ist die Frage elementar, ob alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend im Bundestag repräsentiert sind. Nur wer anwesend ist, kann auch politisch mitgestalten. Zudem hängt auch die Wahrnehmung der Demokratie durch die Bevölkerung davon ab, ob die Bürgerinnen und Bürger in den Repräsentierenden ein adäquates Abbild der Gesellschaft sehen. Deskriptive Repräsentation ist somit für die Legitimität eines politischen Systems insgesamt von besonderer Bedeutung. In der politikwissenschaftlichen Forschung hat das Phänomen entsprechend viel Aufmerksamkeit erfahren und zur Untersuchung der numerischen Stärke unterschiedlicher Gruppen in Parlamenten weltweit geführt, etwa von Frauen, Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationshintergrund und unterschiedlicher Religionszugehörigkeit, jungen und einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen, LGBTQ-Menschen und Personen mit Behinderung. Der vorliegende Beitrag greift dieses wichtige Thema auf und geht der Frage nach, inwiefern die Zusammensetzung des neu gewählten Bundestags einen Trend zu höherer Repräsentativität erkennen lässt. Positive Effekte deskriptiver Repräsentation Die Bevölkerungen moderner Gesellschaften sind hochgradig heterogen. Sie unterscheiden sich unter anderem nach Geschlecht, Alter, Abstammung, sozioökonomischem Hintergrund, Bildungsgrad, Migrationshintergrund und Religionszugehörigkeit. Es gibt vielerlei Gründe, warum Abgeordnete ihrer Wählerschaft ähneln und insbesondere marginalisierte und historisch benachteiligte Gruppen dabei berücksichtigt werden sollten. Die Idee deskriptiver Repräsentation wird vor allem damit gerechtfertigt, dass sie zu einem gewissen Maß an substanzieller Repräsentation führen sollte. Abgeordnete, die die sozialen Merkmale ihrer Wählerinnen und Wähler teilen, sollten eher für deren Interessen eintreten. Damit vernachlässigten Präferenzen im politischen Prozess Gehör verschafft wird, braucht es Repräsentierende, die bestimmte Eigenschaften mit unterrepräsentierten Gruppen gemein haben. Die angemessene Berücksichtigung der Interessen von Frauen beispielsweise sollte in der Regel dann sichergestellt sein, wenn der Anteil von Frauen in gesetzgebenden Organen dem Anteil von Frauen in der Gesamtbevölkerung nahekommt. Diese Verbindung zwischen deskriptiver und substanzieller Repräsentation basiert auf der These, dass Repräsentierende sich besonders für die Bedürfnisse derjenigen engagieren, mit denen sie bestimmte Merkmale teilen, weil sie den gleichen Erfahrungshorizont besitzen. Dieser Logik folgend ist "Anwesenheit" im Gesetzgebungsprozess vor allem dann von Bedeutung – beziehungsweise "Abwesenheit" dann besonders kritisch –, wenn sich die Erfahrungen bestimmter Gruppen systematisch von denen der übrigen Bevölkerung unterscheiden. Entsprechend dieser Logik zeigt die empirische Forschung, dass in der Praxis eine Frau, eine Person mit Migrationshintergrund, mit LGBTQ-Identität oder mit Behinderung im Parlament mit höherer Wahrscheinlichkeit die Interessen der jeweiligen Gruppe vertritt. Das sollte jedoch nicht zu voreiligen Schlussfolgerungen führen: Zunächst ist die Annahme, dass alle Parlamentsmitglieder, die sich einer bestimmten Gruppe zuordnen lassen, bei allen politischen Themen die gleichen Positionen einnehmen, empirisch nicht haltbar. Zudem können grundsätzlich alle Abgeordneten, unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit, für Themen eintreten, die für unterrepräsentierte Gruppen wichtig sind. Und schließlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine größere Anzahl von Abgeordneten, die eine bestimmte Eigenschaft teilt, automatisch dazu führt, dass die Qualität substanzieller Repräsentation linear ansteigt. Deskriptive Repräsentation kann zudem symbolische Effekte auf Einstellungen und Wahrnehmungen von Gruppenmitgliedern entfalten, insbesondere auf die gefühlte politische Teilhabe, das Wissen über und das Vertrauen in die Politik sowie auf die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie. Wo gesellschaftliche Gruppen über einen längeren Zeitraum benachteiligt und systematisch ausgegrenzt oder bevormundet wurden, schafft ihre Anwesenheit in Parlamenten einen symbolischen Wert für diejenigen, die diese Geschichte von Ausgrenzung und Diskriminierung teilen. Weiterhin entfaltet ein gesundes Maß an Gruppenrepräsentation auch eine Vorbildwirkung. So können zum Beispiel die Erfahrungen von Frauen in der Politik andere Frauen dazu inspirieren, ebenfalls für ein Amt zu kandidieren. Die symbolischen Folgen der deskriptiven Repräsentation führen also zu einem Mehr an "De-facto-Legitimität" eines politischen Systems. Frauen, Abgeordnete mit Migrationshintergrund und Abgeordnete unter 30 Jahren im Deutschen Bundestag, 1990 bis 2021, jeweils zu Beginn der Legislaturperiode. (© bpb) Deskriptive Repräsentation birgt zudem das Potenzial, die Einstellungen der breiteren Öffentlichkeit gegenüber der Repräsentation traditionell benachteiligter Gruppen zu verändern. Ein höherer Frauenanteil in der Politik erhöht beispielsweise nachweislich die Akzeptanz der Bevölkerung für Frauen in politischen Führungspositionen. Sobald eine marginalisierte Gruppe im öffentlichen Raum sichtbarer wird, wandeln sich auch Überzeugungen in der Gesellschaft darüber, inwiefern die Mitglieder dieser Gruppe eine politische Rolle erfolgreich ausüben können. Den Anteil jeder gesellschaftlichen Gruppe in Parlamenten optimal abzubilden, ist jedoch weder realisierbar noch unbedingt wünschenswert. Das realistischere Ziel besteht darin, der Unterrepräsentation oder gar dem Ausschluss bestimmter Gruppen aus dem politischen Prozess entgegenzuwirken. Die Steigerung der deskriptiven Repräsentation ist folglich am dringendsten für Gruppen, die lange Zeit bevormundet und diskriminiert wurden und deren geteilte Erfahrung die Art und Weise prägt, in der Gruppenmitglieder über Politik denken. Deskriptive Repräsentation im Bundestag Inwiefern spiegelt nun der Deutsche Bundestag gegenwärtig unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen angemessen wider? Die Diversität im Bundestag hat in den letzten Jahrzehnten zweifelsohne zugenommen, das Erscheinungsbild des aktuellen Parlaments wird allerdings nach wie vor von den dominanten gesellschaftlichen Gruppen geprägt. Die Entwicklung der deskriptiven Repräsentation unterscheidet sich stark von Gruppe zu Gruppe. Um einige Gruppenunterschiede exemplarisch zu veranschaulichen, zeigt Abbildung 1 den Anteil der Frauen an den Abgeordneten, den Anteil der Abgeordneten mit Migrationshintergrund sowie den Anteil der unter 30-jährigen Abgeordneten im Zeitverlauf. Während der ersten vier Jahrzehnte nach Gründung der Bundesrepublik waren Frauen in der deutschen Politik nahezu unsichtbar. Nicht einmal zehn Prozent der Bundestagssitze in der frühen Nachkriegszeit gingen an Mandatsträgerinnen. Ab den späten 1980er Jahren stieg der Frauenanteil binnen zwanzig Jahren auf 30 Prozent an; ein Wandel, der mit der Einführung von Frauenquoten in Parteien und dem Eintritt der Grünen in die deutsche politische Landschaft zusammenhing. Allerdings beobachten wir keinen Anstieg hin zur Parität. So stagniert der Frauenanteil bei etwa einem Drittel und verzeichnete vereinzelt sogar Einbrüche, wie etwa 2017, als er von 36,5 auf 30,7 Prozent sank und damit auf den niedrigsten Wert seit 20 Jahren fiel. Der neu gewählte 20. Bundestag wird mit einem Frauenanteil von 34,8 Prozent seine Amtsgeschäfte aufnehmen – 257 Frauen unter 736 Abgeordneten. Die jüngsten Wahlen haben also erneut ein weitgehend von Männern dominiertes Gesetzgebungsorgan hervorgebracht und keine Trendwende herbeigeführt. Ganz ähnlich wie bei den Frauen gab es bei den bisherigen Wahlen auch hinsichtlich der parlamentarischen Repräsentation von Abgeordneten unter 30 Jahren kaum systematische Veränderungen. Im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte besetzten junge Abgeordnete zwischen 1,5 und 3,8 Prozent der Sitze – und dies, obwohl der Anteil der 18- bis 30-Jährigen in der Bevölkerung 1990 bei 19 Prozent und 2017 bei 14 Prozent lag. Bei der Bundestagswahl 2021 stieg der Anteil der unter 30-jährigen Parlamentsabgeordneten jedoch sprunghaft an und beläuft sich nun immerhin auf 6,4 Prozent. Die überwiegende Mehrheit dieser jungen Abgeordneten gehört den Fraktionen der Grünen beziehungsweise der SPD an, bei denen 21,2 beziehungsweise 12,6 Prozent aller Fraktionsmitglieder 1991 oder später geboren wurden. Künftige Wahlen werden zeigen, ob dies der Beginn eines Trends ist, der zu einem besseren parlamentarischen Abbild der Altersstruktur der Bevölkerung führt, oder doch nur ein Einmaleffekt. Der Anteil der Abgeordneten mit Migrationshintergrund zeigt dagegen in den vergangenen Wahlen einen stabilen positiven Trend. Seit Mitte der 1990er Jahre die ersten türkischstämmigen Politikerinnen und Politiker in die sozialdemokratische und die grüne Fraktion gewählt wurden, sind Menschen, die selbst oder deren Eltern im Ausland geboren wurden, in der Politik zunehmend sichtbarer. Seit 2009 stehen verlässliche Daten über die zahlenmäßige Stärke dieser Gruppe im Bundestag zur Verfügung. Zu beobachten ist ein fortwährender Anstieg der Mandatszahlen. Nach der Bundestagswahl 2021 haben 11,3 Prozent aller Abgeordneten einen Migrationshintergrund. Während dieser Anteil auf den ersten Blick vielleicht als hoch erscheint, entspricht er gleichwohl nur etwa der Hälfte dessen, was proportionaler Repräsentation entsprechen würde, da der Bevölkerungsanteil von Personen mit Migrationshintergrund derzeit auf etwa 24,3 Prozent geschätzt wird. Über die genannten Gruppen hinaus verfügen wir nur über wenig systematische und verlässliche Informationen bezüglich anderer Charakteristika der Bundestagsmitglieder, etwa LGBTQ-Identität, Religion oder Behinderung. Dies ist einerseits Folge mangelnden Interesses an der systematischen Erfassung solcher Informationen, geht andererseits aber auch auf die Zurückhaltung von Abgeordneten zurück, ihre Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen öffentlich zu machen. Zum Teil fürchten sie Anfeindungen innerhalb des Parlaments, ihrer eigenen Partei oder der Wählerschaft. Ein positives Signal hin zu einem vielfältigeren Parlament stellt die Wahl von zwei Abgeordneten des 20. Deutschen Bundestags dar, die sich explizit nicht den traditionellen Geschlechtern zuordnen – womit eine weitere "gläserne Decke" durchbrochen wäre. Hindernisse für eine Zunahme deskriptiver Repräsentation Was sind die größten Hindernisse auf dem Weg zu einem vielfältigeren Bundestag? Für Frauen wurden die Ursprünge ihrer Unterrepräsentation ausführlich wissenschaftlich untersucht und dokumentiert, sodass die wesentlichen Faktoren bekannt sind: Bis zu einem gewissen Grad ist die Unterrepräsentation von Frauen ein "angebotsseitiges" Problem, da sich zu wenige Frauen als Kandidatinnen für politische Ämter zur Verfügung stellen. Unterschiede in der Sozialisation von Männern und Frauen führen dazu, dass Frauen seltener von sich glauben, aussichtsreiche Anwärterinnen auf ein politisches Amt zu sein, was sie von einer Kandidatur abschreckt. Geschlechtsspezifische Diskrepanzen mit Blick auf politische Ambitionen bewirken zudem, dass Frauen im Gegensatz zu Männern politische Karrieren als weniger erstrebenswert wahrnehmen. Frauenanteil im Deutschen Bundestag nach Partei, 1990–2021. (© bpb) Der anhaltend niedrige Frauenanteil ist jedoch auch die Folge eines weitaus größeren "nachfrageseitigen" Problems: Innerhalb der Parteien werden Männer gegenüber Frauen als Kandidierende für politische Ämter systematisch bevorzugt. Da die Parteien selbst darüber entscheiden, wer kandidieren darf und wo Kandidatinnen und Kandidaten auf Listen und Stimmzetteln platziert werden, kommt ihnen eine tragende Rolle als "Türsteher" für legislative Ämter zu. Parteiführungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene beeinflussen, wer eine Kandidatur anstreben kann, indem sie Kandidierenden Unterstützung anbieten oder diese versagen. Allein oder im Zusammenspiel mit Delegierten der Parteien bestimmen sie die tatsächlichen Chancen der Anwärterinnen und Anwärter, gewählt zu werden, indem sie diese für mehr oder weniger aussichtsreiche Listenplätze oder Wahlkreise nominieren. Mehrere politische Parteien in Deutschland haben sich dazu entschieden, diese Nominierungsverfahren mittels Geschlechterquoten zu regulieren. Parteien aus dem linken Spektrum haben vergleichsweise hohe Quoten eingeführt und folgen damit dem Beispiel der Grünen, die eine 50-Prozent-Quote auf allen Ebenen sowie ein "Reißverschlusssystem" auf Listen eingeführt haben, bei dem Männer und Frauen im Wechsel nominiert werden. Die im eher konservativen Spektrum angesiedelten Parteien haben deutlich schwächere Anforderungen festgeschrieben (CDU/CSU) oder auch gänzlich von der Einführung von Quoten abgesehen (FDP und AfD). In Parteien, die keine strikte Geschlechterquote eingeführt haben, geht die Existenz informeller Quoten, die durch eine ausgewogene Nominierung nach Regionen oder Berufsgruppen Vielfalt auf Listen garantieren sollen, oft zu Lasten des Frauenanteils. Über Direktmandate gewählte Frauen nach Partei, 1990–2021. (© bpb) Infolgedessen sind die Schwankungen des Frauenanteils im Bundestag in den letzten drei Jahrzehnten eng mit den Wahlerfolgen der verschiedenen Parteien und deren jeweiligen Maßnahmen zur Gleichstellung von Frauen in politischen Ämtern verknüpft. Wie Abbildung 2 verdeutlicht, hat sich der Anteil der gewählten Frauen pro Partei in diesem Zeitraum kaum verändert. Nach der jüngsten Bundestagswahl weisen Grüne, SPD und Linke einen Frauenanteil von 42 bis 58 Prozent in den Reihen ihrer Abgeordneten auf. Mit 13 bis 24 Prozent liegen die Anteile bei CDU/CSU, FDP und AfD deutlich niedriger. Stimmenverschiebungen zwischen diesen Parteien erklären damit besser den jüngsten Anstieg der Repräsentation von Frauen als ein gesellschaftlicher Schub hin zu Parität. Parteien bevorzugen männliche Anwärter besonders dann, wenn sie Kandidierende für Wahlkreise nominieren, in denen sie erfahrungsgemäß gut abschneiden. 2021 erreichte der Anteil der Frauen, die über Parteilisten gewählt wurden, parteiübergreifend 40,6 Prozent, während Frauen lediglich 26,1 Prozent der Direktmandate gewannen. Abbildung 3 verdeutlicht diese Diskrepanz und zeigt die Anzahl der Frauen, die Wahlkreismandate gewannen, im Vergleich zur Gesamtzahl dieser Mandate für SPD, CDU und CSU (jenen drei Parteien, die die meisten dieser Sitze innehaben). Lediglich 17 Prozent der von der CDU gewonnenen Direktmandate werden im neuen Bundestag mit einer Frau besetzt sein. Zur Wahl 2017 lag dieser Anteil noch um 2,2 Prozentpunkte höher; der Verlust an Direktmandaten, den die CDU erfahren hat, trifft die Frauen in der Partei also härter als die Männer. Die SPD steigerte den Frauenanteil unter den Abgeordneten mit Direktmandaten von 27,1 auf 32,2 Prozent. Allerdings konnte die SPD die Anzahl dieser Mandate im Vergleich zur letzten Wahl fast verdoppeln (121 gegenüber 59). Das bedeutet, dass auch innerhalb der SPD Männer nach wie vor deutlich häufiger als Frauen für die Kandidatur in aussichtsreichen Wahlkreisen ausgewählt werden. Schlussfolgerungen In einer Demokratie sollte das Parlament idealerweise ein Spiegelbild der Gesellschaft sein. In der Praxis ergibt sich daraus der kaum vollständig erfüllbare Anspruch, Abgeordnete müssten sowohl politische Präferenzen als auch geografische Zugehörigkeiten sowie unterschiedliche Eigenschaften der Bevölkerung so akkurat wie möglich abbilden. Wenn nun auch noch die Frage der Responsivität berücksichtigt wird, also das, was Abgeordnete nach der Wahl im Parlament tun, erscheint gute Repräsentation alles andere als einfach zu erreichen. Als Parlament ein exaktes Abbild der soziodemografischen Eigenschaften der Gesellschaft zu sein, ist somit nicht das einzige normative Ziel, das es im Hinblick auf Repräsentation zu verfolgen gilt; es stellt nur eine von vielen Facetten dar. Entscheidend ist, systematischer Ausgrenzung oder Unterrepräsentation gerade dort entgegenzuwirken, wo sich bestimmte Gruppen vom öffentlichen Leben entfremdet fühlen, weniger für Politik interessieren, seltener am demokratischen Prozess beteiligen und sich sowohl bei politischer Partizipation als auch bezüglich ihrer Repräsentation im Abseits stehend fühlen. Obwohl der neu gewählte Bundestag größer ist als je zuvor, wird er weiterhin von Männern, Menschen gehobeneren Alters sowie solchen ohne Migrationshintergrund dominiert. Während der Frauenanteil zwischen 2017 und 2021 um 4,1 Prozentpunkte anstieg, markiert diese marginale Verbesserung keine echte Trendwende. Stagnation im Frauenanteil ist seit langer Zeit der Status quo. Während der Anteil der Abgeordneten unter 30 Jahren um 4,6 Prozentpunkte gestiegen ist, droht dieser Zuwachs ein Einmaleffekt zu bleiben, wenn nicht alle Parteien die Gelegenheit nutzen, bei künftigen Wahlen eine breitere gesellschaftliche Basis anzusprechen. Und während der Anteil der Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund in den letzten Wahlen zwar kontinuierlich anwuchs, ist auch diese Gruppe im Deutschen Bundestag weiterhin stark unterrepräsentiert. Ein großer Teil der Verantwortung, zukünftige Parlamente vielfältiger werden zu lassen, liegt in den Händen von Parteivorständen und Mitgliedern der Parteigremien. Durch eine Veränderung ihrer Rekrutierungs- und Nominierungsstrategien können sie das Gesicht des Bundestags dauerhaft verändern. Insbesondere, solange strenge gesetzliche Quoten wie etwa in Frankreich oder Spanien fehlen oder per Gerichtsbeschluss untersagt werden, bleiben Parteien die wichtigsten Türsteher, die über den Einlass in die aktive Politik entscheiden. Aus unseren Beobachtungen ergibt sich schließlich die normative Frage, für welche gesellschaftlichen Gruppen der Handlungsbedarf am dringendsten ist. Angesichts ihrer langjährigen Ausgrenzung aus dem politischen Geschehen und ihrer fortwährenden Diskriminierung im privaten, beruflichen und politischen Leben ist die Forderung, dass Frauen stärker im Bundestag vertreten sein sollten, naheliegend. Bei anderen Gruppen, etwa den jungen Menschen, könnte argumentiert werden, diese seien weder dauerhaft politisch ausgegrenzt noch gebe es wissenschaftliche Belege für einen Zusammenhang zwischen deskriptiver und substanzieller Repräsentation, die den Anspruch auf stärkere politische Einbindung rechtfertigen würden. Doch welche Bedeutung hat es für diese Diskussion, dass sich im Zeichen der Klimakrise die Debatte über Generationengerechtigkeit zuspitzt und Interessenunterschiede zwischen Jung und Alt zu verschärfen scheinen? Endgültige Antworten auf diese und ähnliche Fragen zu geben, geht über die Zielsetzung dieses Beitrags hinaus. Wir hoffen jedoch, die nötigen Informationen bereitgestellt zu haben, um eine längst überfällige gesellschaftliche Diskussion darüber anzustoßen, für welche Gruppen eine stärkere Vertretung im Bundestag gegenwärtig von besonderer Dringlichkeit ist. Frauen, Abgeordnete mit Migrationshintergrund und Abgeordnete unter 30 Jahren im Deutschen Bundestag, 1990 bis 2021, jeweils zu Beginn der Legislaturperiode. (© bpb) Frauenanteil im Deutschen Bundestag nach Partei, 1990–2021. (© bpb) Über Direktmandate gewählte Frauen nach Partei, 1990–2021. (© bpb) Vgl. Nadia Urbinati/Mark E. Warren, The Concept of Representation in Contemporary Democratic Theory, in: Annual Review of Political Science 11/2008, S. 387–412. Vgl. Hanna Pitkin, The Concept of Representation, Berkeley 1967. Vgl. Christina Eder/Jessica Fortin-Rittberger/Corinna Kroeber, The Higher the Fewer? Patterns of Female Representation Across Levels of Government in Germany, in: Parliamentary Affairs 2/2016, S. 366–386; Susan Franceschet/Mona Lena Krook/Netina Tan (Hrsg.), The Palgrave Handbook of Women’s Political Rights, London 2018. Vgl. Karen Bird/Thomas Saalfeld/Andreas M. Wüst (Hrsg.), The Political Representation of Immigrants and Minorities: Voters, Parties and Parliaments in Liberal Democracies, Milton Park 2010; Corinna Kroeber, Growing Numbers, Growing Influence? A Comparative Study of Policy Congruence between Parliaments and Citizens of Immigrant Origin, in: European Journal of Political Research 4/2018, S. 900–918. Vgl. Didier Ruedin, Why Aren’t They There? The Political Representation of Women, Ethnic Groups and Issue Positions in Legislatures, Colchester 2013. Vgl. Daniel Stockemer/Aksel Sundström, Young Deputies in the European Parliament: A Starkly Underrepresented Age Group, in: Acta Politica 1/2019, S. 124–144. Vgl. Nathalie Giger/Jan Rosset/Julian Bernauer, The Poor Political Representation of the Poor in a Comparative Perspective, in: Representation 1/2012, S. 47–61. Vgl. Andrew Reynolds, Representation and Rights: The Impact of LGBT Legislators in Comparative Perspective, in: American Political Science Review 2/2013, S. 259–274. Vgl. Stefanie Reher, Do Disabled Candidates Represent Disabled Citizens?, in: British Journal of Political Science 2021 (online first), Externer Link: https://doi.org/10.1017/S0007123420000733. Vgl. Anne Phillips, The Politics of Presence, Oxford 1995. Vgl. Daniel Höhmann, When Do Female MPs Represent Women’s Interests? Electoral Systems and the Legislative Behavior of Women, in: Political Research Quarterly 4/2020, S. 834–847. Vgl. Thomas Saalfeld, Parliamentary Questions as Instruments of Substantive Representation: Visible Minorities in the UK House of Commons, 2005-10, in: Journal of Legislative Studies 3/2011, S. 271–289. Vgl. Lea Ewe Bönisch, What Factors Shape the Substantive Representation of Lesbians, Gays and Bisexuals in Parliament? Testing the Impact of Minority Membership, Political Values and Awareness, in: Parliamentary Affairs 2021 (online first), Externer Link: https://doi.org/10.1093/pa/gsab033. Vgl. Reher (Anm. 9). Vgl. Sarah Childs/Mona Lena Krook, Analysing Women’s Substantive Representation: From Critical Mass to Critical Actors, in: Government and Opposition 2/2009, S. 125–145; Sarah C. Dingler/Corinna Kroeber/Jessica Fortin-Rittberger, Do Parliaments Underrepresent Women’s Policy Preferences? Exploring Gender Equality in Policy Congruence in 21 European Democracies, in: Journal of European Public Policy 2/2019, S. 302–321. Vgl. Virginia Sapiro, Research Frontier Essay: When Are Interests Interesting? The Problem of Political Representation of Women, in: American Political Science Review 3/1981, S. 701–716; Jane Mansbridge, Should Blacks Represent Blacks and Women Represent Women? A Contingent "Yes", in: Journal of Politics 3/1999, S. 628–657. Vgl. Christina Wolbrecht/David E. Campbell, Role Models Revisited: Youth, Novelty, and the Impact of Female Candidates, in: Politics, Groups, and Identities 3/2017, S. 418–434. Vgl. Mansbridge (Anm. 16), S. 650. Vgl. Amy C. Alexander, Change in Women’s Descriptive Representation and the Belief in Women’s Ability to Govern: A Virtuous Cycle, in: Politics & Gender 4/2021, S. 437–464; dies./Farida Jalalzai, Symbolic Empowerment and Female Heads of States and Government: A Global, Multilevel Analysis, in: Politics, Groups, and Identities 1/2020, S. 24–43. Vgl. Statistisches Bundesamt, 14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung für Deutschland – Basis 2018, Externer Link: http://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Bevoelkerungsvorausberechnung/aktualisierung-bevoelkerungsvorausberechnung. Vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2020, Externer Link: http://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Publikationen/_publikationen-innen-migrationshintergrund. Vgl. Jennifer L. Lawless/Richard L. Fox, Girls Just Wanna Not Run: The Gender Gap in Young Americans’ Political Ambition, Washington, DC 2013; Melody Crowder-Meyer/Benjamin E. Lauderdale, A Partisan Gap in the Supply of Female Potential Candidates in the United States, in: Research & Politics 1/2014, S. 1–7. Vgl. Jessica Preece/Olga Stoddard, Why Women Don’t Run: Experimental Evidence on Gender Differences in Political Competition Aversion, in: Journal of Economic Behavior & Organization 117/2015, S. 296–308. Vgl. Louise K. Davidson-Schmich, Gender Quotas and Democratic Participation: Recruiting Candidates for Elective Offices in Germany, Ann Arbor 2016. Vgl. Christopher F. Karpowitz/J. Quin Monson/Jessica Robinson Preece, How to Elect More Women: Gender and Candidate Success in a Field Experiment, in: American Journal of Political Science 4/2017, S. 927–943. Vgl. Meryl Kenny, Gender and Political Recruitment: Theorizing Institutional Change, Houndmills 2013; Maarja Luhiste, Party Gatekeepers’ Support for Viable Female Candidacy in PR-List Systems, in: Politics & Gender 1/2015, S. 89–116. Vgl. Marion Reiser, The Universe of Group Representation in Germany: Analysing Formal and Informal Party Rules and Quotas in the Process of Candidate Selection, in: International Political Science Review 1/2014, S. 55–66; Petra Ahrens et al., Gender Equality in Politics: Implementing Party Quotas in Germany and Austria, Cham 2020.
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, Jessica Fortin-Rittberger | , Corinna Kröber
"2022-02-09T00:00:00"
"2021-11-16T00:00:00"
"2022-02-09T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/343506/der-neu-gewaehlte-deutsche-bundestag/
Trotz kleinerer Verbesserungen, etwa bei der Repräsentation von Frauen und jüngeren Menschen, wird auch der neu gewählte Bundestag diesem Anspruch nicht wirklich gerecht.
[ "Bundestag", "Parlament", "Repräsentativität", "Repräsentation", "Gender-Mainstreaming", "Wirtschaftsunternehmen", "Demokratie", "repräsentative Demokratie", "Wählerschaft", "Alter", "Geschlecht", "Migrationshintergrund", "Legitimität", "juristische Person", "Gruppenzugehörigkeit", "Identität", "Ausgrenzung", "Diskriminierung", "Rechtsform", "Marginalisierung", "Direktmandate", "Parteien", "Listenplatz" ]
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Notizen aus Moskau: 20 Jahre danach – Bürgerkrieg in Moskau | Russland-Analysen | bpb.de
Der 3. Oktober 1993 war ein sonniger Herbsttag. Selbst über dem gewöhnlich versmogten Moskau war der Himmel blau. Schon kein Altweibersommer mehr, die Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt, aber herrlich frische Luft und, weil ein Sonntag, kein Stau. Ich lebte seit einem halben Jahr hier und hatte am Mittag meinen Vater zu seinem ersten Besuch in Russland vom damals noch einzigen "internationalen Flughafen" Scheremetjewo abgeholt. Wir fuhren gerade auf dem Gartenring am Außenministerium (einem der sieben Zuckerbäcker-Stalinhochhäuser Moskau) vorbei, als uns eine Sperre der Verkehrspolizei stoppte. In der Ferne war auf der Krim-Brücke am Gorki-Park, vom Oktoberplatz mit der großen Leninstatue kommend, eine fahnenschwenkende Menschenmenge zu sehen. Ein Verkehrspolizist beugte sich zu meinem heruntergekurbelten Fenster runter und sagte freundlich-gutmütig (!): "Dreh’ um Deutscher, sonst bringen sie Dich um." Die Demonstranten gehörten zu den Anhängern des Obersten Sowjets mit seinem Gegenpräsidenten Alexander Ruzkoj. Sie waren also Gegner von Präsident Boris Jelzin. Sie waren auf dem Weg zum damaligen Parlamentssitz, dem sogenannten "Weißen Haus" an der Kalininbrücke über die Moskwa. Dort sollten sie (oder nicht sie, sondern die Anhänger des Russofaschisten Alexander Barkaschow, so genau weiß das bis heute niemand) später an diesem Tag das seit zwei Jahren im gegenüberliegenden Comecon-Gebäude (oder, östlicher gesprochen, RGW-Gebäude) untergebrachte Bürgermeisteramt stürmen. Damit begann ein knapp zweitägiger Bürgerkrieg. Ein kurzer Bürgerkrieg, zugegeben. Ein auf das Moskauer Stadtzentrum und das Gebiet um das Fernsehzentrum Ostankino beschränkter Bürgerkrieg. Aber doch ein Bürgerkrieg. Sein Ausgang ist bekannt. Boris Jelzin gewann den schließlich mit Waffengewalt geführten Kampf um die Macht und errichtete durch die später, im Dezember des gleichen Jahren in einem Referendum angenommenen neuen Verfassung eine ganz auf den Präsidenten zugeschnittene föderale Republik, die seither aber immer mehr Föderales und Republikanisches verloren hat. Schon einige Wochen wird im Vorfeld des 20. Jahrestags dieser Ereignisse in den russischen Massenmedien und im russischsprachigen Internet heftig darüber diskutiert, was damals eigentlich geschah. Die Leute fragen (sich und andere), ob Jelzin richtig gehandelt hat? Ob es von vielen derjenigen, die sich bis heute "Liberale" oder "Demokraten" nennen, richtig war, ihn damals zu unterstützen? Ob nicht in den damaligen Herbstereignissen und -entscheidungen schon der Keim der heutigen Probleme mit der Demokratie in Russland liegt? Oder ob es nicht so oder so zur Putinschen Restauration hat kommen müssen? Weil das eben "Russlands Weg" ist. Weil das Land dazu verurteilt ist, wie in einer Zeitschleife die immer gleichen Fehler immer wieder zu wiederholen. Ich denke das nicht. Aber das ist wohl eine Frage der Geschichtsauffassung. Selbstverständlich trägt jede Gesellschaft ihre Geschichte mit sich in die Zukunft. Das macht manche Entwicklungen wahrscheinlicher als andere. Aber es gibt, zumal in Umbruchzeiten, auch fast immer Momente, in denen die Chancen, es anders zu machen, größer sind als sonst. Die Zeit von der späten Perestroika, so etwa ab 1988, bis 1993 war eine solche Umbruchzeit. Wie kam es zu der Anfang Oktober in diesem Zwei-Tage-Bürgerkrieg gipfelnden Machtauseinandersetzung, deren Bewertung das Land bis heute in zwei ziemlich unversöhnliche, ja, so scheint es, unversöhnbare Lager teilt (weshalb die oben erwähnte Diskussion eigentlich zwei Diskussionen sind, die nebeneinander her verlaufen)? Am Anfang standen zwei demokratische Sternstunden, wie es sie in Russland bis dahin noch nicht gegeben hatte. Im Frühjahr 1990 wurde der Kongress der Volksdeputierten, das Parlament der "Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik", in ziemlich freien Wahlen gewählt. Ein Jahr später stimmte eine Mehrheit der Menschen in Russland für Boris Jelzin als Präsident, einen Posten, der im sowjetischen Institutionengefüge nicht vorgesehen war. Damit gab es, noch bevor das Land dann am 1.1.1992 durch die Auflösung der Sowjetunion auch formal als "Russische Föderation" unabhängig wurde, zwei durch direkte Wahlen legitimierte Machtzentren. Aber es fehlte jegliche Regelung, jegliche Tradition, wie diese Macht zu teilen sei. Das ging solange gut, wie das gemeinsame Interesse sich gegen Sowjetpräsident Michail Gorbatschow richtete. Die Sowjetunion war zwar schon moribund aber noch nicht tot, als das Parlament Präsident Jelzin im November 1991 zusätzlich zum Regierungschef machte und, wenn auch auf ein Jahr limitiert, mit nahezu diktatorischen Vollmachten ausstattete. Jelzin bestimmte Jegor Gajdar zum Vizepremier und der begann sofort mit unaufschiebbar notwendigen Wirtschaftsreformen. Diese (liberalen) Wirtschaftsreformen trafen schnell auf erbitterten Widerstand einer Mehrheit des Parlaments. Dabei ging es nicht nur um die "richtige" Politik. Es ging auch darum, wer die Verfügungsgewalt über die riesige sowjetische Konkursmasse erhält. Dieser Anfangskonflikt führte zudem dazu, dass sich um Jelzin vor allem Wirtschaftsliberale und "Demokraten" (also Leute, denen für Russland ein bis heute "westlich" genannter Weg vorschwebte) scharten, während sich im Parlament Kommunisten und russische Nationalisten, kurz, die "Antiwestler" sammelten (man möge mir die grobe Verkürzung hier verzeihen). Dieses Schema bestimmte die Auseinandersetzungen bis zum Oktober 1993 (und bestimmt die russische Innenpolitik in vielerlei Hinsicht bis heute). Nur ganz kurz, was geschah: Im Dezember 1992 musste Jelzin auf Druck des Parlaments den Radikalreformer Gajdar gegen den aus dem sowjetischen Gassektor, also der alten Nomenklatura stammenden Wiktor Tschernomyrdin austauschen. Im März 1993 versuchte das Parlament vergeblich, Jelzin seines Amtes zu entheben. Im April konterte Jelzin mit einem Referendum, in dem er dem Volk direkt die Vertrauensfrage stellte und gewann. Doch das Grundproblem, wer denn nun im Staate Russland in welchen Dingen das Sagen hat, wurde nicht geklärt. Beide, Präsident und Parlament forderten die ganze Macht. Alle Versuche Jelzins, eine neue Verfassung zu schaffen und seine Position als Präsident zu stärken, wurden also vom Parlament abgewehrt. Am 21. September versuchte Jelzin diesen gordischen Knoten zu zerschlagen und unterschrieb den Ukas Nr. 1400, mit dem er eine "schrittweise Verfassungsreform" einleiten wollte, das Parlament auflöste und Neuwahlen für Dezember ansetzte. Schon am nächsten Tag erklärte das Verfassungsgericht den Ukas für verfassungswidrig. Die Parlamentarier verschanzten sich im Weißen Haus. In den darauf folgenden zwei Wochen wurde durchaus intensiv verhandelt. Eine Gruppe von Politikern, darunter Grigorij Jawlinskij, der bekannte Journalist Jegor Jakowlew und der Präsident des Verfassungsgerichts Walerij Sorkin, schlug eine sogenannte "Null-Variante" vor. Danach sollte Jelzin den Ukas Nr. 1400 zurück nehmen, während das Parlament den im Dezember gemeinsam zu organisierenden Parlamentswahlen zustimmt. Die Verhandlungen kulminierten in Treffen im Danilow-Kloster unter Vermittlung des orthodoxen Patriarchen Alexij II. Doch weder Parlament noch Jelzin waren zu Kompromissen bereit (oder in er Lage), obwohl heute klar ist, dass weder die eine, noch die andere Seite ihres (militärischen) Sieges gewiss war. Zu fest scheint in den Köpfen auch die Überzeugung gesessen zu haben, dass kein Kompromiss möglich sei, dass eine Seite gewinnen müsse, dass Politik im Grunde ein Nullsummenspiel sei. Eine Überzeugung, die heute noch vieles in der russischen Politik (und den Umgang mit Russland auf internationaler Ebene) erschwert. Dann kam der 3. Oktober mit dem Sturm des Bürgermeisteramts am Nachmittag. Die Sondereinsatztruppen des Innenministeriums zogen sich zurück und ließen einige gepanzerte Truppentransporter und einen Minenwerfer zurück. Abends versuchten die von General Albert Makaschow (einem extremen Nationalisten, der schon die Putschisten gegen Gorbatschow im August 1991 unterstützt hatte) angeführten "Parlamentstruppen" das Fernsehzentrum in Ostankino einzunehmen. Es gab, auf beiden Seiten, die ersten Toten, allerdings weit mehr auf Parlamentsseite, denn auf der Seite des Präsidenten. Dieses Ungleichgewicht sollte so bleiben. Am 3. Oktober erklärte Jelzin den Ausnahmezustand und Panzer rollten in Richtung Innenstadt. Zwar war Verteidigungsminister Pawel Gratschow anfangs nicht bereit, die Armee einzusetzen. Erst als sich am 3. Oktober die Polizei nach dem Sturm des Bürgermeisteramts zurückzog, gab er den Befehl einzugreifen. Selbst dann weigerten sich viele Kommandeure, auf das Parlament zu schießen und es kostete die Jelzin-Leute (Jelzin selbst verließ den Kreml, in dem zwei Hubschrauber zur Evakuierung bereit standen, nicht) viel Überzeugungskraft, wenigsten einige Panzerbesatzungen zum Einsatz ihrer Waffen zu bewegen. Da die Parlamentsseite bis auf den erbeuteten Granatwerfer nur mit leichten Waffen ausgerüstet war, und keine schwerer bewaffneten Armee- oder Innenministeriumseinheiten auf ihre Seite ziehen konnte, wurde das Weiße Haus am 4. Oktober schnell sturmreif geschossen. Gegenpräsident Alexander Ruzkoj, der Parlamentsvorsitzende Ruslan Chasbulatow und ihre Genossen gaben auf. Bis heute gibt es heftigen Streit darüber, wie viele Menschen in diesem Bürgerkrieg getötet wurden. Offiziell waren es 123 Tote und 389 Verletzte. In oppositionellen Publikationen werden Zahlen von bis zu 1.000 Toten genannt. Es herrscht auch keine Einigkeit, wer mit dem Schießen angefangen hat. (Fast) Jede Diskussion über den blutigen Herbst 1993 endet in gegenseitigen Beschuldigungen und teilt das Land in mindestens zwei Lager. Ich muss zugeben (und kann das auch über die meisten meiner politischen Freunde sagen), damals froh gewesen zu sein, das Jelzin den Sieg davon getragen hat, denn die Parlamentsseite war eine größtenteils doch sehr obskure Ansammlung (um es vorsichtig auszudrücken). Auch heute noch kann ich mir die Folgen ihres Siegs nur in sehr düsteren Farben ausmalen. Aber die Folgen von Jelzins damaligem Sieg wirken bis heute nach. Die im Dezember 1993 in einem umstrittenen Referendum angenommene und seither im Wesentlichen unverändert geltende Verfassung gibt dem Präsidenten fast alle Macht. Er kann sich, wie Jelzin immer wieder gezeigt hat, im Zweifel durch Ukase auch gegen ein oppositionelles Parlament durchsetzen. Zudem ist er Oberkommandierender, bestimmt über den Polizei- und Sicherheitsapparat und, seit Putin, auch die Gerichte. Zwar kann das Parlament den Präsidenten theoretisch absetzen, praktisch sind die Hürden dazu aber unüberwindbar. Wichtiger dürfte noch etwas anderes sein. Der Bürgerkrieg im Herbst 1993 hat die alte, bis ins 19. Jahrhundert zurück gehende Spaltung des Landes in "Westler" und "Antiwestler" erneuert und verstärkt. Vor allem aber hat er die Hoffnung der Perestroika und ersten Postperestroikazeit auf eine demokratische Wende enttäuscht. Diese Hoffnung mag alles in allem etwas Überschießendes und Naives gehabt haben. Aber wo war das in vergleichbaren Situationen nicht der Fall. Mehr noch: Gerade auf den ersten Blick unrealistisch erscheinende Hoffnung ist im Zweifel mitunter in der Lage, Gesellschaften über ja meist schwierige und krisenhafte Umbruchsphasen hinweg zu helfen. Das alles war nach dem Herbst 1993 vorbei und ist (erneut) einem alles zuschüttenden Zynismus von Herrschenden und Beherrschten gewichen. Damit war aber auch die Chance vertan, neue und legitime Institutionen zu etablieren, denen ausreichend viele Menschen im Land vertrauen. Institutionen zudem, die "inklusiv" anstelle von "extraktiv" sind (damit beziehe ich mich ausdrücklich auch auf die Untersuchungen von Daron Acemoglu und James A. Robinson zum "Scheitern" von Nationen). Außerdem wurde die Chance vertan, einen anderem Umgang miteinander (ein-)zuüben, als die jeweilige Vernichtung oder völlige Unterwerfung des politischen Gegners. So gesehen war Jelzins Sieg im Herbst 1993 also ein Pyrrhussieg. Heute, 20 Jahre danach, gewinnen ähnliche obskurante Figuren und Ansichten erneut die Oberhand, wie sie bei vielen Jelzingegnern vor 20 Jahren zu finden waren. Das sind zwar nicht mehr die gleichen Leute, aber es sind ihre Werte: ein überbordender, fremdenfeindlicher Nationalismus und ein patriarchalisch-autoritäres Gesellschaftsbild. Wann die nächste Weggabelung in der russischen Geschichte kommt, weiß niemand. Vielleicht kündigt sie sich gerade an. Ich hoffe, sie wird besser genutzt. Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russland­blog Externer Link: http://russland.boellblog.org/.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-10-16T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/170586/notizen-aus-moskau-20-jahre-danach-buergerkrieg-in-moskau/
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Einleitung: Lobbyismus und Demokratie | Lobbyismus | bpb.de
Mehr als eine halbe Million Suchergebnisse finden sich im Internet Anfang 2019 bei der Recherche zum Stichwort 'Lobbyismus' mit einer einschlägigen Suchmaschine. Der Topeintrag kommt von Wikipedia: "Lobbyismus, Lobbying oder Lobbyarbeit ist eine aus dem Englischen übernommene Bezeichnung für eine Form der Interessenvertretung in Politik und Gesellschaft, bei der Interessengruppen ("Lobbys") vor allem durch die Pflege persönlicher Verbindungen die Exekutive, die Legislative und andere offizielle Stellen zu beeinflussen versuchen. Außerdem wirkt Lobbying auf die öffentliche Meinung durch Öffentlichkeitsarbeit ein. Dies geschieht vor allem mittels der Massenmedien." (Hervorhebung im Original) Wenn es beim 'Lobbyismus' um Interessenvertretung in Politik und Gesellschaft geht, warum geht es dann vor allem um "persönliche Verbindungen" zur Exekutive und Legislative? Was ist neu oder anders an der anonymeren Arbeit über die Massenmedien als im traditionellen Verständnis von Interessenpolitik? Persönliche Beziehungen und die Medien spielten auch in der Vergangenheit schon eine Rolle bei der Öffentlichkeitsarbeit von Verbänden. Ein Externer Link: Artikel der Lobbypedia des lobbykritischen Vereins Lobbycontrol problematisiert dagegen den Zusammenhang von Lobbyismus und Demokratie. Das Lobbys, also Interessenvertreter/-innen versuchen Einfluss in Politik und Gesellschaft zu nehmen, ist legitim und wird schon im Rahmen der Verfassung mit verschiedenen Grundrechten in der Bundesrepublik und in vielen anderen Ländern geschützt. Zu nennen sind insbesondere das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 GG), das Recht auf Demonstration (Art. 8 GG), das Recht auf Zusammenschluss (Koalitionsfreiheit / Art. 9 GG), das Recht auf politische Partizipation (z.B. Petitionsrecht Art. 17 GG). Gleichzeitig verweist das Schlagwort Lobbyismus auf Ungleichheit in der Gesellschaft, auf starke und schwache Interessen. Neben der Problematik von asymmetrischer Macht und Einflussnahme geht es bei der Definition von Lobbycontrol auch um problematische Formen der Einflussnahme. Verdeckte Einflussnahme, Versuche der Manipulation und korrupte Praktiken gelten als undemokratisch, stehen also nicht mehr, zumindest nicht vollständig im Einklang mit den geltenden Normen der Demokratie: Zu viel Macht von einzelnen Interessen, zu wenig Transparenz bei der Arbeit vieler Interessengruppen, zu einseitige Einflussnahme bis hin zur gekauften Politik, zur Korruption. Zwar sind viele Kritikpunkte am ungleichen Einfluss von Interessengruppen keineswegs neu, aber der Eindruck von einer besonders starken Zunahme des Einflusses von Wirtschaftslobbys seit den 1980er Jahren prägt die öffentliche Wahrnehmung und Debatte. Im Zuge der Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, der Liberalisierung von besonders regulierten Branchen, von Europäisierung und Globalisierung schien das Gewicht von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden ständig zuzunehmen. Gewerkschaften und Sozialverbände gerieten in die Defensive. Was ist dran an dieser weiten Lobbykritik? Gibt es tatsächlich eine starke Veränderung des Systems der Interessenvertretung und eine Zunahme des Lobbyismus in Deutschland und Europa? Inwiefern unterscheiden sich die Kategorien Interessenvertretung und Lobbyismus? Welche Faktoren bestimmen den Wandel? Wie ist er zu bewerten? Gibt es Grund zur Sorge oder gilt gleichwohl das Leitbild vom Pluralismus der Interessen und Einflussnahme zum Wohle der Allgemeinheit? Mit diesem Dossier wird ein Beitrag geleistet, die Diskussion über das komplexe Phänomen des Lobbyismus auszuleuchten, historisch einzuordnen und zu versachlichen. Gleichzeitig wird nicht bestritten, dass die Diskussion über Demokratie, ungleichen Einfluss und Lobbymacht aus guten Gründen Anlass für eine kritische Auseinandersetzung bietet, weil es nicht zuletzt um mitunter konkurrierende Grundwerte von Freiheit, Inklusion und Fairness geht, weil Standpunkte zu beziehen sind, und weil Demokratie nicht einfach gegeben, sondern immer auch (weiter) zu entwickeln ist. Im Zentrum des Dossiers stehen die aktuellen Umstände und die Veränderungen in der Politik der Interessenvertretung. Allerdings ist es zum Verständnis der Gegenwart unabdingbar, zum Teil weit in die Vergangenheit zurückzublicken, z.B. bei der Analyse der Strukturveränderungen der Wirtschaft. Es gilt, die Ursachen der Veränderung im System der Interessenvertretung genauer zu bestimmen und die Wirkungen differenziert einzuschätzen. Die Grundlagen für eine allgemeine Beurteilung der Politik der Interessenvertretung und des Lobbyismus werden im ersten Teil des Dossiers gelegt. Im Einzelnen spielen dabei die Umgestaltungen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, die Entwicklungen in der Europäischen Union, der Strukturwandel der Wirtschaft, die Veränderungen der Medien und Öffentlichkeit sowie die Entwicklung der Zivilgesellschaft und die neuen Demokratiebewegungen eine bedeutende Rolle. Diese verschiedenen Stränge können auch durch die Brille der Demokratietheorie betrachtet und vertiefend erörtert werden. Im zweiten Teil des Dossiers werden Fallbeispiele aufgearbeitet, welche die einzelnen Aspekte des Wandels im nationalen und europäischen politischen System, in der Wirtschaft, in den Medien und in Bereichen der Zivilgesellschaft veranschaulichen und konkret erläutern. Auf dieser Basis und ausgestattet mit weiteren Hinweisen auf Quellen und Literatur zur Vertiefung lässt sich ergiebig diskutieren, was an der vorherrschenden Lobbyismuskritik berechtigt oder überzogen ist und welche Möglichkeiten es gibt, dort Abhilfe zu schaffen, wo dies als nötig erachtet werden kann. Leitend für die Beiträge zu diesem Dossier ist die Grundeinschätzung, dass Lobbyismus nur im Zusammenhang mit dem System der Interessenvertretung diskutiert werden kann, sich also nicht aus der Verallgemeinerung einzelner Fälle erklären lässt. Das Feld der Interessenvertretung ist zudem nicht statisch, sondern verändert sich in Abhängigkeit von unterschiedlichen Faktoren, u.a. aufgrund von rechtlich-institutionellen Veränderungen des politischen Systems (z.B. Föderalismusreform oder Verlagerung von Zuständigkeiten im Zuge der europäischen Integration), der Zusammensetzung der inländischen und ausländischen Akteure, der Formen der Einflussnahme (z.B. aufgrund von Veränderungen kommunikations- technischer Möglichkeiten) von Verschiebungen von in Kräfteverhältnissen (z.B. zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften). Notwendig ist also eine historische Erörterung, in deren Rahmen es zu klären gilt, ob und was ggf. neu ist am Phänomen des "Lobbyismus" und wie die möglicherweise veränderten Formen der Interessenvertretung einzuschätzen sind. Grundsätzlich wird mit und in den Beiträgen ferner darauf abgehoben, dass im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse immer verschiedene Interessen und Kräfte existieren und wirken, teils gegeneinander, teils miteinander. Für das demokratische politische System ist das nützlich, weil von und über Interessengruppen wichtige Informationen vermittelt werden. Lobbygruppen verfügen über Expertise im weiten Sinn und auch die Bewertung von Sachverhalten aus verschiedenen Perspektiven ist für den politischen Diskussionsprozess unabdingbar. Der Tauschansatz der Lobby-Forschung hebt abstrakt auf den jeweiligen Beitrag der gesellschaftlichen Interessengruppen und der politischen Akteure ab. Unterschieden werden Zugangsgüter, die Lobbygruppen bieten (z.B. fachliche Expertise, Informationen zum Brancheninteresse, aber auch Informationen über die Umsetzung von Politik, Unterstützung durch Bürgerinnen und Bürger oder wirtschaftliches Gewicht, z.B. Zahl von Arbeitsplätzen, Steuerbeiträgen etc.) und Zugang, den Politiker/-innen verschaffen (z.B. zu Verhandlungsarenen und Entscheidungsgremien wie Anhörungen, Beratungsgruppen oder Kommissionen, Entscheidungsträger/-innen in Parteien, Parlamenten und Regierungen oder Verhandlungsdelegationen) (Michalowitz 2014). Unterschiedliche Interessengruppen können konkurrieren, aber auch Koalitionen bilden. Über die Betrachtung einzelner Lobbygruppen hinaus wird es immer wichtiger, Allianzen zu bestimmten Anliegen, Fragen oder Themen zu untersuchen (Klüver 2012). Im System der Interessenvertretung macht es dabei einen großen Unterschied, ob unterschiedliche Interessen repräsentiert werden in Entscheidungsgremien sowie im Verhandlungs- und Entscheidungsprozess bis hin zur Gesetzgebung (bzw. deren Verhinderung) oder ob bestimmte Interessen besonders stark sind oder besonders privilegiert werden. Eine besonders starke Repräsentation von Interessengruppen ("the winner takes all") trifft auf eine Opposition, die sich nicht ohne weiteres in den Prozess einschalten kann, also auf außerparlamentarische Oppositionspolitik und Protest angewiesen ist. Schließlich ist zu beachten, dass nicht nur Lobbygruppen die Politik beeinflussen, sondern auch umgekehrt, politische Kräfte in Regierung und Parteien auf Lobbygruppen Einfluss nehmen bzw. Lobbygruppen zur Erreichung von politischen Zielen in die Pflicht nehmen (Schmitter und Streeck 1999). Jedenfalls aber tritt eine historische und relationale Entwicklungsperspektive entschieden gegen Interpretationen auf, die Allmacht und Ohnmacht beschwören, indem mächtige Lobbys allgemein als "Verschwörung" interpretiert werden, die unkontrollierte Macht in der Gesellschaft ausüben. Es ist dabei eine offene Frage, ob und inwiefern ein Mangel an Transparenz solchen Interpretationen Vorschub leistet. Gefährdung der Demokratie oder pluralistische Dynamik? Die Gegenpole der Einschätzung und Schlussfolgerung zum Thema Lobbyismus Ein Hotelunternehmer spendet im Landtagswahlkampf und im Bundestagswahlkampf Millionenbeträge an zwei Parteien, die bald darauf auf Bundesebene koalieren. Kurz nach der Bundestagswahl beschließt die neue Regierung eine Absenkung des Mehrwertsteuersatzes für den Geschäftszweig des Großspenders. Das klingt tatsächlich eher nach "Lobbykratie" als nach Herrschaft des Volkes. Ein berühmtes und folgenreiches Einzelbeispiel aus der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, weil der Vorgang dazu beigetragen hat, dass die danach spöttisch als "Mövenpickpartei" bezeichnete FDP bei der folgenden Wahl zum Bundestag nicht mehr ins Parlament gewählt wurde. Immerhin spräche dieses Scheitern der FDP an der Fünfprozenthürde bereits gegen die These der sorgenfreien Herrschaft bestimmter Lobbies. Zumindest mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung und für einen Teil der Akteure – die CSU war ebenso für die steuerliche Entlastung der Hoteliers verantwortlich, geriet aber im Gegensatz zur FDP nicht ins Rampenlicht der öffentlichen Kritik – kann allzu starker Einfluss auf die Politik nach hinten losgehen. Über den Einfluss von Interessengruppen in der Politik wird regelmäßig in den Medien berichtet. Zuletzt wurde in der Auseinandersetzung um das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP zwischen den Vereinigten Staaten und der EU darüber gestritten, ob und inwiefern industriefreundliche Elemente wie die Einrichtung internationaler privater Schiedsgerichte dieses und ähnlicher Abkommen die Demokratie in Deutschland und den anderen Mitgliedstaaten der EU, aber auch in den USA, unterminieren. Die Öffentlichkeit reagierte empört auf Berichte über die eingeschränkten Möglichkeiten von Parlamentariern, sich über den Stand der Verhandlungen zu informieren. Verhandlungen, die offenbar unter starker Berücksichtigung der Interessen von betroffenen Unternehmen und deren Verbänden geführt wurden. Die starke und einseitige Berücksichtigung von Wirtschaftsinteressen und die Schwierigkeit von Gewerkschaften, Verbraucherverbänden und schwächeren Interessengruppen, ihre Interessen einzubringen, stehen im Zentrum der Kritik am Lobbyismus. Überspitzt gesagt gelänge es den mächtigen Interessengruppen und ihren Lobbys immer häufiger, die parlamentarische Demokratie und die Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu manipulieren und vorhandene Sicherungen und Kontrollen (checks and balances) auszuschalten. Dabei spielen nicht zuletzt professionelle Dienstleister eine wichtige Rolle, welche die politische Einflussnahme zu ihrem Geschäft gemacht haben und die strategisch und vielseitig agieren (Balser und Ritzer 2016). Umgekehrt lädt auch die Politik im Zeitalter von Privatisierung und der Pflege von Partnerschaft mit dem privaten Sektor Unternehmen und andere nichtstaatliche Akteure zur verstärkten Mitwirkung ein ("Governance"). Sascha Adamek und Kim Otto (2008) analysierten den erweiterten Zugang von Wirtschaftsvertretern in Ministerien und schreiben in diesem Zusammenhang kritisch von einer "gekauften Republik". Ein Mitglied des deutschen Bundestages spricht von der Lobbyrepublik Deutschland (Bülow 2010). Sozialwissenschaftler werfen erneut die Frage auf, ob Kapitalismus und Demokratie noch miteinander vereinbart werden können (Streeck 2013), oder argumentieren sogar, dass wir bereits in einer postdemokratischen Zeit leben (Crouch 2008). Demgegenüber kann auf das zumindest vorläufige Scheitern der TTIP-Verhandlungen hingewiesen werden, in deren Rahmen sich eine starke Opposition aus NGOs, Gewerkschaften und Oppositionsparteien recht erfolgreich Gehör zu verschaffen wusste. Unternehmensnahe bzw. wirtschaftsliberale Think Tanks und Gruppen wie ECIPE, Prometheus, oder Novo sprechen gar von einer Übermacht der NGOs. Die kritischen Medienberichte und die lebhafte öffentliche Debatte können mit einiger Berechtigung auch als Beleg für das Funktionieren der Demokratie angeführt werden. Zwar kann der Protest gegen TTIP nicht ohne weiteres als Ursache für das Scheitern der Verhandlungen angesehen werden – was wäre geschehen, wenn Donald Trump nicht Präsident der Vereinigten Staaten geworden wäre? Aber zumindest lässt sich vor dem Hintergrund dieser Entwicklung das Bild von der einseitigen und wachsenden Macht von wirtschaftsnahen Lobbies nicht ohne weiteres aufrechterhalten. Der Politologe Manfred Mai etwa verweist auf das Wachstum und das Gewicht der zivilgesellschaftlichen Organisationen und starker NGOs als Beleg für die Existenz von Gegengewichten zu Wirtschaftslobbys (Mai, 2013, 310). Die enge Verflechtung zwischen Interessengruppen und politischen Institutionen gilt als normal: Zitat Organisierte Interessen sind in die staatlichen Strukturen eingebettet. Zwischen Verbänden und Parteien gibt es enge Verbindungen auf allen Ebenen. [...]Personelle Verflechtungen sind die Regel. Viele Verbände leben darüber hinaus in einer Symbiose mit Institutionen des politisch-administrativen Systems. Bei jeder Gesetzgebung werden die Verbände des jeweiligen Politikbereichs eingebunden. Manfred Mai Regieren mit organisierten Interessen. Lobbyismus im Wandel, in Handbuch Regierungsforschung, S. 308. Ähnlich argumentiert der niederländische Politikwissenschaftler van Schendelen (2010) für das Brüsseler Lobbysystem. Im Zentrum seiner Analyse stehen die Verschiebung der Macht im Gesetzgebungsprozess hin zum europäischen Parlament und die vielfältigen Möglichkeiten zur informellen Diskussion und Einflussnahme. Probleme und Schwächen resultieren seiner Sicht zufolge weitgehend auf Unkenntnis und der Schwierigkeit der Bürgerinnen und Bürger sowie ihrer Repräsentanten, sich in einem zugegebenermaßen sehr komplexen politischen System zu Recht zu finden. Ein echtes Hindernis bei der pluralistischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung existiere aber nicht. Die lobbykritische Seite verweist mithin auf die strukturelle Ungleichheit und problematische Formen der Einflussnahme, die zwar nicht ohne weiteres als Beleg für die Krise des gesamten Systems gelten können, aber durchaus Gründe für erheblichen Protest liefern und weit verbreitete Politikverdrossenheit verstärken. Umgekehrt reklamieren Verfechter/-innen der Pluralismus-These, dass das System im Großen und Ganzen recht gut funktioniert, ohne dabei kleinere oder größere Schräglagen in Abrede zu stellen. Das klingt nach der feinsinnigen Interpretation des halbleeren und halbvollen Glases. Allerdings unterscheiden sich die Lager in einer Hinsicht erheblich, nämlich in der Frage des Bedarfes an Lobbyregulierung. Kritiker/-innen des zunehmenden Lobbyismus eint z.B. die Forderung nach einer erheblichen Verstärkung der Lobbyregulierung, z. B. einem verbindlichen Transparenzregister für Lobbyisten und weitergehenden Informationsrechten (z.B. die Bereitstellung eines legislativen Fußabdrucks, also die Dokumentation der Ziele der Einflussnahme von Lobbyisten). Angestrebt wird darüber hinaus eine Minderung von einseitigen Einflüssen insbesondere der großen Wirtschaftsinteressen. Demgegenüber sehen die Verfechter/-innen der Pluralismus-These geringeren Reformbedarf. Ihnen zufolge geht es weniger um die Verhinderung einseitiger oder illegitimer Einflussnahme, sondern um die Möglichkeit zur Verbesserung der Legitimität des politischen Systems durch Erhöhung der Transparenz. Maßnahmen zur Erhöhung der strukturellen Transparenz gelten gleichwohl auch als zweckdienlich, um Interessenkonflikte sichtbar zu machen und die Gefahr illegitimer Einflussnahme zu verringern (Schmedes und Kretschmer 2014, 325). Beide Perspektiven gemeinsam ist die Forderung nach einem verbindlichen Lobbyregister. Kann und muss also nicht doch klarer unterschieden werden zwischen demokratieverträglicher und Demokratie gefährdender Interessenpolitik? Kann die Lobbyismusdiskussion weitere Kriterien entwickeln, die es ermöglichen, den Stand der Entwicklung und die Qualität der Veränderung der Interessenvertretung einzuschätzen? War das Glas früher voller oder leerer? Und kann sich dementsprechend ein neuer Konsens herausbilden in Bezug auf die Regulierung des Lobbyismus und der Formen der Interessenvertretung? Lobbyismus-Probleme der Berliner Republik, oder "früher war alles besser"? Wenn in der deutschen Lobbyismusdebatte von der "Berliner Republik" die Rede ist, wird gerne ein großer Kontrast zum vermeintlich beschaulichen Bonn konstruiert (Schumacher 2006, abgeschwächt Gammelin/Hamann 2005). Heutzutage arbeiten schätzungsweise 5.000 Lobbyisten in Berlin, bis zu 25.000 werden in Brüssel vermutet. Die finanzstärksten Akteure vertreten die Interessen der privaten Wirtschaft. Populäre Veröffentlichungen wie "Die Strippenzieher" von den beiden Journalisten Cerstin Gammelin und Götz Hamann versammeln Fallstudien und Episoden, die vorzugsweise die neue, außerordentliche Lobbymacht von jüngst privatisierten Unternehmen oder der Telekommunikations- und Energiewirtschaft aufzeigen. Auch wenn einige der enthüllten Lobbystrategien, etwa der Widerstand von Volkswagen gegen den Rußfilter Anfang der 2000er Jahre, nicht zum Erfolg führten, konstatiert die Literatur eine Gefahr für die "Autonomie des Staates". Pauschale Gefahrenszenarien dieser Art verkennen wichtige Zusammenhänge zwischen Politik, Ökonomie und Gesellschaft, weil sie sich nicht systematisch mit den relevanten Entwicklungen befassen. Umgekehrt wird übersehen, dass die These von der Gefährdung des Staates durch Interessengruppen sehr alt ist. Schon in der Weimarer Republik, aber auch in der Bonner Republik wurde die Macht der Interessen, nicht zuletzt der Gewerkschaften ("Gewerkschaftsstaat") von konservativer Seite attackiert (zum Beispiel von Götz Briefs 1952 ). Was aber war anders in der Bonner Republik? In der vergleichenden Verbändeforschung werden (neo)korporatistische Regime von pluralistischen bzw. voluntaristischen Regimen unterschieden. Das Regime der alten Bundesrepublik gehörte dabei zu den typischen korporatistischen, also um Ausgleich von Interessen bemühten Systemen, die auf eine planmäßige Einbeziehung der unterschiedlichen organisierten Interessen zielen. Demgegenüber stand und steht z.B. die USA für ein System, das den vielfältigen Interessen Spielräume einräumt, ohne notwendigerweise auf Ausgleich zu zielen (Voluntarismus). Während in der Bundesrepublik nicht selten in tripartistischen Foren Vertreter/-innen der Spitzenverbände der Unternehmen, der Gewerkschaften, der Wohlfahrtsverbände etc. mit Spitzenvertreter/-innen der Politik verhandeln, stehen sich Lobbyistinnen und Lobbyisten und Staat in den USA häufig feindlich gegenüber. Gleichzeitig gelten einseitige Einflussnahme und ad hoc Lösungen nicht als verwerflich. Eine gemeinwohlorientierte Einschränkung der Interessengruppen durch den Staat gilt als Gefährdung der Freiheit. Während in korporatistischen Arrangements im öffentlichen Interesse offiziell "gemauschelt" wird und die Erwartung existiert, dass die einzelnen Mitglieder der Verbände sich den Gesamtinteressen unterwerfen, werden die einzelnen Interessen im voluntaristischen Regime nicht sehr häufig in die Pflicht genommen. Zwar gibt es auch in den USA Verbände, aber deren Mitglieder ordnen sich den Verbänden keineswegs bereitwillig unter bzw. lassen sich leicht disziplinieren. Umgekehrt sind Interessengruppen und Konzerne aber auch längst legitimer Gegenstand investigativer Recherche, öffentlicher Diskussion und mitunter scharfer Kritik. Nach größeren Skandalen wurde in den USA bereits 1995 ein verpflichtendes Lobbyregister eingeführt, welches seither für ein hohes Maß an Transparenz im Hinblick auf Lobbyausgaben und -zielen aller Interessengruppen sorgt. In Deutschland wird demgegenüber der Insider-Verhandlungsstil unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit nach wie vor von Teilen der Politik und vielen Wirtschaftsverbänden verteidigt, obwohl das traditionelle (neo-) korporatistische Regime sich seit Anfang der 1980er Jahre in vieler Hinsicht auflöst, z.B. Konzerne auf nationaler und europäischer Ebene gerne auch eigenständig agieren. Mit der Regierungsübernahme der Koalition von CDU/CSU und FDP 1982 unter Kanzler Helmut Kohl wurden in Deutschland die Weichen in Richtung angebotsorientierte Politik gestellt und Deregulierungs- und Privatisierungsprojekte vorangetrieben. Im Rahmen der Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie stellte sich die Regierung offen auf die Seite der Metall-Arbeitgeber. Nicht zuletzt brach sie im Laufe des Arbeitskampfes mit der Tradition bei Entscheidungen der Bundesanstalt für Arbeit, Arbeitnehmer/-innen kein Arbeitslosengeld zu zahlen, die indirekt vom Streik der IG Metall betroffen waren (kalte Aussperrung). Nachdem Sozialgerichte die Entscheidung zugunsten der ausgesperrten Arbeitnehmer/-innen aufhoben, änderte die Regierung 1986 die gesetzlichen Grundlagen und schloss Zahlungen an mittelbar vom Streik betroffene Arbeitnehmer/innen für die Zukunft aus. Noch stärker unter Druck geriet das traditionelle deutsche Regime der Interessenvertretung aufgrund der Entscheidung für die Vollendung des europäischen Binnenmarktes in den 1980er Jahren, weil damit die Dynamik des grenzüberschreitenden Wettbewerbs erheblich verstärkt wurde und auch die zuvor geschützten Sektoren der öffentlichen Daseinsvorsorge (Energie, Telekom, Bahn) erfasste. Der Ausgleich der Interessen im Rahmen der industriellen Beziehungen und der öffentlichen Unternehmen wurde den Anforderungen der Liberalisierung im Rahmen des europäischen Binnenmarktes untergeordnet. Je mehr Entscheidungen in Brüsseler Arenen gefällt werden, desto weniger kann die deutsche Politik mit den deutschen (Spitzen-)Verbänden selbständig aushandeln. Mit der einheitlichen Europäischen Akte von 1987 (zur Vollendung des Binnenmarktes) wurde das traditionelle deutsche System der Interessenvertretung effektiv ausgehebelt. Auch in anderer Hinsicht sollten die Verhältnisse in der alten Bonner Republik nicht idealisiert werden. Schon in Bonn gab es große Lobbyskandale: die Interner Link: Flick-Affäre und weitere Parteispendenskandale, Rüstungsgeschäfte, enge Verflechtung zwischen Staat und Energiewirtschaft. Ein Beispiel: Als Ludwig Erhard (CDU) 1963 Kanzler wurde, suchte er einen Chef für das Kanzleramt. Ausgewählt wurde Ludger Westrick, der zuvor Erhards Staatssekretär im Wirtschaftsministerium war. Vor seiner politischen Karriere war Westrick Generaldirektor des Energiekonzerns VIAG. Der Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg fand mit einer einfachen Recherche heraus, dass die VIAG ihren Generaldirektor bei vollen Bezügen beurlaubt hatte. Westrick kassierte doppelt. Im Zentrum der Lobby-Kritik in Bonn standen die Parteistiftungen und über sie abgewickelte illegale Parteienfinanzierung, Parteispenden von Unternehmen. Ohne weiteres kann also das Bild der guten alten Bonner Republik, in der die Interessen der Allgemeinheit im Mittelpunkt des politischen Handelns standen, gegenüber einer Berliner Lobbyismusrepublik nicht überzeugen. Auch in der Bonner Republik gab es große Auseinandersetzungen etwa in der Energie- und Umweltpolitik oder auch im Bereich der inneren Sicherheit, z.B. bei der Volkszählung. Zwar änderte sich das System der Interessenvertretung seit der Vereinigung erheblich, aber wichtige Hintergründe einer doppelten Entgrenzung der Lobbyarbeit sind in den 1980er Jahren zu verorten: Teile des korporatistischen Regimes im Bereich Wirtschaft und Arbeit werden ad acta gelegt; die Interessenvertretung verlagert sich in erheblichem Maße vom nationalen ins europäische politische System und die Beeinflussung der öffentlichen Meinung über Medien, Think tanks und professionelle PR-Agenturen gewann schon vor der Berliner Republik erheblich an Bedeutung. Einzig die verstärkte Einmischung neuer Demokratiebewegungen und die Zunahme zivilgesellschaftlicher Lobbyarbeit entwickelte sich erst in den 2000er Jahren, also zeitversetzt gegenüber der Ausdifferenzierung der Lobbyarbeit von Verbänden und Unternehmen. Entstanden ist ein gekoppeltes europäisches und nationales Regime, das weder dem Idealtyp des korporatistischen Interessenausgleichs, noch dem streng egoistisch-voluntaristischen Typ voll entspricht. Die Mannheimer Politologin Beate Kohler-Koch spricht von einem eigenen europäischen Typ der Netzwerk-Governance, in dem trotz Vervielfältigung und Zerfasern der Interessengruppen Elemente des Ausgleichs zu finden sind. Annette Zimmer und Rudolph Speth schreiben dennoch zu Recht, dass der Begriff des Lobbying gegenüber dem Begriff der Interessenvertretung aufgewertet wurde (Zimmer und Speth 2015, 12 ): Es geht um eine tatsächlich weitreichende Veränderung der Interessenvertretung und des Lobbying, ein komplexeres, marktförmigeres, europäisches und globalisiertes, medial professionalisiertes und unter Beteiligung einer Vielzahl von stärkeren und schwächeren Akteuren umkämpftes Regime, wobei auch schwächere Akteure in geeigneten Allianzen und unter bestimmten Bedingungen mitunter durchaus überraschende Stärken zeigen. Allerdings sollte die Sicht auf einzelne Akteure und Konflikte nicht davon ablenken, dass vor allem die Europäisierung der Politik die Asymmetrie zugunsten von großen Unternehmen und Wirtschaftsverbänden zum Teil erheblich verstärkt hat. Für kleine Interessengruppen und auch für kleine und mittlere Unternehmen ist es oft nicht einfach, sich in den europäischen Zusammenhängen zu Recht zu finden. Fünf Erklärungszusammenhänge der Veränderung des Lobbyismus und die demokratietheoretische Perspektive In den fünf Beiträgen des ersten Teils gehen die Autorinnen und Autoren genauer auf die Entwicklungen und Veränderungen ein, welche für eine angemessene Diskussion des Lobbyismus und der Interessenvertretung der Gegenwart unabdingbar sind. Der Fokus der Beiträge liegt auf dem nationalen politischen System, der Europäischen Union, dem Strukturwandel der Wirtschaft, der Entwicklung der Mediengesellschaft und der wachsenden Rolle der Zivilgesellschaft, insbesondere auch der neuen Demokratiebewegungen. Unvermeidbar sind Überschneidungen, aber der jeweilige Schwerpunkt ermöglicht die konzentrierte Bearbeitung wichtiger Faktoren. Kathrin Loer und Annette Töller untersuchen den Wandel des politischen Systems in Deutschland, um die Veränderungen im Zusammenspiel der politischen Institutionen und der Akteure der Interessenvertretung zu erklären. Im Zentrum stehen die Zunahme der Nutzung externer Expertise im Gesetzgebungsprozess, der damit verbundene Bedeutungsgewinn der Interessenvertretung, der Strukturwandel der Interessengruppen und ein Mangel an Transparenz, der immer stärker die politische Diskussion über Lobbyregulierung in Deutschland antreibt. Interner Link: Zum Beitrag Der Beitrag von Dieter Plehwe geht komplementär auf die wachsende Bedeutung der Brüsseler Verhandlungs- und Entscheidungsarenen ein. Der Bedeutungszuwachs der europäischen Institutionen in vielen Politikfeldern bedingt die Ko-Evolution der europäischen Interessengruppen. Schon vor dem Wachstum der professionellen Lobbydienstleister auf nationaler Ebene etablierte sich die neue Branche der Lobbydienstleister in Brüssel. Spezialisierte Beratungs- und PR-Firmen, Rechtsanwaltskanzleien und Think tanks sind aus der Lobbyarbeit der Gegenwart nicht mehr wegzudenken. Möglicherweise aufgrund der größeren Komplexität der Regelungsbereiche, aber auch aufgrund von Skandalen und dem oft bemängelten Demokratiedefizit auf EU-Ebene ist das europäische System der Lobbyregulierung weiter entwickelt als auf der nationalen Ebene. Ein freiwilliges Lobbyregister erleichtert die Orientierung und verbessert die Bedingungen der Recherche, zumal die Kommission starke Anreize für verbindlichere Angaben gesetzt hat. Interner Link: Zum Beitrag Stefan Schmalz skizziert den wirtschaftlichen Strukturwandel, der zentrale Entwicklungen im System der Interessenvertretung bedingt. Von der Entstehung der Unternehmer- und Arbeitgeberverbände und Arbeitnehmerverbände im 19. Jahrhundert, über die korporatistischen Strukturen in der alten Bundesrepublik bis hin zu den wirtschaftlichen Umbrüchen und der Pluralisierung von von Interessen nach der Wiedervereinigung. Interner Link: Zum Beitrag Die Arbeit der Interessenvertretung wird auch durch den Strukturwandel der Medien und die wachsende Bedeutung des Fernsehens und der neuen sozialen Medien verändert. Die Vielfalt der Medien erleichtert den Zugang und erschwert die Kontrolle. Das Monopol des öffentlich-rechtlichen Rundfunks war gewissermaßen auch eine Voraussetzung der korporatistischen Regierung. Uwe Krüger geht darauf ein, wie im neuen Regime der Mediendemokratie Machtverhältnisse und Hierarchien eine gewichtige Rolle spielen bei der Strukturierung der Interessenvertretung. Nicht zuletzt der Einfluss von Großkonzernen des Internetzeitalters auf die neuen sozialen Medien wirft neue Fragen der Lobbyregulierung auf. Interner Link: Zum Beitrag Andererseits wachsen die Akteure der Zivilgesellschaft unter den Lobbyakteuren am schnellsten. Mit NGOs wie Transparency International, Mehr Demokratie, Lobbycontrol, Abgeordnetenwatch oder auch den kleinen und großen Umwelt-NGOs haben sich zum Teil schlagkräftige und mitunter einflussreiche Akteure etabliert, die als Gegengewicht zu anderen Lobbies gelten. Christine Quittkat untersucht deren Entwicklung und diskutiert die Ambivalenz der Zivilgesellschaft, weil neben den lobbykritischen Akteuren auch von Unternehmen und Verbänden gesteuerte NGOs aktiv werden. Insgesamt ist die rasante Entwicklung der zivilgesellschaftlichen Akteure und ihre Beteiligung auf nationaler und europäischer Ebene ein wichtiger Indikator für die Reichweite der Veränderung des Systems der Interessenvertretung. Um den Einfluss von NGOs zu beurteilen, müssen allerdings weniger die einzelnen NGOs untersucht werden, als deren Rolle in häufig konkurrierenden Allianzen und Koalitionen. Interner Link: Zum Beitrag Wenngleich die verschiedenen Facetten und Zusammenhänge des Lobbyismus im politischen System, in der Wirtschaft, in den Medien und in der Zivilgesellschaft an und für sich wichtig und interessant sind, so gewinnen sie doch ihre höhere Bedeutung im größeren Zusammenhang: der Demokratie. Offiziell kein Element der Gewaltenteilung spielen Interessengruppen ebenso wie die Medien und verstärkt im Zusammenwirken mit den Medien eine erhebliche Rolle im politischen Prozess. Die im europäischen und nationalen Zusammenhang vermehrt diskutierte Krise der Demokratie wird nicht zuletzt in Zusammenhang gebracht mit dem Einfluss von Lobbies. Hans Jürgen Bieling diskutiert den Zusammenhang der Lobby- und Demokratiekritik, um die einzelnen Aspekte der Lobbydiskussion durch die demokratietheoretische Brille genauer zu betrachten. Nach der Einführung in Dimensionen und Verfahren der Demokratie erörtert er wichtige demokratietheoretische Kontroversen: liberale versus soziale Demokratie, Pluralismus versus Machteliten, Legitimationsprobleme versus Unregierbarkeit und geht im Ausblick auf die aktuelle Epoche ein, die mit dem Stichwort der "Post-Demokratie" kontrovers diskutiert wird. Interner Link: Zum Beitrag Nicht zuletzt vor diesem demokratietheoretischen Hintergrund bieten die konkreten Beispiele im zweiten Teil des Dossiers Gelegenheit und Anschauungsmaterial, die angesprochenen Probleme und Themen vertiefend zu diskutieren und differenziert zu beurteilen. Quellen / Literatur Adamek, Sascha und Kim Otto: Der gekauft Staat. Wie Konzernvertreter in deutschen Ministerien sich ihre Gesetze selbst schreiben, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2008. Balser, Markus und Uwe Ritzer: Lobbykratie. Wie die Wirtschaft sich Einfluss, Mehrheiten, Gesetze kauft, Droemer, München, 2016. Briefs, Götz: Zwischen Kapitalismus und Syndikalismus. Die Gewerkschaften am Scheideweg, Lehnen, München, 1952. Bülow, Marco: Wir Abnicker. Über Macht und Ohnmacht der Volksvertreter, Econ Verlag, Berlin, 2010. Crouch, Colin: Postdemokratie, Suhrkamp, Frankfurt/ Main, 2008. Gammelin, Cerstin und Götz Hamann: Die Strippenzieher: Manager, Minister, Medien – Wie Deutschland regiert wird. Econ Verlag, Berlin, 2005. Klüver, Heike (2012): Lobbying in the European Union. Interest Groups, Lobbying Coalitions and Policy Change. Oxford: Oxford University Press. Leif, Thomas: Von der Symbiose zur Systemkrise – Essay, in: Interner Link: Aus Politik und Zeitgeschichte 19/2010 Mai, Manfred, Regieren mit organisierten Interessen. Lobbyismus im Wandel, in: Handbuch Regierungsforschung hrsg v. Karl-Rudolf Korte und Timo Grunden, Springer Link S. 308 Michalowitz, Irina (2014): Warum die EU-Politik Lobbying bracuht? Der Tauschansatz als implizites Forschungsparadigma. In: Dialer, Doris, Richter, Margarethe (Hrsg.): Lobbying in der Europäischen Union. Zwischen Professionalisierung und Regulierung. Wiesbaden, Springer VS, 17-28. Schmedes, Hans-Jörg; Kretschmer, Heiko (2014): Interessen, Transparenz, Vertrauen - und die Legitimität von Politik. In: Thomas von Winter und Julia von Blumenthal (Hg.): In-teressengruppen und Parlamente. Wiesbaden: Springer Fachmedien (Schriften der DVPW-Sektion Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland), S. 311–333. Schmitter, P. C./Streeck, W., 1999, The Organization of Business Interests: Studying the Associative Action of Business in Advanced Industrial Societies. MPIfG Discussion Paper 99/1. Köln. Schumacher, Hajo: Die zwölf Gesetze der Macht. Angela Merkels Erfolgsgeheimnisse, Karl Blessing Verlag, München, 2006. Streeck, Wolfgang: Gekauft Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2013. van Schendelen, Rinus: The Art of Lobbying the EU: More Machiavelli in Brussels, Amsterdam University Press, 2010. Vieregge, Henning: Von Parteistiftungen zur Rolle der Konrad-Adenauer-, Friedrich-Ebert-, Friedrich-Naumann- und Hanns-Seidel-Stiftung im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 1977. Zimmermann, Annette und Rudolph Speth: Einleitung. Von Interessenvertretung zu „Lobby Work“ in: dies., Hrsg., Lobby Work. Interessenvertretung als Politikgestaltung. Wiesbaden, Springer VS, 2015, S. 9-30. Adamek, Sascha und Kim Otto: Der gekauft Staat. Wie Konzernvertreter in deutschen Ministerien sich ihre Gesetze selbst schreiben, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2008. Balser, Markus und Uwe Ritzer: Lobbykratie. Wie die Wirtschaft sich Einfluss, Mehrheiten, Gesetze kauft, Droemer, München, 2016. 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"Prometheus das Freihandelsinstitut" wurde 2014 in Berlin gegründet und verlieh unlängst den Negativpreis"Goldener Engel der Scheinheiligkeit" an die NGO Deutsche Umwelthilfe. Das Rechercheteam Novo wiederum attackiert z.B. die NGO Foodwatch mit dem Argument, es gehe der NGO um Spenden, nicht um die Sache. Götz Briefs, Zwischen Kapitalismus und Syndikalismus. Die Gewerkschaften am Scheideweg. München, 1952 Thomas Leif in: Aus Politik und Zeitgeschichte 19/2010 Von der Symbiose zur Systemkrise – Interner Link: Essay Vieregge, Henning von Parteistiftungen: zur Rolle der Konrad-Adenauer-, Friedrich-Ebert-, Friedrich-Naumann- und Hanns-Seidel-Stiftung im politischen System der Bundesrepublik Deutschland Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 1977, o.V. "Das ist ein einziger Skandal", Der Spiegel 3.7.1978 Externer Link: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40615966.html Zimmermann, Annette, Speth, Rudolph, 2015, Einleitung. Von Interessenvertretung zu "Lobby Work" in: dies., Hrsg., Lobby Work. Interessenvertretung als Politikgestaltung. Wiesbaden: Springer VS, 9-30.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-25T00:00:00"
"2019-04-01T00:00:00"
"2022-01-25T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/wirtschaft/lobbyismus/288510/einleitung-lobbyismus-und-demokratie/
Lobbys versuchen Einfluss in Politik und Gesellschaft zu nehmen. Das ist legitim. Es gibt aber genug Gründe, das komplexe Phänomen Lobbyismus kritisch zu beleuchten.
[ "Lobbyismus", "Demokratie", "Interessenvertretung", "Partizipation" ]
30,342
Türkische Minderheit in Deutschland | Vorurteile | bpb.de
Einleitung Als zahlenmäßig stärkste Gruppe von in Deutschland lebenden ausländischen Staatsangehörigen werden Türkinnen und Türken oder türkischstämmige Deutsche - von Asylsuchenden abgesehen - häufig mit dem Begriff "Ausländer" gleichgesetzt. Dies hat zur Folge, dass alle vermeintlichen oder tatsächlich vorhandenen Probleme im Zusammenleben mit Ausländerinnen und Ausländern und die daraus entstehenden Vorurteile auf diese Bevölkerungsgruppe projiziert werden. Fast die Hälfte der Deutschen stimmt so platt formulierten Vorurteilen zu wie "Ausländer nehmen uns die Arbeit weg", sie "lassen sich nicht integrieren; speziell die Türken lernen kein Deutsch" oder "Ausländer machen laute Musik, haben nur Ansprüche und wollen nicht arbeiten". In weiten Kreisen gibt es Ängste vor einer drohenden "Überfremdung" und den Auswirkungen eines radikalen Islam, die durch die Ereignisse seit dem 11. September 2001 noch verstärkt wurden. Pauschal unterstellt wird auch, dass alle türkischen Frauen unterdrückt würden, alle jungen türkischen Männer Machos seien, "die Türken" kaum Deutsch sprächen und sich nicht anpassten. Diese vagen und stereotypen Einschätzungen und Bilder betreffen eine sehr differenzierte Gruppe, die von säkularisierten, gebildeten Stadtbewohnern über anatolische Bauern, von gläubigen Moslems bis hin zu wenigen radikalen Islamisten oder kurdischen Asylbewerbern auf der Flucht vor den Verfolgungen in ihrer Heimat reicht. Geschichtlicher Rückblick Schon vor dem Ersten Weltkrieg arbeiteten das Deutsche und das Osmanische Reich militärisch und wirtschaftlich zusammen. 1912 lebten in Berlin etwa 1350 Türken. Mit der viel beschworenen deutsch-türkischen "Waffenbrüderschaft" im Ersten Weltkrieg intensivierten sich die Beziehungen. Bereits 1916 wurde in Berlin eine Deutsch-Türkische Vereinigung gegründet, die mit der türkischen Regierung ein Lehrlingsabkommen schloss. Während der NS-Herrschaft fanden viele oppositionelle Deutsche, darunter auch Wissenschaftler und Künstler, Zuflucht in der Türkei. Anwerbeabkommen In den ersten Nachkriegsjahren gab es zwischen Deutschland und der Türkei wenig Austausch. In den Jahren des "Wirtschaftswunders" machte sich jedoch in der Bundesrepublik trotz der großen Zahl von Vertriebenen und Zuzüglern aus der DDR besonders nach dem Mauerbau 1961 ein steigender Bedarf an Arbeitskräften bemerkbar. Daher schloss die Bundesregierung von 1955 bis 1968 mit mehreren Staaten Anwerbeabkommen, darunter 1961 mit der Türkei. Bis Mitte der 1960er Jahre war es allgemeiner Konsens, dass die ausländischen Arbeitskräfte - die "Gastarbeiter", wie sie bald im öffentlichen Sprachgebrauch hießen - nur vorübergehend in Westdeutschland leben und arbeiten sollten. Im Anwerbeabkommen mit der Türkei war die Aufenthaltsdauer auf maximal zwei Jahre festgeschrieben. Da lediglich der Bedarf der Wirtschaft nach Arbeitskräften erfüllt werden sollte, gab es keine Überlegungen oder gar Planungen hinsichtlich einer dauerhaften Ansiedlung der Zuwanderer. Von einigen Spezialisten wie etwa hochqualifizierten türkischen Fachärzten abgesehen, übernahmen die Arbeitsmigranten meist Stellen, für die sich keine Deutschen bewarben. Folglich fand ihr Einsatz in der Gesellschaft allgemeine Zustimmung. Eine mögliche Integration der Arbeiter und eine Auseinandersetzung mit ihrem Herkunftsland, ihren Traditionen und ihrer Religion schien nicht notwendig zu sein, da Arbeitskräfte nur kurzfristig benötigt wurden und im wirtschaftlichen Krisenfall wieder in ihre Heimat zurückkehren sollten. Bereits in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurde das Rotationsprinzip - nicht zuletzt auf Betreiben der Wirtschaft, die die Anlernkosten scheute - gelockert. Noch während der Rezession 1966/67 waren zahlreiche ausländische Arbeitskräfte, die ihre Stelle verloren hatten, in ihr Herkunftsland zurückgekehrt. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung kamen sie in die Bundesrepublik zurück. Im Oktober 1973 erließ die Bundesregierung wegen der Ölkrise und dem daraufhin befürchteten wirtschaftlichen Rückgang einen Anwerbestopp. Im selben Jahr hatte die Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmern mit rund 2,6 Millionen ihren Höhepunkt erreicht. In den Rezessionsphasen 1974/75 und 1981 bis 1984 kehrten ausländische Arbeitslose jedoch weit seltener in ihre Heimat zurück, weil sie befürchteten, keine abermalige Rückkehrerlaubnis in die Bundesrepublik zu erhalten. Familienzusammenführung Bis zum Anwerbestopp waren vor allem junge Männer nach Deutschland gekommen. Im Rahmen der Familienzusammenführung ab 1974 begannen die Arbeitskräfte verstärkt, ihre Angehörigen nachzuholen. Damit stieg auch die Aufenthaltsdauer. 2004 lebten mehr als 73 Prozent der Türken länger als zehn Jahre in Deutschland, davon 20,5 Prozent sogar länger als 30 Jahre. Aus "Gastarbeitern" waren de facto Einwanderer geworden. Viele Vertreter der ersten Generation von Arbeitsmigranten blieben im Land - ungeachtet ihres früheren Vorsatzes, in Deutschland rasch Geld zu verdienen, um sich zu Hause eine gesicherte Existenz aufbauen zu können. Oftmals wollten die Kinder und Enkelkinder nicht zurück in die Türkei, und so blieben auch die Älteren bei den Familien in Deutschland. Arbeitslosigkeit Mit verlängerter Aufenthaltsdauer waren die in Deutschland lebenden Türken auch stärker von Arbeitslosigkeit betroffen. Entgegen dem Vorurteil, die Türken würden den Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen, sind mit 25,5 Prozent (Stand: 2005) überproportional viele Türken arbeitslos, davon sind 40 Prozent langzeitarbeitslos. Ihre Arbeitsplätze in der Industrie fielen der Rationalisierung zum Opfer. Trotzdem stimmten laut einer ALLBUS-Umfrage 2004 46 Prozent der Bevölkerung der Aussage zu: "Zuwanderer nehmen Menschen, die in Deutschland geboren sind, Arbeitsplätze weg." Die Aufrechnung von freien Stellen gegen die von Ausländern eingenommenen Arbeitsplätze ist jedoch nicht angebracht: Tatsächliche Konkurrenz gibt es nur bei Stellen, die mit ungelernten Arbeitern besetzt werden können. Diese meist schlecht bezahlten und körperlich anstrengenden Arbeiten werden von Deutschen aber nur in seltenen Fällen angenommen. Eine Übersicht über die Verteilung Erwerbstätiger ohne Berufsabschluss nach Herkunft Nicht zuletzt wegen der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit machen sich immer mehr Türken selbstständig. Die Zahl der türkischen Unternehmer in Deutschland stieg von 3000 im Jahr 1970 auf 61.300 im Jahr 2003. Und keineswegs bestätigen alle Unternehmen das Klischee vom "Döner-Türken" oder vom Inhaber eines Obst- und Gemüseladens; es gibt auch türkische Anwälte, Architekten, Juweliere, Rechtsanwälte und Handwerker. Größte ausländische Minderheit Bis 1970 stammte der Großteil der in Deutschland lebenden Ausländer aus Italien, Griechenland, Spanien und Österreich. Seit Beginn der 1970er Jahre bildeten die türkischen Staatsangehörigen die größte Gruppe. Heute leben 1,88 Millionen Türkinnen und Türken in der Bundesrepublik - dies entspricht 26 Prozent aller in Deutschland lebenden Ausländer (Stand: 2004). Die Mehrheit von ihnen lebt in den industriellen Ballungszentren Nordrhein-Westfalens und Baden-Württembergs sowie in den Großstädten Berlin, Köln, Hamburg, Frankfurt am Main und München. Islam Unser Bild von "den Türken" setzt sich jedoch nicht ausschließlich aus den Erfahrungen oder Vorstellungen über die heute in Deutschland lebenden Türken zusammen, sondern ist weit älter. Selbst bei geschichtlich wenig Interessierten hat sich eine vage Vorstellung von den "Türken vor Wien" im Jahr 1683 erhalten. Damals schien das Abendland durch das Osmanische Reich bedroht, dem militärische Stärke und Grausamkeit zugeschrieben wurde. Wenn sich auch das Bild vom Türken gewandelt hat und vor allem durch aktuelle Entwicklungen geprägt ist, so haben sich doch einige Vorurteile über die Jahrhunderte hinweg erhalten. Das Gefühl einer möglichen Bedrohung des Abendlandes - damals durch die osmanischen Eroberer, heute durch den radikalen Islam - ist überaus präsent. Der Islam ist - wie das Christentum und das Judentum - eine monotheistische Religion. Er entstand Anfang des siebten Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel und wurde von dem Propheten Mohammed (570-632) begründet. Er gilt als "Siegel der Propheten", weil er das letzte Buch Gottes, den Koran, überbrachte. Der in arabischer Sprache verfasste Koran ist in 114 Abschnitte (Suren) mit insgesamt 6236 Versen eingeteilt. Bedeutsamer noch als die Entstehung des Islam war für die Weltgeschichte die damit verbundene Gründung eines Staatswesens auf der Arabischen Halbinsel im frühen siebten Jahrhundert. Es expandierte rasch und schuf damit die Voraussetzung für die Verbreitung der neuen Religion. Die islamischen Eroberer garantierten allerdings den Anhängern der anderen monotheistischen Religionen neben dem Schutz von Leben und Eigentum auch die freie Religionsausübung. Muslime in europäischen Ländern Typisch für den Islam ist die fehlende zentrale Organisationsform. Es gibt keine den christlichen Kirchen entsprechende Einrichtung, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt wäre und damit eine religiöse Infrastruktur wie die Errichtung von Moscheen oder die Ausbildung von Religionslehrern gewährleisten könnte. Eine kirchenähnliche Institution ist im Islam nicht vorgesehen. Die religiöse Autorität wird von so genannten Rechtsgelehrten ausgeübt. Um in Deutschland dennoch Beträume organisieren zu können, wurden muslimische Verbände und Vereine gegründet. Der größte und mitgliederstärkste Verein in Deutschland ist die "Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religionen e. V." mit Sitz in Köln, die das in der türkischen Verfassung festgehaltene Prinzip der Trennung von Religion und Staat vertritt. Die europaweit agierende "Islamische Gemeinschaft - Milli Görüs e. V.", die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, lehnt hingegen diese Trennung ab und steht für eine Islamisierung. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Organisationen, die die verschiedenen Strömungen des Islam repräsentieren. Diese Vielfalt behindert die Anerkennung der islamischen Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts und die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts an den öffentlichen Schulen. Unterschiedliche Strömungen Die Ängste der Deutschen vor dem Islam werden auch durch das Erstarken des Islamismus genährt. Das Bild, das wir etwa vom Iran, vom Irak, von Ägypten, von Pakistan und vom Sudan haben, vermittelt uns die Vorstellung von einem fanatischen, intoleranten und menschenverachtenden Islam. Die islamistischen Bewegungen, die die religi-ösen Schriften wortgetreu auf alle Lebensbereiche angewendet sehen wollen, erstarken seit den 1970er Jahren. Dass es sie gibt, hängt unter anderem mit der europäischen Kolonialherrschaft und den Problemen der nachkolonialen Regime zusammen. Sie gründeten sich auf der Annahme, dass die westlich-christliche Kolonialisierung und die damit verbundene Modernisierung seit dem 19. Jahrhundert die bis dahin vorhandene Vormachtstellung der islamischen Welt zerstörte. Eine Rückkehr zur alten Bedeutung des Islam, so die Argumentation der Islamisten, sei nur über die exakte Auslegung der religiösen Schriften möglich. Daneben gibt es verschiedene andere Strömungen im Islam. So unterscheiden sich als zwei Hauptgruppen des Islam die größere Gruppe der Sunniten (die etwa 90 Prozent der Muslime umfasst) von der kleineren Gruppe der Schiiten. Etwa 20 Prozent der Türken rechnen sich den Aleviten zu, die sich nicht an die Scharia-Pflichten, die Einhaltung der islamischen Pflichtenlehre und Religionsgesetze, gebunden fühlen und in der Regel westlicher orientiert sind. Stellung der Frau Ein sensibles Thema ist die Stellung der Frau im Islam. Eine weit verbreitete Ansicht lautet: Die islamische Frau ist unterdrückt und dem "Paschagehabe" ihres Ehemannes oder Vaters bedingungslos unterworfen. Die Realität rechtfertigt ein derart pauschales Urteil jedoch nicht. Die türkische Verfassung schreibt die Gleichstellung von Mann und Frau vor, freilich sieht die Wirklichkeit häufig anders aus. Das Stadt-Land-Gefälle und die sozialen Gegensätze prägen das Leben oft stärker, als es rechtliche Vorgaben vermögen. Nach dem Koran kommt den Männern eine privilegierte Stellung zu. In vielen ländlichen Gegenden und sozialen Schichten, die in den religiösen Traditionen verhaftet sind, kann von einer weiblichen Gleichberechtigung keine Rede sein. Mindestens ebenso wichtig wie die Religion scheint jedoch die Schichtzugehörigkeit der Frau zu sein. So gibt es etwa in der Türkei in der kleinen Gruppe der Oberschicht prozentual und absolut mehr Universitätsprofessorinnen als in Deutschland. Differenziert werden muss auch zwischen der Einstellung der ersten Generation der Arbeitsmigranten, die meist - gerade bedingt durch die Erfahrung in der Fremde - in ihren traditionellen Wertvorstellungen verharren, und der der jüngeren Frauen. Allerdings gibt es in der Tat Konflikte zwischen Vätern und Töchtern, die in Deutschland sozialisiert sind. QuellentextDer Islam nach dem 11. September 2001 Die Anschläge auf das World Trade Center in New York und auf das US-Verteidigungsministerium in Washington vom 11. September 2001 verstärkten einerseits die Furcht vor den Auswirkungen eines radikalen Islam und rückten andererseits das Thema in den Fokus des öffentlichen Interesses. Das Bundesinnenministerium reagierte mit so genannten Sicherheitspakten und verbot mehrere muslimische Vereine und Organisationen. Die Medien berichteten vor allem über das Verbot des Kölner "Kalifatstaates" im Dezember 2001 und die Abschiebung seines Vorsitzenden Metin Kaplan im Oktober 2004. Ziel der verbotenen Organisation war "der Sturz des laizistischen Systems in der Türkei und die Installierung eines ausschließlich auf Koran und Sunna begründeten Gemeinwesens". Demokratische Regierungsformen lehnte die für eine weltweite Herrschaft des Islam eintretende Organisation strikt ab. Von seinen Anhängern forderte Kaplan laut Verfassungsschutzbericht 2004 als selbsternannter "Emir der Gläubigen und Kalif der Muslime" auch die Bereitschaft zum "Jihad" also zum "Heiligen Krieg". Oft wird allerdings in der Öffentlichkeit vor allem durch die Medien ein Bild gezeichnet, das den Islam mit Islamismus und Islamismus mit Terrorismus gleichsetzt und Muslime damit einem Generalverdacht aussetzt. Vorurteile neigen zu Verallgemeinerungen und nähren sich häufig aus der Angst vor dem Fremden. Deshalb überrascht es nicht, dass das diffuse Bild, das der Großteil der Deutschen vom Islam hat und das durch die terroristischen Anschläge in den USA, in Istanbul (November 2003), in Madrid (März 2004) und in London (Juli 2005) verstärkt wurde, auch in Vorurteile gegenüber den mehrheitlich muslimischen Türken umschlägt. Insgesamt 70 Prozent der Deutschen hielten 2004 den Islam für gefährlich oder bezweifelten gar, dass er in die westliche Welt passt. Fast 58 Prozent lehnen es ab, in eine Gegend zu ziehen, in der viele Muslime leben. 24 Prozent vertreten sogar die Auffassung, dass Muslimen der Zuzug nach Deutschland untersagt werden sollte. In Deutschland wird dabei häufig übersehen, dass die islamistischen Bewegungen nur eine Strömung im Islam bilden und keinesfalls repräsentativ für den Islam insgesamt sind. Maximal 1,4 Prozent der in Deutschland lebenden Türken identifizieren sich mit diesen radikalen politischen Ideen. Der Großteil fordert lediglich die Anerkennung des Islam im Rahmen der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit. Birgit Schulze Wertesystem im Wandel? In Deutschland leben mehr als 3,2 Millionen Musliminnen und Muslime. Größtenteils ist die Familie die wichtigste soziale Einheit, deren Interesse sich alle Mitglieder unterzuordnen haben. Die zentralen Werte sind "Ehre" (namus), "Achtung" (saygi) sowie Würde und Ansehen (Seref) der innerfamiliären Autoritätsbeziehungen. Der Verlust der Ehre gilt als Schande für die ganze Familie, vor allem aber für die männlichen Mitglieder, die für die Familienehre verantwortlich sind. Verkürzt wird es oft folgendermaßen dargestellt: Aggressives Verhalten von türkischen Männern ihren Frauen, Töchtern und Schwestern gegenüber wird mit einem in der Türkei bis heute gültigen Ehrenkodex erklärt, nach dem der Mann - eben bei Verletzung der Ehre der Frau - gezwungen ist, in bestimmter Weise zu handeln. Die Hintergründe für dieses Verhalten sind kompliziert und haben eine lange Tradition. Im Kontext des türkischen Dorfes verbinden Männer mit dem Begriff Ehre vor allem ihre Fähigkeit, für die Familie zu sorgen, diese gegen Angriffe von außen zu verteidigen und die sexuelle Integrität der Frauen innerhalb der Familie zu gewährleisten. Wenn der Mann bei einem Angriff gegen diese Werte nicht reagiert, verliert er seine Ehre. Die Ehre der Frau leitet sich aus Regeln zum Schutze ihrer Keuschheit ab. Darüber hinaus muss sie bestimmte Regeln im Umgang mit fremden Männern einhalten und sich korrekt kleiden. Verstößt sie gegen diese Grundsätze, wird nicht nur ihre eigene Ehre verletzt, sondern auch die der Familie. Die türkischen Gastarbeiter und ihre Familien brachten diese Erfahrungen und Wertesysteme mit nach Deutschland, wodurch die einzelnen Familienmitglieder in einen Kulturkonflikt gerieten. Die erste Generation der Arbeitsmigranten, deren Aufenthalt in Deutschland nicht auf Dauer angelegt war, hielt an diesem Wertesystem fest. Eine Annäherung an die deutsche Gesellschaft schien nicht erforderlich und war zudem schwierig, weil ein Großteil der Zuwanderer nicht aus den westlich orientierten türkischen Großstädten kam, sondern meist aus dem ländlich geprägten Anatolien, wo die jahrhundertealten Traditionen weiterhin ihre Gültigkeit behielten. Erst mit längerem Aufenthalt und der Geburt der Kinder und Kindeskinder wurde das traditionelle Wertesystem - vor allem durch die Kinder selbst, die mit den Werten der bundesdeutschen Gesellschaft aufgewachsen waren - in Frage gestellt. Sie fühlen sich hin- und hergerissen zwischen zwei Kulturen. Dies führt zu familiären Problemen, die in vielen türkischen Familien das Ausmaß der normalen Generationenkonflikte übersteigen. Vor allem an der Stellung der Frau und der Einhaltung gewisser religiöser Pflichten entzünden sich die Auseinandersetzungen. In manchen Fällen suchen die Betroffenen in der Hinwendung zur Religion die Lösung ihrer Identitätskrisen und -brüche. Die meisten Türken regeln ihre Eheprobleme vor Gericht und nicht in tätlichen Auseinandersetzungen. Allerdings werden auch in Deutschland Ehrverbrechen und Ehrenmorde verübt. Besonderes Aufsehen erregte der Fall der 23-jährigen Hatun Sürücü, die im Februar 2005 mutmaßlich von ihren drei Brüdern auf offener Straße in Berlin erschossen wurde. Sürücü kam nach einer gescheiterten arrangierten Ehe in Istanbul als allein erziehende Mutter zurück nach Berlin und lebte, nach Auffassung ihrer Brüder, zu emanzipiert und nicht traditionskonform. Aufsehen erregte der Mord jedoch auch, weil mehrere Schüler einer Oberschule die Tat befürworteten und die Meinung vertraten: Eine wie Hatun Sürücü sei eine "Schlampe", wenn sie wie eine Deutsche lebe, habe sie den Tod verdient. Gerade diese Äußerungen schockierten und verdeutlichten, dass die Integration in die deutsche Gesellschaft in diesen Fällen misslang. Initiativen wie "NEIN zu Verbrechen im Namen der Ehre" von Terre des Femmes fordern gesetzliche Regelungen zum Schutz vor Zwangsehen, Unterdrückung der Frau und Ehrverbrechen. Jedoch darf nicht jedes gewalttätige Handeln gegenüber Frauen mit dem Begriff "Ehre" erklärt werden. Eine derartige Gleichsetzung vereinfacht die Suche nach den Ursachen und unterstützt zudem ein klischeehaftes Bild von der türkischen Familie und vom Islam. Zweifelsohne wandelt sich auch der Ehrbegriff. Darüber hinaus wird dieser nicht von allen Türkinnen und Türken geteilt. Beispielsweise nähern sich die Ansprüche zur Erhaltung der Familienehre zwischen den Geschlechtern an, werden also zunehmend im Sinne einer beiderseitigen ehelichen Treue und einer Solidarität innerhalb der Familie sowohl an Männer als auch an Frauen gestellt. So wenig man ein allgemein gültiges Bild der deutschen Familie zeichnen kann, so wenig trifft das bei türkischen Familien zu. Kopftuchstreit Besonders deutlich zeigen sich die unterschiedlichen Vorstellungen über die Position der Frauen in der Auseinandersetzung um das Tragen des Kopftuchs. Die "Vermummung" türkischer Frauen, die als ein Zeichen der Rückständigkeit und Unterdrückung angesehen wird, weckt Ängste in der deutschen Bevölkerung. Anstoß an dem Kopftuch nehmen allerdings auch säkularisierte Türken, die hinter dem Kopftuch religiöse Bruderschaften mit fanatischen Ideen vermuten. Im Koran finden sich keine eindeutigen Kleidungsvorschriften für Frauen. Im Zuge der Auseinandersetzung beriefen sich sowohl Gegner als auch Befürworter auf die gleichen Textstellen. Mit großem Interesse verfolgte die Öffentlichkeit den Fall von Fereshta Ludin, die in Afghanistan geboren wurde und seit 1995 in Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft ist. Frau Ludin wurde die Einstellung als Lehrerin im baden-württembergischen Schuldienst verwehrt, weil sie darauf bestand, mit Kopftuch zu unterrichten. Das Kultusministerium vertrat die Auffassung, dass das religiöse Symbol auch eine politische Aussage darstelle und gegen das Neutralitätsgebot in Schulen verstoße. Das Kopftuch sei ein deutlich wahrnehmbares Symbol und somit seien Schülerinnen und Schüler einer Beeinflussung unweigerlich ausgesetzt. Die Lehrerin erhob Klage beim Verwaltungsgericht, das sich der Entscheidung des Ministeriums anschloss und betonte, die staatliche Neutralitätspflicht habe Vorrang vor der Religionsfreiheit. Im September 2003 urteilte das Bundesverfassungsgericht im Sinne der Klägerin. Es entschied zu Gunsten der Glaubensfreiheit und betonte in seiner Begründung, der Symbolgehalt des Kopftuchs sei nicht eindeutig festzulegen. Die vorhandenen Landesgesetze reichten für ein Kopftuchverbot nicht aus. Das Kopftuch müsse kein politisch motiviertes Kampfmittel oder Ausdruck patriarchalischen Zwanges sein; es könne ebenso getragen werden aus religiöser Überzeugung, als Ausdruck neoislamischer Weiblichkeit odermit der Absicht, die weiblichen Reize in der Öffentlichkeit zu bedecken. Eine generelle Gleichsetzung mit Unterdrückung, mangelnder Emanzipation, Fanatismus, Islamismus dürfe nicht erfolgen. Es sei im Einzelfall zu klären, mit welcher Motivation ein Kopftuch getragen werde. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hielt ein Kopftuchverbot für möglich, wenn die Bundesländer eine rechtliche Grundlage dafür schafften. Baden-Württemberg beschloss daher am 1. April 2004 eine Änderung des Schulgesetzes, die Lehrkräften untersagt, politische, religiöse oder weltanschauliche Bekundungen abzugeben. Dieses Verbot klammert die Darstellung christlicher und abendländischer Symbole explizit aus, sodass faktisch nur das Kopftuch unter diese Regelung fällt. Auch Bayern, Niedersachsen, das Saarland und Bremen erließen entsprechende Gesetzesänderungen. Berlin verabschiedete am 27. Januar 2005 eine Änderung, die allen Lehrkräften und Beamten in Justiz und Polizeidienst das Tragen sichtbarer religiöser und weltanschaulicher Symbole untersagt. Noch keine gesetzlichen Regelungen erließ Nordrhein-Westfalen - das Bundesland, in dem die meisten türkischen Staatsangehörigen und ein Drittel der Muslime in Deutschland leben. Die neue CDU/FDP-Landesregierung hat aber bereits einen Gesetzentwurf für ein Kopftuchverbot vorgelegt, der zurzeit diskutiert wird - insofern ist hier mit einer Änderung der Rechtslage zu rechnen. Festzuhalten ist: Die Diskussion wurde quer durch alle Gesellschaftsschichten mit unterschiedlichen Argumenten geführt. Der Symbolgehalt des Kopftuchs kann nicht eindeutig definiert werden. Gleichwohl hält sich bei vielen Menschen die Auffassung, das Kopftuch widerspreche grundsätzlich der Verfassung oder sei charakteristisch für die Unterdrückung der Frau. Dadurch wird ein Generalverdacht gegenüber allen Musliminnen und Muslimen erzeugt. Die pauschale Ablehnung des Kopftuchs birgt zudem weitere Gefahren: Sie kann dazu führen, dass sich Musliminnen und Muslime verstärkt auf ihre Religion zurückbesinnen und sich aus der Gemeinschaft zurückziehen. Dies würde ihre Integration erschweren. Integrationsprobleme Bis heute gelten die Türken als die am schwersten zu integrierende Bevölkerungsgruppe. Einer Umfrage von 2002 zufolge lehnen 39 Prozent der Ostdeutschen und 28 Prozent der Westdeutschen Türken als Nachbarn ab. Gegenüber 1996 stieg die Abneigung um fast zehn Prozent. Dieser Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen zeigt, dass das langjährige Zusammenleben von Türken und Deutschen in den alten Bundesländern die soziale Distanz verringert hat, wenn auch die Ablehnung sehr hoch bleibt. Eines der größten Probleme für die türkische Minderheit wie für die deutsche Mehrheit ist die Erziehungs- und Bildungssituation der jungen Türken. Immer noch verfügen manche türkischen Kinder nicht über ausreichende Sprachkenntnisse, um dem deutschen Schulunterricht folgen zu können. Die Folge sind fehlende Schulabschlüsse, die wiederum eine erfolgreiche berufliche Eingliederung erschweren. Daraus entstehen soziale Probleme, die eine weiter gehende Integration verhindern. Die Aufstiegschancen junger Türken hängen damit auch wesentlich von der Toleranz und Offenheit des Elternhauses ab. Türkische Kinder, deren Familien sich weit gehend vom deutschen Umfeld abschotten, haben deutlich schlechtere Bildungschancen. Ein Umdenken in der Schulpolitik, mehr Deutschunterricht in den Kindergärten, aber auch für die Eltern, insbesondere für die Mütter, sind dringend erforderlich. Stärker berücksichtigt werden sollte auch die Geschichte und Kultur des Herkunftslandes - über beides wissen deutsche Kinder kaum Bescheid -, die Zweisprachigkeit der Kinder und die Tatsache, dass sie durch ihre konfliktreichen Sozialisationsbedingungen oftmals sozusagen zwischen allen Stühlen sitzen. Sozialleistungen Ein weit verbreitetes Vorurteil betrifft den angeblichen Missbrauch von Sozialleistungen. 43 Prozent der deutschen Bevölkerung stimmen der Aussage zu: Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen. Wie in jeder Bevölkerungsgruppe trifft dies sicherlich auf Einzelne zu. Problematisch ist jedoch der Rückschluss auf die gesamte Gruppe. Über 500.000 türkische Arbeitnehmer entrichteten 2003 neben den selbstständigen Unternehmern Steuern und Sozialversicherungsbeiträge und haben sich damit einen rechtlichen Anspruch auf Renten und andere Sozialleistungen erworben. Hinzu kommt, dass Millionen von ausländischen Arbeitskräften in den 1950er und 1960er Jahren in die Sozialversicherungen einbezahlten, ohne zunächst deren Leistungen in Anspruch zu nehmen. Nicht zuletzt diese Zahlungen der ausländischen Arbeitnehmer ermöglichten einen großzügigen Ausbau des Sozialstaates. Staatlichen Leistungen bei der Sozialhilfe und Arbeitslosenversicherung stehen deutliche Mehreinnahmen bei der Kranken- und Rentenversicherung gegenüber. Asylbewerber: Kurdische Flüchtlinge Von den türkischen Arbeitsmigranten einschließlich ihrer Familien und Nachkommen müssen die Asylbewerber aus der Türkei unterschieden werden. 2003 stellten über 6000 Türkinnen und Türken einen Asylantrag, von denen 80 Prozent kurdische Flüchtlinge waren. Nach Einschätzung der Bundesregierung leben etwa 500.000 Kurdinnen und Kurden in Deutschland. Bis Ende der 1990er Jahre erfuhr der Kampf der Kurden um ihre Unabhängigkeit zwar öffentliches Interesse. Obwohl die kurdischen Immigranten vor Vertreibung, Verfolgung und Krieg aus der Türkei flohen, wurden sie jedoch keinesfalls vorurteilsfrei aufgenommen. Viele Deutsche befürchteten damals, Deutschland könne zum Bürgerkriegsschauplatz des türkisch-kurdischen Konfliktes werden. Kurdische Flüchtlinge leiden oftmals unter den Hausdurchsuchungen der deutschen Polizei, die bei vielen Kurden Verbindungen zur kurdischen Befreiungsorganisation PKK vermutet. Staatsangehörigkeitsrecht Die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft erleichtert den Zuwanderern zwar den Alltag in Deutschland, ändert jedoch nichts an der Voreingenommenheit vieler Deutscher. Diese ist ein Ergebnis der langjährigen Verweigerung, Deutschland politisch als das zu akzeptieren, was es in der Praxis längst ist: ein Einwanderungsland. Bis heute ist das Abstammungsprinzip bei der Einordnung von in Deutschland lebenden Menschen als In- bzw. Ausländer vorherrschend. Das andersartige Aussehen macht jemanden zum "Fremden", daran ändert auch die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft wenig. Das hängt damit zusammen, dass die Definition des "Fremden" das Konstrukt der Beobachtenden ist. Als "fremd" wird definiert, wer in der eigenen Wahrnehmung "anders", unbekannt oder unvertraut wirkt. Der Begriff des "Fremden" trifft somit nicht nur auf Ausländer aus staatsbürgerlicher Sicht zu, sondern auch auf Menschen mit anderen Lebensformen, Traditionen, Gewohnheiten und anderem Aussehen. Fremdheit ist folglich keine objektive Eigenschaft, sondern das Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses. Im Alltag erfahren dies etwa deutsch-türkische Kinder, die zu Beginn der Ferien - keineswegs unfreundlich - gefragt werden: "Fährst du in den Ferien wieder nach Hause?" Der Fragesteller ist verdutzt, wenn das Kind gleichermaßen verwundert antwortet: "Nein, ich besuche nur meine Oma." Offenbar hat er nicht verstanden, dass das Kind in Deutschland geboren wurde und dies als "Zuhause" betrachtet. Auch der Fall eines 16-jährigen in Köln geborenen Türken, der auf zahllose Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz als Industriekaufmann nur Ablehnungen erhielt, ist symptomatisch: "Wenn die meinen türkischen Namen gelesen oder meine dunklen Haare gesehen haben, war bisher immer Feierabend", erzählt er mit rheinischem Akzent. Von einem deutschen Pass erhofft er sich zumindest beim Arbeitsamt eine Verbesserung, dass er die alten Vorurteile beseitigen wird, glaubt er nicht. 2003 ließen sich 56.244 der in Deutschland lebenden Türkinnen und Türken einbürgern. Damit stammten 41,8 Prozent aller neu Eingebürgerten aus der Türkei, womit die Einbürgerungsquote bei der türkischen Minderheit deutlich höher liegt als deren Anteil an der ausländischen Gesamtbevölkerung in Deutschland, der 2002 etwa 26 Prozent betrug. Die Wiedererlangung der türkischen Staatsangehörigkeit, die mit Annahme der deutschen abgegeben werden musste, war bis 2000 gängige Rechtspraxis und wurde geduldet, wenn die betreffende Person einen festen Wohnsitz in Deutschland hatte. Nach dem Staatsbürgerschaftsrecht von 2000 ist eine doppelte Staatsbürgerschaft für Türkinnen und Türken jedoch nicht mehr zulässig. Wegen Änderung der Rechtslage drohte 55.000 Türkinnen und Türken der Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft. Zum 1. Januar 2005 trat das neue Zuwanderungsgesetz in Kraft. Neben der Reduzierung der Aufenthaltstitel sind vor allem die Regelungen zur Integration bedeutsam. Neu eingewanderte Migrantinnen und Migranten sind demnach verpflichtet, Integrationskurse zu absolvieren, in denen die deutsche Sprache, Alltagswissen, Kultur und Geschichte, Kenntnisse über das demokratische Staatswesen sowie die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit vermittelt werden sollen. Für Migrantinnen und Migranten, die schon länger in Deutschland leben und über eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung verfügen, besteht keine Teilnahmepflicht. Den Gemeinden obliegt es, für diese Zielgruppe Angebote anzubieten oder freie Plätze zur Verfügung zu stellen. Bei erfolgreicher Absolvierung des Integrationskurses kann die deutsche Staatsbürgerschaft bereits ein Jahr früher angenommen werden. QuellentextDas Staatsbürgerschaftsrecht seit 2000 - wesentliche Neuerungen Vor dem Jahr 2000 galt in Deutschland das Abstammungsprinzip, nur Kinder von Deutschen wurden automatisch Deutsche. Seit dem Jahr 2000 gilt: Deutscher ist automatisch, wer in Deutschland geboren ist - egal, welche Staatsbürgerschaft die Eltern haben. Voraussetzung ist, dass mindestens ein Elternteil bereits acht Jahre in Deutschland lebt. Bis zum 23. Lebensjahr können Kinder zwei Pässe besitzen - danach müssen sie sich entscheiden. Wer die deutsche Staatsangehörigkeit behalten will, muss seinen ausländischen Pass abgeben. In Deutschland lebende Ausländer haben Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn sie mindestens acht Jahre über einen festen Wohnsitz in Deutschland verfügen, für ihren Lebensunterhalt aufkommen können, nicht strafrechtlich verurteilt wurden, eine Niederlassungsberechtigung besitzen, sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen, Integrationskurse absolviert haben, die deutsche Sprache beherrschen und ihre derzeitige Staatsangehörigkeit ablegen. Eine Mehrstaatlichkeit ist nur in Ausnahmefällen zulässig. Birgit Schulze Reaktionen auf Vorurteile Vorurteile seitens der deutschen Mehrheitsgesellschaft rufen bei Teilen der türkischen Minderheit eine Trotzreaktion hervor. Angehörige der zweiten oder dritten Generation grenzen sich bewusst von der deutschen Mehrheitskultur ab und identifizieren sich wieder stärker mit der Kultur und Gesellschaft ihrer Eltern und Großeltern. Die jungen Türken wollen gleichberechtigt und anerkannt, also integriert sein; sie lehnen jedoch eine Aufgabe ihrer Kultur, Traditionen, Werte und Sprache, also eine vollständige Assimilation an die deutsche Mehrheitsgesellschaft, ab. Von den Deutschen wird dies häufig als ein Zeichen für die Reislamisierung und einen Rückzug der Türken von der deutschen Umwelt gewertet. Dies scheint jedoch in vielen Fällen an den Tatsachen vorbeizugehen. Der falschen Einschätzung zu Grunde liegt wohl die lange verbreitete Theorie, die Einwanderer der zweiten und dritten Generation würden sich unter Aufgabe ihrer eigenen Kultur weit gehend an das deutsche Umfeld anpassen. Die Traditionen der Eltern und Großeltern werden jedoch bewahrt und dienen bei jungen Türkinnen und Türken als kultur- und identitätsstiftend. Als besonders wichtige Werte werden hier Wärme, Großzügigkeit und die zentrale Bedeutung der Familie genannt. Vermutlich wird dieser Prozess der Rückbesinnung auf die Tradition gestärkt durch die Zurückweisungen, die die Türken immer wieder von der Mehrheitsgesellschaft erfahren. Die ehemalige Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, Barbara John, deutet diese Entwicklung als Zeichen für eine Integration in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft und nicht als Rückzug in ein kulturelles oder religiöses Getto. Die Ergebnisse einer Ende 2001 in Berlin durchgeführten repräsentativen Telefonumfrage unter den in Berlin lebenden Türken bestätigen diese Einschätzung. Danach fühlen sich immerhin 80 Prozent der Türkinnen und Türken "wohl" bzw. "sehr wohl" in Berlin und verorten dort ihren Lebensmittelpunkt. Nicht übersehen werden darf jedoch auch, dass bei einem Teil von frustrierten, von der deutschen Mehrheitsgesellschaft vermeintlich oder tatsächlich zurückgewiesenen Türken eine Ablehnung der Deutschen festzustellen ist. Sie sind anfällig für religiöse oder nationalistische Organisationen wie etwa die "Grauen Wölfe", die ihnen ein Gefühl von Stärke oder auch Überlegenheit vermitteln. Eine Übersicht über die Verteilung Erwerbstätiger ohne Berufsabschluss nach Herkunft Muslime in europäischen Ländern Die Anschläge auf das World Trade Center in New York und auf das US-Verteidigungsministerium in Washington vom 11. September 2001 verstärkten einerseits die Furcht vor den Auswirkungen eines radikalen Islam und rückten andererseits das Thema in den Fokus des öffentlichen Interesses. Das Bundesinnenministerium reagierte mit so genannten Sicherheitspakten und verbot mehrere muslimische Vereine und Organisationen. Die Medien berichteten vor allem über das Verbot des Kölner "Kalifatstaates" im Dezember 2001 und die Abschiebung seines Vorsitzenden Metin Kaplan im Oktober 2004. Ziel der verbotenen Organisation war "der Sturz des laizistischen Systems in der Türkei und die Installierung eines ausschließlich auf Koran und Sunna begründeten Gemeinwesens". Demokratische Regierungsformen lehnte die für eine weltweite Herrschaft des Islam eintretende Organisation strikt ab. Von seinen Anhängern forderte Kaplan laut Verfassungsschutzbericht 2004 als selbsternannter "Emir der Gläubigen und Kalif der Muslime" auch die Bereitschaft zum "Jihad" also zum "Heiligen Krieg". Oft wird allerdings in der Öffentlichkeit vor allem durch die Medien ein Bild gezeichnet, das den Islam mit Islamismus und Islamismus mit Terrorismus gleichsetzt und Muslime damit einem Generalverdacht aussetzt. Vorurteile neigen zu Verallgemeinerungen und nähren sich häufig aus der Angst vor dem Fremden. Deshalb überrascht es nicht, dass das diffuse Bild, das der Großteil der Deutschen vom Islam hat und das durch die terroristischen Anschläge in den USA, in Istanbul (November 2003), in Madrid (März 2004) und in London (Juli 2005) verstärkt wurde, auch in Vorurteile gegenüber den mehrheitlich muslimischen Türken umschlägt. Insgesamt 70 Prozent der Deutschen hielten 2004 den Islam für gefährlich oder bezweifelten gar, dass er in die westliche Welt passt. Fast 58 Prozent lehnen es ab, in eine Gegend zu ziehen, in der viele Muslime leben. 24 Prozent vertreten sogar die Auffassung, dass Muslimen der Zuzug nach Deutschland untersagt werden sollte. In Deutschland wird dabei häufig übersehen, dass die islamistischen Bewegungen nur eine Strömung im Islam bilden und keinesfalls repräsentativ für den Islam insgesamt sind. Maximal 1,4 Prozent der in Deutschland lebenden Türken identifizieren sich mit diesen radikalen politischen Ideen. Der Großteil fordert lediglich die Anerkennung des Islam im Rahmen der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit. Birgit Schulze Vor dem Jahr 2000 galt in Deutschland das Abstammungsprinzip, nur Kinder von Deutschen wurden automatisch Deutsche. Seit dem Jahr 2000 gilt: Deutscher ist automatisch, wer in Deutschland geboren ist - egal, welche Staatsbürgerschaft die Eltern haben. Voraussetzung ist, dass mindestens ein Elternteil bereits acht Jahre in Deutschland lebt. Bis zum 23. Lebensjahr können Kinder zwei Pässe besitzen - danach müssen sie sich entscheiden. Wer die deutsche Staatsangehörigkeit behalten will, muss seinen ausländischen Pass abgeben. In Deutschland lebende Ausländer haben Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn sie mindestens acht Jahre über einen festen Wohnsitz in Deutschland verfügen, für ihren Lebensunterhalt aufkommen können, nicht strafrechtlich verurteilt wurden, eine Niederlassungsberechtigung besitzen, sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen, Integrationskurse absolviert haben, die deutsche Sprache beherrschen und ihre derzeitige Staatsangehörigkeit ablegen. Eine Mehrstaatlichkeit ist nur in Ausnahmefällen zulässig. Birgit Schulze
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Angelika Königseder / Birgit Schulze
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-09-13T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/vorurteile-271/9698/tuerkische-minderheit-in-deutschland/
Die meisten in Deutschland lebenden Ausländer sind Türken. Doch im Gegensatz zu stereotypen Auffassungen finden "die Türken" jeweils einen ganz eigenen Lebensstil zwischen Tradition und Moderne, Anpassung und Rückzug.
[ "Informationen zur politischen Bildung Nr. 271", "Vorurteile", "Türken in Deutschland", "Gastarbeiter", "Rassismus", "Fremdenhass", "Geschichte der Gastarbeiter", "Integration" ]
30,343
Gesellschaft, Kultur und Bildung | Digitalisierung | bpb.de
Selfies sind eine Form der Selbstdarstellung online: junge Frau in Brooklyn, New York (© picture-alliance, Westend61/Boy) Gesellschaft und ihr Blick auf Technologie Technologien wie algorithmische Systeme sind Teil unseres Alltags – selbst dann, wenn wir gerade kein Smartphone nutzen oder vor dem Laptop sitzen. So kommen sie etwa bei Ampelschaltungssystemen, Barcodes auf Waren oder bei der Paketannahme zum Einsatz. Die meisten Menschen können weder technisch nachvollziehen, wie algorithmische Systeme programmiert sind, noch sind ihnen die dafür notwendigen Informationen zugänglich. Daher wird solchen Technologien oft eine große Macht beigemessen. Schließlich sind es die Infrastruktur und die Gestaltung von Online-Angeboten und Benutzeroberflächen, die das Handeln im Internet ordnen und regulieren. Diese Interner Link: technikdeterministische  Perspektive bringt der US-amerikanische Rechtswissenschaftler Lawrence Lessig mit dem Satz "Code is Law" auf den Punkt. Bei dieser Sichtweise wird leicht ausgeblendet, dass es Menschen sind, die Technologien entwickeln und erstellen. Im Alltagsverständnis wird algorithmischen Systemen oft eine gewisse Neutralität zugesprochen, gerade weil es sich um eine technologische Anwendung handelt, die klaren Vorgaben und Regeln folgt. Das sieht zunächst nicht nach menschlicher Subjektivität aus. Betrachtet man jedoch genauer, wie ein algorithmisches System entsteht, wird deutlich, dass es nicht objektiv sein kann: Es basiert auf zahlreichen Annahmen und Ideen von Menschen über unsere Welt. Das betrifft bereits die Auswahl und Klassifikation der Daten, die einem algorithmischen System zugrunde liegen, aber auch das Modell, nach dem es aufgebaut ist, und die Regeln, denen es folgt, um zu einem Ergebnis zu kommen. Dass in jede Technologie soziale Annahmen einfließen, legt beispielsweise der britische Soziologe Trevor Pinch in zahlreichen Arbeiten dar. Dass Menschen und ihre Annahmen beeinflussen, zu welchen Ergebnissen algorithmische Systeme kommen und wie sie letztlich wirken, lässt sich am Beispiel sozialer Netzwerke oder von Suchmaschinen veranschaulichen: Hier fließen in die algorithmischen Systeme auch die Interessen der Anbieter selbst ein, beispielsweise ihr Wunsch, Werbung besonders zielgerichtet zu platzieren oder bestimmte Inhalte zu bevorzugen. Neben der Frage: Welche Themen sind für das jeweilige Individuum wirklich interessant?, könnten in den Entwicklungsprozess auch Fragen einfließen wie: Welche Posts sind schädlich für die Gesellschaft (zum Beispiel, weil sie gegen Grund- und Menschenrechte verstoßen, Gewalt verherrlichen)? Wie lässt sich das für ein algorithmisches System eindeutig festlegen? Solche in die algorithmischen Systeme eingehenden Annahmen, die für die Gesellschaft bedeutsam sind, bleiben in den Entwicklungsteams allerdings häufig unreflektiert. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass individuelle Einstellungen meist hochgradig verinnerlicht und denjenigen, die Algorithmen modellieren, kaum bewusst sind, wie das häufig etwa bei Alltagsrassismus oder -sexismus der Fall ist. Außerdem sind solche Überlegungen in den meisten Entwicklungsprozessen bislang nicht ausdrücklich vorgesehen. Diese Zusammenhänge sind von übergeordneter gesellschaftlicher Bedeutung, finden jedoch in der medialen und politischen Debatte bislang eher wenig Beachtung. Neue und veränderte Kulturpraktiken Der Einfluss der voranschreitenden Digitalisierung auf Leben und Alltag lässt sich an neuen Kulturpraktiken veranschaulichen. So sind aktive Nutzerinnen und Nutzer sozialer Netzwerke gewohnt, sich selbst darzustellen und zu inszenieren. Insbesondere unter jüngeren Menschen gehört das inzwischen zur Alltagskultur. Viele veröffentlichen sehr persönliche Stellungnahmen, Fotos oder Kurzfilme im Sinne von Erfahrungsberichten und persönlichen Sichtweisen. Andere Veröffentlichungen sind als Gruß an Vertraute oder den Freundeskreis gedacht. Teilweise werden spontane Schnappschüsse online gestellt. Häufig jedoch ist gründlich arrangiert, was zu sehen ist und was nicht. Die Art der veröffentlichten Inhalte variiert darüber hinaus in Bezug darauf, welche Plattform die Nutzerinnen und Nutzer wählen. In beruflichen Netzwerken etwa betonen die meisten ihre Kompetenzen und ihre Professionalität. Auf anderen Plattformen wie etwa Instagram geht es häufig darum, den eigenen Lebensstil darzustellen. QuellentextBerufsbild: Influencer [...] Influencer, das sind jene Menschen, die Fotos, Videos und Textchen in sozialen Medien hochladen, wo sie Tausende, manchmal Millionen oder gar Milliarden Menschen anschauen. Doch die neuen Internetstars unterhalten nicht nur, sie beeinflussen auch das Denken – und das Kaufverhalten – ihrer Zuschauer. […] Firmen haben das Potenzial längst erkannt und versorgen die Beeinflusser mit ihren Produkten. […] Jeder dritte Social-Media-Nutzer über 14 Jahren wäre gern ein erfolgreicher Influencer, hat eine Bitkom-Studie ergeben. Doch wie wird man eigentlich Influencer? Und wie verdient man damit Geld? Viele Akademien und Agenturen bieten an, bei der Beantwortung dieser Fragen zu helfen. Denn inzwischen ist nicht nur das Beeinflussen ein Geschäft – sondern auch das Erklären, wie man erfolgreich beeinflusst. […] Viele angehende Influencer reizt es, im Mittelpunkt zu stehen, aber natürlich lockt auch das Geld. Bei Personen mit mehr als 500.000 Followern sind deutsche Firmen bereit, bis zu 38.000 Euro pro Post zu zahlen, hat eine Umfrage im Auftrag des Unternehmens Rakuten Marketing ergeben. Doch das sind Spitzenwerte, die selten sein dürften. Über klassische Kooperationen mit Firmen könne man mit etwa vier bis zehn Euro pro 1000 Follower für einen Post bei Instagram rechnen, sagt Sascha Schulz [Gründer der Influencer Marketing Academy, Berlin] – wobei mit zunehmender Fanzahl auch die Wahrscheinlichkeit steigt, Auftraggeber zu bekommen. Er rechnet vor: Bei 100.000 Followern wären das 400 bis 1000 Euro pro Beitrag. "Das klingt erst mal viel, aber du brauchst einen Fotografen, hast Reisekosten, Akquisekosten, vielleicht eine Agentur." Mit weniger als 150.000 Followern lohne es sich kaum als Vollzeitjob, ab 250.000 sei man "richtig im Geschäft". Und auch wer es lediglich auf geschenkte Produkte abgesehen hat: Der Geldwert muss versteuert werden. Mit der Werbung ist das jedoch so eine Sache: Verzichtet ein Influencer auf Kooperationen, verdient er kein Geld, postet er zu viel Werbung, langweilt er seine Zuschauer. Er muss seine Fans also immer wieder mit Einblicken in sein Leben oder mit Videos, in denen er etwas Nützliches erklärt, am Bildschirm halten. Damit verschmilzt jedoch der Mensch schnell mit einer Werbefigur und der Influencer zahlt einen hohen persönlichen Preis: seine Privatsphäre. 29 Prozent der Menschen in Deutschland haben schon mal ein Produkt auf Empfehlung eines Influencers gekauft, hat eine Umfrage der Unternehmensberatung PwC ergeben. Frauen gaben dabei demnach im Durchschnitt 100 Euro aus, Männer sogar 130 Euro. Im Moment profitieren also – neben den Betreibern der großen Social-Media-Plattformen – vor allem die Firmen, die ihrer Zielgruppe durch die Influencer so nah kommen wie nie. […] Veronika Wulf, "Bitte folgen", in: Süddeutsche Zeitung vom 15. Februar 2020 In zahlreichen sozialen Netzwerken kommen neben Sichtweisen auf oder Einstellungen zu bestimmten Themen auch Stimmungen, Gefühlslagen und Befindlichkeiten zum Ausdruck. Mitzumachen, zu reden, Bestätigung, Anerkennung und Gleichgesinnte zu finden oder sich bewusst abzugrenzen, spielt ebenfalls eine Rolle. Gerade bei Jugendlichen und Heranwachsenden herrscht oft ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Selbstvergewisserung. Vergleiche bieten ihnen Ansatzpunkte, um herauszufinden, wo sie innerhalb einer Gruppe und der Gesellschaft stehen, wer sie sein möchten und was ihnen wichtig ist. Soziale Netzwerke bieten hierzu neue Möglichkeiten der Darstellung und damit auch des Vergleichs, ihr Nutzen für die persönliche Identitätsfindung bleibt jedoch begrenzt. Durch die Neigung zu geschönter, wirklichkeitsfremder Darstellung stellen sie eine unrealistische Vergleichsgrundlage dar und fördern eine verzerrte Wahrnehmung der Realität. Dabei wirken insbesondere Bilder sehr realistisch und überzeugend. Dementsprechend werden sie tendenziell weniger hinterfragt als Text, wie es etwa der Kommunikationswissenschaftler und Philosoph Klaus Sachs-Hombach beschreibt. Ständige Vergleiche auf dieser Basis können sich negativ auswirken und schaffen realitätsfremde Schönheitsideale oder maßlose Ansprüche an die eigene Leistung. Das zeigt beispielsweise die Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Carolin Krämer in ihrer Studie "Instagram und Körperbild" aus dem Jahr 2017. Sie analysierte unter anderem, wie fitnessbezogene Inhalte auf das Körperideal von Frauen wirken, die Instagram nutzen: Sie sind tendenziell unsicherer und unzufriedener mit sich selbst, je öfter sie sich dort an vermeintlichen Idealen messen. Hinzu kommt die Möglichkeit, sich dank Smartphones und des mobilen Internets jederzeit und überall vergleichen zu können. So beträgt die tägliche Nutzungsdauer des Internets laut der "Onlinestudie 2019" der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ARD und ZDF bei allen Befragten durchschnittlich drei Stunden täglich. Die 14- bis 29-Jährigen sind etwa doppelt so lange online, also sechs Stunden. QuellentextWeibliche Selbstinszenierung online [...] Die neuen Heldinnen vieler junger Mädchen sind frauenpolitisch ein Albtraum. Zwar gibt es etliche feministische Webseiten, und der Hashtag #Aufschrei zeigte 2013, wie im Netz gesellschaftliche Debatten gestartet werden können. Dennoch ist aktuell ein rückwärtsgewandtes Frauenbild verbreitet. Das soll vor allem sexy sein: Das zufällig überkreuzte Bein, der s-förmig gebogene Körper, der Blick über die Schulter oder der angewinkelte Arm mit Hand im Haar werden zigfach kopiert – typische Posen, die die Medienwissenschaftlerin Maya Götz für die Studie "Weibliche Selbstinszenierung in den neuen Medien" der MaLisa-Stiftung bei Instagram-Influencerinnen ausmachte. Die eigenen Selfies werden Filter für Filter angepasst: 70 Prozent der Befragten optimieren Haut und Haare, 47 Prozent färben ihren Teint dunkler, 38 Prozent ihre Zähne heller, 33 Prozent ziehen den Bauch flacher. "Es gibt eine extreme Verengung der Schönheitsideale, eine immer ähnlichere Inszenierung in vermeintlich perfekter Form", sagt Götz, Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen beim Bayerischen Rundfunk. Stereotype verfestigten sich so. "Was sich bei Instagram abspielt, ist sexistisch. Mädchen werden auf ihren Körper begrenzt, und der muss verändert werden, bis er so aussieht, wie er gar nicht aussieht." Hinter diesem Selbstbild, dem sich junge Frauen freiwillig unterwerfen, steht ein Markt, in dem mit Klischees Geld verdient wird. Wer sich als Influencerin finanzieren will, muss das mit Themen wie Mode, Kosmetik, Ernährung oder Lifestyle tun. Und selbst ins Bild passen: "Heldinnen sind immer schön und dünn", sagt Götz. […] Teenager müssten ermuntert werden, solchen Darstellungen zu widersprechen. Zwar gebe es Positivbeispiele wie die Aktivistin Greta Thunberg, die ehemaligen Stars des chinesischen Videoportals TikTok, Lisa und Lena, oder das XL-Model Fine Bauer, dies seien jedoch Ausnahmen. […] Mit der Studie "Selbstermächtigung oder Normierung?" analysierte die MaLisa-Stiftung auch das Geschlechterverhältnis und die Frauenbilder auf YouTube: In den Top 1000 kommen auf drei Männer eine Frau, in den Top 100 ist das Verhältnis 2:1. Auch dort reproduzieren erfolgreiche Kanäle Stereotype: Frauen beraten in Schönheitsfragen, Männer bedienen von Unterhaltung bis Politik alle Themen, wie die Medienwissenschaftlerin Claudia Wegener, Professorin an der Filmuniversität Babelsberg, und Elisabeth Prommer, Direktorin des Instituts für Medienforschung an der Universität Rostock, bilanzieren. Ihre Interviews mit YouTuberinnen ergaben zudem: Das zur Schau gestellte konservative Frauenbild ist – wie bei Instagram – auch ein Anpassen an den Druck, sich durch Werbepartner zu finanzieren. Durch den Fokus auf eher belanglose Themen lassen sich zudem Hasskommentare umgehen. Auch wenn mehr Diversität notwendig sei, sieht Wegener keine einseitige Medienwirkung: "YouTube ist nur ein Aspekt im Leben Jugendlicher, das Medium allein verfestigt keine Stereotype." Zudem sei das Schwärmen für Stars des Portals auf eine gewisse Altersgruppe und damit zeitlich begrenzt. "Letztendlich muss man Jugendlichen ihre Welten lassen, das war schon immer so." Wichtig sei es aber, klar durchschaubar zu erklären, dass die Welt der sozialen Medien inszeniert und von Marktmechanismen bestimmt sei. […] Auch bei YouTube gebe es […] [zu alternativen Rollenbildern] viele Angebote, wenn auch nicht in den Top-Playlisten. Als Beispiele nennt Wegener die Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim und deren Kanäle mit wissenschaftlichen Themen und Lernvideos oder die Finanzexpertin Hazel mit "Pocket Money". […] Nadine Emmerich, "Heldinnen sind immer schön und dünn", in: E & W, Erziehung und Wissenschaft 3/2020, S. 16 ff. "Always on" beschreibt das Phänomen, ständig und über zahlreiche Kanäle erreichbar zu sein sowie keine wichtigen Informationen oder Nachrichten verpassen zu wollen. Es ist insbesondere für jüngere Menschen zur Normalität geworden. Daraus ist das Konzept des "Digital Detox" entstanden, der digitalen Entgiftung. Es bezeichnet das Vorhaben, weniger Zeit mit Smartphones oder an Computern, in Messengerdiensten oder sozialen Netzwerken, mit Computerspielen oder Videos zu verbringen – oder sogar auf bestimmte digitale Aktivitäten und Geräte für einen Zeitraum ganz zu verzichten. Fachleute aus Interner Link: Medienpädagogik und Medizin raten hingegen eher dazu, den Medienkonsum dauerhaft zu verändern: Dabei hilft beispielsweise, sich feste Auszeiten und Tabuorte für das Smartphone zu verordnen. Solche und ähnliche Hilfestellungen spricht etwa die Initiative "Klicksafe" aus. Sie gehört zum "Telecom-Programm der Europäischen Union für mehr Sicherheit im Internet", das von den Medienanstalten in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen für Deutschland umgesetzt wird. Die Veränderungen, welche die Digitalisierung in Alltag und gesellschaftlichem Leben bewirkt, strahlen auch auf die Kunst aus. Denn sie fokussiert die Gesellschaft als Gegenstand ihrer künstlerischen Betrachtungen und damit auch die sich wandelnden Kulturpraktiken. So beschäftigte sich etwa die Fotoausstellung "Ego Update", die das NRW Forum Düsseldorf im Jahr 2015 zeigte, mit Selfies als einem zentralen Motiv der Gegenwart. Darüber hinaus werden digitale Medien zunehmend bei der Darstellung von Kunst in Kombination mit bestehenden Angeboten eingesetzt. Museen bieten virtuelle Ausstellungen im Internet an und integrieren neue Technologien gleichermaßen in Ausstellungen vor Ort: So visualisiert das Museum für Kommunikation in Berlin die weltweiten Datenströme auf einer digitalen Weltkarte, die automatisiert ständig die aktuellsten Werte wiedergibt. Die Digitalisierung schafft zudem neue Quellen und Formen der Kunst sowie das eigene Genre Net Art: Hier werden beispielsweise mithilfe von Algorithmen Musikstücke, Gedichte oder Gemälde geschaffen, virtuelle Stimmen singen Songs ein, Roboterbands treten auf Festivals auf. In Theaterstücken zählt nicht mehr nur die gekonnte Inszenierung durch Bühnenbild, Schauspiel, Licht und Ton. Vielmehr lassen sich komplexe technologische Effekte in die Dramaturgie eines Stückes integrieren, etwa Livestreamings aus der Sicht der Schauspielerinnen und -spieler, die direkt auf der Bühne filmen oder interaktive Lichtinstallationen, die durch Bewegungen beeinflusst werden. Auch bestehende künstlerische Disziplinen und ihr Markt erleben einen grundlegenden Wandel: So unterliegt etwa die Musikbranche tiefgreifenden Veränderungen, die das gesamte Geschäftsmodell der Branche betreffen. Mit der Umstellung von Kassetten und Schallplatten hin zu CDs hatte sie zunächst einen Wachstumsschub erhalten, der etwa ab der Jahrtausendwende in sich zusammenbrach. Die CD-Verkäufe sanken rapide, bis sich mit der Erfindung des MP3-Komprimierungsverfahrens Musikdownload- und -streamingdienste etablierten. Jedoch gab es zu Beginn kaum Bezahlmodelle, die den Künstlerinnen und Künstlern eine angemessene oder auch nur ausreichende Vergütung gewährleisteten. Seit dem Jahr 2018 erholt sich die Branche derzeit wieder – auch aufgrund etablierter und erfolgreicher Streamingkonzepte wie Spotify. So machen Onlinekäufe und -konsum laut des Bundesverbands Musikindustrie im Jahr 2019 mehr als 64 Prozent des gesamten Umsatzes der Musikindustrie aus. Bedeutung von Medien- und Digitalkompetenzen Die Veränderungen in den Bereichen Medien, Kommunikation und Öffentlichkeit sowie die neuen oder sich stark wandelnden Kulturpraktiken verdeutlichen: Medien- und Digitalkompetenzen, auch Interner Link: digital literacy  genannt, sind im technologischen Wandel von zentraler Bedeutung, betont etwa die Mediendidaktikerin Kerstin Mayrberger. Genauer betrachtet beziehen sich die Begriffe Medien- und Digitalkompetenz auf mehrere Aspekte: Sie bezeichnen die Fähigkeit, digitale Endgeräte wie Smartphones oder erweiterte Medienausstattung richtig nutzen und bedienen zu können – sowohl auf der Ebene von Interner Link: Hardware als auch auf der von Interner Link: Software. Medienkompetenz äußert sich auch darin, zwischen Anwendungen unterscheiden zu können und sie zweckdienlich einzusetzen. "Individualkommunikation" – zum Beispiel in privaten Chats – eignet sich für andere Belange als etwa teilöffentliche oder komplett öffentliche Kommunikation in Communitys und Netzwerken. Digital kompetent zeigt sich außerdem, wer angebotene Inhalte und Funktionslogiken etwa von Plattformen oder Apps nachvollziehen kann. Kompetenten Nutzerinnen und Nutzern müssen die Folgen der eigenen Mediennutzung auf individueller und gesellschaftlicher Ebene bewusst sein. Durch die Digitalisierung entwickeln sich die Anforderungen fortlaufend weiter. Medien- und Digitalkompetenz erfasst auch die Fähigkeit, in der durch die Digitalisierung steigenden Informationsflut (siehe auch Kapitel Interner Link: Kommunikation, Medien und die öffentliche Debatte) zwischen relevanten und irrelevanten Nachrichten, zwischen Berichten und Meinungen, zwischen faktisch korrekten Informationen und gezielter Desinformation (siehe auch Kapitel Interner Link: Kommunikation, Medien und die öffentliche Debatte) unterscheiden zu können. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen entwirft in diesem Zusammenhang die Vision einer "redaktionellen Gesellschaft", in der alle über die Kompetenzen verfügen, die früher insbesondere ausgebildete Journalistinnen und Journalisten aufwiesen. Nur so sei es möglich, zu erkennen, was relevante, glaubwürdige und publikationsreife Informationen sind. Außerdem könnten Mitglieder einer "redaktionellen Gesellschaft" stets kompetent entscheiden, welche Informationen und Darstellungen es verdienen, veröffentlicht zu werden oder was lieber privat bleiben sollte. Die Europäische Kommission erfasst die notwendigen Medien- und Digitalkompetenzen systematisch, indem sie fünf zentrale Felder bestimmt, in denen die gesamte Bevölkerung umfangreich ausgebildet werden sollte: Informations- und Datenkompetenz: Das beinhaltet, Informationsbedürfnisse formulieren zu können, digitale Daten und Inhalte abzurufen, die Relevanz einer Quelle und ihres Inhalts zu beurteilen sowie digitale Daten, Informationen und Inhalte speichern, verwalten und organisieren zu können. Kommunikation und Zusammenarbeit: Dazu zählt, mithilfe digitaler Technologien zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten sowie sich dabei der kulturellen und generationellen Verschiedenheiten bewusst zu sein. Dieses Feld beinhaltet darüber hinaus, durch öffentliche und private digitale Dienste an der Gesellschaft teilzuhaben sowie die eigene Identität und den eigenen Ruf im digitalen Raum zu organisieren und zu gestalten. Inhaltserstellung online: Darunter fällt, online dargebotene Informationen und Inhalte in den bestehenden Wissensbestand integrieren zu können und sich dabei gleichzeitig des Urheberrechts und der Notwendigkeit, Lizenzen einzuholen, bewusst zu sein. In dieses Feld zählen zudem Kenntnisse, wie Hardware und Software zu bedienen sind. Sicherheit: Hierunter fallen Kenntnisse, wie Geräte, Inhalte, persönliche Daten und die Privatsphäre insgesamt in digitalen Umgebungen geschützt werden können. Darüber hinaus gehören dazu Wissen und Fähigkeiten, um im technologischen Wandel die eigene physische und psychische Gesundheit und das soziale Wohlbefinden zu erhalten sowie die soziale Integration zu fördern. Schließlich erfasst dieses Feld auch Kenntnisse darüber, welche Umweltauswirkungen digitale Technologien und ihre Nutzung haben. Problemlösung: Dieser Kompetenzbereich verlangt die Fähigkeit, Bedürfnisse und Probleme identifizieren zu können, die in digitalen Umgebungen bestehen, sowie Lösungen dafür zu erarbeiten und Innovationsprozesse über digitale Werkzeuge zu gestalten. Es herrscht Einigkeit darüber, dass es angesichts der Medienvielfalt und der ständigen Präsenz digitaler Anwendungen in allen Lebensbereichen erforderlich ist, entsprechende Kompetenzen zu erwerben – in der schulischen und außerschulischen Bildung, im Kinder-, Jugend- und Erwachsenenalter. Technologien und Kompetenzvermittlung im Bildungssystem Der Bildungsort Schule gilt als wichtige Institution, um frühzeitig Medien- und Digitalkompetenzen zu vermitteln. Darauf einigte sich die Kultusministerkonferenz (KMK) in ihrer Handlungsstrategie "Bildung in der digitalen Welt" im Dezember 2016 (veröffentlicht in der Fassung vom Dezember 2017). Sie vergleicht die Auseinandersetzung mit Themen der Digitalisierung und die überlegte Anwendung digitaler Medien in ihrer Bedeutung mit der Fertigkeit des Lesens und Schreibens. Damit gelten Digitalkompetenzen als elementarer und grundlegender Bestandteil schulischer Bildung, insbesondere in den weiterführenden Schulformen. Ob das Wissen und die Kenntnisse im Informatikunterricht oder in anderen Fächern vermittelt werden, ist dabei nicht festgeschrieben und obliegt den Ländern, die das in ihren Lehr- und Bildungsplänen festlegen. Die Auseinandersetzung mit der Digitalisierung wird in diesen Plänen in den sogenannten Leitzielen oder Leitperspektiven aufgegriffen, die den grundsätzlichen Bildungsauftrag an Schulen beschreiben und in verschiedenen Fächern verwirklicht werden sollen. Dem Informatikunterricht kommt bei der Vermittlung der notwendigen Digital- und Medienkompetenzen in einigen Bundesländern eine besondere Bedeutung zu. Derzeit ist er nur in Baden-Württemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen verpflichtend. Nordrhein-Westfalen führt Informatik als Pflichtfach ab dem Schuljahr 2021/22 ein, Niedersachsen ab 2023/24. Voraussetzung für eine funktionierende digitale Infrastruktur an Schulen und Hochschulen ist ein schneller, verlässlicher Internetzugang. Dazu gehört zuvorderst eine ausreichende Anzahl von Endgeräten wie Computer, Tablets oder etwa Interner Link: interaktive Whiteboards. Zudem gilt es, Netzwerke und Endgeräte technisch zu verwalten und zu pflegen. Zur digitalen Infrastruktur zählen auch Geräte, die direkt im Unterricht eingesetzt werden können. QuellentextProjekt Digitale Pilotschule […] "Einfach machen" könnte über dem Eingang der […] [Goethe-Schule Schleiz] stehen, die zu den 20 "Digitalen Pilotschulen" in Thüringen gehört. "Wir probieren viel aus – und verwerfen manches wieder", erzählt Schulleiter Toralf Hieb, ein wortgewandter, zupackender Mathe- und Physiklehrer, der seit 1989 an der Schule unterrichtet und sie seit 2012 leitet. Heute ist sie nicht nur eine von 20 "Digitalen Pilotschulen" in Thüringen, sie ist auch bundesweit eine Wegbereiterin im Umgang mit Tablets und WLAN im Klassenzimmer, mit digitalem Notenbuch und interaktiven Arbeitsblättern. […] An der Goethe-Schule wurde das Ende der Kreidezeit 2013 eingeläutet. Damals kam Florian Rau an die Schule, ein Referendar aus dem nahen Oberfranken. Der heute 36-Jährige hat in Jena studiert, er will etwas bewegen und begeistert sich für digitale Technik. Für den Wunsch, iPads einzuführen, berief er damals einen Elternabend ein und erntete Zustimmung. Im Sommer 2013 fanden sich in der Klassenstufe 7 erste Tablet-Klassen zusammen. Für den Einstieg in die neue Zeit nahm der Förderverein einen Kredit auf, bezahlt wurden die Tablets von den Eltern, denn das Budget der Schule reichte dafür nicht aus. Die Idee setzte sich nach und nach durch, mittlerweile arbeiten alle 7. bis 10. Klassen und alle Lehrkräfte mit Tablets. Die Apps und ihre Nutzung werden über den Administrator der Schule verwaltet, bei dem die Geräte angemeldet werden. Rau sitzt am Lehrertisch vor einer 9. Klasse, eine Schülerin schiebt die alte grüne Kreidetafel nach unten. Dahinter kommt ein riesiger 65-Zoll-Bildschirm zum Vorschein. Raus Finger fliegen über sein Tablet, er verbindet sich drahtlos mit dem großen Monitor in seinem Rücken und startet eine der vielen Apps, die auch die Schülerinnen und Schüler haben. Mit Google-Earth können sie die Erde erkunden, mit dem "Geotrainer" einen Vulkanausbruch simulieren. Rau, begeisterter Geografielehrer, schiebt mit den Fingern die Plattentektonik auseinander und verändert den unterirdischen Lavastrom. "Mit dem iPad kann man jeden Fachunterricht gestalten", sagt er. "Das Internet ist voll von Lern-Apps für jede Schulart, jedes Fach und jedes Alter." Von seinem Gerät aus kann der Lehrer die Tablets der Schüler ansteuern, sie auf die große Monitor-Tafel rufen oder auf eine App festlegen, sodass sie keine andere Anwendung nutzen können. "Die Kolleginnen und Kollegen entscheiden selbst, wofür sie die Tablets einsetzen", sagt Schulleiter Hieb. Die Anwendungen sind vielseitig. Mit Apps kann in Teams und Projekten gelernt werden, ältere Schülerinnen und Schüler können jüngeren etwas beibringen. Manchen Lernstoff eignen sich die Jugendlichen inzwischen selbst an – in der Schule werden vor allem Fragen besprochen und Übungen gemacht. "So kann man sehr gut nach dem Lernstand differenzieren", sagt Hieb. Hausaufgaben lässt er sich manchmal zu einem festen Termin auf seinen Account schicken. Das iPad ist ihm dabei aber kein Ersatz für gute Pädagogik: "Wenn ich keine Disziplin in der Klasse habe, habe ich sie mit iPads auch nicht." […] Digitale Medien führten nur dann zu einem pädagogischen Mehrwert, wenn sie sinnvoll in ein gutes Unterrichtskonzept mit dem Primat der Pädagogik eingebunden seien. "Technologie ist kein Ersatz für gut ausgebildete Lehrkräfte", betont [Ilka] Hoffmann [GEW-Vorstandsmitglied für Schule]. Zugleich warnt sie vor einer Hegemonie internationaler Konzerne an Schulen. "Wir wollen nicht, dass die Digitalindustrie den Schulen Konzepte überstülpt." […] Sven Heitkamp, "Einfach machen", in: E & W, Erziehung und Wissenschaft 12/2019; S. 6 f. Der KMK-Beschluss von 2017 formuliert das Ziel, dass es den Schülerinnen und Schülern an weiterführenden Schulen bis 2021 möglich sein muss, jederzeit digitale Lernumgebungen und das Internet zu nutzen. Um das zu verwirklichen, verabschiedete die Bundesregierung 2019 den "Digitalpakt Schule" und stellt hierfür gemeinsam mit kommunalen und privaten Schulträgern bzw. den Ländern 5,55 Milliarden Euro zur Verfügung. Umgerechnet auf die etwa elf Millionen Schülerinnen und Schüler an deutschen Schulen bedeutet das im Schnitt etwa 500 Euro pro Person, umgerechnet auf 40.000 Schulen erhält jede Schule durchschnittlich 138.750 Euro. Die genaue Mittelverteilung hängt jedoch von verschiedenen Faktoren ab und die jeweiligen Schulträger müssen die Gelder beantragen. Angesichts der Schulschließungen infolge der weltweiten Coronavirus-Pandemie 2020 verständigten sich Bund und Länder darauf, dass Schulträger zur Unterstützung des Interner Link: Homeschoolings  auch digitale Bildungsinhalte zusammen mit Investitionen in die Infrastruktur beantragen können. Manche Schulen und zahlreiche Hochschulen setzen auf den Ansatz Interner Link: Bring Your Own Device (BYOD). Lernende bringen ihre eigenen mobilen Endgeräte von zuhause mit und nutzen sie im Unterricht sowie in Vorlesungen und Seminaren. Dieses Konzept ist vor allem deshalb umstritten, weil in Gruppenarbeiten persönliche Daten unter Umständen nicht ausreichend geschützt sind und sich darüber hinaus nicht alle die entsprechenden Geräte leisten können. Hier macht sich der sogenannte Interner Link: digital divide, die digitale Spaltung, bemerkbar. Dieser Begriff erfasst Unterschiede im Zugang zu Informationstechnologien, die zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen und auch Volkswirtschaften aufgrund sozioökonomischer Bedingungen wie etwa Lebens- und Arbeitsumständen bestehen (siehe auch Kapitel Interner Link: Infrastruktur und Umwelt). Für die Organisation von Lehrbetrieb und Lehrinhalten sowie Lernvorgängen können Lern-Management-Systeme eingesetzt werden: In webbasierten Umgebungen können die Lehrkräfte ihren Unterricht abbilden und steuern, beispielsweise Studienmaterial ablegen oder Selbstlerneinheiten, Onlinekurse sowie Kooperationsräume für die Lernenden einrichten. Zudem lassen sich hier Lernfortschritte und -bewertungen verwalten. Über den Anschluss an einen Interner Link: Server  und eine Interner Link: Schul-Cloud  können digitale Lernwerkzeuge, Programme und Dateien zentral strukturiert und gespeichert werden. An Hochschulen sind solche Soft- und Hardwaresysteme sehr viel verbreiteter als das bislang an Schulen der Fall ist. Das Hasso-Plattner-Institut arbeitet beispielsweise an einer Lösung, die die IT-Infrastruktur an Schulen vereinheitlichen soll. Um die Medien- und Digitalkompetenz an Schulen vermitteln zu können, benötigen die Lehrkräfte selbst diese Kompetenzen. Damit das möglich ist, muss sich die Aus- und Weiterbildung Lehrender entsprechend anpassen. Laut einer Umfrage des Branchenverbandes Bitkom von 2019 sind die befragten Lehrkräfte zu 96 Prozent der Meinung, dass Schulen neben Geld vor allem digitale Konzepte, digitale Inhalte und digital kompetente Personen brauchen, um Medien- und Digitalkompetenzen angemessen vermitteln zu können. 95 Prozent sind davon überzeugt, dass Deutschlands Schulen bei der Digitalisierung im internationalen Vergleich hinterherhinken. Mit der Digitalisierung entstehen nicht nur veränderte Anforderungen an die Infrastruktur von Bildungseinrichtungen und neu zu erlernende Kompetenzen. Es ergeben sich auch zahlreiche weitere Möglichkeiten des Lernens. Eine davon ist der sogenannte Interner Link: MOOC  – kurz für Massive Open Online Course (auf Deutsch: Offener Massen-Online-Kurs). Gemeint sind Lehrangebote im Internet, die – erstens – offen für alle sind: Es gibt keine Zulassungsbeschränkungen oder Teilnahmevoraussetzungen. Zweitens sind sie in den meisten Fällen kostenlos. Drittens können die Teilnehmenden sie auf allen internetfähigen Geräten nutzen. Die Zuschreibung "offen" bezieht sich auch auf das Urheberrecht: MOOCs sollen unter Lizenzen stehen, die es ermöglichen, die Inhalte möglichst frei weiterzuverbreiten (siehe auch Kapitel Interner Link: Politik, Recht und Verwaltung). Damit zählen sie zu den Interner Link: Open Educational Resources (OER): Das sind Materialien, die für den Bildungskontext konzipiert und offen lizenziert sind. Ziel ist es, für die schulische, außerschulische und individuelle Bildung Materialien zur Verfügung zu stellen, die Lehrende und Lernende kostenfrei und rechtlich abgesichert verändern, einsetzen und verbreiten können. Dahinter steckt der Gedanke, dass Bildung ein Gemeingut sein sollte, das allen gleichermaßen zur Verfügung steht. Für den deutschen Sprachraum existieren mittlerweile zahlreiche Portale, die OER verbreiten, und auch staatliche Institutionen setzen immer häufiger darauf, offen lizenzierte Bildungsmaterialien verfügbar zu machen. Mittlerweile gibt es aber auch viele Online-Kurse, die nicht offen lizenziert sind und dennoch die Eigenbeschreibung MOOC benutzen. MOOCs im Speziellen und OER im Allgemeinen gibt es zu allen erdenklichen Themen. Auch unabhängig von den Inhalten sind sie sehr unterschiedlich gestaltet und aufgebaut. Zu den Anbietern zählen staatliche Einrichtungen wie etwa die Bildungsserver der Länder, in der Bildung Tätige und zunehmend auch Unternehmen. Vernetzung der Zivilgesellschaft Die Digitalisierung beeinflusst das individuelle, kulturelle und damit auch das gesellschaftliche Leben. Um diese umfassenden Veränderungen zum Wohle der Einzelnen und des Zusammenlebens aller zu gestalten sowie die notwendigen Kompetenzen fernab formaler Bildungsstrukturen zu fördern, kommt zivilgesellschaftlichem Engagement eine bedeutsame Rolle zu. Zivilgesellschaftliche Organisationen im Bereich Digitalisierung sind inhaltlich und strukturell vielfältig aufgestellt: Eine davon, der Chaos Computer Club (CCC), wird als Verein insbesondere durch Informatikerinnen und Informatiker sowie technikbegeisterte Menschen geprägt und hat immer wieder mithilfe von Interner Link: Hacks  Datenschutzskandale öffentlich gemacht sowie Sicherheitslücken in Geräten aufgedeckt. Der Verein Digitale Gesellschaft ist ein weiteres Beispiel. Er ist mit Projekten sowie Kampagnen aktiv und setzt sich seit Jahren gegen Überwachungsmaßnahmen ein. In Ergänzung dazu nutzt die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) primär juristische Mittel und versucht, durch strategische Prozessführung den Schutz der Grundrechte auch online durchzusetzen. Die Bedeutung der Digitalisierung für die Gesellschaft und die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen wird auf regelmäßig stattfindenden, stetig wachsenden Veranstaltungen diskutiert. Hier vernetzen sich Engagierte und bilden sich weiter. Dazu gehört die re:publica im Mai, die größte Konferenz zum Themenbereich Digitalisierung und Gesellschaft in Europa. Sie zog 2019 über 20.000 Besucherinnen und Besucher an. Die Digitalisierung bewegt nicht nur zivilgesellschaftliche Organisationen, die sie zum Thema haben. Auch anderen Trägern der Zivilgesellschaft wie Vereinen, Wohlfahrtsverbänden und Stiftungen verhilft sie zu erweiterten Arbeitsmöglichkeiten: Digitale Endgeräte und das Internet stellen neue Methoden und Werkzeuge bereit und verändern damit die Vorstellung davon, wie etwa Ehrenamt und gesellschaftliches Engagement funktionieren können. So finden ältere Menschen online beispielsweise Helferinnen und Helfer, die sie bei Alltagsaufgaben unterstützen. Darüber hinaus bedienen sich zahlreiche Vereine digitaler Strukturen: Sie nutzen beispielsweise Messenger-Gruppen oder Online-Plattformen, um sich zu organisieren und auszutauschen, sowie Online-Petitionen, um öffentlich Druck auszuüben. Eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen bietet digitale Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten an. Engagierte Einzelpersonen, Initiativen und Organisationen können sich ebenfalls im Rahmen von Onlineformaten beteiligen und so Innovationsprozesse voranbringen. Ein Beispiel bietet der Interner Link: Hackathon "#WirvsVirus", der während der Coronavirus-Pandemie 2020 knapp 2000 Projektideen generierte, um gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen. Hier trafen neue Möglichkeiten der Beteiligung auf Innovationspotenziale, die sich durch neue Technologien ergeben. Zugleich kann die Digitalisierung zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen dabei unterstützen, ihre Rolle als Korrektiv und Beobachterin von Politik und Unternehmen wahrzunehmen. Die Möglichkeit aller, online zu publizieren und Inhalte weiterzuverbreiten, erlaubt es politischen und gesellschaftlichen Bewegungen sich zu vernetzen und auf Forderungen aufmerksam zu machen, die losgelöst sind von politischem Interner Link: Agenda Setting  oder massenmedialer Berichterstattung (siehe auch Kapitel Interner Link: Kommunikation, Medien und die öffentliche Debatte). Ein Beispiel dafür ist die Occupy-Bewegung, deren Anhängerinnen und Anhänger im Jahr 2011 für ein stärkeres Regulieren der Finanzmärkte zunächst an der Wall Street in New York, später auch vor anderen Wertpapierbörsen, beispielsweise in Frankfurt am Main, protestierten. 2019 formierte sich mithilfe des Interner Link: Social Web  durch die Initiative der schwedischen Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg die globale Klimabewegung Fridays For Future. Beteiligte organisieren und kommunizieren online regelmäßig Proteste und vergegenwärtigen Gesellschaft wie Politik die Bedeutung der Themen Klimawandel, Umwelt und Nachhaltigkeit. Ehrenamtliches Engagement findet mit der Digitalisierung – in diesem Fall allerdings eher notgedrungen – auch neue Themen: Zahlreiche Organisationen und Zusammenschlüsse der Zivilgesellschaft wie die Amadeu Antonio Stiftung oder der Verein Neue Deutsche Medienmacher*innen beschäftigen sich beispielswiese mit dem Thema Interner Link: Online-Hassrede  und den Möglichkeiten, ihr zu begegnen (siehe auch Kapitel Interner Link: Kommunikation, Medien und die öffentliche Debatte). Unter anderem in diesem Zusammenhang entstand der Begriff der Interner Link: digitalen Zivilcourage, der das Engagement für Menschenrechte und breit geteilte gesellschaftliche Werte online erfasst. Dazu zählen Kommunikationshandlungen, die von Hassrede Betroffene unterstützen und zu stärken suchen und ihrerseits online für Vielfalt, Offenheit und andere demokratische Werte eintreten. Im Rahmen dessen weist die Autorin und Aktivistin Kübra Gümü&scedil;ay darauf hin, in welchem Ausmaß Sprache das Denken beeinflusst und Hassrede sowie die Reproduktion von Stereotypen es einengen. QuellentextDigitalisierung erweitert die Möglichkeit, sich ehrenamtlich zu engagieren Herr Fischer, warum ist digitales Engagement wichtig? Und warum sollte es überhaupt mehr Anerkennung bekommen? Ehrenamtliches Engagement macht unsere Gesellschaft lebenswerter, vielfältiger und demokratischer. Dies trifft ebenso auf digitales Engagement zu. Die deutschsprachige Wikipedia hat durch dieses Engagement über zwei Millionen Artikel. Dies ist ein enormer Wissensschatz, auf den alle Menschen frei zugreifen können. Oder die Freifunker, die freie Internetzugänge schaffen. Für Flüchtlinge, die vor allem über das Internet mit den Familien in ihrer Heimat kommunizieren, ist das beispielsweise enorm wichtig, da sie sonst von ihren Familien teilweise ganz abgeschnitten sind. Es ist an der Zeit, dass sowohl Politik als auch Gesellschaft die enorme Bedeutung des digitalen Engagements verstehen und auch gegenüber den Ehrenamtlichen zum Ausdruck bringen. Hier wurde bereits zu lange die Realität ignoriert. Was ist für Sie digitales Engagement? Eine anerkannte Definition von digitalem Engagement ist erst noch zu entwickeln. Ich gehe von einem weiten Verständnis von digitalem Engagement aus und möchte den Diskurs dazu auch in gesellschaftlicher Breite führen. Nach einer Studie von Fraunhofer Fokus (2014) werden fünf Engagementformen unterschieden, die das weite Verständnis vom digitalen Engagement illustrieren: Erstellung und Verbesserung von Inhalten: z. B. Wikipedia oder Wikimedia Commons Kommunikation, Lehre und Beratung: z. B. Online-Telefonseelsorge Entwicklung technischer Lösungen: z. B. Volunteer Planner in der Flüchtlingshilfe Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern: z. B. ePetitionen des Deutschen Bundestages Crowdfunding: z. B. über Betterplace Das wohl bekannteste Beispiel für digitales Engagement ist die Wikipedia. Wie kann ein so großes ehrenamtliches Projekt so lange Zeit laufen? Wer steckt hinter Wikipedia und wie wird die Arbeit organisiert? Alle Inhalte werden von Ehrenamtlichen geschaffen und gepflegt. Die Wikimedia Foundation betreibt die Server, entwickelt die Software und bildet das internationale Dach. Wikimedia Deutschland unterstützt die Ehrenamtlichen bei ihrem Engagement, entwickelt Software in Teilbereichen und setzt sich für freie Inhalte ein. Ich denke, dass die Wikipedia deshalb so gut funktioniert, da sich jede und jeder beteiligen kann und Raum für eigene Interessen hat. In der Wikipedia entfalten diese teilweise Nischeninteressen durch die Zusammenarbeit mit vielen anderen einen hohen Nutzen für die Leserinnen und Leser. Ein weiterer wesentlicher Faktor für den Erfolg ist, dass die Inhalte jede und jeder frei verwenden und weiterbearbeiten kann. Zudem ist die Autonomie der Community wichtig. Denn nicht eine Organisation wie Wikimedia Deutschland entscheidet über Inhalte, sondern die Ehrenamtlichen selbst. Dies führt zu einer hohen Identifikation mit der Wikipedia als Enzyklopädie-Projekt und die Ehrenamtlichen bringen eine sehr hohe Eigenmotivation für die Weiterentwicklung des Projektes ein. […] Welche Kompetenzen brauchen Menschen überhaupt, um sich digital engagieren zu können? Jede und jeder kann in der Wikipedia mitmachen. Eine Änderung in einem Wikipedia-Artikel vornehmen, das ist technisch nicht schwer. Allerdings die Community-Kultur und alle Regeln zu verstehen, dafür ist schon etwas Zeit notwendig. Denn gemeinsames Wirken im digitalen Raum ist nicht immer trivial. Und bei unterschiedlichen Vorhaben variieren dann auch die notwendigen Kompetenzen. Für das Arbeiten beispielsweise mit offenen Daten der eigenen Stadt, um so vielleicht anhand von Bevölkerungszahlen den Bedarf an Krankenhäusern zu simulieren, sind häufig schon sehr viel Technikkompetenz und teilweise auch Programmierkenntnisse notwendig. Oder für eine Kampagne im digitalen Raum ist ein hohes Verständnis von sozialen Medien sehr hilfreich. Die fehlende Technikkompetenz stellt gerade für ältere Menschen leider tatsächlich eine Hürde da, um sich im digitalen Raum zu engagieren. Aus Perspektive der Förderung des digitalen Engagements wäre es erfreulich, wenn auch in der Schule vermittelt wird, wie das Netz, Software und Daten für die positive Gestaltung der Gesellschaft genutzt werden können. […] Was fordern Sie von Seiten der Politik? Von Politik, Behörden und Verbänden wünschen wir uns eine gleichberechtigte Anerkennung des digitalen Engagements auf Augenhöhe mit anderen Arten ehrenamtlicher Tätigkeiten. Zudem sollte Vielfalt und Partizipation aller Bevölkerungsgruppen im Netz noch stärker unterstützt werden. Ein zentraler Punkt ist die Gewährleistung der Verfügbarkeit freier Inhalte, um offene Zugänge zu Wissen, Mediendateien und Daten zu erreichen und gemeinsames Engagement zu erleichtern. Zudem sind die Weiterentwicklung und der Aufbau staatlicher Förderprogramme sowie Ausbau der Forschung zum digitalen Engagement wichtige Hebel, die die Politik in Gang bringen kann. Was müssten Organisationen wie NPO, Parteien, Gewerkschaften und einzelne Engagierte für mehr Anerkennung von digitalem Engagement tun? Hier schlage ich vor, die Perspektive zu ändern. Die Frage lautet dann wie folgt: Wie kann durch digitales Engagement die Gesellschaft positiv gestaltet werden? Das heißt, aus der Sicht einer Nicht-Regierungsorganisation ist zu überlegen, welche Möglichkeiten bestehen, mit digital Engagierten wirksam zum eigenen gemeinnützigen Zweck beizutragen. Um dann im zweiten Schritt, dafür die notwendigen Ressourcen zu organisieren, falls das überhaupt sinnvoll ist. Ich möchte den gemeinnützigen Organisationen gerne Mut machen, neue Wege zu gehen und aus kleineren Projekten zu lernen. Im Endeffekt profitieren wir alle davon, wenn NPOs noch wirksamer werden. Julian Fischer war Bereichsleiter Ideenförderung bei Wikimedia und zuvor für verschiedene Nicht-Regierungsorganisationen tätig. "Wir brauchen mehr Anerkennung für digitales Engagement". Interview von Lotte Ostermann mit Julian Fischer. Interview aus der Broschüre "Digitalisierung und Engagement. Engagement im digitalen Zeitalter. Trends, Chancen und Herausforderungen" der Akademie Management und Politik der Friedrich-Ebert-Stiftung 2016 von Katrin Matuschek und Valerie Lange. Externer Link: www.fes.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=37814&token=e4c85fecd04987638c1e9985f5f2b7244851e935 Die Digitalisierung verändert demnach die Art, wie sich die Gesellschaft organisiert, vernetzt, mobilisiert und engagiert. Sie schafft erweiterte Möglichkeiten für zivilgesellschaftliche Beteiligung und bringt zugleich neue Themen hervor, denen sich Engagierte widmen. Selfies sind eine Form der Selbstdarstellung online: junge Frau in Brooklyn, New York (© picture-alliance, Westend61/Boy) [...] Influencer, das sind jene Menschen, die Fotos, Videos und Textchen in sozialen Medien hochladen, wo sie Tausende, manchmal Millionen oder gar Milliarden Menschen anschauen. Doch die neuen Internetstars unterhalten nicht nur, sie beeinflussen auch das Denken – und das Kaufverhalten – ihrer Zuschauer. […] Firmen haben das Potenzial längst erkannt und versorgen die Beeinflusser mit ihren Produkten. […] Jeder dritte Social-Media-Nutzer über 14 Jahren wäre gern ein erfolgreicher Influencer, hat eine Bitkom-Studie ergeben. Doch wie wird man eigentlich Influencer? Und wie verdient man damit Geld? Viele Akademien und Agenturen bieten an, bei der Beantwortung dieser Fragen zu helfen. Denn inzwischen ist nicht nur das Beeinflussen ein Geschäft – sondern auch das Erklären, wie man erfolgreich beeinflusst. […] Viele angehende Influencer reizt es, im Mittelpunkt zu stehen, aber natürlich lockt auch das Geld. Bei Personen mit mehr als 500.000 Followern sind deutsche Firmen bereit, bis zu 38.000 Euro pro Post zu zahlen, hat eine Umfrage im Auftrag des Unternehmens Rakuten Marketing ergeben. Doch das sind Spitzenwerte, die selten sein dürften. Über klassische Kooperationen mit Firmen könne man mit etwa vier bis zehn Euro pro 1000 Follower für einen Post bei Instagram rechnen, sagt Sascha Schulz [Gründer der Influencer Marketing Academy, Berlin] – wobei mit zunehmender Fanzahl auch die Wahrscheinlichkeit steigt, Auftraggeber zu bekommen. Er rechnet vor: Bei 100.000 Followern wären das 400 bis 1000 Euro pro Beitrag. "Das klingt erst mal viel, aber du brauchst einen Fotografen, hast Reisekosten, Akquisekosten, vielleicht eine Agentur." Mit weniger als 150.000 Followern lohne es sich kaum als Vollzeitjob, ab 250.000 sei man "richtig im Geschäft". Und auch wer es lediglich auf geschenkte Produkte abgesehen hat: Der Geldwert muss versteuert werden. Mit der Werbung ist das jedoch so eine Sache: Verzichtet ein Influencer auf Kooperationen, verdient er kein Geld, postet er zu viel Werbung, langweilt er seine Zuschauer. Er muss seine Fans also immer wieder mit Einblicken in sein Leben oder mit Videos, in denen er etwas Nützliches erklärt, am Bildschirm halten. Damit verschmilzt jedoch der Mensch schnell mit einer Werbefigur und der Influencer zahlt einen hohen persönlichen Preis: seine Privatsphäre. 29 Prozent der Menschen in Deutschland haben schon mal ein Produkt auf Empfehlung eines Influencers gekauft, hat eine Umfrage der Unternehmensberatung PwC ergeben. Frauen gaben dabei demnach im Durchschnitt 100 Euro aus, Männer sogar 130 Euro. Im Moment profitieren also – neben den Betreibern der großen Social-Media-Plattformen – vor allem die Firmen, die ihrer Zielgruppe durch die Influencer so nah kommen wie nie. […] Veronika Wulf, "Bitte folgen", in: Süddeutsche Zeitung vom 15. Februar 2020 [...] Die neuen Heldinnen vieler junger Mädchen sind frauenpolitisch ein Albtraum. Zwar gibt es etliche feministische Webseiten, und der Hashtag #Aufschrei zeigte 2013, wie im Netz gesellschaftliche Debatten gestartet werden können. Dennoch ist aktuell ein rückwärtsgewandtes Frauenbild verbreitet. Das soll vor allem sexy sein: Das zufällig überkreuzte Bein, der s-förmig gebogene Körper, der Blick über die Schulter oder der angewinkelte Arm mit Hand im Haar werden zigfach kopiert – typische Posen, die die Medienwissenschaftlerin Maya Götz für die Studie "Weibliche Selbstinszenierung in den neuen Medien" der MaLisa-Stiftung bei Instagram-Influencerinnen ausmachte. Die eigenen Selfies werden Filter für Filter angepasst: 70 Prozent der Befragten optimieren Haut und Haare, 47 Prozent färben ihren Teint dunkler, 38 Prozent ihre Zähne heller, 33 Prozent ziehen den Bauch flacher. "Es gibt eine extreme Verengung der Schönheitsideale, eine immer ähnlichere Inszenierung in vermeintlich perfekter Form", sagt Götz, Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen beim Bayerischen Rundfunk. Stereotype verfestigten sich so. "Was sich bei Instagram abspielt, ist sexistisch. Mädchen werden auf ihren Körper begrenzt, und der muss verändert werden, bis er so aussieht, wie er gar nicht aussieht." Hinter diesem Selbstbild, dem sich junge Frauen freiwillig unterwerfen, steht ein Markt, in dem mit Klischees Geld verdient wird. Wer sich als Influencerin finanzieren will, muss das mit Themen wie Mode, Kosmetik, Ernährung oder Lifestyle tun. Und selbst ins Bild passen: "Heldinnen sind immer schön und dünn", sagt Götz. […] Teenager müssten ermuntert werden, solchen Darstellungen zu widersprechen. Zwar gebe es Positivbeispiele wie die Aktivistin Greta Thunberg, die ehemaligen Stars des chinesischen Videoportals TikTok, Lisa und Lena, oder das XL-Model Fine Bauer, dies seien jedoch Ausnahmen. […] Mit der Studie "Selbstermächtigung oder Normierung?" analysierte die MaLisa-Stiftung auch das Geschlechterverhältnis und die Frauenbilder auf YouTube: In den Top 1000 kommen auf drei Männer eine Frau, in den Top 100 ist das Verhältnis 2:1. Auch dort reproduzieren erfolgreiche Kanäle Stereotype: Frauen beraten in Schönheitsfragen, Männer bedienen von Unterhaltung bis Politik alle Themen, wie die Medienwissenschaftlerin Claudia Wegener, Professorin an der Filmuniversität Babelsberg, und Elisabeth Prommer, Direktorin des Instituts für Medienforschung an der Universität Rostock, bilanzieren. Ihre Interviews mit YouTuberinnen ergaben zudem: Das zur Schau gestellte konservative Frauenbild ist – wie bei Instagram – auch ein Anpassen an den Druck, sich durch Werbepartner zu finanzieren. Durch den Fokus auf eher belanglose Themen lassen sich zudem Hasskommentare umgehen. Auch wenn mehr Diversität notwendig sei, sieht Wegener keine einseitige Medienwirkung: "YouTube ist nur ein Aspekt im Leben Jugendlicher, das Medium allein verfestigt keine Stereotype." Zudem sei das Schwärmen für Stars des Portals auf eine gewisse Altersgruppe und damit zeitlich begrenzt. "Letztendlich muss man Jugendlichen ihre Welten lassen, das war schon immer so." Wichtig sei es aber, klar durchschaubar zu erklären, dass die Welt der sozialen Medien inszeniert und von Marktmechanismen bestimmt sei. […] Auch bei YouTube gebe es […] [zu alternativen Rollenbildern] viele Angebote, wenn auch nicht in den Top-Playlisten. Als Beispiele nennt Wegener die Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim und deren Kanäle mit wissenschaftlichen Themen und Lernvideos oder die Finanzexpertin Hazel mit "Pocket Money". […] Nadine Emmerich, "Heldinnen sind immer schön und dünn", in: E & W, Erziehung und Wissenschaft 3/2020, S. 16 ff. […] "Einfach machen" könnte über dem Eingang der […] [Goethe-Schule Schleiz] stehen, die zu den 20 "Digitalen Pilotschulen" in Thüringen gehört. "Wir probieren viel aus – und verwerfen manches wieder", erzählt Schulleiter Toralf Hieb, ein wortgewandter, zupackender Mathe- und Physiklehrer, der seit 1989 an der Schule unterrichtet und sie seit 2012 leitet. Heute ist sie nicht nur eine von 20 "Digitalen Pilotschulen" in Thüringen, sie ist auch bundesweit eine Wegbereiterin im Umgang mit Tablets und WLAN im Klassenzimmer, mit digitalem Notenbuch und interaktiven Arbeitsblättern. […] An der Goethe-Schule wurde das Ende der Kreidezeit 2013 eingeläutet. Damals kam Florian Rau an die Schule, ein Referendar aus dem nahen Oberfranken. Der heute 36-Jährige hat in Jena studiert, er will etwas bewegen und begeistert sich für digitale Technik. Für den Wunsch, iPads einzuführen, berief er damals einen Elternabend ein und erntete Zustimmung. Im Sommer 2013 fanden sich in der Klassenstufe 7 erste Tablet-Klassen zusammen. Für den Einstieg in die neue Zeit nahm der Förderverein einen Kredit auf, bezahlt wurden die Tablets von den Eltern, denn das Budget der Schule reichte dafür nicht aus. Die Idee setzte sich nach und nach durch, mittlerweile arbeiten alle 7. bis 10. Klassen und alle Lehrkräfte mit Tablets. Die Apps und ihre Nutzung werden über den Administrator der Schule verwaltet, bei dem die Geräte angemeldet werden. Rau sitzt am Lehrertisch vor einer 9. Klasse, eine Schülerin schiebt die alte grüne Kreidetafel nach unten. Dahinter kommt ein riesiger 65-Zoll-Bildschirm zum Vorschein. Raus Finger fliegen über sein Tablet, er verbindet sich drahtlos mit dem großen Monitor in seinem Rücken und startet eine der vielen Apps, die auch die Schülerinnen und Schüler haben. Mit Google-Earth können sie die Erde erkunden, mit dem "Geotrainer" einen Vulkanausbruch simulieren. Rau, begeisterter Geografielehrer, schiebt mit den Fingern die Plattentektonik auseinander und verändert den unterirdischen Lavastrom. "Mit dem iPad kann man jeden Fachunterricht gestalten", sagt er. "Das Internet ist voll von Lern-Apps für jede Schulart, jedes Fach und jedes Alter." Von seinem Gerät aus kann der Lehrer die Tablets der Schüler ansteuern, sie auf die große Monitor-Tafel rufen oder auf eine App festlegen, sodass sie keine andere Anwendung nutzen können. "Die Kolleginnen und Kollegen entscheiden selbst, wofür sie die Tablets einsetzen", sagt Schulleiter Hieb. Die Anwendungen sind vielseitig. Mit Apps kann in Teams und Projekten gelernt werden, ältere Schülerinnen und Schüler können jüngeren etwas beibringen. Manchen Lernstoff eignen sich die Jugendlichen inzwischen selbst an – in der Schule werden vor allem Fragen besprochen und Übungen gemacht. "So kann man sehr gut nach dem Lernstand differenzieren", sagt Hieb. Hausaufgaben lässt er sich manchmal zu einem festen Termin auf seinen Account schicken. Das iPad ist ihm dabei aber kein Ersatz für gute Pädagogik: "Wenn ich keine Disziplin in der Klasse habe, habe ich sie mit iPads auch nicht." […] Digitale Medien führten nur dann zu einem pädagogischen Mehrwert, wenn sie sinnvoll in ein gutes Unterrichtskonzept mit dem Primat der Pädagogik eingebunden seien. "Technologie ist kein Ersatz für gut ausgebildete Lehrkräfte", betont [Ilka] Hoffmann [GEW-Vorstandsmitglied für Schule]. Zugleich warnt sie vor einer Hegemonie internationaler Konzerne an Schulen. "Wir wollen nicht, dass die Digitalindustrie den Schulen Konzepte überstülpt." […] Sven Heitkamp, "Einfach machen", in: E & W, Erziehung und Wissenschaft 12/2019; S. 6 f. Herr Fischer, warum ist digitales Engagement wichtig? Und warum sollte es überhaupt mehr Anerkennung bekommen? Ehrenamtliches Engagement macht unsere Gesellschaft lebenswerter, vielfältiger und demokratischer. Dies trifft ebenso auf digitales Engagement zu. Die deutschsprachige Wikipedia hat durch dieses Engagement über zwei Millionen Artikel. Dies ist ein enormer Wissensschatz, auf den alle Menschen frei zugreifen können. Oder die Freifunker, die freie Internetzugänge schaffen. Für Flüchtlinge, die vor allem über das Internet mit den Familien in ihrer Heimat kommunizieren, ist das beispielsweise enorm wichtig, da sie sonst von ihren Familien teilweise ganz abgeschnitten sind. Es ist an der Zeit, dass sowohl Politik als auch Gesellschaft die enorme Bedeutung des digitalen Engagements verstehen und auch gegenüber den Ehrenamtlichen zum Ausdruck bringen. Hier wurde bereits zu lange die Realität ignoriert. Was ist für Sie digitales Engagement? Eine anerkannte Definition von digitalem Engagement ist erst noch zu entwickeln. Ich gehe von einem weiten Verständnis von digitalem Engagement aus und möchte den Diskurs dazu auch in gesellschaftlicher Breite führen. Nach einer Studie von Fraunhofer Fokus (2014) werden fünf Engagementformen unterschieden, die das weite Verständnis vom digitalen Engagement illustrieren: Erstellung und Verbesserung von Inhalten: z. B. Wikipedia oder Wikimedia Commons Kommunikation, Lehre und Beratung: z. B. Online-Telefonseelsorge Entwicklung technischer Lösungen: z. B. Volunteer Planner in der Flüchtlingshilfe Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern: z. B. ePetitionen des Deutschen Bundestages Crowdfunding: z. B. über Betterplace Das wohl bekannteste Beispiel für digitales Engagement ist die Wikipedia. Wie kann ein so großes ehrenamtliches Projekt so lange Zeit laufen? Wer steckt hinter Wikipedia und wie wird die Arbeit organisiert? Alle Inhalte werden von Ehrenamtlichen geschaffen und gepflegt. Die Wikimedia Foundation betreibt die Server, entwickelt die Software und bildet das internationale Dach. Wikimedia Deutschland unterstützt die Ehrenamtlichen bei ihrem Engagement, entwickelt Software in Teilbereichen und setzt sich für freie Inhalte ein. Ich denke, dass die Wikipedia deshalb so gut funktioniert, da sich jede und jeder beteiligen kann und Raum für eigene Interessen hat. In der Wikipedia entfalten diese teilweise Nischeninteressen durch die Zusammenarbeit mit vielen anderen einen hohen Nutzen für die Leserinnen und Leser. Ein weiterer wesentlicher Faktor für den Erfolg ist, dass die Inhalte jede und jeder frei verwenden und weiterbearbeiten kann. Zudem ist die Autonomie der Community wichtig. Denn nicht eine Organisation wie Wikimedia Deutschland entscheidet über Inhalte, sondern die Ehrenamtlichen selbst. Dies führt zu einer hohen Identifikation mit der Wikipedia als Enzyklopädie-Projekt und die Ehrenamtlichen bringen eine sehr hohe Eigenmotivation für die Weiterentwicklung des Projektes ein. […] Welche Kompetenzen brauchen Menschen überhaupt, um sich digital engagieren zu können? Jede und jeder kann in der Wikipedia mitmachen. Eine Änderung in einem Wikipedia-Artikel vornehmen, das ist technisch nicht schwer. Allerdings die Community-Kultur und alle Regeln zu verstehen, dafür ist schon etwas Zeit notwendig. Denn gemeinsames Wirken im digitalen Raum ist nicht immer trivial. Und bei unterschiedlichen Vorhaben variieren dann auch die notwendigen Kompetenzen. Für das Arbeiten beispielsweise mit offenen Daten der eigenen Stadt, um so vielleicht anhand von Bevölkerungszahlen den Bedarf an Krankenhäusern zu simulieren, sind häufig schon sehr viel Technikkompetenz und teilweise auch Programmierkenntnisse notwendig. Oder für eine Kampagne im digitalen Raum ist ein hohes Verständnis von sozialen Medien sehr hilfreich. Die fehlende Technikkompetenz stellt gerade für ältere Menschen leider tatsächlich eine Hürde da, um sich im digitalen Raum zu engagieren. Aus Perspektive der Förderung des digitalen Engagements wäre es erfreulich, wenn auch in der Schule vermittelt wird, wie das Netz, Software und Daten für die positive Gestaltung der Gesellschaft genutzt werden können. […] Was fordern Sie von Seiten der Politik? Von Politik, Behörden und Verbänden wünschen wir uns eine gleichberechtigte Anerkennung des digitalen Engagements auf Augenhöhe mit anderen Arten ehrenamtlicher Tätigkeiten. Zudem sollte Vielfalt und Partizipation aller Bevölkerungsgruppen im Netz noch stärker unterstützt werden. Ein zentraler Punkt ist die Gewährleistung der Verfügbarkeit freier Inhalte, um offene Zugänge zu Wissen, Mediendateien und Daten zu erreichen und gemeinsames Engagement zu erleichtern. Zudem sind die Weiterentwicklung und der Aufbau staatlicher Förderprogramme sowie Ausbau der Forschung zum digitalen Engagement wichtige Hebel, die die Politik in Gang bringen kann. Was müssten Organisationen wie NPO, Parteien, Gewerkschaften und einzelne Engagierte für mehr Anerkennung von digitalem Engagement tun? Hier schlage ich vor, die Perspektive zu ändern. Die Frage lautet dann wie folgt: Wie kann durch digitales Engagement die Gesellschaft positiv gestaltet werden? Das heißt, aus der Sicht einer Nicht-Regierungsorganisation ist zu überlegen, welche Möglichkeiten bestehen, mit digital Engagierten wirksam zum eigenen gemeinnützigen Zweck beizutragen. Um dann im zweiten Schritt, dafür die notwendigen Ressourcen zu organisieren, falls das überhaupt sinnvoll ist. Ich möchte den gemeinnützigen Organisationen gerne Mut machen, neue Wege zu gehen und aus kleineren Projekten zu lernen. Im Endeffekt profitieren wir alle davon, wenn NPOs noch wirksamer werden. Julian Fischer war Bereichsleiter Ideenförderung bei Wikimedia und zuvor für verschiedene Nicht-Regierungsorganisationen tätig. "Wir brauchen mehr Anerkennung für digitales Engagement". Interview von Lotte Ostermann mit Julian Fischer. Interview aus der Broschüre "Digitalisierung und Engagement. Engagement im digitalen Zeitalter. Trends, Chancen und Herausforderungen" der Akademie Management und Politik der Friedrich-Ebert-Stiftung 2016 von Katrin Matuschek und Valerie Lange. Externer Link: www.fes.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=37814&token=e4c85fecd04987638c1e9985f5f2b7244851e935
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-06T00:00:00"
"2020-11-03T00:00:00"
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https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/digitalisierung-344/digitalisierung-344/318106/gesellschaft-kultur-und-bildung/
Der technologische Wandel verändert nicht nur, wie wir kommunizieren und Medien konsumieren. Er beeinflusst auf vielfältige Weise unser Leben als Individuen und als Mitglieder der Gesellschaft, unsere Kulturpraktiken, unseren Bildungsbedarf und unser
[ "Digitalisierung" ]
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Strukturumbrüche und Transformation: Wie verändern Krisenerscheinungen sowie die Flüchtlings- und Migrationsherausforderungen die deutsche und europäische Entwicklungszusammenarbeit? | Migration und Entwicklung | bpb.de
Aktuelle Krisenerscheinungen und langfristige, globale Strukturumbrüche stellen Deutschland, Europa und Akteure außerhalb Europas gleichermaßen unter Handlungsdruck. Die derzeitigen Krisenerscheinungen und Turbulenzen im internationalen Umfeld sind enorm. Gewaltkonflikte (auch in unmittelbarer europäischer Nachbarschaft), ein erheblicher Flüchtlings- und Migrationsdruck, in weiten Teilen der Welt zunehmende Interner Link: Ungleichheiten zwischen Staaten und innerhalb von Ländern sowie die Folgen des Klimawandels sind einige der prägenden globalen Herausforderungen. Die Interner Link: Klimaschutzvereinbarungen von Paris (Dezember 2015) sowie die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (September 2015) zeigen, dass es Regierungsvertretern in einem "window of opportunity" (Gelegenheitsfenster) zwar gelungen war, globale Lösungsansätze zu beschließen und auf den Weg zu bringen. Allerdings brachte der Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump diesen zwischenzeitlichen Prozess gemeinsamer Lösungsansätze nicht nur zum Halten, sondern kündigte vor allem durch die Abkehr vom Pariser Klimaschutzabkommen wichtige Grundlagen gemeinsamer globaler Anstrengungen auf. Zugleich sind auch die europäischen Gestaltungsmöglichkeiten auf globaler Ebene durch den angekündigten Interner Link: Brexit geschwächt: Sowohl die Ausstrahlungskraft (im Sinne von soft power) des europäischen Integrationsprojektes als auch das tatsächliche Gewicht der EU (z.B. durch die britische Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat) in globalen Aushandlungsprozessen leiden hierunter. Populistische Regierungen, auch jenseits der USA in Europa, in Asien und in anderen Weltregionen, erschweren die Suche nach gemeinsamen Lösungen. Herausforderungen für die Entwicklungszusammenarbeit Die aktuellen globalen Herausforderungen erfordern wirksamere gemeinsame grenzüberschreitende Anstrengungen. Alle Politikfelder haben Begrenzungen, etwa, weil sich die Kapazitäten für die Beteiligung an Friedensmissionen nicht beliebig aufstocken lassen oder Klimaziele mehr Ressourcen für erneuerbare Energien erfordern würden. Zudem müssen grenzüberschreitend und innerhalb von Ländergrenzen sehr heterogene Akteursgruppen (Kommunen, Privatwirtschaft, zivilgesellschaftliche Gruppen, Parlamente, Regierungen etc.) kooperieren, um Lösungen zu finden. Hier ist gemeinsames Handeln oft wegen großer Interessenunterschiede schwierig. Funktionierende Multi-Akteurs-Partnerschaften, wie etwa die Extractive Industries Transparency Initiative (EITI) (deutsch: Initiative für Transparenz im rohstoffgewinnenden Sektor), haben daher mittlerweile einen hohen Stellenwert, weil sie wichtige Triebfedern für positive Veränderungen sind. Das Zusammenwirken von nach außen gerichteten Politikfeldern wie Außen-, Verteidigungs- und Handelspolitik sowie Entwicklungszusammenarbeit ist eine zentrale Voraussetzung, um angestrebte Ergebnisse zu erzielen: Diese Politikfelder kohärenter aufzustellen und eventuelle Zielkonflikte zu lösen, sind bekannte Herausforderungen. Die Zusammenarbeit ist auch innerhalb von Regierungen anspruchsvoller geworden, da internationale Anstrengungen zunehmend mit klassischen "innenpolitischen" Themen verknüpft sind (und umgekehrt!). Und nicht jedes Politikfeld verfügt über breite internationale Erfahrungen und funktionierende internationale Kooperationsinstrumente mit zum Teil schwierigen Partnern und Ländern. Die mit Flucht- und Migrationsbewegungen verbundenen Herausforderungen zeigen, dass es sich um vielfältige, miteinander verknüpfte Themen handelt. Ausschließlich etwa auf Fragen der "Fluchtursachenbekämpfung" zu blicken, wäre beispielsweise eine verkürzte Herangehensweise. Künftig die Mittel der Entwicklungszusammenarbeit wesentlich stärker auf die Länder zu konzentrieren, die in der deutschen und europäischen Migrationsdebatte im Zentrum stehen, könnte beispielsweise dazu führen, Problemen in anderen Regionen weniger starke Beachtung zu schenken. Wie ist es etwa um fragile Länder (wie beispielsweise Interner Link: Burundi) bestellt, die nicht direkt im europäischen Migrationsinteresse stehen? Zudem steht nicht zu erwarten, dass langfristig angelegte Vorhaben der Entwicklungszusammenarbeit – etwa um grundlegende Dienstleistungen im Gesundheits- oder Erziehungsbereich zu verbessern – kurzfristig Menschen davon abhalten werden, eine bessere Zukunft für sich selbst und die eigene Familie etwa in Europa zu erhoffen und zu suchen. Gestaltung der zukünftigen Entwicklungszusammenarbeit Debatten über die Interner Link: Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit sollten all dies in Rechnung stellen. Bekannte wichtige Aufgaben gilt es weiterhin zu lösen. Trotz aller Fortschritte sind in der Armutsbekämpfung bei weitem noch nicht alle Ziele erreicht. Dies macht möglichst wirksame entwicklungspolitische Ansätze erforderlich. Hier geht es oft um innovative Antworten auf die Frage, wie bessere entwicklungspolitische Ansätze aussehen sollten: Wodurch können Veränderungen besser als in der Vergangenheit befördert werden, wie lassen sich nachweisbare Resultate erzielen? Was genau sollten entwicklungspolitische Beiträge anders machen, um der Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele (Interner Link: Sustainable Development Goals, SDGs) zu dienen? Wie stark kann Entwicklungszusammenarbeit tatsächlich Erwartungen an kurzfristige Auswirkungen auf Flüchtlings- und Migrationsbewegungen nehmen? Gleichzeitig gilt es aber angesichts der hohen Dynamik in den internationalen Beziehungen, sich der Gestaltungsmöglichkeiten und -grenzen bewusst zu werden. Entwicklungszusammenarbeit kann nicht einfach als Patentrezept für die Bearbeitung aller globalen Probleme benannt werden. Zugleich kann Entwicklungszusammenarbeit in besonderer Weise an der Bearbeitung von Themen in Entwicklungsregionen und eventuell auch jenseits von traditionellen geographischen Grenzen der Entwicklungszusammenarbeit ansetzen (etwa in solchen Fällen, wo Länder zwar nicht mehr als "Entwicklungsländer" von der OECD anerkannt sind, eine Einbeziehung in Kooperationsprojekte aber dennoch sinnvoll wäre). Ebenso gilt es, mit den Gestaltungsmächten jenseits der etablierten Industriestaaten, wie beispielsweise China, Indien und Brasilien, gemeinsame Strategien zur Bearbeitung globaler Probleme zu finden und umzusetzen. Hier stellt sich die Frage, wie innovative entwicklungspolitische Kooperationsansätze mit diesen Ländern aussehen sollten, wenn traditionelle bilaterale Programme der Zusammenarbeit auslaufen. Europa als globaler entwicklungspolitischer Akteur Europa steht derzeit vor großen Herausforderungen. Der hohe Flüchtlings- und Migrationsdruck und Gefährdungen durch den islamistischen Interner Link: Terrorismus erfordern ein verändertes politisches Handeln. Krisen und Interner Link: Konflikte wie in Syrien, Interner Link: Instabilität in Afghanistan oder eine repressive Politik in Eritrea ereignen sich nicht mehr nur fernab des europäischen Alltags als Tragödien, sie sind längst zu Problemen mit globalen Auswirkungen geworden. Entwicklungspolitische Akteure denken derzeit über Interner Link: künftige Neuorientierungen – etwa neue Kooperationsansätze (s.o.) – nach. Sie beteiligen sich aber auch bereits an der Umsetzung von Maßnahmen – etwa bei der Bewältigung der Fluchtbewegungen. Die derzeitigen Anstrengungen der EU sind allerdings (zu) einseitig auf Migrationsreduzierung und Rückführung von irregulären Migranten ausgerichtet. Alle nach außen gerichteten Politiken der EU – insbesondere die Entwicklungszusammenarbeit – sind dazu aufgefordert, diesem Ziel zu dienen. Der im Juni 2016 beschlossene sogenannte "Migrationspartnerschaftsrahmen" (Externer Link: Migration Partnership Framework) zielt hierauf ab und macht deutlich, dass hierzu alle Politikfelder beitragen müssen. Es ist erkennbar, dass dies zu einer Unterordnung entwicklungspolitischer Ziele unter EU-Migrationsziele führt. Darüber hinaus sind entwicklungspolitische Akteure gefordert, Leitlinien zu benennen, die ein durchdachtes Handeln in der Zukunft ermöglichen. Internationale Kooperation ist für den vorausschauenden Umgang mit den Krisen von zentraler Bedeutung. Die Institutionen der EU und ihre Mitgliedstaaten werden noch viel stärker in ein breit gefächertes internationales Engagement investieren müssen. Ein stärkeres internationales Engagement ist für Europas Gestaltungsmöglichkeiten zentral. Europäische Akteure – einschließlich Deutschland – sollten sehr viel konsequenter ihre Möglichkeiten erweitern, international zu agieren. Dies sollte nicht isoliert, sondern gemeinsam im europäischen Rahmen und auf globaler Ebene über die Interner Link: Vereinten Nationen erfolgen. Grundsätzlich besteht die Notwendigkeit, besser auf Krisensituationen vorbereitet zu sein. Dies erfordert sowohl systematische kurzfristige Ansätze als auch langfristige Konzepte zur Bewältigung von Krisen bei allen Kooperationspartnern. Debatten zwischen kurz- und längerfristig ausgerichteten Instrumenten sind in der Realität oft stark voneinander getrennt. Gerade im Licht der aktuellen Krisen sollten langfristige Ansätze zur Bearbeitung von Entwicklungsproblemen besonders betont werden. Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Migration und Entwicklung. Mehr zum Thema Interner Link: Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit Interner Link: Migration und Entwicklung – eine neue Perspektive? Interner Link: "Migration ist ein globales Thema, auf das es auch globale Antworten geben sollte" Interner Link: Das Jahr 2015: Flucht und Flüchtlinge im Fokus – ein Rückblick Ein Zielkonflikt entsteht dann, wenn die Verfolgung eines Ziels das Erreichen eines anderen Ziels beeinträchtigt. So ist es der EU zwar durch den Abschluss des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei gelungen, die Zahl der über die Türkei in die EU einreisenden Geflüchteten stark zu reduzieren. Gleichzeitig musste sich die EU aber den Vorwurf gefallen lassen, damit die Verhandlungsposition eines Staates zu stärken, in dem sich die menschenrechtliche Situation gravierend verschlechtert hat.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-11-26T00:00:00"
"2018-02-07T00:00:00"
"2021-11-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/migration-und-entwicklung/264207/strukturumbrueche-und-transformation-wie-veraendern-krisenerscheinungen-sowie-die-fluechtlings-und-migrationsherausforderungen-die-deutsche-und-europaeische-entwicklungszusammenarbeit/
Der Ende 2017 in Abidjan (Elfenbeinküste) stattgefundene Gipfel der Europäischen Union und der Afrikanischen Union verdeutlicht: Das Thema Flucht und Migration hat seit spätestens 2015 einen hohen Stellenwert auf der politischen Agenda in der EU. Die
[ "Entwicklung", "Migration", "Flucht", "Krisen", "Umbruch", "Entwicklungszusammenarbeit", "Förderung" ]
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Fundierte Hoffnung | Menschenrechte | bpb.de
In der Corona-Krise manifestieren sich viele Entwicklungen der vergangenen Jahre, die die Lage der Menschenrechte negativ beeinflusst haben: ein die Welt umspannender Kapitalismus und eine unkontrollierte, beschleunigte Digitalisierung, die zu immer größerer Ungleichheit weltweit führen; die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse; die Beschneidung von Sozialsystemen; die Privatisierung und der drastische Abbau der Gesundheitsversorgung; der Verlust von öffentlichen Räumen; die verheerenden Auswirkungen des Klimawandels; knapper werdende lebenswichtige Ressourcen wie Energie, sauberes Wasser und Nahrung. Vor diesem Hintergrund ist es nicht einfach, einer Verkündung der "Endzeit der Menschenrechte" entgegenzutreten und sich kontrazyklisch dem Unbekannten der Geschichte positiv zu öffnen. Im Folgenden soll erstens ergründet werden, ob und – falls ja – warum die Menschenrechte in den vergangenen Jahren in eine Krise geraten sind, die Anlass für das grassierende dystopische Denken böte. Zweitens sollen der Skepsis Erfahrungen aus der Praxis von (juristischen) Kämpfen um Menschenrechte der vergangenen beiden Dekaden gegenübergestellt und drittens Ideen für neue Koalitionen im Kampf für die Menschenrechte formuliert werden. Menschenrechte in der Krise? Die Menschenrechte werden derzeit an vielen Orten der Welt mit Füßen getreten – nicht nur von den "üblichen Verdächtigen", den autokratischen Herrschern von China, Russland und der Türkei. Auch aus Indien, Brasilien und Südafrika werden gravierende Menschenrechtsverstöße und die Erosion von Rechtsstaatlichkeit und Justizwesen berichtet, ebenso aus Polen und Ungarn, insbesondere im Umgang mit Minderheiten und Migrant*innen. Auch die westeuropäischen Regierungen und die USA, nicht erst unter Präsident Donald Trump, verletzen Völkerrecht und Menschenrechte. Damit wenden sich diese Staaten von jenem Normensystem ab, das sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit etabliert haben. Nicht zuletzt deshalb machen sich neue Dystopien und eine lähmende Hoffnungslosigkeit breit. Dagegen muss mit dem Philosophen Michel Serres erst einmal gefragt werden: "Was genau war früher besser?" Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und die beiden großen Pakte für politische und bürgerliche sowie für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 sind zweifellos als Meilensteine zu bewerten. Sie formulierten Ansprüche und Versprechen, an denen alle Staaten, gerade auch von ihren jeweiligen Gegnern im Kalten Krieg, gemessen wurden. Die vagen Programmsätze wurden in den folgenden Jahrzehnten in konkretere Rechtsnormen gegossen und entsprechende Verfahren und Institutionen geschaffen. Dem westlichen Narrativ einer Fortschrittsgeschichte der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg sind jedoch die Realitäten entgegenzuhalten: Dem aus den Nürnberger Prozessen erwachsenen Anspruch, ein internationales Recht zu etablieren, mit dem die Verbrechen gegen die Menschlichkeit aller Nationen gleichermaßen geahndet werden können, handelten nicht nur das stalinistische Russland und das ebenfalls dem UN-Sicherheitsrat ständig angehörende China zuwider, auch die europäischen Imperialmächte verübten bei der Niederschlagung der Unabhängigkeitsbewegungen in ihren Kolonien Kriegsverbrechen, und die USA unterstützten Militärdiktaturen etwa in Süd- und Mittelamerika. Nach dem Mauerfall 1989 erklärte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das "Ende der Geschichte", den Erfolg des westlich-liberalkapitalistischen Gesellschaftsmodells, zu dem es keine Alternative mehr gebe. Doch auch in den 1990er Jahren war es nicht besser um die Menschenrechte bestellt als vorher. Abseits der Metropolen wurden Völkermorde auf dem Balkan und in Ruanda sowie zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt, unter anderem in den kurdischen Gebieten der Türkei, in Kolumbien und in Zentralafrika. Das Ende dieser Erzählung leiteten die westlichen Staaten schließlich selbst ein: mit dem Einsatz der Nato im Kosovo ohne UN-Mandat 1999, mit willkürlichen Verhaftungen und Folterungen von Terrorismusverdächtigen nach dem 11. September 2001 sowie mit dem Irak-Krieg 2003, in den die USA und Großbritannien an der Spitze einer "Koalition der Willigen" ohne UN-Mandat zogen. Diese Rechtsverstöße signalisierten der Welt: Wir halten uns an das Völkerrecht, solange es unseren Interessen dient. Zeitgleich erstarkten weitere Akteure auf der Weltbühne wie China, Brasilien, Indien, Südafrika und erneut Russland, die in einer nunmehr multipolaren Weltordnung diese an den eigenen Interessen orientierte Einstellung zum Völkerrecht übernahmen. Auch in die zurückliegende Dekade fallen viele Menschenrechtsverletzungen. Hinzu kommt allerdings, dass das seit 1945 entwickelte Menschenrechtsschutzsystem sowie die (Völker-)Rechtsordnung insgesamt als Referenzrahmen gerade von jenen Akteuren aufgegeben wird, die an ihrer Schaffung entscheidenden Anteil hatten. Nicht nur die USA vollziehen eine Abkehr vom Multilateralismus, auch in Europa beugt sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) insbesondere im Bereich Migration zunehmend politischem Druck. Ausdruck dafür sind zwei jüngere Entscheidungen zur Rechtmäßigkeit von Lagern im Grenzbereich von Ungarn und Serbien sowie im Fall von kollektiven Rückschiebungen nach Spanien. Kritik am Menschenrechtssystem und seinen Institutionen etwa in New York und Genf ist durchaus berechtigt, wurde aber auch schon von postkolonialen Kritiker*innen westlicher Menschenrechtspraxis geäußert. So beklagt etwa der Rechtswissenschaftler Makau Mutua den fast ausschließlichen Fokus auf Menschenrechtsverletzungen im Globalen Süden nach dem Schema "Wilde-Opfer-Retter": Die Opfer von Menschenrechtsverletzungen durch unzivilisierte Wilde müssen gerettet werden, wobei die Staaten und Akteure des Globalen Nordens die Rolle der Retter für sich beanspruchen. Zudem kritisiert er, dass die großen zivilgesellschaftlichen Akteure wie Amnesty International und Human Rights Watch sich auf politische und bürgerliche Rechte sowie auf Individualrechte beschränkten und die kollektiven wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte vernachlässigten. Befinden sich die Menschenrechte also in der Krise? Hat der Politikwissenschaftler Stephen Hopgood Recht, wenn er sagt, im Sinne einer entstehenden neowestfälischen Weltordnung stehen die Menschenrechte als säkulares, universelles und nicht verhandelbares Normensystem für das alte Modell Europa, das so nicht mehr existiere? Sind Menschenrechte als Konzept gescheitert? Erfahrungen aus der menschenrechtlichen Praxis Die Kritik ist in den vergangenen Jahren von Menschenrechtsorganisationen sowohl im Norden als auch im Süden rezipiert worden, sodass beispielsweise die Praxis der juristischen Menschenrechtsarbeit der zurückliegenden zwei Jahrzehnte ein sehr viel differenzierteres Bild ergibt. So trägt in weiten Teilen Lateinamerikas ein breites Spektrum an Organisationen sowohl individuelle als auch kollektive Kämpfe für Menschenrechte aus, zum Teil vor Gericht, zum Teil auf der Straße. Vieles von dem, was Kritiker*innen fordern, etwa den Kampf um die Menschenrechte als eine populäre Kultur zu etablieren und einen ganzheitlichen politischen Blick zu entwerfen, wird von solchen Organisationen, etwa dem Zentrum für Rechts- und Sozialwissenschaften CELS in Argentinien, längst gepflegt. Anders als noch vor einer Dekade beschäftigen sich weltweit immer mehr Netzwerke und Akteure mit dem Themenfeld Wirtschaft und Menschenrechte. Ablesbar ist dies sowohl an den Bemühungen um nationale und globale Regelungen zur Kontrolle und Sanktionierung transnationaler Unternehmen als auch bei Klagen gegen Menschenrechtsverletzungen. Neben Fällen von Verfolgungen von Gewerkschafter*innen in Konfliktregionen sowie von Lieferungen von Waffen, Überwachungstechnologien und anderen gefährlichen Gütern an repressive Regime, verfolgten die Klagen zuletzt komplexere Ziele wie die Herstellung von Verantwortlichkeit in globalen Lieferketten, etwa am Beispiel der südasiatischen Textilindustrie. Zudem haben sich in vielen Staaten des Globalen Südens Menschenrechtsorganisationen und Aktivist*innenkollektive herausgebildet, um kollektive Rechte einzuklagen. So argumentierten etwa Anwält*innen 2001 vor dem Obersten Gericht in Indien, dass das verfassungsmäßige Recht auf Leben verletzt werde, wenn jährlich Tausende Inder*innen an Hunger sterben. Das Gericht folgte den Argumenten und diktierte der Regierung Ernährungsprogramme für etwa 300 Millionen Menschen. Nun haben infolge dieser Gerichtsentscheidung sicherlich nicht alle Menschen in Indien genügend Nahrung. Allerdings sind die Initiator*innen solcher Klagen auch nicht so naiv, für den Fall eines Erfolgs vor Gericht die prompte Lösung eines Problems zu erwarten. Sie begreifen ihre politischen und juristischen Kämpfe um Menschenrechte als politische Prozesse, die sich zum Teil über Jahrzehnte hinziehen. Durch die Entscheidung in Indien verbesserte sich dennoch die Lage von Millionen Menschen spürbar. Zugleich schrieb das Urteil globale Rechtsgeschichte, denn es zeigte, wie mittels des Rechts vermeintlich schwache soziale Menschenrechte durchgesetzt werden können. Statt bei der Kritik an den Menschenrechten den Blick auf die im Globalen Norden angesiedelten Menschenrechtsinstitutionen zu verengen, sollte die Wechselwirkung zwischen dem, was dort und anderswo passiert, betrachtet werden. Denn auch dafür gibt es gute Beispiele. So ist etwa mit Blick auf die Verhaftung des chilenischen Ex-Diktators Augusto Pinochet im Oktober 1998 in London die größte Wirkung nicht in seiner Verhaftung, den Klarstellungen zur Immunität, die das House of Lords vor dem Hintergrund der Anklagepunkte Folter und Entführung sowie Pinochets Status als ehemaliges Staatsoberhaupt formulierte, und dem Gerichtsverfahren selbst zu sehen, sondern in der Tatsache, dass sich mit der Anklageerhebung gegen Pinochet die Verhältnisse in Chile und vor allem auch in Argentinien dynamisierten und politische Hindernisse für die juristische Aufarbeitung der Diktaturen in beiden Ländern wegfielen. Dies äußert sich bis heute in Hunderten Gerichtsverfahren und Verurteilungen gegen zum Teil hochrangige Militärs, Geheimdienstler*innen, Polizist*innen und andere Mittäter*innen der Diktaturmorde. Ferner sollten nationale Strafverfahren nach dem Weltrechtsprinzip, auch "universelle Jurisdiktion" genannt, stärker in den Fokus rücken. Dieses ermöglicht, schwerste Verbrechen auch außerhalb des Staatsgebietes, auf dem sie begangen wurden, juristisch zu verfolgen und über das traditionelle Mittel des naming and shaming von Menschenrechtsorganisationen hinauszugehen. Ein aktuelles Beispiel ist die Aufarbeitung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien. Natürlich ist es auch ein Versagen der internationalen Institutionen, dass es dort zu Hunderttausenden Toten und Gefolterten gekommen ist. Allerdings hat die internationale Gemeinschaft nicht wie beispielsweise vor zwei oder drei Jahrzehnten bei vergleichbaren Verbrechen fast nicht reagiert. Vielmehr haben die Vereinten Nationen eine Untersuchungskommission eingerichtet und mit dem IIIM einen neuen Mechanismus etabliert, die das Material über Menschenrechtsverletzungen sammeln, um diese für künftige Gerichtsverfahren bereitzuhalten. Darauf können bereits jetzt zahlreiche nach Westeuropa geflüchtete Oppositionelle und Überlebende zurückgreifen, die sich zusammengeschlossen und mithilfe von Menschenrechtsorganisationen Strafanzeigen unter anderem in Österreich, Deutschland, Frankreich, Norwegen und Schweden eingereicht haben. Erste Haftbefehle gegen hochrangige Geheimdienstgeneräle sowie Verhaftungen sind bereits erfolgt. Im April 2020 begann in Koblenz das weltweit erste Verfahren zur Staatsfolter der Assad-Regierung. Die Praxis der universellen Jurisdiktion ist nicht auf westeuropäische Staaten beschränkt. 2016 wurden 15 ranghohe Militärs in Buenos Aires wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rahmen der "Operation Condor", einer transnationalen Geheimdienstkooperation zur Verfolgung und Ermordung Andersdenkender und politischer Gegner*innen der lateinamerikanischen Diktaturen in den 1970er und 1980er Jahren, verurteilt. In dem wichtigsten afrikanischen Fall gegen den ehemaligen Diktator des Tschad, Hissène Habré, kämpften die Überlebenden von Folter vor Gerichten im Tschad, im Senegal, in Belgien und vor dem Internationalen Gerichtshof. In einem historischen Rechtsspruch verurteilte 2016 schließlich ein eigens gebildetes Sondergericht in Senegals Hauptstadt Dakar Habré zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Der häufig kritisierten Tatsache, dass der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag überwiegend gegen afrikanische Tatverdächtige und Angehörige besiegter Staaten oder politischer Formationen vorgeht, wirken Netzwerke aus der ganzen Welt aktiv entgegen. Gegen Angehörige der Bush-Administration wurden seit 2004 in Deutschland, Spanien, Frankreich, Belgien und der Schweiz mehrere Strafanzeigen wegen systematischer Folter im irakischen Abu Ghraib und im Gefangenenlager von Guantánamo erstattet – mit dem erklärten Ziel, die doppelten Standards bei der Verfolgung von Völkerstraftaten zu bekämpfen. Die Verfahren führten zwar zu wenigen juristischen Erfolgen, allerdings wurde die Verantwortlichkeit höchster militärischer und politischer Führer*innen nachgewiesen. In der Folge erließen die Staatsanwaltschaften von München und Mailand Haftbefehle gegen einzelne CIA-Angehörige wegen ihrer Beteiligung am "Extraordinary Rendition Program" der CIA, in dessen Zuge Terrorverdächtige ohne juristische Grundlage in zum Teil geheime Gefängnisse überführt wurden. Die Rechtswidrigkeit des genannten Programms wurde implizit in mehreren Entscheidungen des EGMR, namentlich im Fall Khaled El-Masri gegen Mazedonien sowie gegen Polen und Litauen, festgestellt, der auch Großbritannien in zwei Entscheidungen verurteilte. Zudem untersuchten britische Institutionen Todesfälle irakischer Kriegsgefangener sowie Entschädigungszahlungen in mehreren Hundert Folterfällen durch Großbritannien. Vor diesem Hintergrund wurden CIA-intern gegenüber betroffenen Mitarbeiter*innen Warnungen vor Reisen nach Europa und in andere Regionen ausgesprochen, in denen Strafverfahren wegen Folter zu befürchten sind. In Sachen Menschenrechte ist also nicht alles verloren. Wie die Politikwissenschaftlerin Kathryn Sikkink gezeigt hat, führt die zunehmende Zahl von gerichtlichen Untersuchungen und Ahndungen von großen Menschenrechtsverletzungen zu einer Wiederherstellung eines gewissen Maßes an Rechtsstaatlichkeit in den betroffenen Staaten. Ferner belegt Sikkink in vielen Bereichen der weltweiten Menschenrechtslage Verbesserungen, etwa mit Blick auf die Zahl von Genoziden und Politiziden sowie auf den Rückgang der Todesstrafe und die abnehmende Kindersterblichkeit. Man dürfe Fortschritt nicht an einem Idealzustand messen, daran könne man nur scheitern. Demnach müsse man auch solchen Delegitimierungsversuchen entgegentreten, die die Normierung von Menschenrechten und das Streiten für diese mit Verweis auf die unverändert miserablen Realitäten für obsolet erklären. Neue Koalitionen Die Durchsetzung der Menschenrechte ist ein politisches Anliegen, vor allem wenn mit Menschenrechten nicht nur die in Konventionen, Verfassungen und Gesetzen verbrieften Rechte gemeint sind, sondern sie als der offene, immerwährende utopische Anspruch für alle Menschen, in Freiheit und Würde zu leben, verstanden werden. Menschenrechte mit juristischen Mitteln durchzusetzen, ist demnach ebenfalls eine politische Aufgabe, denn es existiert kein neutraler, unpolitischer, von Machtverhältnissen unberührter Ort – ein solcher ist auch kein Gericht. Aber Menschenrechte werden nicht von oben gewährt. Sie werden nicht allein dadurch Realität, dass sie einmal in Gesetze gegossen sind. Es sind überwiegend zivilgesellschaftliche Akteure, die, wie es die Frauenbewegung, die Arbeiterbewegung oder die Bürgerrechtsbewegung in den USA getan haben, Menschenrechte einfordern und erkämpfen. Angesichts der aktuellen Krise und der weltweiten Transformationsprozesse sind neue Ansätze und Koalitionen zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren vonnöten. Business as usual, ausgeführt von spezialisierten Menschenrechtlern, stets im Wettbewerb um Aufmerksamkeit, Fördergelder und Reputation, wird nicht ausreichen. Selbstreflexion der eigenen Rolle und Methoden ist ebenso gefragt wie ein Bewusstsein für die eigenen Privilegien. Es müssen neue Bündnisse zwischen lokal und global agierenden Akteuren, zwischen Globalem Norden und Globalem Süden sowie interdisziplinäre Koalitionen, beispielsweise zwischen Umweltaktivist*innen, Gewerkschafter*innen, Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Jurist*innen gebildet werden, um die Menschenrechte weiter voranzubringen – immer auf die jeweilige Situation ausgerichtet, kein copy and paste, kein one size fits all. Auch hier gehen Länder des Globalen Südens mit gutem Beispiel voran: Für die Aufarbeitung der Diktaturen vor allem in Argentinien und in Chile haben verschiedenste Akteure zusammengefunden. Das in den Gerichtssälen generierte dokumentarische Material kommunizieren die Überlebenden der Militärdiktaturen und ihre Angehörigen unterstützt von Akademiker*innen und Künstler*innen, in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, in Zeitungsberichten, in Essays, in Theaterstücken und in Kinofilmen. All diese Akteure und Formate haben ihre Stärken im Kampf für die Menschenrechte: So können Akademiker*innen dazu beitragen, die Ursachen der Menschheitsverbrechen zu analysieren und das Recht kritisch weiterzuentwickeln, sodass es im Sinne der Marginalisierten und Betroffenen wirkt. Kunst in jeglicher Form kann nicht nur Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen bei der Verarbeitung ihrer Erlebnisse helfen, sondern auch Unrecht in seiner Komplexität und das Unsagbare sichtbar machen und so die Notwendigkeit der Durchsetzung der Menschenrechte zeigen; oder, wie es die Londoner Gruppe um Forensic Architecture vormacht, zugleich ein spezifisches intellektuelles Expertenwissen vor Gericht einbringen und die dahinter liegenden systemischen Probleme im öffentlichen Diskurs verhandeln. Nicht zu vergessen sind aber auch die Kooperationen zwischen Menschenrechtsorganisationen und -aktivist*innen – nicht nur lokal, sondern sich gegenseitig komplementierend, arbeitsteilig, gemeinsam auch über die Grenzen des Globalen Nordens und Südens hinaus. Nur abseits der Kategorien von "wir" und "ihr", "Opfern" und "Rettern" können wir als Verbündete und als Optimist*innen des Willens notwendige Veränderungen erreichen. Diese Praxis zeigt, dass der Abgesang auf die Menschenrechte verfrüht ist. Denn sie bietet ein großes Potenzial, eine konkrete Utopie sowie Anknüpfungspunkte für das, was der Philosoph Ernst Bloch als eine "fundierte Hoffnung" bezeichnet hat – oder wie der Schriftsteller James Baldwin es ausdrückte: "Not everything that is faced can be changed, but nothing can be changed until it is faced." Für die kritische Durchsicht des Textes danke ich Michelle Trimborn. Stephen Hopgood, The Endtimes of Human Rights, New York 2013. Michel Serres, Was genau war früher besser? Ein optimistischer Wutanfall, Berlin 2019. Vgl. EGMR, Ilias u. Ahmed v. Ungarn, Urt. v. 21.11.2019 (Nr. 47287/15); ders., N.D. u. N.T. v. Spanien, Urt. v. 13.2.2020 (Nr. 8675/15 und 8697/15). Vgl. etwa Antony Anghie, Whose Utopia? Development, Human Rights and the Third World, in: Qui Parle 1/2013, S. 63–80; ders., Imperialism and International Legal Theory, in: Anne Orford/Florian Hoffmann (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Theory of International Law, Oxford 2016, S. 155–172; Upendra Baxi, The Future of Human Rights, Delhi 2006; Bhupinder Chimni, International Law and World Order: A Critique of Contemporary Approaches, Cambridge 2017; Makau Mutua, Human Rights Standards: Hegemony, Law, and Politics, Albany 2016. Vgl. Makau Mutua, Savages, Victims, and Saviors: The Metaphor of Human Rights, in: Harvard International Law Journal 1/2001, S. 201–245. Vgl. ders., Die Rolle von Nichtregierungsorganisationen bei der Rechtserzeugung, in: Karina Theurer/Wolfgang Kaleck (Hrsg.), Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis, Baden-Baden 2020, S. 223–262; Tshepo Madlingozi, On Transitional Justice Entrepreneurs and the Production of Victims, in: Journal of Human Rights Practice 2/2010, S. 208–228. So etwa die Klage vier pakistanischer Staatsangehöriger gegen KiK vor dem Landgericht Dortmund (Urt. v. 10.1.2019, Az. 7 O 95/15). Vgl. dazu Philipp Wesche/Miriam Saage-Maaß, Holding Companies Liable for Human Rights Abuses Related to Foreign Subsidiaries and Suppliers before German Civil Courts: Lessons from Jabir and Others v KiK, in: Human Rights Law Review 2/2016, S. 370–385. Vgl. Karina Theurer, Globalisierung und "Hunger by Design": Der Kampf für soziale und wirtschaftliche Rechte. Gespräch mit Colin Gonsalves, in: dies./Kaleck (Anm. 6), S. 357–366. In diesem Sinne auch César Rodríguez-Garavito, Anti-capitalist Human Rights for the 21st Century, 24.10.2019, Externer Link: http://www.openglobalrights.org/anti-capitalist-human-rights-for-the-21st-century. Vgl. Naomi Roht-Arriaza, The Pinochet Effect, Philadelphia 2005. IIIM steht für "International, Impartial and Independent Mechanism to Assist in the Investigation and Prosecution of Persons Responsible for the most Serious Crimes under International Law Committed in the Syrian Arab Republic since March 2011". Vgl. Wolfgang Kaleck/Patrick Kroker, Syrian Torture Investigations in Germany and Beyond: Breathing New Life into Universal Jurisdiction in Europe?, in: Journal of International Criminal Justice 1/2018, S. 165–191. Vgl. Francesca Lessa, Operation Condor on Trial: Justice for Transnational Human Rights Crimes in South America, in: Journal of Latin American Studies 2/2019, S. 409–439. Vgl. die Dokumentation des Nebenkläger-Rechtsanwaltes Reed Brody, Lebenslänglich für Diktator Hissène Habré, Berlin 2017. Vgl. Wolfgang Kaleck, Mit zweierlei Maß, Berlin 2012. Vgl. Katherine Gallagher, Universal Jurisdiction in Practice: Efforts to Hold Donald Rumsfeld and Other High-level United States Officials Accountable for Torture, in: Journal of International Criminal Justice 5/2009, S. 1087–1116. Vgl. Marko Milanovic, European Court Decides Al-Skeini and Al-Jedda, 7.7.2011, Externer Link: http://www.ejiltalk.org/european-court-decides-al-skeini-and-al-jedda. Vgl. Kathryn Sikkink, Evidence for Hope. Making Human Rights Work in the 21st Century, Princeton–Oxford 2017. Vgl. etwa die Ausstellungskataloge Alltag und Vergessen. Argentinien 1976/2003, Berlin 2003; Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun, Köln 2004.
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, Wolfgang Kaleck
"2022-02-10T00:00:00"
"2020-05-07T00:00:00"
"2022-02-10T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/309078/fundierte-hoffnung/
Die Praxis der juristischen Menschenrechtsarbeit der vergangenen Dekaden zeigt: Der Abgesang auf die Menschenrechte kommt verfrüht. Denn sie birgt ein großes Potenzial und bietet eine konkrete Utopie sowie Anknüpfungspunkte für eine fundierte Hoffnun
[ "Menschenrechte", "Menschenrechtsschutz", "Völkerrecht", "Völkerstrafrecht", "Zivilgesellschaft" ]
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Widerstand und Opposition gegen den Sowjetkommunismus in Ostmitteleuropa - Essay | Widerstand | bpb.de
Aus der Perspektive des Jahres 2014 ist diese Geschichte leicht zu erzählen. Vor einem Vierteljahrhundert wurde infolge einer friedlichen Revolution im gesamten sowjetischen Herrschaftsbereich der Kommunismus abgeschüttelt, die Spaltung Deutschlands und Europas überwunden und eine irreversible Demontage nicht nur des Sowjetimperiums, sondern auch der UdSSR selbst in die Wege geleitet. Der Streit darüber, wem die eigentlichen Lorbeeren für diese epochale Wende in der europäischen Geschichte gebühren, dauert zwar seitdem an, doch es geht dabei nur um Schattierungen, welche Persönlichkeiten und welche Bewegungen mehr im Vorder- und welche eher im Hintergrund stehen sollten. War für das annus mirabilis 1989 im 1945 von Stalin besetzten und in Jalta der sowjetischen Einflusszone zugeschlagenen Ostmitteleuropa der Widerstand von unten entscheidend, der nach vielen gescheiterten Versuchen in einzelnen Ländern endlich die Oberhand gewann? Dann müssten solche Persönlichkeiten wie Lech Wałęsa oder Václav Havel im Vordergrund stehen. Nicht von ungefähr wurden der Danziger Werftarbeiter und der Prager Schriftsteller als Galionsfiguren der Oppositionsbewegungen in Polen und Tschechien 1990 in ihren Ländern zu Staatspräsidenten gewählt. Oder war es die schiere wirtschaftliche und politische Schwäche des Sowjetreiches, das eine durch die Umstände erzwungene Reformbewegung von oben wagte und damit – immerhin ohne Blutbad – grandios scheiterte? Dann müssten die "Helden des Rückzugs" aus der Geschichte auf dem Podest stehen, wie der "gute Zar" Michail Gorbatschow und seine einsichtigen Mitstreiter in den sowjetischen Kolonien – etwa jene ungarischen Verantwortlichen, die im Juni 1989 die Grenze zu Österreich öffneten, fünf Monate bevor die Berliner Mauer geöffnet wurde. Zu den "Helden des Rückzugs" ist auch der ehemalige polnische Staatschef Wojciech Jaruzelski zu zählen, zumal Adam Michnik – langjähriger politischer Häftling unter Jaruzelski – wegen der Verdienste des Generals bei der Machtrochade 1989 ostentativ an seiner Beisetzung im Mai 2014 teilnahm und sich öffentlich zu ihrer späten Freundschaft bekannte. Doch nicht nur sie wären dann zu nennen, sondern auch Politiker und Persönlichkeiten im Westen wie der (bis 1989 amtierende) US-Präsident Ronald Reagan, die durch ihre Beharrlichkeit, aber auch Umsicht politischen und wirtschaftlichen Druck auf die Kremlführung ausübten und die Opposition im Ostblock stützten. Allerdings dürften dabei auch die Entspannungspolitiker der 1970er Jahre nicht vergessen werden – die westdeutschen, die mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze die Abhängigkeit der Volksrepublik Polen von den Moskauer Grenzgarantien milderten, aber auch diejenigen in Westeuropa und Amerika, die 1975 den Regierenden im Ostblock durch die Helsinki-Akte gewisse Freiräume für eine demokratische Opposition im kommunistischen Machtbereich abtrotzten. Und eine besondere Würdigung gebührt natürlich Papst Johannes Paul II. als einem großen Schirmherrn der Revolution des Jahres 1989. Mit dem ersten Besuch in seiner polnischen Heimat 1979 hinterließ er dem bereits 1980 folgenden Arbeiterprotest die Erfahrung der Selbstdisziplin während der riesigen Freilichtmessen. Danach half er der ersten freien Gewerkschaftsbewegung im Ostblock, der Solidarność, die Repressalien des im Dezember 1981 verhängten Kriegsrechts zu überstehen und wirkte auf die Machthaber um General Wojciech Jaruzelski ein, sich im Zaum zu halten. 1988 erzwang eine erneute Streikwelle den Runden Tisch, an dem im April 1989 die Modalitäten einer partiellen Machtabgabe durch die Kommunisten ausgehandelt und die ersten halbfreien Parlamentswahlen im Ostblock auf den 4. Juni 1989 festgesetzt wurden. Alle diese Faktoren – Widerstand und Opposition von unten, wirtschaftliches Desaster im Ostblock und die Bürde des sowjetischen Krieges in Afghanistan, die Entspannungspolitik und der Doppelbeschluss der NATO (aufrüsten, aber den Dialog nicht abreißen lassen) und schließlich die politisch-moralische Schwäche des sowjetischen Realsozialismus, der sowohl der wirtschaftlichen Stärke des Westens als auch seiner geistigen freiheitlich-demokratischen Ordnung wenig entgegenzusetzen hatte, trugen 1989 gemeinsam zum Kollaps des Kommunismus bei. Kommunizierende Röhren des Widerstandes Die langen Linien jener Entwicklung, die 200 Jahre nach der Französischen Revolution von 1789 die Folgen der russischen Oktoberrevolution von 1917 in Ostmitteleuropa außer Kraft setzten, sind viel schwieriger zu erzählen. In den meisten Festreden anlässlich der "Friedlichen Revolution" 1989 werden als ihre Vorläufer die Aufstände am 17. Juni 1953 in der DDR, im Juni 1956 in Polen und im Oktober desselben Jahres in Ungarn genannt, die über den Prager Frühling 1968, die Entstehung der Solidarność 1980, die Massenflucht der DDR-Deutschen im Sommer 1989 und die Montagsdemonstrationen im Herbst jenes "wundersamen Jahres" zum Sturz Erich Honeckers und zur Öffnung der Berliner Mauer führten. Alle diese nationalen Umbrüche scheinen ungleichzeitig, aber gleichsam in einer linearen Verbindung miteinander gewesen zu sein, um dann im Jahre 1989 ihre Erfüllung zu finden. Es gibt überzeugende Indizien für die kommunizierenden Röhren des demokratischen Widerstandes gegen die kommunistische Herrschaft im Ostblock. Der 17. Juni 1953 in der DDR war eine Reaktion nicht nur auf die unentschlossene Deutschlandpolitik Moskaus nach Stalins Tod und die Normenerhöhung beim Bau der Stalinallee in Ost-Berlin, sondern hatte seine Initialzündung auch in den Massenstreiks von über 300.000 tschechischen Arbeitern in Pilsen, Kladno und Ostrau Ende Mai 1953. Zu dem blutig unterdrückten Arbeiteraufstand in Posen drei Jahre später kam es auf der Welle des "Tauwetters" in der UdSSR, nach der Geheimrede Nikita Chruschtschows während des XX. Parteitags der KPdSU, in der die Verbrechen Stalins angeprangert wurden. Sie geriet über Polen in den Westen, und die westlichen Sender vermittelten sie dann den Osteuropäern. Der Aufstand in Ungarn im Oktober 1956 begann wiederum mit einer Solidaritätsadresse ungarischer Intellektueller an die Polen, wo infolge des Massakers in Posen die Stalinisten von der Macht verdrängt wurden und der noch kurz davor inhaftierte Nationalkommunist Władysław Gomułka neuer Parteichef wurde. Während der Kämpfe gegen die sowjetische Intervention in Budapest gab es dann wiederum in Polen Solidaritätskundgebungen und Blutspenden für die Ungarn. Der Oktober 1956 war eine Zäsur für den gesamten Ostblock. Polen verschaffte er eine Verschnaufpause. In einer dramatischen Auseinandersetzung mit Chruschtschow auf dem Warschauer Flughafen, als sowjetische Panzer schon auf die polnische Hauptstadt zurollten, gelang es Gomułka, einen Kompromiss mit den Machthabern im Kreml auszuhandeln: Warschau behält seine innenpolitischen Freiräume, wenn die Kommunisten an der Macht bleiben. Das half den oppositionellen Intellektuellen in den 1960er Jahren, sich zu formieren. Sie ermahnten die Regierenden, die erworbenen Freiheiten nicht zu beschneiden ("Brief der 34" Intellektuellen gegen die Zensur, 1964), tiefere Systemveränderungen bis hin zur "Finnlandisierung" des Landes vorzunehmen (Jacek Kurońs und Karol Modzelewskis "Brief an die Partei", 1964), die nationale Geschichte nicht zu verfälschen und oppositionelle Intellektuelle und Studenten nicht zu maßregeln (Studentenproteste im März 1968). Im Dezember 1970 endete dieses Jahrzehnt der "kleinen Stabilisierung" in Polen mit einem außenpolitischen Einschnitt, der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik Deutschland, und innenpolitisch mit einem Massenprotest der Arbeiter an der Ostseeküste gegen Preiserhöhungen. In den nachfolgenden 1970er Jahren genoss die VR Polen zunächst eine Öffnung nach Westen und bescheidenen Wohlstand auf Pump. Der erneute Versuch der Regierenden, 1976 die Preise zu erhöhen, hatte auch diesmal eine Streikwelle zur Folge. Die anschließenden Repressalien verbanden nicht nur die oppositionellen Intellektuellen mit den gemaßregelten Arbeitern, sondern führten zur Gründung zahlreicher Gruppierungen, darunter das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR), die Bewegung zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte (ROPCiO) oder die Konföderation für die Unabhängigkeit Polens (KPN), außerdem diverse Arbeitskreise, Selbstverlage, alternative Gewerkschaftsgruppen und Bildungsseminare der "fliegenden Universitäten", in denen Modelle eines etappenweisen Systemwechsels diskutiert wurden. Im Sommer 1980 brach an der Ostseeküste erneut ein Arbeiterstreik aus, der sich innerhalb weniger Wochen faktisch zu einem landesweiten Generalstreik ausdehnte und die Regierenden zu offenen Verhandlungen mit dem Streikkomitee zwang. Dass namhafte oppositionelle Intellektuelle vom Streikkomitee als Berater akzeptiert wurden, markierte eine Verbindung beider Oppositionslinien: der "Intelligenz" und der "Werktätigen". Als nach der Registrierung im September 1980 mit der Solidarność und später auch einer "Solidarność der Bauern" die ersten unabhängigen Gewerkschaften im Ostblock entstanden, errangen nun alle nominell den Staatssozialismus tragenden sozialen Schichten ihre nichtkommunistische Vertretung. Die Legitimität der "führenden Rolle der Partei" wurde de facto infrage gestellt. Mit der Botschaft des ersten Kongresses der Solidarność vom 8. September 1981 "An die Werktätigen Osteuropas" wandten sich die Delegierten an die Arbeiter Albaniens, Bulgariens, der Tschechoslowakei, der DDR, Rumäniens, Ungarns "und aller Nationen der UdSSR". Sie hoben die Schicksalsgemeinschaft mit ihnen hervor und versicherten, "dass wir entgegen aller Lügen, die in euren Ländern verbreitet werden, eine zehn Millionen starke authentische Vertretung der Werktätigen sind, die im Ergebnis von Arbeiterstreiks entstanden ist. Unser Ziel ist der Kampf für die Verbesserung des Daseins aller Menschen der Arbeit. Wir unterstützen diejenigen unter euch, die sich entschlossen haben, den schwierigen Weg des Kampfes um eine freie Gewerkschaftsbewegung zu beschreiten. Wir glauben, dass unsere und eure Vertreter sich schon bald zu einem gewerkschaftlichen Erfahrungsaustausch werden treffen können." Vor der Geschichte sollten die Ideengeber des Aufrufes Recht behalten. Einer von ihnen, Jerzy Buzek, war von 1997 bis 2001 Ministerpräsident im freien Polen und von 2009 bis 2012 Vorsitzender des Europäischen Parlaments. Tagespolitisch aber war die "Botschaft" für die Machthaber im Ostblock ein Fanal. Parteiorgane verurteilten die "antisozialistische und antisowjetische Hetze". Leonid Breschnew nannte sie während einer Politbürositzung gefährlich und provokant: "Worte enthält sie wenige, aber sie hauen alle in dieselbe Kerbe. Ihre Autoren würden gern Chaos in den sozialistischen Ländern stiften und Abweichlergrüppchen verschiedener Art anspornen." Ähnlich wie Ludvík Vaculíks "Manifest der 2000 Worte" während des Prager Frühlings 1968 war 1981 die "Botschaft" einer der Vorwände für die Betonköpfe im Ostblock, eine "Bruderhilfe zur Rettung des Sozialismus in Polen" zu fordern. Drei Monate später, am 13. Dezember 1981, wurde in Polen das Kriegsrecht verhängt. Aktive Mitglieder der Solidarność wurden interniert, die bestreikten Betriebe gestürmt und die Gewerkschaft suspendiert. Für die Unzufriedenen im Ostblock war es ein erneutes Signal: Eine riesige Protestbewegung war wie schon 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei nun auch in Polen gescheitert. Unterschiedliche Ansätze und Bezugspunkte Dennoch: Bei den Machthabern im Kreml saß der polnische Schock tief. Ein junges Politbüromitglied, Michail Gorbatschow, wurde zum Vorsitzenden einer parteiinternen "Polen-Kommission" ernannt, die die Krise analysieren und Reformvorschläge für die UdSSR ausarbeiten sollte. Perestrojka ("Umbau") und Glasnost ("Offenheit, Transparenz"), die er 1985 als Generalsekretär der KPdSU ankündigte, sollten erneute Eruptionen im sowjetischen Machtbereich verhindern, die Sowjetunion von oben her reformieren und den "sozialistischen Bruderstaaten" größere Freiräume bei der Umgestaltung der Wirtschaft und Innenpolitik gewähren. Die Katastrophe in Tschernobyl 1986 offenbarte dann die technologische Schwäche, den administrativen Schlendrian und die verlogene Öffentlichkeitsstruktur des abgewirtschafteten Systems. Eine Verständigung mit den Vereinigten Staaten über strategische Abrüstung war die Folge, die Sowjetunion durch liberale Reformen von Grund auf zu reformieren, die einzige Chance. Jahre später, nach dem gescheiterten Janajew-Putsch von 1991, jenem verzweifelten Versuch von konservativen Parteioberen, die den Umbau der Sowjetunion noch verhindern und – nach dem Verlust der DDR durch die Vereinigung Deutschlands – die restlichen Sowjetkolonien bei der Stange halten wollten, bekannte Gorbatschow (nach der Auflösung der UdSSR ein Privatmann) eine sozialdemokratische Gesinnung. Geprägt habe ihn während seiner Studienzeit die Freundschaft mit Zdeněk Mlynář, später einer der aktivsten tschechischen Reformkommunisten des Prager Frühlings. Der am 21. August 1968 durch die militärische Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten jäh unterbrochene Versuch der tschechoslowakischen KP, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu errichten und das 1948 von Stalin aufgezwungene Staats- und Parteimodell zu liberalisieren, schwebte den sowjetischen Reformkommunisten Ende der 1980er Jahre als Vorbild für eine Perestrojka von oben im Zentrum des Imperiums vor. Gorbatschow sah sich dabei einer Phalanx konservativer Dogmatiker im Ostblock gegenüber: Erich Honecker in der DDR, Gustáv Husák in der ČSSR oder Nicolae Ceaușescu in der VR Rumänien. Die VR Polen betrachtete er – wie er mehrmals öffentlich betonte – als ein Experimentierfeld für Reformen von oben. Unter dem ständigen Druck der Opposition von unten und der fatalen Wirtschaftslage leitete General Jaruzelski endlich zaghafte Systemreformen ein: Ein Verfassungsgericht und das Amt des Ombudsman wurden eingerichtet und ein Referendum über die Wirtschaftsreform abgehalten (und verloren), außerdem setzte ein öffentlicher Dialog mit oppositionellen Intellektuellen ein, allerdings blieb die Solidarność weiterhin illegal. Polen war insofern ein Vorreiter im Ostblock der 1980er Jahre. Doch mit der nicht nachlassenden Wucht des Widerstandes, mit der zwar unterdrückten, aber dennoch präsenten Solidarność, mit den wiederholten Papst-Reisen und der Ratlosigkeit der Regierenden blieb es ein Sonderfall. Der Danziger Arbeiterführer Lech Wałęsa, inzwischen Friedensnobelpreisträger, hatte keine Entsprechung im Ostblock, wo sich auch die Sympathien für die aufmüpfigen Polen in Grenzen hielten. Waren sie im Dezember 1981 mit der Verhängung des Kriegsrechts nicht genauso gescheitert wie die DDR-Deutschen 1953, die Ungarn 1956 oder die Tschechoslowaken 1968? So sah es auch ein oppositioneller protestantischer Pastor in Rostock, Joachim Gauck. Und dennoch erreichte "der polnische Bazillus" die Kapillarzellen des Sowjetsystems. Der eine oder andere in der DDR, Wolfgang Templin und Ludwig Mehlhorn etwa, lernte gar Polnisch, um die Texte der polnischen Oppositionellen zu lesen und dann auch hektografiert ins Deutsche zu übersetzen. Andere schauten interessiert oder befremdet-neugierig auf die ganz unterschiedliche politische Kultur im Nachbarland und versuchten – wie eine junge Physikerin aus Berlin, Angela Merkel – das Abzeichen der Solidarność als Andenken an Gespräche in Polen und vielleicht auch als Talisman für die Zukunft in die DDR zu schmuggeln. Dennoch blieb für die kritische Intelligenz in der DDR in den 1980er Jahren eher der Prager Frühling als die Solidarność der Bezugspunkt – der Wunschtraum nach liberalen Reformen von oben und einer Öffnung nach Westen also und nicht die Perspektive eines Massenprotestes und anschließend der Machtfrage von unten. Die Schriften der DDR-Oppositionellen, ob Robert Havemanns "Kommunismus ohne Dogma" in den 1960er Jahren, Wolfgang Harichs "Kommunismus ohne Wachstum" oder Rudolf Bahros "Die Alternative" aus den 1970er Jahren, bewegten sich immer noch im Kreis einer Generalüberholung des marxistischen Staats- und Wirtschaftsprojektes, während sich Leszek Kołakowski in den "Hauptströmungen des Marxismus" und Jacek Kuroń mit den nach der Streikwelle 1970 entwickelten Ideen der "selbstverwalteten Republik" von jeglichem Marxismus längst verabschiedet hatten. 1975 erweiterte die KSZE-Schlussakte die Durchlässigkeit nicht nur des Eisernen Vorhanges, sondern auch der Grenzen zwischen den "Bruderländern" und somit die Kontakte zwischen den Dissidenten und Oppositionellen. In polnischen Samisdat-Verlagen erschienen unzensierte Texte über den Aufstand in Ungarn, den Prager Frühling, auch über den 17. Juni 1953, Hans Mayers Skizze über das Jahr 1956 in der DDR, "Die Zelle" von Horst Bienek über seine Inhaftierung und Verbannung nach Workuta. Aber entscheidend für die Formierung der Opposition waren die Bezüge zur polnischen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte und der Wandel in der Sowjetunion seit Stalins Tod 1953, das "Tauwetter", die Dissidenten-Bewegung, Solschenizyns "Archipel Gulag", unbotmäßige Filmemacher, Theaterleute und Dichter. Sänger wie Bulat Okudschawa oder Wladimir Wyssozki waren oft ins Polnische übersetzte Kultfiguren, während Wolf Biermann – in den 1960er, 1970er Jahren eines der Symbole der DDR-Dissidenten – mit seiner Sehnsucht nach einem geläuterten Kommunismus ("so oder so die Erde wird rot") selbst unter polnischen Germanistikstudenten in Polen auf Unverständnis stieß. Trotz aller Ähnlichkeiten, Parallelen, Entlehnungen und kommunizierenden Röhren waren die Opposition gegen das System und der antikommunistische Widerstand in Ostmitteleuropa ungleichzeitig und entsprangen sehr verschiedenen Quellen. Selbst die enttäuschten Ex-Kommunisten, die linken Dissidenten aus Polen, Ungarn, der DDR und der Tschechoslowakei, die zuerst von einem Reformkommunismus, später oft von einer sozialdemokratischen Evolution schwärmten und noch die kleinsten Reformregungen in den Nachbarländern verfolgten, handelten entsprechend der Logik ihrer Nationalstaaten. Eine "Internationale" der ostmitteleuropäischen Dissidenten kam trotz gelegentlicher Kontakte und Freundschaften nicht zustande. Florian Havemann schreibt in seinen Erinnerungen, dass er in den 1960er Jahren für Jacek Kuroń schwärmte und Leszek Kołakowski treffen wollte. Doch ansonsten blieb für die DDR-Dissidenten Westdeutschland der Fluchtpunkt – trotz gelegentlicher Faszinationen für das "mögliche Anderssein" in anderen "Volksdemokratien". Für die Ungarn war das nach 1956 das nahegelegene Wien, für die Tschechen nach 1968 ebenfalls Westdeutschland, die geistigen Stützpunkte für die Polen dagegen waren Frankreich mit der mächtigen Exilzeitschrift "Kultura" und ansonsten die USA, England und Schweden mit zahlreichen Exilpolen, erst später kam Westdeutschland dazu. Sonderfall Polen Die anwachsenden Streikwellen und Protestaktionen in Polen zwangen die Machthaber schrittweise zu strukturellen Zugeständnissen an die Gesellschaft, wie sie weder in der DDR noch in Bulgarien oder Rumänien vorstellbar waren. Von 1956 bis 1989 wurde jeder Chef der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) infolge von Massenstreiks und Protestwellen gestürzt. Undenkbar in den Bruderländern, wo die Amtszeiten der kommunistischen Parteivorsitzenden 33 Jahre (János Kádár, Ungarn), 25 Jahre (Todor Schiwkow, Bulgarien), 21 Jahre (Nicolae Ceaușescu, Rumänien), 20 Jahre (Gustáv Husák, ČSSR) oder 18 Jahre (Erich Honecker, DDR) betrugen. Woher dieser "polnische Sonderweg"? Oft wird die Antwort in der Stärke der katholischen Kirche in Polen und später in der Rolle des polnischen Papstes in den 1980er Jahren gesehen – ein wichtiger Faktor, den auch ich eingangs betont habe. Einen anderen muss man aber in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts suchen. In allen Ländern, aus denen 1944 die Rote Armee die deutsche Wehrmacht und ihre Helfershelfer verdrängte und die dann in Jalta von den "großen Drei" – Franklin D. Roosevelt, Winston Churchill, Josef Stalin – der sowjetischen Einflusszone zugeschlagen und von Kommunisten regiert wurden, regte sich in den 1940er Jahren in den bürgerlichen und Armeekreisen ein antikommunistischer Widerstand. In Bulgarien waren es Geheimbünde wie die "Neutralen Offiziere" oder "Zar Krum", die auf einen Ost-West-Konflikt und die Beseitigung des kommunistischen Regimes hofften. Diese Organisationen wurden aber allesamt bis 1946 zerschlagen und ihre Mitglieder zum Tode oder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Nach 1989 wurden sie rehabilitiert und – wie General Kiril Stantschew – postum befördert. Iwan Dimitrow Dotschew, ein bulgarischer Monarchist und faschisierender Politiker der Zwischenkriegszeit, ging 1944 nach Berlin, wo er einer bulgarischen Exilregierung beitrat. In der Heimat wurde er zum Tode verurteilt. Nach dem Krieg engagierte er sich in diversen Exilorganisationen in den USA. Erst 1991 kehrte er nach Bulgarien zurück und war im Bund der Demokratischen Kräfte tätig. In Rumänien entstanden militante Gruppen, wie die Partizanii României Mari (Partisanen Großrumäniens), die 1948 in Bukarest antikommunistische Flugblätter verteilten und zusammen mit anderen Untergrundorganisationen Attentate auf kommunistische Führer planten. Eine etwa 70 Personen starke Partisanengruppe um Adrian Mihuțiu wurde bis 1956 von der Securitate verfolgt. Wie verwickelt der Weg antikommunistischer Offiziere in Ungarn oft war, zeigt die Biografie von General Lajos Veress Dálnoki, der in den 1930er Jahre Generalstabschef war und 1941 ungarische Einheiten befehligte, die zusammen mit der deutschen Wehrmacht Jugoslawien und die UdSSR überfielen. 1944 wurde er nach Ungarns missglücktem Seitenwechsel von den Deutschen zu elf Jahren Haft verurteilt. Im Frühjahr 1945 floh er aus dem Gefängnis und gründete die Untergrundorganisation "Ungarische Gemeinschaft", die einen Aufstand gegen die Kommunisten vorbereiten sollte. Er wurde verhaftet und zuerst zum Tode, dann zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe verurteilt. Während des ungarischen Aufstandes 1956 befreit, ging er anschließend nach London, wo er dem Weltbund Ungarischer Freiheitskämpfer vorstand. Selbst in der Tschechoslowakei, wo die Kommunisten relativ stark waren, gab es ähnliche Versuche. Slowakische Emigranten gründeten 1945 den antikommunistischen Geheimbund Bela Légia, der Fluchthilfe leisten und für die USA Informationen über das Land sammeln sollte. Der Chef der Gruppe wurde entführt und zu einer langjährigen Haftstrafe, seine Mitarbeiter dagegen zum Tode verurteilt. Die tschechische Sabotagegruppe "Der schwarze Löwe" sorgte 1953 für internationales Aufsehen, als den Brüdern Mašínov nach einer Serie von Attentaten trotz einer Schießerei mit Volkspolizisten und einer Riesenrazzia die Flucht durch die DDR nach West-Berlin gelang. Nach 1989 kehrten sie nicht in die Heimat zurück, wo sie von vielen Menschen für gewöhnliche Banditen gehalten werden. Allerdings zeichnete sie der tschechische Ministerpräsident Mirek Topolánek 2008 in den USA aus. Auch in den baltischen Ländern und in der Westukraine, die nach dem Hitler-Stalin-Pakt von der UdSSR annektiert wurden, operierten bis in die 1950er Jahre hinein antikommunistische Partisanengruppen, die lettischen, litauischen oder ukrainischen Verbänden entstammten und 1941 in der Hoffnung auf eine Befreiung vom Kommunismus auf die deutsche Karte gesetzt hatten. Dass sie dabei auch Handlangerdienste bei der deutschen "ethnischen Flurbereinigung" in Ostmitteleuropa leisteten, machte es der sowjetischen Propaganda leicht, sie als Faschisten abzustempeln. Und auch im Westen regte sich nach 1989 heftige Bestürzung, als in Lettland oder in der Westukraine ehemalige Mitglieder der Waffen-SS als antikommunistische Helden gefeiert wurden. Polen war in den 1940er Jahren insofern ein Sonderfall, als es im Krieg kein Satellit Hitlerdeutschlands war, sondern vom 1. September 1939 an auf der richtigen Seite stand. Nach der gemeinschaftlichen Aufteilung des Landes durch Hitler und Stalin wurde es von einer Exilregierung in London und einigen Armeeverbänden im Westen vertreten, außerdem verfügte es über gut funktionierende Strukturen eines Untergrundstaates und eine 300.000 Mann starke Heimatarmee. Es gab in London zwar auch eine tschechische Exilregierung unter dem früheren Ministerpräsidenten Edvard Beneš, aber das Protektorat Böhmen und Mähren war eine eher ruhige Waffenschmiede des "Dritten Reiches" und die Slowakei mit Pfarrer Andrej Hlinka als Staatschef voll im deutschen Tross. Polen dagegen war ein Zankapfel der Westalliierten im Tauziehen mit Stalin um Ostmitteleuropa. Einerseits war Polen der Grund, warum Großbritannien am 3. September 1939 zusammen mit Frankreich Deutschland den Krieg erklärt hatte, andererseits befürchtete man in London und Washington nach Stalingrad, Stalin könne erneut einen Separatfrieden mit Hitler schließen. Polen war somit zum Objekt der Großmächte geworden, nachdem Stalin im Sommer 1943 die Beziehungen zur polnischen Exilregierung abgebrochen hatte und kurz darauf ihr Ministerpräsident, General Władysław Sikorski, in einer Flugzeugkatastrophe in Gibraltar umgekommen war. Den Vorwand für den Bruch hatte die polnische Forderung nach einer internationalen Untersuchung des 1940 von Angehörigen des sowjetischen Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD) verübten Massenmordes an Tausenden polnischen Offizieren in Katyn geliefert. Stalin ging es um die Bestätigung seiner Annexionen von 1939 und folglich um eine Unterwerfung Ostmitteleuropas. Und er hatte beim Zusammentreffen mit Roosevelt und Churchill in Teheran (1943) Verständnis dafür gezeigt, dass Polen für seine territorialen Verluste im Osten mit deutschen Gebieten im Westen entschädigt werden sollte. Angesichts des Vorrückens der Roten Armee nach Mitteleuropa ging es aber um die Souveränität des Landes und nicht nur um seine "Westverschiebung". Der Warschauer Aufstand im August 1944 war zwar militärisch gegen die deutsche, politisch aber gegen die neue sowjetische Besatzung und die Errichtung einer kommunistischen Herrschaft in Polen gerichtet. Nach zwei Monaten verbissener Kämpfe endete er mit dem Tod von rund 200.000 Zivilisten und der völligen Zerstörung der Hauptstadt. Die Rote Armee schaute vom anderen Weichselufer untätig zu, während die Westalliierten halbherzig aus Italien Nachschub heranflogen, die in England ausgebildete polnische Luftlandetruppe aber bei Arnheim verheizten. Die Katastrophe des Warschauer Aufstandes war eine Zäsur im polnischen politischen Selbstverständnis. Die Enttäuschung über die Nachgiebigkeit des Westens gegenüber Stalin trieb nicht wenige Nichtkommunisten dazu, sich in dem von Kommunisten regierten Staat zu engagieren, um wenigstens die nationale Substanz zu retten. Doch nicht wenige Verbände der Untergrundarmee setzten die Partisanenkämpfe – diesmal gegen die kommunistische Verwaltung – fort. Sie hofften auf eine westliche Offensive, die Churchill auch tatsächlich in Erwägung zog. Die neuen Machthaber verunglimpften bald die Soldaten der Heimatarmee als "geifernde Zwerge der Reaktion". Die Führung des Untergrundstaates wurde vom NKWD nach Moskau entführt und in einem Schauprozess zum Tode verurteilt. Tausende Soldaten der Heimatarmee landeten im GULag. Namhafte Kommandeure des Warschauer Aufstandes wurden als "Bandenführer" gejagt und hingerichtet. Dieses Trauma hatte in der polnischen Gesellschaft zweierlei Konsequenzen. Einerseits wurden der Widerstand gegen die deutsche Besatzung und der Einsatz der polnischen Flieger in der "Battle of Britain", der polnischen Kriegsschiffe in der "Atlantikschlacht", der polnischen Brigaden in Tobruk oder Monte Cassino zum nationalen Mythos, andererseits blieb der Warschauer Aufstand eine offene Wunde und mehr oder weniger ein Streitfall – Heldentum und Opferbereitschaft auf der einen Seite, katastrophale Folgen auf der anderen. Die Lehre daraus war: Widerstand ja, aber unterhalb der Schwelle eines militärischen Aufstandes. Damit lässt sich auch erklären, warum Warschau sich im Oktober 1956 anders als Budapest verhielt, und warum die Verfolgung der Solidarność im Kriegszustand zu keiner militanten Gegenwehr führte. In einem Land wie Polen, das seit dem 18. Jahrhundert durch eine lange Geschichte nationaler Aufstände geprägt worden war, blieb die Tradition der Auflehnungen gegen die russischen Besatzer weiterhin fundamental. Die jungen Menschen, die sich in der Solidarność engagierten, wähnten sich oft als Nachfolger der Aufständischen von Warschau. Aber ihr realer Widerstand fand neue Formen einer Mischung von vordergründigem Arrangement mit den kommunistischen Machthabern und einem beständigen Druck von unten. Dazu gehörten Massenstreiks, Proteste der Intellektuellen, eine starke Präsenz der Kirche, die Bildung einer unabhängigen Massenbewegung, aber auch das zunehmende Bewusstsein nicht weniger Parteimitglieder, dass die Geschichte Polens keineswegs mit der Macht des Sowjetkommunismus zu Ende ist. All das ermöglichte erst die im gesamten Ostblock einmalige politisch-mentale Konstellation, die nach den Erschütterungen des Kriegsrechts über die Abmachungen des Runden Tisches und der halbfreien Wahlen vom 4. Juni 1989 eine friedliche Machtübergabe an die antikommunistische Opposition einleitete. Ostmitteleuropäische Revolution Das Wunder des Jahres 1989 bestand darin, dass endlich all die verschiedenen Stränge und Ungleichzeitigkeiten in einer friedlichen Revolution zusammenkamen. Entgegen den nachträglichen nationalen Verklärungen war es keine "deutsche", "polnische", "tschechische", "ungarische" oder "rumänische", sondern eine ostmitteleuropäische Revolution, zu der sowohl die Parteidissidenten der Jahre 1956 oder 1968, als auch christliche Oppositionelle und nationale bis nationalistische Antikommunisten in unterschiedlichem Maße ihren Beitrag geleistet haben. In jedem der früheren Ostblockländer prägten sich eigene Ikonen des Jahres 1989 ein. In den ostdeutschen Bundesländern sind es die Montagsdemonstrationen und der Tanz auf der Berliner Mauer, in Ungarn das Staatsbegräbnis Imre Nagys und anderer Anführer des Aufstandes 1956, in Tschechien der triumphale gemeinsame Auftritt Alexander Dubčeks, Generalsekretär der KPČ 1968 und Galionsfigur des Prager Frühlings, mit Václav Havel, dem Initiator der "Karta 77", um den sich in der Tschechoslowakei der 1980er Jahre die Oppositionellen geschart hatten. Die Polen assoziieren das Jahr 1989 mit ihrem Runden Tisch und dem grandiosen Sieg der Solidarność in den fast freien Wahlen vom 4. Juni (eine diametral andere Lösung als in China am selben Tag). Nach einem Vierteljahrhundert wird die Geschichte des Jahres 1989 in den ostmitteleuropäischen Ländern meist national erzählt. In den Erinnerungsbüchern werden vor allem die eigenen Dissidenten, Menschen- und Bürgerrechtler, Friedenskämpfer und Oppositionellen des antikommunistischen Widerstandes seit den 1940er Jahren hervorgehoben. Gelegentlich wird auch auf Kontakte zwischen den Bewegungen in verschiedenen "Bruderländern" hingewiesen: auf das geheime Treffen polnischer KOR-Mitglieder mit der "Karta 77" an der Grenze im Riesengebirge, auf die Ausflüge ungarischer Systemkritiker nach Polen, wo sie sich in den 1970er Jahren die Technik der Selbstverlage abguckten, an die Versuche der kritischen Intellektuellen in der DDR – wie Walter Janka – 1956 Solidarität mit Ungarn zu zeigen, oder an die jungen Sympathisanten des Prager Frühlings, die in Ost-Berlin tschechoslowakische Fahnen hissten, um gegen den Einmarsch in die ČSSR zu demonstrieren. Doch die Kenntnis dieser kommunizierenden Röhren des antikommunistischen Widerstandes im sowjetischen Machtbereich wird meistens durch nationale Erzählungen verdeckt, in denen sich die Nachbarn nur am Rande, wenn überhaupt erkennen. Auch die Geschichte der Repressalien, der Unterdrückung und drakonischen Maßregelung der Regimegegner wird meistens national über die eigenen "Häuser des Terrors" erzählt: in Ostdeutschland über Bautzen oder Hohenschönhausen, in Polen über die Rakowieckastraße oder Białołęka, in Tschechien über Ruzyně. In der Vorgeschichte des Jahres 1989 kann man jedoch auch eine "Internationale des Widerstandes" wahrnehmen. Ein Beleg dafür war die Welle der Verzweifelten und Empörten nach dem Einmarsch in die ČSSR am 21. August 1968: Aus Protest gegen die polnische Beteiligung an der Niederschlagung des Prager Frühlings verbrannte sich am 8. September 1968 Ryszard Siwiec, ein Veteran der polnischen Heimatarmee, im überfüllten Warschauer Stadion. Ähnlich starb auch Jan Palach am 18. Januar 1969 vor dem Prager Nationalmuseum – er hatte in der Tschechoslowakei 26 Nachahmer und einen in Ungarn, Sándor Bauer. Am 14. Mai 1972 setzte sich Romas Kalanta vor dem Nationaltheater in Kaunas aus Protest gegen die sowjetische Okkupation Litauens in Flammen. Am 18. August 1976 verbrannte sich in Zeitz Oskar Brüsewitz wegen der Verfolgung der Christen in der DDR. Und am 23. Juni 1978 zündete sich auf der Krim Musa Mamut an, um gegen die Deportation der Krimtataren aus ihrer Heimat zu protestieren. Ihre Taten waren einsam. Sie wurden von den offiziellen Medien entweder verschwiegen oder als Ausdruck psychischer Störungen verhöhnt. Dennoch gebührt auch ihnen ein Platz im Pantheon des ostmitteleuropäischen Widerstandes gegen die 1944/1945 durch Stalin etablierten kommunistischen Diktaturen. Sie brachen 1989 infolge einer ostmitteleuropäischen Revolution zusammen, die unterschiedliche nationale Stränge hatte, die sich dann aber zu einer gravierenden Zäsur in der europäischen Geschichte verknoteten.
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, Adam Krzemiński
"2021-12-07T00:00:00"
"2014-06-20T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/186878/widerstand-und-opposition-gegen-den-sowjetkommunismus-in-ostmitteleuropa-essay/
Der Widerstand gegen die sowjetische Herrschaft war vielfältig und hatte unterschiedliche nationale Stränge. 1989 aber verknüpften sich diese zu einer gemeinsamen Revolution, die zum Ende der UdSSR führte.
[ "Widerstand", "Opposition", "Sowjetunion", "Kommunismus", "UdSSR", "UDSSR" ]
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Placemat | Partizipation vor Ort | bpb.de
Didaktische Hinweise Diese Unterrichtsmethode, die dem kooperativen Lernen zugeordnet wird, stimuliert die kognitive Aktivität der Schülerinnen und Schüler. Diese können zunächst alleine über ein Thema reflektieren und ihre Gedanken dazu notieren bevor dann ein Ideenaustausch mit den Gruppenmitgliedern stattfindet. Im Anschluss werden die Ideen strukturiert und weiterentwickelt. Dies gibt den schüchternen Schülern die Möglichkeit sich ohne den Druck der Peergroup eine Antwort auf die Fragestellung zu überlegen. Des Weiteren lernen die Schüler eine gemeinsame Entscheidung zu treffen. Vorbereitung Aufstellen von Gruppentischen im Klassenraum. Verlauf Die Schülerinnen und Schüler finden sich an ihrem Gruppentisch ein, auf dem das Placemat (engl. für Platzdeckchen) bereitgestellt ist. Jeder Schüler hat ein Feld im Außenbereich, in das er seine Impulse zu einem Thema oder die Lösung zu einer Fragestellung notieren kann. Wenn alle ihre Ideen aufgeschrieben haben, tauschen die Schülerinnen und Schüler ihre Ideen aus. Zu diesem Zweck wird das Placemat immer ein Feld weiter gedreht. Auf diese Weise erfährt jeder von den Gedanken der anderen. Zudem dürfen diese ergänzt und kommentiert werden. Befindet sich das Placemat wieder in der Ausgangsposition können die Schüler die Gedanken ihrer Mitschüler zu ihren Ideen lesen. Nun werden die Gedanken aller diskutiert und es werden drei Gemeinsamkeiten herausgearbeitet, die im leeren Feld in der Mitte notiert werden. Zum Schluss können die Arbeitsergebnisse mehrerer Gruppen zum gleichen Thema miteinander verglichen und diskutiert werden. Hinweise zur Durchführung Die Gruppengröße sollte sich idealerweise auf vier Gruppenmitglieder belaufen. Je größer die Gruppe, desto höher wird der Zeitaufwand. Außerdem sollte gewährleistet sein, dass jeder Schüler auch ein eigenes Feld für seine Ideen hat. Einsatzmöglichkeiten Die Methode kann in nahezu jedem Unterrichtsfach eingesetzt werden. Sie ist insbesondere zum Einstieg in einen neuen Themenkomplex oder zur Erkundung einer neuen Fragestellung besonders für Schülerinnen und Schüler geeignet, die ansonsten in der üblichen Unterrichtskommunikation eher unsicher und schüchtern sind. Zudem werden im Austausch Ideen anderer wahrgenommen, kommentiert und nach ihrer Relevanz sortiert und im Gespräch mit der eigenen Gruppe weiterentwickelt, bevor sie im Plenum vorgetragen werden. Literatur Aus: Kooperatives lernen. Placemat – Das "Schweizermesser" des kooperativen Lernens, Externer Link: www.kooperatives-lernen.de (10.07.2012).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2013-02-15T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/partizipation-vor-ort/155248/placemat/
Diese Unterrichtsmethode, die dem kooperativen Lernen zugeordnet wird, stimuliert die kognitive Aktivität der Schülerinnen und Schüler. Diese können zunächst alleine über ein Thema reflektieren und ihre Gedanken dazu notieren bevor dann ein Ideenaust
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Was tun gegen Verschwörungsideologien? | bpb.de
Geschichten über geheime Verschwörungen begegnen uns immer wieder. Vermehrt seit dem Aufkommen des Web 2.0, im Übermaß spätestens seit dem Jahr 2020 und Corona. Dabei wirken Verschwörungsideologien oft seltsam, nicht selten aber stecken hinter ihnen Antisemitismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die Flyer und Plakate des Formats "Was tun gegen Verschwörungsideologien?" wollen informieren, Beispiele aufzeigen und Möglichkeiten erläutern, wie man am besten damit umgeht, wenn man mit Verschwörungsideologien konfrontiert wird. Durch Klicken auf die Links unter den Vorschaubildern gelangen Sie zur jeweiligen Shopseite. Dort sind Bestellungen und Downloads möglich. Plakat Interner Link: Zur Shop-Seite Flyer Interner Link: Zur Shop-Seite
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-02T00:00:00"
"2020-11-30T00:00:00"
"2022-02-02T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/was-tun-gegen-verschwoerungsideologien/
Geschichten über geheime Verschwörungen begegnen uns immer wieder. Vermehrt seit dem Aufkommen des Web 2.0, im Übermaß spätestens seit dem Jahr 2020 und Corona. Dabei wirken Verschwörungsideologien oft seltsam, nicht selten aber stecken hinter ihnen
[ "Plakat", "Flyer", "Verschwörungsideologien", "Antisemitismus", "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit", "Soziale Medien", "begegnen" ]
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Recht vs. Naturwissenschaften? | Gentechnik | bpb.de
2018 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Urteil "Confédération paysanne", dass Organismen, die mit Genomeditierungsverfahren erzeugt worden sind, dem Europäischen Gentechnikrecht unterliegen. Das Urteil hat eine Reformdebatte rund um die rechtliche Regulierung grüner Gentechnik zur Erzeugung neuer Pflanzensorten angestoßen. Die unterschiedlichen Reformvorschläge zeigen, wie umstritten das Thema weiterhin ist. Auch die Europäische Kommission hat sich im April 2021 zu der Frage geäußert, wodurch die Reformdiskussion politisch Fahrt aufgenommen hat. Herkömmliche und zielgerichtete Mutagenese Der Einsatz von Gentechnik in der Landwirtschaft ist an sich keine neue Entwicklung. Bereits seit den 1920er Jahren werden gentechnische Verfahren eingesetzt, um neue Pflanzensorten mit bestimmten Eigenschaften zu erzeugen, wie zum Beispiel Toleranzen gegen klimatische Extrembedingungen (Trockenheit, Hitze, Kälte), höhere ernährungsphysiologische Qualität und neue Verarbeitungsmöglichkeiten. Hier werden die sogenannten herkömmlichen Mutageneseverfahren eingesetzt, mit denen die Rate genetischer Veränderungen durch chemische Substanzen oder Bestrahlung signifikant erhöht wird. Dabei ist nur die Erzeugung ungerichteter Mutationen möglich, es können also keine spezifischen Eigenschaften gezielt hervorgerufen werden. Der züchterische Prozess, bei dem eine sehr hohe Anzahl an Pflanzen generiert wird, die hinsichtlich der gewünschten Eigenschaften ausgewählt und zur Kreuzung eingesetzt werden, ist sehr aufwendig. Demgegenüber bedeuten Genomeditierungsverfahren einen großen Entwicklungsschritt. Grundsätzlich umfassen solche Verfahren ein breites Feld an Anwendungsmöglichkeiten. In der aktuellen Reformdebatte geht es vor allem um den spezifischen Anwendungsfall der sogenannten zielgerichteten Mutagenese: Hier können einzelne Basenpaare im Genom einer Pflanze ausgetauscht, entfernt oder hinzugefügt werden. Entscheidender Unterschied zu den herkömmlichen Mutageneseverfahren ist, dass gezielt, also an einem vorher bestimmten Ort im Erbgut, Mutationen in unterschiedlichen Formen hervorgerufen werden können. Die Risiken dieses Verfahrens sind unter Experten umstritten. Seit dem Aufkommen von Genomeditierungsverfahren, vor allem des CRISPR/Cas9-Systems im Jahr 2012, wird intensiv diskutiert, ob mithilfe solcher "Genscheren" erzeugte Pflanzen den Regelungen des Europäischen Gentechnikrechts unterfallen. Die Freisetzungsrichtlinie im Europäischen Gentechnikrecht Herzstück des Europäischen Gentechnikrechts ist die Freisetzungsrichtlinie, die ein verpflichtendes behördliches Zulassungsverfahren für genetisch veränderte Organismen (GVO) festlegt, bevor sie in die Umwelt freigesetzt und auf den Markt gebracht werden dürfen. Ziel ist der Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt im Sinne des Vorsorgeprinzips, das ein wichtiges Leitprinzip des europäischen Umweltrechts ist. Zwar sind Inhalt und Anwendungsvoraussetzungen des Vorsorgeprinzips im Einzelnen umstritten, allgemein als Definition anerkannt ist aber Prinzip 15 der Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung von 1992: Demnach sind staatliche Risikoregulierungsmaßnahmen bereits in Fällen wissenschaftlicher Unsicherheit gerechtfertigt, wenn schwere oder irreversible Schäden für Mensch und Umwelt drohen. Die Freisetzungsrichtlinie legt den Anwendungsbereich des gesamten Europäischen Gentechnikrechts fest. Erstens definiert sie einen GVO als "Organismus (…), dessen genetisches Material so verändert worden ist, wie es auf natürliche Weise durch Kreuzen und/oder natürliche Rekombination nicht möglich ist". Zweitens bestimmt sie mithilfe sogenannter Positiv- und Negativlisten, welche Verfahren der genetischen Veränderung einen GVO erzeugen oder nicht. Hier gibt es eine sogenannte Mutageneseausnahme, durch die Organismen, die mit Mutageneseverfahren erzeugt worden sind, aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herausgenommen werden. Bei Erlass der Freisetzungsrichtlinie 1990 wurden die herkömmlichen Mutageneseverfahren aus dem Anwendungsbereich ausgeklammert, da sie bereits damals seit Jahrzehnten standardmäßig in der Pflanzenzüchtung angewandt wurden und seit Langem als sicher galten. Im Rahmen des Zulassungsverfahrens für GVO findet eine Risikobeurteilung (risk assessment) statt, bei der von Fall zu Fall etwaige direkte, indirekte, sofortige oder spätere schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und/oder die Umwelt ermittelt und evaluiert werden. Nach der europaweit geltenden Zulassung bestehen strenge Kennzeichnungs- und Monitoringpflichten. 18 der 27 EU-Mitgliedstaaten machen aktuell von der 2015 erlassenen Opt-out-Regelung Gebrauch und verbieten den Anbau von GVO auf ihrem Territorium. Das EuGH-Urteil Der EuGH entschied, dass durch Genomeditierungsverfahren erzeugte Organismen unter die Freisetzungsrichtlinie fallen und somit dem Zulassungsverfahren sowie Kennzeichnungs- und Monitoringpflichten unterliegen. In seinem Urteil ging der EuGH in zwei Schritten vor, wie es auch in der Freisetzungsrichtlinie selbst angelegt ist: Zunächst legten die Richter die Definition eines GVO primär prozessbezogen aus. Das bedeutet, dass es zur Qualifizierung eines GVO vornehmlich auf den Einsatz einer (Gen-)Technik als "unnatürliches" Handeln ankommt, das sich als Mutation im Genom der Pflanze niederschlagen muss. In einem zweiten Schritt legte der EuGH die Mutageneseausnahme eng aus. Das heißt, dass nur die Verfahren der Mutagenese, die herkömmlich und seit Langem als sicher gelten, vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen sind. Hier kam es entscheidend auf die Auslegung des Begriffs an: "Mutagenese" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der zwar der naturwissenschaftlichen Fachterminologie entlehnt ist, deswegen aber nicht seine Qualität als Rechtsbegriff verliert. Versteht man unter "Mutagenese" die Erzeugung von Mutationen in einem Organismus und demzufolge als einen Oberbegriff, sind auch zielgerichtete Mutageneseverfahren zur künstlichen Erzeugung von Mutationen in einem Organismus umfasst. Der EuGH argumentierte jedoch mit dem Willen des Unionsgesetzgebers, vom Anwendungsbereich der Richtlinie nur diejenigen Mutageneseverfahren auszunehmen, die standardmäßig in der Pflanzenzüchtung angewandt werden. Es handelt sich hierbei also um das Argument fehlenden Erfahrungswissens. Seine Auslegung begründete der EuGH mit dem Vorsorgeprinzip, eine andere Interpretation würde "dem Vorsorgeprinzip zuwiderlaufen". Politische Bestrebungen für eine Neujustierung Unmittelbar nach dem Urteil kam Kritik mit Blick auf seine Umsetzbarkeit auf: Pflanzen, die durch zielgerichtete Mutageneseverfahren erzeugt wurden, sind nicht von Pflanzen zu unterscheiden, die auf herkömmliche Mutageneseverfahren zurückgehen. Das stellt Behörden vor praktische Schwierigkeiten, entsprechende Produkte als "mit Gentechnik hergestellt" zu klassifizieren und zu kennzeichnen. Vor diesem Hintergrund beauftragten die EU-Staats- und Regierungschefs die Kommission mit einer Studie zum Status genomeditierter Organismen im Unionsrecht, die im April 2021 vorgelegt wurde. Darin skizzierte die Kommission keine konkreten Reformvorschläge, insgesamt lässt sich jedoch herauslesen, dass sie eine Neujustierung des geltenden Rechts tendenziell befürwortet. Mit Blick auf die Identifizier- und Nachverfolgbarkeit genomeditierter Pflanzen und daraus entwickelter Produkte sieht sie die Gefahr welthandelsrechtlicher Auseinandersetzungen, da wichtige Handelspartner solche Produkte weder regulieren noch kennzeichnen würden. Ferner spricht die Kommission so erzeugten Pflanzen zu, einen wichtigen Beitrag zur Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie leisten zu können, indem sie beispielsweise durch Toleranzen gegen Extrembedingungen zu einer klimaangepassten Landwirtschaft beitragen könnten. Im Hinblick auf Sicherheitsbedenken bestätigt sie zwar einerseits den geltenden Ansatz der Risikobeurteilung, GVO von Fall zu Fall auf schädliche Auswirkungen zu untersuchen. Andererseits weist sie darauf hin, dass eine weiterhin strenge Anwendung der geltenden Vorschriften bei neuen Pflanzenzüchtungsverfahren Probleme für die Anpassung an den wissenschaftlichen Fortschritt nach sich ziehen könnte. Entscheidend für eine mögliche Reform ist, dass die Kommission die unterschiedliche Regulierung von genetisch identischen Produkten infrage stellt: Sie kommt zu dem Schluss, dass den Organismen die gleichen Risiken anhaften – unabhängig davon, ob sie durch herkömmliche oder zielgerichtete Mutageneseverfahren oder sogenannte Cisgenese-Verfahren erzeugt worden sind. Bei Cisgenese-Verfahren wird ausschließlich arteigenes Genmaterial übertragen, anders als bei Transgenese-Verfahren, bei denen Fremd-DNA in einen Organismus über Artgrenzen hinweg eingefügt wird. Die Kommission hat nunmehr gesetzgeberische Bestrebungen für die Entwicklung eines eigenen Regelwerkes für so erzeugte Pflanzen sowie Lebens- und Futtermittel angekündigt. Ein konkreter Vorschlag der Kommission wird für Ende 2023 erwartet. Reformvorschläge im Überblick Dieser wird sich einordnen in ein weites Spektrum an Regulierungsoptionen, die seit dem EuGH-Urteil diskutiert werden. Dabei lassen sich drei unterschiedliche Strömungen mit wachsendem Abstand zur aktuellen Rechtslage herauslesen. Beibehaltung des geltenden Rechtsrahmens Am einen Ende des Spektrums wird für die fortdauernde Anwendung des Europäischen Gentechnikrechts auf Erzeugnisse von Genomeditierungsverfahren plädiert. Hier unterscheiden sich die Argumentationsweisen: Einerseits wird das Erfordernis strenger Kontrolle betont, andererseits wird für einen flexibleren Umgang mit dem geltenden Recht geworben. Für eine strikte Anwendung des gegenwärtigen Zulassungsverfahrens auf alle durch Genomeditierungsverfahren erzeugten Pflanzen sprechen sich vor allem Debattenteilnehmer aus, die wie der Verein Testbiotech kritisch gegenüber der Freisetzung und Inverkehrbringung von GVO eingestellt sind. Ihr Hauptargument ist, dass sich diese Verfahren hinsichtlich ihrer Risiken und potenziellen Auswirkungen wesentlich von konventionellen Mutageneseverfahren unterscheiden, weil sie ermöglichen, umfassender in das Erbgut einzugreifen als bisher. Insbesondere weisen sie das Argument zurück, dass Genomeditierungsverfahren präziser und daher sicherer seien, und verweisen auf die Möglichkeit unvorhergesehener Effekte bei der Veränderung genetischen Materials. Daher sei es notwendig, die aktuelle Risikobeurteilung vor allem in Bezug auf die Identifizierung von Risiken anzupassen und zu erweitern. Die zentrale Rolle des Vorsorgeprinzips bei der Sicherung eines hohen Schutzniveaus für Mensch und Umwelt sei auch in Zukunft zu stärken. Dies werde aus ethischer Perspektive untermauert, die das Vorsorgeprinzip zur Maxime eines angemessenen Umgangs mit neuen Technologien im Falle wissenschaftlicher Unsicherheit erhebe. Demgegenüber weisen einige Debattenteilnehmer auf die bereits bestehenden Instrumente der Freisetzungsrichtlinie hin, die ohne Änderung der Rechtslage ein vereinfachtes Zulassungsverfahren für genomeditierte Organismen ermöglichen. Sie sehen darin vor allem eine Möglichkeit, die Zeit bis zur Änderung der geltenden Rechtslage zu überbrücken. Wenn mit der Freisetzung bestimmter, mit zielgerichteten Mutageneseverfahren erzeugter GVO in bestimmten Ökosystemen ausreichend Erfahrungen gesammelt worden sei, könne ein Beschluss ergehen, dass Freisetzungen eines GVO am selben Ort oder an verschiedenen Orten zum selben Zweck und innerhalb eines bestimmten Zeitraums in einem einzigen Anmeldeverfahren beantragt werden dürfen. Um das Zulassungsverfahren zu vereinfachen, wird zudem vorgeschlagen, dass die ergänzenden Guidelines der European Food Safety Agency, die als Hilfestellung bei einem Zulassungsantrag dienen, dahingehend geändert werden, dass sie die Eigenschaften genomeditierter Pflanzen stärker berücksichtigen. So könnten detaillierte Kriterien ausgearbeitet werden, wann solche Pflanzen einem vereinfachten Verfahren unterliegen: In Betracht kommen unter anderem die Art der genetischen Veränderung und die Relevanz des neuen Züchtungsmerkmals für eine nachhaltige und klimaangepasste Landwirtschaft. Änderung des geltenden Rechtsrahmens Eine Vielzahl der Kommentatoren fordert, Pflanzen, die mithilfe zielgerichteter Mutageneseverfahren produziert wurden, aus dem Anwendungsbereich der Freisetzungsrichtlinie herauszunehmen, da ihre Anwendbarkeit wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen sei. Ihr Hauptargument ist, dass genetisch identische Pflanzen der gleichen Regulierung unterliegen sollten, unabhängig davon, ob sie durch herkömmliche oder zielgerichtete Mutageneseverfahren erzeugt worden sind. Ihre Reformvorschläge beziehen sich daher auf die Änderung des Anwendungsbereichs der Freisetzungsrichtlinie und/oder auf das geltende Verfahren zur Risikobeurteilung und zum Risikomanagement. Risikomanagement bedeutet hier, dass der Antragstellende nach Zulassung mögliche schädliche Auswirkungen des GVO auf die Umwelt und menschliche Gesundheit erfasst und die zuständige Behörde die Monitoringberichte bewertet und gegebenenfalls Maßnahmen ergreift. Für die Herausnahme aus dem Anwendungsbereich des Europäischen Gentechnikrechts gibt es zwei Anknüpfungspunkte in der Freisetzungsrichtlinie: zum einen die GVO-Definition, zum anderen die sogenannte Negativliste (Anhang IA Teil 2) beziehungsweise der Ausnahmetatbestand (Anhang IB). Mit Blick auf die GVO-Definition sprechen sich einige Debattenteilnehmer wie die Group of Chief Scientific Advisors der Europäischen Kommission für einen Wechsel von der prozessbezogenen Auslegung – wie der EuGH sie bislang anwendet – hin zu einer produktbezogenen Auslegung aus. Das würde bedeuten, dass die Qualifizierung eines GVO davon abhängig gemacht wird, ob die im Endprodukt vorhandene genetische Veränderung auf natürlichem Weg hätte entstehen können. In diesem Zusammenhang wird vorgeschlagen, die GVO-Definition im Europäischen Gentechnikrecht im Einklang mit dem Protokoll von Cartagena über die Biologische Sicherheit zu lesen, dem wichtigsten völkerrechtlich verbindlichen Vertrag in Bezug auf GVO, dessen Artikel 3lit. g auf eine "neuartige Kombination genetischen Materials" zur Qualifizierung abstellt. Eine andere Möglichkeit wäre aus Sicht der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, zielgerichtete Mutageneseverfahren auf die sogenannte Negativliste zu setzen und von vorneherein nicht als Verfahren genetischer Modifikation einzuordnen, die die GVO-Definition umfasst. Ein ähnlich gelagerter Vorschlag der European Plant Science Organisation lautet, den Ausnahmetatbestand umzugestalten: Entweder könne – entgegen der Interpretation des EuGH – der Begriff "Mutagenese" so definiert werden, dass er auch zielgerichtete Mutageneseverfahren einschließt, oder diese könnten eigenständig in die Liste der Ausnahmetatbestände aufgenommen werden. Davon losgelöst wird vorgeschlagen, anstelle der Auflistung von Verfahren zur genetischen Modifikation allgemeine Kriterien einzuführen, die zur Erfüllung des Ausnahmetatbestandes vorliegen müssten. Ein weiterer Diskussionsstrang dreht sich um den angemessenen Harmonisierungsgrad der Freisetzungsrichtlinie. Dieser bestimmt, inwiefern die Mitgliedstaaten die Vorgaben aus der Richtlinie in innerstaatliches Recht umsetzen müssen. Aktuell gilt eine umfassende Vollharmonisierung, die Mitgliedstaaten dürfen also keine anderen Regeln einführen als jene, die in der Richtlinie festgelegt sind. Um Mitgliedstaaten die Möglichkeit einzuräumen, GVO trotz der kritischen Haltung anderer Mitgliedstaaten anzubauen, wird vorgeschlagen, dass zwar die Risikobeurteilung vollharmonisiert bleibt, das Risikomanagement aber nur noch mindestharmonisiert auf mitgliedstaatlicher Ebene stattfindet. Dies würde bedeuten, dass die Richtlinie für das Risikomanagement nur noch einheitliche Mindeststandards festlegt, wobei es im Ermessen der einzelnen Mitgliedstaaten läge, höhere Standards zu setzen. Da es Bedenken gibt, dass dies den Grundsatz einheitlicher, EU-weit geltender Zulassungsbestimmungen untergraben könnte, wird alternativ ein opt-in für den GVO-Anbau vorgeschlagen, das Mitgliedstaaten in Anspruch nehmen könnten, wenn das Zulassungsverfahren eines GVO aufgrund einer politischen Blockade scheitert und ansonsten alle Kriterien für eine Zulassung erfüllt sind. Schaffung eines neuen Rechtsrahmens Am anderen Ende des Spektrums werden komplett neue Regulierungsansätze diskutiert, die allgemeiner Natur sind. Ein Vorschlag des Europäischen Ethikrats lautet, im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse auch die möglichen Auswirkungen eines GVO auf die Biodiversität und die Bodennutzung sowie seinen potenziellen Beitrag zur Ernährungssicherheit zu beachten. In diesem Zusammenhang plädiert auch das Bundesamt für Naturschutz dafür, Nachhaltigkeitsaspekte anhand feststehender Kriterien verstärkt in den Blick zu nehmen und in das Risikobewertungsverfahren einfließen zu lassen. Ferner gibt es detailliertere Ausarbeitungen zur Schaffung eines neuen Regelwerkes. Losgelöst von der geltenden Rechtslage wird eine dreistufige Regulierung vorgeschlagen, die sich nach der Reichweite der erzeugten genetischen Veränderung richtet: von der schlichten Notifizierung bei genomeditierten Organismen, die auch natürlich oder mit konventioneller Züchtung entstehen können (erste Stufe), über ein beschleunigtes Verfahren für Organismen mit artspezifischer genetischer Veränderung (zweite Stufe) bis zum klassischen Zulassungsverfahren mit Risikobewertung für Organismen, bei denen Artenbarrieren überschritten werden oder fremde DNA eingefügt wird (dritte Stufe). Dieses System kann weiter ausdifferenziert werden, indem neben der Bewertung der Risiken auch ethische und soziale Faktoren berücksichtigt werden. Ausblick Während in der EU sowohl aufseiten der Kommission als auch aufseiten der Mitgliedstaaten in den vergangenen Jahren eine kritische Haltung gegenüber grüner Gentechnik überwog, deutet sich nun ein Umdenken an. Dies lässt sich insbesondere aus den politischen Reformbestrebungen der Kommission im Hinblick auf Pflanzen sowie Lebens- und Futtermittel ableiten, die durch zielgerichtete Mutageneseverfahren und Cisgenese-Verfahren erzeugt worden sind. Insofern scheint eine Gleichbehandlung von zielgerichteten und herkömmlichen Mutageneseverfahren, wie sie der EuGH 2018 noch mit Blick auf das fehlende Erfahrungswissen abgelehnt hatte, im Rahmen des Möglichen zu liegen. Dies wird wiederum von einigen Kommentatoren entschieden kritisiert, die auf die durch CRISPR/Cas9 in einem größeren Umfang als bisher möglichen Veränderungen des Erbgutes verweisen, die ungewollte Effekte und damit einhergehende spezifische und neuartige Risiken nach sich ziehen könnten. Wichtig für das Verständnis der Debatte ist, dass das geltende Recht weiterhin für davon abzugrenzende Anwendungsfälle von Genomeditierungsverfahren anwendbar bleibt: Wird Fremd-DNA in einen Organismus eingefügt, unterliegt dieser dem Zulassungsverfahren sowie den Kennzeichnungspflichten. Offen ist weiterhin, welche Regulierungsoption die Kommission anstrebt. Die Freisetzungsrichtlinie verfügt als stringentes Regelwerk bereits über Instrumente, um das Zulassungsverfahren zu vereinfachen, ohne den vorsorgebasierten Regulierungsgedanken zu vernachlässigen oder aufzugeben. Dabei bleibt die Beibehaltung eines hohen Schutzniveaus für die Umwelt und die menschliche Gesundheit bei der Freisetzung und Inverkehrbringung von GVO unerlässlich. Auch eine mögliche Reform sollte weiterhin vom gesellschaftlichen Diskurs und Konsens getragen werden. Vgl. Heiko Becker, Pflanzenzüchtung, Stuttgart 2019, S. 207f. Vgl. Thomas Langer, Mutation und Reparatur, in: Katharina Munk et al. (Hrsg.), Genetik, Stuttgart–New York 2017, S. 370–420, hier S. 401. Für einen Überblick siehe Basiswissen CRISPR/Cas, in: Toni Cathomen/Holger Puchta (Hrsg.), CRISPR/Cas9. Einschneidende Revolution in der Gentechnik, Berlin 2018, S. 1–67. Vgl. Eva Gelinsky/Angelika Hilbeck, European Court of Justice Ruling Regarding New Genetic Engineering Methods Scientifically Justified: A Commentary on the Biased Reporting About the Recent Ruling, in: Environmental Sciences Europe 30/2018, Externer Link: https://doi.org/10.1186/s12302-018-0182-9. Zum Begriff "umweltrechtliches Leitprinzip" siehe Christian Calliess/Matthias Ruffert, EUV/AEUV. Kommentar, München 2022, Art. 191 AEUV, Rn. 28. Vgl. Richtlinie (EU) 2015/412, 13.3.2015. Vgl. EuGH, Urteil vom 25.7.2018, Rechtssache C-528/16, Rn. 54. Vgl. ebd., Rn. 27–38. Vgl. Hans-Georg Dederer, Genomeditierung ist Gentechnik. Eine kritische Analyse des EuGH-Urteils Confédération paysanne u.a., in: Zeitschrift für Europäisches Umwelt- und Planungsrecht 2/2019, S. 236–245, hier S. 241; so auch Elisabeth Andersen/Katharina Schreiber, "Genome Editing" vor dem EuGH und seine Folgen, in: Natur und Recht 2/2020, S. 99–106, hier S. 101. Vgl. EuGH (Anm. 7), Rn. 39–51. Vgl. ebd., Rn. 51. Ebd., Rn. 53. Vgl. umfassend Katharina Schreiber, Recht und Ethik der Risikoregulierung in der Grünen Gentechnik, Dissertation, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 2023. Vgl. umfassend Elisabeth Andersen/Katharina Schreiber, Neue Regeln für die Gentechnik in Europa?, in: Natur und Recht 3/2020, S. 168–178, hier S. 171f. Vgl. Beschluss (EU) 2019/1904 des Rates, 8.11.2019, Absatz 4. Vgl. hier und im Folgenden European Commission, Study on the Status of New Genomic Techniques Under Union Law and in Light of the Court of Justice Ruling in Case C-528/16, Commission Staff Working Document 92/2021, S. 52–59. Vgl. ebd., S. 59. Vgl. Frank Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, Berlin 2020, S. 11. Für einen Überblick siehe Externer Link: https://ec.europa.eu/info/law/better-regulation/have-your-say/initiatives/13119-Legislation-for-plants-produced-by-certain-new-genomic-techniques_en. Vgl. Testbiotech, Overview of Genome Editing Applications Using SDN-1 and SDN-2 in Regard to EU Regulatory Issues, März 2020, S. 11ff.; Michael Eckerstorfer et al., Biosafety of Genome Editing Applications in Plant Breeding: Considerations for a Focused Case-Specific Risk Assessment in the EU, in: BioTech 3/2021, Externer Link: https://doi.org/10.3390/biotech10030010; Bundesamt für Naturschutz (BfN), New Developments and Regulatory Issues in Plant Genetic Engineering, BfN Viewpoint, Oktober 2021, S. 4f., S. 13. Für eine umfassende Diskussion möglicher unvorhergesehener Effekte vgl. Katharina Kawall/Janet Cotter/Christoph Then, Broadening the GMO Risk Assessment in the EU for Genome Editing Technologies in Agriculture, in: Environmental Sciences Europe 32/2020, Artikelnr. 106. Vgl. ebd.; Klaus Peter Rippe/Ariane Willemsen, The Idea of Precaution: Ethical Requirements for the Regulation of New Biotechnologies in the Environmental Field, in: Frontiers in Plant Science 9/2018, Artikelnr. 1868; Eckerstorfer et al. (Anm. 19); BfN (Anm. 19), S. 16. Vgl. Rippe/Willemsen (Anm. 21). Vgl. Martin Wasmer, Roads Forward for European GMO Policy – Uncertainties in Wake of ECJ Judgment Have to Be Mitigated by Regulatory Reform, in: Frontiers in Bioengineering and Biotechnology 7/2019, Artikelnr. 132; Huw D. Jones, Future-Proofing Regulation for Rapidly Changing Biotechnologies, in: Transgenic Research 2/2019 (Supplement), S. 107–110, hier S. 110. Vgl. ebd. Dies erfolgt im Rahmen der sog. vereinfachten Verfahren gem. Art. 7 Abs. 1, 13 Abs. 2, 16 Abs. 1 FreisetzungsRL; auf diese Möglichkeiten weisen mehrere Autoren hin. Vgl. Wasmer (Anm. 23); Jones (Anm. 23); Dennis Eriksson et al., Options to Reform the European Union Legislation on GMOs: Scope and Definitions, in: Trends in Biotechnology 3/2020, S. 231–234, hier S. 233. Vgl. The Norwegian Biotechnology Advisory Board, Proposal for Relaxation of Norwegian Regulations for Deliberate Release of Genetically Modified Organisms (GMO), With Applicability Also for EU Legislation, Dezember 2018, S. 32f.; Wasmer (Anm. 23). Vgl. Norwegian Biotechnology Advisory Board (Anm. 26), S. 32f. Vgl. Nationale Akademie der Wissenschaften (Leopoldina)/Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Akademieunion)/Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) (Hrsg.), Wege zu einer wissenschaftlich begründeten, differenzierten Regulierung genomeditierter Pflanzen in der EU. Stellungnahme, Halle/S. 2019, S. 71; European Plant Science Organisation (EPSO), On the ECJ Ruling Regarding Mutagenesis and the Genetically Modified Organisms Directive: Statement, 19.2.2019, S. 2; Group of Chief Scientific Advisors (GCSA), A Scientific Perspective on the Regulatory Status of Products Derived from Gene Editing and the Implications for the GMO Directive, 13.11.2018, S. 3ff. Vgl. Eriksson et al. (Anm. 25), S. 232; EPSO (Anm. 28), S. 2; Leopoldina/Akademieunion/DFG (Anm. 28), S. 71, S. 73; Nina Duensing et al., Novel Features and Considerations for ERA and Regulation of Crops Produced by Genome Editing, in: Frontiers in Bioengineering and Biotechnology 6/2018, Artikelnr. 79; Petra Jorasch, The Global Need for Plant Breeding Innovation, in: Transgenic Research 28/2019 (Supplement 2), S. 81–86, hier S. 85. Vgl. GCSA (Anm. 28), S. 4; Eriksson et al. (Anm. 25), S. 232. Vgl. Andersen/Schreiber (Anm. 9), S. 99ff. Vgl. Eriksson et al. (Anm. 25), S. 232; EPSO (Anm. 28), S. 4. Vgl. Leopoldina/Akademieunion/DFG (Anm. 28), S. 74. Vgl. EPSO (Anm. 28), S. 4. Vgl. ebd.; Wasmer (Anm. 23). Vgl. Ministerie van Infrastructuur en Waterstaat (Netherlands), Proposal for Discussion on Actions to Improve the Exemption Mechanism Under Directive 2001/18/EC, 1.9.2017, S. 4, S. 6f. Vgl. die Diskussion bei Kai Purnhagen/Justus Wesseler, Maximum vs Minimum Harmonization: What to Expect from the Institutional and Legal Battles in the EU on Gene Editing Technologies, in: Pest Management Science 9/2019, S. 2310–2315; Dennis Eriksson et al., Options to Reform the European Union Legislation on GMOs: Risk Governance, in: Trends in Biotechnology 4/2020, S. 349–351, hier S. 350. Zur Vollharmonisierung vgl. Meinhard Schröder, in: Rudolf Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV. Kommentar, München 2018, Art. 114, Rn. 46. Vgl. Eriksson et al. (Anm. 37), S. 350. Zur Mindestharmonisierung vgl. Schröder (Anm. 38), Rn. 49. Vgl. Eriksson et al. (Anm. 37), S. 350 mit Verweis auf dens. et al., Implementing an EU Opt-in Mechanism for GM Crop Cultivation, in: EMBO Reports 5/2019, Externer Link: https://doi.org/10.15252/embr.201948036. Vgl. European Group on Ethics in Science and New Technologies, Ethics of Genome Editing, Opinion 32/2021, S. 91f. Vgl. BfN (Anm. 19), S. 6, S. 16, S. 18f. Vgl. Sigrid Bratlie et al., A Novel Governance Framework for GMO, in: EMBO Reports 5/2019, Externer Link: https://doi.org/10.15252/embr.201947812; Norwegian Biotechnology Advisory Board, A Forward-Looking Regulatory Framework for GMO, Dezember 2018, S. 3f. Vgl. Michelle Habets et al., Genome Editing in Plants and Crops – Towards a Modern Biotechnology Policy Focused on Differences in Risks and Broader Considerations, Rathenau Instituut 2019, S. 5, S. 32ff.
Article
Schreiber, Katharina
"2023-07-07T00:00:00"
"2022-08-19T00:00:00"
"2023-07-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/gentechnik-2022/512108/recht-vs-naturwissenschaften/
Laut Europäischem Gerichtshof unterliegen Pflanzen, die mit Genomeditierungsverfahren erzeugt wurden, dem Europäischen Gentechnikrecht. Das Urteil hat eine Reformdebatte ausgelöst.
[ "Gentechnik", "Gentechnologie", "Genomeditierung", "Landwirtschaft", "Pflanzenzüchtung", "Mutation", "Risiko", "Europäische Union", "Gentechnikrecht", "Reform" ]
30,350
Wahlberechtigte | Bundestagswahlen | bpb.de
61.181.072 Personen waren bei der Bundestagswahl 2021 wahlberechtigt. 14,2 Prozent (1,96 Mio.) aller Wahlberechtigten waren jünger als 30 Jahre, während deutlich mehr als die Hälfte (58,1 %; 35,53 Mio.) 50 Jahre und älter waren. 51,5 Prozent (31,50 Mio.) aller Wahlberechtigten waren Frauen. Allerdings gilt: Nur bei den Wahlberechtigen zwischen 45 und 49 Jahren und ab 60 Jahren sind die Frauen in der Mehrheit. In der jüngsten Gruppe der 18- bis 20-Jährigen sind Frauen noch in der Minderheit (48,3 %), in der Gruppe ab 70 Jahren stellen Frauen dagegen 57,3 Prozent der Wahlberechtigten. Bei der Bundestagswahl 1961 waren 19,4 Prozent der 37,4 Millionen Wahlberechtigten unter 30 Jahre. Auch durch die Senkung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre zur Bundestagswahl 1972 erhöhte sich der Anteil und lag 1990 bei 23,0 Prozent. Anschließend ging der Anteil der jüngeren jedoch zurück: 2017 lag er nur noch bei 14,2 Prozent. Demgegenüber stieg der Anteil der Wahlberechtigten ab 60 Jahren deutlich an: Von 24,6 Prozent 1961 stieg er auf 38,8 Prozent 2017. Bemerkenswert ist hier auch der Anstieg der Wahlberechtigen ab 70 Jahren. Ihr Anteil stieg zwischen 1961 und 2021 von 10,1 auf 21,7 Prozent.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-06-07T00:00:00"
"2022-03-16T00:00:00"
"2022-06-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/bundestagswahlen/506248/wahlberechtigte/
61,18 Millionen Menschen waren bei der Bundestagswahl 2021 wahlberechtigt. Welchen Anteil haben Männer, welchen Frauen? Und wie hat sich der Anteil der jungen und alten Wahlberechtigten entwickelt?
[ "Wahlberechtige", "Bundestagswahl 2021" ]
30,351
Irreguläre Einwanderung | Albanien | bpb.de
Eine sehr kleine Zahl an Migranten gelangt illegal nach Albanien. Sie reisen oft über Griechenland ein und nutzen Albanien als Transitland auf dem Weg nach Italien. Andere wiederum verbleiben auch noch nach Ablauf ihrer Visa in Albanien (Visa Overstayers) oder verlassen wie im Fall vieler türkischer Staatsangehöriger das Land im Anschluss an die 90 Tage, die sie ohne Visum in Albanien verbringen dürfen, nicht. Im Jahr 2001 wurde ein sogenanntes Vorprüfverfahren (pre-screening procedure) eingeführt. In diesem Verfahren entscheiden Repräsentanten des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR), der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und der Abteilung für Asyl und Flüchtlinge des albanischen Innenministeriums darüber, ob es sich bei dem von albanischen Behörden Festgenommenen um einen Flüchtling, einen Wirtschaftsmigranten oder ein Opfer von Menschenhandel handelt. Die Betroffenen werden anschließend an die jeweils zuständige Behörde vermittelt, damit sie entweder einen Asylantrag stellen können, als Menschenhandelsopfer Hilfe erhalten oder mit Unterstützung der IOM freiwillig in ihre Herkunftsländer zurückkehren können. Es gab zunächst jedoch keine Regelungen für Migranten, die keiner diese Kategorien zugeordnet werden konnten. 2008 wurden in dieser Hinsicht zwei Rechtsakte verabschiedet: zum einen die Verordnung des Innenministeriums ''über die von der Staatspolizei zu implementierende Prozedur zur Selektion irregulärer Ausländer an der Grenze'' (On the Procedure to Be Implemented by the State Police for Selection of Irregular Foreigners at the Border) und zum anderen das Ausländergesetz. Infolgedessen werden irreguläre Migranten, die in Albanien festgenommen werden und nicht in die oben genannten Kategorien fallen, nun dazu aufgefordert, das Land freiwillig zu verlassen. Leisten sie der Aufforderung innerhalb der gesetzten Frist nicht Folge, so wird eine Zwangsausweisung angeordnet. In diesem Fall werden irreguläre Migranten bis zur Vollstreckung der Ausweisung inhaftiert – die Haft kann bis zu sechs Monate dauern und aus berechtigten Gründen um weitere sechs Monate verlängert werden. Ein Zentrum für Abschiebehaft mit einer maximalen Aufnahmekapazität von 200 Personen wurde im Jahr 2008 mit finanzieller Unterstützung der EU erbaut und 2010 in Betrieb genommen. Seitdem wird es immer wieder aufgrund seiner entlegenen und unzugänglichen Lage, des unzureichenden Schutzes der Rechte der Inhaftierten und des Umgangs mit Migranten in gefängnisähnlichen Einrichtungen von Seiten des Sonderberichterstatters für Menschenrechte scharf kritisiert. Bis Ende 2008 wurden Durchgangsaufnahmeeinrichtungen an zehn Grenzübergängen eingerichtet. Die meisten Transitmigranten stammen aus Südasien, darunter sind insbesondere Afghanen, aber auch einige Chinesen, Kurden und Afrikaner. Einige dieser Migranten, denen es gelingt, über Albanien in die EU zu gelangen, können im Fall einer Festnahme durch EU-Grenzschutzbehörden, im Rahmen des Rückübernahmeabkommens, das Albanien mit der EU geschlossen hat, wieder nach Albanien zurückgeführt werden. Das Inkrafttreten der Rückübernahmeregelung für Drittstaatsangehörige, zusammen mit den fehlenden Kapazitäten albanischer Behörden bei der Rückführung der Drittstaatsangehörigen in ihre Herkunftsländer hat die Sorge hervorgerufen, dass Albanien zu einer Drehtür für Migranten werden könnte, die wiederholt versuchen, in die EU zu gelangen. Zwischen September 2010 und April 2011 wurden etwa 207 Abschiebungsbeschlüsse ausgestellt. Die tatsächliche Zahl der Abschiebungen ist jedoch sehr gering, wie Tabelle 8 zeigt. Tabelle 8: Zahl der abgeschobenen irregulären Drittstaatsangehörigen in ihre Herkunftsländer, 2006-2010 Jahr 2006 2007 2008 2009 2010 Anzahl936934229 Quelle: Daten des albanischen Innenministeriums, in: Dedja (2012b, S.106) Dedja (2012a). Crépeau (2012), S. 17-18. Dedja (2012a), S. 126. GoA (2010). Dedja (2012b), S. 105.
Article
Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-04T00:00:00"
"2013-05-07T00:00:00"
"2022-01-04T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/159649/irregulaere-einwanderung/
Eine sehr kleine Zahl an Migranten gelangt illegal nach Albanien. Sie reisen oft über Griechenland ein und nutzen Albanien als Transitland auf dem Weg nach Italien.
[ "Einwanderung", "Irreguläre Zuwanderung", "Albanien", "Transitmigration", "illegale Einwanderung" ]
30,352
Die Bedeutung der WM für Russlands politische Führung – und für die russische Gesellschaft | Russland | bpb.de
Wer im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen studiert, wird wenig Erfreuliches finden. Vermutete Cyber-Attacken, der Anschlag auf den früheren Geheimagenten Skripal in Großbritannien, die Unterstützung für Syriens Präsident Assad: Die Liste der Vorwürfe gegen Russland ist lang. Ein "Kalter Krieg bei der WM" wird in Presse-Überschriften und in den Kommentarspalten erwartet. Großbritannien und Island haben früh angekündigt, das Turnier politisch zu boykottieren, weitere Staaten könnten folgen. Selbst ein sportlicher Boykott wird zumindest von einzelnen Politikern gefordert. Die Bundesregierung hat sich offiziell noch nicht entschieden, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass ranghohe deutsche Vertreter zur WM nach Russland fahren werden. Im neuen alten Ost-West-Gegensatz scheint der Fußball, dem ja oft völkerverbindende Kräfte nachgesagt werden, kaum positive Wirkung zu entfalten. Trotzdem spielt das Turnier sowohl für Russlands politische Führung als auch für die russische Gesellschaft insgesamt eine große Rolle. Dabei decken sich die Interessen vieler Bürger und der Politiker teilweise, sind aber keinesfalls identisch – auch wenn erst im März 2018 knapp 77 Prozent der Russen bei der Präsidentenwahl für eine weitere Amtszeit Wladimir Putins gestimmt haben – Putin ist seit mittlerweile 18 Jahren die politische Führungsfigur im Land. Sport ist für die Bürger eines Staates oft identitätsstiftend – für Russland gilt das in besonderem Maße. Ein wichtiger Grund dafür liegt in der immer noch prägenden Sowjet-Zeit, als sportliche Erfolge Teil einer umfassenden Ideologie waren und die Überlegenheit des eigenen Systems gegenüber dem des Westens verdeutlichen sollten. Die Sowjets wollten einen neuen Menschen erschaffen – und dieser sollte überlegen und siegreich sein. Vor allem der Medaillenspiegel der Olympischen Spiele wurde zu einer Vergleichstabelle der Systeme hochstilisiert, bisweilen auch im Westen, wo gerade die USA den Sowjets weder das Politische noch das Sportliche überlassen wollten. Laut einer repräsentativen Umfrage des unabhängigen Levada-Zentrums Externer Link: bedauern 58 Prozent der Russen den Zerfall der Sowjetunion. Alleine diese Zahl sowie die nostalgisch-patriotische Stimmung im Land zeigen, wie sehr die Zeit vor 1990 in die russische Gegenwart hineinwirkt. Auch darf nicht unterschätzt werden, wie sehr Russland immer noch nach dem richtigen Weg sucht, sich zu organisieren und die für sich passenden politischen und gesellschaftlichen Strukturen aufzubauen. Eine Erzählung, die mit jener westlicher Industrienationen vergleichbar ist, wo humanistische Traditionen, demokratische Strukturen und generationenübergreifende wirtschaftliche Prosperität betont werden, fehlt im größten Land der Erde. Sport und nationale Identität In Russland selbst ist deshalb oft von einem eigenen Weg die Rede. Die Idee, einfach westliche Standards und Strukturen zu kopieren, gilt als gescheitert. Um diesen eigenen Weg zu finden und zu gehen braucht es laut Putin "geistige Klammern" der modernen nationalen Identität – er verwendete diesen Begriff in einer programmatischen Parlamentsrede im Jahr 2012. Früher wie heute ist der Sport für Russland eine dieser Klammern. Für Putin und die politische Führung ist die Weltmeisterschaft vor allem eine Möglichkeit, sich selbst und ihr Land der ganzen Welt als starke Akteure zu präsentieren, die große Herausforderungen zu meistern verstehen. Stärke, Unbeugsamkeit und ja, auch Unbesiegbarkeit, sind Attribute, die Putin seinem Land mit ihm an der Spitze zuspricht, etwa in einer zweistündigen Rede an die Nation vor der Präsidentschaftswahl 2018, die zu weiten Teilen aus der Präsentation neuer Raketen und anderer Militärtechnik bestand. Auch wenn viele westliche Würdenträger dem Turnier fernbleiben, dürften Bilder fröhlicher Fans und gönnerhaft winkender Politiker um die Welt gehen. Russland, das vor allem durch seine Rolle in den weiter andauernden, blutigen Konflikten im Osten der Ukraine und in Syrien international gerade im Westen einen sehr schweren Stand hat, kann sich selbst und der Welt zeigen, dass es nicht so isoliert ist, wie es bisweilen scheint. Einen großen Unterschied gibt es aber zu den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi: Bei der WM wird Russland sportlich kaum glänzen können. Im Gegensatz zu den Winterspielen ist es trotz des langen Vorlaufs – die WM bekam Russland 2010 zugesprochen – nicht gelungen, eine schlagkräftige Mannschaft aufzubauen, die mit den Favoriten aus Westeuropa und Südamerika mithalten könnte. Die gewohnte Erzählung vom stets siegreichen Russland, das sich vor niemandem zu verstecken braucht, funktioniert in Bezug auf die Fußball-Sbornaja (die russische Auswahl) also nicht. Umso wichtiger ist deshalb ein reibungsloser Verlauf der Veranstaltung sowie die im Vorfeld errichtete Infrastruktur. Kosten und Nutzen der WM Der russische Staat investiert etwa zehn Milliarden Euro in das Fußballfest. Auch wenn manche Experten davon ausgehen, dass die wahren Kosten doppelt so hoch sein werden, dürften sie trotzdem weit unter den Ausgaben für Sotschi 2014 bleiben. Die Spiele kosteten laut Externer Link: offiziellen russischen Angaben knapp 50 Milliarden Dollar. Obwohl die Summe diesmal also deutlich geringer ist, profitieren viele russische Regionen, da die Weltmeisterschaft nicht an einem Ort, sondern in elf Spielorten ausgetragen wird. In Rostow wurde ein neuer Flughafen gebaut, in Saransk verschönert nun eine 1,3 Kilometer lange Promenade die Stadt. In der russischen Exklave Kaliningrad soll um das neue Stadion und einen Park herum die ganze Region aufblühen. Zahlreiche Straßen wurden anlässlich der WM im ganzen Land gebaut oder saniert, die russischen Eisenbahnen bekamen viele neue Züge. All diese Maßnahmen sollen auch die einfachen Bürger erreichen, die dem Fußballfest sonst wenig abgewinnen können und von ihrer Regierung in wirtschaftlich schwierigen Zeiten vielleicht einen anderen Fokus erwarten würden. Ein Frau bettelt in einer Unterführung in Russland. (© AP) Es darf nicht vergessen werden, dass die westlichen Wirtschaftssanktionen, der jahrelang niedrige Ölpreis sowie strukturelle Probleme der heimischen Wirtschaft in den vergangenen Jahren die ökonomische Lage im Land verschlechtert haben. Nach Zahlen der russischen Statistikbehörde sind knapp Externer Link: 20 Millionen Menschen im Land arm, 2012 waren es noch gut 15 Millionen. Dem Ausbau der Infrastruktur stehen aber auch die in Russland bekannten und im Land selbst diskutierten Missstände gegenüber, die sich diesmal vor allem an der neuen Arena in Sankt Petersburg zeigen. Mit mehr als 800 Millionen Euro Baukosten, zahlreichen Korruptionsaffären und Skandalen um ausgebeutete Arbeiter, die teilweise aus Nordkorea stammten, ist das hochmoderne Stadion seit vielen Jahren ein Symbol für alles, was nach Meinung von Putins Kritikern im Land schiefläuft. Gleichwohl ist in einer sportbegeisterten Stadt ein Stadion entstanden, das international höchsten Standards entspricht. Ganz ähnlich verlief die Entwicklung in Samara, wo das Stadion erst wenige Wochen vor der WM fertiggebaut werden konnte und dessen Bau ebenfalls von Skandalen überschattet war. Gleichwohl hat eine seit Jahrzehnten fußballbegeisterte Stadt nun ein neues Stadion, das dem lokalen Team nach dem ersehnten Aufstieg in die höchste Spielklasse langfristig einen Schub geben könnte. Über wirtschaftliche Auswirkungen sportlicher Großereignisse wird seit vielen Jahren immer wieder aufs Neue gestritten. Ökonomen, Politiker und Nichtregierungsorganisationen zeichnen dabei sehr unterschiedliche Bilder, was auch daran liegt, dass im Vorfeld oft mit recht optimistischen Prognosen gearbeitet wird. Laut Organisationskomitee tragen die Vorbereitungen auf das Turnier seit 2013 mehr als ein Prozent zum russischen Bruttoinlandsprodukt bei. Der durch das Turnier ausgelöste und im Nachklang daran erfolgende Tourismus soll bis zu Externer Link: drei Milliarden Euro Mehreinnahmen jährlich erwirtschaften. Ob all diese Zahlen sich als zutreffend erweisen werden, lässt sich noch nicht seriös sagen. Ein nicht zu unterschätzender Wert ist für die vielen Russen, die es sich nicht leisten können, ins Ausland zu reisen, der anstehende Besuch von Fußballfans aus der ganzen Welt. Bereits in Sotschi war zu beobachten, mit welchem Enthusiasmus die Menschen Gäste aus allen möglichen Ländern willkommen hießen. Das führte damals durchaus auch zu einer Verbesserung des Bildes von Russland in der Welt. Auch wenn viel von dieser Wirkung durch die kurz nach den Winterspielen erfolgte Krise um die von Russland annektierte ukrainische Halbinsel Krim und den später bekannt gewordenen Dopingbetrug vieler Wintersportler wieder eingebüßt wurde, blieb dieser positive Aspekt nachhaltig in Erinnerung. Und die russische Zivilgesellschaft? Es ist sehr selten, dass Touristen aus Japan oder Dänemark nach Saransk kommen. Aber genau das werden manche von ihnen tun, wenn ihre Mannschaften in der Gruppenphase im Süden Russlands um Punkte gegeneinander spielen. Insgesamt werden mehr als eine halbe Million ausländischer Gäste zur Weltmeisterschaft erwartet. Interessant ist auch, dass von allen Fußballfans außerhalb des Gastgeberlandes die meisten Tickets im Vorfeld von Bürgern des neuen und alten politischen Erzfeindes USA erworben wurden. Vielleicht existiert die völkerverbindende Kraft des Fußballs also doch. Eine große Rolle für die russische Zivilgesellschaft spielen Ereignisse wie die Weltmeisterschaft auch durch den Einsatz von Freiwilligen. 17.000 junge Menschen werden als Volunteers im Einsatz sein. 180.000 hatten sich beworben, weil sie unentgeltlich während der WM Parks aufräumen oder Touristen den Weg durch das komplizierte Moskauer Metro-Netz weisen wollten. In Zeiten starker gesellschaftlicher Fragmentierung und Individualisierung sind das beachtliche Zahlen. Für den massenhaften Einsatz von Freiwilligen – überwiegend handelt es sich um Studentinnen und Studenten – galten wiederum die Spiele von Sotschi als Blaupause. Noch Jahre später erkannten sich die Volunteers in ganz Russland an den mit Stolz getragenen bunten Jacken und Rucksäcken, die alle freiwilligen Helfer bekommen haben. An dieser Stelle fließen die Interessen der einfachen Bürger und der politischen Führung zusammen. Gäste von allen Kontinenten legitimieren die russischen Machteliten und erlauben auch den Bürgern des Landes einen persönlichen Kontakt mit der Welt, die sich keine teuren Reisen leisten können. Sie geben Russland und den Russen das Gefühl, Teil einer Weltgemeinschaft zu sein – auch wenn die eigene Regierung sich oft mit dieser Gemeinschaft streitet und das eigene Land auch und gerade über Abgrenzung vor allem zu den Staaten der westlichen Hemisphäre definiert. Für Oppositionelle und Regierungskritiker bietet ein Ereignis wie die Weltmeisterschaft zum einen eine Chance, ihre Anliegen weltweit hörbar vorzutragen, bedeutet gleichzeitig aber oft auch eine Verschlechterung ihrer Situation im Anschluss an das Turnier. Keine allzu großen Sorgen muss sich Putin um die Stimmung im Land machen. Das beweist nicht nur sein Wahlergebnis. Sie ist auch Resultat der flächendeckenden Kontrolle der wichtigen Medien. Zwar gibt es unabhängige Zeitungen, TV-Kanäle und vor allem Online-Plattformen in Russland, allerdings haben sie nur eine marginale Breitenwirkung. Nach Meinung des Soziologen Lew Gudkow erreichen sie gerade einmal Externer Link: sechs Prozent der Russen. Vereinfacht lässt sich sagen, dass nur junge, urbane Eliten regierungskritischen Journalismus überhaupt mitbekommen. Dadurch bleibt eine mögliche negative Auslegung einer Großveranstaltung unwahrscheinlich. Ausnahmen sind etwa die vielen Berichte über den skandalösen Bau des Stadions in Sankt Petersburg, auch in den staatlichen Medien. Ein Blick in die nahe Vergangenheit offenbart, dass die Schlüsseljahre Russlands jeweils durch eine Mischung aus sportlichen und militärisch-politischen Wegmarken gekennzeichnet waren. 2008 gewann Russland die Eishockey-Weltmeisterschaft, holte Zenit Sankt Petersburg den UEFA-Pokal, spielte sich die Sbornaja bei der Europameisterschaft bis ins Halbfinale – und bekämpfte Russland den viel kleineren Nachbar Georgien im Kaukasuskrieg. 2014 richtete das Land die Olympischen Winterspiele aus und annektierte die Krim. Die Konflikte mit Georgien und mit der Ukraine führten aber nur zu Beginn zu patriotischen Begeisterungsstürmen in weiten Teilen der russischen Gesellschaft, der Kater wegen der negativen langfristigen Folgen folgte schnell. Auch wenn am 14. Juni in Moskau das Eröffnungsspiel angepfiffen wird, sind russische Soldaten im Einsatz. Doch zeigt sich hier ein großer Unterschied: Die Beteiligung am syrischen Bürgerkrieg war in Russland noch nie besonders populär, nach repräsentativen Zahlen des Levada-Zentrums würde eine Mehrzahl der Russen sie lieber beendet sehen. Dagegen unterstützen nach wie vor 86 Prozent der Menschen den Anschluss der Krim. Der Kriegseinsatz ist also diesmal unbeliebt und die eigene Auswahl sportlich chancenlos. 2018 scheint deshalb auch bei Patrioten kaum Chancen zu haben, später einmal in einer Reihe mit den Jahren 2008 und 2014 genannt zu werden. Ein Frau bettelt in einer Unterführung in Russland. (© AP)
Article
Nik Afanasjew
"2021-06-23T00:00:00"
"2018-06-10T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/russland/270666/die-bedeutung-der-wm-fuer-russlands-politische-fuehrung-und-fuer-die-russische-gesellschaft/
Obwohl westliche Staaten mit Sanktionen auf die Annexion der Krim und den Konflikt im Osten der Ukraine reagiert haben, kommt es zu keinem Boykott des Turniers. Trotzdem bleibt seine Durchführung international umstritten. Ist die innenpolitische Bewe
[ "Fußball", "Fußball-WM", "Fußball-WM 2018", "Russland" ]
30,353
Krieg und Besatzung in Ost- und Westeuropa | Nationalsozialismus: Krieg und Holocaust | bpb.de
Brandwolken über Warschau: Unter dem Codenamen "Wasserkante" unterliegt die Millionenstadt drei Tage lang einem gnadenlosen Flächenbombardement, bis sie am 27. September kapituliert. (© Bundesarchiv, Bild 183-S56603) Einleitung Der Krieg gegen Polen wurde von Anfang an mit besonderer Brutalität geführt. Die Luftwaffe bombardierte polnische Ortschaften und machte sie dem Erdboden gleich. Auch Warschau wurde schwer von Luftangriffen zerstört, sodass die militärische Führung Polens am 27. September angesichts der deutschen Übermacht kapitulierte, nicht zuletzt, um die Hauptstadt vor weiterer Verwüstung zu retten. Die polnische Regierung war schon am 17. September ins Exil gegangen. Am selben Tag gab die sowjetische Führung den Befehl, gemäß dem mit Hitler geschlossenen Pakt in Ostpolen einzumarschieren und dieses Gebiet zu annektieren. Am 28. September schlossen Deutschland und die Sowjetunion einen Grenz- und Freundschaftsvertrag, der die Teilung Polens besiegelte. Noch war sich die deutsche Führung nicht darüber im Klaren, wie genau sie das eroberte Polen aufteilen wollte. Wie Alfred Rosenberg in seinem politischen Tagebuch notierte, erklärte Hitler ihm gegenüber am 29. September, das polnische Gebiet in drei Streifen teilen zu wollen: "1. Zwischen Weichsel und Bug: das gesamte Judentum (auch a. d. Reich) sowie alle irgendwie unzuverlässigen Elemente. An der Weichsel einen unbezwingbaren Ostwall – noch stärker als im Westen. 2. An der bisherigen Grenze ein breiter Gürtel der Germanisierung und Kolonisierung. Hier käme eine große Aufgabe für das gesamte Volk: eine deutsche Kornkammer zu schaffen, starkes Bauerntum, gute Deutsche aus aller Welt umzusiedeln. 3. Dazwischen eine polnische ‚Staatlichkeit’. Ob nach Jahrzehnten der Siedlungsgürtel vorgeschoben werden kann, muß die Zukunft erweisen.“ Die Entscheidung fiel wenig später. Statt einer "polnischen Staatlichkeit“ wurde für Zentralpolen eine deutsche Besatzungsverwaltung, das sogenannte Generalgouvernement, unter der Führung von Hans Frank gebildet. Die westlichen Gebiete Polens, ein Territorium mit rund zehn Millionen Menschen, die zu 80 Prozent Polen waren, wurden annektiert, zu den neuen Reichsgauen Wartheland und Danzig-Westpreußen erklärt und sollten "germanisiert“ werden. Das bedeutete, dass die polnische Führungsschicht, wie der Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) Reinhard Heydrich es ausdrückte, "so gut wie möglich unschädlich gemacht“, also verhaftet, in Konzentrationslager verschleppt oder erschossen werden sollte. Die restliche polnische Bevölkerung sollte vertrieben oder als Arbeitskräfte ausgebeutet werden. Die in den annektierten Gebieten lebenden Juden sollten ausnahmslos in ein "Judenreservat“ im Generalgouvernement deportiert werden. Vier Einsatzgruppen der SS und Polizei waren aufgestellt worden, die der Wehrmacht dicht auffolgten und zusammen mit bewaffneten Milizen der volksdeutschen Minderheit Zehntausende von Polen töteten. Der polnische Historiker Bogdan Musial geht davon aus, dass bis zum Jahresende 1939 im deutschen Herrschaftsbereich weit mehr als 45 000 polnische Zivilisten ermordet wurden, darunter etwa 7000 Juden. Auch die Wehrmacht war an den Morden beteiligt. Bei den deutschen Truppen war die Befürchtung, auf polnische Widerständler zu stoßen, groß. Das Oberkommando der Wehrmacht hatte in einem Merkblatt zum sogenannten polnischen Nationalcharakter Ende August unter anderem festgehalten: "Er [der Pole] ist willkürlich und rücksichtslos gegen andere. Grausamkeiten, Brutalität, Hinterlist und Lüge sind Kampfmittel, die er an Stelle der ruhigen Kraft in der Erregung gebraucht.“ In Cze˛stochowa/Tschenstochau kam es nach der Einnahme der Stadt durch die Wehrmacht am 4. September 1939 zu Schießereien, bei denen sich offenbar Soldaten auch untereinander beschossen und acht Soldaten ums Leben kamen. Die Wehrmacht riegelte das Stadtviertel ab, in dem die Schüsse gefallen waren, durchsuchte die Häuser und nahm etwa 10 000 Einwohner fest. Wer den Anschein von Widerstand zeigte, wurde auf der Stelle erschossen. Der offizielle Wehrmachtsbericht sprach von 99 Toten; bei einer späteren Exhumierung wurden 227 Leichen, Männer, Frauen und Kinder, gefunden. Ebenso beteiligten sich Wehrmachtssoldaten an den Gewalttaten gegen Juden, zumal insbesondere die jüdische Bevölkerung für angebliche Sabotageakte und Angriffe verantwortlich gemacht wurde. So erreichte eine Luftaufklärungseinheit der 10. Armee am 12. September die Stadt Kon´skie, um vier gefallene deutsche Soldaten zu beerdigen, die angeblich verstümmelt worden waren. Etwa 40 bis 50 jüdische Männer wurden festgenommen, und ihnen wurde befohlen, Gräber auszuheben. Während die Juden gruben, schlugen und misshandelten die Soldaten sie. Als die Männer glaubten, gehen zu können, und fortliefen, schoss ein Leutnant auf die Fliehenden, woraufhin auch die anderen Soldaten das Feuer eröffneten und insgesamt 22 Juden töteten. Der spätere Publizist Marcel Reich-Ranicki, der die deutsche Invasion in Warschau erlebte, schildert in seinen Memoiren, wie deutsche Soldaten sich einen Spaß daraus machten, Juden zu jagen, orthodoxen Juden die Bärte abzuschneiden oder gar anzuzünden, ihnen auf offener Straße zu befehlen, die Hosen herunterzulassen, um zu sehen, ob sie beschnitten waren oder nicht. Meist abends fanden Häuserrazzien statt, bei denen sich deutsche Soldaten schamlos bereicherten und an Wertsachen raubten, was ihnen in die Hände kam. "Jeder Deutsche, der eine Uniform trug und eine Waffe hatte, konnte in Warschau mit einem Juden tun, was er wollte. Er konnte ihn zwingen, zu singen oder zu tanzen oder in die Hosen zu machen oder vor ihm auf die Knie zu fallen und um sein Leben zu flehen. Er konnte ihn plötzlich erschießen oder auf langsamere, qualvollere Weise umbringen. […] Den Deutschen, die sich diese Späße leisteten, verdarb niemand das Vergnügen, niemand hinderte sie, Juden zu misshandeln und zu morden, niemand zog sie zur Verantwortung. Es zeigte sich, wozu Menschen fähig sind, wenn ihnen unbegrenzte Macht über andere Menschen eingeräumt wird.“ Noch gab es aber auch Widerspruch in der Armee. Generaloberst Johannes Albrecht Blaskowitz ließ die Meldungen über Misshandlungen und Gewalttaten an Juden und Polen sammeln und verfasste verschiedene Denkschriften an den Oberbefehlshaber des Heeres, in denen er gegen die Gewalt an wehrlosen Zivilisten protestierte: "Jeder Soldat fühlt sich angewidert und abgestoßen durch diese Verbrechen, die in Polen von Angehörigen des Reiches und Vertretern der Staatsgewalt begangen werden.“ Sein Protest indes verhallte, ohne dass er die Wehrmachtsführung zu einer Änderung ihrer Haltung bewegt hätte. Er selbst wurde auf Drängen des Generalgouverneurs Hans Frank als Befehlshaber in Polen abgelöst und an die Westfront versetzt. Siedlung und Vertreibung In den Verträgen mit der Sowjetunion war unter anderem geregelt, dass die deutschen Minderheiten in der Sowjetunion, vor allem aus dem Baltikum und der Ukraine, in das Deutsche Reich umgesiedelt werden sollten. Mehrere hunderttausend Menschen sollten nun in den zu "germanisierenden“ westpolnischen Gebieten angesiedelt werden. Hitler betraute am 7. Oktober 1939 den Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei Heinrich Himmler mit dieser Aufgabe. Sie umfasste, wie es in Hitlers Erlass hieß, sowohl die "Zurückführung der für die endgültige Heimkehr in das Reich in Betracht kommenden Reichs- und Volksdeutschen im Ausland“ als auch die "Ausschaltung des schädigenden Einflusses von solchen volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten“, sowie die "Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete durch Umsiedlung, im Besonderen durch die Seßhaftmachung der aus dem Ausland heimkehrenden Reichs- und Volksdeutschen“. Als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums, wie er sich selbst nannte, fiel Himmler damit eine neue, umfassende Macht zu, die für die Radikalisierung der Gewalt nicht unterschätzt werden darf. Denn er war nicht nur für die "Umsiedlung“ und "Ansiedlung“ der deutschen Minderheiten, sondern auch für die "Aussiedlung“ von "Fremdvölkischen“ und "Volksfremden“ verantwortlich. Kurze Zeit später gab er das Ziel vor: Aus den westpolnischen Provinzen Danzig-Westpreußen, Posen und Ostoberschlesien sollten sämtliche rund 550 000 Juden und die "besonders feindliche polnische Bevölkerung“ in das Generalgouvernement deportiert werden, insgesamt nahezu eine Million Menschen. Obwohl rasch deutlich wurde, dass diese Vorgaben die vorhandenen Transport- wie Aufnahmekapazitäten weit überschritten, hielt die SS unerbittlich an dem Ziel fest, Polen und Juden aus den zu "germanisierenden“ Gebieten zu vertreiben. Tatsächlich wurden bis zum 17. Dezember 1939 bereits 88 000 Menschen unter unsäglichen Bedingungen in das Generalgouvernement deportiert: in ungeheizten Viehwaggons, ohne Verpflegung, oftmals sogar ohne Trinkwasser. Generalgouverneur Hans Frank sprach die deutsche Haltung Ende November in brutaler Offenheit aus: "Der Winter wird hier ein harter Winter werden. Wenn es kein Brot gibt für Polen, soll man nicht mit Klagen kommen. […] Bei den Juden nicht viel Federlesens. Eine Freude, endlich einmal die jüdische Rasse körperlich angehen zu können. Je mehr sterben, umso besser.“ Allerdings standen den Deportationen Hindernisse entgegen. Die Reichsbahn konnte nicht genügend Züge zur Verfügung stellen, und die Behörden des Generalgouvernements klagten bald, dass die ankommenden Menschen nicht untergebracht werden könnten. Anfang Oktober 1939 versuchte die SS-Führung, über die Vertreibung der polnischen Juden hinaus auch die Verschleppung tschechischer und österreichischer Juden zu organisieren. Unter Leitung von Adolf Eichmann, der bei dieser Aktion seine ersten Erfahrungen als künftiger Experte für Deportationen des Reichssicherheitshauptamtes sammelte, wurden etwa 1500 Menschen aus Wien und rund tausend aus Mährisch-Ostrau nach Nisko am San verschleppt und die meisten von ihnen über den Fluss auf das sowjetische Besatzungsgebiet getrieben. Allerdings beanspruchte kurz darauf die Ankunft der Volksdeutschen aus dem Baltikum und Galizien die ganze Aufmerksamkeit des SS-Apparates in Polen und beendete die Nisko-Aktion, bevor sie richtig begonnen hatte. Wo jedoch Vertreibungen möglich waren, wurden sie realisiert. Ende Januar 1940 kündigte Heydrich die Deportation der gesamten jüdischen Gemeinde aus Stettin an, etwa tausend Menschen, weil man Platz für die Baltendeutschen brauche. Vierzehn Tage später wurden die Stettiner Juden in der Nacht zusammengetrieben und unter grausamen Bedingungen in den Bezirk Lublin verschleppt. Bei minus 22 Grad und im tiefen Schnee mussten diese Menschen zu Fuß dorthin marschieren, wurden nur unzureichend verpflegt, sodass innerhalb von vier Wochen nahezu ein Drittel von ihnen umkam. Nachrichten über die Umstände dieser Deportationen erschienen in der Weltpresse, was dazu beigetragen haben mag, dass Göring am 23. März 1940 "bis auf weiteres alle Evakuierungen“ in das Generalgouvernement untersagte. Die Idee eines "Judenreservats“ war vorerst gescheitert; die jüdische Bevölkerung im Wartheland wurde nun in Łodz´ und anderen Städten in Gettos zusammengepfercht, und auch im Generalgouvernement begann die deutsche Besatzungsverwaltung im Herbst 1940, Gettos in den größeren Städten einzurichten. In den annektierten westpolnischen Gebieten verfügte Göring, dass alles polnische und jüdische Eigentum entschädigungslos beschlagnahmt werde und nunmehr von der Haupttreuhandstelle Ost verwaltet würde. Die polnische Bevölkerung selbst sollte in erster Linie als Reservoir für den Arbeitseinsatz in Deutschland dienen. Generalgouverneur Frank teilte den Ortschaften feste Quoten zu, die erfüllt werden mussten. Oftmals umzingelten deutsche Polizeieinheiten ein Dorf und verhafteten die jungen Männer für den Arbeitseinsatz in Deutschland. Im Sommer 1940 arbeiteten rund 700 000 Polinnen und Polen im Deutschen Reich, nur ein Bruchteil von ihnen freiwillig. In den sowjetisch besetzten ostpolnischen Gebieten ging das stalinistische Regime ebenfalls brutal gegen die Bevölkerung vor. Schon 1937/38 waren auf dem Gebiet der Sowjetunion in der sogenannten polnischen Operation über 144 000 Menschen der Spionage für Polen angeklagt und 111 000 von ihnen erschossen worden. Nunmehr war die stalinistische Polizei ebenso wie die SS-Führung bestrebt, die polnische Führungsschicht zu vernichten. Mehr als 381 000 Menschen wurden zwischen Februar 1940 und Juni 1941 aus dem sowjetisch besetzten Ostpolen nach Sibirien und Zentralasien deportiert, das polnische Offizierskorps, das sich vor dem deutschen Angriff in die Sowjetunion zu retten geglaubt hatte, verhaftet. 15 000 polnische Offiziere wurden im April und Mai 1940 von der sowjetischen Geheimpolizei erschossen, darunter rund 4500 im Wald von Katyn (siehe auch IzpB 310 "Polen“, S. 9). Westpolnische Juden, die gehofft hatten, Zuflucht vor der Verfolgung durch die Deutschen gefunden zu haben, wurden an die Deutschen ausgeliefert. Kriegsalltag und Widerstand in Deutschland Im Deutschen Reich war von der Not der Bevölkerung im besetzten Polen nichts zu spüren. Zwar galt eine Rationierung von Lebensmitteln, und Ende August 1939 waren erste Lebensmittelkarten ausgeteilt worden. Aber Brot und Mehl blieben in den ersten vier Wochen, Quark bis Ende 1940, Kartoffeln, Gemüse und Obst bis 1941 frei verkäuflich. Noch war die Erfahrung des Mangels aus dem Ersten Weltkrieg durchaus gegenwärtig. In den Deutschlandberichten der Exil-SPD vom November 1939 ist die Beobachtung zu lesen, "dass die Nazis die Rationierungsmaßnahmen mit großem psychologischem Geschick ins Werk gesetzt haben. Sie haben zweifellos aus den Erfahrungen des letzten Krieges gelernt, dass mehr noch als der Mangel selbst, die Ungerechtigkeit in der Verteilung die Gemüter erregt. [...] Zunächst hat die sofortige Einführung der Karten und Bezugsscheine einen starken Schock ausgelöst. Aber diese Schockwirkung legte sich bald, als sich herausstellte, dass die allgemein gehegte Angst vor einer schnellen Verknappung sich als unbegründet erwies.“ Mit der Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September 1939 wurden die Zuschläge für Überstunden-, Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit abgeschafft und dadurch die Bruttolöhne spürbar gekürzt. Auch trat eine Steuererhöhung in Kraft, von der allerdings aufgrund von Ausnahmebestimmungen die Mehrzahl der Lohnsteuerpflichtigen ausgenommen war. Zusätzlich wurden die Verbrauchsteuern auf Bier, Tabak und Spirituosen erhöht. Die Streichung der Zulagen stieß sofort bei der Deutschen Arbeitsfront (DAF), aber auch bei einigen NSDAP-Gauleitern auf Kritik und führte zu heftigen internen Diskussionen. Die Sorge um die Loyalität der Arbeiter ließ die NS-Führung daraufhin eine Kehrtwende vollziehen. Am 12. Oktober wurden die Löhne und Gehälter auf dem vormaligen Niveau festgeschrieben und einen Monat später auch wieder die Zuschläge gewährt. Vom 1. Januar 1940 an galt dann der Zehnstundentag als Regelarbeitszeit, was wiederum Überstundenzuschläge bei Mehrarbeit ermöglichte. Die eingezogenen Soldaten erhielten zwar einen Wehrsold, der in der Regel deutlich unter dem bisherigen Verdienst lag, dafür wurde aber zusätzlich ein Familienunterhalt bezahlt, der sich an den "bisherigen Lebensverhältnissen“ orientieren sollte, damit durch den Militärdienst das Haushaltseinkommen der Familie nicht gemindert würde. Zudem bot der Dienst in den besetzten Gebieten reichlich Gelegenheit, Lebensmittel und andere Waren zu beschlagnahmen oder billig zu kaufen und nach Hause zu schicken. Die Konsummöglichkeiten im Reich sollten nach dem Willen der NS-Führung in keinem Fall ausgebaut, sondern zugunsten der Kriegsfinanzierung eingeschränkt bleiben. Entsprechend wuchsen die Sparguthaben mit den Geldern, die nicht ausgegeben werden konnten, überdurchschnittlich an, was die NS-Führung nicht ungern sah. Denn damit standen weitere finanzielle Mittel zur Finanzierung des Krieges zur Verfügung, die das Regime ebenso heimlich wie rücksichtslos plünderte. Die Sparkassen erhielten Schuldverschreibungen, die zwar formal die Sparguthaben sicherten. Aber faktisch wurden Millionen von Sparern kalt enteignet, was den Betroffenen allerdings erst nach dem Ende des "Dritten Reiches" klar wurde. Hitlers Popularität blieb zunächst ungebrochen. Erschütterung und Erleichterung meldeten die Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS (SD) als Reaktion der Bevölkerung auf das fehlgeschlagene Bombenattentat von Georg Elser im Münchner Bürgerbräu-Keller am 8. November 1939 (siehe unten), dem Hitler nur durch Zufall entging. Während sich die katholische Kirche mit einer offiziellen Stellungnahme zunächst zurückhielt, verurteilte die evangelische Kirche das Attentat sofort scharf. Mancherorts fanden sogar Dankgottesdienste für Hitlers Überleben statt. Später gratulierte selbst Pius XII., der vormalige Nuntius (ständiger diplomatischer Vertreter) des Vatikans in Deutschland, Hitler zu seiner Rettung, und in den katholischen Bistumszeitungen war zu lesen, dass sich die katholischen Christen mit dem ganzen deutschen Volk einig seien, Gott möge "Führer und Volk“ schützen. Besetzung Westeuropas Zwar hatten Großbritannien und Frankreich nach dem Angriff auf Polen Deutschland am 3. September 1939 den Krieg erklärt – aber er wurde nicht geführt. Es gab keine militärischen Aktionen an der Westfront, um den Kampf der polnischen Armee zu entlasten. Und nach der Kapitulation Polens fanden sich weder Frankreich noch Großbritannien bereit, Deutschland anzugreifen. Doch für die deutsche Führung war die Hegemonie auch in Westeuropa unverzichtbar. Anfang April 1940 landeten deutsche Truppen in Dänemark und Norwegen, um eine befürchtete britische Truppenlandung zu verhindern und den Import des unentbehrlichen Eisenerzes aus Schweden für die deutsche Rüstungsproduktion zu sichern. Obwohl sich ein Großteil der Generalität gegen einen Westfeldzug wandte, weil sie eine Wiederholung des Desasters des Ersten Weltkrieges befürchtete, setzte sich Hitler durch. Angesichts der stark befestigten Maginot-Linie Frankreichs wurden die begrenzten Ressourcen des deutschen Militärs in einem überraschenden Angriff durch die Ardennen konzentriert. Belgien und die Niederlande konnten somit binnen weniger Tage erobert und die französischen und britischen Truppen bis in den Raum Dünkirchen und an die Küste zurückgedrängt werden. Da die deutsche Angriffsarmee kurze Zeit innehielt, gelang es Großbritannien, über 338 000 französische und britische Soldaten vor der drohenden Gefangennahme über den Ärmelkanal zu evakuieren. Die nunmehr zahlenmäßig überlegenen deutschen Truppen schlugen die französische Armee entscheidend und zogen am 14. Juni in Paris ein. Innenpolitisch war Frankreich tief gespalten zwischen denjenigen, die den Krieg, gestützt auf die Truppen in den Kolonien, fortsetzen wollten, und denjenigen, die auf die Überlegenheit NS-Deutschlands mit Resignation reagierten. Am 17. Juni schließlich bot Marschall Philippe Pétain, der die französische Regierung leitete, den Waffenstillstand an. Hitler ließ sich die öffentliche symbolische Revanche nicht entgehen und beorderte die französische Delegation in eben jenen Eisenbahnwaggon, in dem 1918 die Deutschen vom damaligen französischen Marschall Ferdinand Foch die Waffenstillstandsbedingungen diktiert bekommen hatten. Doch nahmen sich die deutschen Bedingungen des Jahres 1940 moderat aus, da die NS-Führung verhindern wollte, dass sich die französische Flotte und die Truppen in den Kolonien auf die Seite Großbritanniens schlugen und gegen Deutschland weiterkämpften. Somit kamen nur der Norden Frankreichs und die Atlantikküste unter deutsche Militärverwaltung, während eine französische Regierung unter Pétain mit Sitz in Vichy die Kontrolle über den unbesetzten Süden sowie über die Flotte und die Kolonien behielt. "Vichy“ wurde zum Synonym für die Kollaboration großer Teile der französischen Verwaltung, insbesondere der Polizei, mit dem deutschen Besatzungsregime. Die französischen Kommunisten waren wegen des Hitler-Stalin-Paktes in die stalinistische Politik eingebunden und angewiesen, keine Angriffe gegen Deutsche zu unternehmen. Erst nach dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 gingen die Kommunisten in den Widerstand und unterstützten die Résistance in Frankreich nach Kräften. Das Deutsche Reich verfügte nun in Frankreich, Belgien und Luxemburg über bedeutende Stahlindustrien und Waffenfabriken, wichtige Eisenerz- und Kohlelager, Devisen- und Goldvorräte sowie ein Einflussgebiet, in dem insgesamt 290 Millionen Menschen lebten. Werte von nicht weniger als 154 Milliarden Francs raubten die Deutschen allein aus Frankreich, darunter Tausende von Lokomotiven und Güterwagen, die sich die Reichsbahn aus französischen Beständen holte. Nicht zuletzt hatten die Deutschen große Bestände von Benzin- und Ölvorräten erbeutet. Zusammen mit den Öllieferungen, die Deutschland im Frühjahr 1940 mit Rumänien vereinbart und sich damit das faktische Monopol auf die rumänischen Ölvorräte gesichert hatte, war die akute Versorgungskrise vorerst gebannt. Auch der junge Claus Graf von Stauffenberg war vom Westfeldzug begeistert. Der Krieg gegen Frankreich wurde ihm zum Erlebnis immerwährenden Vorwärtsstürmens: "Nach dem Durchbruch durch die Maas-Stellung eine unaufhaltsame Verfolgung bis dicht ans Meer“, schrieb er an seine Frau. "Persönlich geht es uns ausgezeichnet; die Vorräte des Landes genießen wir in vollen Zügen und gleichen so etwas den mangelnden Schlaf aus. Eier zum Frühstück, herrliche Bordeaux, Burgunder und Heidsieck, so daß sich das Sprichwort ‚Leben wie der Herrgott in Frankreich‘ durchaus bewahrheitet.“ Ebenso deuteten seine Eindrücke aus Polen im Herbst 1939 keineswegs auf die spätere Widerstandshaltung hin: "Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohlfühlt. Die Tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht gut tun. In Deutschland sind sie sicher gut zu brauchen, arbeitsam, willig und genügsam.“ Mit dem Sieg über Frankreich erreichte der "Hitler-Mythos“ zweifellos seinen Höhepunkt. Dass sich das Schreckensszenario der Westfront des Ersten Weltkrieges nicht wiederholte, sondern die deutsche Armee den "Erzfeind“ Frankreich innerhalb kürzester Zeit besiegte, löste im Reich ungeheure Erleichterung und Jubel aus. Anlässlich des Falls von Paris wurden überall die Fahnen gehisst und die Glocken geläutet. General Wilhelm Keitel, dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, wird der Ausspruch zugeschrieben, dass Hitler "der größte Feldherr aller Zeiten“ sei, was dann unter der Hand rasch als "Gröfaz“ verballhornt wurde. Im faktisch annektierten Elsass-Lothringen führte die deutsche Besatzungsmacht eine rigorose "Germanisierungspolitik“ durch. SS und Polizei trieben die dort lebenden Juden zusammen und schoben sie über die Grenze in das unbesetzte Frankreich ab. Ende September forderte Hitler von seinen beiden Gauleitern Josef Bürckel und Robert Wagner, die für das besetzte Elsass-Lothringen zuständig waren, sie hätten ihm in zehn Jahren zu melden, dass ihre Gebiete "deutsch, und zwar rein deutsch“ seien, und er werde nicht danach fragen, "welche Methoden sie angewandt hätten, um das Gebiet deutsch zu machen“. Allein aus dem Elsass wurden bis November 1940 105 000 Menschen, aus Lothringen etwa 50 000 Menschen, darunter alle lothringischen Juden, deportiert. Dennoch war die Kehrseite des Triumphs nicht zu verbergen. 11 000 deutsche Soldaten waren im Krieg gegen Polen gefallen, 30 000 verwundet worden; der Westfeldzug hatte 43 000 deutschen Soldaten das Leben gekostet, 150 000 waren verwundet worden, über 26 000 galten als vermisst. Ferner wurde Deutschland nun das Ziel britischer Luftangriffe. In den Nächten zum 11., 12. und 16. Mai 1940 bombardierten britische Flugzeuge Dortmund, Mönchengladbach und andere Orte im Ruhrgebiet. Mitte Juni erfolgten Angriffe auf Bremen und Hamburg, wobei neben erheblichem Sachschaden auch zahlreiche Tote unter der Zivilbevölkerung zu beklagen waren. Hatte der SD im Frühjahr noch gemeldet, dass die Bombenangriffe "keine ernsthafte Beunruhigung unter der Bevölkerung“ hervorgerufen hätten, klangen die Meldungen im Sommer bereits besorgter. Nach den Angriffen auf Düsseldorf und andere rheinisch-westfälische Städte im Juni 1940 sei die Bevölkerung heftig aufgebracht gewesen über eine zu frühzeitige Entwarnung. "Im allgemeinen tröstet man sich mit der Erwartung, daß es nun bald ein Ende mit diesen Angriffen haben werde.“ Dieser Optimismus nährte sich aus der Hoffnung, dass nach Frankreich nun auch England rasch angegriffen und besiegt würde. Jedoch machte die Insellage eine Landung von Bodentruppen zu einem riskanten Unternehmen. Stattdessen wollte die NS-Führung Großbritannien durch Luftangriffe zur Aufgabe zwingen. QuellentextEin Einzelkämpfer: Georg Elser Georg Elser (1903-1945) stammte aus einfachen Verhältnissen. Der Vater hatte seinen Bauernhof auf der Schwäbischen Alb heruntergewirtschaftet. Als 14-Jähriger begann Elser zunächst eine Eisendreherlehre, brach diese aus gesundheitlichen Gründen ab und fing an, Tischler zu lernen. Seit Mitte der 1920er-Jahre arbeitete er dann bei verschiedenen Firmen in der Bodenseeregion. Er galt als schweigsamer, aber geselliger Mensch, spielte Ziehharmonika und wählte die Kommunisten, „weil ich dachte“, so gab Elser später in der Gestapo-Vernehmung zu Protokoll, „das ist eine Arbeiterpartei, die sich sicher für die Arbeiter einsetzt. Mitglied dieser Partei bin ich jedoch nie gewesen.“ Vor allem sah er klar, dass die Politik der NS-Führung auf den Krieg zusteuerte. Im Herbst 1938 kam Elser zu dem Entschluss, dass der Krieg nur durch ein Attentat auf Hitler verhindert werden könne. Systematisch ging er zu Werk. Noch im November 1938 inspizierte er den Bürgerbräu-Keller in München, weil er die jährliche Gedenkfeier, an der neben Hitler die gesamte NS-Führung teilnahm, für den Anschlag ausgewählt hatte. Er besorgte sich Sprengkapseln aus einem Steinbruch sowie Armaturen für den Zündmechanismus, baute selbst einen Zeitzünder, fuhr dann im August 1939 nach München und ließ sich 30 Nächte lang im Bürgerbrau-Keller unentdeckt einschließen, um die Säule neben Hitlers Rednerpult vorsichtig zu präparieren. Am 6. November schließlich deponierte er die Bombe und stellte den Zeitzünder auf den Abend des 8. November, 21:20 Uhr ein. Allerdings herrschte an diesem Abend schlechtes Flugwetter, sodass Hitler nur mit der Bahn zurück nach Berlin fahren konnte und seine Rede deswegen eine halbe Stunde früher begann. Auch war sie deutlich kürzer als üblich. Fünf Minuten nach 21 Uhr verließ Hitler den Saal, eine Viertelstunde später explodierte der Sprengkörper. Von den rund 200 Menschen, die sich in dem Raum befanden, wurden acht getötet und 63 verletzt. Nur zufällig ging Georg Elser schon am Abend des 8. November ins Netz der Polizei, als er bei dem Versuch, illegal die Schweizer Grenze zu überschreiten, verhaftet wurde. Elser wurde gefoltert und gestand wenige Tage später die Tat. Am 22. November kamen die Zeitungen mit der triumphierenden Schlagzeile heraus: „Der Attentäter gefaßt. Täter: Georg Elser – Auftraggeber: Britischer Geheimdienst.“ Diese Lesart hielt sich bis in die Nachkriegszeit hinein, denn es erschien kaum glaublich, dass ein einfacher Arbeiter imstande gewesen sein sollte, die nationalsozialistische Politik so klarsichtig zu durchschauen und allein auf sich gestellt ein Attentat auf den „Führer“ durchzuführen. Georg Elser wurde ins KZ Sachsenhausen, später ins KZ Dachau gebracht und noch in den letzten Kriegstagen, am 9. April 1945, ermordet. In der Bundesrepublik dauerte es lange, bis er als Widerstandskämpfer anerkannt wurde. 1998 wurde in seinem Heimatort Königsbronn eine Gedenkstätte eingerichtet. (www.georg-elser-arbeitskreis.de) Luftkrieg gegen Großbritannien Anfang August 1940 begann die deutsche Luftwaffe mit Bombardierungen britischer Ziele, um eine Invasion deutscher Truppen vorzubereiten. Aber Hitler fand in Premierminister Winston Churchill, der eine nationale Kriegsregierung aus allen Parteien zusammengestellt hatte, einen hartnäckigen Gegner. England verfügte über eine moderne Luftwaffe, eine mittlerweile leistungsfähige Rüstungsindustrie und konnte der Unterstützung durch die USA gewiss sein. Mit seiner berühmten "Blut, Schweiß und Tränen“-Rede vom 13. Mai 1940 hatte Churchill erfolgreich an die Opferbereitschaft seiner Landsleute appelliert, an ihren Widerstandswillen und die Behauptung der eigenen Freiheit. Ungeachtet der großen eingesetzten Bomberflotte erlitten die deutschen Flugzeuge empfindliche Verluste, da die britischen Jäger gezielt die abwehrschwachen Bomber ins Visier nahmen und die Zahl der deutschen Jagdflugzeuge für den Schutz der Bomber nicht ausreichte. Zudem befand sich ein Großteil der britischen Luftrüstungsindustrie außerhalb der Reichweite der deutschen Flugzeuge. Als Ende August erkennbar wurde, dass die Kriegsführung, die sich bis dahin auf militärische und wirtschaftliche Ziele konzentriert hatte, erfolglos blieb, befahl die deutsche Führung, die Luftangriffe auf britische Städte, in erster Linie London, auszuweiten. Vor allem die Zivilbevölkerung wurde dadurch in Mitleidenschaft gezogen. Die Großangriffe und selbst das schwere Bombardement von Coventry in der Nacht vom 14. auf den 15. November konnten jedoch den Widerstandswillen der britischen Bevölkerung nicht brechen, obwohl die Verluste mit 23 000 Toten, darunter fast 3000 Kinder, bis zum Jahresende 1940 sehr hoch waren. Zudem unterschätzten die deutschen Militärs massiv die britische Flugzeugproduktion, die in der Lage war, immer neue Jagdflugzeuge herzustellen und einzusetzen. Das strategische Ziel, die Luftüberlegenheit zu erreichen, um die Landeoperation deutscher Truppen zu ermöglichen, wurde verfehlt. England war aus der Luft nicht zu besiegen, die Landung musste "bis auf weiteres“ verschoben werden – eine schwere Niederlage für Hitler. Dieser änderte daraufhin die Strategie und entschloss sich, den Krieg um "Lebensraum“ gegen die Sowjetunion, der ursprünglich erst nach der Niederlage Englands beginnen sollte, vorzuziehen, um dann – nach dem sicher geglaubten Sieg über die Rote Armee – England endgültig zur Aufgabe zwingen zu können. Am 18. Dezember 1940 erteilte Hitler die Weisung Nr. 21 (Fall "Barbarossa“) zur Vorbereitung eines Angriffs auf die Sowjetunion. In einer von vornherein aussichtslosen Aktion versuchte Rudolf Heß, offiziell der "Stellvertreter des Führers“, durch einen Flug nach Großbritannien am 11. Mai 1941 doch noch einen Friedensvertrag mit England zu erreichen. Als Hitler von der eigenmächtigen, nicht mit ihm abgesprochenen Tat erfuhr, war er entsetzt und suchte jeden Eindruck, die deutsche Führung sei gespalten, rasch zu zerstreuen. Während dem deutschen Publikum erklärt wurde, Heß sei geistig verwirrt – was nicht ohne Tücken war, eröffnete sich doch damit die Frage, wieso eine psychisch kranke Person der Stellvertreter Hitlers sein konnte –, gingen die Briten auf das angebliche Friedensangebot Heß’ überhaupt nicht ein, sondern internierten und verhörten ihn. Seine Funktion innerhalb der NSDAP, nunmehr Leitung der Parteikanzlei genannt, nahm Martin Bormann ein. Noch während die Vorbereitungen für den Krieg gegen die Sowjetunion liefen, zwangen die Fehlschläge der italienischen Armee in Griechenland und Nordafrika den deutschen Verbündeten dazu, die militärisch bedrohte Flanke im Südosten Europas zu sichern. Am 6. April 1941 begann Deutschland den Krieg auf dem Balkan, der, nachdem die Hauptstadt Belgrad durch Luftangriffe verwüstet worden war, mit der Kapitulation Jugoslawiens am 17. April und Griechenlands wenige Tage später endete. Serbien und Griechenland wurden von deutschen Truppen besetzt und durch eine Militärverwaltung beherrscht. In Kroatien, das sowohl von deutschen wie auch von italienischen Truppen besetzt war, entstand eine vom Deutschen Reich abhängige faschistische Regierung, die Ustascha, die in ihrem Gebiet mit brutaler Gewalt gegen Serben, Juden und Roma vorging. Quellentext„… blood, toil, tears and sweat“ Winston Churchill vor dem britischen Unterhaus am 13. Mai 1940 […] „it must be remembered that we are in the preliminary stage of one of the greatest battles in history, that we are in action at many points in Norway and in Holland, that we have to be prepared in the Mediterranean, that the air battle is continuous and that many preparations have to be made here at home. In this crisis I hope I may be pardoned if I do not address the House at any length today. I hope that any of my friends and colleagues, or former colleagues, who are affected by the political reconstruction, will make all allowances for any lack of ceremony with which it has been necessary to act. I would say to the House, as I said to those who've joined this government: I have nothing to offer but blood, toil, tears and sweat. We have before us an ordeal of the most grievous kind. We have before us many, many long months of struggle and of suffering. You ask, what is our policy? I will say: It is to wage war, by sea, land and air, with all our might and with all the strength that God can give us; to wage war against a monstrous tyranny, never surpassed in the dark and lamentable catalogue of human crime. That is our policy. You ask, what is our aim? I can answer in one word: victory. Victory at all costs, victory in spite of all terror, victory, however long and hard the road may be; for without victory, there is no survival. Let that be realised; no survival for the British Empire, no survival for all that the British Empire has stood for, no survival for the urge and impulse of the ages, that mankind will move forward towards its goal.“ […] http://www.fiftiesweb.com/usa/winston-churchill-blood-toil.htm (zuletzt abgerufen: 30.10.2012) […] [„m]an muss aber bedenken, dass wir uns im Anfangsstadium einer der größten Schlachten der Weltgeschichte befinden, dass wir an vielen Punkten Norwegens und Hollands kämpfen, dass wir im Mittelmeer kampfbereit sein müssen, dass der Luftkrieg ohne Unterlass weitergeht und dass wir hier im Lande viele Vorbereitungen treffen müssen. Ich hoffe, man wird mir verzeihen, wenn ich in dieser kritischen Lage mich heute nicht mit einer längeren Aussprache an das Haus wende. Ich hoffe, dass jeder meiner jetzigen oder früheren Kollegen, der von der Regierung berührt wird, den etwaigen Mangel an Förmlichkeit, mit der wir vorgehen mussten, nachsehen wird. Ich möchte zum Hause sagen, wie ich zu denen sagte, die dieser Regierung beigetreten sind: ‚Ich habe nichts zu bieten als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß‘. Wir haben vor uns eine Prüfung der schmerzlichsten Art. Wir haben vor uns viele, viele lange Monate des Kampfes und Leidens. Sie fragen, was unsere Politik ist; ich will sagen: ‚Es ist Krieg zu führen, zu Wasser, zu Land und in der Luft, mit all unserer Macht und mit all der Kraft, die Gott uns geben kann, und Krieg zu führen gegen eine ungeheuerliche Gewaltherrschaft, die nie übertroffen worden ist in der dunklen, beklagenswerten Liste menschlichen Verbrechens.‘ Das ist unsere Politik. Sie fragen, was unser Ziel ist: ich kann in einem Worte erwidern: es ist der Sieg – Sieg um jeden Preis – Sieg trotz aller Schrecken, Sieg, wie lang und hart auch immer der Weg sein mag, denn ohne Sieg gibt es kein Überleben – seien Sie sich darüber klar – kein Überleben für das Britische Weltreich, kein Überleben für all das, wofür das Britische Weltreich eingetreten ist, kein Überleben für das Drängen und Streben der Zeitalter, dass die Menschheit sich vorwärts bewege ihrem Ziel entgegen.“ […] http://www.rhetorik-netz.de/rhetorik/index.html (zuletzt abgerufen: 30.10.2012) Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion Was Hitler mit dem "Lebensraumkrieg“ gegen die Sowjetunion 1941 beabsichtigte, formulierte er unverhohlen in seinen Anweisungen Anfang März 1941 an den Chef des Wehrmachtsführungsstabes Alfred Jodl: "Dieser kommende Feldzug ist mehr als nur ein Kampf der Waffen; er führt auch zur Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen. […] Die jüdisch-bolschewistische Intelligenz, als bisheriger ‚Unterdrücker‘ des Volkes, muß beseitigt werden.“ Von Anfang an planten NS- und Wehrmachtsführung einen verbrecherischen Krieg gegen die sowjetische Bevölkerung. Der "Kommissarbefehl“, demzufolge alle politischen Offiziere der Roten Armee nicht gefangen genommen, sondern sofort erschossen werden sollten, durchbrach ebenso alle geltenden Kriegsrechtsregeln wie der Befehl, dass deutsche Soldaten, die sich gewalttätiger Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung schuldig gemacht hätten, nicht vor ein Kriegsgericht zu stellen seien. QuellentextKommissarbefehl [Stempel:] Geheime Kommandosache. Oberkommando der Wehrmacht, F.H.Qu., den 6.6.1941 WFSt/Abt. L. (IV/Qu), [Stempel:] Chefsache! Nur durch Offizier! Nr. 44 822/41 g.K.Chefs., 20 Ausfertigungen, [handschriftlich:] 18. Ausfertigung Im Nachgang zum Führererlaß vom 14.5. über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet „Barbarossa“ (OKW/WFSt/Abt. L (IV/Qu) Nr. 44718/41 g.Kdos.Chefs.) werden anliegend „Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare“ übersandt. Es wird gebeten, die Verteilung nur bis zu den Oberbefehlshabern der Armeen bezw. Luftflottenchefs vorzunehmen und die weitere Bekanntgabe an die Befehlshaber und Kommandeure mündlich erfolgen zu lassen. Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht I. A. gez. Warlimont […] Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare. Im Kampf gegen den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlichkeit oder des Völkerrechts nicht zu rechnen. Insbesondere ist von den politischen Kommissaren aller Art als den eigentlichen Trägern des Widerstandes eine haßerfüllte, grausame und unmenschliche Behandlung unserer Gefangenen zu erwarten. Die Truppe muss sich bewusst sein: 1.) In diesem Kampfe ist Schonung und völkerrechtliche Rücksichtnahme diesen Elementen gegenüber falsch. Sie sind eine Gefahr für die eigene Sicherheit und die schnelle Befriedung der eroberten Gebiete. 2.) Die Urheber barbarisch asiatischer Kampfmethoden sind die politischen Kommissare. Gegen diese muss daher sofort und ohne weiteres mit aller Schärfe vorgegangen werden. Sie sind daher, wenn im Kampf oder Widerstand ergriffen, grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen. […] www.ns-archiv.de/krieg/1941/kommissarbefehl.php (zuletzt abgerufen: 30. 10. 2012) Da die NS- und Wehrmachtsführung damit rechnete, dass die Angriffsarmee aus drei Millionen deutschen Soldaten, die rasch voranmarschieren sollten, nicht mit den herkömmlichen Nachschublinien würde verpflegt werden können, lautete die Anweisung, die Soldaten sollten sich aus dem Land selbst ernähren. Da auch in der Sowjetunion nur begrenzte Ernährungsressourcen zur Verfügung standen, hieß dies, wie eine Staatssekretärsbesprechung in Berlin im Mai 1941 festhielt, dass "zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.“ Hitler selbst erklärte, Moskau und Leningrad dem Erdboden gleichmachen zu wollen, "um zu verhindern, dass Menschen darin bleiben, die wir dann im Winter ernähren müssten“. Selbst General Erich Hoepner, der später aktives Mitglied des militärischen Widerstandes gegen Hitler werden sollte, formulierte in seinem Aufmarschbefehl vom 2. Mai 1941: "Der Krieg gegen Russland ist die zwangsläufige Folge des uns aufgedrungenen Kampfes um das Dasein. Es ist der alte Kampf der Germanen gegen das Slawentum, die Verteidigung europäischer Kultur gegen moskowitisch-asiatische Überschwemmung, die Abwehr des jüdischen Bolschewismus. Dieser Kampf muß die Zertrümmerung des heutigen Russlands zum Ziel haben und deshalb mit unerhörter Härte geführt werden.“ Am 22. Juni 1941 griff die deutsche Wehrmacht mit drei Millionen Soldaten, verstärkt durch weitere rund 600 000 Soldaten der verbündeten Mächte, die Sowjetunion an. Deren Führung war offenkundig von dem Angriff überrascht worden; die Verteidigungslinien brachen rasch zusammen, und die deutschen Armeen konnten innerhalb weniger Wochen weit in die Sowjetunion vordringen und in großen Kesselschlachten Millionen Rotarmisten gefangen nehmen. Der Sieg schien in greifbarer Nähe zu sein. Um die Versorgung der sowjetischen Kriegsgefangenen kümmerte sich die Wehrmachtsführung nicht. Schon beim Marsch in die Lager starben Zehntausende; innerhalb der Lager wurden die Kriegsgefangenen nur unzureichend untergebracht, häufig auf freiem Feld, in das sich die Rotarmisten selbst Erdhöhlen graben mussten. Bis in den September 1941 hinein waren die Lebensmittelrationen noch einigermaßen ausreichend, dann entschieden Wehrmachtsführung und Ernährungsministerium, die Rationen drastisch zu senken sowie die erschöpften und unterversorgten Kriegsgefangenen buchstäblich verhungern zu lassen. Mehr als die Hälfte der 3,7 Millionen sowjetischen Soldaten, die 1941 gefangen genommen worden waren, starb bis zum Frühjahr 1942 – ein Verbrechen, für das in erster Linie die Wehrmacht verantwortlich war. Heinrich Himmler und die SS erhielten "Sonderaufgaben im Auftrage des Führers“, die sich "aus dem endgültig auszutragenden Kampf zweier entgegengesetzter politischer Systeme“ ergaben, wie es in den Richtlinien des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) hieß. Neben den berüchtigten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD wurden zahlreiche weitere Einheiten der Ordnungspolizei und der Waffen-SS aufgestellt, die den Höheren SS- und Polizeiführern (HSSPF) unterstanden, die die Mordeinsätze anordneten und koordinierten. Die Einsatzkommandos, so Reinhard Heydrich in einem Schreiben vom 2. Juli 1941 an die HSSPF, hätten "alle diejenigen Fahndungs- und Exekutionsmaßnahmen zu treffen, die zur politischen Befriedung der besetzten Gebiete erforderlich sind“. Die Kommandos hatten demnach weitgehend freie Hand, um jeweils selbstständig vor Ort Entscheidungen zu treffen. Auf einen Befehlsnotstand, wie es SS-Täter nach dem Krieg vor Gericht taten, konnten sich diese Männer nicht berufen. Konkret gab Heydrich an, dass folgende Personengruppen zu erschießen seien: "alle Funktionäre der Komintern (wie überhaupt die kommunistischen Berufspolitiker schlechthin), die höheren, mittleren und radikalen unteren Funktionäre der Partei, der Zentralkomitees, der Gau- und Gebietskomitees, Volkskommissare, Juden in Partei- und Staatsstellungen, sonstigen radikalen Elemente (Saboteure, Propagandeure, Heckenschützen, Attentäter, Hetzer usw.)“. Damit umriss er recht präzise den Feind, den die Einsatzkommandos vernichten sollten: den "jüdischen Bolschewisten“. Es ging ähnlich wie in Polen 1939 um die Liquidierung der politischen Führungsschicht, um die Ermordung der kommunistischen Funktionäre und der Juden in Verwaltung, Staat und Partei, von denen die antisemitischen Täter im Reichssicherheitshauptamt wie selbstverständlich annahmen, dass sie die personelle Trägerschicht des Bolschewismus darstellten. Die Juden waren aus nationalsozialistischer Sicht die Feinde per se, die die "Sicherheit“ bedrohten und die "Befriedung“ der eroberten Gebiete gefährdeten. Von ihnen ging angeblich die größte Gefahr aus, die letztlich nur durch ihre Vernichtung wirksam bekämpft werden konnte. "Wo der Jude ist, ist der Partisan, und wo der Partisan ist, ist der Jude“, lautete der Merksatz eines Wehrmachtslehrgangs zur Partisanenbekämpfung im September 1941 im weißrussischen Mogilew. In den ersten Wochen richteten sich die Mordaktionen der SS-Einsatzgruppen vornehmlich gegen jüdische Männer, aber auch Frauen und Kinder wurden nicht verschont. So trieben etwa in Bialystok Angehörige eines Polizeibataillons am 27. Juni 1941 circa 2000 Juden – Männer, Frauen und Kinder – in die örtliche Synagoge und zündeten diese an, sodass die Menschen bei lebendigem Leib verbrannten. Im Laufe des Sommers weitete sich die Vernichtung auf ganze jüdische Gemeinden, einschließlich der Frauen, Kinder und alten Menschen, aus. Im ukrainischen Kamenez-Podolsk ermordeten Einheiten des Höheren SS- und Polizeiführers Friedrich Jeckeln Ende August über 26 000 Juden, Ende September wurden an nur zwei Tagen in der Schlucht von Babij Jar bei Kiew mehr als 33 000 Menschen durch SS und Polizei erschossen. Pioniere der Wehrmacht sprengten anschließend die Ränder der Schlucht, um die Leichen unter dem Schutt zu begraben. Deutsche Soldaten beteiligten sich an den Mordtaten gegen die Zivilbevölkerung, sicherten die Erschießungsstätten ab, brannten ganze Dörfer nieder, raubten den Bauern Lebensmittel, vergewaltigten Frauen und fotografierten zuhauf die Hinrichtungen angeblicher Partisanen. "Wenn man diese primitiven Verhältnisse nicht mit eigenen Augen gesehen hat“, schrieb der Soldat Hans-Albert Giese am 12. Juli 1941, "kann man nicht glauben, dass es so etwas noch gibt. […] Die Viehställe bei uns sind manchmal Gold gegenüber der besten Stube bei diesen ‚Waldheinis‘ von Russen. Das ist vielleicht ein Pack, schlimmer als die Zigeuner.“ Derlei Überheblichkeit gegenüber der Zivilbevölkerung, die als "Untermenschen“ betrachtet wurden, gegen die jedes Mittel zur Beherrschung gerechtfertigt sei, findet sich in zahllosen Feldpostbriefen einfacher Soldaten. Ende 1941 lebte im Baltikum nur noch ein Bruchteil der einstmals 230 000 litauischen und 70 000 lettischen Juden. Bis März 1942 ermordeten SS und Polizei wie auch die Wehrmacht nahezu 600 000 Menschen in den eroberten Gebieten der Sowjetunion, Juden ebenso wie Roma und Sinti oder Kommunisten. In der Perspektive der SS- und Wehrmachtsführungen entledigte man sich damit der "überzähligen Esser“ und schuf "Sicherheit“ in den schwer zu kontrollierenden Orten auf dem Land, während in den Gettos der größeren Städte die dort zusammengepferchten, als arbeitsfähig eingestuften jüdischen Menschen vorerst vom Tod ausgenommen wurden, um Zwangsarbeit zu verrichten. Die SS plante indes weiter. Kurz vor dem Angriff gab Himmler als "Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ einen umfassenden Plan zur Besiedlung der neu eroberten Gebiete in der Sowjetunion in Auftrag. Dieser "Generalplan Ost“ sah vor, dass 80 bis 85 Prozent der polnischen Bevölkerung, 64 Prozent der Ukrainer und 75 Prozent der Weißrussen aus ihrer Heimat "entfernt" werden sollten, sei es durch Hunger, durch Vertreibung oder Umsiedlung in unwirtliche Gegenden am Eismeer. Die annektierten westpolnischen Gebiete, das Generalgouvernement, Lettland, Estland und große Teile Ostmitteleuropas sollten innerhalb von 20 Jahren vollständig deutsch werden. Insgesamt sollten mindestens 31 Millionen Menschen entweder deportiert, vertrieben oder ermordet werden. Darunter war die jüdische Bevölkerung gar nicht mehr erwähnt, von ihrer Vernichtung ging dieser Plan bereits wie selbstverständlich aus. Der Angriff der deutschen Armeen geriet nach anfänglichen Erfolgen bald ins Stocken. Der Feldzug war als "Blitzkrieg“ geplant, die Rote Armee sollte innerhalb weniger Monate bis spätestens zum Herbst niedergeschlagen sein. Entsprechend waren die Soldaten nur mit Sommerkleidung ausgestattet, die Munitionsvorräte reichten für maximal zwölf Monate, eine personelle Reserve der deutschen Truppen war nicht vorbereitet. Anfänglich gelang es der Wehrmacht, in groß angelegten Kesselschlachten Millionen sowjetischer Soldaten gefangen zu nehmen und rasch in das sowjetische Gebiet vorzustoßen. Die sowjetische Armee erwies sich jedoch als kampfstärker als angenommen. Zudem war es der sowjetischen Führung gelungen, wichtige Produktionsanlagen vor dem deutschen Vormarsch abzubauen und in das Hinterland zu verlagern, sodass die Rüstungsproduktion aufrechterhalten werden konnte. Im August bekannte der Generalstabschef des Heeres, Franz Halder, in seinem Kriegstagebuch, dass der "Koloß Russland, der sich bewusst auf den Krieg vorbereitet hat, mit der ganzen Hemmungslosigkeit, die totalitären Staaten eigen ist, von uns unterschätzt worden ist. […] Wir haben bei Kriegsbeginn mit etwa 200 feindlichen Div[isionen] gerechnet. Jetzt zählen wir bereits 360. Diese Div[isionen] sind sicherlich nicht in unserem Sinne bewaffnet und ausgerüstet, sie sind taktisch vielfach ungenügend geführt. Aber sie sind da. Und wenn ein Dutzend davon zerschlagen wird, dann stellt der Russe ein neues Dutzend hin.“ Deutsche Truppen standen im Baltikum, belagerten Leningrad, hatten Minsk, Kiew und Charkow eingenommen und waren bis westlich von Rostow vorgedrungen. Die Reserven waren erschöpft, die deutschen Verluste betrugen fast 400 000 Mann, es fehlte an frischen Truppen, zudem verwandelte das einsetzende Herbstwetter die Straßen in Schlammwege, auf denen nur schwer voranzukommen war. Der Angriff auf Moskau blieb Ende November wenige Kilometer vor den Stadtgrenzen stecken. Stalin, der erkannt hatte, dass nicht mit einem Angriff des deutschen Verbündeten Japan auf die Sowjetunion zu rechnen sei, konnte frische Truppen aus Fernost nach Moskau heranbringen lassen und befahl den Gegenangriff. Inzwischen hatte der Winter eingesetzt und gegen Temperaturen bis zu 34 Grad unter Null waren die erschöpften deutschen Soldaten gänzlich unzureichend ausgestattet. Die sowjetische Gegenoffensive, die am 5. Dezember 1941 begann, geriet zum Desaster für die deutsche Armee, die zurückflüchtete. Hitler griff persönlich ein, setzte den bisherigen Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldmarschall Walther von Brauchitsch, ab und leitete von nun an selbst als Oberbefehlshaber die Geschicke des Heeres. Die Bilanz des Feldzuges war verheerend. Zwischen Juni 1941 und März 1942 verlor die Wehrmacht über eine Million Soldaten, die entweder gefallen, verwundet oder vermisst waren. Der personelle Ersatz konnte diesen Verlust nicht aufwiegen; in den künftigen Kriegsjahren sollten die meisten deutschen Divisionen nie mehr ihre Sollstärke erreichen können. Die deutsche Luftwaffe hatte zwar zu Beginn des Krieges ihre Überlegenheit gezeigt, doch der permanente Einsatz hatte die Flugzeuge verschlissen. Die deutsche Rüstungsproduktion war auf einen kurzen Feldzug eingestellt gewesen und musste nun auf einen längerfristigen Krieg umgerüstet werden. Gegenüber den Produktionskapazitäten der Alliierten, insbesondere der USA, die im Dezember 1941 nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor selbst in den Krieg eingetreten waren, war die deutsche Industrie jedoch von vornherein unterlegen. Nach der Niederlage vor Moskau war allen hellsichtigen Militärs klar, dass der Krieg, den Deutschland 1939 begonnen hatte, nicht mehr gewonnen werden konnte. QuellentextDas Los der sowjetischen Kriegsgefangenen „Ein großer Teil verhungert,“ Februar 1942. Alfred Rosenberg (1893-1946), Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, glaubt, dass sich die Ziele der NS-Politik im Osten eher mit Unterstützung einheimischer Arbeitskräfte und Verbündeter erreichen lassen. In einem Schreiben an den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel (1882-1946), vom 28. Februar 1942 beschwert er sich: „Von den 3,6 Millionen Kriegsgefangenen sind heute nur noch einige Hunderttausend voll arbeitsfähig. Ein großer Teil von ihnen ist verhungert oder durch die Unbilden der Witterung umgekommen. Tausende sind auch dem Fleckfieber erlegen. Es versteht sich von selbst, dass die Ernährung derartiger Massen von Kriegsgefangenen auf Schwierigkeiten stieß. Immerhin hätte bei einem gewissen Verständnis für die von der deutschen Politik angestrebten Ziele ein Sterben und Verkommen in dem geschilderten Ausmaß vermieden werden können. Innerhalb der Sowjet-Union war z. B. nach vorliegenden Nachrichten die einheimische Bevölkerung durchaus gewillt, den Kriegsgefangenen Lebensmittel zur Verfügung zu stellen. Einige einsichtige Lagerkommandanten haben diesen Weg auch mit Erfolg beschritten. In der Mehrzahl der Fälle haben jedoch die Lagerkommandanten es der Zivilbevölkerung untersagt, den Kriegsgefangenen Lebensmittel zur Verfügung zu stellen, und sie lieber dem Hungertode ausgeliefert. Auch auf dem Marsch in die Lager wurde es der Zivilbevölkerung nicht erlaubt, den Kriegsgefangenen Lebensmittel darzureichen. Ja, in vielen Fällen, in denen Kriegsgefangene auf dem Marsch vor Hunger und Erschöpfung nicht mehr mitkommen konnten, wurden sie vor den Augen der entsetzten Zivilbevölkerung erschossen und die Leichen liegen gelassen. In zahlreichen Lagern wurde für eine Unterkunft der Kriegsgefangenen überhaupt nicht gesorgt. Bei Regen und Schnee lagen sie unter freiem Himmel. Ja, es wurde ihnen nicht einmal das Gerät zur Verfügung gestellt, um sich Erdlöcher oder Höhlen zu graben. [...] Zu erwähnen wären endlich noch die Erschießungen von Kriegsgefangenen, die zum Teil nach Gesichtspunkten durchgeführt wurden, die jedes politische Verständnis vermissen lassen. So wurden z. B. in verschiedenen Lagern die „Asiaten“ erschossen, obwohl gerade die Bewohner der zu Asien rechnenden Gebiete Transkaukasien und Turkestan die am schärfsten gegen die russische Unterdrückung und den Bolschewismus eingestellten Bevölkerungsteile der Sowjet-Union abgeben. Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete hat wiederholt auf diese Missstände hingewiesen. Trotzdem ist z. B. noch im November in einem Kriegsgefangenenlager bei Nikolajew ein Kommando erschienen, das die „Asiaten“ liquidieren wollte.“ Ernst Klee / Willi Dressen (Hg.), „Gott mit uns“. Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten 1939-1945, S. Fischer Verlag, Frankfurt 1989, S. 142-147 „Was bedeutet ein Menschenleben?“ Auszug aus einem Feldpostbrief Leutnant A. B., 19. Oktober 1942: „[...] Ich erlebe z. Zt. schreckliche Tage. Jeden Tag sterben 30 meiner Gefangenen, oder ich muß sie erschießen lassen. Es ist bestimmt ein Bild des Grauens. [...] Die Gefangenen, nur teilweise bekleidet, teils ohne Mantel, werden nicht mehr trocken. Das Essen ist nicht ausreichend, und so brechen sie, einer nach dem anderen, zusammen. Ich kann sie dann nicht mehr heimbringen [...]. Wenn man so sieht, was eigentlich ein Menschenleben bedeutet, dann geht eine innere Umwandlung im eigenen Denken vor. Eine Kugel, ein Wort, und ein Leben ist nicht mehr. Was ist ein Menschenleben? So habe ich mich zu dem endgültigen Entschluss durchgerungen, mir nun in meinem Leben keine gesellschaftlichen Schranken anzulegen, sondern daß ich von jetzt ab lebe von einem Tag in den anderen. [...]“ Ortwin Buchbender / Reinhold Sterz (Hg.), Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939-1945, Br. 302. 2. Aufl. C. H. Beck Verlag, München 1983, S. 150 f. QuellentextAblauf einer Mordaktion: Ein Täter berichtet „Als weiteren Vorfall erinnere ich mich an eine Erschießung größeren Ausmaßes an einem Brunnen nach Kachowka gelegen. Es war dies ein am oberen Rand etwa 6 bis 7 Meter messendes Erdloch in der Steppe. Es soll sich um einen vertrockneten Brunnen gehandelt haben. Nahe dieses Brunnens war Getreide aufgestellt. Man kann dieses aufgestellte Getreide als Diemen, Stiegen oder wie man will bezeichnen. Wir Schutzpolizisten wurden mit dem Mannschaftswagen zu diesem Brunnen hingefahren. Es war von diesem Brunnen aus weit und breit keine Ortschaft zu sehen. Eine Feldscheune befand sich nicht in dessen Nähe. Die Opfer, es waren mehrere hundert, können sogar an die tausend Männer und Frauen gewesen sein, wurden mit Lastwagen herangefahren. An Kinder kann ich mich im Augenblick nicht erinnern. Die herangebrachten Leute mußten sich etwa 100 Meter von dem Brunnen entfernt in eine vom Regen ausgewaschene Mulde legen oder knieen und mußten dort auch ihre Oberbekleidung ablegen. Es wurden immer so an die 10 Leute an den Brunnenrand gestellt und diese von einem gleichstarken Exekutionskommando, worunter auch ich war, von hinten erschossen. Die Leute stürzten nach Schußabgabe vornüber in den Brunnen. Es kam auch vor, daß einige aus Angst lebend hineinsprangen. Das Erschießungskommando wurde mehrfach ausgewechselt. Auf Grund der seelischen Belastung, der auch ich ausgesetzt war, kann ich heute beim besten Willen nicht mehr sagen, wie oft ich an der Grube stand und wie oft ich zurücktreten durfte. Man kann sich ja vorstellen, daß diese Erschießungen nicht in der Ruhe vor sich gingen, wie man sie heute erörtern kann. Die Frauen schrieen und weinten, ebenso auch die Männer. Teilweise gab es Ausreißversuche. Die Zutreiber schrieen ebenso laut. Wenn die Opfer nicht so wollten, wie sie sollten, gab es auch Schläge. Hierbei ist mir besonders ein rothaariger SD-Mann in Erinnerung, der immer ein Stück Kabel bei sich hatte, und wenn die Aktion nicht so lief, wie sie gehen sollte, damit auf die Leute einschlug. Vielfach aber kamen sie freiwillig zur Hinrichtungsstätte. Sie hatten ja auch gar keine andere Wahl. […] Das Erschießungskommando an diesem Brunnen bestand aus Schutzpolizisten, Waffen-SS-Angehörigen und SD-Leuten. Wir Schutzpolizisten schossen mit unseren Karabinern, die SD-Leute mit Maschinenpistolen und Pistolen. Es hatte auf jeden Fall jeder seine Waffe in der Hand. Die benötigte Munition wurde aus bereitstehenden Kisten ausgegeben. An der Exekutionsstätte hat es grauenhaft ausgesehen. Am Brunnenrand befand sich eine Menge Blut, und es lagen wohl auch Hirnteile am Boden. Die Opfer mußten, wenn sie herangeführt wurden, da hineintreten. Aber nicht erst dort bemerkten sie, was ihnen bevorstand, sondern schon von ihrem Lagerplatz her konnten sie ja das Schießen und die Schreie hören. […] Die Erschießung hat, bis das letzte Opfer im Brunnen war, einen knappen Nachmittag gedauert. Von dieser Exekution weiß ich noch genau, daß die SD-Leute hinterher besoffen waren, und daher eine Sonderzuteilung an Schnaps bekommen haben mußten. Wir Schutzpolizisten haben nichts bekommen, und ich weiß noch, daß wir uns darüber sehr aufgeregt haben.“ Aussage des Schutzpolizisten T., Mitglied des Einsatzkommandos 10a vom 26. 1. 1965: 213 AR 1898/66, Bd. XI, Bl. 2516 ff. Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg in: Ernst Klee u. a. (Hg.), „Schöne Zeiten“. Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1988, S. 64 f. QuellentextDie Massenerschießung in der Schlucht von Babij Jar bei Kiew [...] Am 29. und 30. September 1941 erschoss die SS in der Schlucht von Babij Jar nach eigenen Angaben 33 771 Juden. [...] Aufruf des Stadtkommandanten von Kiew: Alle Juden der Stadt Kiew und ihrer Umgebung haben am 29. September 1941 gegen 8 Uhr morgens an der Ecke Mjelnikowskaja- und Dochturowskaja-Straße (neben den Friedhöfen) zu erscheinen. Mitzubringen sind: Papiere, Geld, Wertsachen, sowie warme Kleidung, Wäsche usw. Wer von den Juden dieser Anordnung nicht Folge leistet und an einem anderen Ort angetroffen werden sollte, wird erschossen. Wer von den Bürgern in die von den Juden verlassenen Wohnungen eindringt und Sachen an sich nimmt, wird erschossen. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944. Ausstellungskatalog, Hamburg 1996, S. 78 „Also los, fangt an zuzuschütten“ – aus dem Bericht einer Überlebenden, 1966: Der Bericht von Dina Pronitschewa ist in der sowjetischen Zeitschrift Junost, Nr. 8/1966 wiedergegeben und wurde von ihr in einer Zeugenaussage am 9. Februar 1967 vor einem sowjetischen Staatsanwalt für ein deutsches Strafverfahren bestätigt. Dina ging etwa in der zweiten Zehnergruppe. Sie passierten den Korridor des Grabens, und vor ihnen öffnete sich ein sandiger Steinbruch mit fast senkrechten Wänden. Es war schon halbdunkel. Dina konnte den Steinbruch nur schlecht übersehen. Im Gänsemarsch schickte man alle schnell, zur Eile antreibend, nach links, auf einen sehr schmalen Vorsprung. Links war die Wand, rechts eine Grube, und der Vorsprung war offensichtlich eigens für die Erschießung herausgeschnitten. Er war so schmal, dass sich die Leute, wenn sie über ihn gingen, instinktiv an die sandige Wand drückten, um nicht zu fallen. Dina blickte nach unten. Ihr schwindelte, so tief schien es ihr zu sein. Unten war ein Meer von blutigen Körpern. Auf der gegenüberliegenden Seite des Steinbruchs konnte sie die dort aufgestellten leichten Maschinengewehre ausmachen, dort befanden sich auch einige deutsche Soldaten. Sie hatten ein Lagerfeuer angezündet, auf dem sie anscheinend irgend etwas kochten. Als die ganze Kette der Unglücklichen auf den Vorsprung getrieben worden war, entfernte sich einer der Deutschen vom Lagerfeuer, ging ans Maschinengewehr und begann zu schießen. Dina sah es nicht so sehr, wie sie es fühlte, dass die Körper von dem Vorsprung hinabstürzten, und sie merkte, wie die Geschosskette sich ihr näherte. Ihr zuckte es durch den Kopf: „Sofort bin ich dran, jetzt …“ Und sie wartete nicht, sondern stürzte sich, die Fäuste ballend, in die Tiefe. Ihr schien es, als ob sie eine ganze Ewigkeit fallen würde, es war ja tatsächlich auch sehr tief. Beim Aufprall fühlte sie weder einen Stoß noch einen Schmerz. Sofort war sie von oben bis unten mit warmem Blut bedeckt, über ihr Gesicht strömte Blut, weil sie gleichsam in eine Wanne mit Blut gefallen war. Sie lag, breitete die Arme aus, schloss die Augen, vernahm irgendwelche dumpfen Töne, Stöhnen, Schluckauf und Weinen ringsumher und unter sich hervor: Es gab viele, die noch nicht ganz tot waren. Diese ganze Masse aus Leibern bewegte sich kaum merklich, senkte sich und verdichtete sich durch die Bewegung der verschütteten noch Lebenden. Soldaten stiegen auf den Vorsprung und begannen mit Laternen nach unten zu leuchten, sie schossen aus Pistolen auf diejenigen, die ihnen noch am Leben zu sein schienen. Aber nicht weit von Dina stöhnte jemand immer noch weiter. Sie hörte sie näherkommen, sie waren schon auf den Leichen. Die Deutschen kletterten herunter, bückten sich, nahmen den Getöteten irgend etwas ab, dabei schossen sie von Zeit zu Zeit in die sich bewegende Masse. [...] Nach einigen Minuten hörte sie eine Stimme von oben: „Also los, fangt an zuzuschütten!“ Schaufeln begannen zu knirschen, man hörte das dumpfe Klatschen des Sandes auf die Körper, es kam immer näher, und schließlich begannen die Sandhäufchen auch auf Dina zu fallen. Sie wurde zugeschüttet, aber sie rührte sich nicht, solange ihr Mund noch nicht zugeschüttet war. Sie lag mit dem Gesicht nach oben, atmete Sand ein, verschluckte sich und instinktiv, ohne sich darüber im klaren zu sein, begann sie sich in panischer Furcht hin und her zu wälzen, schon eher bereit, sich erschießen zu lassen, als bei lebendigem Leibe begraben zu werden. Mit der linken gesunden Hand begann sie, den Sand von sich wegzuscharren, verschluckte sich wieder, hätte um ein Haar gehustet und konnte mit äußerster Mühe diesen Husten unterdrücken. Aber ihr wurde leichter. Schließlich kroch sie unter der Erde hervor. Dort oben hatten sie aufgehört. Sie hatten den Sand nur darübergestreut und waren dann fortgegangen. Dinas Augen waren voller Sand. Es herrschte eine Höllenfinsternis, und die Luft war so schwer. Dina näherte sich der nächsten Sandwand, lange, lange, langsam machte sie sich vorsichtig an sie heran, dann stand sie auf und begann mit der linken Hand Löcher in die Wand zu machen. So presste sie sich an die Wand, machte Löcher und kletterte Fußbreit um Fußbreit nach oben, dabei in jeder Sekunde riskierend, abzustürzen. Oben fand sich ein Strauch, sie ertastete ihn, klammerte sich verzweifelt an, und in dem Moment, als sie sich über den Rand schwingen wollte, hörte sie eine leise Stimme, vor der sie beinahe wieder zurückgestürzt wäre. „Tante, erschrick nicht, ich bin auch am Leben.“ Es war ein Junge in Unterwäsche. Er kroch genauso wie sie heraus. Der Junge zitterte. „Sei leise“, zischelte sie ihm zu. „Kriech hinter mir“. Und so krochen sie zusammen weiter, irgendwohin, schweigend. Ernst Klee / Willi Dreesen (Hg.), „Gott mit uns“. Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten 1939-1945, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1989, S. 127-129 Zit. nach Steffens/Lange (s. Lit.), Bd. 2, S. 120 ff. QuellentextEnthemmte Gewalt im Vernichtungskrieg ZEIT Geschichte: In keinem anderen Krieg der Geschichte haben so viele Menschen in solchem Ausmaß gemordet wie während des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion. Herr Heer, Sie haben mit der Wehrmachtsausstellung von 1995 maßgeblich dazu beigetragen, diese Verbrechen der Öffentlichkeit bewusst zu machen; Sie, Herr Welzer, haben sich als Sozialpsychologe intensiv mit Fragen der Täterpsychologie befasst. Wie waren diese Gewalttaten möglich? Harald Welzer: Menschen sind meines Erachtens grundsätzlich zu allem fähig, daher wundert es mich nicht, dass sie auch in diesem Krieg zu allem fähig waren – zumal der Möglichkeitsraum für Gewalt von Anfang an so weit geöffnet wurde, wie man es sich überhaupt nur vorstellen kann. Etwa durch die verbrecherischen Befehle, die den Soldaten Straffreiheit bei Gewalttaten an Zivilisten garantierten. Hannes Heer: Um aber das Besondere des Geschehens zu erfassen, muss man die Vorgeschichte anschauen. Vom späten 19. Jahrhundert an kursierten in Deutschland völkisch-nationalistische Großmachtfantasien, 1933 bot sich dann in den Augen vieler die letzte Chance, doch noch zu erreichen, womit man im Ersten Weltkrieg gescheitert war: Deutschland zur Weltmacht zu machen. Diese Verheißung wirkte wie Starkstrom – und trug im Kern schon die Gewalt in sich, die im Zweiten Weltkrieg eskalierte. [...] ZEIT Geschichte: Dass gemordet wurde, weil gemordet werden durfte, ist mittlerweile Konsens in der Täterforschung. Welche Rolle aber spielten Zwang und Angst? Wie groß waren die Spielräume des Einzelnen im Krieg? Heer: Im Kampf, an der Front, gab es keine Spielräume. Außerhalb des Kampfgeschehens hingegen herrschte kein Befehlsnotstand. Ein Beispiel: Zwei deutsche Soldaten sollen Gefangene abführen. Wenn man einen Kameraden dabeihatte, der ähnliche Ansichten vertrat, konnte man frei entscheiden. Man konnte die Gefangenen zum Beispiel laufen lassen und hinterher sagen: Die wollten fliehen, wir haben sie auf der Flucht erschossen. Welzer: Oder umgekehrt: Man knallt die einfach ab, obwohl es weder eine Order noch irgendeinen Grund dafür gibt [...] Heer: Bestimmten Befehlen konnte man sich auch verweigern, etwa wenn es um Erschießungen von Juden ging. Das wurde keineswegs drakonisch bestraft, wie später oft behauptet, und die Soldaten wussten das. Das Risiko war ein anderes: dass man durch fortgesetzte Verweigerung aus dem Zentrum der Gruppe an die Peripherie geriet und zum Außenseiter wurde. Und holten einen die Kameraden dann noch raus, wenn man verwundet im Kornfeld lag? Da hieß es dann womöglich: Der mit seinen moralischen Gefühlsduseleien, jetzt hat er seine Lektion bekommen. ZEIT Geschichte: Neben der bekannten Ausrede, man habe morden müssen, steht die Behauptung, nichts gewusst zu haben – schon gar nicht vom Massenmord an den Juden. Welzer: Wir haben zwei sehr starke Belege dafür, dass alle, und zwar wirklich alle, gewusst haben müssen, was mit den Juden geschah. Der erste Beleg ist die Detailliertheit dessen, was im Gespräch über die Massenerschießungen und die Vergasungen geäußert wird. Der zweite ist das komplette Fehlen von Verwunderung angesichts dieser Erzählungen. Dass jemand sagt: Was erzählst du denn da für einen Quatsch! – das kommt nicht vor. Stattdessen kreisen die Fragen um die Details: wie die Leichen in den Gruben geschichtet werden, damit möglichst viele hineinpassen, wie groß die Gruben sind, ob auch Frauen und Kinder erschossen werden. Heer: Eine beliebte Ausrede lautet: Ich war an dem und dem Abschnitt, da haben wir nichts mitbekommen. Doch das ist unglaubwürdig. Wenn die Soldaten zum Beispiel Urlaub hatten und nach Hause fuhren, saßen sie oft eine Woche und länger in der Eisenbahn, und da wurde natürlich geredet! Vor allem über alles, was extrem war: also auch über die Judenerschießungen. Dasselbe gilt für die Lazarette. Das waren riesige Informationsbörsen, da erfuhr man alles. [...] ZEIT Geschichte: Wenn die Brutalisierung der Männer im Krieg so unglaublich schnell vonstattenging, wie verhielt es sich umgekehrt nach 1945: Konnten sich die Soldaten genauso schnell wieder in die Zivilgesellschaft einfügen? Oder ist der Prozess der Enthumanisierung, wie er im Vernichtungskrieg stattgefunden hat, irreversibel? Welzer: Da kann man nur spekulieren. Es scheint, als hätten sich die Deutschen wenigstens nach außen hin schnell an die neuen Gegebenheiten angepasst – statt Nationalsozialismus herrschte nun Demokratie, statt Krieg Frieden. So schnell die Menschen in die Gewaltlogik des Vernichtungskrieges eingestiegen waren, so schnell scheint es, kamen sie da auch wieder raus. Gewalt war nun einfach nicht mehr gefragt und bildete keine Rahmenbedingung mehr für das eigene Handeln. Deshalb haben sich die zurückgekehrten Wehrmachtsoldaten auch nicht in marodierende Gangs verwandelt. Heer: In einigen Institutionen, etwa bei der Polizei – oder wenn ich an die Lehrer denke, die mich unterrichtet haben –, waren die Kontinuitäten zu den Jahren vor 1945 aber doch sehr stark, personell wie mental. Natürlich wurde die eigene Gewaltgeschichte transformiert und auf die neue Lage angepasst. Welzer: Aufs Ganze gesehen ist es aber wirklich erstaunlich, wie schnell sich Verhältnisse relativer Normalität herstellten. Was nicht heißen soll, dass die Erfahrung extremer Gewalt, sei es erfahrene, ausgeübte oder beobachtete, am Einzelnen so ohne Weiteres vorüberging. Die Zerstörung körperlicher Integrität ist etwas ganz Furchtbares, das tiefe Spuren in der Psyche hinterlässt. Diese Verletzungen reichen über Generationsgrenzen hinaus. ZEIT Geschichte: Dennoch hat der Krieg gegen die Sowjetunion noch immer keinen festen Platz in der deutschen Erinnerungskultur – weder in der privaten noch in der öffentlichen. Wie ist das zu erklären? Heer: Es ist immer schwer, an eigene Verbrechen zu erinnern. Im Fall des Holocaust ist dies in Deutschland halbwegs gelungen. Dass der Vernichtungskrieg als Ganzes nicht annähernd so fest im Bewusstsein verankert ist, hat damit zu tun, dass bei der Wehrmacht gleichsam die gesamte deutsche Gesellschaft betroffen war: In so ziemlich jeder Familie gab es Männer, die den Krieg mitgemacht hatten. Die Strategie der ehemaligen Wehrmachtsoldaten und ihrer Familien war es folglich, die begangenen Verbrechen zu verschweigen, umzudeuten und zu verleugnen. Dazu kam ein eigenes Opfernarrativ, das schon bald die deutsche Erinnerungskultur beherrschte. Und sicherlich spielte es auch eine Rolle, dass man nach 1949, im antikommunistischen Klima des Kalten Kriegs, an die Feindbilder der Nazizeit anschließen und sich wunderbar rechtfertigen konnte. Welzer: Was die Rolle der Ideologie angeht, bin ich auch hier skeptisch, aber ansonsten kann ich zustimmen. Wobei es in diesem Fall natürlich auch noch einen ganz schlichten und profanen Grund für das schlechte Gedächtnis der Deutschen gibt: Es ist immer unangenehm, sich an einen Krieg zu erinnern, den man verloren hat. Christian Staas / Volker Ulrich „Ein Erlebnis absoluter Macht“, in: ZEITonline vom 24. Mai 2011 http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2011/02/Wehrmachtsoldaten-Interview-Heer-Welzer/komplettansicht (zuletzt abgerufen: 30.10.2012) Brandwolken über Warschau: Unter dem Codenamen "Wasserkante" unterliegt die Millionenstadt drei Tage lang einem gnadenlosen Flächenbombardement, bis sie am 27. September kapituliert. (© Bundesarchiv, Bild 183-S56603) Georg Elser (1903-1945) stammte aus einfachen Verhältnissen. Der Vater hatte seinen Bauernhof auf der Schwäbischen Alb heruntergewirtschaftet. Als 14-Jähriger begann Elser zunächst eine Eisendreherlehre, brach diese aus gesundheitlichen Gründen ab und fing an, Tischler zu lernen. Seit Mitte der 1920er-Jahre arbeitete er dann bei verschiedenen Firmen in der Bodenseeregion. Er galt als schweigsamer, aber geselliger Mensch, spielte Ziehharmonika und wählte die Kommunisten, „weil ich dachte“, so gab Elser später in der Gestapo-Vernehmung zu Protokoll, „das ist eine Arbeiterpartei, die sich sicher für die Arbeiter einsetzt. Mitglied dieser Partei bin ich jedoch nie gewesen.“ Vor allem sah er klar, dass die Politik der NS-Führung auf den Krieg zusteuerte. Im Herbst 1938 kam Elser zu dem Entschluss, dass der Krieg nur durch ein Attentat auf Hitler verhindert werden könne. Systematisch ging er zu Werk. Noch im November 1938 inspizierte er den Bürgerbräu-Keller in München, weil er die jährliche Gedenkfeier, an der neben Hitler die gesamte NS-Führung teilnahm, für den Anschlag ausgewählt hatte. Er besorgte sich Sprengkapseln aus einem Steinbruch sowie Armaturen für den Zündmechanismus, baute selbst einen Zeitzünder, fuhr dann im August 1939 nach München und ließ sich 30 Nächte lang im Bürgerbrau-Keller unentdeckt einschließen, um die Säule neben Hitlers Rednerpult vorsichtig zu präparieren. Am 6. November schließlich deponierte er die Bombe und stellte den Zeitzünder auf den Abend des 8. November, 21:20 Uhr ein. Allerdings herrschte an diesem Abend schlechtes Flugwetter, sodass Hitler nur mit der Bahn zurück nach Berlin fahren konnte und seine Rede deswegen eine halbe Stunde früher begann. Auch war sie deutlich kürzer als üblich. Fünf Minuten nach 21 Uhr verließ Hitler den Saal, eine Viertelstunde später explodierte der Sprengkörper. Von den rund 200 Menschen, die sich in dem Raum befanden, wurden acht getötet und 63 verletzt. Nur zufällig ging Georg Elser schon am Abend des 8. November ins Netz der Polizei, als er bei dem Versuch, illegal die Schweizer Grenze zu überschreiten, verhaftet wurde. Elser wurde gefoltert und gestand wenige Tage später die Tat. Am 22. November kamen die Zeitungen mit der triumphierenden Schlagzeile heraus: „Der Attentäter gefaßt. Täter: Georg Elser – Auftraggeber: Britischer Geheimdienst.“ Diese Lesart hielt sich bis in die Nachkriegszeit hinein, denn es erschien kaum glaublich, dass ein einfacher Arbeiter imstande gewesen sein sollte, die nationalsozialistische Politik so klarsichtig zu durchschauen und allein auf sich gestellt ein Attentat auf den „Führer“ durchzuführen. Georg Elser wurde ins KZ Sachsenhausen, später ins KZ Dachau gebracht und noch in den letzten Kriegstagen, am 9. April 1945, ermordet. In der Bundesrepublik dauerte es lange, bis er als Widerstandskämpfer anerkannt wurde. 1998 wurde in seinem Heimatort Königsbronn eine Gedenkstätte eingerichtet. (www.georg-elser-arbeitskreis.de) Winston Churchill vor dem britischen Unterhaus am 13. Mai 1940 […] „it must be remembered that we are in the preliminary stage of one of the greatest battles in history, that we are in action at many points in Norway and in Holland, that we have to be prepared in the Mediterranean, that the air battle is continuous and that many preparations have to be made here at home. In this crisis I hope I may be pardoned if I do not address the House at any length today. I hope that any of my friends and colleagues, or former colleagues, who are affected by the political reconstruction, will make all allowances for any lack of ceremony with which it has been necessary to act. I would say to the House, as I said to those who've joined this government: I have nothing to offer but blood, toil, tears and sweat. We have before us an ordeal of the most grievous kind. We have before us many, many long months of struggle and of suffering. You ask, what is our policy? I will say: It is to wage war, by sea, land and air, with all our might and with all the strength that God can give us; to wage war against a monstrous tyranny, never surpassed in the dark and lamentable catalogue of human crime. That is our policy. You ask, what is our aim? I can answer in one word: victory. Victory at all costs, victory in spite of all terror, victory, however long and hard the road may be; for without victory, there is no survival. Let that be realised; no survival for the British Empire, no survival for all that the British Empire has stood for, no survival for the urge and impulse of the ages, that mankind will move forward towards its goal.“ […] http://www.fiftiesweb.com/usa/winston-churchill-blood-toil.htm (zuletzt abgerufen: 30.10.2012) […] [„m]an muss aber bedenken, dass wir uns im Anfangsstadium einer der größten Schlachten der Weltgeschichte befinden, dass wir an vielen Punkten Norwegens und Hollands kämpfen, dass wir im Mittelmeer kampfbereit sein müssen, dass der Luftkrieg ohne Unterlass weitergeht und dass wir hier im Lande viele Vorbereitungen treffen müssen. Ich hoffe, man wird mir verzeihen, wenn ich in dieser kritischen Lage mich heute nicht mit einer längeren Aussprache an das Haus wende. Ich hoffe, dass jeder meiner jetzigen oder früheren Kollegen, der von der Regierung berührt wird, den etwaigen Mangel an Förmlichkeit, mit der wir vorgehen mussten, nachsehen wird. Ich möchte zum Hause sagen, wie ich zu denen sagte, die dieser Regierung beigetreten sind: ‚Ich habe nichts zu bieten als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß‘. Wir haben vor uns eine Prüfung der schmerzlichsten Art. Wir haben vor uns viele, viele lange Monate des Kampfes und Leidens. Sie fragen, was unsere Politik ist; ich will sagen: ‚Es ist Krieg zu führen, zu Wasser, zu Land und in der Luft, mit all unserer Macht und mit all der Kraft, die Gott uns geben kann, und Krieg zu führen gegen eine ungeheuerliche Gewaltherrschaft, die nie übertroffen worden ist in der dunklen, beklagenswerten Liste menschlichen Verbrechens.‘ Das ist unsere Politik. Sie fragen, was unser Ziel ist: ich kann in einem Worte erwidern: es ist der Sieg – Sieg um jeden Preis – Sieg trotz aller Schrecken, Sieg, wie lang und hart auch immer der Weg sein mag, denn ohne Sieg gibt es kein Überleben – seien Sie sich darüber klar – kein Überleben für das Britische Weltreich, kein Überleben für all das, wofür das Britische Weltreich eingetreten ist, kein Überleben für das Drängen und Streben der Zeitalter, dass die Menschheit sich vorwärts bewege ihrem Ziel entgegen.“ […] http://www.rhetorik-netz.de/rhetorik/index.html (zuletzt abgerufen: 30.10.2012) [Stempel:] Geheime Kommandosache. Oberkommando der Wehrmacht, F.H.Qu., den 6.6.1941 WFSt/Abt. L. (IV/Qu), [Stempel:] Chefsache! Nur durch Offizier! Nr. 44 822/41 g.K.Chefs., 20 Ausfertigungen, [handschriftlich:] 18. Ausfertigung Im Nachgang zum Führererlaß vom 14.5. über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet „Barbarossa“ (OKW/WFSt/Abt. L (IV/Qu) Nr. 44718/41 g.Kdos.Chefs.) werden anliegend „Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare“ übersandt. Es wird gebeten, die Verteilung nur bis zu den Oberbefehlshabern der Armeen bezw. Luftflottenchefs vorzunehmen und die weitere Bekanntgabe an die Befehlshaber und Kommandeure mündlich erfolgen zu lassen. Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht I. A. gez. Warlimont […] Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare. Im Kampf gegen den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlichkeit oder des Völkerrechts nicht zu rechnen. Insbesondere ist von den politischen Kommissaren aller Art als den eigentlichen Trägern des Widerstandes eine haßerfüllte, grausame und unmenschliche Behandlung unserer Gefangenen zu erwarten. Die Truppe muss sich bewusst sein: 1.) In diesem Kampfe ist Schonung und völkerrechtliche Rücksichtnahme diesen Elementen gegenüber falsch. Sie sind eine Gefahr für die eigene Sicherheit und die schnelle Befriedung der eroberten Gebiete. 2.) Die Urheber barbarisch asiatischer Kampfmethoden sind die politischen Kommissare. Gegen diese muss daher sofort und ohne weiteres mit aller Schärfe vorgegangen werden. Sie sind daher, wenn im Kampf oder Widerstand ergriffen, grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen. […] www.ns-archiv.de/krieg/1941/kommissarbefehl.php (zuletzt abgerufen: 30. 10. 2012) „Ein großer Teil verhungert,“ Februar 1942. Alfred Rosenberg (1893-1946), Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, glaubt, dass sich die Ziele der NS-Politik im Osten eher mit Unterstützung einheimischer Arbeitskräfte und Verbündeter erreichen lassen. In einem Schreiben an den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel (1882-1946), vom 28. Februar 1942 beschwert er sich: „Von den 3,6 Millionen Kriegsgefangenen sind heute nur noch einige Hunderttausend voll arbeitsfähig. Ein großer Teil von ihnen ist verhungert oder durch die Unbilden der Witterung umgekommen. Tausende sind auch dem Fleckfieber erlegen. Es versteht sich von selbst, dass die Ernährung derartiger Massen von Kriegsgefangenen auf Schwierigkeiten stieß. Immerhin hätte bei einem gewissen Verständnis für die von der deutschen Politik angestrebten Ziele ein Sterben und Verkommen in dem geschilderten Ausmaß vermieden werden können. Innerhalb der Sowjet-Union war z. B. nach vorliegenden Nachrichten die einheimische Bevölkerung durchaus gewillt, den Kriegsgefangenen Lebensmittel zur Verfügung zu stellen. Einige einsichtige Lagerkommandanten haben diesen Weg auch mit Erfolg beschritten. In der Mehrzahl der Fälle haben jedoch die Lagerkommandanten es der Zivilbevölkerung untersagt, den Kriegsgefangenen Lebensmittel zur Verfügung zu stellen, und sie lieber dem Hungertode ausgeliefert. Auch auf dem Marsch in die Lager wurde es der Zivilbevölkerung nicht erlaubt, den Kriegsgefangenen Lebensmittel darzureichen. Ja, in vielen Fällen, in denen Kriegsgefangene auf dem Marsch vor Hunger und Erschöpfung nicht mehr mitkommen konnten, wurden sie vor den Augen der entsetzten Zivilbevölkerung erschossen und die Leichen liegen gelassen. In zahlreichen Lagern wurde für eine Unterkunft der Kriegsgefangenen überhaupt nicht gesorgt. Bei Regen und Schnee lagen sie unter freiem Himmel. Ja, es wurde ihnen nicht einmal das Gerät zur Verfügung gestellt, um sich Erdlöcher oder Höhlen zu graben. [...] Zu erwähnen wären endlich noch die Erschießungen von Kriegsgefangenen, die zum Teil nach Gesichtspunkten durchgeführt wurden, die jedes politische Verständnis vermissen lassen. So wurden z. B. in verschiedenen Lagern die „Asiaten“ erschossen, obwohl gerade die Bewohner der zu Asien rechnenden Gebiete Transkaukasien und Turkestan die am schärfsten gegen die russische Unterdrückung und den Bolschewismus eingestellten Bevölkerungsteile der Sowjet-Union abgeben. Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete hat wiederholt auf diese Missstände hingewiesen. Trotzdem ist z. B. noch im November in einem Kriegsgefangenenlager bei Nikolajew ein Kommando erschienen, das die „Asiaten“ liquidieren wollte.“ Ernst Klee / Willi Dressen (Hg.), „Gott mit uns“. Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten 1939-1945, S. Fischer Verlag, Frankfurt 1989, S. 142-147 „Was bedeutet ein Menschenleben?“ Auszug aus einem Feldpostbrief Leutnant A. B., 19. Oktober 1942: „[...] Ich erlebe z. Zt. schreckliche Tage. Jeden Tag sterben 30 meiner Gefangenen, oder ich muß sie erschießen lassen. Es ist bestimmt ein Bild des Grauens. [...] Die Gefangenen, nur teilweise bekleidet, teils ohne Mantel, werden nicht mehr trocken. Das Essen ist nicht ausreichend, und so brechen sie, einer nach dem anderen, zusammen. Ich kann sie dann nicht mehr heimbringen [...]. Wenn man so sieht, was eigentlich ein Menschenleben bedeutet, dann geht eine innere Umwandlung im eigenen Denken vor. Eine Kugel, ein Wort, und ein Leben ist nicht mehr. Was ist ein Menschenleben? So habe ich mich zu dem endgültigen Entschluss durchgerungen, mir nun in meinem Leben keine gesellschaftlichen Schranken anzulegen, sondern daß ich von jetzt ab lebe von einem Tag in den anderen. [...]“ Ortwin Buchbender / Reinhold Sterz (Hg.), Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939-1945, Br. 302. 2. Aufl. C. H. Beck Verlag, München 1983, S. 150 f. „Als weiteren Vorfall erinnere ich mich an eine Erschießung größeren Ausmaßes an einem Brunnen nach Kachowka gelegen. Es war dies ein am oberen Rand etwa 6 bis 7 Meter messendes Erdloch in der Steppe. Es soll sich um einen vertrockneten Brunnen gehandelt haben. Nahe dieses Brunnens war Getreide aufgestellt. Man kann dieses aufgestellte Getreide als Diemen, Stiegen oder wie man will bezeichnen. Wir Schutzpolizisten wurden mit dem Mannschaftswagen zu diesem Brunnen hingefahren. Es war von diesem Brunnen aus weit und breit keine Ortschaft zu sehen. Eine Feldscheune befand sich nicht in dessen Nähe. Die Opfer, es waren mehrere hundert, können sogar an die tausend Männer und Frauen gewesen sein, wurden mit Lastwagen herangefahren. An Kinder kann ich mich im Augenblick nicht erinnern. Die herangebrachten Leute mußten sich etwa 100 Meter von dem Brunnen entfernt in eine vom Regen ausgewaschene Mulde legen oder knieen und mußten dort auch ihre Oberbekleidung ablegen. Es wurden immer so an die 10 Leute an den Brunnenrand gestellt und diese von einem gleichstarken Exekutionskommando, worunter auch ich war, von hinten erschossen. Die Leute stürzten nach Schußabgabe vornüber in den Brunnen. Es kam auch vor, daß einige aus Angst lebend hineinsprangen. Das Erschießungskommando wurde mehrfach ausgewechselt. Auf Grund der seelischen Belastung, der auch ich ausgesetzt war, kann ich heute beim besten Willen nicht mehr sagen, wie oft ich an der Grube stand und wie oft ich zurücktreten durfte. Man kann sich ja vorstellen, daß diese Erschießungen nicht in der Ruhe vor sich gingen, wie man sie heute erörtern kann. Die Frauen schrieen und weinten, ebenso auch die Männer. Teilweise gab es Ausreißversuche. Die Zutreiber schrieen ebenso laut. Wenn die Opfer nicht so wollten, wie sie sollten, gab es auch Schläge. Hierbei ist mir besonders ein rothaariger SD-Mann in Erinnerung, der immer ein Stück Kabel bei sich hatte, und wenn die Aktion nicht so lief, wie sie gehen sollte, damit auf die Leute einschlug. Vielfach aber kamen sie freiwillig zur Hinrichtungsstätte. Sie hatten ja auch gar keine andere Wahl. […] Das Erschießungskommando an diesem Brunnen bestand aus Schutzpolizisten, Waffen-SS-Angehörigen und SD-Leuten. Wir Schutzpolizisten schossen mit unseren Karabinern, die SD-Leute mit Maschinenpistolen und Pistolen. Es hatte auf jeden Fall jeder seine Waffe in der Hand. Die benötigte Munition wurde aus bereitstehenden Kisten ausgegeben. An der Exekutionsstätte hat es grauenhaft ausgesehen. Am Brunnenrand befand sich eine Menge Blut, und es lagen wohl auch Hirnteile am Boden. Die Opfer mußten, wenn sie herangeführt wurden, da hineintreten. Aber nicht erst dort bemerkten sie, was ihnen bevorstand, sondern schon von ihrem Lagerplatz her konnten sie ja das Schießen und die Schreie hören. […] Die Erschießung hat, bis das letzte Opfer im Brunnen war, einen knappen Nachmittag gedauert. Von dieser Exekution weiß ich noch genau, daß die SD-Leute hinterher besoffen waren, und daher eine Sonderzuteilung an Schnaps bekommen haben mußten. Wir Schutzpolizisten haben nichts bekommen, und ich weiß noch, daß wir uns darüber sehr aufgeregt haben.“ Aussage des Schutzpolizisten T., Mitglied des Einsatzkommandos 10a vom 26. 1. 1965: 213 AR 1898/66, Bd. XI, Bl. 2516 ff. Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg in: Ernst Klee u. a. (Hg.), „Schöne Zeiten“. Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1988, S. 64 f. [...] Am 29. und 30. September 1941 erschoss die SS in der Schlucht von Babij Jar nach eigenen Angaben 33 771 Juden. [...] Aufruf des Stadtkommandanten von Kiew: Alle Juden der Stadt Kiew und ihrer Umgebung haben am 29. September 1941 gegen 8 Uhr morgens an der Ecke Mjelnikowskaja- und Dochturowskaja-Straße (neben den Friedhöfen) zu erscheinen. Mitzubringen sind: Papiere, Geld, Wertsachen, sowie warme Kleidung, Wäsche usw. Wer von den Juden dieser Anordnung nicht Folge leistet und an einem anderen Ort angetroffen werden sollte, wird erschossen. Wer von den Bürgern in die von den Juden verlassenen Wohnungen eindringt und Sachen an sich nimmt, wird erschossen. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944. Ausstellungskatalog, Hamburg 1996, S. 78 „Also los, fangt an zuzuschütten“ – aus dem Bericht einer Überlebenden, 1966: Der Bericht von Dina Pronitschewa ist in der sowjetischen Zeitschrift Junost, Nr. 8/1966 wiedergegeben und wurde von ihr in einer Zeugenaussage am 9. Februar 1967 vor einem sowjetischen Staatsanwalt für ein deutsches Strafverfahren bestätigt. Dina ging etwa in der zweiten Zehnergruppe. Sie passierten den Korridor des Grabens, und vor ihnen öffnete sich ein sandiger Steinbruch mit fast senkrechten Wänden. Es war schon halbdunkel. Dina konnte den Steinbruch nur schlecht übersehen. Im Gänsemarsch schickte man alle schnell, zur Eile antreibend, nach links, auf einen sehr schmalen Vorsprung. Links war die Wand, rechts eine Grube, und der Vorsprung war offensichtlich eigens für die Erschießung herausgeschnitten. Er war so schmal, dass sich die Leute, wenn sie über ihn gingen, instinktiv an die sandige Wand drückten, um nicht zu fallen. Dina blickte nach unten. Ihr schwindelte, so tief schien es ihr zu sein. Unten war ein Meer von blutigen Körpern. Auf der gegenüberliegenden Seite des Steinbruchs konnte sie die dort aufgestellten leichten Maschinengewehre ausmachen, dort befanden sich auch einige deutsche Soldaten. Sie hatten ein Lagerfeuer angezündet, auf dem sie anscheinend irgend etwas kochten. Als die ganze Kette der Unglücklichen auf den Vorsprung getrieben worden war, entfernte sich einer der Deutschen vom Lagerfeuer, ging ans Maschinengewehr und begann zu schießen. Dina sah es nicht so sehr, wie sie es fühlte, dass die Körper von dem Vorsprung hinabstürzten, und sie merkte, wie die Geschosskette sich ihr näherte. Ihr zuckte es durch den Kopf: „Sofort bin ich dran, jetzt …“ Und sie wartete nicht, sondern stürzte sich, die Fäuste ballend, in die Tiefe. Ihr schien es, als ob sie eine ganze Ewigkeit fallen würde, es war ja tatsächlich auch sehr tief. Beim Aufprall fühlte sie weder einen Stoß noch einen Schmerz. Sofort war sie von oben bis unten mit warmem Blut bedeckt, über ihr Gesicht strömte Blut, weil sie gleichsam in eine Wanne mit Blut gefallen war. Sie lag, breitete die Arme aus, schloss die Augen, vernahm irgendwelche dumpfen Töne, Stöhnen, Schluckauf und Weinen ringsumher und unter sich hervor: Es gab viele, die noch nicht ganz tot waren. Diese ganze Masse aus Leibern bewegte sich kaum merklich, senkte sich und verdichtete sich durch die Bewegung der verschütteten noch Lebenden. Soldaten stiegen auf den Vorsprung und begannen mit Laternen nach unten zu leuchten, sie schossen aus Pistolen auf diejenigen, die ihnen noch am Leben zu sein schienen. Aber nicht weit von Dina stöhnte jemand immer noch weiter. Sie hörte sie näherkommen, sie waren schon auf den Leichen. Die Deutschen kletterten herunter, bückten sich, nahmen den Getöteten irgend etwas ab, dabei schossen sie von Zeit zu Zeit in die sich bewegende Masse. [...] Nach einigen Minuten hörte sie eine Stimme von oben: „Also los, fangt an zuzuschütten!“ Schaufeln begannen zu knirschen, man hörte das dumpfe Klatschen des Sandes auf die Körper, es kam immer näher, und schließlich begannen die Sandhäufchen auch auf Dina zu fallen. Sie wurde zugeschüttet, aber sie rührte sich nicht, solange ihr Mund noch nicht zugeschüttet war. Sie lag mit dem Gesicht nach oben, atmete Sand ein, verschluckte sich und instinktiv, ohne sich darüber im klaren zu sein, begann sie sich in panischer Furcht hin und her zu wälzen, schon eher bereit, sich erschießen zu lassen, als bei lebendigem Leibe begraben zu werden. Mit der linken gesunden Hand begann sie, den Sand von sich wegzuscharren, verschluckte sich wieder, hätte um ein Haar gehustet und konnte mit äußerster Mühe diesen Husten unterdrücken. Aber ihr wurde leichter. Schließlich kroch sie unter der Erde hervor. Dort oben hatten sie aufgehört. Sie hatten den Sand nur darübergestreut und waren dann fortgegangen. Dinas Augen waren voller Sand. Es herrschte eine Höllenfinsternis, und die Luft war so schwer. Dina näherte sich der nächsten Sandwand, lange, lange, langsam machte sie sich vorsichtig an sie heran, dann stand sie auf und begann mit der linken Hand Löcher in die Wand zu machen. So presste sie sich an die Wand, machte Löcher und kletterte Fußbreit um Fußbreit nach oben, dabei in jeder Sekunde riskierend, abzustürzen. Oben fand sich ein Strauch, sie ertastete ihn, klammerte sich verzweifelt an, und in dem Moment, als sie sich über den Rand schwingen wollte, hörte sie eine leise Stimme, vor der sie beinahe wieder zurückgestürzt wäre. „Tante, erschrick nicht, ich bin auch am Leben.“ Es war ein Junge in Unterwäsche. Er kroch genauso wie sie heraus. Der Junge zitterte. „Sei leise“, zischelte sie ihm zu. „Kriech hinter mir“. Und so krochen sie zusammen weiter, irgendwohin, schweigend. Ernst Klee / Willi Dreesen (Hg.), „Gott mit uns“. Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten 1939-1945, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1989, S. 127-129 Zit. nach Steffens/Lange (s. Lit.), Bd. 2, S. 120 ff. ZEIT Geschichte: In keinem anderen Krieg der Geschichte haben so viele Menschen in solchem Ausmaß gemordet wie während des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion. Herr Heer, Sie haben mit der Wehrmachtsausstellung von 1995 maßgeblich dazu beigetragen, diese Verbrechen der Öffentlichkeit bewusst zu machen; Sie, Herr Welzer, haben sich als Sozialpsychologe intensiv mit Fragen der Täterpsychologie befasst. Wie waren diese Gewalttaten möglich? Harald Welzer: Menschen sind meines Erachtens grundsätzlich zu allem fähig, daher wundert es mich nicht, dass sie auch in diesem Krieg zu allem fähig waren – zumal der Möglichkeitsraum für Gewalt von Anfang an so weit geöffnet wurde, wie man es sich überhaupt nur vorstellen kann. Etwa durch die verbrecherischen Befehle, die den Soldaten Straffreiheit bei Gewalttaten an Zivilisten garantierten. Hannes Heer: Um aber das Besondere des Geschehens zu erfassen, muss man die Vorgeschichte anschauen. Vom späten 19. Jahrhundert an kursierten in Deutschland völkisch-nationalistische Großmachtfantasien, 1933 bot sich dann in den Augen vieler die letzte Chance, doch noch zu erreichen, womit man im Ersten Weltkrieg gescheitert war: Deutschland zur Weltmacht zu machen. Diese Verheißung wirkte wie Starkstrom – und trug im Kern schon die Gewalt in sich, die im Zweiten Weltkrieg eskalierte. [...] ZEIT Geschichte: Dass gemordet wurde, weil gemordet werden durfte, ist mittlerweile Konsens in der Täterforschung. Welche Rolle aber spielten Zwang und Angst? Wie groß waren die Spielräume des Einzelnen im Krieg? Heer: Im Kampf, an der Front, gab es keine Spielräume. Außerhalb des Kampfgeschehens hingegen herrschte kein Befehlsnotstand. Ein Beispiel: Zwei deutsche Soldaten sollen Gefangene abführen. Wenn man einen Kameraden dabeihatte, der ähnliche Ansichten vertrat, konnte man frei entscheiden. Man konnte die Gefangenen zum Beispiel laufen lassen und hinterher sagen: Die wollten fliehen, wir haben sie auf der Flucht erschossen. Welzer: Oder umgekehrt: Man knallt die einfach ab, obwohl es weder eine Order noch irgendeinen Grund dafür gibt [...] Heer: Bestimmten Befehlen konnte man sich auch verweigern, etwa wenn es um Erschießungen von Juden ging. Das wurde keineswegs drakonisch bestraft, wie später oft behauptet, und die Soldaten wussten das. Das Risiko war ein anderes: dass man durch fortgesetzte Verweigerung aus dem Zentrum der Gruppe an die Peripherie geriet und zum Außenseiter wurde. Und holten einen die Kameraden dann noch raus, wenn man verwundet im Kornfeld lag? Da hieß es dann womöglich: Der mit seinen moralischen Gefühlsduseleien, jetzt hat er seine Lektion bekommen. ZEIT Geschichte: Neben der bekannten Ausrede, man habe morden müssen, steht die Behauptung, nichts gewusst zu haben – schon gar nicht vom Massenmord an den Juden. Welzer: Wir haben zwei sehr starke Belege dafür, dass alle, und zwar wirklich alle, gewusst haben müssen, was mit den Juden geschah. Der erste Beleg ist die Detailliertheit dessen, was im Gespräch über die Massenerschießungen und die Vergasungen geäußert wird. Der zweite ist das komplette Fehlen von Verwunderung angesichts dieser Erzählungen. Dass jemand sagt: Was erzählst du denn da für einen Quatsch! – das kommt nicht vor. Stattdessen kreisen die Fragen um die Details: wie die Leichen in den Gruben geschichtet werden, damit möglichst viele hineinpassen, wie groß die Gruben sind, ob auch Frauen und Kinder erschossen werden. Heer: Eine beliebte Ausrede lautet: Ich war an dem und dem Abschnitt, da haben wir nichts mitbekommen. Doch das ist unglaubwürdig. Wenn die Soldaten zum Beispiel Urlaub hatten und nach Hause fuhren, saßen sie oft eine Woche und länger in der Eisenbahn, und da wurde natürlich geredet! Vor allem über alles, was extrem war: also auch über die Judenerschießungen. Dasselbe gilt für die Lazarette. Das waren riesige Informationsbörsen, da erfuhr man alles. [...] ZEIT Geschichte: Wenn die Brutalisierung der Männer im Krieg so unglaublich schnell vonstattenging, wie verhielt es sich umgekehrt nach 1945: Konnten sich die Soldaten genauso schnell wieder in die Zivilgesellschaft einfügen? Oder ist der Prozess der Enthumanisierung, wie er im Vernichtungskrieg stattgefunden hat, irreversibel? Welzer: Da kann man nur spekulieren. Es scheint, als hätten sich die Deutschen wenigstens nach außen hin schnell an die neuen Gegebenheiten angepasst – statt Nationalsozialismus herrschte nun Demokratie, statt Krieg Frieden. So schnell die Menschen in die Gewaltlogik des Vernichtungskrieges eingestiegen waren, so schnell scheint es, kamen sie da auch wieder raus. Gewalt war nun einfach nicht mehr gefragt und bildete keine Rahmenbedingung mehr für das eigene Handeln. Deshalb haben sich die zurückgekehrten Wehrmachtsoldaten auch nicht in marodierende Gangs verwandelt. Heer: In einigen Institutionen, etwa bei der Polizei – oder wenn ich an die Lehrer denke, die mich unterrichtet haben –, waren die Kontinuitäten zu den Jahren vor 1945 aber doch sehr stark, personell wie mental. Natürlich wurde die eigene Gewaltgeschichte transformiert und auf die neue Lage angepasst. Welzer: Aufs Ganze gesehen ist es aber wirklich erstaunlich, wie schnell sich Verhältnisse relativer Normalität herstellten. Was nicht heißen soll, dass die Erfahrung extremer Gewalt, sei es erfahrene, ausgeübte oder beobachtete, am Einzelnen so ohne Weiteres vorüberging. Die Zerstörung körperlicher Integrität ist etwas ganz Furchtbares, das tiefe Spuren in der Psyche hinterlässt. Diese Verletzungen reichen über Generationsgrenzen hinaus. ZEIT Geschichte: Dennoch hat der Krieg gegen die Sowjetunion noch immer keinen festen Platz in der deutschen Erinnerungskultur – weder in der privaten noch in der öffentlichen. Wie ist das zu erklären? Heer: Es ist immer schwer, an eigene Verbrechen zu erinnern. Im Fall des Holocaust ist dies in Deutschland halbwegs gelungen. Dass der Vernichtungskrieg als Ganzes nicht annähernd so fest im Bewusstsein verankert ist, hat damit zu tun, dass bei der Wehrmacht gleichsam die gesamte deutsche Gesellschaft betroffen war: In so ziemlich jeder Familie gab es Männer, die den Krieg mitgemacht hatten. Die Strategie der ehemaligen Wehrmachtsoldaten und ihrer Familien war es folglich, die begangenen Verbrechen zu verschweigen, umzudeuten und zu verleugnen. Dazu kam ein eigenes Opfernarrativ, das schon bald die deutsche Erinnerungskultur beherrschte. Und sicherlich spielte es auch eine Rolle, dass man nach 1949, im antikommunistischen Klima des Kalten Kriegs, an die Feindbilder der Nazizeit anschließen und sich wunderbar rechtfertigen konnte. Welzer: Was die Rolle der Ideologie angeht, bin ich auch hier skeptisch, aber ansonsten kann ich zustimmen. Wobei es in diesem Fall natürlich auch noch einen ganz schlichten und profanen Grund für das schlechte Gedächtnis der Deutschen gibt: Es ist immer unangenehm, sich an einen Krieg zu erinnern, den man verloren hat. Christian Staas / Volker Ulrich „Ein Erlebnis absoluter Macht“, in: ZEITonline vom 24. Mai 2011 http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2011/02/Wehrmachtsoldaten-Interview-Heer-Welzer/komplettansicht (zuletzt abgerufen: 30.10.2012)
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Wildt, Michael
"2022-01-19T00:00:00"
"2012-12-18T00:00:00"
"2022-01-19T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/nationalsozialismus-krieg-und-holocaust-316/151934/krieg-und-besatzung-in-ost-und-westeuropa/
Im eroberten Polen errichten die deutschen Besatzer eine brutale Gewaltherrschaft, und auch die westeuropäischen Nachbarn stehen unter ihrer Kontrolle. Deportationszüge bringen die Juden Europas in die Gettos und Vernichtungslager. Solange die Sieges
[ "Zweiter Weltkrieg", "Polen", "NS-Regime", "SS", "Judenverfolgung", "Konzentrationslager", "Getto", "Vertreibung", "Westfeldzug", "Ostfeldzug", "Luftkrieg", "Judenvernichtung", "Vernichtungskrieg", "Polen", "Russland", "England" ]
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Pegida – eine Protestbewegung zwischen Ängsten und Ressentiments | Rechtspopulismus | bpb.de
Seit dem 20. Oktober 2014 demonstrieren in Dresden meist an Montagen die Anhänger einer Bewegung, die sich "Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida) nennt. Dabei versammelten sich zeitweise um die 25.000 Demonstranten. Auf Plakaten konnte man Slogans wie "Gewaltfrei & vereint gegen Glaubenskriege auf deutschem Boden" oder "Gegen religiösen Fanatismus und jede Art von Radikalismus. Gemeinsam ohne Gewalt" lesen. Bei den Versammlungen wurden aber auch Slogans wie "Lügenpresse" und "Volksverräter" zur Bezeichnung von Medien und Politik skandiert. Mittlerweile entstanden in anderen deutschen Städten einige Ableger, die sich ähnliche Bezeichnungen mit der Nennung des jeweiligen Ortes gaben. Gleichzeitig lösten diese Demonstrationen jeweils Gegen-Demonstrationen aus. Angesichts der dadurch deutlich werdenden gesellschaftlichen und politischen Relevanz soll hier eine Einschätzung von Pegida aus Sicht der Bewegungs-, Extremismus- und Sozialforschung formuliert werden. Diffuse Positionen und Themen Betrachtet man die Pegida-Bewegung im Lichte der Geschichte der Protestbewegungen im Nachkriegsdeutschland, so fallen einige Besonderheiten ins Auge: Es handelte sich früher meist um Bestrebungen, die wie die Friedens- und Ökologiebewegung ideologisch-politisch mehrheitlich eher "links" und weniger "rechts" orientiert waren. Auch wenn die Repräsentanten von Pegida sich als "weder links noch rechts" definieren wollen, sprechen die Anliegen und Themen eher für eine "rechte" Protestbewegung, wobei die genauere Einordnung noch einer späteren Erörterung vorbehalten bleiben soll. Darüber hinaus fällt bei der vergleichenden Betrachtung die Diffusität der Positionen und Themen auf: Während frühere Protestbewegungen konkrete Absichten wie etwa die Ablehnung des Baus von Atomkraftwerken oder der Stationierung von Mittelstreckenraketen hatten, bleibt das mit "Islamisierung" gemeinte Phänomen in der Pegida-Selbstdarstellung unklar. Es wird noch nicht einmal in den offiziellen Erklärungen der Veranstalter begründet oder erläutert. Hohe Bedeutung individueller Akteure und Zugänge Als weitere Besonderheit im Vergleich mit früheren Protestbewegungen fällt die hohe Bedeutung individueller Akteure und Zugänge auf: Am Beginn standen zuvor meist politische Organisationen, also bestimmte Gruppen, Parteien oder Vereine, die zu Demonstrationen oder Veranstaltungen aufriefen. Erst danach beteiligten sich in höherem Maße unorganisierte Einzelpersonen. Bei Pegida scheint dies nicht der Fall zu sein. Auch die Gründer agierten als Individuen und gehörten zuvor meist keiner politischen Organisation an. Beispielhaft dafür steht etwa der als Hauptinitiator geltende Lutz Bachmann. Selbst die Mitglieder einer Partei agierten sowohl als Initiatoren wie als Mitläufer nicht in deren Auftrag. Exemplarisch hierfür steht der Mitinitiator Siegfried Däbritz, ein ehemaliger FDP-Stadtrat, der aber nicht im Namen seiner Partei aktiv wurde. Eine Ausnahme hinsichtlich der individuellen Zugänge stellen die Angehörigen rechtsextremistischer "Kameradschaften" oder Parteien dar, welche aber in der Gesamtschau von marginaler Bedeutung sind. Entstehung der Pegida-Bewegung Der erwähnte Lutz Bachmann gilt als eigentlicher Gründer von Pegida, hatte er doch am 11. Oktober 2014 eine Facebook-Gruppe mit der Bezeichnung "Friedliche Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" initiiert. Als offizielle Begründung dafür wurde die Ablehnung einer Unterstützung der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) bei ihrem Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS) angegeben. Daraufhin schloss sich der ebenfalls bereits erwähnte Siegfried Däbritz dem Projekt an, gelte es doch gegen "Glaubenskriege auf unseren Straßen" und die "Islamisierung unseres Landes" vorzugehen. Diese beiden Formulierungen bildeten denn auch die ersten bedeutsamen Parolen auf den Transparenten der späteren Pegida-Bewegung. Mit der Anspielung auf die "Glaubenskriege" bezog man sich auf gewalttätige Konflikte, die Anfang Oktober 2014 in verschiedenen Städten zwischen pro-jesidischen/pro-kurdischen Demonstranten und salafistischen Gegen-Demonstranten stattgefunden hatten. Mit zehn anderen Personen entstand nun das Organisationsteam der Pegida-Bewegung. Entwicklung der Pegida-Demonstrationen 2014 Fortan rief man zu "Montagsspaziergängen", so die offizielle Formulierung für die Demonstrationen, in Dresden auf. Zunächst nahmen daran am 20. Oktober 2014 nur 350 Personen teil. Am 27. Oktober stieg die Zahl auf 500, am 3. November hatte sie sich auf 1.000 verdoppelt. Am 10. November waren es schon 1.700 und am 17. November 3.200 Teilnehmer. Parallel dazu berichtete zunächst die regionale, dann aber auch die überregionale Presse über das Pegida-Phänomen. Auch für andere Medien wurden die Demonstrationen ein bedeutendes Thema für ihre Berichterstattung. Dies beförderte den rapiden Anstieg der Teilnehmerzahl: Am 24. November kamen 5.500 und am 1. Dezember 7.500. Danach folgte gar eine fünfstellige Zahl von Demonstranten den Aufrufen: Am 8. Dezember waren es 15.000 und am 22. Dezember 17.500 Teilnehmer. Berücksichtigt man die örtliche Fixierung auf Dresden, die kalte Jahreszeit und das bevorstehende Weihnachtsfest, so kann man den Demonstrationen eine enorme Mobilisierungswirkung bescheinigen Gemäßigte offizielle Positionen in 19 Punkten Nachdem die Pegida-Bewegung öffentlich kritisiert wurde, versuchten sich die Initiatoren durch eine 19-Punkte-Erklärung am 10. Dezember 2014 deutlicher inhaltlich zu positionieren. Die dortigen Ausführungen enthalten in der Gesamtschau eher gemäßigte Auffassungen und teilweise konstruktive Vorschläge. Dafür steht etwa die Forderung nach "dezentraler Unterbringung für Kriegsflüchtlinge und Verfolgte anstatt in teilweise menschenunwürdigen Heimen". Dem schließen sich aber auch wieder diffuse Erklärungen wie die zu "Erhaltung und Schutz unserer christlich-jüdisch geprägten Abendlandkultur" an. Insgesamt handelt es sich bei diesen offiziellen Auffassungen aber nicht um die real vorhandenen Positionen der Pegida-Demonstranten oder -Führungsspitze. Denn die 19-Punkte-Erklärung diente erkennbar dazu, den Anschein einer gemäßigten und realistischen Auffassung in die breite Öffentlichkeit hinein zu vermitteln. Die Inhalte des Positionspapiers wurden denn auch nicht auf den Versammlungen dargestellt oder erörtert. Hetzerische Stimmung durch die Initiatoren Dort dürfte etwa ein Bekenntnis zur "Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und politisch oder religiös Verfolgten" als Menschenpflicht – ein ausformulierter Bestandteil der 19 Punkte – hetzerische Kommentare und rigorose Verdammung auslösen. Denn bei den Demonstrationen herrscht häufig eine von Aversionen und Ressentiments geprägte emotionale Stimmung und kein von Reflexionen und Sorgen getragener sachlicher Ton vor. Der Pegida-Initiator Lutz Bachmann meinte etwa in einer Rede mit aggressivem Unterton, Flüchtlinge lebten in "luxuriös ausgestatteten Unterkünften", während sich arme Rentner "kein Stück Stollen" mehr zu Weihnachten leisten könnten. Darüber hinaus kann man an seiner Person auch anschaulich den Gegensatz von dem offiziell beschworenen Bild der Anständigkeit und den tatsächlich propagierten Hassbildern veranschaulichen. Denn Bachmann distanzierte sich stets bei Nachfrage von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. Auf Facebook-Einträgen hatte er indessen Migranten als "Dreckspack", "Gelumpe" und "Viehzeug" tituliert. Empirische Studien zu den Demonstrierenden Um genauere Auskunft über die Besonderheiten und Motive der Pegida-Demonstranten zu erhalten, führten Sozialwissenschaftler unter ihnen Befragungen durch: Dazu gehörte eine Forschergruppe um den Berliner Soziologen Dieter Rucht, die Ergebnisse aus Beobachtungen und Online-Interviews zusammentrug. Man verteilte dazu 3.500 Handzettel, welche aber nur von 670 Demonstranten angenommen wurden. An der Befragung selbst beteiligten sich dann nur 123 Personen. Eine weitere Studie erstellte eine Forschergruppe um den Dresdener Politologen Hans Vorländer, welche um die 400 Demonstranten bei drei Veranstaltungen befragte. 65 Prozent der für die Befragung ursprünglich angesprochenen Personen lehnten indessen eine Teilnahme ab. Vorländer sah darin kein Problem hinsichtlich einer angestrebten Repräsentativität oder möglichen Verzerrung. Diesbezüglich muss hier indessen Kritik formuliert werden: Die Annahme, wonach es zwischen den Antwortwilligen und Antwortunwilligen keine Unterschiede gibt, lässt sich nicht stützen. Ergebnisse der Studien zu Besonderheiten Gleichwohl verdienen die Ergebnisse der nicht-repräsentativen Studien kritische Aufmerksamkeit: Nach der Rucht-Studie handelt es sich zu vier Fünftel um Männer, welche überwiegend Angestellte oder Arbeiter waren und dem Mittelstand zuzurechnen seien. Über 20 Prozent verfügten demnach über Abitur oder Fachhochschulreife, weitere über 30 Prozent hätten ein abgeschlossenes Studium. Nach der Vorländer-Studie entstamme der "typische" Pegida-Demonstrant der Mittelschicht, sei gut ausgebildet, berufstätig, verfüge über ein für sächsische Verhältnisse leicht überdurchschnittliches Nettoeinkommen, sei 48 Jahre alt, männlich, gehöre keiner Kirche und keiner Partei an. Diese Erkenntnisse zu den sozialen Besonderheiten der Pegida-Demonstranten hinsichtlich Alter, Geschlecht und Sozialstatus entsprechen auch weitgehend den Beobachtungen, die man aus persönlichen Eindrücken gewinnen kann. Und bei der Rucht-Studie nahmen die Forscher auch Demonstrationsbeobachtungen als Bestandteile ihrer Datenbeschaffung mit auf. Ergebnisse der Studien zur Motivation Bezüglich der Motivation der Pegida-Demonstranten kamen die beiden Studien zu folgenden Ergebnissen: Laut der Rucht-Untersuchung handelt es sich bei diesen keineswegs nur um "besorgte Normalbürger". Vielmehr wiesen sie politische Positionen rechts von der Mitte des gegenwärtigen Meinungsspektrums auf. Bei der Selbsteinschätzung gaben 33,3 Prozent "rechts" und 1,7 Prozent "extrem rechts" an. Am kommenden Sonntag würde man zu 89 Prozent die AfD und zu 5 Prozent die NPD wählen. Bei den politischen Einstellungen gab es folgende Zustimmungswerte (in Klammern als Vergleich die Angaben für die Gesamtbevölkerung): Bejahung eines starken Führers für Deutschland 4,3 (9,2), Forderung nach einer Einschränkung des Moscheebaus 93 (42,2) oder Rede von einer übertriebenen Darstellung von NS-Verbrechen 11,4 (6,9) Prozent. Nach der Vorländer-Studie demonstrierten die Pegida-Anhänger mehr aufgrund ihrer Unzufriedenheit mit der Politik (54 Prozent) und weniger gegen die "Islamisierung des Abendlandes" (23 Prozent). Problematik der Repräsentativität der Studien Wie die erwähnten Angaben zu den Rückläufen bei der Befragung bereits deutlich machten, besteht ein Problem hinsichtlich der Repräsentativität der Studien. Dies räumte die Rucht-Untersuchung auch ein. Bei ähnlichen Studien im Kontext anderer Protestbewegungen lag die Rücklaufquote zwischen 35 und 52 Prozent, bei Pegida nur bei 18 Prozent. Die Forscher bekannten denn auch, dass die Stichprobe nicht repräsentativ und eher verzerrt sei. Sie gingen davon aus, dass an der Befragung eher die politisch moderateren Demonstranten teilgenommen hatten. Demgegenüber sah die Vorländer-Studie kein größeres Problem für die Repräsentativität, obwohl sich deren Ergebnisse ebenfalls nur auf eine eher geringe Rücklaufquote von 35 Prozent stützen konnte. Darüber hinaus spricht noch ein anderer Grund gegen die Repräsentativität der Daten: Bei den Pegida-Demonstranten besteht ein großer Vorbehalt gegenüber Medien und Politik. Die hier besonders stark ausgeprägten Akteure dürften eben gerade nicht zu einem Interview mit den Wissenschaftlern bereit gewesen sein. Faktencheck zu den Islamisierungs-Behauptungen Ein Ergebnis der vorgenannten Studien ist von besonderem Interesse: Entgegen der Namensgebung von Pegida, die sich ausdrücklich gegen die "Islamisierung" wenden will, spielt das damit gemeinte Thema offenbar keine so große Rolle für die Demonstrationsteilnehmer. Da in Dresden selbst nur 0,4 Prozent und in Sachsen nur 0,2 Prozent der Menschen gläubige Muslime sind, lässt sich für die dortige Region schwerlich von einer bedrohlichen Ausbreitung des Islam sprechen. Auch darüber hinaus passen derartige Behauptungen nicht zur sozialen Realität: Zwar lässt sich etwa gegenwärtig sehr wohl ein Anstieg von Einwanderung konstatieren, indessen kommen die gemeinten Personen gerade nicht aus muslimisch geprägten Ländern. Es gibt sogar eine stärkere Rückwanderung in die Türkei als eine stärkere Zuwanderung aus diesem Land. Der Blick auf diese beiden Gesichtspunkte ignoriert nicht die Probleme einer Einwanderungsgesellschaft, bei Pegida erscheinen sie aber in einer verzerrten und wirklichkeitsfremden Perspektive. Momentaufnahmen von den Demonstrationen Betrachtet man einzelne Momentaufnahmen von den Demonstrationen, dann entsteht der Eindruck von einer Gruppe von Menschen mit diffusen Ansichten und hetzerischen Stimmungen: Eine Fernsehdokumentation lies einzelne Demonstrationsteilnehmer ausführlich zu Wort kommen, wobei auch hier das Problem der Repräsentativität besteht. Darunter befand sich beispielsweise ein Mann, der zunächst in sachlichem Ton seine allgemeine Sorge um die Werte des Abendlandes zum Ausdruck brachte. Daraufhin fragte ihn der Interviewer, welche das denn konkret seien. Schließlich äußerte der Mann, dies könne er gerade auch nicht sagen. Ein anderer Befragter behauptete mit aggressivem Tonfall, Ausländer kämen als Schmarotzer nach Deutschland und würden alles bekommen. Er selbst meine das so, sei aber kein Nazi. Wiederum ein anderer Befragter erklärte mit schriller Stimme, dass die Einwanderung von Muslimen aufgrund von Befehlen aus Tel Aviv und Washington erfolge. Das habe aber nichts mit einer Rechtslastigkeit zu tun, das sei eine Tatsache. Die "Wir sind das Volk"-Beschwörung Bei den Demonstrationen riefen die Teilnehmer, mitunter angeregt durch "Ordner" oder "Verstärker" der Organisatoren, bestimmte Parolen, die hier nähere Aufmerksamkeit verdienen sollen: Die Aussage "Wir sind das Volk" diente den damaligen DDR-Oppositionellen zum Protest gegen die SED-Diktatur. Heutige Repräsentanten der seinerzeitigen Bürgerrechtsbewegung distanzierten sich in aller Entschiedenheit von der Vereinnahmung dieser Formulierung durch Pegida. Dort hat sie auch eine andere Bedeutung und Zielrichtung: Man beansprucht damit die Interessen und den Willen des "Volkes" zu verkörpern, ohne dafür eine wie auch immer geartete ideelle oder tatsächliche Legitimation präsentieren zu können. Alle Umfragen zum Thema belegen außerdem, dass nur eine Minderheit der Bevölkerung die Positionen von Pegida teilt. Darüber hinaus enthält die Aussage "Wir sind das Volk" einen Subtext: Die Anderen gehören nicht zum Volk. Auch Andersdenkende und nicht nur Migranten sollen ausgegrenzt werden. "Lügenpresse"- und "Volksverräter"-Rufe Als weitere Parolen, die man regelmäßig bei Pegida-Demonstration hören konnte, verdienen die "Lügenpresse"- und "Volksverräter"-Rufe besondere Aufmerksamkeit: Derartige Formulierungen nutzten bereits die Nationalsozialisten in ihrer "Kampfzeit" in der Weimarer Republik. Auch heutige Neonazis bedienen sich ihr häufig bei Aufmärschen. Diese historisch-politische Dimension mag den meisten Pegida-Demonstranten nicht bewusst sein, aber sie stellen auch unabhängig davon problematische Aussagen dar: Das breite Feld der etablierten Medien wird pauschal der bewussten Falschinformation bezichtigt, während man sich selbst allein im Besitz der Wahrheit wähnt. Woher die "richtigen" Informationen jeweils kommen, stellt keinen Gegenstand von kritischen Reflexionen dar. Die "Volksverräter"-Rufe diffamieren pauschal alle Politiker, die aber im Unterschied zu den Pegida-Demonstranten sehr wohl über eine demokratische Legitimation verfügen. Auch hier beansprucht man, im Interesse des angeblich "wahren Volkes" zu sprechen. Frage des rechtsextremistischen Charakters Angesichts solcher Aussagen stellt sich die Frage nach dem rechtsextremistischen Charakter von Pegida: Zunächst kann man konstatieren, dass die Mehrheit der Demonstranten keine "Nazis in Nadelstreifen" sind. Zwar nahmen auch NPD-Aktivisten, Neonazis und Hooligans an den Veranstaltungen in Dresden teil. Sie stellten dort aber nur eine Minderheit dar. Indessen belegt diese Erkenntnis nicht notwendigerweise die demokratische Gesinnung der Mehrheit der Pegida-Demonstranten. Es lässt sich nämlich ein politischer von einem sozialen Rechtsextremismus unterscheiden: Zum Erstgenannten gehören die organisierten Anhänger in Gruppen oder Parteien, zum sozialen Rechtsextremismus zählen die so denkenden Personen. Über das Ausmaß einschlägiger Potentiale informieren die Ergebnisse der Sozialforschung, die meist ein rechtsextremistisches Einstellungspotential von zwischen 10 und 20 Prozent der Bevölkerung konstatierten. Bislang konnte dieses von NPD und Neonazis nicht mobilisiert werden, möglicherweise ist es der Pegida-Bewegung stärker gelungen. Entwicklung der Pegida-Demonstrationen 2015 Diese Einsicht bedingt aber kein pauschales Bild von den Demonstranten, die sich offenkundig aus unterschiedlichen Individuen mit verschiedenen Motiven zusammensetzen. Die dominierende Anti-Haltung gegenüber den Medien wie der Politik erhöhte noch die Bereitschaft zur Teilnahme an den Pegida-Versammlungen. Ein gegenteiliger Aufruf der Bundeskanzlerin Angela Merkel, der von ihr mit großer öffentlicher Beachtung anlässlich ihrer Weihnachtsansprache formuliert wurde, führte aber nicht zur Reduzierung der Teilnehmerzahl. Am 5. Januar 2015 nahmen 18.000 Personen an dem "Montagsspaziergang" teil. Einen erneuten Anstieg der Demonstrationsteilnehmer bewirkten die islamistischen Morde in Paris. Am 12. Januar beteiligten sich nach Polizeiangaben 25.000 Menschen an der Pegida-Versammlung. Die für den 19. Januar geplante Kundgebung wurde abgesagt, da es Morddrohungen gegen einen Initiator gegeben habe. Am 25. Januar – diesmal ein Sonntag – kamen dann erstmals weniger, aber noch über 17.000 Personen zusammen. Krise und Zerwürfnisse in der Führung Eine für den 2. Februar angekündigte Demonstration sagte die Pegida-Führung hingegen ab, da sechs Führungspersonen aus dem zwischenzeitlich gegründeten Vorstand zurückgetreten waren. Als Grund nannten die Akteure interne Konflikte, die mit der Rolle des ursprünglichen Pegida-Initiators Bachmann zusammenhingen. Dieser hatte aufgrund von Diebstahl und Drogenbesitz eine Haftstrafe erhalten, was ihn ohnehin als "Verteidiger des Abendlandes" nicht besonders glaubwürdig erscheinen ließ. Hinzu kamen die erwähnten fremdenfeindlichen und rassistischen Äußerungen, die mit einem Foto in Hitler-Pose durch die Medien bekannt wurden. Dies führte zu Bachmanns Rücktritt von allen Funktionen und zu dessen Ablösung durch Kathrin Oertel. Da der Pegida-Initiator immer noch im Hintergrund persönlichen Einfluss nahm, lösten damit einhergehende Konflikte die erwähnten personellen Veränderungen aus. Auch Oertel, die zwischenzeitlich durch einen Fernsehauftritt bundesweite Bekanntheit erlangt hatte, zählte zu den zurückgetretenen Führungspersonen. Ableger in anderen deutschen Städten Der kontinuierliche Anstieg der Demonstrationsteilnehmer und die große öffentliche Aufmerksamkeit für Pegida motivierten bereits im Dezember 2014 die Gründung von ähnlichen Aktionsformen und Initiativen in anderen deutschen Städten. Sie gaben sich meist gleichlautende Bezeichnungen, wobei am Beginn aber ein Bezug auf den jeweiligen Ort enthalten war. Bogida, Dügida, Kögida oder Legida stehen etwa für "Bonn", "Düsseldorf", "Köln" und "Leipzig gegen die Islamisierung des Abendlandes". Vergleicht man diese Ableger mit Pegida, so fallen folgende Besonderheiten auf: Bei den Pegida-Ablegern in anderen deutschen Städten war der Anteil von Personen aus dem organisierten Rechtsextremismus bedeutend höher, mitunter bei den Veranstaltern gar dominierend. Außerdem gab es ein Vielfaches mehr an Gegen-Demonstranten, was mit einigen Abstufungen auch für Leipzig gilt. Insofern ist das Pegida-Phänomen in einem gewissen Ausmaß ein Ost-Phänomen bzw. eine Dresdener Besonderheit, wofür die genauen Gründe noch erforscht werden müssen. Einschätzung von Pegida als politisches Phänomen Angesichts des Fehlens repräsentativen Datenmaterials und der Verschiedenheit der Demonstrationsteilnehmer setzen sich aktuelle Einschätzungen von Pegida einem möglichen Pauschalisierungsvorwurf aus. Gleichwohl können mit gewissen Einschränkungen einige verallgemeinerbare Bewertungen formuliert werden. Bezüglich des Charakters von Pegida als politischem Phänomen lässt sich folgendes konstatieren: Allgemein distanzierten sich die Initiatoren öffentlich von Hooligans und Neonazis. Dies haben gemäßigtere Kräfte im Rechtsextremismus wie etwa die DVU, "Pro"-Parteien oder die REP auch getan. Die Auffassungen und der Habitus der Pegida-Akteure entsprechen denn auch stark diesem politischen Bereich, der sich durchaus glaubwürdig bürgerlich und gewaltfrei gibt. Gleichwohl stehen ebenso die feindlichen Stimmungen gegen Flüchtlinge wie die rigorose Verdammung der Politik für rechtsextremistische Einstellungen. Demokratische Bürger, die für eine Änderung der Migrationspolitik eintreten, würden anders agieren und formulieren. Einschätzung von Pegida als soziales Phänomen Diese Auffassung schließt demnach gar nicht aus, dass einige gesellschaftliche Probleme von Pegida-Demonstranten mit einer inhaltlichen Berechtigung angesprochen wurden: Für die Klage über eine Entfremdung von Bürgern und Politik gibt es ebenso gute Gründe wie für eine Kritik an einer konzeptionslosen Migrationspolitik. Darüber hinaus bestehen in bestimmten Regionen und Schichten mehr soziale Probleme als mitunter mit Blick auf das allgemeine Wachstum der Wirtschaft zur Kenntnis genommen wird. Insofern artikuliert sich in den Pegida-Protesten ein durchaus nachvollziehbarer und verständlicher Unmut. Eine besonders problematische Dimension besteht aber darin, dass die damit einhergehenden Einstellungen und Stimmungen auf Fremde und Migranten projiziert werden. Dies geschieht noch dazu in emotionaler bis hetzerischer Art und Weise. Dazu passt die in gelegentlichen "Putin hilf"-Rufen zum Ausdruck kommende Begeisterung für den russischen Präsidenten, steht sie doch mustergültig für eine autoritäre Charakterstruktur. Einschätzung von Pegida in der Gesamtschau Bei der Betrachtung von Pegida in der Gesamtschau fällt zunächst auf, dass die Protestbewegung entgegen der medialen Bezeichnung als "islamkritisch" und der postulierten Selbstbezeichnung "gegen die Islamisierung" eben diesen beiden Aspekten nur geringe Aufmerksamkeit widmete. Weder findet eine kritisch-rationale Auseinandersetzung mit dem Islam statt, noch spielt eine "Islamisierung" in den Erklärungen eine größere Rolle. Für Letzteres bietet Dresden auch keinen Anlass. In den Städten, wo man von einer solchen Entwicklung wie etwa in Bonn-Bad Godesberg eher sprechen könnte, fanden derartige Proteste kaum Zulauf. Dies begründet mit die Auffassung, dass es den Demonstranten weniger um eine Islamisierung oder Migrationspolitik geht. Vielmehr artikuliert deren diffuser Protest ein Spannungsverhältnis von demonstrierenden Akteuren und politischer Elite. Dabei dominiert aber nicht das differenzierte Argument, sondern die emotionale Pauschalisierung. Insofern handelt es sich auch um eine Ressentimentbewegung. Prognose zur Entwicklung von Pegida Der erwähnte Rücktritt ehemaliger Führungspersonen und die Neugründung eines Bündnisses "Direkte Demokratie für Europa", das in Konkurrenz zu Pegida eigene Demonstrationen durchführen will, deuten einen Niedergang der Protestbewegung an. Aber auch ohne diese inneren Konflikte hätten sich die "Montagsspaziergänge" mit der Zeit wohl erschöpft. Denn die Initiatoren konnten bzw. können den Teilnehmern keine politische Perspektive liefern. Daher dürfte die Anzahl der Teilnehmer fortan kontinuierlich sinken, was letztendlich zur Auflösung von Pegida führen würde. Die Einstellungen der Demonstranten und die Gründe für ihr Engagement bleiben aber. Ein Großteil der Aktivisten dürfte fortan zu den AfD-Stammwählern gehören, eine Minderheit sich in der Partei aktiv beteiligen. Insofern wird das beschriebene Phänomen in anderer Form weiter existieren. Dies gilt auch und gerade für das Einstellungspotential, das sich bei den Pegida-Demonstrationen mitunter in aggressiver und hetzerischer Art und Wiese artikulierte. Interner Link: Pegida – eine Protestbewegung zwischen Ängsten und Ressentiments (II)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2015-02-11T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/parteien/rechtspopulismus/200901/pegida-eine-protestbewegung-zwischen-aengsten-und-ressentiments/
In der Pegida-Bewegung gegen die "Islamisierung des Abendlandes" artikuliert sich ein diffuser Protest gegen die politische Elite. Dabei dominiert aber nicht das differenzierte Argument, sondern die emotionale Pauschalisierung. Insofern handelt es si
[ "PEGIDA", "Islam", "Islamfeindlichkeit", "Fremdenfeindlichkeit", "Fremdenangst", "Populismus", "Dresden" ]
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Der "letzte Ostdeutsche" | Deutschland Archiv | bpb.de
"Der Letzte macht das Licht aus!" "Mein Gott, – ist denn da überhaupt noch jemand da?" Die Karikatur Walter Hanels spielt auf die Flüchtlingswelle aus der DDR Ende 1989 an. (© Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn) Als JPG herunterladen (109.9kB) Ein alter ostdeutscher Witz: Erich Honecker ist auf einer Auslandsreise. Als er nach Ost-Berlin zurückkehrt, findet er die Stadt hell erleuchtet, aber die Straßen sind leer, und kein Mensch ist zu sehen. Voller Panik fährt er umher, bis er schließlich zur Berliner Mauer kommt und ein riesiges Loch entdeckt. Dort steht auf einer handschriftlichen Notiz: "Erich, Du bist der letzte. Mach bitte das Licht aus, wenn Du gehst." Heute ist Erich Honecker keineswegs mehr der letzte Ostdeutsche, der das Gebiet der DDR verlassen hat. Der Generalsekretär der SED weilt nicht mehr unter uns. Es gibt jedoch durchaus andere, die ihn im Sinne des Witzes ersetzen könnten. 20 Jahre nach dem Fall der Mauer und der Revolution von 1989 hält sich der Ausdruck eines gewissen Ostdeutschentums. Die Ostdeutschen verleihen dem auf unterschiedliche Weise Ausdruck: Wehmut nach den gemütlichen Nischen angesichts von Familie und Freundeskreis; romantische Bindung an die wirtschaftlichen und politischen Sicherheiten eines "real existierenden Sozialismus"; offen geäußerte Frustration und Unmut angesichts der anhaltenden Belastungen der Wiedervereinigung. Angenommen, dass diese Empfindungen im Laufe der Zeit schwinden werden, was wahrscheinlich mit jeder neuen Generation der Fall sein wird: Wer wird der letzte sein, der sich selbst als Ostdeutscher definiert? Wird er oder sie uns etwas zu sagen haben, bevor er oder sie die Region hinter sich lässt? Aus zwei Gründen ist es angebracht, über diesen letzten Ostdeutschen nachzudenken. Erstens: Individuelles Klagen und Nostalgie machen nicht die Gesamtidentität einer Person aus. Die Sehnsucht nach Elementen der DDR-Vergangenheit ist für die meisten Ostdeutschen eine Realität, aber dieses Gefühl ist vor allem ein Protest gegen die Folgen der Vereinigung, nicht jedoch ein Bedürfnis, die Uhr zurück zu drehen. Zweitens, und mindestens so wichtig: Das noch bevorstehende Phänomen des letzten Ostdeutschen wirft grundsätzliche Fragen auf, wie künftige Generationen die Tatsache interpretieren werden, dass ein Teil Deutschlands für 40 Jahre von einer kommunistischen Diktatur regiert wurde. Ist es möglich, dass in weiteren 40 Jahren, oder sogar in kürzerer Zeit, sich niemand mehr dafür interessieren wird, dass die DDR überhaupt existierte? Wird es für die Nachwelt noch eine Rolle spielen, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ein geteiltes Land war? Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1990 (© bpb/Deutsche Kinemathek) Um auf diese Fragen zu antworten, müssen wir uns bewusst machen, dass man von Ostdeutschen nicht als einer einheitlichen Gruppe sprechen kann. Schon bald nach dem Zusammenbruch der DDR wurde klar, dass Wiedervereinigung für verschiedene Menschen Unterschiedliches bedeutet. In meinem Essay will ich diese Frage mit der Unterscheidung von drei vereinfachten Personengruppen angehen: Normalbürger mit wenig Ehrgeiz, politische Macht oder soziale Anerkennung zu erlangen; Anhänger bestimmter Aspekte des alten Regimes mit einem offensichtlichen Interesse, dessen Werte zu bewahren; aktive Dissidenten mit einer langfristigen Absicht, diese Ordnung zu überwinden. Ich bin davon überzeugt, dass der letzte Ostdeutsche aus den Reihen des letztgenannten Typus, also der Dissidenten, kommen wird. Nach entsprechender Darlegung will ich dann versuchen, die Abschiedsworte dieser Person vorweg zu nehmen. Ich werde behaupten, dass unser(e) Dissident(in) viel zu sagen haben wird über seinen bzw. ihren Anteil an den Ereignissen von 1989. Dabei mindestens ebenso wichtig: Diese Worte werden unsere Aufmerksamkeit auf die Chancen richten, die ein Land wie das moderne Deutschland hat, um vom zu wenig genutzten Erbe des Widerstands gegen eine Diktatur zu profitieren. Drei Typen von Ostdeutschen: 1 Beginnen wir mit dem idealtypischen Menschen von der Straße. In den Jahren vor 1989 war es seine entscheidende Eigenschaft – die er mit allen seinen Geschwistern, Schulfreunden und Kollegen teilte –, ein Realist zu sein. Einerseits musste er nicht unbedingt die "Tagesschau" sehen (gleichwohl seine abendliche Standardbeschäftigung), um zu wissen, dass Erich Honecker und seine Kollegen im Politbüro niemals ihrem Versprechen nachkommen würden, eine Gesellschaft des sozialistischen Überflusses und Wohlstandes zu schaffen. Er wusste, dass er dazu bestimmt war, ein Leben voll harter Arbeit und geringer Erwartungen zu führen. Andererseits erkannte dieser Ostdeutsche, dass nichts damit zu gewinnen war, seine Unzufriedenheit öffentlich zu äußern. Die Autorität seiner Regierung in Frage zu stellen, wäre geradezu dumm gewesen; mehr noch, es wäre nutzlos gewesen. Unter der Annahme, dass die politische Linie der SED sich in absehbarer Zeit keineswegs ändern würde, ging er am sichersten, wenn er versuchte, das Optimale herauszuholen, was dieses Leben zu bieten hatte: den städtischen Fußballverein, die Kneipe an der Ecke, und vor allen Dingen ein sorgenfreies Wochenende in der familieneigenen Datsche. Mit dieser Charakterisierung unterstelle ich dem normalen Ostdeutschen keineswegs, seine Gefühle seinem Land gegenüber seien nicht tief oder nicht ernsthaft genug gewesen. Immerhin war es für ihn unvorstellbar, dass er ein anderes Leben hätte wählen können. Wenn wir uns jedoch vor Augen führen, wie schnell die DDR nach der Grenzöffnung zerfiel, so waren diese Gefühle zweifelsohne nicht tief genug gewesen. Als in den ersten Wochen nach dem 9. November 1989 Tausende seiner Landsleute nach West-Berlin strömten, wurden sie zunächst durch Neugier auf das Neue und nicht so sehr durch Opposition zum Alten geleitet. Der Kapitalismus und die damit verbundenen Freiheiten stellten sich jedoch sehr schnell als unwiderstehlich heraus. Sobald sich die klaren Vorteile eines Lebens im Westen bestätigt hatten, ergab es keinen Sinn mehr, die DDR noch länger zu erhalten. Ironischerweise hatte Otto Reinhold, einer der führenden Theoretiker der SED, diese Tatsache bereits am 19. August 1989 in einem Interview mit Radio DDR 2 anerkannt. Gefragt, warum Honeckers Regierung sich nicht wie ihr sowjetisches Pendant für wirtschaftliche Reformen einsetze, betonte er, dass die einzige Existenzberechtigung der DDR in ihrem Anspruch bestünde, eine sozialistische Alternative zu Westdeutschland darzustellen: "Welche Existenzberechtigung", so fragte Reinhold, "sollte eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen Bundesrepublik haben?" Gar keine – so viel wurde als Antwort bald klar. Das wird auf subtile Weise auch in dem populären Film "Goodbye Lenin" aus dem Jahre 2003 illustriert. Auf einer Ebene geht es darin um eine Mutter und treue Parteigenossin, die einen Herzinfarkt erleidet und am 40. Jahrestag der DDR in ein Koma fällt. Ihre Familie und Freunde machen sich so große Sorgen um sie, dass sie, als die Genossin kurz vor der anstehenden Wiedervereinigung wieder aufwacht, sonderbarste Maßnahmen ergreifen, um ihr vorzuspielen, dass sich nichts geändert habe. Auf einer tiefer liegenden Ebene geht es in dem Film jedoch um ihren Sohn Alex, der wie alle anderen in seinem Umfeld sich nicht schnell genug seiner ostdeutschen Identität entledigen kann. Während seine Mutter schläft, trägt er westliche Kleidung, setzt sich den "korrumpierenden" Einflüssen von Heavy Metal und degenerierter Kunst aus und erholt sich dabei, mit seiner russischen Freundin Marihuana zu rauchen. Alex einziges Missgeschick scheint es zu sein, dass er seine Stelle in einem nun überflüssigen staatlichen Fernsehreparaturladen verliert. Es ist aber bezeichnend, dass dieser Verlust ihm gar nichts auszumachen scheint. Die Worte, die der Regisseur ihm in den Mund legt, als er das Gebäude verlässt, dürften kaum zufällig gewählt sein: "Ich war der letzte. Ich machte das Licht aus." Was in "Goodbye Lenin" im übertragenen Sinne passiert, findet in der ehemaligen DDR tagtäglich tatsächlich statt. Ostdeutschland ist kein Ort mehr zum Leben, sondern zum Weggehen. Zwischen 1990 und 2008 ist die Bevölkerung im Osten einschließlich ganz Berlins von 18,2 auf 16,6 Millionen gesunken. Demografen sagen voraus, dass bis 2020 eine weitere Million die Region verlassen haben wird. Diese rasche Entvölkerung zusammen mit einem konstanten Rückgang der Geburtenrate sollte niemanden überraschen, da es keine klare Zukunftsperspektive im Osten gibt. Im Osten sind deutlich mehr Menschen arbeitslos oder unterbeschäftigt als im Westen. Um die Situation noch zu verschlimmern: Ausgerechnet jene jungen und gut ausgebildeten Menschen, die auf der Suche nach einer Stelle die Region verlassen, würden gebraucht, um die Wirtschaft im Osten herumzureißen. Andere haben sogar noch weniger Grund zu bleiben, denn sie waren Kinder oder noch nicht geboren, als die DDR aufhörte zu existieren. Wer zurückbleibt, tut dies wiederum nicht aus Anhänglichkeit, sondern mangels Alternative. Mit Ausnahme weniger, die in Wachstumsregionen wie Leipzig und Dresden Arbeit finden, werden die meisten eher zu den Problemen der Region beitragen, als sie zu mildern. Eine stetig wachsende Zahl pensionierter Bürger belastet nicht nur die sozialen Sozialkassen, sondern stellt auch die Einstellung der Erwerbstätigen auf die Probe, welche den Sozialstaat finanzieren. Die wirtschaftlichen Prognosen für Ostdeutschland scheinen in der Tat so unsicher zu sein, dass sogar Einwanderer der Region fernbleiben. Drei Typen von Ostdeutschen: 2 Wenn schon unser normaler unpolitischer Bürger dabei ist, die Region mental, wenngleich noch nicht physisch zu verlassen, wie sieht es dann aus für den "letzten Ostdeutschen" aus der zweiten Gruppe, die ich erwähnte? Ich meine diejenigen, die regelmäßig die SED-Nachfolgepartei, also die PDS, oder jene als Die Linke bekannte Mischung politischer Gruppierungen gewählt haben. Nehmen wir an, dass unsere letzte Ostdeutsche eine junge idealistische Staatsbeamtin des DDR-Ministeriums für Kultur war, die sich 1990 plötzlich auf der Straße wiederfand. Wie viele andere Nachwuchskräfte in der Partei war sie nie von allen politischen Aspekten der Honecker-Regierung begeistert, insbesondere nicht von deren Unwillen, auf neue Ideen zu hören. Dennoch stand sie zu den egalitären und kollektivistischen Werten, die – so empfand sie es – ihr Land in besseren Zeiten ausgemacht hatten. Unter solchen Umständen überrascht es kaum, dass sie sich zur PDS hingezogen fühlt. Dank der energischen Führung von Leuten wie Gregor Gysi gab es hier eine Partei, die ihr einen Job garantieren würde, wenn sie die Macht dazu hätte. Gleichzeitig würde diese entschieden ostdeutsche Partei die sozialen Errungenschaften verteidigen, die sie bewunderte: Vollbeschäftigung, günstiges Wohnen, kostenlose Gesundheitsfürsorge. Angesichts scheinbar ständiger Angriffe durch politische Abenteurer und "Besser-Wessis", war es ihr möglich, an den Vorzügen der DDR festzuhalten, ohne Beton und Stacheldraht des alten Regimes in Kauf nehmen zu müssen. Die große Frage jedoch ist, wie lange es für diese junge Frau eine Rolle spielen wird, dass sie sich selbst als Ostdeutsche versteht. In vielerlei Hinsicht ist dieser Frage zu einer entscheidenden für die PDS und Die Linke geworden. Schaut man sich die Entwicklung der SED-Nachfolgepartei an, so bestand ihr Erfolgsrezept darin, sich kontinuierlich als eine Partei mit zwei Gesichtern zu präsentieren. Die PDS war eine Protestpartei, die ostdeutsche Interessen zu vertreten vorgab. In ihrer neuen Form als Eckpfeiler für Die Linke präsentierte sie sich als eine bundesweite Partei, die für alle Deutschen sprechen wollte. Diese beiden Identitäten werden unausweichlich aufeinanderprallen. Beabsichtigt oder nicht: Ich glaube, dass die bundesweiten Tendenzen in der Partei Oberwasser gewinnen werden. In ihren frühen Jahren war die PDS als nichts anderes vorstellbar denn als eine ostdeutsche Organisation. Gerade wegen dieser Beschränkung war sie aber auch die einzige Partei im Osten, die sich völlig unabhängig von westlichen Einflüssen gerieren konnte. Zu Anfang der Neunzigerjahre garantierte diese Position ihrer Parteiführung gewissermaßen das Privileg als ein Symbol gegen die Wiedervereinigung zu fungieren. Dieser Vorteil war der Schlüssel zu den außerordentlichen Wahlerfolgen der Partei auf allen Ebenen. Gelegentlich wurden solche Erfolge durch die internen Grabenkämpfe jener Vielzahl an Gruppen, welche die Existenz der Partei erst ermöglichten, in Frage gestellt. Dennoch hatte die PDS Ende der Neunzigerjahre im Osten den Ruf erworben, sich den Interessen ihrer Wählerschaft verpflichtet zu fühlen und gleichzeitig zu effektiver Zusammenarbeit mit anderen Parteien fähig zu sein. Vor diesem Hintergrund mag man vermuten, dass die Transformation der Partei zur Die Linke in der Mitte der ersten Dekade des neuen Jahrtausends eine starke ostdeutsche Stimme in die bundesdeutsche Politik eingebracht hätte. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Die gesamte Strategie, die ausgeprägte politische Kultur der PDS zu vereinen mit dem kunterbunten Haufen radikaler Intellektueller, entfremdeter Gewerkschaftsaktivisten, ehemaliger Umweltschützer und anderer Berufsrevolutionäre (also denjenigen, die ihre westlichen Mitglieder ausmachen) stellt die Loyalität ihrer ostdeutschen Basis auf eine harte Probe. Das Ergebnis wird paradox ausfallen. Wenn Die Linke aufgrund ihrer internen Spannungen implodiert, werden Wähler wie unsere ehemalige SED-Mitarbeiterin ihren Glauben an die Durchsetzungsfähigkeit ihrer Führung verlieren. Wenn die Partei jedoch erfolgreich eine bundesweit ernstzunehmende Volkspartei wird, wird sie unbeabsichtigt ihre Anhänger einladen, auch politische Optionen näher zu betrachten, die durch andere bundesweite deutsche Parteien vertreten werden. Drei Typen von Ostdeutschen: 3 Deshalb glaube ich, dass der oder die letzte Ostdeutsche aus den Reihen der letztgenannten Personengruppe kommen wird, nämlich der ehemaligen DDR-Dissidenten und Regimekritiker, die sich damals in der Lage sahen, die Autorität ihrer Regierung in Frage zu stellen, auch wenn jedwede Opposition zwecklos erschien. Der 20. Jahrestag der Maueröffnung bot unlängst Politikern, Medien und Talkshow-Moderatoren eine erfreuliche Gelegenheit, sich wieder mit den Helden von damals vertraut zu machen. Jene, die einst durch eine deutsche Diktatur unterdrückt waren, bekamen die Gelegenheit, ihre alten Auseinandersetzungen mit der Stasi und die Härten eines Lebens als von der eigenen Gemeinschaft Ausgeschlossene darzulegen. Gleichwohl gehörten diese Personen auch in den letzten beiden Jahrzehnten unter den politisch am stärksten marginalisierten Gruppen der ostdeutschen Bevölkerung. Wie leicht war es doch, die Tatsache aus den Augen zu verlieren, dass diese Dissidenten größte moralische Stärke und intellektuelle Konsistenz aufwiesen, die dann zu den Ereignissen im Herbst 1989 führen sollte. Sie verfügten über eine lange Tradition widerständigen Verhaltens. Mehr als zehn Jahre zuvor hatten sie gefordert, dass ihre Staatsführung genau jene demokratischen Rechte und freie Wahlen zulassen sollte, die dann letztlich durch den Fall der Mauer möglich wurden. Nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki forderten sie öffentlich internationale Unterstützung, um Druck auf ihre Regierung auszuüben, damit diese ihre Politik reformiere und den unerfüllten Garantien bürgerlicher Rechte in der Verfassung gerecht würde. Dafür wurden viele aus ihren Reihen, wie Wolf Biermann, Reiner Kunze oder Jürgen Fuchs, entweder in den Westen ausgewiesen, eingesperrt, oder beides. Dennoch hat die Androhung von Strafe andere nicht davon abgehalten, es ihnen nachzutun. Weil die Zahl der Dissidenten nie besonders groß und außerdem ziemlich dünn auf unterschiedlichste Oppositionsgruppen verteilt war, haben die meisten Außenstehenden, einschließlich des Autors dieser Zeilen, dazu geneigt, ihre Proteste als politisch weitgehend wirkungslos und ein wenig illusionär abzutun. Gleichwohl wissen wir nun dank der Öffnung der Akten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit, dass sie das kommunistische Regime zutiefst beunruhigten. Man denke nur an die Bedeutung der sogenannten Umweltbibliothek, die von einer Handvoll junger Idealisten im September 1986 gegründet worden war, um auf die Umweltgefahren der SED-Industriepolitik aufmerksam zu machen. Ein Jahr später sollte dieses mickrige Kellerbüro gegenüber der Ost-Berliner Zionskirche in der gesamten DDR als Symbol der Resistenz gegenüber der Diktatur bekannt werden, als es durch die Stasi gestürmt und seine Gründer verhaftet wurden. 1988 wohnte ich in dieser Gegend und brachte meine Tochter regelmäßig nebenan zum Kindergarten. Ich hatte mich oft gefragt, wie die Organisatoren der Bibliothek wohl zu ihren eigenen Aktivitäten standen. Jedesmal, wenn sie das Gebäude betraten, wussten sie, dass sie das Risiko eingingen, von der Schule verwiesen zu werden oder ihren Job zu verlieren. Dennoch mussten sie geradezu begeistert von der Chance gewesen sein, aufzuzeigen wie ihr Land als freie Gesellschaft aussehen könnte. Die Bibliothek arbeitete unter den Augen der Autorität, deren Vertreter vor ihr Streife liefen. Aber diese Idealisten schafften es irgendwie, die Bibliothek zu einem Magazin verbotener Texte, einem Verteilungszentrum für Samisdat-Literatur und zu einem Treffpunkt der vom Regime Entfremdeten werden zu lassen. In ihrem Innern waren sie überzeugt, dass alles, was man brauchte, um ihre Gesellschaft zu ändern, der Wille war, es tatsächlich zu fordern. Unter diesem Aspekt kann ich nur allzugut mit den Gründern der Umweltbibliothek und anderen in vergleichbarer Stellung mitfühlen, deren Selbstverständnis noch stark von ihrer ostdeutschen Identität geprägt ist. Über Jahre haben sie alles jenen Prinzipien geopfert, deren Zeit noch nicht gekommen war. Dann sahen sie endlich ihre Träume von einer veränderten DDR für eine kurze, aber ruhmreiche Zeit von Ende 1989 bis Anfang 1990 Wirklichkeit werden: Massendemonstrationen gegen eine scheinbar unerschütterliche Diktatur, ein Aufblühen unabhängiger Oppositionsgruppen und aufkeimender politischer Parteien – sowie eine Kultur zivilen Engagements und Dialogs, die Alexis de Tocqueville hätte erröten lassen. Deshalb erscheint es sinnvoll, den letzten Ostdeutschen in den Reihen jener zu vermuten, welche die größte Freude an ihrem Land und seinen letzten Tagen hatten. Im Gegensatz zur Mehrheit der Normalbürger war es ihr Ziel, die DDR zu reformieren, nicht aber sie zu verlassen. Und im Gegensatz zu den Anhängern der PDS waren sie nicht daran interessiert, für Wählerstimmen Abstriche von ihren Prinzipien zu machen. Daher wird der Verlust der DDR eine offene Wunde in der persönlichen Biografie jedes Einzelnen bleiben. Die Erinnerung an die DDR Was wird der oder die letzte Ostdeutsche sagen, wenn er oder sie das Licht ausmacht? Wenn diese Person, wie von mir angenommen, einer der ehemaligen Dissidenten ist, wird die Botschaft einfach sein: "Vergesst nicht, was wir erreicht haben." Selbstverständlich will man keinem der ehemaligen DDR-Bürger das Recht absprechen, einen ähnlichen Anspruch zu stellen. Alle Menschen haben ein Anrecht auf ein erinnernswertes Leben. Dennoch verdient unser letzter Ostdeutscher besondere Beachtung. Die Belastbarkeit dieser Person in gefährlichen Zeiten zeigt, dass sich der Kampf um Grundfreiheiten und Menschenrechte selbst unter den ausweglosesten Umständen gelohnt hat. Wird dieses Vermächtnis aber für die politische Führung der Bundesrepublik in zehn oder 20 Jahren noch eine Bedeutung haben? Meiner Meinung nach hängt die Antwort auf diese Frage davon ab, wie sich die politischen Führungen entscheiden werden, die historische Bedeutung der Dissidenten einzuordnen. Bis 1989 war es die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche vom 18. Mai 1848 gewesen, die je in Deutschland einem rein demokratischen Aufstand am nächsten gekommen war. Auch dieses Ereignis wurzelte in der Entschlossenheit einer ganzen Reihe von Regimekritikern, sich gegen ein unterdrückerisches Regiment zur Wehr zu setzen. Was den Mitgliedern des neuen Parlaments an Erfahrung fehlte, machten sie durch deutliche Forderungen nach politischer Repräsentation und nach einer Ausweitung des Wahlrechts wett. Nachdem ihr großes Liberalismusexperiment gescheitert war, folgten fast 100 Jahre Hoffnungslosigkeit. Bei einer zweiten Gelegenheit, am 23. Mai 1949, wurden diese Hoffnungen durch die Proklamierung der Bundesrepublik Deutschland wiedererweckt. Das herausragende Merkmal dieses neuen Staates war sein verfassungsmäßiges Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit. Das Grundgesetz verpflichtete Bonn dazu, eine "streitbare Demokratie" zu sein, die sich der Verteidigung der menschlichen Würde verschreibt. In einem wichtigen Punkt wies diese Errungenschaft jedoch ein Defizit auf. Weil es unter der Federführung der ausländischen Besatzung entstanden war, fehlte dem Grundgesetz eine Eigenschaft, die 1989 in Ostdeutschland auf deutliche Weise präsent war: Legitimität, die nur durch spontane Bekundung erzeugt werden kann. "Das Deutschland, dem die Welt vertraut!" Plakat der FDP zur Bundestagswahl 1990 mit einem Porträt ihres Vorsitzenden, Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher". (© Bundesarchiv, Plak 008-003-002, Grafiker: o.A.) Es ist bekannt, dass auch westliche Politiker 1989/90 von einigen Aspekten dieses Vermächtnisses nicht gänzlich unberührt blieben. So benutzte Hans-Dietrich Genscher einen rhetorischen Kniff, um seinen westlichen Landsleuten einen Platz in der Geschichte zu verschaffen: "Dies war die erste erfolgreiche Freiheitsrevolution unserer Geschichte", erklärte er in einem "Offenen Brief an die Mitbürgerinnen und Mitbürger in Halle und den neuen Bundesländern" (veröffentlicht in der "Mitteldeutschen Zeitung" am 29. September 1990): "Es war eine friedliche, gewaltfreie Revolution. Darin besteht ihr besondere geschichtliche Würde. [...] Unser Volk hat seine politische Reife bewiesen." Ungeachtet der Frage, ob diese Ereignisse tatsächlich eine Revolution darstellten, bleibt festzuhalten: Einerseits wollte Genscher verständlicherweise Gemeinschaftsgefühl in einem lange geteilten Volk erzeugen, andererseits seinem Teil Deutschlands den Ruhm des Augenblicks sichern. Seit jedoch die historische Bedeutung der Ereignisse anerkannt war, spielten diese eine immer geringere Rolle in Deutschlands offizieller Erinnerung. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der DDR war sogar ein gewisses Maß absichtlichen Vergessens auf Seiten Bonns festzustellen. Nur wenige in der politischen Führung der Bundesrepublik hatten Vertrauen in die Fähigkeit ehemaliger Dissidenten, die großen Herausforderungen an den Osten Deutschlands zu meistern. 1990 waren diese Bedenken nicht unbegründet. Während eine Vielzahl ostdeutscher Bürgergruppen entschlossen war, sich in ausführlichen Verhandlungen über die Bedingungen der nationalen Einheit zu engagieren, befand sich die Regierung Kohl nicht in der Position, geduldig abzuwarten. Als Zehntausende von DDR-Bürgern weiterhin 'mit den Füßen abstimmten', sah die Bundesregierung sich gezwungen, die Gestaltung des Einigungsprozesses schnellst möglich in die eigenen Hände zu nehmen. Dementsprechend wandten die westlichen Architekten der Einheit nicht an die Helden des Herbstes 1989, sondern an Leute wie Günther Krause und Peter-Michael Diestel, die eine geringe oder gar keine Rolle bei der Überwindung des kommunistischen Regimes gespielt hatten. In dieser Hinsicht hatten die Dissidenten recht, wenn sie behaupteten, dass ihnen das Recht der Beteiligung am Einigungsprozess kalkuliert entzogen worden sei. Denn – um mit den Worten Bärbel Bohleys zu sprechen (so in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" vom 10./11. Januar 2009): "Wer war, bitte schön, der Herr Krause? Und wer war der Herr Diestel? Diese Herren, die plötzlich mit Kohl verhandelten, kannte niemand." Aber dies waren schwierige Zeiten. Das typische westdeutsche Vergessen, wenn es um das östliche Deutschland geht, das seither eingesetzt hat, dürften nicht die Folge einer bewussten Vernachlässigung sein, sondern eine Nachlässigkeit. Zwei Jahrzehnte nach der deutschen Vereinigung sollte man eine sichtbare ostdeutsche Präsenz in den wichtigsten Führungspositionen der Bundesrepublik erwarten dürfen. Aber als die Deutschen am 27. September 2009 einen neuen Bundestag wählten, befanden sich gerade mal zwei ostdeutsche Minister im Bundeskabinett. Der eine war der Sozialdemokrat Wolfgang Tiefensee, zuständig für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, und das andere Kabinettsmitglied war Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die sich dagegen sträubt, als Ostdeutsche definiert zu werden. Sollen 20 Jahre nach der Einheit immer noch nicht ausreichend viele Ostdeutsche für hervorgehobene politische Ämter qualifiziert sein? Symbolische Anerkennungen der Hinterlassenschaft Ostdeutschlands lassen ebenfalls zu wünschen übrig. Anzeichen eines unbewussten Vergessens waren bereits im Juni 1994 zu erkennen, als Bundeskanzler Helmut Kohl das Bonner "Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" einweihte. Eingerichtet, um die Lebendigkeit der deutschen Demokratie zu würdigen, war jedoch die ostdeutsche Oppositionsbewegung in der Ausstellung komplett außen vor gelassen worden. Unter den wenigen Höhepunkten ostdeutscher Geschichte, die berücksichtigt wurden, fanden die Kuratoren des Museums unerklärlicherweise Raum für Erich Honeckers Schreibtisch. 15 Jahre später ist Vergessen zu einer Gewohnheit geworden. Dies wurde offensichtlich, als im Mai 2009 Bundeskanzlerin Angela Merkel, in Berlin eine größere Kunstausstellung eröffnete, um des 60. Jahrestages des Grundgesetzes zu gedenken. Auch hier blieb die Erinnerung an Ostdeutschland weitgehend ausgeblendet. Von den 60 Kunstwerken in der Ausstellung erinnerte nur ein einziges an die 40-jährige Geschichte der DDR. Unter diesen Umständen kann man leicht verstehen, warum nach so vielen Jahren einige der früheren Aktivisten ihre Empörung durch Resignation ersetzt haben. Der ostdeutsche Autor und Dramatiker Christoph Hein gehörte zu jenen, die Angela Merkel zur Eröffnung der Kunstausstellung eingeladen hatte. In einem Offenen Brief lehnte er ab. Hein verwies auf die Besonderheit, ein Dokument wie das Grundgesetz zu würdigen, das zum Schutze der Freiheit verfasst worden war: Wie es sein könne, fragte er, dass das Werk derjenigen ignoriert werde, die einst für dieselbe gekämpft hätten? "Ich gehören zu den Ausgegrenzten", schrieb er im "Freitag" am 6. Mai 2009, "und nicht zu den Ausgrenzern". Die DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley vor einem Teil der ehemaligen Berliner Mauer im Grenzmuseum Rhön "Point Alpha" in Geisa, 10. Oktober 2009. (© dpa, Picture Alliance) Als JPG herunterladen (31.6kB) Während Hein zu Hause blieb, verließen andere einfach das Land. Bohley zum Beispiel ging nach Bosnien, um dort mit Opfern des Völkermords zu arbeiten. Später erläuterte sie, dass sie nicht Abschied von ihrer ostdeutschen Identität nehmen wollte. Vielmehr dachte sie, diese Identität bewahren zu können, indem sie die Prinzipien der Bürgerbewegung auf das wirkliche Leben anwandte. In ihrem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" erklärte Bohley: "Ich habe in Deutschland keine Aufgabe mehr für mich gesehen. Nach der Einheit waren die Weichen gestellt: Ich hätte den neuen Bedingungen hinterher rennen können oder still in einer Ecke sitzen und schmollen. Die Geschichte ist anders gelaufen als ich es mir vorgestellt hatte. Es hat mich genervt, die ewige 'Mutter der Revolution' zu sein und nur zu Repräsentationszwecken gebraucht zu werden." Obwohl Bohley kurz danach nach Berlin zurückkehrte, dürfte sie hier kaum jene Sinnerfüllung gefunden haben, nach der sie gesucht hatte. Kein Grund, sich an Ostdeutschland zu erinnern? Man kann diesen potentiellen letzten Ostdeutschen wie Hein und Bohley nicht gram sein für ihre Unzufriedenheit mit Berlins Gewohnheit des Vergessens. Wohl kaum jemand dürfte danach streben, in die Geschichte als einer von Friedrich Nietzsches "letzten Menschen" einzugehen, besessen von stagnierenden und bedeutungslosen Erinnerungen. Aber dieses Schicksal ist nicht vorherbestimmt. James D. Bindenagel, der stellvertretende amerikanische Botschafter in der DDR zum Zeitpunkt des Mauerfalls, argumentierte am 9. November 2007 in "The Globalist", dass die politische Führung der Bundesrepublik moralisch dazu verpflichtet sei, (sich) daran zu erinnern, dass die Ereignisse, die zur deutschen Wiedervereinigung führten, Deutschland mit einer Legitimität versehen haben, die der alte westdeutsche Staat niemals aus sich heraus hätte erreichen können. Dies nicht zu beachten, so meinte Bindenagel, sei eine der größten "Unterlassungssünden" Berlins. Ich würde hinzufügen: Indem man die Rolle der Dissidenten für die Destabilisierung des SED-Regimes herunterspielt oder ignoriert, verpasst man eine großartige Gelegenheit. Trost ob dieser schlechten historischen Gewohnheiten bot am 8. Mai 2009 eine Tagung zur Erinnerung an die Bemühungen der ostdeutschen Opposition, Fälle von SED-Wahlbetrug bei den letzten DDR-Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 nachzuweisen. Dort würdigte Kanzlerin Merkel bewusst die Rolle der Bürgerrechtler, die ihren Einsatz für Gerechtigkeit vor ihr persönliches Wohlergehen stellten. Ihr Erfolg beim Nachweis von Wahlmanipulationen, betonte die Kanzlerin, erzeugte die notwendige Energie, um die kleine DDR-Protestbewegung in einen landesweiten Machtfaktor zu transformieren: "Ohne 7. Mai kein 9. November und kein 3. Oktober, ohne die Zivilcourage unabhängiger Bürgergruppen am Tag der Kommunalwahl auch keine Protestwelle gegen die Wahlfälschung, und ohne diese Proteste eben kein Mauerfall und keine Wiedervereinigung." Gleichwohl klaffte in Merkels Rede eine Lücke. Obwohl sie hervorhob, welchen Respekt Deutschland als Ganzes den Oppositionellen für die Ermöglichung der nationalen Einheit schulde, so behandelte sie die Proteste in der DDR von 1989 doch so, als hätten sie kaum Relevanz für die Bundesrepublik vor 1990 besessen, als hätten die Massendemonstrationen auf einem anderen Planeten stattgefunden. Erst als die Dissidenten ihren Dienst bereits getan hatten, war Bonn überhaupt bereit, jene juristischen, politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen zu ergreifen, die zur Wiedervereinigung erforderlich waren. Das Problem dieser Vergessenheit liegt nicht nur darin, dass sie nicht dem moralischen Imperativ genügt, sich der Vergangenheit zu erinnern. Vielmehr hat dies Berlin auch daran gehindert, die Aktionen der Dissidenten in die legitimierende Mythologie der Bundesrepublik zu integrieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird von UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon im UN-Hauptquartier begrüßt, 24. September 2007. (© Steffen Kugler / Bundesregierung, B 145 Bild-00163000) Wozu dies führt, zeigte sich am 25. September 2007. Damals hielt Angela Merkel eine mit hohen Erwartungen besetzte Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen, in der sie die Regierungen von Myanmar und Sudan direkt aufforderte, ihre systematischen Menschenrechtsverletzungen zu beenden. Die Rede war jedoch ebenso bedeutend wie inhaltsleer. Bedeutend, weil Deutschland versuchte, nach Jahren des Zauderns eine führende Rolle in einer Angelegenheit von globaler Bedeutung zu übernehmen. Inhaltsleer, weil die Kanzlerin keine spezifischen Gründe dafür nannte, warum Deutschland im Besonderen beanspruchen kann, solche Forderungen zu erheben. Dies aber hätte Merkel am Beispiel der ostdeutschen Oppositionellen tun können. Denn durch ihre Aktionen in der DDR hatten die Dissidenten aufgezeigt, was Länder wie Myanmar und Sudan am meisten zu fürchten haben: dass es niemals akzeptabel ist, Tyrannei als ein notwendiges Übel zu dulden; und dass es immer möglich ist, eine solche Regierung zu stürzen, wenn der ernsthafte Wille dazu vorhanden ist. Aber diese Lehren aus der deutschen Geschichte ließ die Bundeskanzlerin unerwähnt. Doch wann wird nun der letzte Ostdeutsche das Licht ausmachen? Das bleibt ungewiss, doch werden gute Historiker nicht vergessen, wer den Fall der Mauer überhaupt ermöglicht hat. Seinen Verlust hingegen wird das vereinte Deutschland zu tragen haben. "Mein Gott, – ist denn da überhaupt noch jemand da?" Die Karikatur Walter Hanels spielt auf die Flüchtlingswelle aus der DDR Ende 1989 an. (© Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn) Als JPG herunterladen (109.9kB) Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1990 (© bpb/Deutsche Kinemathek) "Das Deutschland, dem die Welt vertraut!" Plakat der FDP zur Bundestagswahl 1990 mit einem Porträt ihres Vorsitzenden, Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher". (© Bundesarchiv, Plak 008-003-002, Grafiker: o.A.) Die DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley vor einem Teil der ehemaligen Berliner Mauer im Grenzmuseum Rhön "Point Alpha" in Geisa, 10. Oktober 2009. (© dpa, Picture Alliance) Als JPG herunterladen (31.6kB) Bundeskanzlerin Angela Merkel wird von UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon im UN-Hauptquartier begrüßt, 24. September 2007. (© Steffen Kugler / Bundesregierung, B 145 Bild-00163000) Eine ältere Version dieses Essays erschien unter dem Titel »The Last East German and the Memory of the GDR« in: German Politics and Society 28 (2010) 1.
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A. James McAdams
"2023-02-17T00:00:00"
"2012-01-11T00:00:00"
"2023-02-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/54226/der-letzte-ostdeutsche/
Wer wird der letzte sein, der sich als Ostdeutscher definiert? Und was wird er uns zu sagen haben? Ein unterhaltsam, nachdenklicher Essay über ostdeutsche Befindlichkeiten, (west-)deutsche Vergesslichkeit und gesamtdeutsche Geschichtsvergessenheit.
[ "Deutschland Archiv", "Medien", "DDR", "Mauer", "Gedenken", "ostdeutsch", "Deutschland", "DDR" ]
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Redaktion | The Celluloid Curtain | bpb.de
Herausgeber Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn © 2011 ViSdP: Thorsten Schilling Konzept und Redaktion/bpb Katrin Willmann Dr. Christian Heger Übersetzungen ins Englische Rosie Goldsmith Max Easterman Umsetzung 3pc - Neue Kommunikation Editors Publisher Federal Agency for Civic Education, Bonn © 2011 Responsible according to the Press Law: Thorsten Schilling Concept and Editorial Staff / Federal Agency for Civic Education Katrin Willmann Dr Christian Heger Translations Rosie Goldsmith Max Easterman Implementation 3point Concepts
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-02-14T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/63057/redaktion/
Hier finden Sie die Angaben zur Redaktion der Veranstaltungsdokumentation "The Celluloid Curtain" der Bundeszentrale für politischen Bildung vom April 2011.
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Mode Events aus dem Senegal | Presse | bpb.de
Die international renommierte Star-Designerin Oumou Sy präsentiert am 12. Juni im Rahmen der Internationalen Sommerbühne Wolfsburg ihre neueste Kollektion afrikanischer Haute Couture. Die engagierte Unternehmerin wird außerdem am 18. Juni im Rahmen des Masala Festivals Hannover die Kinderkarawane eröffnen sowie am 19. Juni eine weitere Modenschau im Pavillon Hannover gestalten. Umrahmt werden die beiden Mode-Events von Konzerten mit Coco Mbassi in Wolfsburg und Maciré Sylla in Hannover. Oumou Sy gilt nicht nur als die herausragendste Modeschöpferin Afrikas, sondern gehört auch zu den erfolgreichsten Unternehmerinnen des Kontinents. Die einstige Analphabetin und Autodidaktin gründete in der Altstadt von Dakar ihr Modeimperium und eine vielfach ausgezeichnete Mode- und Designschule. In ihren Ateliers unterrichtet sie traditionelles afrikanisches Textilhandwerk, stellt Stoffe her und entwirft Gewänder, die in New York, Rom und Paris Furore machen und von so bekannten Künstlern wie Youssou N´Dour getragen werden. Oumou Sy hat darüber hinaus in Dakar die internationale Modewoche SIMOD gegründet, dort das erste Internet-Café eröffnet und sich für die Modernisierung hunderter senegalesischer Dörfer eingesetzt. Die Events mit Oumou Sy werden von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb im Rahmen ihres Afrikaschwerpunkts "Africome 2004–2006" gefördert. Neben den beiden Modenschauen in Wolfsburg und Hannover erwarten die Besucher Ausstellungen zu Kunst, Mode und der Arbeit von Frauen in Afrika, Workshops, politische Gesprächsrunden und Wirtschaftsforen. Mit "Africome" will die bpb bundesweit alle Bevölkerungsschichten erreichen und dabei den Fokus auf die positiven Entwicklungen im heutigen Afrika richten. Afrika, oft nur als "Katastrophenkontinent" wahrgenommen, hat eine Menge an Innovation, Kreativität und Potenzial zu bieten. Ein breiteres Wissen zu vermitteln, mehr Toleranz zu fördern und auch die Begegnung zwischen hier lebenden Afrikanern und Deutschen zu fördern, ist Ziel dieses Themenschwerpunkts der bpb. Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Swantje Schütz Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel.: +49 228 99515-284 Fax: +49 228 99515-293 E-Mail: E-Mail Link: schuetz@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/50824/mode-events-aus-dem-senegal/
Oumou Sy gilt als die herausragendste Modeschöpferin Afrikas. Im Rahmen der Internationalen Sommerbühne Wolfsburg präsentiert sie am 12. Juni ihre neueste Kollektion afrikanischer Haute Couture.
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Stalin unter Luftballons | Lateinamerika | bpb.de
Straßenszene mit Stalin-Poster in Oaxaca. (© Anne Huffschmid) Maiskolben dampfen aus dem Blechtopf, auf dem Pflaster ist Kunsthandwerk auf bunten Tüchern ausgebreitet, direkt darüber flattert "José Stalin" in der lauen Luft. Nicht mehr viel zeugt auf dem Platz von jenem langen Sommer der Revolte, als die Innenstadt von Oaxaca noch in der Hand der Aufständischen und der Alltag über Monate suspendiert waren. Noch immer ist der Pavillon mit dem verschnörkelten Metallgeländer mit Transparenten zugehängt: "Willkommen in Oaxaca, Wiege der Repression". Vor der Kirche ist ein weißes Zeltdach aufgespannt, darunter stehen ein paar Gestalten. Eine Lautsprecherstimme beschwört erst Gandhi, dann Che Guevara, eine Blaskapelle spielt einen kurzen Tusch. Ein junger Mann drängt an das Mikrofon und ruft zum Protesttreffen gegen die "unmenschlichen Stierkämpfe" auf. Dünner Applaus. Es ist früher Nachmittag, ein paar Schritte weiter preisen Obst- und Eisverkäufer ihre Waren an, andere Händler verschwinden fast unter riesigen Bündeln metallicfarbener Luftballons, beleibte Frauen tragen Rosensträuße in Tüchern vor dem Busen. Von Ständen mit raubkopierten CD's scheppert Musik über die Plaza, süßer Pop, Marimba und Heavy Metal, aus allen vier Ecken gleichzeitig. Touristen schlendern ziellos umher. Es ist Guelaguetza-Woche. Letztes Jahr musste das einwöchige Folklore-Fest noch abgeblasen werden, jetzt kommen die Besucher allmählich zurück, die Hotels sind noch lange nicht ausgebucht. Manche der Protestbanner sind gleich auf englisch gehalten, "Killer government" oder, in Anspielung auf den Gouverneur, "Ulises, we repudiate you" ("Ulises, wir verabscheuen dich"). Abends ist das weiße Zelt dann rappelvoll. Kein Landesvater in Mexiko dürfte je so inbrünstig gehasst worden sein wie der 48-jährige Ulises Ruiz Ortiz, der den Bundesstaat Oaxaca seit 2004 regiert. Schon damals war ihm Wahlbetrug vorgeworfen worden, in bewährter Tradition der institutionell-revolutionären Partei PRI, die die Präsidentschaft zwar 2000 abgeben musste, in Oaxaca aber seit nahezu 80 Jahren regiert. Doch diesmal war etwas aus der Kontrolle geraten. Leninisimus als Vorbild? Plakat in Oaxaca. (Bild: Anne Huffschmid) Auf einem roten Banner, das quer über eine Ecke der Plaza gespannt ist, sieht man den robusten Schnauzbartträger, wie er von Hammer, Sichel und Machete hinweggefegt wird. "Stürzen wir den Tyrannen" steht daneben und "proletarische Macht". Dabei geht es nicht nur um Ulises, sagt Florentino López Martinez, ein freundlicher junger Mann, der auf einem steinernen Bänkchen hinter dem Transparent sitzt. Er ist einer der Sprecher der APPO, die Volksversammlung der Völker Oaxacas, wie sich der Zusammenschluss der protestierenden Gruppen nennt. Und er dürfte hier eigentlich gar nicht sitzen. Denn auf ihn ist, wie für die gesamte APPO-Spitze, ein Haftbefehl ausgestellt, 300 sollen es insgesamt sein. Aber hier ist ja fast noch befreites Territorium, sagt der junge Indigene. Erst jenseits der Altstadt, da muss er dann abtauchen. Nein, eine feste Schlafstätte habe er nicht. Worum es denn gehe? Ganz einfach, eine "tief greifende Umwälzung", eine neue Verfassung, poder popular, das Volk an die Macht. Ganze 23 Jahre ist López Martinez alt, das Gesicht ist weich, die Stimme auch, die Rhetorik geschliffen. Geboren ist er in einer Region namens La Mixteca, wo eines der ältesten mesoamerikanischen Völker, die mixtecos, das Regenvolk, beheimatet sind. Die Familie aus Bauern, in der kaum einer lesen oder schreiben konnte, ist fast vollständig in die USA ausgewandert. Der junge Mixteke blieb, begann ein Jurastudium an der Universität von Oaxaca, trat dort der Revolutionären Volksfront (FPR) bei, die mit der Stalin-Standarte, und hat den Marxismus-Leninismus schätzen gelernt. Da ist keine Ironie, nichts wird relativiert. Wo denn in einer Region wie Oaxaca, in der 70 Prozent der Bevölkerung indigener Abstammung sind, das Proletariat zu finden sei? López lächelt nachsichtig, nicht das erste Mal stellt man ihm solche Fragen. Natürlich wolle man "keine Kopie der russischen Revolution", es sei alles eine Frage der Übersetzung: Das verarmte Bauerntum bei Lenin sind heute die indigenen Gemeinschaften, die sollten strategische Allianzen mit den "19 Prozent Industriearbeiterschaft" schmieden. Im Übrigen seien in der APPO "alle Ideologien vertreten", es gebe alle Arten von Kommunisten bis Anarchisten, sogar ein paar Trotzkisten seien dabei und brave Reformsozialisten. Keine habe die "absolute Stimme", es werde diskutiert bis zum Abwinken, Entscheidungen werden kollektiv getroffen. Aber nochmal: Wie vertragen sich Stalin, Basisdemokratie und indigene Kulturen? López Martinez bleibt geduldig. Selbstverständlich würden "alle Forderungen der indigenen Völker", das Recht auf eigene Sprache, auf Autonomie und Anerkennung als Rechtssubjekte, aufgegriffen. Schließlich seien die allermeisten selber Indigene. Heute aber geht es schon um Ulises. Dafür werden auch die ausländischen Besucher agitiert. "Wir waren nie gegen die Touristen, sie sollen die Botschaft ruhig in ihre Länder mitnehmen." Und wenn der Gouverneur nicht geht? Na ja, seufzt der junge Mann und streicht sich übers Haar. Wenn die Polizei wieder zuschlage, könne "alles Mögliche" passieren. Dann zieht er mit einem kleinen Trupp davon, mit Spruchbändern und Transparenten in Richtung Fußgängerzone. Brandherd im Touristenparadies Ausgerechnet Oaxaca, mit dem Kopfsteinpflaster und den in verwaschenem Bunt getünchten Fassaden die wohl verführerischste unter den mexikanischen Kolonialstädten, hat dem Land einen neuen Brandherd – und mit der APPO ein neues Kürzel der Rebellion beschert. Über ein Jahr ist es hier, dass die malerischen Gassen zum ersten Mal mit Tränengas eingeräuchert wurden. Noch heute lauert unter der Alltagsfassade der Ausnahmezustand, die Stadt ist wie traumatisiert: Bilder von Polizisten, die aus der Luft Tränengasgranaten in die Menge schießen, Berichte von Massenverhaftungen, von Folter und Misshandlungen, Kinder im Knast, Zivilpolizisten und Scharfschützen, die auf Demonstranten zielen. 18 offiziell registrierte Tote nennt Amnesty International in seinem Oaxaca-Bericht von Ende Juli, inoffiziell sollen es sogar schon 27 sein. Bis heute werden APPO-Aktive und Menschenrechtler abends auf offener Straße verschleppt, zusammengeschlagen, bedroht, wieder freigelassen oder zur Wache gebracht. Blanke Willkür. Das ist die eine Seite. Die andere ist der Rausch der Revolte. Monatelang hatte man das Stadtzentrum in Beschlag genommen, Radio- und sogar Fernsehstationen waren besetzt, alle wichtigen öffentlichen Gebäude belagert, darunter der Regierungspalast; die Landesregierung musste auf Hotels ausweichen. An die tausend Barrikaden soll es in der "Kommune von Oaxaca" gegeben haben, nachts saß man an Lagerfeuern, tagsüber brachten gewaltige megamarchas, wie die gigantischen Protestumzüge genannt wurden, Hunderttausende auf die Beine. Bis zu einer Million sollen demonstriert haben, und das bei einem Bundesstaat, in dem überhaupt nur dreieinhalb Millionen Menschen leben. Die Stadt Oaxaca war, und das ist keine Metapher, über Monate "befreites Territorium". Mörder ohne Strafe – die Wut der Witwen Petra González mit einem Foto ihres Mannes. (Bild: Anne Huffschmid) Diese Freiheit hatte für manche einen unerträglich hohen Preis. Dass Petra González sich in jener Nacht vom 22. August 2006 zunächst gar keine Sorgen um ihren Lebenspartner, den 52-jährigen Lorenzo San Pablo, machte, hat mit den etwas komplizierten Familienumständen zu tun: Lorenzo war von seiner Ex-Frau noch nicht geschieden und kam nur ein paar Mal die Woche zu Petra und dem gemeinsamen Sohn Andres, heute anderthalb Jahre alt. Lorenzo arbeitete bei der Stadtregierung, eigentlich hätte ihn die Bewegung gar nichts angehen müssen. Doch er beobachtete die Proteste "mit Sympathie", wie die Mitvierzigerin mit dem runden Gesicht sich erinnert. In jener Nacht habe es bei einer der Barrikaden Alarm gegeben, berichtete man ihr später, und so sei er noch spät losgezogen. Und dann ging alles sehr schnell. Aus Kleinbussen heraus begannen Bewaffnete auf die Aktivisten zu schießen, Lorenzo traf es in den Rücken, als er Deckung hinter einem Baum suchte. Der Lungenflügel war zerfetzt, im Hospital ist er dann am eigenen Blut erstickt. Am nächsten Morgen dann der Anruf der Schwester, die die Nachrichten gesehen hatte. "Bitte fall' jetzt nicht in Ohnmacht". Nein, sie sei nicht ohnmächtig geworden. Es gab dann noch eine Hommage auf der Plaza von Oaxaca, da ist sie dabeigewesen mit dem Babybündel auf dem Arm. Gesprochen aber hat sie nicht, als unverheiratete Geliebte hält sie sich im Hintergrund. "Aber ich hätte sprechen müssen", sagt sie heute und beginnt zu weinen. Sie hätte erzählen müssen, was er für ein Mensch war, jemand, der gerne tanzte und ihr "fast jeden Tag" Blumen mitbrachte. Die Politik hat ihr Leben überfallen, ohne Vorwarnung. Auch jetzt geht sie noch selten aus dem Haus, der Bus ist teuer, niemand sonst passt auf den Kleinen auf. Petra ist in einem Alter, in dem viele Frauen in der Gegend schon Großmutter sind, und sie muss ihren kleinen Kramladen am Laufen halten. "Ich beglückwünsche die Leute, die den Mut haben, etwas zu tun." Der Mann von Carmen Marín Garcia war keiner von diesen ganz Mutigen. Alejandro Garcia sei nur sauer geworden, erinnert sich die zierliche Vierzigjährige, als er die ersten Bilder vom Polizeieinsatz gegen die Lehrer gesehen hatte. Als die Barrikaden anfingen, habe er dann zu ihr gesagt: "Komm, lass uns ein bisschen Kaffee und Gebäck zu den Leuten bringen." Carmen war wenig begeistert, nachts auf der Straße Kaffee zu servieren. Doch sie gingen hin, immer wieder. Zum Getränk kamen geschmierte Brote, später Brennholz. Auch in der Nacht vom 13. Oktober waren die Eheleute wieder zu "ihrer Barrikade" unterwegs. Sie befanden sich schon auf dem Heimweg, als ihnen ein Krankenwagen entgegenkam. Alejandro ging kurz zurück, um die Leute zu bitten, den Wagen auch wirklich durchzulassen. In diesem Moment durchbricht ein Kleinbus die Straßensperre, die Insassen schießen aus den Fenstern. "Hoch lebe Ulises Ruiz", sollen sie gerufen haben. Ein paar Minuten später sieht Carmen ihrem Mann mit einer Schußwunde im Kopf auf der Fahrbahn liegen. Im Krankenhaus lässt man den Schwerverletzten erstmal liegen. Erst als eine bekannte Fernsehschauspielerin und einige Reporter anrücken, wird Alejandro Garcia operiert. Kurz darauf stirbt er. Die Mörder wurden identifiziert, festgenommen, verhört – und kurze Zeit später gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt. Mit der PRI haben Alejandro und Carmen Garcia, beide ehemalige Polizisten und seit 20 Jahren verheiratet, nie etwas am Hut gehabt. Im Jahr 2000 haben sie noch die rechtsliberale Partei der Nationalen Aktion (PAN) gewählt, man habe endlich den Wechsel gewollt. "Wir konnten ja nicht ahnen, was für ein Wechsel das werden würde". Denn es ist vor allem der Unterstützung durch die PAN zu verdanken, dass der Gouverneur heute weiterhin im Sattel sitzt. Zwar hatten ihm im Oktober 2006 noch Abgeordnete aller Parteien den Rücktritt nahegelegt. Dann aber ruderte die PRI-Führung zurück und setzte die PAN, die gerade unter fragwürdigen Umständen die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte, unter Druck: Nur wenn sämtliche PRI-Gouverneure, die letzte politische Bastion der ehemaligen Staatspartei, unangetastet blieben, bekäme der neue Präsident die dringend benötigte Unterstützung in Kongress und Senat. Ulises Ruiz blieb im Amt. Doch der habe sich verkalkuliert, sagt Carmen Marin Garcia. Demonstranten zu verhaften, Killer anzuheuern, heize die Bewegung nur an. "Selbst Leute, die vorher gar nichts damit zu tun hatten, fangen an, sich zu bewegen." Wie sie selbst, die heute auf fast jede marcha geht, sich seit einiger Zeit auch mit anderen Witwen trifft und davon spricht, dass sie ein "freies Oaxaca" möchte. Nicht alle meinen das so, wie sie es sagt. Es gibt Bewohner, die sich Aufkleber mit "Befreit Oaxaca!" ans Auto kleben und damit nicht den Gouverneur, sondern das "aufständische Pack" meinen. Und auch viele Armen, gibt Carmen zu bedenken, sind immer noch bereit, für ein T-Shirt, eine Mütze oder ein Sandwich ihre Stimme zu verkaufen. Bei den jüngsten Wahlen zum Landesparlament Anfang August 2007 kam die PRI wieder auf fast 50 Prozent der Stimmen. Die mexikanische Linkspartei PRD hingegen, die die Bewegung erst ignoriert hatte und dann sich auf die Schnelle einverleiben wollte, schnitt sehr bescheiden ab. Mehr als Dreiviertel aller Stimmberechtigten aber gingen gar nicht erst zur Wahl. Vielfalt im Zapotekenland Mit Wahlkampf, aber auch mit linker Revolutionsrhetorik, haben die indigenen Gemeinden wenig im Sinn. Am Anfang trug die APPO ja sogar noch den Singular "Volk von Oaxaca" im Titel, erinnert der Aktivist Aldo González. Doch dann habe man wohl bemerkt, dass es mehr als ein Volk gibt; nach amtlichen Statistiken sind 16 ethnische Völker registriert. Und, eine Besonderheit Oaxacas, 418 von 570 Gemeinden funktionieren nach "Sitten und Gebräuchen" der traditionellen Dorfgemeinschaften – offiziell anerkannt durch die Landesgesetze. Man möge ihn nicht mit seiner Pfeife fotografieren, bittet Gonzalez lachend, "sonst kriege ich wieder zu hören, ich wolle Marcos nachmachen". Dabei ist er deutlich jünger als der Zapatistensprecher aus dem benachbarten Chiapas, lässt sein Gesicht unverhüllt und ist zudem indigener Herkunft. Vor 42 Jahren ist er hier in der Sierra geboren, im Bergdörfchen Guelatao, eine gute Stunde Serpentinenfahrt von der Hauptstadt entfernt. Hier hat einst Benito Juarez, der erste und bislang einzige Indio-Präsident des Landes (1861-1872), das Licht der Welt erblickt. Das erklärt womöglich den propperen Anblick der Ortschaft, in dem gerade mal 600 Menschen leben. Überall ranken sich dunkelrosa Blüten an leuchtendweißen Mauern hoch, allerorten ragen Satellitenschüsseln ins Grün. Dies ist das Zapotekenland, erklärt González, auch wenn hier schon lange keiner mehr zapoteco spricht. Als 15-Jähriger war der Junge zum Lernen und Studieren nach Mexiko-Stadt gegangen, zehn Jahre später ist er zurückgekommen. Hier haben ihn die zapotekischen "Gebräuche" wieder eingeholt: der tequio, der geldlose Tausch von Waren und Diensten, vor allem aber das rotierende sistema de cargos, das Ämtersystem, nach dem alle Bürger des Dorfes für eine Zeit in öffentliche Ämter gewählt werden, unentgeltlich. Auf diese Weise wurde er erst zum "Einkäufer" bestimmt, dann zum Schatzmeister, später zum Gemeindevorsteher. Seinen Arbeitsplatz hat er heute bei der indigenen Bauernorganisation UNOSJO, die am Rande von Guelatao in einem schmucken Blockhüttenensemble zwischen Pinien residiert. Dem 1990 gegründeten Verband geht es um Bodenständiges, um Holz, Wasser und Mais. Gegen die Sägewerke, die die Bewohner seit einem Vierteljahrhundert zur Abholzung verlocken, für eine ökologische Wasserwirtschaft, gegen die Kontaminierung durch genmanipulierten Mais, der kürzlich auf den Feldern hier entdeckt worden ist. Die Unruhen in der Stadt hat man zunächst misstrauisch beäugt. Zwar schickte man Tortillas an die Barrikaden, die endlosen Dispute aber waren weniger verlockend. Dennoch hat man sich Ende November in den 260-köpfigen APPO-Rat wählen lassen. Die Verknüpfung von städtischen und indigenen Erfahrungen sei eine Chance, so González, für "neue politische Praktiken". Schließlich agieren ja auch die Indigenen "nicht im luftleeren Raum". Aber noch immer knirscht es gewaltig zwischen den kommunitären Werten wie Austausch, Gegenseitigkeit und einer "dienenden Führung" und der vertikalen Logik vieler linksorthodoxer Gruppen. Auch strategisch liegt man nicht unbedingt auf einer Linie. Straßenblockaden und Barrikaden sind für die ohnehin schon abgelegenen Dörfer eher "hinderlich". Radikal und pragmatisch So ist die APPO heute ein heterogenes Mosaik aus über 300 Gruppen, in dem sich neben der Lehrergewerkschaft und den indigenen Gemeinden auch Punks und antiautoritäre Pädagogen tummeln, Studierende und Öko-Aktivisten, Künstler, Libertäre, Handwerker und das ganze Spektrum linksradikaler Splittergruppen, die während der langen Blockadenächte den idealen Nährboden für Ad-Hoc-Schulungen finden. Einig ist man sich bislang darüber, dass der Protest friedlich und öffentlich, nicht bewaffnet und geheim, verlaufen soll. Dabei ist "friedlich" ein dehnbares Wort. Geschossen hat bislang zwar immer nur die Gegenseite. Steine, Stöcke, Feuerwerkskörper und Molotow-Cocktails kommen aber zum Einsatz, Autos und Busse gehen immer wieder in Flammen auf. Dass auch sonst nicht alle am selben Strang ziehen, wird schon bei den Lehrern deutlich. Als diese Ende Oktober 2006 beschlossen, erstmal in die Klassenzimmer zurückzukehren, deuteten viele APPO-Gruppen dies als "Einknicken". Der damalige Verhandlungsführer der Lehrergewerkschaft ist heute untergetaucht und gilt als "Verräter". Auch wenn die "Volksversammlung" zweifellos die treibende Kraft ist, so geht die Bürgerbewegung noch über sie hinaus. Etwa im Espacio Civil, dem zivilen Raum, in dem sich an die 50 Gruppen zusammengeschlossen haben. Nicht als Konkurrenz, stellt Alma Delia Soto vom Menschenrechtskomitee "25. November" klar, eher als friedliches Neben- und Miteinander. Schwer vorstellbar, dass die junge Frau mit geblümtem Rock und sanfter Stimme, im gleichen politischen Boot sitzen soll wie die indigenen Jungstalinisten aus der FPR. Doch Berührungsängste sind Soto, die lange selbst als APPO-Sprecherin fungierte, völlig fremd. Florentino López Martinez beschreibt sie als "engagierten jungen Mann". Das ist womöglich das Erstaunlichste an Oaxaca, diese Mischung aus Radikalität und Pragmatismus. Soto, die sich zuvor nur in der kirchlichen Jugendarbeit engagiert hatte, kam Ende November, wenige Tage nach dem bislang brutalsten Polizeieinsatz, auf eine Idee: Der berühmte Maler und Kulturmäzen der Stadt, Francisco Toledo, sollte Anwälte unterstützen, die sich für die Rechte von Verhafteten und Opfern einsetzen. Der ansonsten ausgesprochen politik- und medienscheue Künstler sagte sofort zu. Seitdem arbeiten neun Anwälte für die Freilassung der politischen Gefangenen - 25 sollen derzeit noch einsitzen – , die Witwen beziehen von Toledo eine kleine Rente. Doch auch das Komitee treibt mehr an als humanitäres Kalkül. Soto kramt einen Ordner mit dicken Stapeln von kopiertem Papier hervor: Entwürfe zu Gesetzesinitiativen über Gewaltenteilung, Bodenrecht, Mitbestimmung und andere Reformen. Nichts Glamouröses, ohne revolutionäres Pathos, für Oaxaca aber durchaus radikal: "Hier werden Dinge wie Bürgerbeteiligung und Gewaltenteilung ja nicht mal simuliert." Doch noch sind es weniger juristische oder gar philosophisch angereicherte Diskurse um Macht und Gegenmacht, Autonomie und neue Politik – wie bei den "Diskursguerilleros" aus dem benachbarten Chiapas – als vielmehr eine einfache Überzeugung, aus der die Bürgerrevolte bislang ihre größte Kraft bezieht: dass Ulises Ruiz Ortiz, dessen reguläre Amtszeit erst 2010 endet, endlich gehen muss. Denn der Gouverneur verkörpert etwas, das selbst in Mexiko schon archaisch anmutet, die ungebrochene Willkür und den Autismus des Immer-schon-Mächtigen, der sich gegen "die da unten" immunisiert weiß – oder glaubt. Sein Abtritt sei "keine Lösung", sagt Maria del Carmen López Vázquez, eine der APPO-Sprecherinnen, die in Mexiko-Stadt im Exil lebt, höchstens eine "Geste der Entspannung". Erst wenn der Landesvater entmachtet ist, ob auf Lizenz oder hinter Gittern, wird Reden, auch mit der Regierung, überhaupt wieder möglich sein. Und dann wird auch darüber zu streiten sein, was man genau unter "Volksmacht" versteht, über den anderen schnauzbärtigen Diktator aus dem fernen Russland, dessen Antlitz noch immer auf der Plaza von Oaxaca flattert. Und nicht zuletzt über die Frage, was Tierschützer und Trotzkisten, Lehrer, Anarchos und Indigene auf Dauer verbinden könnte. Klar scheint im Jahre zwei der Bewegung nur eines zu sein: "Wir wollen nicht zurück zur Normalität", wie der Radiomacher Carlos Plascencia sagt. Die Angst ist nicht weg. Aber die Wut ist größer. Hintergrund: Chronik der Repression Es gibt so etwas wie eine Stunde Null in Oaxaca: der Morgengrauen des 14. Junis 2006, als eine Ahnung von Bürgerkrieg in das malerische, von Touristen gerne besuchte Städtchen einbrach. Am Anfang waren über 60.000 streikende Lehrer, die ihr Protestlager im Zentrum der Stadt aufschlugen.Nichts Ungewöhnliches, das tun die Lehrer hier seit Jahrzehnten, noch jede Regierung hatte mit ihnen verhandelt. Doch Ulises Ruiz Ortiz will sich als Hardliner und Saubermann profilieren. Mehrere Hundertschaften von Polizisten beginnen, die Platzbesetzung mit brachialer Gewalt aufzulösen, aus Helikoptern schießen Polizisten gezielt Tränengas in die Menge. Die Attacke setzte unerwartete Wellen von Solidarität frei. Die Polizei wird zurückgedrängt, ein Slogan breitet sich wie ein Lauffeuer aus, weit über das Gremium der Lehrer hinaus: "Weg mit Ulises Ruiz!". Schon am nächsten Tag gibt es die erste megamarcha mit 50.000 Teilnehmern, die Zahlen steigern sich von Tag zu Tag, Woche zu Woche. Wenige Tage später schließen sich die Gruppen zur "Volksversammlung der Völker Oaxacas" (APPO) zusammen, die Landesstaatsanwältin Lisbeth Caña spricht in einer Pressekonferenz allen Ernstes von "Stadtguerilla". Im Juli 2006 verliert die PRI haushoch bei den Parlamentswahlen. In der ganzen Stadt werden Barrikaden errichtet, die Poliziei geht immer brutaler gegen die Protestierer vor, zunehmend ohne Rücksicht auf Medienvertreter, selbst Reporter des Kommerzfernsehens werden übel traktiert. Wenig später geht das Morden los. So genannte Parapolizei, bewaffnete Zivilisten oder Zivilpolizisten, beginnen auf Demonstranten und Sympathisanten zu schießen - darunter auch Lorenzo San Pablo und Alejandro Garcia – am hellichten Tag oder bei nächtlichen Attacken. Am 27. Oktober eskaliert die Lage erneut, mehrere Barrikaden werden simultan angegriffen. Unter den Journalisten, die die schießenden Angreifer filmen, ist der US-Amerikaner Brad Will, der für das alternative Nachrichtenportal Indymedia arbeitet. Seine Bilder zeigen die Bewaffneten, wie sie mit den Pistolen fuchteln, abdrücken, man sieht ihre Gesichter. Irgendwann kippt das Bild, eine Stimme schreit aus dem Off: "Sie haben den Blondschopf getroffen!" Einer der Pistoleros hat Brad Will erschossen. Die Ermordnung des Reporters verschreckt für eine kurze Zeit die Weltöffentlichkeit, selbst die US-Botschaft sieht sich bemüßigt, Druck zu machen. Zwei der auf den Videos identifizierten Schützen wurden festgenommen, später aber "mangels Beweisen" wieder freigelassen. Im offiziellen Bericht heißt es, die APPO habe den Tod des Aktivisten verschuldet. Es ist das immergleiche Muster: keiner der Mörder ist bislang verurteilt, alle Festgenommenen mangels Beweisen oder gegen Kaution wieder freigelassen. Zwei Tage später schickt der mexikanische Innenminister an die 4.000 Bundespolizisten, um die "öffentliche Ordnung" wieder herzustellen. Doch der Widerstand ist zäh, der APPO verteidigt zumindest den Campus der Universität. Nach einer weiteren megamarcha am 25. November 2006 kommt es zu den bislang schlimmsten Zusammenstößen. Mehr als hundert von Menschen werden verletzt, in erster Linie durch Polizeigewalt, und 149 verhaftet. Mindestens 13 von ihnen wurden laut dem Oaxaca-Bericht von amnesty international zufolge nachweislich gefoltert. Ende November ist fast der gesamte Sprecherrat der APPO entweder verhaftet oder untergetaucht, die Bewegung muss sich reorganisieren. Doch auch in den folgenden Monaten wird immer wieder demonstriert, es kommt erneut zu Zusammenstößen. Zuletzt Mitte Juli 2007, als bei einer Demonstration zwei Mitläufer – von der Presse fotografiert – von Polizisten brutal zusammengeschlagen werden. Einer von ihnen lag noch wochenlang im Koma. Amnesty-Generalsekretärin Irene Khan spricht bei ihrem Mexiko-Besuch Ende Juli 2007 von "skandalösen Zuständen". Ulises Ruiz Ortiz gibt sich unbeeindruckt von den Londoner Visite: Der Bericht sei "parteiisch", vor allem die Zeugenaussagen der Misshandelten entbehrten "jeder Grundlage". Straßenszene mit Stalin-Poster in Oaxaca. (© Anne Huffschmid) Plakat in Oaxaca. (Bild: Anne Huffschmid) Petra González mit einem Foto ihres Mannes. (Bild: Anne Huffschmid)
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Anne Huffschmid
"2022-02-02T00:00:00"
"2011-12-02T00:00:00"
"2022-02-02T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/mittel-suedamerika/lateinamerika/44801/stalin-unter-luftballons/
Im Bundesstaat Oaxaca protestieren Tierschützer und Trotzkisten, Lehrer, Anarchos und Indigene gemeinsam gegen Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz und dessen diktatorischen Regierungsstil. Der Politiker kämpft um seine Macht. Und schreckt selbst vor Gewalt
[ "Lateinamerika", "Mexiko", "Bürgerbewegung", "soziale Bewegung", "APPO", "Oaxaca", "Mexiko" ]
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Geschichtetes und Geschichtliches | Wissen | bpb.de
"Wissen entsteht geschichtlich." Mit diesem konservativ klingenden Satz beginnt ein 2008 erschienenes Buch, in dem es um "Neue Wissensordnungen" geht und unter anderem um die Frage, wie sich aus den rasch wachsenden Mengen an allzeit verfügbaren Informationen und Nachrichten geordnetes Wissen beschaffen lässt, um sich orientieren und zurechtfinden zu können. Dank Smartphones kann sich der heutige Homo medialis den Besuch in Bibliotheken und das Blättern in Enzyklopädien sparen, weil er allein durch Antippen eines Displays an die Daten kommt, aus dem sich das Wissen formen lässt, das zu einer Lebensplanung und -führung zu gehören scheint. Mit den inzwischen allgegenwärtigen Handys als tragbare Außenstelle des Gehirns erreicht das historische Streben der Menschen einen Höhepunkt, das Aristoteles als ihre eigentliche Natur angesehen hat: "Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen", so lautet der erste Satz seiner berühmten Schrift "Metaphysik". Eine Besonderheit des berühmten Buches von Aristoteles besteht darin, dass der griechische Philosoph seine Sicht auf das urtümliche Verlangen der Menschen nach Wissen, das am Ende des Sammelns nach Ordnung verlangt, nicht nur konstatierte, sondern seine Haltung begründete: Alle Menschen strebten nach Wissen, so Aristoteles, weil sie Freude an der Wahrnehmung der Welt hätten. Mit dem Vergnügen am sinnlichen Zugang zu den Dingen meinte er vor allem das Sehen mit den Augen, die sich bekanntlich am Schönen erbauen. Das deutsche Wort "Wahrnehmung" heißt in der zitierten Metaphysik aisthesis, und nachdem aus dieser leichtfüßigen Idee im Laufe der abendländischen Geschichte der eher schwerfällige Begriff "Ästhetik" geworden ist, kann man sagen, dass Menschen nach Wissen streben, weil sie der Welt eine ihnen gefällige harmonische Ordnung geben wollen. Wer hier einwendet, dass damit doch eine Ordnung der Wirklichkeit und nicht eine Ordnung des Wissens gemeint ist, darf daran erinnert werden, dass es zu den eindrucksvollsten philosophischen Lektionen des frühen 20. Jahrhunderts gehört, dass Physiker erkannten, dass ihre Wissenschaft nicht von der Natur handelt, sondern vom Wissen, das Menschen über die Natur erst gewonnen und dann in ihren Lehrbüchern aufgeschrieben haben, wo es schließlich strukturiert zu finden ist. Die Ordnung des Wissens muss die Ordnung der Wirklichkeit zeigen, die sich umgekehrt in der Wissensordnung widerspiegelt, und um dieses historisch-dynamische Wechselspiel haben sich in der Geschichte der europäisch-abendländischen Kultur vor allem die Naturwissenschaften verdient gemacht. Kuriositäten Bevor ich in diesem Essay dem eingangs zitierten Satz "Wissen entsteht geschichtlich" nachgehe, möchte ich auf zwei Kuriositäten aufmerksam machen, die zur Frage der Wissensordnungen gehören und gerade durch ihren Witz zum Nachsinnen anregen können. Die erste besteht in dem bekannten, bösen Verdikt des antisemitischen Fundamentalontologen Martin Heidegger, der 1951 öffentlichkeitswirksam erklärte: "Die Wissenschaft denkt nicht." Heidegger wollte offenbar das Denken für seine Zunft reservieren, weshalb er bereitwillig zugab, dass die Philosophie nicht weiß – wobei viele wissen werden, dass so etwas schon Sokrates in unschlagbarer Kürze mit den Worten "ich weiß, dass ich nicht weiß" ausgedrückt hat – was mich nicht daran hindern soll, seiner Weisheit zu widersprechen. Schließlich wusste Sokrates eines ganz sicher: dass er nämlich ein Mensch ist. Daraus folgt, dass er etwas wissen wollte, womit immerhin schon zwei Dinge vorliegen, die er wissen musste. Doch sei dies nur am Rande erwähnt. Wenn unter den bisherigen Vorgaben über Wissensordnungen gesprochen werden soll, dann wird auffallen, dass paradoxerweise philosophisch orientierte Fachleute, die selbst über kein Wissen verfügen, den Naturforscherinnen und Naturforschern erklären möchten, wie sie ihre Einsichten ordnen können. So seltsam es auch klingen mag, aber diese Arbeitsteilung zwischen Denkenden und Wissenden hat funktioniert. Seit die Naturwissenschaften unter Anleitung der Physik die Wirklichkeit erkunden und das dabei erworbene Wissen in oftmals mathematisch formulierbare Gesetze zu fassen gelernt haben, kennen und schreiben Menschen Lehrbücher und Kompendien, in denen das Gefundene eine (alphabetische oder sonstige) Ordnung bekommt. Dabei ist dem grantelnden Göttinger Gelehrten Georg Christoph Lichtenberg bereits im 18. Jahrhundert etwas aufgefallen, das er unnachahmlich in seinen "Sudelbüchern" notiert hat: "Ein etwas vorschnippischer Philosoph, ich glaube Hamlet, Prinz von Dänemark, hat gesagt, es gäbe eine Menge Dinge im Himmel und auf der Erde, wovon nichts in unseren Kompendien stände. Hat der einfältige Mensch, der bekanntlich nicht recht bei Trost war, damit auf unsere Kompendien der Physik gestichelt, so kann man getrost antworten: gut, aber dafür stehen auch wieder eine Menge von Dingen in unseren Kompendien, wovon weder am Himmel noch auf der Erde etwas vorkommt." Und damit sind wir bei der zweiten Kuriosität: Man muss tatsächlich Obacht geben und sollte gerade im Bereich der Naturwissenschaften daran denken, wie rasch die Modelle oder die Bildchen, mit denen das aktuell erworbene Wissen erfasst und vorgeführt wird, in die Irre führen können, indem sie eine Ordnung vorspiegeln, die es in der Wirklichkeit gar nicht gibt. Als ein einfaches Beispiel sei auf das Modell des Atoms verwiesen, das Niels Bohr kurz vor dem Ersten Weltkrieg vorlegen konnte und das ihm in den 1920er Jahren Nobelpreisehren eingetragen hat. In diesem eingängigen und anschaulichen und heute noch in vielen Köpfen präsenten Bild des Atoms umkreisen Elektronen einen Kern wie die Planeten die Sonne, nur dass man heute sicher sagen kann, dass es diese Bahnen von Elektronen in Wirklichkeit überhaupt nicht gibt. Sie entstehen erst und nur dann, wenn Menschen sie beschreiben. Ebenso wenig gibt es in der Natur all die Kügelchen, die Atomkerne und ihre Elementarteilchen in den populären Magazinen darstellen sollen, kommen die lustigen Figuren auch noch so bunt daher. Was die Lebenswissenschaften angeht, so konnten sie in Form der Molekularbiologie in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ungeheure Triumphe bei der Erklärung der genetischen Vorgänge in Zellen feiern, was vor allem der zentralen Struktur zu verdanken ist, die als elegante Doppelhelix aus DNA den Stoff zeigt, aus dem die Gene sind, und dabei zur Ikone der neuen Biologie geworden ist. Tatsächlich aber gibt es diese schicke DNA in der zellulären Wirklichkeit keinesfalls in der reinen und nackten Form, in der sie in Lehrbüchern und populären Fernsehsendungen dem Publikum vorgesetzt wird. Es ist überhaupt nicht möglich, das Innere einer Zelle in einem statischen Bild zu erfassen, auf dem sich eine solide Ordnung zeigt. Wenn man eines sicher über das Leben auf diesem Niveau sagen kann, dann dies, dass man dort auf ein wimmelndes und verschränktes Gewebe trifft, dessen dynamische Strukturierung dem derzeitigen Wissen unverständlich und unzugänglich bleibt. Wege des Wissens Wer über Wissensordnungen schreibt, kann zwei historische Wege ihres Werdens verfolgen: Der erste führt von außen nach innen, der zweite geht von der einfachen physikalischen über die raffiniertere chemische zur komplexen organischen Wirklichkeit, ohne damit an ein Ende zu kommen. Mit der zuerst genannten Bewegung des Wissens ist die historische Tatsache gemeint, die an die Vorstellung des Aristoteles anschließt, der zufolge das Wissen vor allem durch das Sehen gewonnen wird. Die Augen der neugierigen Menschen richteten sich zuerst auf den Himmel, nicht zuletzt, weil es dort wundersame Konstellationen von flimmernden Lichtern zu beobachten gibt, um deren Deutung sich erste Astrologen bemühten. Natürlich beobachtete man auch Phänomene auf der Erde – etwa das Eintreten von Hochwasser, die Erträge von Böden oder die Vermehrung von Herden – und Erscheinungen am eigenen Körper. Aber die größte Faszination ging von den Sternen aus, die als Himmelskörper bald von Planeten – bezeichnet nach dem griechischen Wort für "Wanderer" – unterschieden wurden, deren Bewegungen am Firmament man auf göttliches Wirken zurückführte. Aus diesem Grund mussten ihre Umlaufbahnen kreisförmig sein, und jedem Himmelskörper wurde folglich eine eigene Sphäre zugewiesen, was eine harmonische Ordnung der sichtbaren Welt ergab, die sogar die Revolution des Kopernikus überlebte. Zwar hatte der polnische Domherr im 16. Jahrhundert die Erde aus dem Zentrum der Welt genommen, sie an den Himmel gestellt und die Menschen damit mutig näher zu den Göttern erhoben. Aber auch bei ihm bewegten sich die Planeten in den alten Sphären, für die man transzendente Erklärungen bot. Dies änderte sich erst mit Johannes Kepler, der mit seinem festen Glauben an die Bedeutung von Zahlen bemerkte, dass die Himmelskörper auf elliptischen Bahnen unterwegs waren, und dafür konnte man keine Götter verantwortlich machen, bringen diese doch nur perfekte Kreise hervor. Kepler wusste jetzt, dass die Ordnung am Himmel nicht transzendent, sondern immanent erklärt werden musste, und es war schließlich Isaac Newton, der die damit verbundene Aufgabe löste und mit seinem Werk die Forschungsrichtung begründete, die heute als Physik "eine Naturwissenschaft mit Sonderstellung" geworden ist. Diese Disziplin hat es nämlich "mit den Erscheinungen der gesamten Natur zu tun", und so haben "ihre Grundbegriffe überfachliche Bedeutung". Als die heute als klassisch gefeierte Physik in der beschriebenen Form mit den Newtonschen Gesetzen der Bewegung ihre eigene Dynamik aufnahm und ihr historisches Werden einsetzte, gab es weder eine Wissenschaft von der Chemie noch eine Biologie im heutigen Sinne. Alchemisten, die sich schon länger um die Gewinnung von wertvollen Substanzen wie Gold aus eher wertlosem Material wie Blei bemüht hatten, wussten einfach zu wenig, um Erfolg zu haben. Und schon bei Aristoteles lassen sich Ideen über eine große Kette der Lebewesen finden, deren Begründung aber erst dem britischen Naturforscher Charles Darwin gelungen ist, als er im 19. Jahrhundert vorschlug, die Vielfalt der Arten durch einen evolutionären Prozess zu erklären. Bereits vor Darwins großem Gedanken konnte eine modern werdende Chemie erste Erfolge erzielen, was nicht nur die "Wahlverwandtschaften" der Elemente in den Reagenzgläsern erklären konnte, die Johann Wolfgang von Goethe faszinierten und zu einem Roman mit diesem Titel inspirierten, sondern die auch den Aufbau von entsprechenden Industrieanlagen ermöglichte, die mit steigenden Umsätzen daran gingen, eigene Forschungslaboratorien einzurichten. Wissenschaft wurde so zum Beruf, und mithilfe dieser lukrativ werdenden Professionalisierung nahm das Wissen nicht nur der Chemie im Verlauf des 19. Jahrhunderts dermaßen zu, dass seine Fülle spätestens im 20. Jahrhundert nach einer übersichtlichen Ordnung verlangte, die es schließlich auch bekam. Aufbau der realen Welt 1949 veröffentlichte der Philosoph Nicolai Hartmann sein Buch "Aufbau der realen Welt", das den Grundriss einer allgemeinen Kategorienlehre versprach. Wie es von einem Mitglied der denkenden Zunft zu erwarten ist, ging es Hartmann um "die Stellung des Menschen in der Natur", was für ihn die Aufgabe bedeutete, die Krone der Schöpfung auf "den Boden der Ontologie, der Lehre vom Sein, vom Aufbau der realen Welt" zu stellen. Für Hartmann galt, der historische Mensch "entsteht erst in dieser Welt", und es schien ihm offensichtlich, dass die säkulare Wirklichkeit "nicht in einer einzigen Seinsart aufgeht, sondern vielmehr ein Stufenreich bildet", was er dann im Detail ausführte. Abbildung: Zeichnung der Schichten der realen Welt nach Nicolai Hartmann (© Nicolai Hartmann) In einer unter dem Titel "Einführung in die Philosophie" publizierten und von Hartmann genehmigten Nachschrift seiner Vorlesungen, die im Sommersemester 1949 in Göttingen gehalten worden sind, kann man nachlesen, wie sich der Philosoph die Schichten des realen Seins – und damit die Ordnung des menschlichen Wissens – kurz und knapp vorstellte: "Es lassen sich (wie die Zeichnung [Abbildung] verdeutlichen soll) vier Schichten in der realen Welt ausmachen: Materie (Anorganisches), Organisches, Seelisches und Geist. Der Extension nach ist die materielle Schicht die größte. Je höher die Schicht, um so weniger verbreitet ist sie. Nur auf einem kleinen Teil des anorganischen Seins baut sich das organische auf, wieder nur in den am höchsten entwickelten organischen Gebilden findet sich Seelisches, und nur in einer Art der beseelten Lebewesen gibt es Geist." Bevor mehr zu den einzelnen Schichten gesagt wird, soll zitiert werden, wie der Verhaltensforscher Konrad Lorenz Hartmanns Schichten des realen Seins in seinem Werk über "Die Rückseite des Spiegels" bewertet, in dem der Ethnologe den "Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens" unternimmt. Lorenz schreibt: "Der überzeugendste Beweis für die ontologische Richtigkeit [der Hartmannschen Schichtenordnung] ist in meinen Augen, dass sie, ohne auf die Tatsachen der Evolution im geringsten Rücksicht zu nehmen, dennoch genau mit ihnen übereinstimmt, ähnlich wie jede gute vergleichende Anatomie es tut, selbst wenn sie vor den Erkenntnissen Darwins entwickelt wurde. Die Schichtenfolge der großen Hartmannschen Seinskategorien stimmt schlicht und einfach mit der Reihenfolge ihrer erdgeschichtlichen Entstehung überein. Anorganisches war auf Erden sehr lange vor dem Organischen vorhanden, und im Verlauf der Stammesgeschichte tauchten erst spät die Zentralnervensysteme auf, denen man ein subjektives Erleben, eine ‚Seele‘ zuschreiben möchte. Das Geistige schließlich ist erst in der allerjüngsten Phase der Schöpfung auf den Plan getreten." An dieser Stelle kann ergänzt werden, dass es Goethe in seinen Nachträgen zur Farbenlehre als Aufgabe der Wissenschaft beschreibt, die Wirkungen der Natur, "von der gemeinsten bis zur höchsten, vom Ziegelstein, der dem Dache entstürzt, bis zum leuchtenden Geistesblitz", in eine Reihung zu bringen, für die er einen Vorschlag macht, in dem sich unschwer die Seinsschichten des Philosophen Hartmann wiederfinden lassen. Bei Goethe bekommt die Ordnung der Wirklichkeit und des Wissens das folgende Aussehen (von "unten" nach "oben" beziehungsweise von einfach zu komplex): "Zufällig, Mechanisch, Physisch, Chemisch, Organisch, Psychisch, Ethisch, Religiös, Genial." Wissenschaft und ihre Disziplinen Tabelle: Einige Schichten des Körpers und ihre Wissenschaften (© Ernst Peter Fischer) Keine Frage, dass mit dieser Stufung ein Vorbild für die moderne Wissenschaft geschaffen worden ist, das dazu dienen kann, ihre disziplinäre Ordnung zu verstehen, wie sie sich seit den Anfängen ihrer Geschichte herausgebildet hat und die sich für viele Themenbereiche verfeinern lässt. In der Tabelle ist dies in Anschluss an Hartmann für die Schichtenfolge des Organischen zusammengestellt. Die Entwicklung dieser Anordnung des Wissens wird ermutigt durch Hartmanns Hinweis, dass "die höheren Gebilde, aus denen die Welt besteht, ähnlich geschichtet sind wie die Welt". Der erste Blick auf einen Menschen lässt einen Organismus als Ganzes erkennen, wobei im Zustand der Nacktheit neben den Extremitäten vor allem das Organ auffällt, das ihn umwickelt und zusammenhält: die Haut, deren Schicht sich an die Ebene des Organismus anschließt. Organismen bestehen aus Organen, wie es einfach heißt, und Organe wiederum bestehen aus Geweben. Gewebe bestehen aus Zellen, und Zellen stecken voller Moleküle, die ihrerseits aus Atomen zusammengesetzt sind. Von dieser Ebene aus könnten Physiker weiter in die Tiefe steigen und neben den Kernteilchen noch elementare Bausteine wie Quarks anführen, aber diese Ebenen spielen – nach allem, was die Forschung sagen kann – keine Rolle, wenn es um das Verstehen des Menschen und seiner Körperlichkeit geht, weshalb die Freilegung der realen Schichten an dieser Stelle abgebrochen wird, weil sie an ihr einsichtiges Ende gekommen ist. Wohlgemerkt: Für jede real vorliegende Schicht gibt es eine eigene Wissenschaft, die ihre besonderen Fragestellungen kennt und aufpassen muss, dabei keinen Denkfehler zu begehen. Während Organismen wie ein Mensch zum Beispiel einen Willen zeigen und sich etwas wünschen können, bleiben den Zellen Qualitäten dieser Art verschlossen. Zellen wollen nichts, auch wenn es so aussieht, als ob sie davon träumen, sich zu teilen und aus eins zwei zu machen. Wenn sie dies unternehmen, verfolgen sie keine Absicht, vielmehr laufen in ihnen kausal zu verstehende Prozesse ab, über die man selbst oder auch mit anderen ruhig staunen darf. Wenn dies geschieht, kann es schon passieren, dass Biologen vom "Tanz" der Chromosomen oder der "Gefangenschaft" von Zellen in Körpern sprechen. Aber die Freude an solchen Metaphern darf nicht zu Kategorienfehlern führen, wie sie passieren, wenn etwa von "der DNA" eines Fußballvereins die Rede ist oder Gene als "egoistisch" beschrieben werden und man meint, damit das Erbgut verstanden zu haben. Egoismus setzt eine Absicht voraus, und diese Kategorie taucht in der molekularen Schicht nicht auf. Top-down und Bottom-up Die Tatsache, dass sich reale Körper Schicht um Schicht erkunden lassen, ermöglicht zwei Zugänge zu dem vertrauten Ganzen, das einen Organismus ausmacht, nämlich einmal von außen in ihn hinein und einmal von innen aus ihm heraus. Für diese beiden Wege hat sich im Wissenschaftsjargon auch eine andere Ausdrucksweise eingebürgert, nämlich die beiden englischen Bezeichnungen top-down und bottom-up, die ausdrücken, dass man zum einen die Schichtenstruktur von oben nach unten durchqueren kann, also vom Organismus zu den Zellen gelangt und tiefer reicht, und dass sich zum zweiten auch umgekehrt vorgehen lässt und mit den Atomen die Moleküle und mit den Geweben die Organe aufgebaut werden können, dass also der Weg von unten nach oben zu finden ist und sich dabei das Ganze verstehen lässt, das man vor Augen hat und in seiner Funktion begreifen möchte. Wenn man ernst nimmt, dass der gezeigte Schichtenaufbau der realen Welt maßgeblich Auskunft über jedes Sein gibt – also über das Sein im Kleinen und Großen und also auch über die kosmischen Entitäten –, dann kann man sich überall auf die Suche nach den entsprechenden Ebenen machen und zum Beispiel in der kosmischen Welt fündig werden. Die Schichten wären dann (hier vom höchsten zum niedrigsten Sein): Kosmos, Galaxienhaufen, Galaxien, Sternhaufen, Planetensysteme, Planeten – von wo aus man etwa über "geologische Formationen" weiter einteilend fortfahren könnte. Es bleibt an dieser Stelle offen, ob mit dieser Hierarchie und diesen Schichten ebenso eine oder ihre Geschichte erfasst wird, wie es bei den Fundamentalebenen dank der Idee der Evolution gelungen ist. Es ist aber offenkundig, dass die Schritte von den Planeten über die Galaxien bis hin zu den von ihnen gebildeten Haufen die historische Reihenfolge ihrer Findung widerspiegeln, sodass sich auch an diesem Weltbild zeigt, dass zu ihm eine Geschichte gehört oder von ihm eine Geschichte erzählt wird – in diesem Fall die ihrer Entdeckung. Wer mit der philosophischen Vorgabe von realen Schichten nicht bei den Sternen stehen bleiben, sondern weitermachen will, kann sich zum einen davon überzeugen, dass alle stabilen Strukturen der Welt in dieser hierarchischen Weise aufgebaut sind, und er kann zum zweiten anfangen, sich darüber zu wundern, dass es für diesen eigentlich in die Augen springenden und unübersehbaren Sachverhalt noch keine plausible Erklärung gibt, die als Allgemeingut zirkuliert und selbstverständlich ist. Dabei ist jedes Wirtschaftsunternehmen, jeder staatliche Aufbau (Staat, Land, Kreis, Gemeinde, Bürger), jede Klassifikation von biologischen Arten durch eine aufeinanderfolgende und übereinanderliegende Folge von Schichten gekennzeichnet, was als schlichte Tatsachenerfahrung gar nicht übersehen kann, wer sich der Wahrnehmung der Welt zuwendet. Natürlich hat es Bemühungen gegeben, das Auftauchen neuer Merkmale auf höheren Organisationsebenen durch Begriffe wie "Emergenz" oder "Fulguration" verständlich zu machen, die neue Eigenschaften ankündigten, die in den Komponenten der unteren Schicht nicht auszumachen waren. Aber so verständlich und einleuchtend das "Auftauchen" oder der "Blitzeinschlag" auch klingen mochten, über die reine Deskription der Hartmannschen Aufbauidee mit ihren aufruhenden Qualitäten kommen solche Vorschläge nicht hinaus. Und noch etwas: Was die Hierarchie des Makrokosmos angeht, so ist ebenso selbstverständlich wie leicht einsehbar, dass die Komponenten des Ganzen, also seine Teilchen und Teile, bottom-up funktionieren, und die Eigenschaften von unten nach oben im Großen bestimmen oder auf jeden Fall mit zu ihnen beitragen. Inzwischen denken die Physiker aber auch in die andere Richtung – top-down – und versuchen, etwa die Eigenschaften von Elektronen – ihre Ladung und ihre Masse zum Beispiel – aus den Qualitäten abzuleiten, die dem ganzen Weltall zuzurechnen sind. Mit anderen Worten: Die Welt besteht aus Atomen und bestimmt die Atome. Ein Mensch besteht aus Zellen und beeinflusst seine Zellen. Zellen werden von Genen gebildet und bilden ihre Gene selbst. Es ist im Großen wie im Kleinen dieselbe Art der Dynamik der Teile im Ganzen. Alles ist, wie es geworden ist, und alles zeigt ein weiteres Werden, wenn es erst einmal da ist. Dieses Bewegen bringt eine neue Ontologie und damit ein neue Ordnung des Wissens mit sich. So entsteht seine Geschichte. Abbildung: Zeichnung der Schichten der realen Welt nach Nicolai Hartmann (© Nicolai Hartmann) Tabelle: Einige Schichten des Körpers und ihre Wissenschaften (© Ernst Peter Fischer) Olaf Breidbach, Neue Wissensordnungen. Wie aus Informationen und Nachrichten kulturelles Wissen entsteht, Frankfurt/M. 2008, S. 11. Vgl. Ernst Peter Fischer, Die Welt in deiner Hand. Zwei Geschichten der Menschheit in einem Objekt, Heidelberg 2020. Vgl. ders., Wie der Mensch seine Welt neu erschaffen hat, Heidelberg 2013. Martin Heidegger, Was heißt Denken?, Tübingen 1984 [erstmals veröffentlicht 1952], S. 4. Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher (hrsg. von Franz H. Mautner), Frankfurt/M. 1984 [verfasst 1789 bis 1793, erstmals veröffentlicht 1800], S. 343. Friedrich Hund, Grundbegriffe der Physik, Mannheim 1969, S. 11. Nicolai Hartmann, Aufbau der realen Welt. Grundriss einer allgemeinen Kategorienlehre, Meisenheim 19492, S. 119. Ders., Einführung in die Philosophie. Überarbeitete Nachschrift der Vorlesung im Sommersemester 1949 in Göttingen, Osnabrück o.J, S. 121f. Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München 1973, S. 58. Zit. nach Werner Heisenberg, Ordnung der Wirklichkeit, München 1989 [verfasst 1941/42], S. 53. Hartmann (Anm. 7), S. 123.
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, Ernst Peter Fischer
"2022-02-09T00:00:00"
"2021-01-15T00:00:00"
"2022-02-09T00:00:00"
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Die Ordnung des Wissens muss die Ordnung der Wirklichkeit zeigen, die sich umgekehrt in der Wissensordnung widerspiegelt. Um dieses Wechselspiel haben sich vor allem die Naturwissenschaften verdient gemacht. Dennoch können ihre Modelle zugleich in di
[ "Wissen", "Wissensordnung", "Naturwissenschaften", "Physik" ]
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WAR OR PEACE: Crossroads of History - Warum wir von Kreuzungen sprechen | Presse | bpb.de
Foto: © BILDKRAFTWERK Foto: © BILDKRAFTWERK - Es gilt das gesprochene Wort. -
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2018-10-18T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/presse/278671/war-or-peace-crossroads-of-history-warum-wir-von-kreuzungen-sprechen/
Thomas Krüger eröffnet das Geschichtsfestivals "WAR OR PEACE: Crossroads of History" und erklärt die symbolische Bedeutung geschichtlicher Kreuzungen.
[ "Krieg und Frieden", "Festival", "Geschichte" ]
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UNHCR: Die Flüchtlingshilfsorganisation der Vereinten Nationen | Akteure im (inter-)nationalen (Flucht-)Migrationsregime | bpb.de
Während Zwangsmigration seit langer Zeit ein Merkmal der Weltgesellschaft ist, wurden erst ab 1921 auf internationaler Ebene Institutionen geschaffen, die sich um Flüchtlinge kümmern sollten: Als Reaktion auf die Flucht von Menschen aus Russland nach dem Ersten Weltkrieg ernannte derInterner Link: Völkerbund Fridtjof Nansen zum ersten Hohen Kommissar für Flüchtlinge. Im Laufe der folgenden 20 Jahre weiteten sich Wirkungsbereich und Funktionen von Hilfsprogrammen für Flüchtlinge in Europa schrittweise aus, da man sich bemühte, den Status und die Kontrolle staatenloser und entstaatlichter Volksgruppen zu regeln. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der internationale Organisationsrahmen durch die Hilfs- und Wiederaufbauorganisation der Vereinten Nationen (United Nations Relief and Rehabilitation Agency – UNRRA) und die Internationale Flüchtlingsorganisation (International Refugee Organization – IRO), deren Mandate sehr unterschiedlich waren, weiterentwickelt. Während beide Organisationen eine große Zahl an Flüchtlingen repatriierten oder in Drittstaaten neu ansiedelten, verblieben jedoch bis Ende der 1940er Jahre in ganz Europa Hunderttausende Vertriebene (Displaced Persons) in Flüchtlingslagern. Zudem flohen mit Beginn des Interner Link: Kalten Krieges neue Gruppen von Flüchtlingen aus Osteuropa in Richtung Westen. Zeitgleich kam es in Indien, Korea, China und Palästina zu massiven neuen Fluchtbewegungen. Daher sahen die Staaten die dringende Notwendigkeit, eine neue UN-Flüchtlingshilfsorganisation zu schaffen: den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UN High Commissioner for Refugees – UNHCR). Seit 1951 gibt es ein internationales Flüchtlingsregime bestehend aus dem UNHCR und einem Netzwerk anderer internationaler Organisationen, nationaler Regierungen und ehrenamtlicher bzw. Interner Link: Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die eine Strategie entwickelt haben, um auf das globale Problem der Flüchtlinge zu reagieren. Obwohl sie uneinheitlich angewendet werden, ist eine Reihe internationaler Gesetze und regionaler Abkommen verabschiedet und ratifiziert worden. Diese haben, wie die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, zum Teil bereits seit sechseinhalb Jahrzehnten Bestand. Sie definieren Flüchtlinge als spezifische Kategorie von Opfern von Menschenrechtsverletzungen, denen besonderer Schutz und Unterstützungsleistungen gewährt werden sollen. Seit 2005 ist der UNHCR neben seiner Arbeit für Flüchtlinge zudem die führende Organisation für den Schutz von Menschen auf der ganzen Welt, die innerhalb des Landes, in dem sie leben, auf der Flucht vor Konflikten sind (Binnenvertriebene/Internally Displaced Persons – IDPs). Dazu zählt auch die Verwaltung von Unterkünften und Flüchtlingslagern für Binnenvertriebene. Die Satzung des UNHCR legt ein klares Mandat fest und definiert, dass das Kernmandat der Organisation zwei Hauptbereiche fokussiert: die Zusammenarbeit mit Staaten, um sicherzustellen, dass Flüchtlinge Zugang zu Schutz vor Verfolgung erhalten sowie die Sorge dafür, dass Flüchtlinge Zugang zu einer Reihe dauerhafter Lösungen haben. Die Satzung sieht dabei drei verschiedene dauerhafte Lösungen für Flüchtlinge vor: (1) die freiwillige Rückkehr in ihr Herkunftsland, (2) die Integration im Aufnahmeland und (3) die Neuansiedlung in einem Drittland (Resettlement). Der UNHCR hat sich zur führenden Organisation innerhalb des globalen Flüchtlingsregimes entwickelt. Das Kernstück dieses Regimes ist das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention) von 1951, das definiert, wer als Flüchtling gilt. Zudem legt es die Rechte fest, auf die anerkannte Flüchtlinge einen Anspruch haben. Die Genfer Flüchtlingskonvention sagt darüber hinaus ausdrücklich, dass der UNHCR die Verantwortung über die Aufsicht der Einhaltung der Konvention innehat. Die Organisation ist damit für die Überwachung und Unterstützung von Staaten bei der Einhaltung der Normen und Regeln verantwortlich, die die Basis des globalen Flüchtlingsregimes bilden. Trotz dieser in seiner Satzung und der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 festgelegten Bestimmungen schrieben die Staaten dem UNHCR zunächst nur eine eingeschränkte Rolle zu. Sie beschränkten seine Zuständigkeit auf Einzelpersonen, die im Zuge von Ereignissen in Europa, die vor 1951 stattgefunden hatten, zu Flüchtlingen geworden waren. Die Flüchtlingsschutzinstrumente galten zudem ausschließlich Flüchtlingen und schlossen andere vertriebene Personen aus. Darüber hinaus sahen die Staaten den UNHCR als kleine, mit niedrigem Budget ausgestattete, temporäre Organisation, die ausschließlich eine rechtsberatende Funktion innehaben sollte, anstatt sich für die materielle Unterstützung von Flüchtlingen einzusetzen. Seit diesen ungünstigen Anfängen ist das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars im Laufe der Zeit ausgeweitet worden und der UNHCR hat sich zu einer dauerhaften globalen Organisation mit einem Budget im Jahr 2016 von zugesagten sechs Milliarden US-Dollar und mehr als 10.000 Mitarbeitern in 125 Ländern entwickelt. Sie bietet nicht nur Schutz und Hilfeleistungen für Flüchtlinge, sondern ist auch für Binnenvertriebene, staatenlose Personen und andere Gruppen von Vertriebenen zuständig. In den vergangenen 65 Jahren hat das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars auf Veränderungen der politischen und institutionellen Rahmenbedingungen, unter denen es arbeitet, reagiert und seine Rolle und sein Mandat neu gedeutet und ausgeweitet. Seit den 1960er Jahren erweiterte der UNHCR seinen ursprünglichen Fokus auf die Zurverfügungstellung von Rechtsschutz für Flüchtlinge, die vor kommunistischen Regimen in Ost- und Mitteleuropa flohen, und ist seitdem zunehmend mit Flüchtlingssituationen im globalen Süden befasst. Mit der Verabschiedung des UN-Protokolls von 1967 wurde die zeitliche und geografische Begrenzung der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 aufgehoben. Sie erhielt universelle Gültigkeit. In den 1960er Jahren führten in Afrika gewaltsame Dekolonisation und Konflikte nach Erlangung der Unabhängigkeit zu großen Fluchtbewegungen, die den UNHCR dazu veranlassten, sich noch stärker im Bereich der Zurverfügungstellung von materieller Unterstützung zu engagieren. Das Abkommen der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) von 1969 weitete die Definition des Flüchtlingsbegriffs auf Menschen aus, die vor Besatzung, Konflikten und ernsthaften Störungen der öffentlichen Ordnung fliehen. In den 1970ern führten die Massenflucht aus Ostpakistan, Uganda und Indochina, die hoch politisierten Flüchtlingskrisen in Chile, Interner Link: Brasilien und Interner Link: Argentinien und die Rückführung von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen im Süden Sudans zur Ausweitung der Mission des UNHCR rund um den Globus. Infolge der Fluchtbewegungen in Süd- und Mittelamerika erweiterte die Cartagena-Erklärung von 1984 die regionale Flüchtlingsdefinition um Menschen, die vor generalisierter Gewalt, ausländischer Aggression, internen Konflikten oder massiven Menschenrechtsverletzungen fliehen. In den 1980er Jahren rückte der UNHCR weiter von seinem traditionellen Fokus auf Rechtsschutz ab und nahm eine wachsende Rolle bei der Versorgung von Millionen von Flüchtlingen in Lagern und sogenannten langwierigen Situationen ("protracted situations") in Südostasien, Mittelamerika und Mexiko, Südasien, am Horn von Afrika und im Süden Afrikas ein. Nach dem Kalten Krieg übernahm der UNHCR eine größere Rolle bei der Zurverfügungstellung massiver humanitärer Nothilfe im Rahmen Externer Link: innerstaatlicher Konflikte und engagierte sich bei der Rückführung von Flüchtlingen auf dem Balkan, in Afrika, Asien und Mittelamerika. Im frühen 21. Jahrhundert hat der UNHCR größere Verantwortung für die Opfer großer Naturkatastrophen übernommen und ist formell mit dem Schutz von Binnenvertriebenen beauftragt worden. Die Ausweitung der Befugnisse und Aufgaben des UNHCR auf diese neuen Bereiche ist oft von kontroversen Debatten begleitet worden: Einige Staaten, NGOs und Flüchtlingsforscher haben die Besorgnis geäußert, dass die Ausweitung der Zuständigkeitsbereiche des UNHCR auf Binnenvertriebene und Opfer von Naturkatastrophen das zentrale Schutzmandat der Organisation schwäche und seine begrenzten Ressourcen für den Schutz und die Unterstützung von Flüchtlingen übersteige. Der UNHCR verfügt über kein festes Budget. Seine Arbeit ist vollkommen von freiwilligen Zuwendungen abhängig. Das gibt einer begrenzten Zahl von Staaten im globalen Norden einen großen Einfluss, die traditionell den Großteil des Betriebsbudgets des UNHCR finanzieren. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Flüchtlinge und der Bedarf für ihre Versorgung deutlich schneller gestiegen als die Finanzmittel, die global für die humanitäre Hilfe zur Verfügung stehen. Daher können aktuell die Hälfte der Bedarfe von Flüchtlingen und anderen betroffenen Bevölkerungsgruppen vom UNHCR nicht angegangen werden, was die Verwundbarkeit der betreffenden Menschen weiter erhöht. Der UNHCR benötigt eine deutlich sicherere Finanzierungsgrundlage, um die grundlegendsten Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, für die die Organisation zuständig ist. Gleichzeitig arbeitet der UNHCR auf Einladung von Staaten, auf ihrem Staatsgebiet tätig zu werden und muss daher mit einer Reihe von Flüchtlingsaufnahmeländern, insbesondere im globalen Süden, verhandeln. UNHCR obliegt die schwierige Aufgabe, Austausch und Kooperation zwischen den Geberländern im globalen Norden und den Staaten des globalen Südens, die mehr als 85 Prozent der weltweiten Flüchtlinge beherbergen, fördern und ermöglichen zu müssen. Gleichzeitig arbeitet die Organisation in sich verändernden globalen Kontexten, ist mit wechselnden Dynamiken von Vertreibungen konfrontiert und kooperiert mit einer Reihe von Partnern innerhalb und außerhalb des Systems der Vereinten Nationen. Die humanitäre Welt ist heute ein wettbewerbsorientierter Markt, der eine große Zahl von Akteuren umfasst, die alle ihr eigenes Mandat und ihre eigene institutionelle Identität besitzen und den Schutz ihrer eigenen Interessen anstreben. Diese politischen und institutionellen Zwänge beeinträchtigen das Funktionieren des globalen Flüchtlingsregimes und die Fähigkeit des UNHCR, sein Mandat zu erfüllen. Die Interner Link: Asylkrise in Europa hat den UNHCR mit einer nahezu unmöglichen Aufgabe konfrontiert. Im Zuge der Krise haben europäische Staaten den UNHCR weitgehend ausgeschlossen und zunehmend ihre eigenen Reaktionen entwickelt, um sich von der wachsenden Zahl an Flüchtlingen, die auf ihren Territorien Schutz suchen, abzukapseln. Der Mangel an Kooperationsbereitschaft der Staaten hat die Arbeit des UNHCR deutlich behindert und ist eine seiner aktuell größten Herausforderungen. Übersetzung aus dem Englischen: Vera Hanewinkel Interner Link: Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers "Akteure im (inter-)nationalen (Flucht-)Migrationsregime". Zum Thema Zahlen zu Asyl in Deutschland Interner Link: Das Jahr 2015: Flucht und Flüchtlinge im Fokus – ein Rückblick Interner Link: Deutsche Asylpolitik und EU-Flüchtlingsschutz im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems Frontex und das Grenzregime der EU Interner Link: Vereinte Nationen
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-11-18T00:00:00"
"2016-06-17T00:00:00"
"2021-11-18T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/229612/unhcr-die-fluechtlingshilfsorganisation-der-vereinten-nationen/
Weltweit sind rund 65 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Not. Um den Großteil von ihnen kümmert sich das 1951 gegründete Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR).
[ "United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR)", "Migration", "UNHCR", "UN", "Vereinte Nationen" ]
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Das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung | Persönlichkeitsrechte | bpb.de
Für das eigene Selbstverständnis eines Menschen ist es häufig von zentraler Bedeutung zu wissen, wer der genetische Vater und/oder die genetische Mutter ist. Es liegt in ihrer Natur, dass Menschen sich in Beziehung zu anderen setzen, und die Beziehung zu den leiblichen Eltern ist oftmals eine ganz besondere. Deshalb kann es sehr belastend sein, nicht zu wissen und auch nicht herausfinden zu können, wessen Kind man ist. Die damit verbundene Unsicherheit kann noch gesteigert werden, wenn der vermeintliche Elternteil nicht in eine Untersuchung einwilligt. Allerdings enthält das Grundrecht auf Kenntnis der eigenen Abstammung keinen unmittelbaren Anspruch darauf, die erforderlichen Informationen zu erhalten. Der Gesetzgeber hat darauf verzichtet, das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung einfach gesetzlich zu regeln. Das hat damit zu tun, dass Kindern es rechtlich zusteht, gerichtlich Auskunft über den leiblichen Vater zu erlangen. (Das besagt eine ständige und vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandeter Rechtsprechung auf Basis des Externer Link: Paragrafen 1600 und nachfolgender Paragrafen des Bürgerlichen Gesetzbuches). Gleichwohl muss Externer Link: dabei beachtet werden, dass dem Recht des Kindes auf Entwicklung und Wahrung seiner Identität andere Rechte gegenüberstehen können. Dazu gehören beispielsweise das Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder das Recht auf Achtung der Privat- und Intimsphäre, das unter anderem betroffen ist, wenn Informationen über Sexualpartner und Beziehungen offenbart werden. Finanzielle Erwägungen spielen demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle. Diese unterschiedlichen Grundrechtspositionen müssen gegeneinander abgewogen und zu einem Ausgleich gebracht werden. Externer Link: Paragraf 1600d des Bürgerlichen Gesetzbuches ermöglicht es, gerichtlich feststellen zu lassen, wer der leibliche Vater ist. Im Rahmen dieses Gerichtsverfahrens können auch Untersuchungen vorgenommen werden. Stellt das Gericht die Vaterschaft fest, löst dies alle damit zusammenhängenden Rechte und Pflichten aus, wie beispielsweise Unterhaltszahlungen. Die zweite Vorschrift ist Externer Link: Paragraf 1598a des Bürgerlichen Gesetzbuches. Danach kann jeweils der Vater, die Mutter oder das Kind von den beiden anderen verlangen, sich untersuchen zu lassen. Hier knüpfen sich an das Ergebnis keinerlei rechtliche Folgen. Es geht lediglich darum, Kenntnis zu erlangen. Allerdings gilt diese Vorschrift nur gegenüber den rechtlich anerkannten Eltern. In einer Externer Link: jüngeren Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass der Gesetzgeber durch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht verpflichtet sei, einen solchen reinen Informationsanspruch auch gegenüber einem mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Elternteil zu schaffen. Dem Staat komme lediglich die Verpflichtung zu, dafür zu sorgen, dass dem Einzelnen keine verfügbaren Informationen über die eigene Abstammung vorenthalten werden, die für die Betroffenen wichtig oder entscheidend sind, wenn sie sich auf rechtlichen Wege begegnen oder auseinandersetzen. In einem anderen Fall, den der Externer Link: Bundesgerichtshof entschieden hat, ging es um das Recht eines durch künstliche Befruchtung gezeugten Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung. Laut Bundesgerichtshof wird diesem Recht "regelmäßig ein höheres Gewicht zukommen", als dem Recht des Samenspenders, anonym zu bleiben. Im Einzelfall könne deshalb der damals behandelnde Arzt verpflichtet werden, die Identität des biologischen Vaters offenzulegen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-01T00:00:00"
"2017-03-17T00:00:00"
"2022-02-01T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/recht-justiz/persoenlichkeitsrechte/244846/das-recht-auf-kenntnis-der-eigenen-abstammung/
Besonders stark mit der eigenen Identität verbunden ist das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung. Als Bestandteil des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts soll es sicherstellen, dass man die nötigen Informationen erhält, um seine Herkunft aufklären
[ "Netzpolitik", "Internet", "Recht", "Ratgeber", "Persönlichkeitsrecht", "Persönlichkeitsrechte" ]
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Maßnahme – Sich an den Verletzer / Störer wenden | Persönlichkeitsrechte | bpb.de
Mit einer Abmahnung und erst recht mit einer Klage erzeugt man eine Drohkulisse, denn man wirft dem anderen vor, das Recht gebrochen zu haben. Abmahngebühren sollen ersetzt werden und auch eine Klage erzeugt nicht zu unterschätzende Kosten. Das beeinflusst die geistige Einstellung der Verletzer zu ihrer Tat. Vielen wird bis dahin nicht bewusst gewesen sein, dass sie rechtswidrig gehandelt haben. Angesichts der Drohungen könnten sie mit Trotz reagieren – und die Fronten verhärten sich. Dem kann man durchaus mit einer neutral formulierten Bitte vorbeugen. Niemand wird in eine Rolle gedrängt und man kann sich auf Augenhöhe begegnen. Aus dem Gespräch kann man wichtige Informationen mitnehmen: Wie steht der andere zu seiner Handlung? Wollte er verletzen oder hat er das gar nicht bedacht? Nur weil man sich verletzt fühlt, heißt es noch nicht, dass aus rechtlicher Sicht auch tatsächlich eine Verletzung vorliegt. Das ist gerade beim Allgemeinen Persönlichkeitsrecht relevant, bei dem immer zwischen verschiedenen Interessen abgewogen werden muss. Erfährt man die Sicht des anderen, hilft einem das dabei, sein eigenes weiteres Vorgehen zu überdenken. Das kann einem viel Geld sparen, sollte man überreagiert haben und unberechtigt von einer Verletzung seines Persönlichkeitsrechts ausgegangen sein. Hat jedoch jemand einen Hasskommentar verfasst, ein Nacktfoto von einem veröffentlicht oder auf andere Weise völlig unstreitig das Persönlichkeitsrecht verletzt, wird er seine Meinung nicht plötzlich ändern. Im Falle von Cyber-Mobbing können sich die Attacken sogar weiter hochschaukeln. In solchen Situationen sollte man besser gleich professionelle Hilfe aufsuchen. Neben dem Verletzer gibt es noch die sogenannten Störer, an die man sich wenden kann. Störer ist jede Person, die in irgendeiner Weise willentlich und zurechenbar zur Verletzung eines geschützten Gutes beiträgt. Das kann zum Beispiel der Betreiber eines Bewertungsportals sein, auf dem Nutzer ihre Meinung abgeben können oder der Autor eines Blogs, der es Lesern ermöglicht, Kommentare zu hinterlassen. Verletzten die Anbieter ihre Prüfpflichten, tragen sie zur Fortsetzung der Rechtsverletzung bei und können auf Unterlassung in Anspruch genommen werden. Deshalb sind sie in aller Regel darauf bedacht, dass ihre Seite "sauber" ist. Oftmals hätten sie neben den rechtlichen Konsequenzen auch Imageschäden zu befürchten, die zu Lasten von Reichweite, Relevanz und Einnahmen gehen können. Deshalb reagieren sie regelmäßig auf Hinweise und zeigen sich kooperativ. Plattformen wie YouTube, Twitter oder Facebook bieten sogar eine eigene Funktion an, um Rechtsverletzungen zu melden.
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"2022-02-01T00:00:00"
"2017-04-10T00:00:00"
"2022-02-01T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/recht-justiz/persoenlichkeitsrechte/246295/massnahme-sich-an-den-verletzer-stoerer-wenden/
Fühlt man sich in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt, ist der Ärger oft groß. Doch in manchen Fällen ist es weder erforderlich noch hilfreich, gleich in den Angriffsmodus zu schalten. Stattdessen kann es die taktisch klügere Wahl sein, sich mit e
[ "Netzpolitik", "Internet", "Recht", "Ratgeber", "Persönlichkeitsrecht", "Persönlichkeitsrechte" ]
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Migration und Arbeit in der Fleischindustrie | Migration in städtischen und ländlichen Räumen | bpb.de
Zu Beginn der Interner Link: Corona-Pandemie 2020 geriet die Situation von Menschen in die Schlagzeilen, die insbesondere aus osteuropäischen Ländern zum Arbeiten nach Deutschland kommen. Während zur Eindämmung der Pandemie von Home Office und Social Distancing die Rede war, waren diese Arbeitskräfte trotzdem am Fließband oder auf dem Feld. Auf einmal gerieten Arbeitsbedingungen ins öffentliche Blickfeld, in denen die Einhaltung der Hygieneregeln und Mindestabstände nicht möglich waren. Migrant*innen posteten Bilder von ihrer Anreise in überfüllten Bussen; kleine Videoclips machten die Runde, die zeigten, unter welchen prekären Bedingungen viele osteuropäische Arbeitskräfte in Deutschland wohnen und arbeiten müssen oder wie Lohnbetrug funktioniert. Initiativen kritisierten die Arbeitsbedingungen – insbesondere in der Fleischindustrie, wo in Schlachtung, Zerlegung und Verarbeitung oft fast sämtliche Beschäftigten keinen deutschen Pass haben. Verschärft wurde die Kritik nach den ersten festgestellten Masseninfektionen bei Müller-Fleisch in Pforzheim und Westfleisch in Coesfeld. Nachdem im Juni dann im größten deutschen Schlacht- und Zerlegebetrieb, Tönnies in Rheda-Wiedenbrück (Ostwestfalen), mehr als 1.500 Arbeitende positiv auf das Coronavirus SARS-CoV-2 getestet und eine vierwöchige Betriebsschließung verfügt wurde, beschloss das Bundeskabinett am 27. Juni den Entwurf eines Gesetzes, das Werkvertragsbeschäftigung und Arbeitnehmerüberlassung in großen Schlachtbetrieben verbieten soll, um die Beschäftigungsbedingungen zu verbessern. Was wird sich dadurch für die Menschen verändern, die nach Deutschland kommen, um in der Fleischindustrie zu arbeiten? Das Geschäftsmodell Die deutsche Fleischindustrie hat eine seit nahezu zwei Jahrzehnten anhaltende Expansions- und Konzentrationsbewegung hinter sich – eine Entwicklung, die dazu geführt hat, dass Produktion und Umsatz enorm gestiegen sind. Die Marktführer für Schweinefleisch und Geflügel (Tönnies, VION, PHW / Wiesenhof, Westfleisch, Danish Crown) haben gezielt kleine Unternehmen übernommen, ihre Marktanteile innerhalb der EU massiv zuungunsten anderer Wettbewerber ausgebaut und den Export von Fleischerzeugnissen insbesondere nach Südostasien kontinuierlich gesteigert. Die Fleischindustrie verbindet dabei eine permanente Interner Link: Rationalisierung mit einer zunehmenden ökonomischen Konzentration. Dieser Prozess geht mit einer Verschiebung unternehmerischer Verantwortlichkeit an Subunternehmen, Wohnungsgeber, Rekrutierungsagenturen usw. einher. Für die Beschäftigten hat das erhebliche Folgen. So liegen ihre Arbeitszeiten – nicht offiziell, aber in der Praxis – oft weit jenseits der Bestimmungen des Interner Link: Arbeitszeitgesetzes. Durch Veränderung der Arbeitszeiten (z.B. durch das Streichen von Pausen), erhobene "Gebühren" für Werkzeuge oder "Strafen" für angebliche oder tatsächliche Fehler drücken Subunternehmen zudem die Löhne. Auch der Arbeitsschutz leidet: Mangelnde Einweisung und ein hoher Arbeitstempodruck führen zu schwersten Arbeitsunfällen. Die Zahl der Arbeitsunfälle im Bereich des Schlachtens, des Zerlegens von Tieren und der Fleischverarbeitung ist deutlich höher als in anderen Bereichen der Nahrungsmittelindustrie. Darüber hinaus sind die Wohnbedingungen prekär: Wer von der Arbeit kommt, findet sich oftmals in einem Vierbettzimmer für 250 € Miete im Monat wieder, nicht selten aber auch in Baracken oder auf Campingplätzen, die zum Teil von denselben Subunternehmen verwaltet werden, die auch für die Belieferung der Fleischkonzerne mit Arbeitskraft zuständig sind. Häufig ziehen sie die (überhöhten) Kosten für die Unterbringung direkt vom Lohn ab. Während der Pandemie haben sich die Arbeitsbedingungen noch einmal verschärft. Die Nachfrage nach Fleischerzeugnissen (insbesondere in China) stieg. Im ersten und zweiten Quartal kam es zu einem rasanten Anstieg der Umsätze – Indikator für eine weitere Ausdehnung von Arbeitszeiten und Produktionsdruck. In Interviews mit Beschäftigten, die wir im Rahmen einer durch das Soziologische Forschungsinstitut Göttingen seit 2017 durchgeführten Externer Link: Studie in der Fleischindustrie gemacht haben, werden von allen während der Pandemie Befragten eine erhöhte Arbeitsbelastung und Forderungen nach Überstunden und Wochenendarbeit berichtet. Die Arbeitsbedingungen unter wachsendem Produktionsdruck ebenso wie die körperlich anstrengende Arbeit am Fließband in Räumen, in denen sich wegen der kalten Temperaturen das Coronavirus Sars-Cov-2 vermutlich schneller ausbreitet als in einer warmen Umgebung, können als unmittelbare Ursachen der Masseninfektionen in den Fleischbetrieben gelten. Infolge der Schließung einzelner Betriebe verschlechterte sich die Situation dort, wo die Produktion aufrechterhalten wurde, weil nun ein größerer Anteil zu schlachtender und zerlegender Tiere auf die noch geöffneten Betriebe entfiel. QuellentextFleischindustrie in Deutschland Deutschland ist der größte Schweinefleisch-, der zweitgrößte Rindfleisch- und der fünftgrößte Geflügelproduzent in Europa. 2018 wurden in Deutschland insgesamt 8,04 Millionen Tonnen Fleisch erzeugt, wovon rund vier Millionen Tonnen ins Ausland exportiert wurden, vor allem in andere EU-Staaten. Allein der Markführer Tönnies schlachtete und zerlegte 20,8 Millionen Schweine (16,6 Mio. davon in Deutschland) und 440.000 Rinder – 50 Prozent davon für den Export. Die Tönnies-Gruppe beschäftigt in ihren Betrieben 16.500 Menschen, davon mehr als 6.000 am Standort Rheda-Wiedenbrück. Insgesamt arbeiten in Deutschland in den Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten nach unterschiedlichen Schätzungen mehr als 200.000 Personen. Da die Zahl der Werkvertragsbeschäftigten und Leiharbeiter*innen in den Daten des Statistischen Bundesamtes nicht vollständig erfasst wird, ist man hier auf Schätzungen angewiesen. Im Bereich von Schlachtung und Zerlegung liegt der Anteil eigener Beschäftigter zwischen 10 und (sehr selten bei bis zu) 50 Prozent. Einige wenige Betriebe haben bereits seit einigen Jahren auf Direktbeschäftigung umgestellt. Mit einem Umsatzanteil von 27,5 Prozent ist die Fleischwirtschaft der umsatzstärkste Bereich der Nahrungs- und Genussmittelindustrie. Im Jahr 2019 erwirtschafteten die 563 Schlachterei- und Fleischverarbeitungsbetriebe mit mehr als 50 Beschäftigten rund 39,7 Milliarden Euro. Allein im März 2020 erzielte die Branche einen Umsatz von 3,9 Milliarden Euro. Das war der höchste jemals gemessene Monatswert. 56 Prozent des Branchenumsatzes entfielen 2019 auf die 15 größten Fleischbetriebe. Die Umsatzsteigerungen der letzten Jahre waren vor allem auf die wachsende Nachfrage im Ausland zurückzuführen – insbesondere in China. Der Fleischkonsum in Deutschland ist in langfristiger Perspektive gesunken. 2018 wurden pro Kopf 60,2 Kilogramm Fleisch verzehrt. Quellen: Hans Böckler Stiftung (2019): Branchenmonitor Schlachten und Fleischverarbeitung. Düsseldorf; Statistisches Bundesamt (2020): Fleischindustrie im März 2020 mit Umsatzrekord. Externer Link: Pressemitteilung vom 1. Juli; Statistisches Bundesamt (2020): Fleischproduktion 2019 um 1,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken. Externer Link: Pressemitteilung vom 5. Februar. Arbeitsschutzkontrollgesetz für die Fleischindustrie Wesentlicher Inhalt des Externer Link: Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz ist das Verbot der Beschäftigung mit Werkvertrag und nach Arbeitnehmerüberlassung (Leiharbeit). Dabei ist es nichts Neues, dass der Gesetzgeber in die Arbeitsbedingungen eingreift. So wurde 2014 in der Fleischindustrie ein Mindestlohn für allgemeinverbindlich erklärt (mittlerweile wieder abgeschafft). 2017 wurde das Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischindustrie (GSA) erlassen. Seitdem haften auftraggebende Unternehmen für die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen und müssen die Arbeitszeiten aller Beschäftigten erfassen. Das Problem: Der informelle Charakter der Arbeitsverhältnisse unterläuft diese Regelungen. An den verschiedensten Stellen des Prozesses, von der Anreise, über die Unterkunft bis hin zum Arbeitsverhältnis selbst, ändert sich die Praxis bisher kaum: Auf dem Papier müssen Arbeitszeiten eingehalten werden, tatsächlich wird undokumentiert bis zu 16 Stunden am Tag und bis zu sieben Tage in der Woche gearbeitet. Oder es werden, wie in unserer Studie vielfach dokumentiert, "Eintrittsgelder" für Arbeitsverhältnisse verlangt oder horrende Fahrtkosten für den Transport zur Arbeitsstätte vom Lohn abgezogen. Die Arbeitenden nehmen diese Bedingungen oft hin – auch, weil ihnen soziale Rechte fehlen. Hierzu gehört die Nichtanerkennung ausländischer Berufsabschlüsse, die kaum Alternativen zur Arbeit im Niedriglohnsektor lässt. Oder der Umstand, dass viele Unionsbürger*innen keinen arbeitsunabhängigen Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitssuchende (nach SGB II) und Sozialhilfe (nach Interner Link: SGB XII) haben. Fast alle von uns Interviewten sagten, dass die dadurch hervorgebrachte Abhängigkeit einer der wesentlichen Gründe dafür sei, dass die Arbeitsbedingungen auf dem Papier und in der Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Das Verbot der Werkverträge ab 1.1.2021 ist insofern ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Es bleibt abzuwarten, wie sich darüber hinaus das Verbot der Leiharbeit ab 1.4.2021 auswirken wird: Hier hat der Gesetzgeber einige Ausnahmen zugelassen, die allerdings bspw. an Tarifierung und eine Quote gebunden sind. Aus dem Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit ergeben sich aber nicht zwangsläufig langfristigere Arbeitsverhältnisse, so eine Erkenntnis aus unserem Forschungsprojekt: Betriebe, die Werkverträge unlängst abgeschafft haben, greifen in vielen Tätigkeitsbereichen vorrangig auf kurzzeitige Befristungen zurück. Insgesamt ist die Möglichkeit, eigene arbeitsrechtliche Ansprüche, die formal durchaus bestehen mögen, auch faktisch durchzusetzen, eine Voraussetzung dafür, prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen in der Fleischindustrie und anderswo zurückzudrängen: Hierzu bedarf es erweiterter sozialer und politischer Rechte und handlungsfähiger Belegschaften, die auf die Unterstützung einer gut verankerten betrieblichen wie gewerkschaftlichen Interessenvertretung bauen können. Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Migration in städtischen und ländlichen Räumen. Deutschland ist der größte Schweinefleisch-, der zweitgrößte Rindfleisch- und der fünftgrößte Geflügelproduzent in Europa. 2018 wurden in Deutschland insgesamt 8,04 Millionen Tonnen Fleisch erzeugt, wovon rund vier Millionen Tonnen ins Ausland exportiert wurden, vor allem in andere EU-Staaten. Allein der Markführer Tönnies schlachtete und zerlegte 20,8 Millionen Schweine (16,6 Mio. davon in Deutschland) und 440.000 Rinder – 50 Prozent davon für den Export. Die Tönnies-Gruppe beschäftigt in ihren Betrieben 16.500 Menschen, davon mehr als 6.000 am Standort Rheda-Wiedenbrück. Insgesamt arbeiten in Deutschland in den Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten nach unterschiedlichen Schätzungen mehr als 200.000 Personen. Da die Zahl der Werkvertragsbeschäftigten und Leiharbeiter*innen in den Daten des Statistischen Bundesamtes nicht vollständig erfasst wird, ist man hier auf Schätzungen angewiesen. Im Bereich von Schlachtung und Zerlegung liegt der Anteil eigener Beschäftigter zwischen 10 und (sehr selten bei bis zu) 50 Prozent. Einige wenige Betriebe haben bereits seit einigen Jahren auf Direktbeschäftigung umgestellt. Mit einem Umsatzanteil von 27,5 Prozent ist die Fleischwirtschaft der umsatzstärkste Bereich der Nahrungs- und Genussmittelindustrie. Im Jahr 2019 erwirtschafteten die 563 Schlachterei- und Fleischverarbeitungsbetriebe mit mehr als 50 Beschäftigten rund 39,7 Milliarden Euro. Allein im März 2020 erzielte die Branche einen Umsatz von 3,9 Milliarden Euro. Das war der höchste jemals gemessene Monatswert. 56 Prozent des Branchenumsatzes entfielen 2019 auf die 15 größten Fleischbetriebe. Die Umsatzsteigerungen der letzten Jahre waren vor allem auf die wachsende Nachfrage im Ausland zurückzuführen – insbesondere in China. Der Fleischkonsum in Deutschland ist in langfristiger Perspektive gesunken. 2018 wurden pro Kopf 60,2 Kilogramm Fleisch verzehrt. Quellen: Hans Böckler Stiftung (2019): Branchenmonitor Schlachten und Fleischverarbeitung. Düsseldorf; Statistisches Bundesamt (2020): Fleischindustrie im März 2020 mit Umsatzrekord. Externer Link: Pressemitteilung vom 1. Juli; Statistisches Bundesamt (2020): Fleischproduktion 2019 um 1,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken. Externer Link: Pressemitteilung vom 5. Februar. Quellen / Literatur Birke, P. (2020): Coesfeld und die Folgen. Arbeit und Migration in der Pandemie, in: Sozial.Geschichte Online, H. 27, S.137–154, Externer Link: https://duepublico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00072003 (Zugriff: 27.10.2020). Birke, P./Bluhm, F. (2019): Arbeitskräfte willkommen. Neue Migration zwischen Arbeitsregime und Erwerbsarbeit, in: Sozial.Geschichte Online, H. 25, S. 11–44, Externer Link: https://duepublico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00070543 (Zugriff: 14.08.2020). Bosch G./Hüttenhoff, F./Weinkopf, C. (2020): Corona-Hotspot Fleischindustrie: Das Scheitern der Selbstverpflichtung. Institut Arbeit und Qualifikation: IAQ-Report 2020-07, Duisburg-Essen. Bundesregierung (2020): Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz (Arbeitsschutzkontrollgesetz), Externer Link: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Gesetze/Regierungsentwuerfe/reg-arbeitsschutzkontrollgesetz.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (Zugriff: 27.10.2020). Erol, Serife/Schulten, Thorsten (2020): Neuordnung der Arbeitsbeziehungen in der Fleischindustrie. Das Ende der "organisierten Verantwortungslosigkeit"? Report Nr. 61 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung, Oktober. Externer Link: https://www.wsi.de/de/faust-detail.htm?sync_id=9115 (Zugriff: 30.10.2020). Götzke, M. (2020): Abgezogen, betrogen, gefährdet, Rumänen und Bulgaren in Deutschland, Sendung des Deutschlandradios, 23.05.2020, Externer Link: https://www.deutschlandfunk.de/niedriglohnsektor-abgezockt-betrogen-gefaehrdet-rumaenen.1775.de.html?dram:article_id=477011 (Zugriff:14.08.2020) Grüner, G. (2014): Migrantische Arbeit und Fleischproduktion in Niedersachsen. Ergebnisse zweier Untersuchungen im Auftrag französischer Bäuerinnen und Bauern in Oldenburg, Oldenburg. Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.) (2019): Branchenmonitor Schlachten und Fleischverarbeitung (Update 2019), Düsseldorf. Birke, P. (2020): Coesfeld und die Folgen. Arbeit und Migration in der Pandemie, in: Sozial.Geschichte Online, H. 27, S.137–154, Externer Link: https://duepublico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00072003 (Zugriff: 27.10.2020). Birke, P./Bluhm, F. (2019): Arbeitskräfte willkommen. Neue Migration zwischen Arbeitsregime und Erwerbsarbeit, in: Sozial.Geschichte Online, H. 25, S. 11–44, Externer Link: https://duepublico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00070543 (Zugriff: 14.08.2020). Bosch G./Hüttenhoff, F./Weinkopf, C. (2020): Corona-Hotspot Fleischindustrie: Das Scheitern der Selbstverpflichtung. Institut Arbeit und Qualifikation: IAQ-Report 2020-07, Duisburg-Essen. Bundesregierung (2020): Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz (Arbeitsschutzkontrollgesetz), Externer Link: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Gesetze/Regierungsentwuerfe/reg-arbeitsschutzkontrollgesetz.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (Zugriff: 27.10.2020). Erol, Serife/Schulten, Thorsten (2020): Neuordnung der Arbeitsbeziehungen in der Fleischindustrie. Das Ende der "organisierten Verantwortungslosigkeit"? Report Nr. 61 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung, Oktober. Externer Link: https://www.wsi.de/de/faust-detail.htm?sync_id=9115 (Zugriff: 30.10.2020). Götzke, M. (2020): Abgezogen, betrogen, gefährdet, Rumänen und Bulgaren in Deutschland, Sendung des Deutschlandradios, 23.05.2020, Externer Link: https://www.deutschlandfunk.de/niedriglohnsektor-abgezockt-betrogen-gefaehrdet-rumaenen.1775.de.html?dram:article_id=477011 (Zugriff:14.08.2020) Grüner, G. (2014): Migrantische Arbeit und Fleischproduktion in Niedersachsen. Ergebnisse zweier Untersuchungen im Auftrag französischer Bäuerinnen und Bauern in Oldenburg, Oldenburg. Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.) (2019): Branchenmonitor Schlachten und Fleischverarbeitung (Update 2019), Düsseldorf. Siehe zum Beispiel Nils Klawitter (2020): Müller Fleisch: Die Fabrik der Infizierten. Spiegel online, 2. Mai. Externer Link: https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/mueller-fleisch-in-pforzheim-die-fabrik-der-corona-infizierten-a-fd3985b2-1191-479a-b2fa-063bd7192f05 (Zugriff: 27.10.2020); Corona bei Westfleisch: Betrieb in Coesfeld wird geschlossen, WDR-Beitrag vom 9. Mai 2020. Externer Link: https://www1.wdr.de/nachrichten/westfalen-lippe/coesfeld-westfleisch-corona-100.html (Zugriff: 27.10.2020). Siehe dazu auch: Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (2019): Überwachungsaktion. "Faire Arbeit in der Fleischindustrie". Abschlussbericht. Düsseldorf. Externer Link: https://www.mags.nrw/sites/default/files/asset/document/191220_abschlussbericht_fleischindustrie_druckdatei.pdf (Zugriff: 27.10.2020). Siehe Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz (Arbeitsschutzkontrollgesetz). Bundesrat, Drucksache 426/20. Externer Link: http://dipbt.bundestag.de/dip21/brd/2020/0426-20.pdf (Zugriff: 27.10.2020). Vgl. Fußnote 2, siehe ausführlich und mit zahlreichen Verweisen auch: Peter Birke (2020): Die Fleischindustrie in der Corona-Krise. Eine Studie zu Arbeit, Migration und multipler Prekarität, in: Sozial.Geschichte Online 29 (2021), Externer Link: https://sozialgeschichte-online.org/2020/12/09/die-fleischindustrie-in-der-coronakrise/ (Zugriff: 21.12.2020). Vgl. Fußnote 4. Externer Link: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/arbeitsschutzkontrollgesetz-1772606 (Zugriff: 21.12.2020).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-11-26T00:00:00"
"2021-01-04T00:00:00"
"2021-11-26T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/migration-in-staedtischen-und-laendlichen-raeumen/325067/migration-und-arbeit-in-der-fleischindustrie/
In deutschen Schlachterei- und Fleischverarbeitungsbetrieben arbeiten viele Menschen aus Osteuropa. Im Zuge der Corona-Pandemie gerieten ihre prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen in die Schlagzeilen.
[ "Migration", "Arbeitsmigration", "Fleischindustrie", "Schlachthof", "Corona-Krise" ]
30,365
Key Stages in Albanian Emigration | Albania | bpb.de
There were three key stages on which this Albanian 'drama' of mass exodus was played: the very first post-communist years of extreme poverty, political and physical insecurity and general chaos (1990-1993); the break-down of law and order nearing civil war which followed the collapse of corrupt pyramid 'savings' schemes in 1997; and the destabilization of the country following the Kosovo war in 1999 and the resulting inflow of nearly half a million Albanian refugees fleeing Milosevic's terror. The 2000s have generally been a peaceful decade as far as the political scene is concerned, and, combined with the inflow of migrant remittances, the country's economic situation has significantly improved. Migration has continued, albeit not at the scale and with the same features of the previous decade. Also known as Ponzi schemes, these are non-sustainable investment models that promise participants extraordinarily high returns, resulting primarily from enrolling other people into the scheme. In Albania they flourished during 1995-96, helped by an informal credit market, a rudimentary official banking sector and a flow of migrants’ remittances from Greece and Italy. By the end of 1996, the interest paid by some of the schemes reached almost 50 percent a month, which of course could not be sustained (Jarvis 2000, p. 10). Nearly half of all Albanians had invested in these schemes, some even selling their houses and livestock in a rush to become rich quickly. In 1997 the schemes collapsed, causing the fall of the then Democratic-party-led government which was regarded as implicitly involved, thus plunging the country into chaos and near civil war. The World Bank estimated the lost savings at $1.2 billion, equal to half the country’s GDP in 1996 (Olsen 2000, p. 24). King (2003).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-14T00:00:00"
"2013-05-14T00:00:00"
"2022-01-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/160120/key-stages-in-albanian-emigration/
There were three key stages on which this Albanian 'drama' of mass exodus was played: the very first post-communist years of extreme poverty, political and physical insecurity and general chaos.
[ "Emigration", "Albania", "Migration" ]
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Größter Anti-Terror-Einsatz in der Geschichte der BRD | bpb.de
Guten Morgen, gestern fand der wohl größte Anti-Terror-Einsatz in der Geschichte der Bundesrepublik statt. Bei der bundesweiten Razzia wurden 25 Reichsbürger/-innen festgenommen. Worum geht es? 🚨 Der Einsatz Etwa 3000 Polizist/-innen führten über 150 Durchsuchungen u.a. bei 54 Beschuldigten durch. 25 davon wurden vorläufig festgenommen. Den sog. Reichsbürger/-innen wird vorgeworfen, eine terroristische Vereinigung gebildet zu haben. Ihr Plan sei gewesen, die verfassungsmäßige Ordnung der BRD zu beseitigen. Beschuldigt sind u.a. ehemalige sowie aktive Soldat/-innen der Bundeswehr und der Armee der früheren DDR (NVA), eine ehemalige AfD-Abgeordnete, ein Ex-Polizist sowie Jurist/-innen und Akteur/-innen der Querdenkerszene. 🔍 Hintergrund Reichsbürger/-innen Sog. Reichsbürger/-innen lehnen die Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland ab. Viele von ihnen halten am Fortbestehen des Deutschen Reiches (1871-1945) fest. In der Szene sind Verschwörungsideologien, Rechtsextremismus und Antisemitismus stark verbreitet. Einige Reichsbürger/-innen horten Waffen und bereiten sich auf einen apokalyptischen "Tag X" vor. 🇩🇪 Situation in Deutschland Laut Bundesamt für Verfassungsschutz umfasste die Szene der Reichsbürger/-innen im letzten Jahr etwa 21.000 Personen. Davon seien über 2.000 durch Ausübung oder Befürwortung von Gewalt aufgefallen. 2021 wurden über 1.000 extremistische Straftaten aus der Reichsbürgerszene begangen – überwiegend Nötigung und Bedrohung, aber auch Erpressungs- und Widerstandsdelikte. Die Reichsbürgerbewegung wird seit 2016 vom Verfassungsschutz beobachtet. In der Folge entzogen Sicherheitsbehörden zahlreichen Reichsbürger/-innen die waffenrechtliche Erlaubnis. ➡️ Mehr über Reichsbürger/-innen liest du hier: Externer Link: https://kurz.bpb.de/dtdp1839 Viele Grüße Deine bpb Social Media Redaktion
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-01-31T00:00:00"
"2022-12-08T00:00:00"
"2023-01-31T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/taegliche-dosis-politik/516107/groesster-anti-terror-einsatz-in-der-geschichte-der-brd/
Gestern fand der wohl größte Anti-Terror-Einsatz in der Geschichte der Bundesrepublik statt. Bei der bundesweiten Razzia wurden 25 Reichsbürger/-innen festgenommen. Worum geht es?
[ "Deine tägliche Dosis Politik", "Anti-Terror-Einsatz", "BRD", "Reichsbürger", "Querdenker" ]
30,367
Niederlande | Fachtagung "Grenzenloser Salafismus - Grenzenlose Prävention?" | bpb.de
Lenny Verloop stellte das Nationaal Coordinator Terrorismebestrijding en Veiligheid/NCTV (frei "Nationale Koordination Terrorismusbekämpfung und Sicherheit") vor, das vom niederländischen Ministerium für Justiz und Sicherheit betrieben wird. Es versteht sich als Koordinierungsstelle für alle in der Radikalisierungsprävention und Terrorismusbekämpfung tätigen Behörden und Organisationen auf nationaler, provinzieller und kommunaler Ebene. Die Niederlande sind bis auf die Ermordung des Regisseurs Theo van Gogh im Jahr 2004 weitgehend vom internationalen Terrorismus verschont geblieben. Seitdem liegt der Fokus insbesondere auf Radikalisierungsprävention und Früherkennung von Radikalisierung. In Fünfjahresplänen werden die Eckpfeiler Informationsbeschaffung, Prävention, Schutz, Krisenvorbereitung und Strafverfolgung neu aufgestellt. Zur besseren Vernetzung wurde eine eigene Akademie geschaffen, die ein Bewusstsein für extremistische und terroristische Handlungsformen in ihrer jeweiligen Frühphase schaffen soll. Hier wurden bereits knapp 10.000 Beamte und ausgewählte Bürgerinnen und Bürger in verschiedenen Kursen ausgebildet.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-12-14T00:00:00"
"2018-01-03T00:00:00"
"2021-12-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/islamismus/fachtagung-salafismus-2018/262383/niederlande/
Ministerie van Veiligheid en Justitie, Den Haag
[ "Salafismus", "Radikalisierungsprävention", "Niederlande", "Ministerie van Veiligheid en Justitie", "Nationaal Coordinator Terrorismebestrijding en Veiligheid" ]
30,368
Analyse: Umweltpolitik in Polen | Polen-Analysen | bpb.de
Zusammenfassung Die polnische Umweltpolitik ist eng mit der Umweltpolitik der Europäischen Union verknüpft, die zahlreiche Entscheidungen vorgibt und gleichzeitig ein starker Anreiz ist, weitere Aktivitäten auf den Weg zu bringen. Während bereits sichtbare Verbesserungen in den Bereichen Luftqualität und Gewässerschutz festzustellen sind, erfordert der immense Energieverbrauch der Wirtschaft dringend Lösungen. Auch die Abfallwirtschaft sieht sich aufgrund des veränderten Konsumverhaltens in den letzten 20 Jahren vor große Herausforderungen gestellt. Jedoch sei in der Bevölkerung, so die Autoren, allmählich eine wachsende Sensibilität gegenüber der Umwelt wahrnehmbar. Einleitung In Artikel 5 der polnischen Verfassung heißt es, dass »die Republik Polen [...] den Schutz der Umwelt gewährleistet und dem Grundsatz der ausgeglichenen Entwicklung folgt.« Das neueste Strategiepapier Polens aus dem Jahr 2008 unter dem Titel »Die ökologische Politik des Staates in den Jahren 2009 bis 2012 mit einer Perspektive bis 2016« wurde vom Sejm am 22. Mai 2009 verabschiedet. Dieses Dokument bestimmt die ökologischen Ziele und Prioritäten und benennt die Instrumente zur Gewährleistung des Umweltschutzes. Aktivitäten im Bereich Umweltschutz werden von einem entsprechenden Rechtssystem gestützt, das Vorschriften unterschiedlicher Art enthält, darunter Verfassungsnormen, Gesetze, Ausführungsverordnungen für Gesetze, lokale Rechtsakte sowie internationale von Polen ratifizierte Verträge. Die polnische Umweltpolitik ist eng mit der Umweltpolitik der Europäischen Union verknüpft. Die in Strategiepapieren formulierten Vorhaben im Bereich Umweltschutz fgen sich in die EU-Prioritäten ein, insbesondere in die Ziele 6 und 7 des EU-Umweltaktionsprogramms. Als EU-Mitglied ist Polen verpflichtet, die europäische Gesetzgebung in das nationale Recht zu implementieren, was eine Reihe häufig schwierig umzusetzender Verpflichtungen nach sich zieht. Der Beitritt Polens zur EU gab einen Impuls, weitere Aktivitäten zur Verbesserung des Umweltschutzes in den kommenden Jahren zu unternehmen. Luft Polen ist verpflichtet, die zahlreichen Direktiven der Europäischen Union im Bereich Luft und Klima umzusetzen. Dazu gehören beispielsweise die Direktive des Europäischen Parlaments und des Rates zur Begrenzung von Schadstoffemissionen von Großfeuerungsanlagen in die Luft (2001/80/EG vom 23.10. 2001), das Programm »Saubere Luft für Europa« und die Verordnung des Europäischen Parlaments über bestimmte fluorierte Treibhausgase (2006/842/EG vom 17.05. 2006). Unabhängig von diesen Verpflichtungen hat Polen das Übereinkommen über grenzüberschreitende Luftverunreinigung (LRTAP) ratifiziert und das Aarhus-Protokoll über die Reduzierung der Emission von Schwermetallen unterzeichnet. Ein weiteres wichtiges Dokument ist das Kyoto-Protokoll zur Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen. In dessen Folge soll Polen seine Emission von Treibhausgasen (CO2, CH4, N2O) im Jahr 2012 um 6% des Ausstoßes im Jahr 1988 reduziert haben. Dies hat Polen bereits übererfüllt, denn die Emissionen wurden in den Jahren 1988 bis 2006 bereits um ca. 30% reduziert. Eine viel schwierigere Situation ergibt sich aus dem im Jahr 2007 gefassten Beschluss des Europäischen Rates, die Treibhausgase im Rahmen der EU bis zum Jahr 2020 um 20% im Vergleich zu 1990 zu reduzieren. Polen muss sich der Herausforderung stellen, die vier Direktiven des Klima-Energie-Pakets der EU zu erfüllen, die aus einer Reihe von Gründen nicht günstig für Polen sind. Hier verbindet sich die Umweltpolitik mit der polnischen Energiepolitik. Ein positiver Trend in Polen ist der wachsende Anteil der Energieproduktion und des allgemeinen Energieverbrauchs aus erneuerbaren Energiequellen. Nach Daten von Eurostat stieg dieser Anteil in der Produktion von 4,46% im Jahr 1999 auf 7,24% im Jahr 2008. Unter den erneuerbaren Energiequellen dominiert Biomasse (über 90%). Der Anteil der erneuerbaren Energie bei der Stromherstellung ist in Polen immer noch wesentlich niedriger als der EU-Mittelwert, der im Frühjahr 2007 15,5% betrug. Schutz der Gewässer Polen ist ein Land mit geringen Wasserressourcen. Der Anteil pro Einwohner gehört zu den niedrigsten in Europa, so dass Aktivitäten zur Sicherung einer hohen Wasserqualität in Flüssen und Seen besondere Aufmerksamkeit erfordern. Der Wasserverbrauch in den Haushalten zeigt hinsichtlich der Umweltbelastung positive Trends. Die Ursache dafür scheinen - wie in vielen anderen europäischen Ländern - die steigenden Wasserpreise und die Einführung der Messung des Wasserverbrauchs zu sein. Dennoch müssen Aktivitäten für eine fortschreitende Rationalisierung des Wassereinsatzes eine der Prioritäten der polnischen Umweltpolitik sein. In den letzten Jahren wurde in Polen ein großer Fortschritt im Bereich der kommunalen Kanalisation erzielt. Derzeit kommen 86% der Stadt- und 22% der Dorfeinwohner ein modernes Abwassersystem zugute. Im Jahr 1995 waren es 65% bzw. 3%. Trotz dieser Erfolge ist die Reinheit des Wassers immer noch nicht zufriedenstellend, vor allem wegen des Vorkommens von Stickstoff- und Phosphorverbindungen sowie aufgrund bakterieller Verschmutzungen. Ein wichtiges Dokument für den Schutz der Gewässer ist das »Landesprogramm kommunale Abwasserreinigung« (Krajowy program oczyszczania sciekow komunalnych - KPOK), das vom Ministerrat im Juni 2005 verabschiedet worden ist. Dieses Programm wurde ausgearbeitet, um eine effektivere Umsetzung der Verpflichtungen zu gewährleisten, die Polen im EU-Beitrittsvertrag übernommen hat. Entsprechend sollen alle größeren Siedlungen über 2.000 Einwohner mit einem Abwassersystem ausgestattet werden und das Kanalisationsnetz bis Ende 2015 ausgebaut werden. Im Jahr 2008 hat Polen zum wiederholten Male Gebiete gekennzeichnet, die von Stickstoffverunreinigungen aus der Landwirtschaft bedroht sind (nach der Richtlinie 91/676/EG). Es sind zurzeit 4.630,47 km2, das heißt 1,49% der Landesfläche - ein Rückgang um 25% im Vergleich zur vorangegangenen Erhebung. Für diese Gebiete wurden neue Aktionsprogramme ausgearbeitet, die 2008 in Kraft traten und bis 2012 abgeschlossen sein sollen. Die größte Herausforderung für Polen im Bereich des Gewässerschutzes ist die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie (2000/60/EG vom 23.10.2000). Diese ist die Grundlage dafür, einen guten chemischen und ökologischen Zustand für das Oberflächenwasser und für das Grundwasser einen guten chemischen Zustand, und das in ausreichender Menge, bis Ende 2015 zu erlangen. Das Hauptziel der polnischen Umweltpolitik im Bereich der Wasserressourcen ist, einen guten Zustand aller Gewässer aufrechtzuerhalten bzw. zu erlangen, wozu auch die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der ökologischen Kontinuität der Wasserläufe gehört. Dieses langfristige Ziel soll bis 2015 so umgesetzt werden, wie es die Wasserrahmenrichtlinie für alle Länder der Europäischen Union vorsieht und in der polnischen Gesetzgebung das Gesetz zum Wasserrecht. Für die größten Stromgebiete, darunter das Oder- und Weichselgebiet, wurde ein Wirtschaftsplan erarbeitet, der vom Ministerrat bestätigt wurde. Diese Vorgaben sind die Grundlage dafür, Entscheidungen zu treffen, die Einfluss auf den Zustand der Wasserressourcen haben. Darüber hinaus beschreiben sie die Grundsätze für die Wasserwirtschaft im sechsjährigen Planungszyklus. Die Festschreibungen der Wasserwirtschaftspläne werden im Konzept der Flächennutzung des Landes, in den Entwicklungsstrategien für die Woiwodschaften und in den Flächennutzungsplänen der Woiwodschaften berücksichtigt. Diese Pläne haben nicht nur auf die Wasserwirtschaft Einfluss, sondern auch auf andere Sektoren wie die Industrie, die kommunale Wirtschaft, Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Transport, Fischfang und Tourismus. In Vorbereitung ist ein landesweites Wasser-Umwelt-Programm, das dem Gesetz zum Wasserrecht entsprechend erarbeitet wird. Abfallrecycling Im Gegensatz zum Schutz von Wasser und Luft vor Verschmutzung macht die Rationalisierung der Abfallwirtschaft in den letzten zwei Jahrzehnten nur langsam Fortschritte und ist nicht zufriedenstellend. In der kommunalen Abfallwirtschaft wurde bisher kein wirksamer Mechanismus für Trennung und Recycling des größten Teils des Mülls eingerichtet. Im Ergebnis landen immer noch 91% der Abfälle auf der Müllhalde. Ähnlich wie in anderen Ländern der Europäischen Union lässt sich in Polen eine wachsende Menge erzeugten Abfalls feststellen. Die Ursache liegt in dem sich verändernden Konsumverhalten der Haushalte, insbesondere was die Bereiche Wohnungsbau und Haushalt betrifft. Es handelt sich um Abfälle, die im Zusammenhang mit dem Umbau oder Abriss von Gebäuden entstehen, Haushaltsabfälle, Verpackungen und Elektromüll. Außerdem ist die steigende Menge eine Folge der zunehmenden Zugänglichkeit von neuen technischen Geräten und Kommunikationstechnik, was Einfluss auf deren (immer kürzere) Nutzungsdauer hat. Nach Daten von Eurostat ist die in Polen entstandene Abfallmenge deutlich geringer als in anderen Ländern der Europäischen Union und betrug in den Jahren 1995 bis 2008 weniger als 350 kg pro Person. Den größten Anstieg gab es in den Jahren 2004/2005: Die Menge der kommunalen Abfälle stieg von 256 kg auf 319 kg pro Person. In den folgenden Jahren ließ sich ein langsamer Anstieg auf 322 kg pro Person im Jahr 2007 und auf 320 kg im Jahr 2008 verzeichnen (s. Tabelle 1, S. 6). Zu den aktuellen Problemen der Abfallwirtschaft in Polen gehören: die nicht ausreichende Anzahl und Verarbeitungskapazität der Anlagen der Abfallwirtschaft; darunter fallen Müll-Wärmekraftwerke und mechanisch-biologische Verarbeitungsanlagen, der zu geringe Fortschritt bei der Mülltrennung, fehlende rechtlich definierte Anforderungen an die mechanisch-biologische Verarbeitung gemischter kommunaler Abfälle, die Gefährdung der Ziele im Bereich der Reduzierung der biologisch abbaubaren kommunalen Abfälle auf 50% (2013) und 35% (2020) der Gesamtmenge dieser Abfälle im Vergleich zu 1995. Die Richtung der Regierungspolitik im Bereich Abfallwirtschaft formuliert der »Landesplan Abfallwirtschaft 2014« (Krajowy plan gospodarki odpadami 2014), der vom Ministerrat am 24. Dezember 2010 verabschiedet wurde. Er umfasst die notwendigen Aufgaben, um eine integrierte Landesabfallwirtschaft zu gewährleisten, und zwar auf eine Weise, die den Umweltschutz garantiert und gegenwärtige und zukünftige wirtschaftliche Möglichkeiten und Bedingungen berücksichtigt. Dieser Plan entspricht der staatlichen Umweltpolitik. Er zeigt Möglichkeiten zur Müllvermeidung auf wie: Unterstützung der Einführung von Produktionstechnologien, die wenig Abfall erzeugen und die Ausnutzung möglichst aller eingesetzten Ressourcen sicherstellen, Förderung umweltbewusster Bewirtschaftung, Entwicklung sauberer Technologien, intensive kologische Erziehung, die die Müllvermeidung befördert. Derzeit dauern die Arbeiten an einem neuen Abfallgesetz, dass die EU-Direktive 2008/98/EG des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rats vom 19. November 2008 umsetzt. Der Gesetzesentwurf enthält eine Vollmacht für den Umweltminister, Verfügungen für die mechanisch-biologische Aufarbeitung kommunaler Abfälle zu treffen. Mit dem Ziel, den zahlreichen Problemen angemessen zu begegnen, hat das Umweltministerium eine Reihe von Lösungen vorgestellt, die unter anderem die Bewirtschaftung des Verpackungsmülls und die Ausnutzung ausrangierter Fahrzeuge sowie ausrangierten elektrischen und elektronischen Geräts, Batterien und Akkumulatoren betreffen. Die Finanzierung des Umweltschutzes Die Ausgaben des öffentlichen Sektors, der Wirtschaft und des Bereichs Umweltschutz belaufen sich auf 21.944,2 Mio. Zloty (ca. 5.486 Mio. Euro). Dies sind 1,6% des Bruttoinlandsprodukts. Umgerechnet auf einen Einwohner bedeutet das 575 Zloty (ca. 143 Euro). 46% der Gesamtsumme sind für die Wasserwirtschaft und den Gewässerschutz bestimmt. Der Anteil der Ausgaben für den Schutz der Luft macht 19% aus. Auf einem ähnlichen Niveau liegen die Ausgaben für die Abfallwirtschaft, den Schutz des Bodens und den Schutz des Grund- und Oberflächenwassers - dies sind 17% der Ausgaben für den gesamten Umweltschutz. Für die Artenvielfalt stehen 5% zur Verfügung, die übrigen Mittel machen 11% der Gesamtmittel aus (s. Tabelle 2, S. 11). Bei der Finanzierung von Investitionen, die dem Umweltschutz in Polen dienen, spielen die Mittel aus dem EU-Haushalt eine große Rolle. Zu den wichtigsten EU-Finanzierungsarten, die direkt oder indirekt eingesetzt werden, gehören: das Operationelle Programm 2007-2013, das Programm »Infrastruktur und Umwelt«, das Programm »Innovative Wirtschaft«, regionale operationelle Programme, das Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation 2007-2013, das Programm »Unternehmerische Initiative und Innovation«, das Programm »Intelligente Energie für Europa«. Die Institution, die ökologische Investitionen mit polenweiter, überregionaler und lokaler Bedeutung für den Umweltschutz unterstützt, ist die im Jahr 1989 gegründete Nationale Stiftung für Umweltschutz und Wasserwirtschaft (Narodowy Fundusz Ochrony rodowiska i Gospodarki Wodnej). Materialaufwand und Energieverbrauch Eines der Probleme in Polen ist der Materialaufwand und Energieverbrauch, der deutlich höher ist als im EU-Durchschnitt. Dies hat wesentliche Bedeutung für die Umweltpolitik, denn die Beschränkung des Verbrauchs von Ressourcen und Energie bedeutet nicht nur eine Reduzierung der Kosten zugunsten der Wirtschaft, sondern auch weniger Belastung für die Umwelt. Charakteristisch für Polen ist die niedrige Energieeffizienz, obgleich seit einigen Jahren der Energieverbrauch in allen Industriesparten sinkt. Dagegen ist der fortschreitende Anstieg des Energieverbrauchs in den privaten Haushalten festzustellen. Dies ist dadurch bedingt, dass immer mehr Elektrogeräte genutzt werden, was aber nicht mit einem Interesse an deren Energieeffizienz einhergeht. Nach Daten von Eurostat stieg der Energieverbrauch der Privathaushalte in den Jahren 2000 bis 2008 gemessen in 1.000 toe (Tonnen Öläquivalent) von 1.809 toe auf 2.331 toe (s. Tabelle 3, S. 7). Das Maß für den Materialaufwand der Wirtschaft ist der Index der Ressourcenproduktivität als Quotient des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und des direkten Materialinputs in die Wirtschaft (Domestic material consumption - DMC). Ein hoher Wert zeigt, dass für die Produktion einer Einheit des BIP eine geringere Materialmenge eingesetzt wurde. Der Messwert, den Polen aufweist, ist ähnlich wie in anderen neuen EU-Mitgliedsländern deutlich niedriger als der EU-Durchschnittswert, was für den hohen Materialaufwand der Wirtschaft spricht. Nach Daten von Eurostat lag der Index in den Jahren 2002 bis 2007 bei 0,38 Euro/kg. In den folgenden Jahren ist der Messwert in der EU-27 gestiegen. Im Jahr 2007 erreichte er 1,3 Euro/kg. Es steht zu erwarten, dass der für Polen errechnete Wert zusammen mit einem Strukturwandel in der Wirtschaft steigt, wenn Umwelttechnologien und Ökoinvestitionen immer stärker verbreitet sind. Umwelttechnologien schützen die Umwelt, indem sie zu weniger Verschmutzung und Zerstörung führen und weniger Ressourcen effektiver einsetzen. Sie sehen die Wiederverwendung bzw. die Wiederverwertung von erzeugten Produkten und Abfällen vor und stehen dafür, erzeugten Müll unschädlich zu machen. Die Einführung von Umwelttechnologien findet in Anwendung des Ausführungsprogramms zum Landesaktionsplan für Umwelttechnologien 2007-2009 statt, der auch den Zeitraum 2010 bis 2012 einbezieht (Program Wykonawczy do Krajowego Planu dzialan na rzecz technologii srodowiskowych na lata 2007 - 2009 z uwzglednieniem perspektywy na lata 2010 - 2012). Trotz einer Reihe von Anstrengungen, den Energieverbrauch der Wirtschaft zu reduzieren, bleibt die polnische Wirtschaft eine der energieverbrauchsintensivsten in der Europäischen Union mit einem Energieverbrauchsindex, der den EU-Durchschnitt um das zweifache übersteigt. Konsum- und Produktionsmuster Da immer deutlicher eine Haltung hervortritt, die sich auf die übermäßige Konsumierung materieller Güter und Dienstleistungen stützt, und dies zur Folge hat, dass Umweltprobleme auftreten, wird es in Polen immer notwendiger, auf Änderungen in den bestehenden Konsummustern hinzuwirken. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit insbesondere darauf, Produkte mit hoher Umweltverträglichkeit herzustellen. Seit 1998 gibt es in Polen ein Öko-Etikettierungssystem, dessen Popularität gering ist (etwas mehr als 80 Lizenzen). Das Etikett »ÖkoZeichen« (EkoZnak) wird verliehen, wenn bestimmte ökologische Anforderungen erfüllt werden, die den Schutz der Gesundheit und der Umwelt betreffen sowie die effektive Ausnutzung der natürlichen Ressourcen während des gesamten Produktlebenszyklus. Diese Umweltkriterien für bestimmte Produktgruppen orientieren sich an den Kriterien des Ecolabel-Systems der EU. Auch die Vergabe von Lizenzen des Ecolabel ist in Polen nicht zufriedenstellend (nur elf Lizenzen). Im Vergleich wurden in Italien am meisten Ecolabel-Lizenzen vergeben (331), gefolgt von Frankreich (208) und Spanien (71). Ein Grund für die geringe Popularität dieses Instruments in Polen ist der geringe Bekanntheitsgard dieser Systeme bei den polnischen Konsumenten. Neben der freiwilligen Kennzeichnung von Produkten und Dienstleistungen gibt es auch obligatorische. Seit 2004 ist es Pflicht, neue PKW mit einem Umwelt­etikett zu kennzeichnen. Ähnlich wie in anderen EU-Mitgliedsländern wird hier das obligatorische europäische Etikettierungssystem angewendet, das die Energieeffizienz (Energy Efficiency Label) bezeichnet. Der Index für Motorisierung, der wesentlich für Schadstoffemissionen, die Belastung durch Lärm, die Erzeugung von Abfall und den Energieverbrauch ist, illustriert einen weiteren Bereich des Konsumverhaltens. Er ergibt sich aus der Anzahl der Autos pro 1.000 Einwohner. Unterstrichen werden muss, dass die Umweltbelastung mit der Nutzung von Autos zusammenhängt, der Motorisierungsindex aber nur ein Wert ist, der den Besitz eines Autos anzeigt. Er berücksichtigt nicht die Unterschiede zwischen den Fahrzeugtypen und beispielsweise auch nicht, ob die Herstellung eines Fahrzeugs unter Anwendung von Umwelttechnologien stattfand. Für Polen ist eine dynamische Entwicklung im Bereich Motorisierung charakteristisch. Nach Angaben von Eurostat für die Jahre 2000 bis 2009 stieg der Wert von 258 auf 433. Zum Vergleich lag der Wert in den EU-Mitgliedsländern (EU-27) im Jahr 2000 bei 423 und im Jahr 2009 bei 473. Polen gehört hier zu der Gruppe der aufholenden Länder. Die Länder mit dem höchsten Motorisierungsindex sind Italien mit 606 und Deutschland mit 509 PKW pro 1.000 Einwohner (Daten aus dem Jahr 2009) (s. Tabelle 4, S. 7). Zusammenfassung Die Umweltpolitik Polens ist mit der Umweltpolitik der Europäischen Union verknüpft, die zahlreiche Entscheidungen vorgibt und gleichzeitig ein starker Anreiz ist, weitere Aktivitäten auf den Weg zu bringen. Die polnische Umweltpolitik der letzten zwei Jahrzehnte hat zu positiven Veränderungen in bestimmten Bereichen geführt. Sichtbar sind Verbesserungen der Luftqualität und des Gewässerschutzes. Trotzdem gibt es immer noch eine Reihe von Problemen, beispielsweise in der Abfallwirtschaft, die dringend eine Lösung erfordern. Ein wichtiges Ziel ist, die negativen Einwirkungen auf die Umwelt zu beschränken, die durch Ressourcennutzung entstehen. Praktisch bedeutet das, in der Wirtschaft eingesetzte Ressourcen effizienter zu nutzen. Eine große Rolle spielt bei der Realisierung der Umweltpolitik die Gesellschaft. Zwar erkennt die polnische Gesellschaft die Notwendigkeit des Umweltschutzes, trotzdem haben entsprechende Verhaltensweisen nicht die Priorität. Trotz des bestehenden zivilisatorischen Ungleichgewichts, das die polnischen Konsumenten von den westlichen hinsichtlich ihrer Ausstattung trennt, ist das Umweltbewusstsein der Polen aber wesentlich gewachsen. Die Polen fangen an, die natürliche Umwelt als Qualität für ihr Leben wertzuschätzen. Es beginnen sich Gewohnheiten herauszubilden, die gegen Umweltzerstörung gerichtet und sich des Schutzes der Umwelt für zukünftige Generationen bewusst sind. Die Veränderungen im Umweltbewusstsein werden sich wiederum im Konsumverhalten und im individuellen Handeln niederschlagen. Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate Über die Autoren Dr. Janusz Krupanek leitet die Forschungsgruppe Umweltpolitik am Institut für Ökologie industrieller Gebiete in Kattowitz (Instytut Ekologii Terenow Uprzemyslowionych - IETU, Katowice). Beata Michaliszyn, Doktorandin der Wirtschaftsuniversität Kattowitz (Uniwersytet Ekonomiczny, Katowice), ist Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Umweltpolitik am IETU.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-11-17T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/polen-analysen/41027/analyse-umweltpolitik-in-polen/
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Legitimation durch interparlamentarische Zusammenarbeit? | Europa im Umbruch | bpb.de
Als der Deutsche Bundestag und die französische Assemblée nationale anlässlich des 50-jähigen Bestehens des Élysée-Vertrags im Januar 2013 eine gemeinsame Sitzung abhielten, war das ein besonderes Beispiel für bilaterale Kooperation zweier nationaler Parlamente. Beziehungen zwischen Parlamenten können jedoch auch multilateral sein, etwa wenn die Landtagspräsidentenkonferenzen von Deutschland und Österreich im Juni 2013 eine gemeinsame Sitzung in Niederösterreich abhalten. Parlamente sind komplexe Akteure mit vielen Untergruppen. Fraktionen, Ausschüsse, territoriale und andere Gruppen, verschiedene Verwaltungsgremien, das Plenum und einzelne Abgeordnete können jeweils interparlamentarische Beziehungen unterhalten. Dabei kann die Art der Beziehungen zwischen Kooperation und Konkurrenz, punktuell und stetig, informell und formell variieren. Im System der Europäischen Union (EU) bestehen Beziehungen zwischen Parlamenten in vertikaler und in horizontaler Dimension. Vertikale Beziehungen bestehen sowohl zwischen dem Europäischen Parlament (EP) und nationalen Parlamenten als auch zwischen nationalen und subnationalen Parlamenten. Auch Beziehungen zwischen dem EP und subnationalen Parlamenten sind möglich. Horizontale Verbindungen bestehen sowohl zwischen nationalen Parlamenten als auch auf subnationaler Ebene, zwischen subnationalen Parlamenten eines Mitgliedstaates oder über nationale Grenzen hinweg. In Politik und Wissenschaft wird diskutiert, ob die Zusammenarbeit der verschiedenen Parlamente in der EU eine Möglichkeit darstellt, die demokratische Legitimität von EU-Politik zu erhöhen. Dieser Frage werde ich in diesem Artikel nachgehen. Dazu soll zunächst ein kurzer Blick auf die Rolle von Parlamenten im EU-System und auf die Argumente der Theoretiker geworfen werden. Veränderte Rolle von Parlamenten Im Hinblick auf Deutschland haben die Landtage, der Deutsche Bundestag und der Bundesrat sowie das EP jeweils eigene Kompetenzbereiche. In politischen Mehrebenensystemen finden ständig formale und informelle Veränderungen im Spannungsverhältnis von Einheit und Vielfalt statt, die auch Einfluss auf die Funktionen der Parlamente der einzelnen politischen Ebenen haben. Im Zuge der Zentralisierung des deutschen Bundesstaates und des Ausbaus eines europäischen Systems wurden Gesetzgebungszuständigkeiten in immer mehr Bereichen den höheren politischen Ebenen zugewiesen. Entscheidungen, die vormals auf Bundesebene getroffen wurden, werden nun auf EU-Ebene gefällt. Entscheidungen, die in den Ländern getroffen wurden, werden auf Bundes- oder EU-Ebene gefällt. Die legislativen Spielräume der unteren Ebenen verändern sich, ihre Legislativfunktion wird zunehmend durch die Umsetzung von EU-Recht geprägt. Oft erhalten die unteren politischen Ebenen ein Mitspracherecht an der Politik der höheren Ebene, zumindest wenn sie von bestimmten Entscheidungen besonders betroffen sind. So wirkt Deutschland im Rat an der Gesetzgebung im EU-System mit; die deutschen Länder haben im Bundesrat die Möglichkeit, auf die Bundespolitik Einfluss zu nehmen und über Artikel 23 des Grundgesetzes auch auf die EU-Politik der Bundesregierung. Im vertikalen Verhältnis der Ebenen zueinander scheint also eine Art Ausgleich nach dem Prinzip "Gesetzgebungskompetenzen gegen Mitwirkungsrechte" zu bestehen. In horizontaler Dimension haben sich die Verhältnisse jedoch auch verändert: Die nationalen und subnationalen Parlamente verlieren Gesetzgebungskompetenzen "nach oben", während die Mitspracherechte am Politikgestaltungsprozess der höheren Ebene von den jeweiligen Regierungen ausgeübt werden. Die Parlamente als einzige direkt gewählte Organe verlieren Einflussmöglichkeiten auf den Politikgestaltungsprozess, während die Regierungen, die ihre Handlungskompetenzen von den Parlamenten ableiten, an Einfluss gewinnen. Die nationalen und subnationalen Parlamente reagieren auf ihren Verlust von Legislativkompetenzen mit einem Ausbau der Kontrollfunktion gegenüber den Exekutiven auf der eigenen Ebene. In Deutschland bauen Bundestag und Bundesrat – teilweise infolge von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts – ihre begleitenden und nachträglichen Kontrollmöglichkeiten gegenüber dem europapolitischen Handeln der Bundesregierung aus. Auch die Länderparlamente kontrollieren ihre jeweiligen Regierungen verstärkt in ihrem europapolitischen Handeln im Bundesrat. Obwohl es in der Wissenschaft unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, ob es tatsächlich zu einer "Entparlamentarisierung" kommt: Mit diesen Veränderungen sind Herausforderungen verbunden. Aufgrund der Verlagerung von Gesetzgebungskompetenzen entsteht die Situation, dass EU, Bund und Länder in Gesetzgebung und Umsetzung fast aller Materien zusammenwirken und eine selbstständige Aufgabenerfüllung durch eine Ebene meist nicht möglich ist ("Politikverflechtung"). Die Erhöhung der Kontrollbefugnisse der Parlamente gegenüber ihren Regierungen in EU-Angelegenheiten kann sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene zu Koordinationsproblemen und damit verbunden zu Effektivitätseinbußen führen. Insgesamt erhöht sich die Komplexität und Intransparenz. Die "Legitimationskette" vom Wahlvolk zu den eigentlichen Entscheidungsträgern wird länger, während die Parlamente wie alle anderen Akteure in ihrer selbstständigen Handlungsfähigkeit tangiert sind und Politik im Zusammenspiel mit anderen Akteuren und anderen politischen Ebenen gestalten müssen. Dabei ist gerade die Legitimation von EU-Politik wichtig. Denn die EU hat in vielen Materien einen sehr hohen Regelungsanteil, und gleichzeitig sind in ihrem sich beständig weiter entwickelnden System die Merkmale einer Demokratie, wie sie in nationalen Systemen als konstituierend angesehen werden, (noch) nicht weit genug ausgeprägt. Das EP ist in den vergangenen Jahrzehnten zwar vor allem in seiner Legislativfunktion erheblich gestärkt worden. Dennoch ist es nicht in der Lage, allein für die demokratische Legitimität der Entscheidungen auf EU-Ebene zu sorgen. Theoretische Überlegungen Die theoretischen Konzepte zur Erfassung der Beziehungen zwischen Parlamenten in EU-Angelegenheiten verbinden die entstehende parlamentarische Mehrebenenstruktur der EU mit der Minimierung des sogenannten Demokratiedefizits. Dabei gibt es zwei Argumentationsstränge: Ein Argument geht davon aus, dass durch die parlamentarische Kooperation Synergieeffekte entstehen, die es den Parlamenten ermöglichen, ihre Kontrollfunktionen insbesondere gegenüber ihren Regierungen besser auszuüben. Ein anderes Argument sieht in der Zusammenarbeit der Parlamente einen neuen Raum des demokratischen Austauschs. Synergien können in der interparlamentarischen Kooperation zum Beispiel geschaffen werden, wenn es um die Erlangung, Verarbeitung und Bewertung von Informationen geht. Es wird davon ausgegangen, dass sich die "Parlamentsebenen mit Informationen aus den laufenden Politikzyklen der EU unterstützen können, die ihnen zumindest formal nicht zustehen, die aber andererseits nützliche Mittel zur effizienteren Umsetzung ihrer auf die EU bezogenen Mitwirkungsmöglichkeiten im jeweiligen Interaktionsrahmen darstellen." Grundlage ist das "Prinzip der gegenseitigen Erleichterung und Hilfe bei der Kontrolle der Regierungen in ihrer Eigenschaft als den Parlamenten rechenschaftspflichtige Institutionen." Bei dieser Argumentation steht die Rolle des Parlaments in seinem nationalen Kontext im Mittelpunkt, und seine mögliche Funktion für das Gesamtsystem der EU wird im Zusammenspiel mit seiner jeweiligen Regierung realisierbar. Die Zusammenarbeit von Parlamenten kann auch als Alternative zu einer möglicherweise zu starken und deswegen blockierenden Kontrolle gesehen werden: Statt die Europaarbeit auf die Kontrolle der eigenen Regierung zu beschränken, können Parlamente das gesamte EU-System als Referenzrahmen ihres politischen Handelns verstehen. Die repräsentative Demokratie im EU-System wird von manchen Theoretikern gerade über die interparlamentarische Vernetzung neu konzeptionalisiert. Es wird argumentiert, dass neben der Position und den Rechten jedes einzelnen Parlaments auch relevant ist, welche Effekte die parlamentarische Kooperation für das Gesamtsystem hat. Durch Zusammenarbeit entstünde ein "multi-level parliamentary field", eine "transnational sphere of democratic representation". Die Zusammenarbeit von Parlamenten eröffne einen Raum für den Diskurs und die Verbreitung und den Austausch von Ideen. "The particular challenge involved in theorizing appropriate democratic standards for the EU lies (…) in the (horizontal and vertical) dispersion of democratic representation across multiple sites." Ein weiteres Argument lautet, dass die momentan nicht stark ausgeprägte "horizontale Struktur der repräsentativen Demokratie" in der EU, der notwendige Austausch über die verschiedenen Interessen und die Schaffung von Solidarität durch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Parlamenten gestärkt werde. Änderungen durch den Vertrag von Lissabon Die Stärkung der parlamentarischen Demokratie in der EU ist neben dem Ausbau partizipativer und deliberativer Verfahren ein Weg, EU-Politik zu legitimieren. Neben der seit Jahrzehnten andauernden schrittweisen Aufwertung des Europäischen Parlaments wurden seit dem Maastrichter Vertrag (in Kraft seit November 1993) in die Überlegungen einer Parlamentarisierung der EU auch die nationalen Parlamente einbezogen, und es wird versucht, ihnen eine eigene Rolle im EU-System zu geben. Durch den Lissabon-Vertrag (Dezember 2009) sind die nationalen Parlamente durch die Einführung des Subsidiaritäts-Frühwarnmechanismus gestärkt. Dieser ermöglicht den nationalen Parlamenten, innerhalb von acht Wochen zu allen Vorschlägen der Europäischen Kommission Stellung zu nehmen, was die Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit der Vorschläge angeht. Die Kommission muss die Stellungnahmen der Parlamente berücksichtigen und, wenn ein Drittel der nationalen Parlamente Einwände hat, in einer "substantiierten Stellungnahme" darlegen, warum sie an ihrem Entwurf festhält. Durch eine Zusammenarbeit können Parlamente also ihr Sanktionspotenzial erhöhen. Eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof kann jedes nationale Parlament auch ohne vorherige Rüge erheben. In Deutschland haben sowohl der Bundestag als auch der Bundesrat (und damit die deutschen Länder) diese neuen Rechte inne. Die subnationalen Parlamente finden im Subsidiaritätsprotokoll (Art. 6) zwar erstmals Erwähnung, es ist aber Sache der Mitgliedstaaten, diese am Frühwarnmechanismus teilhaben zu lassen. Die Länderparlamente erfahren durch die Erwähnung im Lissabon-Vertrag also keine direkte formelle Stärkung im europäischen Mehrebenensystem. Und doch profitieren sie indirekt von den Verbesserungen, die den nationalen Parlamenten und den subnationalen Einheiten durch die neue Rechtslage zuteilwerden. Der Vertrag von Lissabon erwähnt aber auch explizit die Zusammenarbeit der Parlamente: Im Artikel 12 des EU-Vertrags werden die nationalen Parlamente zur Kooperation untereinander und mit dem EP ermuntert. Das Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU sieht in Artikel 9 "eine effiziente und regelmäßige Zusammenarbeit zwischen den Parlamenten innerhalb der Union" vor, die von denselben Akteuren "gestaltet und gefördert" werden soll. Artikel 10 desselben Protokolls besagt, dass die Konferenz der Europaausschüsse der Parlamente (COSAC) "den Austausch von Informationen und bewährten Praktiken zwischen den nationalen Parlamenten und dem EP, einschließlich ihrer Fachausschüsse" fördert. Die neuen Rechte der Parlamente, vor allem zur Subsidiaritätskontrolle, können von den Parlamenten erheblich besser in Zusammenarbeit mit anderen Parlamenten ausgeübt werden und entwickeln sich zum Katalysator einer Vernetzung von Parlamenten verschiedener politischer Ebenen. Interparlamentarische Foren Der Maastrichter Vertrag mit seiner Stärkung der Relevanz der EU in vielen Politikbereichen einerseits und der Rolle der nationalen Parlamente in der EU andererseits führte dazu, dass die nationalen Parlamente aller Mitgliedstaaten ihre Europakompetenz ausbauten. In Deutschland folgten ihnen zeitlich versetzt auch die Länderparlamente. Die Reformen betrafen die Organisation der Arbeit mit EU-Themen (Gründung von Europaausschüssen, Aufstockung und Schulung des EU-Personals in den Parlamentsverwaltungen, Änderungen der Geschäftsordnungen, etc.), vor allem aber auch die Kontrollrechte der Parlamente gegenüber ihren Regierungen. Auch die interparlamentarische Zusammenarbeit wurde seit Beginn der 1990er Jahre und verstärkt seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags ausgebaut. Dabei haben sich unterschiedliche Arten entwickelt, die im Folgenden kurz skizziert und eingeordnet werden sollen. Wichtige Foren der interparlamentarischen Zusammenarbeit sind die seit Jahrzehnten bestehenden Konferenzen der Parlamentspräsidenten. Auf der Ebene der mitgliedstaatlichen Parlamente und des Europäischen Parlaments ist dies die Konferenz der Parlamentspräsidenten und -sprecher. Die sogenannte EU-PPK befasst sich mit den grundsätzlichen Fragen der Parlamente in der EU. Die Konferenz hat 2008 Leitlinien der interparlamentarischen Zusammenarbeit erarbeitet, die zwar keine Bindewirkung entfalten, aber von allen Seiten stark beachtet werden. Auf Ebene der Länder treffen sich die Präsidenten der deutschen Länderparlamente in der Landtagspräsidentenkonferenz. Obwohl dieses Gremium sich nicht allein mit EU-Fragen befasst, wurden hier immer wieder Brücken zwischen den europäischen Reformen und der Politik der subnationalen Parlamente geschlagen und wesentliche Reformen im Bereich der Europapolitik der Länderparlamente angestoßen. Die deutsche Landtagspräsidentenkonferenz tagt auch zusammen mit der österreichischen Landtagspräsidentenkonferenz und Vertretern aus Südtirol, um Themen zu bearbeiten, die für die Länderparlamente dieser Staaten gleichermaßen relevant sind. Europaweit besteht mit der Conférence des Assemblées Législatives Régionales Européennes (CALRE) seit Ende der 1990er Jahre ein Zusammenschluss der Präsidenten der 74 subnationalen Parlamente in der gesamten EU, die eigene Legislativbefugnisse innehaben. Die CALRE hat das politische Ziel, die Regionalparlamente auf nationaler und europäischer Ebene zu stärken. Sie war wesentlich daran beteiligt, dass die subnationalen Parlamente im Lissabon-Vertrag erstmals erwähnt wurden. Die Conférence des Organes Parlementaires Spécialisés dans les Affaires de l’Union des Parlements de l’Union Européenne (COSAC) wurde Ende der 1980er Jahre gegründet und setzt sich aus den Europaausschüssen der nationalen Parlamente sowie Vertretern des Europäischen Parlaments zusammen. Die COSAC wurde schon im Vertrag von Amsterdam erwähnt; im Protokoll zur Rolle der nationalen Parlamente des Lissabon-Vertrags bekam sie explizit Aufgaben im Rahmen der interparlamentarischen Zusammenarbeit zugeschrieben. Danach kann die COSAC das EP, den Rat und die Kommission direkt kontaktieren und inhaltliche Vorschläge machen, womit die einzelnen nationalen Parlamente jedoch nicht gebunden sind. Die COSAC hält jährlich zwei Treffen ab und bildet darüber hinaus Arbeitsgruppen. Sie soll den Informationsaustausch zwischen den einzelnen Parlamenten erleichtern, Vergleiche zur Vorgehensweise in Europaangelegenheiten sowie den Dialog zwischen den Parlamenten ermöglichen. Gemeinsame inhaltliche Beratungen in Ausschusssitzungen können von einem oder mehreren Ausschüssen des Europäischen Parlaments mit den jeweils inhaltlich korrespondierenden Ausschüssen der nationalen Parlamente veranstaltet werden. Es sind jedoch auch bilaterale Sitzungen eines Fachausschusses eines einzelnen nationalen Parlaments mit dem entsprechenden EP-Ausschuss möglich. So haben beispielsweise nahezu die Hälfte der 22 Fachausschüsse des Deutschen Bundestages im Jahr 2010 auswärtige Ausschusssitzungen oder Delegationsreisen nach Brüssel unternommen. Diese weniger formalisierte, dafür aber fachspezifischere Zusammenarbeit ermöglicht die Bearbeitung inhaltlicher Schwerpunkte und die Einspeisung der Umsetzungserfahrungen der nationalen Parlamente. Neben gemeinsamen Ausschusssitzungen nehmen die Abgeordneten der Parlamente an Plenar- und Ausschusssitzungen anderer Parlamente teil. Die Ausschüsse des Europäischen Parlaments laden regelmäßig Vertreter der nationalen Parlamente zu ihren Sitzungen nach Brüssel ein, um gemeinsam neue Rechtsetzungsvorschläge der Kommission zu beraten. EP-Abgeordnete nehmen ihrerseits an den Sitzungen der Ausschüsse nationaler Parlamente teil. Zum EU-Ausschuss des Deutschen Bundestags haben deutsche Europaabgeordnete grundsätzlich Zutritt. Außerdem hat er eigens ernannte "mitwirkungsberechtigte Mitglieder des Europäischen Parlaments", die befugt sind, die Beratung von Verhandlungsgegenständen anzuregen sowie während der Beratungen des Ausschusses für die EU-Angelegenheiten Auskünfte zu erteilen und Stellung zu nehmen. Auch in den Europaausschüssen der deutschen Länderparlamente sind Europaabgeordnete häufig zu Gast. Unter dem Namen IPEX (Interparliamentary EU Information Exchange) firmiert eine elektronische Plattform für die Zusammenarbeit der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten und der Kandidatenstaaten der EU und dem Europäischen Parlament. Auf der Website (Externer Link: http://www.ipex.eu) besteht ein geschlossener Raum, auf den nur die Parlamente Zugriff haben. IPEX stellt eine Möglichkeit dar, rasch und unkompliziert Informationen über Sachverhalte mit EU-Bezug auszutauschen. Für Bürgerinnen und Bürgern stellt IPEX Informationen über die Europaarbeit der nationalen Parlamente zur Verfügung. Die Parlamentsverwaltungen spielen eine besondere Rolle in der interparlamentarischen Zusammenarbeit. Das EP hat bereits seit Anfang der 1990er Jahre eine Stelle, die für die Kontakte zu den nationalen Parlamenten zuständig ist. Auch der Deutsche Bundestag hat mit seinem "Referat PA 1 (Europa)" eine Einheit, die sowohl die Europaarbeit des Bundestags in Berlin betreut als auch in Brüssel Verbindungen zu den europäischen Institutionen und anderen Mitgliedstaaten unterhält. Der Bundesrat hat Anfang 2011 eine Stelle für die interparlamentarische Zusammenarbeit eingerichtet. Seit Ende desselben Jahres organisieren die Verwaltungen der deutschen Länderparlamente jährliche Treffen ihrer EU-Referenten. Die Landtage von Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen haben eigene Vertreter in Brüssel. Die formalen Treffen und informellen Verbindungen, welche die Vertreter einzelner nationaler und subnationaler Parlamente in Brüssel zu ihren Kollegen in Brüssel aufbauen, stellen eine wichtige Achse interparlamentarischer Zusammenarbeit dar. Vergleicht man die verschiedenen Formen der interparlamentarischen Zusammenarbeit, so zeigt sich, dass die hochgradig formalisierten Zusammenschlüsse der Parlamentspräsidenten und auch der Europaausschüsse sich eher mit grundsätzlichen Fragen der Stellung von Parlamenten im EU-System und der Fortentwicklung des europäischen Primärrechts befassen, während insbesondere die Verbindungen zwischen einzelnen Fachausschüssen, Abgeordneten und den Parlamentsverwaltungen Foren darstellen, in denen eher über konkrete Sachfragen mit EU-Bezug diskutiert werden kann. Es zeigt sich auch, dass die parlamentarische Zusammenarbeit sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Dimension noch am Anfang steht. In vielen Zusammenhängen geben pragmatische Überlegungen, Arbeitserleichterungen durch Synergieeffekte und Vergleichbarkeit der eigenen Arbeit mit der ähnlicher Akteure den Ausschlag für vermehrte Zusammenarbeit. Das Argument der Theoretiker, die Zusammenarbeit von Parlamenten erleichtere es, die Kontrollfunktion auszuüben, scheint sich in der Praxis zu bestätigen. Die Schaffung neuer Diskussionsräume ist eher eine Herausforderung für die Zukunft als bereits bestehende Realität. Insbesondere durch die Suche nach gangbaren Möglichkeiten, die neuen Rechte der Subsidiaritätskontrolle auszufüllen, haben sich in den vergangenen beiden Jahren die Beziehungen zwischen den Parlamenten verstärkt. Damit steht also die Kontrollfunktion der Parlamente im Mittelpunkt, auch wenn diese Kontrolle nicht lediglich auf die eigene Regierung gerichtet ist, sondern auch auf das Monitoring auf EU-Ebene. Dabei sind die Kooperationsbeziehungen des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente weiter fortgeschritten als die der subnationalen Parlamente. Ob und wie ein Parlament sich beteiligt, ist stark geprägt vom Charakter des einzelnen Parlaments, von Pfadabhängigkeiten des jeweiligen politischen Systems, von finanziellen Ressourcen und Personen, welche die parlamentarische Zusammenarbeit in EU-Fragen für wichtig halten. Oft handelt es sich bei den wirklich tragfähigen Kontakten um informelle persönliche Netzwerke. Die Zusammenarbeit der Parlamente als komplexe und heterogene Akteure gestaltet sich deutlich schwieriger als die der hierarchisch aufgebauten Exekutiven. Fazit und Ausblick Erhebliche Hoffnungen auf eine gestärkte Legitimität der EU-Politik gehen mit der parlamentarischen Vernetzung einher. Im europäischen Mehrebenensystem haben die Parlamente aufgrund der ihm eigenen Dynamiken in den vergangenen Jahrzehnten an Einflussmöglichkeiten verloren und waren in ihrer Europaarbeit zunehmend auf die Kontrolle des europapolitischen Handelns ihrer Regierungen konzentriert. Der Lissabon-Vertrag weist den Parlamenten der unteren Ebenen durch ihr Recht der Subsidiaritätskontrolle und die Aufforderung zur interparlamentarischen Kooperation eine Rolle für das Gesamtsystem der EU zu und eröffnet eine proaktive Alternative zur bloßen Kontrolle der eigenen Regierung. Die Parlamente der nationalen und subnationalen Ebenen sind damit vor Aufgaben gestellt, die früher den Regierungen vorbehalten waren: formale Beziehungen nach außen zu pflegen und mit externen Akteuren und anderen Systemen dauerhaft zu kommunizieren. In der Tat hat sich die Zusammenarbeit von Parlamenten in den vergangenen Jahren ganz erheblich verstärkt. Gemeinsame Positionen wurden formuliert, um die Stellung der Parlamente im EU-System zu verbessern. Außerdem fand ein Austausch über Reformen statt, die jedes Parlament zur Wahrnehmung der neuen Rechte vornehmen musste. In zunehmendem Maße treten das Monitoring von Kommissionsvorschlägen und damit die parlamentarische Kontrolle in den Vordergrund der Zusammenarbeit. Es ist zu erwarten, dass sich der inhaltliche Austausch zwischen den Parlamenten und ihren Ausschüssen darüber hinaus noch verstärken wird. Gerade darin liegt eine Möglichkeit, die EU-Politik aktiv und jenseits einer in manchen Fällen blockierenden Kontrolle mitzugestalten. Nichtsdestotrotz stellt die Kooperation für die Parlamente eine große Herausforderung dar. Für die Praxis in den Parlamenten ist und bleibt die Schaffung eines Bewusstseins für die eigene Akteursqualität im EU-System eine der größten Herausforderungen. Mit anderen Worten: Das Potenzial, durch interparlamentarische Zusammenarbeit für mehr Legitimität zu sorgen, ist vorhanden, aber noch wird es nicht voll ausgeschöpft. Vgl. Gabriele Abels/Annegret Eppler, Die deutschen Länderparlamente nach Lissabon-Vertrag und -Urteil, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2011, Baden-Baden 2011, S. 457–470. Andreas Maurer, Parlamente in der EU, Wien 2012, S. 219. Ebd. Vgl. Annegret Eppler, Vertikal und horizontal, bi- und multilateral: Interparlamentarische Beziehungen in EU-Angelegenheiten, in: Gabriele Abels/dies. (Hrsg.), Auf dem Weg zum "Mehrebenenparlamentarismus"?, Baden-Baden 2011, S. 297–314, hier: S. 300ff. Ben Crum/John E. Fossum, The Multilevel Parliamentary Field: a framework for theorizing representative democracy in the EU, in: European Political Science Review, 1 (2009) 2, S. 249–271, hier: S. 257. Ebd., S. 267. Vgl. Arthur Benz, Arthur, Linking Multiple Demoi. Inter-Parliamentary Relations in the EU, IEV-Online 1/2011, S. 11, Externer Link: http://www.fernuni-hagen.de/imperia/md/content/rewi/iev/benziev-online2011nr1.pdf (14.1.2013). Protokoll Nr. 1 über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU und Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Vgl. Gabriele Abels, Sub-National Parliaments in a Multi-level Parliamentary System: The German Länder in the Post-Lisbon Era, Glasgow 2012, S. 4–11. Parlamente mit eigenen Legislativbefugnissen gibt es in Belgien, Österreich, Deutschland, Spanien, Italien, Großbritannien, Finnland und Portugal. Vgl. A. Maurer (Anm. 2). S. 227f. Vgl. Sven Vollrath, Herausforderungen bei der Umsetzung der neuen Rechte nach dem Vertrag von Lissabon durch den Deutschen Bundestag und die Begleitgesetzgebung, in: G. Abels/A. Eppler (Anm. 4), S. 177–193, hier: S. 188. Vgl. ebd.
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, Annegret Eppler
"2021-12-07T00:00:00"
"2013-02-01T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/154384/legitimation-durch-interparlamentarische-zusammenarbeit/
Im europäischen Mehrebenensystem haben Parlamente kontinuierlich an Einfluss verloren. Mit der verstärkten parlamentarischen Vernetzung seit dem Lissabon-Vertrag gehen Hoffnungen auf größere Legitimität der EU-Politik einher.
[ "interparlamentarische Zusammenarbeit", "Parlament", "Vertrag von Lissabon", "interparlamentarische Foren", "Europäische Union" ]
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Musik trifft Politik | Presse | bpb.de
Mit "Anschwellender Protestgesang" war jüngst ein Bericht über die Aktionen der Studenten und Studentinnen überschrieben, und immer mal wieder liest man von einer "Renaissance des Protestsongs". Es ist offensichtlich etwas in Bewegung gekommen, politisch und möglicherweise auch musikalisch. Das "Festival Musik und Politik" hakt da ein wenig nach, wobei es keine Rolle spielt, was gerade "in" oder "out", "cool" oder "uncool" ist. Eine Rolle spielt jedoch politisches Engagement, das sich mit Musik verbindet. Das "Festival Musik und Politik 2004" präsentiert ein breites Spektrum politischer Musik. Zum Repertoire gehören der klassische Protestsong, das Chanson, "brachialromantische Balladen", Kabarett, Jazz, Rock, HipHop, Weltmusik und elektronisches Musiktheater. Verschiedene Musikergenerationen, "alte Barden" und "junge Barden", tauschen ihre Erfahrungen aus. Dabei geht es um politische Themen und künstlerische Ausdrucksmittel, um das Fortwirken der vor 40 Jahren auf Burg Waldeck begründeten Songfestival-Tradition und um die Rolle deutschsprachiger Musik in den Medien heute. Die Künstler und Künstlerinnen sind u.a.: Daara J, Der singende Tresen, Die Goldenen Zitronen, Gilad Atzmon, Herr Beckert & Arnulf Rating, Mellow Mark, rhythm king and her friends, TEXTxtnd, Konstantin Wecker, Hans-Eckardt Wenzel. Veranstaltet wird das Festival von Lied und soziale Bewegungen e.V., Profolk e.V., GFAJ e.V. in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung. Alle weiteren Informationen finden Sie unter Externer Link: www.songklub.de. Pressekontakt Holger Schade Büro für Künstlermanagement Lichtenbergerstr. 10 10178 Berlin Tel./Fax: +49 (0)30 - 42 80 72 93 E-Mail: E-Mail Link: presse@concertidee.de Vorverkauf KOKA 36 Oranienstr. 29 Berlin Tel.: +49 (0)30 - 61 10 13 13 Internet: Externer Link: www.koka36.de Pressekontakt/bpb Bundeszentrale für politische Bildung Swantje Schütz Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel.: +49 228 99515-284 Fax: +49 228 99515-293 E-Mail: E-Mail Link: schuetz@bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-12-23T00:00:00"
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Vom 25. bis 29. Februar 2004 findet das bislang umfangreichste "Festival Musik und Politik" in Berlin statt. Präsentiert wird ein breites Spektrum vom Chanson bis zum klassischen Protestsong.
[ "Unbekannt (5273)" ]
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Impressum | Der 18. März in der deutschen Demokratiegeschichte | bpb.de
Redaktionsschluss dieser Ausgabe November 2014 Herausgeberin: Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Adenauerallee 86, 53113 Bonn, Fax-Nr.: 0228/99 515-309 Internetadresse: Interner Link: http://www.bpb.de/izpb E-Mail: E-Mail Link: info@bpb.de Redaktion: Christine Hesse (verantwortlich/bpb), Jutta Klaeren, Magdalena Langholz (Volontärin) Mitarbeit: Stefan Messingschlager, Konstanz Der Autor: Dr. Gernot Jochheim lebt in Berlin, wo er als Lehrer tätig gewesen ist. Er hat zur Sozialgeschichte der Gewaltfreiheit gearbeitet, eine Vielzahl von Lernmaterialien zur politischen und sozio-historischen Bildung publiziert sowie an Projekten zur schulischen Gewaltprävention mitgewirkt. Für die bpb hat er bereits das infoaktuell "27. Januar – Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus" (2012) verfasst. Titelbild: Stadtarchiv Mainz (o. li.), bpk / Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin / Knud Petersen (o. re.), Fredi Fröschki (u. li.), Gernot Jochheim (u. re.) Gesamtgestaltung: KonzeptQuartier® GmbH, Art Direktion: Linda Spokojny, Schwabacher Straße 261, 90763 Fürth Druck: STARK Druck GmbH + Co. KG, 75181 Pforzheim Vertrieb: IBRo, Verbindungsstraße 1, 18184 Roggentin
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"2021-12-07T00:00:00"
"2014-11-20T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
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"Lasst die Lehrkräfte in Ruhe, aber nicht die Schulen" | Corona-Krise | bpb.de
Die Corona-Krise wird oft mit einem Brennglas verglichen, das bestehende Probleme verschärft und verdeutlicht. Trifft das auch auf das Thema Bildungsungerechtigkeit zu? Aladin El-Mafaalani: Das ist zumindest ganz stark anzunehmen. Noch kann man das nicht umfassend empirisch belegen. Aus der jahrzehntelangen Forschung zu Bildungsungleichheit wissen wir jedoch, dass die Ungleichheit kaum bis gar nicht in der Schule selbst entsteht, sondern mehr mit der Familie, dem häuslichen Umfeld, dem Milieu zu tun hat. Der Schule und den Bildungsinstitutionen kann man vorwerfen, dass sie die Ungleichheit, die in unserer Gesellschaft strukturell verankert ist, nicht zufriedenstellend ausgleichen. Aber während der Schulschließungen haben die Faktoren, die Ungleichheit erzeugen, einen noch größeren Raum. Da hilft auch die Fernlehre nicht. Die funktionierte in der einen oder anderen Schule recht gut, wobei wir selbst dort wahrscheinlich feststellen werden, dass sie nicht so gut funktioniert wie die Präsenzlehre. An den meisten Schulen passierte aber praktisch gar nichts und schon gar nicht ungleichheitssensibel. Gleichzeitig glaube ich aber, dass alle Kinder in ihrer Lern- und Kompetenzentwicklung eine tiefere Kurve haben werden als vor und nach Corona. Die Schere geht wahrscheinlich auseinander, während sie sich nach unten neigt. Woran liegt das, und wovon ist gelungenes Lernen zu Hause abhängig? Ich sehe mindestens drei wichtige Punkte. Erstens haben wir keinen Hinweis, dass es irgendwelche Konzepte gibt, bei denen Fernlehre gleichwertig mit Präsenzunterricht sein kann, vorausgesetzt, dass eine Lehrkraft eine Klasse mit 25 bis 30 Kindern unterrichtet. Natürlich gibt es Konzepte von Fernlehre mit einer 1:1- oder höchstens 1:5-Betreuung, die anständig funktionieren. Aber dafür fehlen uns einige Millionen Lehrkräfte. Zweitens haben relativ wichtige wissenschaftliche Akteure, meist Psychologen, die Digitalisierung im Bildungsbereich regelrecht verteufelt – neben der allgemeinen Zurückhaltung in Deutschland im Hinblick auf Digitalisierung war das sicher auch ein Grund dafür, dass wir auf den Einsatz digitaler Mittel in der Präsenzlehre bisher weitgehend verzichtet haben. Hätten Kinder und Lehrkräfte vor dem Shutdown schon Erfahrung mit der gemeinsamen Nutzung digitaler Mittel in der Schule gemacht, wäre es ungleich leichter gewesen, das dann auch in die Fernlehre zu übertragen. Der dritte Punkt ist eine grundsätzliche Sache: Selbst die Lehrkräfte, die sich auf längeren Fernunterricht eingestellt haben, hatten das Problem, dass sie über die Kinder faktisch nichts wussten. Sie wussten nicht, was überhaupt zu Hause für Arbeitsvoraussetzungen vorliegen, ob die Familien einen Laptop, einen Drucker, ob die Kinder ein eigenes Zimmer, einen Schreibtisch haben und so weiter. Wir haben vorher faktisch keine systematische Kommunikation mit den Eltern betrieben. Das heißt, wir haben in der Breite Wochen gebraucht – die Ausnahmen sind eher Leuchttürme –, bis die Lehrkräfte eine Idee von den Voraussetzungen bei den Kindern zu Hause während des Shutdowns hatten. Das ist dann tatsächlich wie ein Brennglas. Denn es ist immer, nicht nur in der Corona-Krise, sinnvoll zu wissen, wie die Kinder eigentlich aufwachsen und wie die Rahmenbedingungen zu Hause sind – insbesondere, wenn man die Bildungschancen für Benachteiligte verbessern möchte. Welche Gruppen sind mit Blick auf die Corona-Krise besonders von Bildungsbenachteiligung betroffen? Vermuten muss man, dass es alle benachteiligten Gruppen sind, die sich also gemessen am Bildungsniveau der Eltern und der Schichtzugehörigkeit in prekären Lebenslagen befinden, und zudem alle, die ohnehin Probleme haben, dem Unterricht zu folgen. Zusätzlich auch Kinder, die in Familien aufwachsen, die von Suchterkrankungen oder psychischen Erkrankungen oder auch Behinderungen betroffen sind, Familien, in denen Gewalt eine große Rolle spielt und in denen die Kinder zunehmend auf sich gestellt sind. Während eines Shutdowns geht es nicht mehr nur um die feinen Unterschiede, sondern um wirklich massive ungleiche Familien- und Lebensverhältnisse. Abseits von Corona: Wie ist Schule generell aufgestellt für Kinder aus armen Familien oder aus sozial benachteiligten Verhältnissen? Es hat viele gute Entwicklungen in den vergangenen Jahrzehnten gegeben, aber man muss wissen, dass die Problematik von Kindern, die heute in prekären Verhältnissen aufwachsen, eine grundlegend andere ist als noch vor 30 Jahren. Das Problem ist, dass wir es in den untersten benachteiligten Milieus heute häufig mit Resignation zu tun haben. Die Kinder wachsen nicht nur in ökonomisch prekären Lagen auf, sondern dazu auch noch in einem Milieu, in dem die Erwachsenen häufig keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft haben. Die Eltern – und damit auch die Kinder und Jugendlichen – bringen immer weniger von dem mit, was in der Schule erwartet wird. Deshalb stimmt beides: Die Schulen haben sich deutlich besser auf benachteiligte Kinder eingestellt, aber die Prekarität, in der diese aufwachsen, hat sich verschärft, weshalb die Schulen dann doch überfordert sind. Und ich würde wirklich von Überforderung sprechen. Denn circa 20 Prozent der Kinder in Deutschland leben in Armut, aber die allermeisten Kinder wachsen in soliden und gesicherten Verhältnissen auf und zudem ganz überwiegend so behütet, gewaltfrei und anerkennungsreich, wie es noch nie der Fall war. Die beiden Extreme, also immer stärker auseinanderklaffende Kindheiten, muss die Institution Schule bewältigen. Außerdem sollte man sich durchaus fragen, warum Milieus resigniert haben und sich apathische Strukturen etablieren konnten. Das hat nicht nur mit dem Schulsystem zu tun und kann auch nicht nur im Schulsystem bearbeitet werden, aber für Kinder aus diesen Milieus sind die Bildungsinstitutionen die einzige Chance. Können digitale Tools helfen, um dem Auseinanderklaffen der Bildungsschere entgegenzuwirken? Dafür gibt es gute Indizien. Beispielsweise gibt es schon Berichte von Projekten aus anderen Ländern, wo die Kinder Feedbacks von digitalen Medien total gut finden, weil sie das Gefühl haben, das ist fairer, als wenn das eine Lehrkraft macht. Aus habitustheoretischer Perspektive hat das eine hochgradige Plausibilität. Ein Roboter oder ein Algorithmus können wahrscheinlich deutlich eher Talente entdecken als eine Lehrkraft. Das hat viele Gründe, zum Beispiel, dass Lehrkräfte häufig bestimmte Potenziale und Talente bei Kindern nicht erkennen, weil es sich je nach Milieu, nach sozialer Herkunft des Kindes anders ausdrückt. Lehrkräfte kommen in der überwiegenden Zahl selbst aus einem bildungsbürgerlichen Milieu. Wenn sich Kinder entsprechend so verhalten wie die eigenen Kinder, führt das wechselseitig zu einer ganz anderen Resonanz. Ich habe die Redewendung geprägt, dass Armut das Talent für Lehrkräfte verdeckt. Die Aufgabe wäre es also, Talent zu entdecken. Man bräuchte folglich Forschergeist. Und ähnlich wie weite Teile der empirischen Forschung ohne digitale Unterstützungssysteme überhaupt nicht mehr möglich sind, können digitale Mittel auch Lehrkräften helfen, Potenziale zu erkennen. Es gibt beispielsweise ein Projekt, in dem ein Algorithmus im Mathematikunterricht erkennt, was die Kinder bei einer Aufgabe nicht können. Ohne dass das Kind in irgendeiner Form beschämt wird, sagt er dem Kind, dass es offenbar diese Regel, die vor zwei Jahren in der Schule behandelt wurde, nicht mehr beherrscht, und gibt ihm Übungen für diese Regel. Und wenn es diese Regel erklärt bekommen und dann ein, zweimal angewendet hat, kommt die alte Aufgabe zurück. Dann schaut man erneut, ob das Kind diese Aufgabe lösen kann. Meistens ja – und wenn nicht, wird noch eine andere Regel identifiziert, die es nicht beherrscht. Dafür haben Lehrkräfte keine Zeit und die meisten auch nicht die Kompetenz. Auf der anderen Seite können solche digitalen Hilfen auch systematisch erkennen und speichern, was die Kinder beherrschen. Digitalisierung kann also helfen bei der individuellen Diagnose von Defiziten und Potenzialen und bei der individuellen Förderung derselben. Und das hilft den Kindern und der Lehrkraft. Das ist allerdings weitgehend eine Begleitung der Arbeit der Lehrkräfte und kein Ersatz. Was Lehrkräfte richtig gut können, ist ein Klassenunterricht, in dem man 20 bis 30 ganz junge Menschen in eine Richtung lenkt. Eine hoch anspruchsvolle Aufgabe, die sie so gut wie niemand anderes machen. Aber Diagnostik und individuelle Förderung sind eine große Schwäche. Jetzt kann man sagen, dann müssen wir das ändern, die Lehrkräfte fortbilden und so weiter. Man kann aber auch sagen, hier liegt in den digitalen Mitteln ein riesengroßes Potenzial. Es geht also darum, wie man digitale und analoge Formen des Lernens in der Schule ineinander verschränkt, auch und insbesondere damit für soziale und kommunikative Prozesse, die nicht digitalisiert werden können, mehr Raum bleibt. Selbst bei einem Fach wie Mathe muss man sich unterhalten, diskutieren und reflektieren – die meisten Menschen eignen sich erst über Kommunikation und Emotion Inhalte oder Fähigkeiten an. In den vergangenen Monaten wurde vieles an der Schule und an den Lehrkräften kritisiert. Sind die Erwartungen an Lehrende zu hoch? Ja, sie sind viel zu hoch. Im Augenblick erwarten wir von den Lehrkräften, dass sie für alles Experten sind. Für Gewaltprävention, für Rassismus, für Antisemitismus, für religiösen Fundamentalismus, für digitales Mobbing – egal, was gerade aktuell gesellschaftlich passiert, das sollen Lehrkräfte dann auffangen, und das in einem auf Kante genähten Schulsystem. Das funktioniert nicht. Internationale Studien zeigen, dass es kaum ein anderes Schulsystem gibt, das so stark wie das deutsche von Lehrkräften als professionellen Akteuren geprägt ist. Deswegen wäre mein Hauptansatzpunkt, die Lehrkräfte in Ruhe zu lassen, aber nicht die Schulen. Nach dem quantitativen Ausbau des Ganztags sollten wir ihn stattdessen auch qualitativ mit multiprofessionellen Teams verbessern. Aus wem sollten diese Teams bestehen? Das sollte je nach Ort, Schulmilieu und Stadtteil relativ flexibel gehandhabt werden. Auf jeden Fall geht es um Soziale Arbeit und Psychologie, aber auch Handwerk, Sport, Kunst und Kultur müssen dabei sein und im Prinzip alles, was für Kindheiten und zum Ausgleich von ungleichen Lebenschancen wichtig ist. Dazu gehört für mich auch, dass Kinder in der Schule ein Musikinstrument erlernen und ästhetische Erfahrungen in umfassender Weise machen, aber eben auch, dass es um Gesundheit geht. Zum Beispiel, indem man systematisch mit medizinischem Personal kooperiert. Diese Fachkräfte könnten zum Beispiel die Vorsorgeuntersuchungen, die U-Untersuchungen, übernehmen, damit es nicht mehr von den Eltern abhängt, ob sie gemacht werden oder nicht. Das alles kostet gar nicht so viel Geld, denn das meiste Personal ist schon da. So geht etwa der vielfältigen Vereinslandschaft und den Musikschulen in Deutschland der Nachwuchs aus, weil die Kinder mittelmäßig betreut in Ganztagsschulen sitzen. Hier geht es in erster Linie um Umorganisation. Erst in zweiter Linie auch um Geld. Was wünschen Sie sich von der Bildungspolitik für das Schuljahr 2020/21? Beim letzten Shutdown wurden die Schulen als erstes geschlossen, beim nächsten sollten die Schulen als letztes schließen. Ich wünsche mir, dass man verschiedene Szenarien zur Entwicklung von Corona durchspielt, und in jedem Szenario ist das Mindestziel, dass jedes Kind jeden Tag mehrere Stunden zur Schule geht. Wichtig ist auch, dass man sich um Berufsschülerinnen und Berufsschüler kümmert, die dadurch, dass ihre Ausbildungsbetriebe sowie zukünftige mögliche Arbeitgeber von Insolvenz bedroht sind, sowohl von der Bildungskrise als auch von der Wirtschaftskrise unmittelbar betroffen sind. Außerdem wünsche ich mir, dass kein Aktionismus im Hinblick auf die Digitalisierung stattfindet. Denn es ist überhaupt nicht trivial, digitale Medien einzusetzen, mit denen erstens die Kinder wirklich gut oder sogar noch besser lernen, die zweitens von den Lehrkräften akzeptiert, genutzt und gut eingebaut werden und die drittens den gesamten (regionalen) Kontext berücksichtigen, etwa die Internetversorgung vor Ort. Das muss unbedingt in Kooperation mit den Schulen und den Lehrerverbänden stattfinden und wissenschaftlich evaluiert werden. Wir hatten historisch gesehen selten die Situation, dass das, was armen Kindern helfen würde, eigentlich von allen Akteuren in der Mehrheit befürwortet wird. Denn richtig gute Ganztagsschulen wären gut im Hinblick auf die Entlastung von Lehrkräften, für die Arbeitsmarkt- und Karrierechancen von Müttern und Vätern, für den Erhalt der deutschen Vereinslandschaft und des Kunst- und Kulturbereichs und vieles mehr. Deshalb sollten Schulen umfassend erweitert werden. Das Interview wurde in leicht längerer Fassung zuerst auf Interner Link: www.bpb.de/coronavirus veröffentlicht. Das Interview führte Lea Schrenk am 2. Juli 2020.
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, Aladin El-Mafaalani
"2022-02-09T00:00:00"
"2020-08-20T00:00:00"
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https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/314349/lasst-die-lehrkraefte-in-ruhe-aber-nicht-die-schulen/
Mitte März 2020 wurden deutschlandweit die Schulen geschlossen. Präsenzunterricht soll erst im Schuljahr 2020/21 wieder zur Regel werden. Wer ist im Bildungsbereich von der Corona-Pandemie am stärksten betroffen, und wie lässt sich Ungleichheiten ent
[ "Grundgesetz", "Corona-Krise", "Seuchen", "COVID-19", "Pandemie", "Freiheitsrechte", "Sicherheit", "Föderalismus", "Infektionsschutzgesetz", "Gesellschaft", "Demokratie", "Bildung", "Schule" ]
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Dokumentation: In schwierigen Zeiten den transatlantischen Moment nutzen – unsere gemeinsame Verantwortung in einem neuen globalen Umfeld. Rede von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock an der New School, New York, 2. August 2022 | bpb.de
Es freut mich sehr, hier an der New School zu sein. Seit ihrer Gründung hat sich die New School in herausragender Weise dafür eingesetzt, amerikanische, europäische und besonders deutsche Intellektuelle, Akademikerinnen und Akademiker zusammenzubringen. In den 1930er-Jahren, als die Nazis die freie Wissenschaft in Europa auslöschen wollten, fanden verfolgte Gelehrte hier an der New School Zuflucht – an der University in Exile. Und heute wie damals ist die New School eine herausragende Institution in ihrem freien und kritischen Denken, in der Art und Weise, wie ihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Studierenden die großen Fragen unserer Zeit angehen: fächerübergreifend und gedankliche Grenzen überwindend. Meiner Ansicht nach tun Sie genau das, was Hannah Arendt – die, wie Sie ja alle wissen, auch an dieser Universität gelehrt hat – meinte, als sie vom "Denken ohne Geländer" sprach. Damit beschrieb sie einen Ansatz, bei dem wir mutig genug sind, Vorurteile und vorgefasste Meinungen abzulegen und uns neuen Vorstellungen zu öffnen. Ich sage Ihnen ganz offen: Dieser Ansatz ist nicht unbedingt Bestandteil der DNA von Politikerinnen und Politikern. Aber das, wofür die New School steht, brauchen wir in dieser Zeit, in der wir enormen globalen Herausforderungen gegenüberstehen. Wir müssen frische Ideen entwickeln. Wir müssen bereit sein, die Welt auch aus dem Blickwinkel von Menschen zu sehen, die unsere Meinung nicht teilen. Es ist noch kein Jahr her, dass ich deutsche Außenministerin wurde. Als ich dieses Amt übernahm, wusste ich natürlich, dass schwierige Zeiten vor uns lagen. Aber ich habe nicht erwartet, dass in meinen ersten Monaten im Amt eine neue geopolitische Realität auf dem europäischen Kontinent geschaffen würde. Der 24. Februar hat unsere Welt verändert, er hat Europa verändert. Er markiert den Zeitpunkt, an dem Russland seinen erbarmungslosen Krieg gegen die Ukraine begonnen hat. Einen Krieg, der das Ziel verfolgt, ein unabhängiges Nachbarland auszulöschen und dessen Identität zu unterdrücken. Präsident Putin hat das als Befreiungskrieg bezeichnet, aber Russlands Panzer und Raketen bringen keinen Frieden und keine Freiheit, sondern Tod und Zerstörung über Städte, Häuser und Geburtskliniken in der Ukraine. Russlands Krieg bricht auch mit der europäischen Friedensordnung, die wir nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aufgebaut haben; er verhöhnt das Völkerrecht und die Charta der Vereinten Nationen. Präsident Putin möchte eine Welt, in der das Recht des Stärkeren gilt, nicht die Stärke des Rechts, eine Welt, in der Großmächte sich nach Belieben kleinere Staaten einfach einverleiben können. Wir alle dachten, dass der Krieg nie auf den europäischen Kontinent zurückkehren würde – das galt besonders für meine Generation. Ich bin 40 Jahre alt, wurde in Westdeutschland geboren und habe glücklicherweise nie Krieg oder Diktatur erlebt. Aber wir haben die brutale Realität gesehen, als wir Mitte März beim Treffen der NATO-Außenministerinnen und -minister versammelt waren: Wir alle saßen in einem Saal, während unser ukrainischer Kollege Dmytro Kuleba auf dem Bildschirm zugeschaltet war und erklärte, wie furchtbar die Lage in der Ukraine ist. Zwischendurch zeigte er Bilder. Bilder von zerstörten Städten, Häusern und Existenzen. Auf einem Bild war ein Vater zu sehen, der über den Leichnam seines toten Kindes gebeugt weinte. Und ich glaube, in diesem Moment, dort in dem Saal im NATO-Gebäude, dachte niemand theoretisch über Außenpolitik oder die Verteidigungsfähigkeit der NATO nach. Alle dachten nur: Was, wenn ich das wäre, ein Vater oder eine Mutter, die das eigene tote Kind beweint? Das hat uns deutlich gemacht: Das könnten wir sein. Präsident Putin greift die europäische Friedensordnung, die internationale Ordnung nicht theoretisch an – sein Angriff ist brutale Realität. Kiew ist nur zwei, drei Flugstunden von meiner Heimatstadt entfernt. Ich wohne in Potsdam, einer Stadt vor den Toren Berlins. So wie Butscha vor den Toren Kiews liegt. Das habe ich begriffen, als ich in Butscha und Irpin war: Das könnten wir sein. Es ist so wichtig im digitalen Zeitalter, im Zeitalter der sozialen Medien, in dem man manchmal nicht zwischen Wirklichkeit und virtueller Realität unterscheiden kann, dass man versteht: Das ist die Brutalität, die das Leben aller Menschen in der Ukraine prägt. Deshalb haben wir unmissverständlich deutlich gemacht, dass wir solidarisch zusammenstehen – nicht nur mit der Ukraine, sondern auch im Rahmen dieser internationalen Friedensordnung, von der meine Generation dachte, sie sei einfach selbstverständlich. Aber wir sehen jetzt, dass sie nicht selbstverständlich ist. Wir müssen jeden Tag für Frieden, Freiheit und Sicherheit kämpfen. Und mir ist wichtig, dass wir es auch den demokratischen Kräften in Russland schuldig sind, diesen Kampf für Freiheit, Sicherheit und auch Demokratie zu führen. Denn der russische Präsident verändert und bedroht auch die Demokratie in seinem eigenen Land. Schon zuvor hat der Kreml unsere offenen Gesellschaften mit hybriden Angriffen ins Visier genommen. Nach dem 24. Februar gibt es kaum noch Spuren von Demokratie in Russland selbst: Russische Aktivistinnen und Aktivisten, die nach dem 24. Februar auf die Straße gingen und demonstrierten – und es waren viele Menschen auf den Straßen –, kamen ins Gefängnis. Journalistinnen und Journalisten wurden unterdrückt und Oppositionelle eingesperrt. Junge Menschen und Unternehmerinnen und Unternehmer verlassen das Land. Denn es ist kein freies Land mehr. Diese neue Realität markiert eine Zäsur. Aber ich glaube auch – und das ist heute mein Thema –, dass sie noch etwas anderes markiert: nämlich einen wirklichen transatlantischen Moment! In den vergangenen Monaten haben Deutschland, Europa und die Vereinigten Staaten entschlossen beieinandergestanden – vielleicht so eng wie noch nie seit Ende des Kalten Krieges. Bei der Unterstützung unserer ukrainischen Partner, bei der Verhängung von Sanktionen gegen Russland und bei der entschiedenen Reaktion im Rahmen der NATO haben wir entschlossen gehandelt. Es ist gut, dass Ihr Land seiner Verantwortung für die internationale regelbasierte Ordnung gerecht wird. Und ich möchte hinzufügen: Ich glaube, auch in unseren Gesellschaften hat sich in den vergangenen Monaten vielleicht etwas geändert: In Deutschland erkenne ich bei unseren Bürgerinnen und Bürgern eine echte wiedererstarkte Anerkennung der transatlantischen Partnerschaft. Und ich habe gehört, dass auch hier in den Vereinigten Staaten vielen wieder bewusst geworden ist: "Europe matters"! Schlüsselmomente in unserer transatlantischen Partnerschaft haben wir schon früher erlebt. Die Westintegration der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Marshallplan dazu beigetragen hat, nach dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte das zerstörte Deutschland wiederaufzubauen. Das Ende des Kalten Krieges, als dank unseren amerikanischen und europäischen Partnern mein Land in einem vereinten Europa wiedervereinigt wurde. In diesen Momenten haben Amerikaner, Europäer und Deutsche geopolitische Umbrüche bewältigt, indem sie transatlantisch zusammengestanden haben. Heute, wo unsere Sicherheit und unsere Freiheit in einem Ausmaß bedroht werden, wie wir es seit Jahrzehnten nicht erlebt haben, ist ein transatlantischer Schulterschluss wieder die Aufgabe, die vor uns liegt. Wir müssen diesen transatlantischen Moment nutzen. Und zwar um eine stärkere, unwiderrufliche transatlantische Partnerschaft für das 21. Jahrhundert aufzubauen. Im Jahr 1989 machte der US-amerikanische Präsident George Bush Deutschland das berühmte Angebot einer "partnership in leadership", also einer gemeinsamen Führungspartnerschaft. Damals wurde das noch nicht umgesetzt: Der Gedanke war zu weitgehend für die damalige Situation. In den frühen Neunzigerjahren war mein Land sehr damit beschäftigt, die Wiedervereinigung für alle seine Bürgerinnen und Bürger zu verwirklichen. Wir arbeiteten daran, das wiedervereinigte Deutschland in der EU zu verankern. Heute aber, in der Welt einer neuen Ära, hat sich das grundlegend geändert. Wir sehen klar: Jetzt ist der Moment da, in dem wir sie schaffen müssen: eine gemeinsame Führungspartnerschaft. Nicht nur wir als Deutsche und Amerikaner – wie wir vor dreißig Jahren dachten. Sondern wir als Europäer und Amerikaner. Und es obliegt meinem Land innerhalb der Europäischen Union, das maßgeblich mit voranzubringen. Natürlich ist eine solche Führungspartnerschaft kein romantisches Projekt, um gute alte transatlantische Zeiten zurückzuholen. Ich bin im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen; an den Kalten Krieg kann ich mich nicht wirklich erinnern. Viele 18- oder 25-jährige Deutsche kennen die Worte "Ich bin ein Berliner" von Präsident Kennedy und "Tear down this wall – Reißen Sie diese Mauer nieder" von Präsident Reagan nur aus dem Geschichtsbuch – sie haben ihr persönliches Amerikabild nicht geprägt. Vielleicht gilt das heutzutage auch für beide Seiten des Atlantiks. Es gilt für viele Menschen, nicht nur die Studierenden an dieser Hochschule, sondern auch für diejenigen, die heute in den Vereinigten Staaten leben und deren Wurzeln oftmals in anderen Teilen der Welt liegen – in Lateinamerika, Asien, Afrika, dem Nahen Osten – und nicht in Europa. Aber so sehr sich Europäer und Amerikaner in ihren persönlichen Lebensgeschichten, in ihrer individuellen Herkunft auch unterscheiden mögen: Wir teilen gemeinsame Werte, wie wir gegenwärtig leben und wie wir künftig leben wollen. Freiheit und Demokratie sind bestimmend für uns. Das sind nur Worte, aber heute können wir sehen, was sie tatsächlich bedeuten: Jeder 8-Jährige, jede 29-Jährige und jede 79-Jährige kann frei entscheiden, was sie essen, wen sie lieben, was sie denken, worüber sie reden wollen und wovon sie träumen. Freiheit und Demokratie prägen unser ganz alltägliches Leben. Wir sind überzeugt, dass die "Würde des Menschen […] unantastbar" ist. Wir sind überzeugt, dass jeder Mensch das Recht auf "Leben, Freiheit und das Streben nach Glück" besitzt. Russlands brutaler Krieg hat deutlich gemacht: Es ist keine Theorie, es ist Realität: Diese Werte stehen unter Beschuss. Freiheit, Demokratie und Menschenrechte stehen unter Beschuss. Deshalb müssen wir standhaft sein. Und darum geht es bei unserer Führungspartnerschaft. Drei Säulen sind entscheidend für diese Partnerschaft. Erstens: Sicherheit. Nach 1989 war Sicherheit lange Zeit kein Thema für viele Menschen in Europa und insbesondere Deutschland – nach dem Ende des Kalten Krieges wähnte sich mein Land endlich "nur noch von Freunden umzingelt". Aber dieser Haltung hat sich definitiv geändert. Nun werden Eltern beim Frühstück von ihren Kindern gefragt: Mama, was sind eigentlich Atomwaffen? Andere wiederum sagen: Ich mag die NATO wirklich. Mitte der Achtzigerjahre, als ich geboren wurde, gingen Millionen von Deutschen, die nun die Großeltern dieser Kinder sind, auf die Straße, um gegen Aufrüstung zu demonstrieren. Jetzt sitzen diese Großeltern, Mütter, Väter und ihre Kinder am Küchentisch und diskutieren über Aufrüstung, oder sie gehen für die Freiheit der Ukraine auf die Straße. Dasselbe gilt auch für andere europäische Länder: Schweden und Finnland geben eine lange Tradition der Neutralität auf, um der NATO beizutreten. In Berlin hat Russlands Krieg uns in der neuen Bundesregierung dazu veranlasst, einige lang gehegte Positionen in der Sicherheitspolitik auf den Prüfstand zu stellen – und in vielen Bereichen grundlegend umzusteuern. Für uns bedeutet Denken ohne Geländer: Deutschland hat ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro aufgelegt, mit dem wir unsere Bundeswehr stärken wollen. Wir haben seit Jahrzehnten bestehende Grundsätze bei Rüstungsexporten revidiert, sodass Deutschland mittlerweile zu den stärksten militärischen und finanziellen Unterstützern der Ukraine zählt. Und wir haben unseren Beitrag zur NATO ausgeweitet: Deutschland hat die Führung des NATO-Gefechtsverbands in Litauen übernommen und stellt eine Brigade mit bis zu 800 Soldatinnen und Soldaten bereit, die bei Bedarf dorthin verlegt werden können. Wir beteiligen uns mit unseren Kampfflugzeugen an der Sicherung des Luftraums über den Baltischen Staaten – und am Schutz der Slowakei mit Patriot-Luftabwehrsystemen. Aber wir wissen auch, dass das noch nicht ausreicht. Unser Ziel ist es, den europäischen Pfeiler der NATO weiter zu stärken. "Europe matters" – Europa hat Gewicht, auch sicherheitspolitisch – das haben wir nach dem 24. Februar erlebt. Soll diese These aber Bestand haben, müssen wir sie auch unter Beweis stellen, und zwar auf lange Sicht. Das bedeutet, dass wir die Europäische Union strategischer ausrichten müssen – als eine Union, die fähig ist, auf Augenhöhe mit den Vereinigen Staaten umzugehen: in einer Führungspartnerschaft. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union geben jedes Jahr viele Milliarden für ihr Militär aus – aber wir bekommen nicht genug für unser Geld. Denn wir Europäer nutzen beispielsweise mehr als ein Dutzend Panzermodelle. Die EU muss ein stärkerer sicherheitspolitischer Akteur werden, ihre Rüstungsindustrien müssen stärker miteinander verbunden werden, und sie muss in der Lage sein, militärische Missionen durchzuführen, um Regionen in ihrer Nachbarschaft zu stabilisieren. Mit der Europäischen Friedensfazilität, die viele Milliarden Euro mobilisiert hat, um den Abwehrkampf der Ukraine mit Waffen zu unterstützen, haben wir bewiesen, dass die EU, wenn es wirklich nötig ist, entschlossen handeln kann. Aber Sicherheit im 21. Jahrhundert umfasst mehr als nur Kampfflugzeuge und Panzer. In Deutschlands erster Nationaler Sicherheitsstrategie, die wir derzeit im Auswärtigen Amt ausarbeiten, verfolgen wir einen neuen, umfassenden Ansatz zu Sicherheit. Wir berücksichtigen dabei auch Desinformation in unseren sozialen Medien, die Lieferketten unserer Unternehmen und die Art und Weise, wie die Klimakrise Konflikte in unserer europäischen Nachbarschaft verschärft. Und ich weiß, dass viele unserer europäischen Partner und die Vereinigten Staaten genau dasselbe tun. Lassen Sie uns also unsere Zusammenarbeit bei der Entwicklung und Regulierung kritischer Technologien vertiefen – ebenso wie unsere gemeinsamen Bemühungen, unsere wirtschaftlichen Abhängigkeiten zu verringern. Der im letzten Jahr eingerichtete Handels- und Technologierat von EU und USA hat unseren Dialog über KI, 6G oder Quantencomputer bereits sehr bereichert. In Reaktion auf Russlands Krieg haben wir unsere Exportkontrollen weiter aufeinander abgestimmt. Und gemeinsam erkennen wir deutlich: Es entspricht sowohl unseren Interessen als auch unseren Werten, wenn unsere Unternehmen auf unseren Märkten nicht mit Produkten konkurrieren, die mit Zwangsarbeit hergestellt werden. In Deutschland haben wir die lang gehegte deutsche Überzeugung vom "Wandel durch Handel" aufgegeben – den Glauben also, dass sich autokratische Regime durch Warenaustausch und wirtschaftliche Partnerschaften in Richtung Demokratie bewegen lassen. Deshalb beenden wir unsere Abhängigkeit von russischem Gas und Öl. Das ist schwierig, und es wird teuer. Aber es ist mehr als nötig. Und innerhalb einiger weniger Monate haben wir den Anteil der Gasimporte aus Russland bereits von 55% auf 26% gesenkt. Heute ist entscheidend, dass wir Sicherheit umfassend verstehen. All diese Investitionen in unsere Sicherheit dienen einem zentralen Ziel – und das bringt mich zur zweiten Säule der künftigen transatlantischen Führungspartnerschaft: Die Verteidigung unserer regelbasierten internationalen Ordnung. Eines möchte ich dabei vorausschicken: Diese Ordnung ist keine Ordnung des Westens. Es ist eine Ordnung, die es allen Staaten ermöglicht, zusammenzuarbeiten, ihren Wohlstand zu mehren, friedlich zu koexistieren – und in der kein Staat fürchten muss, dass sein stärkerer Nachbar ihn überfällt. Es ist die Ordnung, für die die 141 Staaten eintreten, die mit uns im März in der UN‑Generalversammlung Russlands Krieg in der Ukraine verurteilt haben. Und es ist die Ordnung, für die alle Staaten eintreten, die davon überzeugt sind, dass wir globale Herausforderungen wie die Pandemie, die nukleare Nichtverbreitung oder die Klimakrise gemeinsam bewältigen müssen. Wenn man aber aus Europa oder Amerika kommt, ist es nicht genug, nur darauf zu bestehen, dass diese Ordnung verteidigt wird. Wir müssen auch in die internationale Friedensordnung investieren – so, wie wir es in der G7-Partnerschaft für globale Infrastruktur tun, mit der die EU und die Vereinigten Staaten gemeinsam mehr als 500 Milliarden US-Dollar mobilisieren, um dringenden Infrastrukturbedürfnissen in Ländern des Globalen Südens nachzukommen. Aber hierbei müssen wir uns noch besser abstimmen. Dabei geht es nicht ums schnelle Deals, sondern es geht um Investitionen in eine gemeinsame Zukunft. Und wir sollten auch besser kommunizieren, dass es die Vereinigten Staaten und Europa sind, die nach wie vor die größten Beiträge im humanitären Bereich und bei der Entwicklungszusammenarbeit auf globaler Ebene leisten. Im vergangenen Jahr haben die EU und ihre Mitgliedstaaten 70 Milliarden Euro in die Entwicklungszusammenarbeit investiert. Gleichzeitig müssen wir es offen und klar aussprechen: Wir müssen Partnern ernsthaft zuhören – anstatt ihnen Vorträge zu halten. Das heißt auch, dass wir uns unserer Vergangenheit stellen, etwa dem Kolonialismus. Und wir müssen anerkennen, dass wir bei früheren Gelegenheiten nicht immer das Richtige getan haben. Wenn ich in den vergangenen Monaten mit Kolleginnen und Kollegen aus Afrika, Asien oder Lateinamerika über den russischen Krieg gesprochen habe, dann habe ich oft gehört: Ich verstehe, ihr erwartet also, dass wir euch in dieser Krise in eurer Nachbarschaft unterstützen? Aber wo wart ihr, als wir euch brauchten? Und auf diese Frage kann manche und mancher von uns nicht immer eine Antwort geben. Ich habe kürzlich den Inselstaat Palau besucht, der uns in den Vereinten Nationen unterstützt, wenn es um die Verurteilung der russischen Invasion geht. Als ich aber am wunderschönen Strand von Palau stand, war dort der Krieg in der Ukraine nicht die größte Sorge. Ich stand dort mit einem Fischer vor seinem Haus. Und als ich näher trat, dachte ich: Wir reden davon, dass diese Häuser durch den steigenden Meeresspiegel innerhalb der nächsten zwanzig oder dreißig Jahre gefährdet sein werden. Vor Ort aber konnte ich mit eigenen Augen sehen, dass es nicht um zwanzig oder dreißig, sondern nur um zehn Jahre geht. Für viele, viele Länder ist die Klimakrise die größte Bedrohung ihrer Sicherheit. Deshalb müssen wir diese Bedrohung, die Klimakrise, auf der internationalen Agenda ganz nach oben setzen. Als starke Industrienationen, die eine wichtige Verantwortung für den Klimanotstand tragen, müssen wir hier Führungsstärke beweisen. Indem wir uns für ehrgeizigere Anstrengungen für den Klimaschutz einsetzen. Aber auch, indem wir deutlich machen, dass sich manche Länder nicht mehr an die Klimakrise werden anpassen können. Sie leiden bereits jetzt unter Verlusten und Schäden durch Klimaveränderungen. Deshalb ist es in diesen Zeiten und insbesondere im Vorfeld der anstehenden COP27 im November so wichtig, alles dafür zu tun, zurück zur Einhaltung des 1,5-Grad-Zieles zu kommen und klarzustellen: Wir werden unsere 100-Milliarden-Dollar-Zusage zur Klimafinanzierung einhalten. Das ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit und der globalen Verantwortung. Wir können die Klimakrise nur mit allen Staaten auf diesem Planeten bekämpfen. Hierfür brauchen wir China, einen der größten Treibhausgasemittenten, auch wenn es in anderen Bereichen unser Wettbewerber und systemischer Rivale ist. Wir können die Klimakrise nur gemeinsam bekämpfen. Die regelbasierte internationale Ordnung lebt von Zusammenarbeit – und genau deshalb müssen wir es sehr ernst nehmen, wenn diese Ordnung – in Europa und darüber hinaus – infrage gestellt wird. Allerdings teilen wir amerikanische Besorgnisse. Wir haben in den vergangenen Monaten seit dem 24. Februar schmerzvoll gelernt, dass aus aggressiver Rhetorik schnell gefährliches Handeln werden kann. Chinas Äußerungen zu Taiwan werfen ernste Fragen auf. Es kann nicht in unserem Interesse liegen, wenn China in seiner Region übermäßige wirtschaftliche Abhängigkeiten schafft. Wir sehen uns das derzeit an und wir erarbeiten zum ersten Mal in meinem Ministerium eine eigene Chinastrategie, die nächstes Jahr veröffentlicht wird und die strategischen Überlegungen hier in den Vereinigten Staaten umfassend berücksichtigt. Meiner Auffassung nach sollte ein Ziel dieser Strategie sein, die transatlantischen Positionen zu den Herausforderungen, die China für unsere regelbasierte internationale Ordnung darstellt, weiter aufeinander abzustimmen. Aber wir werden diese Herausforderungen nur dann bestehen, wenn wir selbst zu Hause stark sind. Und damit komme ich zum dritten Pfeiler der transatlantischen Führungspartnerschaft. Die Stärkung unserer Demokratien und ihrer Resilienz. Europa und die Vereinigten Staaten sind so wichtig füreinander, dass sie nicht unberührt lassen kann, wie sich der jeweils andere innenpolitisch entwickelt. Das ist keine Einmischung, sondern Sorge um Freunde. Wir beobachten, dass wir innenpolitisch vor ähnlichen Herausforderungen stehen – Problemen, wie sie auch hier bei Ihnen an der New School die Diskussion prägen: Ungleichheit, Mangel an sozialer Gerechtigkeit, Rassismus, Populismus, politische Polarisierung, geschwächte demokratische Institutionen. Und natürlich sind uns die Bilder vom 6. Januar 2021 noch frisch im Gedächtnis. Auch in Europa wird die Demokratie herausgefordert: Mancherorts werden LGBTI-Rechte, die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit von Journalistinnen und Journalisten infrage gestellt. Und in meinem Land hat eine rechtspopulistische Partei in manchen Regionen 20 Prozent Wählerzuspruch. Als Freunde sollten wir diese Herausforderungen gemeinsam und offen ansprechen. Nicht um den alten Slogan von der transatlantischen Wertegemeinschaft zu wiederholen. Sondern weil letzten Endes unsere Sicherheit davon abhängt. Was uns vereint, sind unsere demokratischen Systeme, auch wenn wir manche Werte auf unterschiedliche Art leben. Das gilt sicherlich für die Abtreibungsdebatte, die hier in den Vereinigten Staaten besonders leidenschaftlich geführt wird, wo Hunderttausende Frauen und Männer für die Frauenrechte auf die Straßen gehen. Als Frau und als Mutter zweier Töchter teile ich die Gefühle dieser Menschen von ganzem Herzen: Jede Frau hat das Recht, selbst über ihren Körper zu bestimmen. Diese Debatte zeigt auch: Demokratien sind kompliziert. Es ist viel leichter, einfach auf den Tisch zu hauen und zu sagen: "Ich bin hier der starke Mann und alles hört auf mein Kommando." Demokratie ist schwieriger. Demokratie ist kompliziert. Denn sie ermöglicht Offenheit, sie schätzt die Debatte, das Denken ohne Geländer und den Streit. Das macht sie angreifbar – von innen wie von außen. Und deshalb glaube ich, dass die Menschen in Amerika wie auch in Europa vor einer zweifachen Aufgabe stehen: Wir müssen in unseren Gesellschaften Möglichkeiten für kreative Auseinandersetzungen schaffen, damit unsere Demokratien sich entwickeln, voranschreiten und sich modernisieren können. Demokratische Entwicklung hört nie auf, sie geht immer weiter. Weil sie nie vollkommen sind, müssen sich Demokratien stets neuen Entwicklungen stellen. Anderenfalls drohen ihnen Stillstand und Untergang. Aber wir müssen auch sicherstellen, dass unsere Demokratien vor Versuchen geschützt werden, das zu zerstören, was ihren Wesenskern ausmacht, nämlich die Werte und Institutionen, ohne die sie nicht lebensfähig sind. Wir sollten einander dabei unterstützen, diese zweifache Aufgabe zu erfüllen – weil wir enge Freunde sind und weil es in unserem Interesse ist. Ich freue mich, dass wir ein neues Forum für die Weiterentwicklung dieser Debatte auf den Weg bringen: Das deutsch-amerikanische Zukunftsforum wird erstmalig im November in Deutschland tagen. Wir bringen junge Fachleute sowie Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger aus unseren beiden Ländern zusammen, um neue Ideen für unsere Gesellschaften und die transatlantische Partnerschaft zu entwickeln, kurz gesagt: für ein "Denken ohne Geländer". Meine Damen und Herren, der 24. Februar hat uns viele brutale Lektionen erteilt. Wir leben nun in einer Welt, in der wir auf alles vorbereitet sein müssen. In solchen Zeiten können wir uns von den Gründerinnen und Gründern der New School, von denjenigen, die die University in Exile geschaffen haben, inspirieren lassen. In einer Zeit des Zweifels und großer Probleme haben sie das Banner des freien Denkens und der Demokratie hochgehalten. Sie haben nicht aufgegeben – sie haben nach vorn geschaut und traten für eine bessere Welt ein. Wenn wir nur einen kleinen Teil ihres Mutes und ihrer Zuversicht aufbringen können, dann haben wir alles, was wir brauchen, um diesen transatlantischen Moment zu nutzen. Und die transatlantische Partnerschaft für das 21. Jahrhundert aufzubauen – eine gemeinsame Führungspartnerschaft Europas und der Vereinigten Staaten. Ich denke, die New School ist der beste Ort, um sich daran zu erinnern, dass alles möglich ist – wenn wir bereit sind, uns der Herausforderung zu stellen. Ich danke Ihnen. Quelle: Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland. Externer Link: https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/baerbock-den-transatlantischen-moment-nutzen/2545656 (abgerufen am 15.09.2022).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-10-17T00:00:00"
"2022-10-07T00:00:00"
"2022-10-17T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/polen-analysen/nr-299/514070/dokumentation-in-schwierigen-zeiten-den-transatlantischen-moment-nutzen-unsere-gemeinsame-verantwortung-in-einem-neuen-globalen-umfeld-rede-von-bundesaussenministerin-annalena-baerbock-an-der-new-school-new-york-2-august-2022/
Als Antwort auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wirbt Bundesaußenminister Annalena Baerbock für eine transatlantische Führungspartnerschaft zwischen der Europäischen Union und den USA, um die internationale Sicherheit sowie die Frieden
[ "Deutschland", "Deutschland", "Deutschland", "USA", "USA", "USA", "europäische Union", "Europäische Union", "Europäische Union", "Beziehungen zu den Staaten der ehemaligen Sowjetunion", "Beziehungen zu den USA", "Beziehungen zur EU", "Beziehungen zur NATO" ]
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Taxi Driver | Der Filmkanon | bpb.de
USA 1976 Drama Kinostart: 1976 (BRD) Verleih: / Regie: Martin Scorsese Drehbuch: Paul Schrader Darsteller/innen: Robert De Niro, Cybill Shepherd, Jodie Foster, Harvey Keitel, Leonard Harris, Pete Boyle u. a. Kamera: Michael Chapman Laufzeit: 113 Min Sprachfassung: dt. F. Format: 35mm, Farbe, Breitwand Festivals / Preise: Internationale Filmfestspiele Cannes 1976: Goldene Palme FBW: besonders wertvoll FSK: 16 Altersempfehlung: ab 16 J. Klassenstufen: ab 11. Klasse Themen: Einsamkeit, Entfremdung, Individuum (und Gesellschaft), Krieg/Kriegsfolgen, Trauma, Rebellion, USA Unterrichtsfächer: Deutsch, Englisch, Ethik/Religion, Kunst Seit seiner Rückkehr aus dem Vietnamkrieg kann Travis Bickle nicht mehr schlafen. Deshalb heuert er als Taxifahrer an und fährt bis in die frühen Morgenstunden durch New York, selbst in jene Bezirke, die unter seinen Kollegen verrufen sind. Doch von Tag zu Tag wächst seine Wut über die Stadt und die Menschen, die in dieser leben: Kleinkriminelle, Zuhälter, Gangster, Prostituierte – für ihn sind sie Abschaum, den endlich "ein großer Regen von der Straße waschen" müsste. Zunehmend reift in ihm der Entschluss, dass er selbst etwas dafür unternehmen muss. Als er die abgeklärte 12-jährige Prostituierte Iris trifft, ist für Travis die Zeit gekommen. Er beschafft sich Waffen und will sie aus den Händen ihres Zuhälters befreien. Geradezu schlafwandlerisch wirken die Aufnahmen des nächtlichen New York, wenn Bickles Taxi über dampfende Kanaldeckel fährt und die bunten Neonlichter der Rotlichtviertel auf den regennassen Straßen reflektiert werden. Wiederholt nimmt die Kamera den Blick von Bickle ein, der sich von den anderen Menschen entfremdet hat. Martin Scorsese entwirft das Bild einer Großstadt, die mehr einem Moloch als einem lebenswerten Raum gleicht. In den Schauplätzen des Films spiegelt sich zudem die Gefühlslage des Protagonisten, den nicht nur die Schlaflosigkeit plagt, sondern vor allem auch die Einsamkeit. Auf der Tonebene unterstreicht der Jazz-Score von Bernard Herrmann die widersprüchlichen Facetten von Bickle, indem durch Saxophon-Klänge auf Sehnsüchte verwiesen wird, durch Schlaginstrumente jedoch zugleich auch ein Gefühl der Bedrohung vermittelt wird: Bickle ist eine tickende Zeitbombe. Taxi Driver zeichnet ein präzises Bild der US-amerikanischen Gesellschaft Mitte der 1970er-Jahre, die noch vom Vietnamkrieg traumatisiert ist und der moralische Bezugspunkte scheinbar abhanden gekommen sind. Bickle wird damit zur unbequemen Identifikationsfigur, weil er die Verhältnisse verändern will – und doch die falschen Mittel wählt. So regt der Film auch zu Diskussionen über Moral oder die Ursachen von Gewalt und Radikalisierung. Weitere Ansatzpunkte bietet der religiöse Subtext, der sich durch die meisten Filme von Martin Scorsese zieht. Damit wird Taxi Driver auch zu einer Geschichte über Schuld und Vergebung – wobei gerade letztere in der Schlussszene das Publikum mit einem unguten Gefühl entlässt. Informationen und Materialien Interner Link: bpb.de: Dossier Filmkanon: Taxi Driver Mehr zum Thema auf kinofenster.de: Externer Link: Die Dämonen der Schlachten - Das Kriegstrauma als Thema des Kinos (Hintergrund vom 27.10.2008) Externer Link: Vietnam im Film (Kinofilmgeschichte vom 21.09.2006) Externer Link: Gangs of New York (Filmbesprechung vom 01.02.2003)
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Stefan Stiletto
"2021-12-20T00:00:00"
"2013-03-26T00:00:00"
"2021-12-20T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/filmkanon/157189/taxi-driver/
Was es zum Klassiker braucht: Die Geschichte des Taxifahrers, der zur Selbstjustiz greift, ist zu schmutzig fürs Museum und viel zu modern, um jemals aus der Mode kommen.
[ "Einsamkeit", "Entfremdung", "Individuum (und Gesellschaft)", "Krieg/Kriegsfolgen", "Trauma", "Rebellion", "USA", "Martin Scorsese", "Filmgeschichte", "Filmbildung" ]
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Current Developments and Future Challenges | Netherlands | bpb.de
The Netherlands have Interner Link: attracted migrants for centuries. Initially, they were encouraged to maintain their own cultures. Since the 1990s, however, there has been increasing pressure to assimilate into Dutch culture. Immigrants' rights have become increasingly conditional on successful integration. Migration for family purposes has been restricted over time. The electoral success of anti-immigrant parties since the turn of the millennium has fuelled this development. Following the policy path of the past 15 years in which the rights of immigrants have become increasingly conditional on successful Interner Link: integration, the government recently introduced a proposal to increase the residence requirement for Interner Link: naturalization from five to seven years. A vote is expected to take place in late 2014. While there have been debates about further raising the requirements for family migration, policy changes are unlikely because they will conflict with the EU Family Reunification Directive. Interner Link: Policy changes are not uniformly restrictive. The government is increasingly trying to attract highly skilled workers. In June 2013, the law on a Modern Migration Policy (wet Modern Migratiebeleid, MoMi) came into effect. The Netherlands is trying to improve its attractiveness to highly skilled migrants by streamlining visa application procedures and providing access to those with degrees from top universities. Debate on Immigration: A Turning Point? While the recession has replaced immigration as main public concern, emotional debates about immigrant integration are ongoing. Under the guise of freedom of expression, people present their views on "the problem with (Muslim) immigrants" in often disparaging terms. Immigrants and their descendants feel societal acceptance of migrants has decreased. Social contacts between immigrants and natives have decreased between 1994 and 2011 . It is unclear whether this is a product of the growing size of immigrant groups or of avoidance. There are some signs that the ferocity of the immigration debate has passed its peak. In March of 2014, Wilders suffered a public backlash at a post-municipal election event when he got his audience chanting "fewer, fewer" in response to his question whether they would like more or fewer Moroccans in the Netherlands. Several representatives left the party. It is too early to gauge the long-term effect on party support, but the response by a right-wing paper (de Telegraaf) suggests a turning point may have been reached. Furthermore, in the past few years the share of native Dutch who believe there are too many migrants in the Netherlands has decreased. Non-Western immigrant groups have made gains in educational and labor market achievement. Nevertheless Dutch residents of non-Western origin still underperform compared to Dutch natives, especially in the labor market. While exact reasons for this underperformance are unknown, discrimination is likely to be a contributing factor. Awareness of labor market discrimination is increasing. While the Netherlands has long had extensive anti-discrimination legislation, the government has done little to combat the more subtle forms of discrimination that occur in the labor market or in nightlife. Immigration from EU Member States The growing presence of migrants from the new-EU Member States has attracted a range of concerns. There are problems with the housing of migrants who do seasonal and low skilled labor. The workers often live in overcrowded accommodation and are being exploited by landlords and employers. Municipal governments are trying to combat overcrowding and rogue landlords. While the labor market participation of this group is very high, recent increases in benefit claims have caused alarm among politicians. There is very little evidence to suggest that welfare dependence is a (structural) problem among this group, but the experience with the guest worker communities has made politicians wary of problems in this area. There is a rise of crime suspects from Central and Eastern European countries; however this mainly concerns people who come to the Netherlands with the aim to commit criminal acts rather than labor migrants. Finally there are concerns that, like previous waves of migrants, long-term migrants will not learn Dutch. Because of the EU freedom of movement, the Dutch state cannot require these migrants to sit a civic Interner Link: integration exam. However in response to parliamentary questions the minister of the interior noted that in 2010 more than 4,000 Polish migrants voluntarily participated in civic integration programs. This text is part of the Interner Link: country profile Netherlands. Huijnk/Dagevos (2012). Huijnk/Dagevos (2012). "Opportunisten-kabinet bestraft", March 21 2014, editorial Huijnk/Dagevos (2012). Final report by the parliamentary enquiry "Lessons from recent labor migration" (Parlementair onderzoek Lessen uit recente artbeidsmigratie), TK 2011-2012, 32680 nr 4. TK 2011-2012, 257.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-21T00:00:00"
"2014-12-08T00:00:00"
"2022-01-21T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/english-version-country-profiles/197504/current-developments-and-future-challenges/
The Netherlands have attracted migrants for centuries. Initially, they were encouraged to maintain their own cultures. Since the 1990s, however, there has been increasing pressure to assimilate into Dutch culture. Immigrants' rights have become incre
[ "Netherlands", "Niederlande", "Migration", "Migrationsentwicklung", "Immigrationspolitik" ]
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M 01.06 Das leitfadengestützte Interview | Wie bin ich geworden, wer ich bin? - Seinen Weg finden nach Flucht, Vertreibung und Krisen | bpb.de
Eine Möglichkeit der Befragung, um ausführliche Informationen zu gewinnen, bietet das leitfadengestützte Interview. Du kannst dich direkt bei einem Betroffenen über ein bestimmtes Thema informieren. So kannst du das Wissen, die Ansichten sowie die Erlebnisse eines Interviewpartners in Erfahrung bringen und nachvollziehen. Ein wichtiges Merkmal eines leitfadengestützten Interviews ist seine Offenheit. Es werden daher Fragen gestellt, die den Interviewpartner zu Erzählungen auffordern. Damit ähnelt das Leitfadeninterview einem ganz normalen Gespräch, das du im Alltag z.B. mit Freunden führst. Der Interviewleitfaden: Grundlage des Interviews ist der sogenannte Leitfaden. Dieser besteht aus vorformulierten Fragen und dient dir als Orientierung für das Interview. Man bezeichnet ihn auch als „Gerüst“, denn er verleiht dem Interview eine Struktur. Dennoch ist es wichtig, flexibel mit dem Leitfaden umzugehen. Während des Interviews können Fragen gegebenenfalls ausgelassen, umformuliert oder ergänzt werden. Auch die Reihenfolge der Fragen kann verändert werden und Nachfragen können gestellt werden. Die Fragen des Leitfadens sind offen formuliert, so dass keine ja/nein Antworten möglich sind. Sie können auch als Erzählaufforderungen verfasst sein. Entscheidend ist, den Interviewpartner dazu anzuregen selbst zu berichten. Wenn, nach Rücksprache mit der Lehrperson, ein Interviewpartner gefunden wurde, ist es wichtig, dass ihr euch auf das Interview vorbereitet. Folgende Schritte sind dabei zu beachten: Die Erstellung des Leitfadens: Welche konkreten Fragen sollen gestellt werden? Wie können die Fragen/ Erzählaufforderungen konkret formuliert werden, damit der Interviewpartner zum Erzählen angeregt wird? Da der Leitfaden auf den Interviewpartner ausgerichtet ist, sollte für die Formulierung der Fragen eine angemessene Sprache verwendet werden. Die Fragen sollten in einer thematischen Reihenfolge angeordnet werden. Vorbereitung des Interviews: Wer stellt die Fragen? Um den Interviewpartner während der Befragung nicht zu überfordern, sollte nur eine geringe Anzahl von Schülerinnen und Schülern beim Interview anwesend sein. Hier sollten die erarbeiteten Fragen innerhalb derjenigen aufgeteilt werden, die das Interview durchführen. Um die Flexibilität während des Interviews zu gewährleisten, sollten die Interviewenden den Leitfaden gut kennen. Wo soll das Interview stattfinden? Das Interview sollte in einer ruhigen Umgebung stattfinden, so dass der Interviewpartner in Ruhe und frei erzählen kann. Wie kann eine gute Atmosphäre während des Interviews geschaffen werden? Wichtig ist z.B., dass sich die Interviewenden vor dem Interview kurz vorstellen und den Ablauf des Interviews erläutern. Damit der Interviewpartner euch persönlich ansprechen kann, gehört z.B. auch das Anfertigen von Namenskärtchen zur Vorbereitung. Wie werden die Ergebnisse des Interviews festgehalten? Die Aufgabe des Protokollführers wird unter den Schülerinnen und Schülern aufgeteilt, die nicht an der Fragestellung beteiligt sind. Zusätzlich sollte das Gespräch mit einem Aufnahmegerät (z.B. Diktiergerät, Handy etc.) aufgezeichnet werden, um es anschließend gründlich auswerten zu können. Hierfür müsst ihr die Zustimmung des Interviewpartners einholen und die Technik testen. Das Arbeitsmaterial ist hier als Interner Link: PDF-Dokument abrufbar.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-07-06T00:00:00"
"2016-03-29T00:00:00"
"2022-07-06T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/krise-und-sozialisation/223739/m-01-06-das-leitfadengestuetzte-interview/
Das Arbeitsblatt erläutert den Schülerinnen und Schüler, wie ein leitfadengestütztes Interview geführt wird und worauf sie dabei achten sollten.
[ "GrafStat Sozialisation Flucht Flüchtlinge Lebenslauf Biografie Unterricht", "Interview", "Arbeitsblatt", "GrafStat" ]
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Film und Fernsehen als Medien der gesellschaftlichen Vergegenwärtigung des Holocaust | Themen | bpb.de
Hinweis Dieser Text ist 2007 im Journal "Historical Social Research" erschienen und bietet eine systematische Analyse zum Begriff der Erinnerungskultur und zur bundesdeutschen Erstausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust als soziales Ereignis. Der Text spiegelt dabei die Perspektive und Sprache des wissenschaftlichen Diskurses der 2000er Jahre auf (den Begriff der) Erinnerungskultur wider. Untersuchungsgegenstand des Textes sind die Motive und Intentionen der beteiligten Akteure, der Wahrnehmungskontext, der Kontext der Ausstrahlung sowie die Rezeption der Holocaust-Serie. Im Fokus stehen dabei die damaligen Intentionen und Motive der verantwortlichen Akteure des Westdeutschen Rundfunks und der Bundeszentrale für politische Bildung, die die Serie den nationalen bundesdeutschen Bedeutungsrahmen anpassten und sie als Chance sahen, der jüdischen Opferperspektive auf den Holocaust in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik Gewicht zu verleihen. Dieser Text ist 2007 im Journal "Historical Social Research" erschienen und bietet eine systematische Analyse zum Begriff der Erinnerungskultur und zur bundesdeutschen Erstausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust als soziales Ereignis. Der Text spiegelt dabei die Perspektive und Sprache des wissenschaftlichen Diskurses der 2000er Jahre auf (den Begriff der) Erinnerungskultur wider. Untersuchungsgegenstand des Textes sind die Motive und Intentionen der beteiligten Akteure, der Wahrnehmungskontext, der Kontext der Ausstrahlung sowie die Rezeption der Holocaust-Serie. Im Fokus stehen dabei die damaligen Intentionen und Motive der verantwortlichen Akteure des Westdeutschen Rundfunks und der Bundeszentrale für politische Bildung, die die Serie den nationalen bundesdeutschen Bedeutungsrahmen anpassten und sie als Chance sahen, der jüdischen Opferperspektive auf den Holocaust in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik Gewicht zu verleihen. 1. Einleitung Interner Link: Erinnerungskultur kann als formaler Oberbegriff für alle vorstellbaren Formen der bewussten Vergegenwärtigung geschichtlicher Ereignisse verstanden werden. Innerhalb des Themenfeldes Erinnerungskultur ist der Begriff Interner Link: Gedächtnis zu einer Schnittstelle wissenschaftlichen, politisch-öffentlichen und kulturellen Interesses geworden. Im Rahmen der gesteigerten Aufmerksamkeit für gesellschaftliche Formen der Erinnerung – bzw. den sozialen Rahmen individueller Erinnerungen – gilt das Interesse dabei speziell den kulturellen Repräsentationen der Erinnerung, mit denen die Tradierung kollektiv geteilten Wissens über die Generationenfolge hinaus gewährleistet werden soll. Eine anhaltende Aufmerksamkeit erfährt insbesondere die Erinnerungskultur des Holocaust. Diese geht vornehmlich auf das absehbare Ende der Zeitzeugenschaft zurück, wodurch den Rekonstruktionen der historischen Ereignisse eine größere Bedeutung zukommen wird als bisher. Es wird eine verstärkte Prägung der Vergegenwärtigung von Nationalsozialismus und Holocaust durch die audiovisuellen Medien und deren Bilder konstatiert, die hauptsächlich durch das Fernsehen beschleunigt wird. Eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die Vermittlungsformen historischer Ereignisse innerhalb der Erinnerungskultur lässt dementsprechend auch die Erinnerungsangebote von Film und Fernsehen eine erhöhte Beachtung erfahren, zumal "für die Nachgeborenen der dritten Generation der Holocaust (…) längst zu einem Ereignis geworden [ist], das massenmedial vermittelt ist" (Köppen & Scherpe 1997, S. 1). DVD-Cover der Interner Link: Serie “Holocaust - Die Geschichte der Familie Weiss“. (© Polyband) Die US-amerikanische Fernsehserie Holocaust (1978) gilt als ein Interner Link: Wendepunkt in der Erinnerungskultur des Nationalsozialismus und seiner Gewaltverbrechen (Uhl 2003). Zum einen, weil sie erstmals die jüdischen Opfer in den Mittelpunkt einer filmischen Darstellung des Nationalsozialismus und seiner Gewaltverbrechen stellte, und zum anderen, weil dies in Holocaust erstmals anhand einer fiktionalen Familiengeschichte geschah. Deswegen löste Holocaust eine Diskussion um die grundsätzliche Darstellbarkeit von Geschichte und eine Kontroverse über die Trivialisierung des Holocaust durch Medienprodukte aus. Die fiktionale Darstellung der jüdischen Opferperspektive auf den Nationalsozialismus wurde weltweit verbreitet und ausgestrahlt und fand insgesamt ca. 500 Mio. Zuschauer (Thiele 2001, S. 318). Mit der weltweiten Ausstrahlung von Holocaust gelangten die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in den Fokus einer breiten öffentlichen Diskussion sowie verstärkt auch in den der Zeitgeschichtsforschung. In ihrer Folge wird eine zunehmend universale Erinnerungskultur konstatiert, in der die weltweite Rezeption von Holocaust als eine der prägendsten kollektiven Erfahrungen gewertet wird (Marchart et al. 2003). Durch ihre weltweite Ausstrahlung wurde die Fernsehserie zu einem Medienereignis zwischen globaler Erinnerungskultur und nationaler Vergangenheitsaneignung: Holocaust wurde außerhalb des nationalen bundesdeutschen Medienverbundes hergestellt und traf als externe Intervention in die bundesdeutsche Erinnerungskultur (Uhl 2003). Wie wurde in der Bundesrepublik mit dieser aus den USA stammenden Rekonstruktion der historischen Ereignisse umgegangen? Holocaust wird hier nicht als ein ästhetisches Objekt, sondern vielmehr werden die Serie und ihre bundesdeutsche Erstausstrahlung im Januar 1979 als ein soziales Ereignis betrachtet. Dabei stehen die Akteure, die an diesem beteiligt waren, im Fokus. Um die Fernsehserie und ihre Ausstrahlung als ein soziales Ereignis betrachten zu können, werden Ansätze zur Untersuchung kultureller Repräsentationen des Holocaust und zur sozialwissenschaftlichen Filmanalyse herangezogen. Diese Ansätze tragen der Relevanz der Kontexte und der beteiligten Akteure sowohl bei der Produktion von kulturellen Repräsentationen des Holocaust als auch bei deren Rezeption Rechnung. Demnach sind in der Untersuchung einer filmischen Rekonstruktion des Holocaust der Wahrnehmungskontext, die Produktion und die Rezeption zu berücksichtigen. Der Wahrnehmungskontext von Holocaust im Jahr 1979 wird aus dem allgemeinen Erinnerungsdiskurs, den ästhetischen Implikationen für die Darstellung des Holocaust und den vor 1979 erfolgten Vergegenwärtigungen von Nationalsozialismus und Holocaust im bundesdeutschen Film und Fernsehen gebildet. Um Aussagen über den Produktionsprozess der deutschen Version von Holocaust formulieren zu können, werden Akten und Quellen zur Produktionsgeschichte aus dem Historischen Archiv des WDR sowie zeitgenössische Texte der beteiligten Akteure des WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung herangezogen. Deren Intentionen und Motivationen sind von besonderem Interesse, denn so können Indizien für die in Holocaust angelegten zeitgenössisch primär intendierten Rezeptionen gewonnen werden. Die Rezeption von Holocaust in der Bundesrepublik wird auf zwei Ebenen berücksichtigt. Zum einen wird anhand vorliegender quantitativer und qualitativer Studien der Presseberichterstattung und der Pressedokumentation des Historischen Archivs des WDR der Verlauf der Presseberichterstattung zu Holocaust nachgezeichnet. Zum anderen werden anhand der im Historischen Archiv des WDR dokumentierten spontanen Zuschauerreaktionen und der vom WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung in Auftrag gegebenen Begleituntersuchung ausgewählte Ergebnisse der zeitgenössischen Zuschauerrezeption dargelegt. Die Frage nach den konkreten Auswirkungen und Folgen der Serie und ihrer Ausstrahlung auf die bundesrepublikanische Erinnerungskultur kann hier allerdings nicht weiter verfolgt werden. Die zentrale Frage lautet vielmehr, welche Perspektive auf den Nationalsozialismus und den Holocaust mit der deutschen Erstausstrahlung von Holocaust im Jahr 1979 wie und zu welchem Zweck gefestigt und vermittelt werden sollte und wie diese rezipiert und bewertet wurde. 2. Erinnerungskultur und Gedächtnis Mit dem Begriff Erinnerungskultur ist im Laufe der 1990er Jahre im Deutschen ein alternativer Begriff zu Interner Link: Vergangenheitsbewältigung aufgekommen. Erinnerungskultur meint die gesellschaftliche, nicht spezifisch wissenschaftliche Vergegenwärtigung und Aneignung von historischen Ereignissen und umfasst ästhetische, politische und kognitive Formen bewusster (sozialer) Erinnerung, deren Träger Individuen, soziale Gruppen und/oder Staaten sein können (Cornelißen 2003; Hockerts 2002, S. 41). Die Vergangenheit wird dabei immer aus einer spezifischen Gegenwart und gemäß deren Bedürfnissen und Bedeutungsrahmen vergegenwärtigt. Dementsprechend existieren gleichzeitig mehrere, möglicherweise auch konkurrierende, Erinnerungsgemeinschaften, welche die Vergangenheit unterschiedlich deuten. Diese Vergangenheitsdeutungen werden in konkreten Erinnerungsakten bzw. Erinnerungsereignissen sichtbar, die medial repräsentiert werden. So kann ein sozial geteiltes Wissen über die Vergangenheit entstehen, welches sich in Repräsentationen manifestiert (Erll 2003). Die Erinnerungskultur des Nationalsozialismus und des Holocaust unterteilt Reichel (2004 & 2001) in vier Handlungsfelder, die in einem Wechselverhältnis zueinander stehen: das politisch-juristische, das der öffentlichem Memorialkultur, das der Zeitgeschichtsforschung und das der ästhetischen Kultur. Vor allem den populärkulturellen Darstellungen von Film und Fernsehen schreibt er eine wichtige Bedeutung zu, da insbesondere sie zeitspezifische Deutungen von Nationalsozialismus und Holocaust produzieren und vermitteln. 2.1 Die soziale Bedingtheit der Erinnerung Die Konzeption der Erinnerungskultur geht zurück auf die Aneignung der Arbeiten von Maurice Halbwachs und Aby Warburg. Der Soziologe Halbwachs und der Kulturwissenschaftler Warburg begreifen das Gedächtnis – allerdings mit unterschiedlichen Fragestellungen – als soziales Phänomen und entwickelten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Konzepte des "sozialen Gedächtnis" (Warburg) und "kollektiven Gedächtnis" (Halbwachs) (Erll 2005; Cornelißen et al. 2003; Oexle 1995). Verschiedene Aspekte beider Konzeptionen werden von Jan Assmann (1995 & 1999) aufgegriffen und in seinem Terminus des "kulturellen Gedächtnis" zusammengeführt. Maurice Halbwachs Konzeption des kollektiven Gedächtnisses Grundlegende Annahme von Halbwachs (1966 & 1967) ist die soziale Bedingtheit der Erinnerung und er geht der Frage nach der Rolle von sozialen Gruppen in Prozessen der Vergegenwärtigung von Vergangenheit nach. Er geht davon aus, dass es "kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugrahmen [gibt], derer sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wieder zu finden" (1966, S. 121). Gedächtnis, so formuliert Jan Assmann (1999, S. 35f. & S. 59) in Anlehnung an Halbwachs, bildet der Mensch erst im Verlauf von Sozialisationsprozessen aus. Dabei ist die Teilhabe des Individuums an Kommunikation und sozialen Situationen maßgeblich, denn als sozialer Ordnungsparameter wird Gedächtnis erst durch die Interaktion mit anderen vermittelt. Der organische Träger von Erinnerung und Gedächtnis ist das Individuum, soziale Rahmen ordnen und formen jedoch die Erinnerungen und das Gedächtnis des Individuums: DVD-Cover der Interner Link: Serie “Holocaust - Die Geschichte der Familie Weiss“. (© Polyband) Zitat Es würde in diesem Sinne ein kollektives Gedächtnis und einen gesellschaftlichen Rahmen des Gedächtnisses geben, und unser individuelles Denken wäre in dem Maße fähig sich zu erinnern, wie es sich innerhalb dieses Bezugsrahmens hält und an diesem Gedächtnis partizipiert. (Halbwachs 1966, S. 21) Ein solches Gedächtnis ist geprägt und geformt durch (kollektive) gesellschaftliche Akteure und wird erst durch sie hergestellt. Das Individuum erinnert sich an das, was von anderen mit Bedeutung versehen wird, also im Zusammenhang mit sozial bestimmten Bedeutungsrahmen (Assmann, Jan 1999, S. 36; Oexle 1995, S. 23). Diese Rahmen legen soziale Gruppen durch Selektion und Rekonstruktion fest, wodurch ein soziales Konstrukt entsteht, welches Halbwachs als kollektives Gedächtnis bezeichnet (1967, S. 63). Demnach ist das kollektive Gedächtnis aber nicht als eine Vergegenwärtigung faktischer Ereignisse zu verstehen, sondern als eine soziale Rekonstruktion, die aus den Bedürfnissen sozialer Gruppen in der jeweiligen Gegenwart entsteht und in dem sich Identität und Selbstbild von Gesellschaften widerspiegeln (Miller 1990, S. 89ff.; Halbwachs 1966, S. 22f. & 1967, S. 55). Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis Der rekonstruktive Charakter des kollektiven Gedächtnisses nach Halbwachs verweist darauf, dass weder Auswahl noch Deutung individuelle Leistungen sind, sondern dass Zitat das Gedächtnis (...) einer Gruppe [entwächst], deren Zusammenhalt es stiftet (…); das Gedächtnis ist (…) kollektiv, vielheitlich und doch individualisiert. (...) Das Gedächtnis haftete am Konkreten, im Raum, an der Geste, am Bild und Gegenstand. (Nora 1990, S. 13) Mit den Konzepten des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses haben Aleida und Jan Assmann zwei Bereiche der Außendimensionen sowie zwei Modi Memorandi des kollektiven Gedächtnisses ausgearbeitet, um die Formen kommunikativer und kultureller Vergegenwärtigung von Vergangenheit darzustellen (Assmann, Aleida 2003a; Assmann, Jan 1999, S. 20f. & S. 48). Das kommunikative Gedächtnis: Individuum und Generation Sprache und Kommunikation werden als ein Bereich der Außendimension des menschlichen Gedächtnisses bezeichnet (Assmann, Jan 1999, S. 20). Jan Assmann zufolge ist das kommunikative Gedächtnis gekennzeichnet "durch ein hohes Maß an Unspezialisiertheit, Rollenreziprozität, thematischer Unfestgelegtheit und Unorganisiertheit" (Assmann, Jan 1988, S. 10) und existiert durch die interaktive Beziehung zwischen Individuum und sozialen Gruppen bei der Vergegenwärtigung von Vergangenem. Die im kommunikativen Gedächtnis enthaltenen Erinnerungen beziehen sich auf die rezente Vergangenheit und werden vom Individuum mit seinen Zeitgenossen geteilt. "Dieser allein durch persönlich verbürgte und kommunizierte Erfahrung gebildete Erinnerungsraum" (Assmann, Jan 1999, S. 50) umfasst drei bis vier Generationen. Dieses Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft ist an lebendige Träger gebunden, wächst der Gruppe historisch zu und weicht einem neuen kommunikativen Gedächtnis, wenn die Träger gestorben sind. Sein Zeithorizont bewegt sich entsprechend der jeweiligen Gegenwart und es "kennt keine Fixpunkte, die es an eine sich mit fortschreitender Gegenwart immer weiter ausdehnende Vergangenheit binden würden" (Assmann, Jan 1988, S. 11). Erst wenn mit dem Ende eines Generationengedächtnisses Erinnerungen verloren zu gehen drohen, die bewahrenswert scheinen, wird es historisch bedeutsam: Lebendige, kommunizierte Erinnerung des informellen kommunikativen Gedächtnisses muss in erinnerte Erinnerung des institutionellen kulturellen Gedächtnisses transformiert werden. Denn nur eine organisierte und zeremonielle Kommunikation über die Vergangenheit – also deren kulturelle Formung – ermöglicht eine dauerhafte Fixierung der Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses und deren Weitergabe (Assmann, Jan 1991). Zitat In diese Situation kommt seit ungefähr 10 Jahren jene Generation für die (...)[der Holocaust] Gegenstand persönlicher traumatischer Erfahrung ist. Was heute noch lebendige Erinnerung ist, wird morgen nur noch über Medien vermittelt sein. (Assmann, Jan 1999, S. 51) Das kulturelle Gedächtnis: Institutionen, Medien, Deutungen Jan Assmann greift Halbwachs Konzeption des kollektiven Gedächtnisses als soziale Konstruktion und kulturelle Schöpfung auf und führt sie mit Aspekten des sozialen Gedächtnisses von Aby Warburg zusammen. Nach Warburg wird gemeinsam erinnertes Wissen in Gestalt kultureller Formen objektiviert. Diese Handlungen (z.B. Rituale) und Objekte (z.B. Denkmäler) erfüllen nicht nur einen instrumentellen Zweck, sondern verweisen darüber hinaus auch auf eine Sinnbedeutung (Assmann, Jan 1999, S. 21 & S. 58ff.; Oexle 1995, S. 25). Jan Assmann entwickelt vor dem Hintergrund dieser Konkretisierung den Terminus des kulturellen Gedächtnisses. Darunter versteht er den Zitat jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche[n] Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und Riten (...) in deren 'Pflege' sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt (…) [Das kulturelle Gedächtnis ist] ein kollektiv geteiltes Wissen, vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das die Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt. (Assmann, Jan 1988, S. 15) Während für das kommunikative Gedächtnis ein enger Zeithorizont und Alltagsnähe charakteristisch ist, bezieht sich das kulturelle Gedächtnis auf als bedeutend gekennzeichnete Fixpunkte, die durch institutionalisierte Kommunikation und kulturelle Formung in das kollektive Erinnerungsgebäude eingefügt und wach gehalten werden. Das kulturelle Gedächtnis – verstanden als Erinnerungsfiguren und Wissensbestände mit wesentlicher Bedeutung für die Ausbildung einer Identität der Wir-Gruppe – bezieht sich immer auf die jeweilige Gegenwart, die "sich dazu in aneignende, auseinandersetzende, bewahrende und verändernde Beziehung" (Assmann, Jan 1988, S. 13) setzt. Es ist ein Gedächtnis der kalkulierten Auswahl und beruht auf symbolischen Formen. Diese konservieren, generalisieren und vereinheitlichen die Erinnerungen und ermöglichen deren Tradierung über die Grenzen der Generationen. Das kulturelle Gedächtnis ist ein Gedächtnis mit geformten, kodifizierten und verbindlichen Erinnerungsgehalten (Assmann, Aleida 2000, S. 22) und es "zählt nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte" (Assmann, Jan 1999, S. 52). Folgt man der Konzeption des kulturellen Gedächtnisses von Aleida und Jan Assmann (1994), so ist dessen Funktion auf die Sicherung einer kollektiven Identität ausgerichtet. Dessen Vergangenheitsaneignung ist dynamisch, weil es rekonstruktiv und selektiv bestimmte Aspekte als bedeutsam und sinnvoll für das Identitätskonzept bestimmter Kollektive definiert und "es ist verbindlich, indem es eine klare Wertperspektive (…) etabliert" (Bering 2001, S. 331). 2.2 Medien der Erinnerungskultur Während die Medien des kommunikativen Gedächtnisses vorrangig interpersonale Kommunikation und Interaktion sind, basiert das kulturelle Gedächtnis auf einer Fülle medialer Repräsentationen und künstlerischer Objektivationen (Assmann, Jan 1999, S. 20ff. & S. 50ff.), es ist also ein geformtes, externalisiertes und mediengestütztes Gedächtnis. Diese Medien erweitern den Radius der Zeitgenossenschaft, weil nachgeborene Generationen durch sie mit historischen Ereignissen konfrontiert werden können (Assmann, Aleida & Frevert 1999, S. 49ff.; Assmann & Assmann 1994, S. 120). Versteht man, wie Erll (2004, S. 12) im Anschluss und als Erweiterung der Konzeption von Medien des Gedächtnisses von Jan und Aleida Assmann, ein Medium grundlegend als etwas, das etwas vermittelt, dann spielen bei der Untersuchung von Medien aus erinnerungskultureller Perspektive Aspekte wie Kommunikationsinstrumente, Medientechnologien, Institutionalisierung und konkrete Medienangebote eine Rolle. Denn "erst in dem Zusammenspiel von solchen (…) medialen und sozialen Phänomenen konstituiert sich ein Medium des kollektiven Gedächtnisses" (Erll 2004, S. 13). Dabei kann mit einer sozialen Institutionalisierung eines Medienangebots dessen Funktionalisierung als Erinnerungsangebot einhergehen (Schmidt 2000, S. 109f.). Entscheidend ist letztendlich der Verwendungszusammenhang, denn nur durch die Zuschreibung einer erinnerungskulturellen Funktion kann ein spezifisches Medienangebot als ein Medium des kollektiven Gedächtnisses bezeichnet werden. Diese Zuschreibung kann von Produzenten- und/oder von Rezipientenseite aus erfolgt, die aktiv an der Konstruktion und Verbreitung spezifischer Vergangenheitsversionen beteiligt sind. Diese Rekonstruktionen vollziehen sich immer in spezifischen historischen und kulturellen Kontexten und das Aufeinanderbezogensein der verschiedenen Medienangebote trägt zur Konstituierung des jeweiligen Erinnerungsdiskurses bei (Erll 2004, S. 17f.). Film und Fernsehen als Medien der Erinnerungskultur Zu den wichtigsten Medien des kulturellen Gedächtnisses zählen Aleida Assmann und Ute Frevert (1999, S. 49f.) neben literarischen Texten und Kunstwerken auch Filme und das Fernsehen. Die Bedeutung von Film und Fernsehen für die Konstruktion von Geschichte, die Erinnerungskultur und die Herausbildung eines historischen Bewusstseins gerät zunehmend in den Blick, weil davon ausgegangen wird, dass sie die Wahrnehmung, Deutung und Erinnerung historischer Ereignisse prägen und strukturieren sowie als Vermittler zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fungieren (Kansteiner 2003; Wende 2002b; Hickethier 1997). Vor allem bei der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit müssen die Massenmedien seit 1945 als eigenständige Akteure der Erinnerungskultur verstanden werden und insbesondere populärkulturelle Holocaust-Filme bilden aufgrund des Fehlens eigener Erfahrungen einen wichtigen Bezugspunkt für die nach 1945 Geborenen (Wilke 1999; Riederer 2003, S. 90). Filme und Fernsehbeiträge über historische Ereignisse können als Erinnerungsangebote verstanden werden, denn sie haben neben ihrer Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsfunktion auch eine Erinnerungsfunktion (Assmann & Assmann 1994, S. 140): Sie sind sowohl Speicher- als auch Verbreitungsmedium, fungieren als öffentliche Träger von Diskursen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und wirken so als Schwelle zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis (Jackob 2004, S. 20; Koch, Gertrud 2002, S. 412). Dabei sind sie keine neutralen Vermittler der Vergangenheit, sondern sie konstruieren "einen Wahrnehmungs- und Deutungsrahmen, innerhalb dessen Menschen Geschichte wahrnehmen und sozialen Sinn konstruieren" (Riederer 2003, S. 94). Die herausragende Stellung von Film und Fernsehen als Medien des kulturellen Gedächtnisses wird vor allem damit begründet, dass die "Präsentation historischer Stoffe in Tönen und bewegten Bildern (…) bestechende Möglichkeiten [bietet], die kein gedruckter Text erreichen kann" (Hockerts 2002, S. 66) und beruht insbesondere auf der Wirkmächtigkeit der Film- und Fernsehbilder (Winter 1992, S. 59ff.). Die Besonderheit des Fernsehens als televisuellem Medium liegt in seiner hohen Wirklichkeitsillusion und in seinem Live-Charakter begründet. Diese lassen die dargestellten Ereignisse authentisch wirken und erwecken den Eindruck der mehr oder weniger direkten Teilnahme. Authentizität als Funktion des Bildes begründet die hohe Glaubwürdigkeit der audiovisuellen Medien und insbesondere des Fernsehens (Schulze 2004, S. 62). Weiterhin wird davon ausgegangen, dass Bilder die affektive Beteiligung steigern und so Interesse geweckt wird (Brosius 1995, S. 123ff.). Die Funktionalität von Film und Fernsehen für die Erinnerungskultur liegt nach Hockerts darüber hinaus in ihrer immanenten Struktur, denn gegeben sei hier die Zitat Tendenz zur Emotionalisierung (…). Bilder und Töne (…) haben eine große sinnliche Evidenz (…). Zur Emotionalisierung gesellt sich Personalisierung. Das bewegte Bild braucht Aktion, und da Strukturen nicht handeln können, sieht man handelnde Personen. (2002, S.67) Darüber hinaus sprechen drei weitere Gründe dafür, Film und Fernsehen als Medium des kulturellen Gedächtnisses und damit als Geschichtsmedium zu berücksichtigen. Erstens hält insbesondere das Fernsehen durch Wiederholungen von televisuellen Geschichts(re)konstruktionen historische Ereignisse im kollektiven Gedächtnis lebendig, zweitens erreicht es eine breite Bevölkerung und drittens kann es als die wichtigste Quelle für Informationen über historische und zeitgeschichtliche Themen für alle Altersgruppen gelten (Kansteiner 2004a; Klinger et al. 1999). Erinnerungskulturelle Akteure Aufgrund der den Film- und Fernsehbildern zugeschriebenen Wirkmächtigkeit wurde die These aufgestellt, dass Geschichtsfilme "für breite Bevölkerungsmassen nationale Geschichte [interpretieren], sie organisieren das öffentliche Gedächtnis und homogenisieren die Erinnerung" (Kaes 1987, S. 207). Kritisch zu bemerken ist jedoch, dass so zu verallgemeinernd und zu kurz greifend von Repräsentationen des kulturellen Gedächtnisses auf die Inhalte eines kollektiven Gedächtnisses geschlossen wird bzw. Film- und Fernsehinhalte als Inhalte eines kollektiven Gedächtnisses gelesen werden. Dabei werden die vielschichtigen Rezeptionsprozesse – einerseits der Presse, die durch ihre Berichterstattung als Multiplikator von Deutungen verstanden werden kann, andererseits der Zuschauer und der sie leitenden Faktoren – nicht berücksichtigt. Vielmehr wird aus der ausschließlichen Fokussierung auf die Wirkmächtigkeit von Film- und Fernsehbildern die implizite Annahme ersichtlich, dass eine unmittelbare Beziehung zwischen Darstellung und Rezeption besteht (Kansteiner 2004, S. 132; von Hugo 2003, S. 455f.; Brandt 2001, S. 260f.). Anzumerken ist, dass neben den komplexen Rezeptions- auch die Produktionsprozesse in ihren spezifischen historischen Kontexten häufig vernachlässigt werden und es erscheint notwendig, die "Entstehung, Vermittlung und (…) Aneignung der so tradierten Vergangenheitsdeutungen einer eingehenden (…) Untersuchung" (Wierling 2001, S. 3) zu unterziehen. Dies scheint geboten, denn wie Heinrich (2000) am Beispiel der Erinnerung an den militärischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus zeigen kann, sind die Vergangenheitsrekonstruktionen des kulturellen Gedächtnisses und individuelle Vergangenheitsvorstellungen nicht kongruent. Gerade weil die Konzeption des kulturellen Gedächtnisses von Aleida und Jan Assmann (1994) dessen rekonstruktiven und perspektivischen Charakter aus der jeweiligen Gegenwart betont, erscheint es notwendig, den Blick auf die Akteure in der Erinnerungskultur zu richten: Denn Produzenten und Rezipienten von Erinnerungsangeboten sind die Hauptakteure in dem sozialen Prozess der Rekonstruktion und Deutung von Vergangenheit (Kramer 2003, S. 9; Assmann, Aleida 2002,S. 234; Giesen 2002). 2.3 Untersuchung erinnerungskultureller Rekonstruktionen des Holocaust Unter dem herausgestellten Aspekt, dass die Vergegenwärtigung der Vergangenheit eine zeitabhängige Rekonstruktionsarbeit ist, die sowohl von den Produzenten als auch den Rezipienten der Erinnerungsangebote aktiv geleistet wird, bieten die Arbeiten von James E. Young (1997 & 1992a & 1992b) eine grundsätzliche Orientierung zur Betrachtung der Erstausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust in der Bundesrepublik im Jahre 1979. Young beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit der Frage, welche Akteure in welcher Darstellungsform aufgrund welcher Motivationen den Holocaust künstlerisch bearbeiten. Da das reale Geschehen letztlich nur in kulturellen Rekonstruktionen vorhanden ist, ist die Erinnerung an den Holocaust auf Repräsentationen angewiesen (Young 1992a, S. 14ff.). Um den Konstruktionsprozess von Erinnerung beschreiben zu können, hat Young den Begriff "Textur der Erinnerung" entwickelt und ihn auf literarische, dokumentarische und biographische Texte sowie auf Denkmäler, Gedenkstätten und Filme angewendet (Young 1992a). Er demonstriert, dass immer spezifische politische und nationale, religiöse und ästhetische Koordinaten die Formen der Erinnerung bestimmen und dass sich die kulturellen Rekonstruktionen als Einzelphänomene erst aus ihrer Einbettung in einen größeren kontextuellen Zusammenhang erkennen lassen (Young 1992b, S. 214.). Vier Dimensionen der Textur der Erinnerung sind demnach für die Betrachtung einer kulturellen Rekonstruktion des Holocaust von Bedeutung: Die erste Dimension besteht im Kontext von Ort und Zeit ihrer Entstehung. Als Repräsentation des kulturellen Gedächtnisses ist sie Ausdruck eines Zeitgeists und steht in ihrem spezifisch historischen Entstehungszusammenhang der jeweiligen Gegenwart. Der Entstehungsprozess kann Hinweise auf das spezifische Verständnis der realen Geschehnisse und die daraus folgende kulturelle Rekonstruktion liefern (Young 1992a, S. 282 & 1992b, S. 214ff.). Ihre Stellung in der Konstellation der nationalen Erinnerung als zweite Dimension der Textur der Erinnerung ist von Bedeutung, denn diese beeinflusst die Motivationen der Akteure und die Darstellungsformen. Die Akteure müssen demnach ihre Position im zeitgenössischen Diskurs über die ästhetischen Strategien der Rekonstruktion des Holocaust bestimmen, denn jede Repräsentation ist nur als Teil einer komplexen Erinnerungskultur zu verstehen und steht in Relation zu bereits vorher erfolgten Vergegenwärtigungen des Holocaust (Young 1992a, S. 268 & 1992b, S. 214ff.). Als dritte Dimension ist ihre Präsentation und Diskussion unter spezifischen zeitgeschichtlichen und politischen Realitäten zu nennen. Es lässt sich beschreiben, woran genau hier erinnert wird, was der historische Kontext ist und was die Vergangenheit heute hier bedeutet (Young 1997, S. 45). Da politische und administrative Entscheidungsträger die Entscheidungen darüber treffen, welche potentiellen Vergegenwärtigungen der Vergangenheit realisiert werden, kann gefragt werden, aufgrund welcher Motive und Intentionen sie spezifische Erinnerungswerte zum Inhalt öffentlicher Geschichtserinnerung bestimmen und diese historisch-politisch für das Gemeinwesen manifestieren (Zifonun 2004). Als vierte Dimension kann die Rezeption verstanden werden. Das Rezeptionsangebot wird von den Rezipienten jeweils neu interpretiert und die Vergegenwärtigung der Vergangenheit wird zwangsläufig erst durch den Rezipienten vollendet (Young 1992, S. 279). Eine Vergegenwärtigung der faktischen Ereignisse durch den Rezipienten lässt sich jedoch nicht von seinen spezifisch historischen und sozialen Rahmensetzungen lösen, durch die seine Wahrnehmungen und Erinnerungen erst eine Form erhalten (Young 1992b). Film und Fernsehen als soziale Erzeugnisse Die Arbeiten von Young bieten für die Betrachtung der deutschen Erstausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust eine erste Orientierung, weil er sich grundsätzlich mit allen künstlerischen Rekonstruktionsformen des Holocaust beschäftigt. Bei Holocaust handelt es sich um eine audiovisuelle Repräsentation und so werden weiterhin medientypische Spezifizierungen vorgenommen. Diese erfolgen in Anlehnung an theoretische Modelle der Filmanalyse von Korte (1997), der ein Modell zur zeitgenössischen Wahrnehmung und Wirkung von Filmen liefert, und Dörner (1998), der im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Filmanalyse den Film nicht als ein ästhetisches Objekt, sondern vielmehr als ein komplexes soziales Produkt betrachtet. Sowohl Korte als auch Dörner schlagen drei Untersuchungsdimensionen von Filmen vor: (1) Den zeitgenössischen Wahrnehmungshintergrund. Ein Film oder ein Fernsehbeitrag soll grundsätzlich nicht isoliert betrachtet werden, da er kein unabhängiges kulturelles Produkt ist, sondern in ein mediales Gesamtgefüge eingebettet ist und in einer spezifischen Beziehung zu anderen Filmen mit gleicher Thematik steht. Zu fragen ist, welche Bezüge sich zwischen diesem medialen Kontext und dem Untersuchungsobjekt feststellen lassen, denn erst die Berücksichtigung des thematischen Gesamtgefüges lässt Schlüsse über die Bedeutungen des jeweiligen Beitrags in seinem medialen Kontext zu (Korte 1997; Dörner 1998; Winter 1992, S. 80f.). (2) Die Produktion und das Produkt. Produzenten und Distributoren von Filmen und Fernsehbeiträgen sind zu beachten, da sie Hersteller von Öffentlichkeit sind. Als eine Funktion von Filmen und Fernsehsendungen gilt die Bedeutungsproduktion für die Rezipienten (Ferro 1991; Mikos 2003, S. 53ff.). Die Kommunikation des Fernsehens ist durch seine Adressierung an ein bestimmtes Publikum oder mehrere Publika bestimmt und während des Produktionsprozesses von Filmen und Fernsehsendungen werden die Intentionen der Produzenten und Distributoren wirksam, die ihre Produkte für ein bestimmtes Publikum mit bestimmten sozialen Eigenschaften herstellen (Mikos 2003, S. 53ff.; Dörner 1998, S. 201ff.). Filmen und Fernsehsendungen sind demnach "Sinngehalte zu entnehmen, die ihre Produzenten – im Blick auf ihre Publika – in sie 'hineingesteckt' haben" (Willems 2000, S. 219). Ermittelt werden soll also das zeitgenössisch dominante Rezeptionsangebot. (3) Die Rezeption. Jeder Film und jede Fernsehserie hat nur potentielle Bedeutungen und wird letztendlich erst durch die Rezeption vervollständigt (Korte 1997; Dörner 1998; Winter 1992, S. 69ff.). Wichtig ist es, grundlegend von einem aktiven Rezipienten auszugehen. Den Printmedien als Mittler zwischen dem Medium Fernsehen und dem Publikum kommt eine besondere Rolle zu: Zum einen bieten sie ihren Lesern Orientierungshilfen und zum zweiten besitzen sie die Möglichkeit, die Entwicklung der Meinungsbildung durch ihre Thematisierungsfunktion gemäß des Agenda-Setting-Ansatzes zu beeinflussen (Bonfadelli 2004, S. 237ff.; Böhme-Dürr 1999.). So wird hier davon ausgegangen, dass das Medium Presse als ein Teilsystem im Gesamtsystem Massenkommunikation zu den Gesprächs- und Zeitthemen einer Gesellschaft beiträgt und journalistische Akteure dementsprechend als Multiplikatoren von Meinungen und Deutungen verstanden werden können (Kramer 2003). Festgehalten werden soll, dass audiovisuelle Vergangenheitsrekonstruktionen visuelle Fiktionen und immer zeitabhängige Deutungen der Vergangenheit sind (Paul 2003, S. 4). Deshalb erhalten die zeitgenössischen Produktionsberichte, Pressereaktionen und Rezeptionsdokumente eine Bedeutung für die Rekonstruktion der spezifischen Vergangenheitskonstitution zum Entstehungszeitpunkt des jeweiligen Films. Ausgehend von diesen Annahmen kann weiterhin festgehalten werden, dass "Film [und] Publizistik im weitesten Sinne Geschichte [schreiben], die Bilder und Argumente [liefern], die unser individuelles Erinnern ebenso bestimmen wie das, was wir inzwischen als das kollektive Gedächtnis (...) bezeichnen" (Thiele 2001, S. 60). 3. Der Wahrnehmungskontext von Holocaust Wie herausgestellt, steht eine kulturelle Repräsentation des Holocaust in einem spezifisch historischen Entstehungszusammenhang. Dieser ist zunächst geprägt durch die allgemeine gesellschaftliche Vergegenwärtigung von Nationalsozialismus und Holocaust. Bei der audiovisuellen Rekonstruktion des Holocaust spielen Debatten um die ästhetischen Strategien und Fragen nach der Darstellbarkeit des Holocaust eine Rolle. Zusätzlich wirken vorher erfolgte kulturelle Rekonstruktionen auf die Wahrnehmung und Bewertung der spezifischen Rekonstruktion ein. 3.1 Gesellschaftliche Vergegenwärtigung von Nationalsozialismus und Holocaust in der Bundesrepublik Die deutsche Erinnerungsgeschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust lässt sich in mehrere idealtypische Phasen einteilen (König 2003, S. 23ff.). Die erste Phase zwischen dem Ende des Interner Link: Zweiten Weltkrieges und der Interner Link: Gründung der Bundesrepublik 1949 war zunächst durch die alliierte Herrschaft gekennzeichnet, welche die deutsche Bevölkerung mit der Frage nach ihrer Verantwortung für die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen konfrontierte. Unter ihr fanden die Interner Link: Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozesse statt und in den Interner Link: Nachfolgeprozessen waren auch die Eliten aus Militär, Wissenschaft und Wirtschaft angeklagt (Reichel 2001, S. 42ff.). Die Beteiligung von breiten Bevölkerungskreisen in Militär und Verwaltung, in Osteuropa und in den Konzentrations- und Vernichtungslager am Holocaust kam kaum in den Blick, Verantwortung und Schuld der Deutschen wurden nur vage thematisiert. Dennoch ist diese Phase durch eine Schuld-Debatte charakterisiert, da der Interner Link: Begriff der Kollektivschuld kursierte (König 2003, S. 23; Kufeke 2002, S. 239). In der zweiten Phase, die sich über die 1950er Jahre erstreckte, war die Vergangenheitspolitik zum einen gekennzeichnet durch Interner Link: Amnestie und Integration der Täter und Parteimitglieder der NSDAP, zum anderen grenzte sich die Bundesrepublik in ihrer offiziellen Selbstdarstellung deutlich vom Nationalsozialismus ab (Frei 2005, S. 30ff.; Reichel 2001, S. 108ff.). Im offiziellen Diskurs der Erinnerungsgeschichte spielten Begriffe wie Verantwortung, Schuld und Scham eine wichtige Rolle, die von der Bevölkerung jedoch weitestgehend externalisiert wurden (Assmann, Aleida 2003b, S. 135; Reichel 2001, S. 66ff.). Innerhalb der Bevölkerung dominierte eine Interner Link: Opferperspektive, die vor allem auf die Erfahrungen des Krieges – zumal bei Vertriebenen und Flüchtlingen – zurückging (van Laak 2002, S. 176f.). Die dritte Phase leitete zu Beginn der 1960er Jahre mit dem Interner Link: Eichmann-Prozess (1961), dem in deutscher Verantwortung liegenden Interner Link: Auschwitz-Prozess (1963-65) sowie dem Heranwachsen einer jüngeren Generation die Phase der familialen, juristischen und historischen Aufklärung ein (Assmann, Aleida 2003b, S. 135; Kufeke 2002, S. 241). Durch die Prozesse wurden das Ausmaß der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, die Verwicklung der Eliten und weiter Teile der Bevölkerung in größerem Maße wahrgenommen und diese gerieten in das öffentliche Bewusstsein: Auschwitz wurde so zum Symbol und Inbegriff der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen (van Laak 2002, S. 182). Die bisherige Auseinandersetzung mit der Verantwortung der Deutschen für die nationalsozialistischen Verbrechen wurde als gesamtgesellschaftliches Problem begriffen und es gerieten zum einen die personellen Kontinuitäten in Politik, Verwaltung und Wissenschaft sowie die Integration der Täter und Parteigänger in die Kritik, zum anderen wurde die Frage nach dem individuellen Verhalten im Nationalsozialismus politisiert (König 2003, S. 31ff.; Kufeke 2002, S. 240). Blieb die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bis in die späten 1970er Jahre auf die Tätergesellschaft fokussiert, in der aber wegen der Dominanz von allgemeinen Totalitarismus- und Kapitalismustheorien in der Analyse des Nationalsozialismus "die Frage nach der deutschen Gesellschaft und ihrer Rolle bei der Ingangsetzung der großen Massenverbrechen (…) keine Rolle" (Herbert 2003, S. 103) spielte, standen seit 1979 und der Fernsehserie Holocaust in dieser dritten Phase der bundesdeutschen Erinnerungsgeschichte die jüdischen Opfer für ein Jahrzehnt im Mittelpunkt. In den 1980er Jahren nahm sich die Bundesrepublik des Opfergedenkens an und neben der Personalisierung der Opferschicksale setzte eine stärkere Beschäftigung größerer Teile der deutschen Bevölkerung mit jüdischer Geschichte in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld ein (Kufeke 2002, S. 242f.). Die vierte Phase ab 1989 lässt sich durch die Nationalisierung, die Mediatisierung und die Universalisierung bzw. Globalisierung der Erinnerung an den Holocaust charakterisieren (Assmann, Aleida 2003b, S. 135f.). Mit der Interner Link: deutschen Einheit 1990 kehrte der nationalstaatliche Referenzrahmen zurück und die Auseinandersetzungen wurden nun darum geführt, welcher Stellenwert und welche Gegenwartsrelevanz dem Nationalsozialismus und dem Holocaust zugesprochen werden (Kirsch 2000, S. 138). Am Ende der Zeitzeugenschaft muss die Vermittlung der Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust ohne direkte Begegnung mit Zeitzeugen auskommen und die Massenkultur wird endgültig zur Trägerin der Erinnerung (Levy & Sznaider 2001, S. 157). Den Massenmedien kommt eine auch entscheidende Bedeutung bei der Universalisierung und Globalisierung der Holocausterinnerung zu: So gilt die globale Ausstrahlung und Rezeption der Fernsehserie Holocaust als deren Meilenstein (Levy & Sznaider 2001, S. 131), da sie dem nationalsozialistischen Massenmord einen eigenen Namen gab und dieser neue Begriff "das Potential für transnationale, universale Bezugsrahmen" (Marchart et al. 2003, S. 309) eröffnete. 3.2 Darstellungsproblematik des Holocaust Als zentrale Frage bei der kulturellen Rekonstruktion des Holocaust gilt die nach der generellen Darstellbarkeit der faktischen Ereignisse. Diese betrifft sowohl die künstlerischen Möglichkeiten als auch die moralische Achtung der Opfer (Bannasch & Hammer 2004, S. 9f.; Berg et al. 1996, S. 7ff.). Zwei zentrale Positionen stehen sich gegenüber. Zum einen die Forderung nach einem grundsätzlichen Bilderverbot, da durch die Erfahrung des Holocaust die Grenzen der Ausdrucks- und Verstehensmöglichkeit erreicht worden sind. So hält z.B. Claude Lanzmann die Erzählungen von Zeitzeugen als die einzig zulässige Form der Darstellung, weil jede andere Darstellungsform eine Trivialisierung und Verfälschung der faktischen Ereignisse nach sich zieht und somit die Singularität des Holocaust in Frage stellt. Gegner des Bilderverbotes vertreten dagegen die Überzeugung, dass Bilder für die Zuschauer eine große Glaubwürdigkeit besitzen und halten es für notwendig, mit kulturellen Repräsentationen wie Texten und Filmen die faktischen Ereignisse zu vermitteln (Oster & Uka 2003, S. 249f.; Thiele 2001, S. 33; Köppen & Scherpe 1997, S. 4). Inzwischen tritt aber an die Stelle einer grundsätzlichen Problematisierung der generellen Darstellbarkeit des Holocaust eine verstärkte Reflexion über verschiedene Darstellungsformen, deren Rekonstruktion der faktischen Ereignisse sowie deren Konsequenzen (Schulz 2002, S. 173ff.; Krankenhagen 2001, S. 163ff.). Bei der Frage nach der Darstellungsform des Holocaust geht es um die Angemessenheit der Rekonstruktion im Hinblick auf die Opfer, wobei Angemessenheit und Authentizität als Maximen der Darstellung gelten (Martinez 2004, S. 8ff.; Köppen 2002, S. 310). Eine dokumentarische Darstellung scheint diese Maximen eher zu erfüllen als eine fiktionale, da sie scheinbar authentischer von den faktischen Ereignissen berichtet, vor allem wenn Zeitzeugen über ihre Erlebnisse berichten. Jedoch können auch Bilddokumente nicht als 'wahrhaftige' Zeugnisse vergangener Ereignisse gelten, die diese neutral wiedergeben, denn auch sie sind das Ergebnis von Inszenierungen und übermitteln den Blick desjenigen, der sie produziert hat (Schulz 2002, S. 166). Die Diskussion um dokumentarische und fiktionale Darstellungen des Holocaust lässt sich auf zwei entgegen gesetzte Positionen zuspitzen: Zum einen können auf Emotionalisierung und Identifikation angelegte fiktionale Darstellungen – vermeintlich triviale massenmediale Repräsentationen – nicht an das Grauen der faktischen Ereignisse heranreichen, banalisieren diese somit unweigerlich und stellen die Singularität des Holocaust in Frage (Reichel 1999, S. 26ff.). Zum anderen haben Emotionalisierung und Identifikation aber das Potential, affektive Reaktionen wie Empathie, Sympathie und Trauer hervorzubringen und so gehört "insbesondere der Film zu den Massenmedien (…), der mit seinen neu erschaffenen Bildern, (…) unser kulturelles Gedächtnis bereichert und modifiziert" (Oster & Uka 2003, S. 253). 3.3 Vergegenwärtigung von Nationalsozialismus und Holocaust in Film und Fernsehen vor 1979 in der Bundesrepublik Nach 1945 haben Film und Fernsehen als Medien der Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus und den Holocaust drei Entwicklungsphasen durchlaufen. Von 1945 bis ca. 1960 sieht Reichel (2004, S. 25) eine Entwirklichung der nationalsozialistischen Vergangenheit durch Abspaltung vom und einer Dämonisierung des Nationalsozialismus, ab 1960 eine Politisierung des Umgangs mit dem Thema in Film und Fernsehen gegeben. Die US-amerikanische Fernsehserie Holocaust ist für ihn der Marker für die ab Ende der 1970er Jahre einsetzende Emotionalisierung des Umgangs mit dem Nationalsozialismus und der ab dann als Holocaust bezeichneten Massenermordung der europäischen Juden, die sich vor allem durch die Fokussierung auf die individuellen Lebens- und Leidengeschichten der Opfer ausdrückt. Dokumentarfilm in der unmittelbaren Nachkriegszeit Die ersten öffentlich zugänglichen visuellen Zeugnisse der Massenermordung der europäischen Juden waren Fotografien. Nach der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager 1944 und 1945 durch die Alliierten veröffentlichte die Weltpresse Bilder von Massengräbern, Unmengen von Leichen und zu Skeletten abgemagerten Überlebenden, die eine Vorstellung von der großen Anzahl der Getöteten vermittelten (Brink 1998). Ab Winter 1945 wurde die filmische Dokumentation der Massenermordung der europäischen Juden ein Bestandteil der Reeducation-Maßnahmen der Alliierten. In amerikanischen Wochenschauen wie Welt im Film wurde über die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und die Nürnberger Prozesse berichtet. Durch den ersten Dokumentarfilm der Amerikaner über die Konzentrations- und Vernichtungslager – Die Todesmühlen (1945) –, der im Winter 1945/46 mit über hundert Kopien in der amerikanischen und britischen Zone und in Berlin in die Kinos kam, wurde die deutsche Bevölkerung mit Bildern der Gewaltverbrechen konfrontiert (Reichel 2004, S. 162ff.; Hahn 1997). Dass die Deutschen die Verbrechen organisiert, durchgeführt und geduldet haben, spart der Film nicht aus, jedoch wird das Stichwort Antisemitismus vermieden und es wird auch nicht zwischen den einzelnen Opfergruppen differenziert (Hahn 1997, S. 102ff.). Obwohl die Authentizität und Glaubwürdigkeit der Bilder vom deutschen Publikum nicht bezweifelt wurden, überwiegen die Berichte über abwehrende Publikumsreaktionen, wobei vor allem auf die Leiden und Toten der Deutschen durch die alliierten Bombardierungen und während der Vertreibungen hingewiesen wurde. Eine kollektive Verantwortung der Deutschen für die Gewaltverbrechen wurde ebenso abgelehnt wie eine individuelle Schuld (Reichel 2004; S. 165; Hickethier 2003, S. 117; Hahn 1997, S. 110ff.). Westdeutscher Film 1945 bis 1960 In den westdeutschen Spielfilmproduktionen der Jahre 1945 bis ca. 1960 dominiert die Selbst-Viktimisierung der Deutschen, die vor allem durch die Fokussierung auf das Individuum und seine individuellen Entscheidungen sowie die Darstellung von Nationalsozialismus und seinen Verbrechen aus der Perspektive der vom Krieg betroffenen deutschen Bevölkerung und Soldaten ermöglicht wird. Trotz der dominierenden Darstellung individueller Schicksale und des privaten Bereichs, der ungeachtet aller Schwierigkeiten – wie z.B. der Heimkehrersituation, den Kriegserlebnissen und der wirtschaftlichen Situation der Nachkriegszeit – als Zufluchtsstätte erscheint, kann für die Spielfilmproduktionen der Jahre 1945 bis 1949 aber nicht festgestellt werden, dass sie grundsätzlich dem Nationalsozialismus ausgewichen wären. Dabei werden die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen aber höchstens am Rande thematisiert und bleiben schemenhaft. Sowohl die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen als auch die Täter bleiben anonym, wodurch die Deutschen als Opfer anonymer Mächte rehabilitiert werden können. So wurde vor allem das Bild der Deutschen als Schicksalsgemeinschaft vermittelt, über die Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust als Schicksal und Tragödie hereingebrochen ist (Hake 2002, S. 166ff.; Thiele 2001, S. 91f.; Pleyer 1965, S. 148ff.). Wenn in den Spielfilmproduktionen der Jahre 1945 bis 1949 jüdische Protagonisten auftreten, Antisemitismus und Verfolgung explizit thematisiert werden, lassen sich drei Topoi ausmachen: Erstens werden deutsche Figuren zur Identifikation angeboten, die sich durch ihre Menschlichkeit und Anständigkeit auszeichnen und weder Mitläufer oder gar Täter sind. Zweitens wird bei der Thematisierung von Verfolgung und Ermordung aus der Perspektive der Opfer für Versöhnung und Völkerverständigung plädiert und eine Kollektivschuld abgelehnt. Drittens sind in den DEFA-Produktionen Antisemitismus, Verfolgung und Ermordung der Juden nicht zentrale Handlungsmotive, sondern im Mittelpunkt steht die antifaschistische Tradition der Arbeiterbewegung (Thiele 2001, S. 94f.; Assmann, Aleida & Frevert 1999, S. 163ff.; Gallwitz 1999). Im Kriegsfilm – neben dem Heimatfilm das dominante Filmgenre der 1950er Jahre – lassen sich zwei Stränge ab Mitte der 1950er Jahre ausmachen: zum einen die Thematisierung des militärischen Widerstands, zum anderen die 'Geschichte des jungen Wehrmachtssoldaten'. Ungeachtet ihrer spezifischen Darstellungsweise wird in diesen Spielfilmen der individuelle Konflikt der Protagonisten zwischen Befehlsgehorsam und Befehlsverweigerung thematisiert, wodurch der Gegensatz von der 'guten' Wehrmacht und den 'bösen' Nationalsozialisten angelegt sowie vom Krieggeschehen abstrahiert und dem Militärischen Menschlichkeit abgewonnen werden kann (Classen 2005; von Hugo 2003). Die Trennung zwischen den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen einerseits und den Soldaten andererseits ermöglicht die Darstellung der Soldaten als Opfer Hitlers, so dass der aus vielen Quellen entstandene Mythos von einer 'sauberen' Wehrmacht auch von den kulturellen Deutungen dieser Kriegsfilme mitgestaltet wurde (Reichel 2004, S. 36f.). 1959 erschien der erste westdeutsche Antikriegsfilm: Die Brücke von Bernhard Wicki. Die Geschichte um eine Gruppe 16-jähriger Schüler prägte aber vor allem das Bild einer verlorenen und verführten Kriegsjugend, da über die politischen Ursachen des Krieges kein Wort verloren wird. Diese Selbst-Viktimisierung verhinderte wiederum die Anerkennung der anderen Opfergruppen (Reichel 2004, S. 119ff.; Tschirbs 2003, S. 593). Ob nun Kriegs- oder Antikriegsfilm, im westdeutschen Kino der 1950er Jahre wurde die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg nicht thematisiert bzw. einer Clique führender Nationalsozialisten oder der SS zugeschrieben, deren Opfer die deutschen Soldaten waren. Der Zweite Weltkrieg wurde als Schicksal und Tragödie inszeniert, von den deutschen Soldaten nicht zu beeinflussen. So wurde in den westdeutschen Produktionen "insbesondere der Charakter des Vernichtungskrieges als Inkarnation nationalsozialistischer Politik (…) ausgeblendet" (von Hugo 2003, S. 472). Darüber hinaus durften viele ausländische Filme, die die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden thematisierten, in der Bundesrepublik nicht gezeigt werden oder wurden gekürzt. Auch Alain Resnais Dokumentarfilm Interner Link: Nacht und Nebel (Nuit et Bruillat 1955) durfte in der Bundesrepublik zunächst nicht gezeigt werden, wurde dann aber im Juli 1956 während der Berliner Filmfestspiele in der Bundesrepublik erstmals vorgeführt (Hickethier 2003, S. 118). In der halbstündigen Dokumentation werden Filmaufnahmen der Alliierten, die kurz nach der Befreiung der Konzentrationslager 1945 gefilmt wurden, mit dokumentarischen Bildern der zehn Jahre später verlassenen Lager verknüpft, wobei der Kommentar einen Überblick der Verfolgungs- und Lagergeschichte referiert (van de Knaap 2002). Täter und Opfer der Gewaltverbrechen werden in diesem einzigen Filmdokument der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in den westdeutschen Kinos der 1950er Jahre aber nicht eindeutig genannt, wodurch eine Tendenz zur Universalisierung der historischen Ereignisse gegeben ist, die "den Rezeptionsbedürfnissen in Deutschland durchaus entgegen" (Reichel 2004, S. 10) kam. Fernsehen vor 1979 Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann unter der Administration der alliierten Siegermächte der Wiederaufbau des Rundfunks, Interner Link: aus dem in den 1950er Jahren das öffentlich-rechtliche Fernsehen hervorging (Hickethier 1998). Ähnlich wie im Kino dominierte im westdeutschen Fernsehen der 1950er Jahre die Selbst-Viktimisierung der Deutschen. Aufgrund seiner öffentlich-rechtlichen Organisation wird dem westdeutschen Fernsehen aber eine bedeutende Rolle in den Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus seit den 1960er Jahren zugeschrieben. Durch seine Nicht-Kommerzialität war das westdeutsche Fernsehen nicht wie die Filmwirtschaft auf den (Publikums-) Erfolg angewiesen und musste so weniger Rücksichten auf Befindlichkeiten des Publikums nehmen. Das Fernsehen wurde nun grundlegend als eine unabhängige und aufklärende Macht im Staat verstanden (Hickethier 1998, S. 64ff.; Keilbach 1999, S. 136). In den 1950er Jahren wandte sich das Fernsehen dem Nationalsozialismus nur am Rande zu (Hickethier 2000, S. 98). Aufgrund der Anknüpfung an Darstellungsformen des Radios und Theaters sowie technischer Restriktionen standen lediglich einzelne Protagonisten im Mittelpunkt der Handlung und es wurden vor allem private und innere Konflikte widergespiegelt (Classen 2005; Keilbach 1999). Im Zusammenhang mit der Kriegserinnerung als zentralem Bezugspunkt der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik der 1950er Jahre sieht Classen (2004) zwei Topoi in den Beiträgen des Fernsehens gegeben, die sich auch schon im Kriegsfilm der 1950er Jahre herauskristallisierten: Zum einen wurden mit der Figur des schuldig-unschuldigen Kriegsheimkehrers bzw. des in Kriegsgefangenschaft geratenen Soldaten die deutschen Soldaten als Opfer inszeniert. Zum anderen gestaltete sich die Frage nach Schuld und Widerstand als ein individueller Konflikt zwischen militärischem Gehorsam und Gewissen, in dem der Zusammenhang von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg nicht thematisiert wurde. Gegeben ist die Selbst-Viktimisierung der Deutschen und das gleichzeitige Bemühen um eine Distanzierung vom Nationalsozialismus, was in hohem Maße den mentalen und politischen Bedürfnissen der Bevölkerungsmehrheit entsprach. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden bleibt im bundesdeutschen Fernsehen eine Leerstelle, einzig explizit thematisiert wird sie wiederum durch Alain Resnais Dokumentarfilm Nacht und Nebel, der am 18.4.1957 im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt wird (Classen 2005 & 1999). Das deutsche Fernsehpublikum wurde dann im März 1960 erstmals im Rahmen des fiktionalen Fernsehmehrteilers Am grünen Strand der Spree (Fritz Umgelter, ARD) mit der Massenermordung der europäischen Juden konfrontiert. In der ersten Episode des Mehrteilers – Das Tagebuch des Jürgen Wilms – wird filmisch eine Massenerschießung osteuropäischer Juden gezeigt, die heftige und emotionale Reaktionen in der Presse hervorriefen, insbesondere aber die aufklärerischen Aspekte des Fernsehfilms guthießen (Hickethier 1980, S. 193f.; Koch, Lars 2002, S. 79f.; Seibert 2001). Diese Episode unterschied sich von den zu diesem Zeitpunkt dominanten Soldatenerinnerungen, weil sie in "bemerkenswerter Direktheit über die Verwicklung, Zeugen- und Mittäterschaft der deutschen Wehrmacht an Massenerschießungen und Pogromen gegen die osteuropäische jüdische Zivilbevölkerung" (Koch, Lars 2002, S. 79) berichtete. Letztendlich wird die eindringliche Darstellung der Massenermordung der Juden jedoch relativiert, eine Differenzierung zwischen Wehrmacht und SS vorgenommen, die die Opferrolle der Wehrmacht betont und die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen einer kleinen und fest umrissenen Tätergruppe zuschreibt (Hickethier 2003; Koch, Lars 2002). Die verstärkte Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im bundesdeutschen Fernsehen in den 1960er Jahren stand in einem umfangreichen Zusammenhang mit der Thematisierung des Nationalsozialismus aufgrund tagespolitischer Aktualität sowie mit seiner in diesem Zeitraum vollzogenen Pädagogisierung und Politisierung. Das Fernsehen wandelte sich in seinem Selbstverständnis zu einem Medium, dass einen Bildungsauftrag gegenüber der bundesdeutschen Bevölkerung besaß und sich als ein Instrument der demokratischen Öffentlichkeit verstand. Insbesondere in den neu entstandenen politischen Magazinen wie Panorama (NDR) wich die eindimensionale Beschreibung der nationalsozialistischen Vergangenheit in Form von Geschichten über den Widerstand und Kriegserlebnissen einer kritischeren Betrachtungsweise und war eines der häufig wiederkehrenden Themen (Classen 2005, S. 114f. & 1999, S. 24ff.; Hickethier 1998, S. 171ff. & S. 216ff.). In den 1960er Jahren stellten Dokumentarfilme mehr als die Hälfte der Beiträge über den Nationalsozialismus (Classen 1999, S. 44). Insbesondere die 1960/61 ausgestrahlte 14-teilige Fernsehdokumentation Das Dritte Reich (SDR & WDR) trug nach Hickethier dazu bei, "dass sich (…) eine neue Haltung der deutschen Vergangenheit gegenüber durchzusetzten begann" (1998, S. 175). Diese erste Dokumentation stellt die wichtigsten Stadien der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs dar. Als ein "Meilenstein" (Lersch 2005, S. 76) gilt insbesondere die 8. Folge der Reihe, Der SS-Staat, die am 24.2.1961 erstmals im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Diese 55-minütige Folge behandelt zwar explizit die Judenverfolgung und -ermordung, setzt sich jedoch insbesondere ausführlich mit SS und SA auseinander. Diese erscheinen wiederum als kleine und fest umrissene Tätergruppen, wodurch die Frage um die Mitverantwortung der deutschen Bevölkerung umgangen wird (Lersch 2005; Zimmermann 2000, S. 64; Classen 1999, S. 89 & S. 115). Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg wurden in den 1960er Jahren auch in fiktionalen Formen, vor allem dem Fernsehspiel, thematisiert. Hier standen allerdings nicht der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg selbst, sondern deren Folgen für die Gegenwart anhand individueller Geschichten im Mittelpunkt. Diese ermöglichten eine emotionale Darstellung, ignorierten aber die Darstellung von sozialen und politischen Voraussetzungen der historischen Ereignisse. Diese Fernsehspiele lassen sich fünf Gruppen zuordnen, die folgende Schwerpunkte bei der Thematisierung des Nationalsozialismus behandeln: 1. Folgen des Krieges, 2. Konservativer Widerstand, 3. Widerstand als Hilfe für verfolgte Juden, 4. Frage der Söhne nach der Schuld der Väter, 5. Politisch Verfolgte und Emigranten (Hickethier 2003 & 2000 & 1980, S. 271ff.). Der Widerstandsdiskurs und der Generationenkonflikt waren die dominanten Perspektiven in der Darstellung des Nationalsozialismus im Fernsehen bis Mitte der 1970er Jahre, wobei der Widerstand innerhalb des Militärs und der Kirche überbetont wurden (Kansteiner 2004a; Geisler 1994, S. 15ff.). Einzig Egon Monks und Gunther R. Lys Fernsehspiel Ein Tag. Bericht aus einem Konzentrationslager 1939 (ARD 1965) bringt das als undarstellbar geltende Konzentrationslager zur Darstellung. Ein Tag wurde von der Kritik euphorisch und von der Mehrheit der Zuschauer positiv aufgenommen. Der Gegenstand von Monks Fernsehspiel ist der sich in den 1930er Jahren etablierende Terror, wobei nicht die Massenermordungen in den Vernichtungslagern gezeigt werden sollen, sondern ein Konzentrationslager in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg (Prümm 2002; Monk 1999). So will Monk den immer wieder aufgestellten Gegensatz von der 'guten Zeit' 1933 bis 1939 und dem Zweiten Weltkrieg mit seiner „"Vernichtungsmaschinerie als historisch unhaltbar darstellen" (Hickethier 2003, S. 129). Im Fernsehspiel und Fernsehfilm der späten 1960er und der 1970er Jahre gab es für Ein Tag praktisch keinen Nachfolger. So musste Karl-Heinz Bohrer im Rahmen der Berichterstattung zu Holocaust einräumen, dass die deutschen Fernsehzuschauer Zitat vor zehn Jahren Egon Monks dokumentarisch wie atmosphärisch überzeugenden Fernsehfilm "Ein Tag" sehen [konnten]. Aber das war schon die Summe von zwanzig Jahren 'Vergangenheitsbewältigung' , betrieben nur von einer intellektuellen Minorität. In den späten 1960er und 1970er Jahren floss die Thematik der Massenermordung der europäischen Juden nun zwar häufiger ein und wurde erwähnt, aber letztlich nur als Andeutung und Verweis. Die wenigen Sendungen der 1970er Jahre stellten vor allem die gelungene Rettung von verfolgten Juden in den Mittelpunkt, so dass die Massenermordung der europäischen Juden in den Vernichtungslagern keine Darstellung fand (Kansteiner 2003, S. 269; Assmann, Aleida & Frevert 1999, S. 266f.; Classen 1999, S. 89). Dies hält Hickethier für den Grund dafür, dass "die Kritik und weite Teile des Publikums der Meinung waren, mit Holocaust werde erstmals im deutschen Fernsehen der Massenmord an den europäischen Juden gezeigt" (2003, S. 130). Filmszene aus der Serie "Holocaust - Die Geschichte der Familie Weiß". In der Mitte die amerikanische Schauspielerin Meryl Streep in ihrer Rolle als Inga Helms-Weiß. (© picture alliance / Keystone | Röhnert) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden im bundesdeutschen Fernsehen allenfalls durch Alain Resnais Dokumentarfilm Nacht und Nebel (1957) und die 8. Folge der 14-teiligen Dokumentation Das Dritte Reich mit dem Titel Der SS-Staat (1961) explizit thematisiert wurde (Classen 1999). In diesen Dokumentationen wird anhand der Bilder von unzähligen Toten das Ergebnis der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, nicht aber deren Prozesshaftigkeit dargestellt. Die Opfer verschwimmen hier zu einer anonymen, entindividualisierten Masse und gleichen nicht einzelnen Individuen mit je eigenen Lebensgeschichten. Im Gegensatz zu diesen Dokumentationen nahm Holocaust eine völlig andere und neue Perspektive auf die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen ein: Anhand einer fiktionalen Familiengeschichte werden in einer dramatischen Handlungsstruktur die Lebens- und Leidensgeschichten der Opfer durch die einzelnen Mitglieder der Familie Weiss personalisiert und so wird gleichzeitig die Prozesshaftigkeit der historischen Ereignisse vergegenwärtigt. 4. Die Produktion der deutschen Version von Holocaust Nachdem die amerikanische Fernsehgesellschaft ABC mit dem Sklavenepos Roots einen großen Erfolg erzielen konnte, gab ihr Konkurrent NBC 1976 die Herstellung einer Miniserie in Auftrag, die den Massenmord an den Juden im nationalsozialistischen Deutschland behandeln sollte. 1977 wurde Holocaust in Europa unter der Regie von Martin Chomsky nach einem Drehbuch von Gerald Green gedreht und im April 1978 in den USA ausgestrahlt, wo die Serie ca. 120 Millionen Zuschauer erreichte (Doneson 2002: 189; Thiele 2001: 298). In annähernd sieben Stunden behandelt die Fernsehserie das Leben und Schicksal von drei fiktiven deutschen Familien zwischen 1935 und 1945. Anhand der einzelnen Familienmitglieder soll der Holocaust exemplarisch dargestellt werden. Die jüdische Familie Weiss repräsentiert den kompletten jüdischen Leidensprozess. Mit ihr verbunden ist die Familie Helms, deren Tochter mit dem ältesten Sohn der Familie Weiss verheiratet ist. Die Familie Dorf – der arbeitslose Jurist Erik Dorf macht Karriere im Reichssicherheitshauptamt und ist unter anderem verantwortlich für die Planung und Verschleierung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen – repräsentiert die Familie eines Täters. 4.1 Ankauf und Ausstrahlung von Holocaust Der Programmdirektor des WDR, Heinz Werner Hübner, der Leiter des Programmbereichs Fernsehspiel, Externer Link: Günther Rohrbach, und der Fernsehdramaturg Externer Link: Peter Märthesheimer sahen eine Woche vor ihrer Ausstrahlung in den USA Videokassetten der Serie Holocaust. Sie nahmen unverzüglich Verhandlungen mit den Lizenzgebern auf und erwarben die Senderechte für rund 1 Million DM. Die Verantwortlichen des WDR mussten sich unmittelbar nach dem Ankauf der Rechte mit dem Vorwurf auseinandersetzen, sie hätten unter politischem Zwang durch die SPD gehandelt. Die drei SPD-Politiker Horst Ehmke, Georg Leber und Dietrich Stobbe erlebten die Ausstrahlung von Holocaust vom 16. bis 19.4.1978 und die daraufhin einsetzenden Reaktionen der Presse und der Zuschauer vor Ort in den USA. Die nicht erwartete Intensität der Zuschauerreaktionen und das große Ausmaß an Betroffenheit machten die Ausstrahlung von Holocaust in den USA zum "bedeutendsten Ereignis in der Präsentation des Holocaust im amerikanischen Fernsehen [und zu einem] Meilenstein des Holocaust-Bewusstseins in Amerika" (Shandler 1999, S. 155). Auf einer Vorstandssitzung der SPD am 24.4.1978 setzten die drei Politiker ihre Partei davon in Kenntnis und das SPD-Präsidium forderte daraufhin alle Parteimitglieder in den Aufsichtsgremien der Sender auf, sich dafür einzusetzen, "dass das deutsche Fernsehen sich diesen Film doch beschaffen möge". Heinz Werner Hübner wies den Vorwurf der politischen Einflussnahme auf die Entscheidung des WDR entschieden zurück und erklärte, dass es vielmehr Abgeordnete gab, "die sehr intensiv und zum Teil sogar massiv zu erreichen versuchten, dass dieser Film in der Bundesrepublik nicht ausgestrahlt wird". Die Kritik an dem Erwerb der Senderechte war groß und auch in der ARD gab es Befürworter und Gegner der Sendung. Bei der Abstimmung der ARD-Fernsehdirektoren im Sommer 1978 über den Sendeplatz von Holocaust stimmte nur eine knappe Mehrheit – 5 zu 4 Stimmen – für eine Ausstrahlung im Ersten Programm. Bei diesem knappen Votum war zu befürchten, dass sich einzelne Anstalten aus dem ARD-Gemeinschaftsprogramm ausblenden würden. So drohte z. B. der Direktor des Bayerischen Rundfunks, Helmut Oeller, mit der Ausblendung seiner Anstalt, wenn Holocaust im Ersten Fernsehprogramm ausgestrahlt werden sollte. Die Programmdirektoren der ARD kamen auf der Fernsehprogrammkonferenz in Bremen am 28. Juni 1978 schließlich zu einer Kompromiss-Lösung, die verhindern sollte, dass nur der WDR Holocaust ausstrahlen würde: Filmszene aus der Serie "Holocaust - Die Geschichte der Familie Weiß". In der Mitte die amerikanische Schauspielerin Meryl Streep in ihrer Rolle als Inga Helms-Weiß. (© picture alliance / Keystone | Röhnert) Zitat Der Film "Holocaust" [wird] – wahrscheinlich Anfang 1979 – innerhalb von zehn Tagen im Dritten Programm des WDR gesendet. Der WDR bietet den Landesrundfunkanstalten an, den Film "Holocaust" zeitgleich mit dem WDR in ihren Dritten Programmen auszustrahlen. Als die ARD Ende Oktober 1978 die Termine für die Ausstrahlung bekannt gab und deren Rahmenprogramm veröffentlichte, wurde in der Presse der Vorwurf laut, Holocaust würde in den Dritten Programmen und somit in der 'intellektuellen Ecke' versteckt. Der Kritik an der Ausstrahlung in den Dritten Programmen begegnete Heinz Werner Hübner mit dem ausdrücklichen Bezug auf die Ausstrahlung in Israel und die angenommenen Erwartungen an Deutschland aus dem Ausland. Die Verantwortlichen des WDR hielten es für sinnvoll, Holocaust in den Dritten Programmen zu platzieren, weil die Serie dort zum einen durch ein Rahmenprogramm angemessener präsentiert werden könne als im Ersten Programm, sie den Charakter einer Zwangsveranstaltung verliere und so leichter in die öffentliche Debatte gelangen könne (Märthesheimer 1979a, S. 50). 4.2 Motive des WDR für Ankauf und Ausstrahlung von Holocaust Die Motive des WDR für Ankauf und Ausstrahlung von Holocaust waren vielschichtig. Die grundlegende Frage, die sich den Verantwortlichen stellte, formulierte Günther Rohrbach: "in dem Augenblick, in dem Holocaust auf uns zukam (...) hatten [wir] nur die Wahl zu sagen: Wollen wir diesen Film aus Deutschland fernhalten oder wollen wir uns ihm (...) in irgendeiner Form doch stellen?" . Die Verantwortlichen entschieden sich für den Ankauf der Senderechte, weil Deutschland als Land des Holocaust als letztes die Berechtigung habe, an der Serie vorbeizugehen (Märthesheimer 1979b, S. 5). Holocaust wurde in über dreißig Länder verkauft und bereits im Herbst 1978 in Großbritannien, Israel und Belgien ausgestrahlt (Knilli & Zielinski 1982, S. 341). Der Europapremiere von Holocaust in Großbritannien schreiben Knilli und Zielinski (1982, S. 129) eine besondere Bedeutung für den weiteren Umgang mit der Serie in der Bundesrepublik zu, da sie sowohl von der deutschen Presse als auch von den Rundfunkanstalten aufmerksam beobachtet wurde. In Großbritannien und auch in Israel "fiel der Film bei der Fachkritik und einem Teil des Fernsehpublikums zwar durch, wurde aber wegen seiner erinnerungskulturellen (…) Relevanz überwiegend positiv aufgenommen" (Reichel 2004, S. 254). Die Verantwortlichen des WDR gelangten zu der Überzeugung, dass Deutschland bei der Ausstrahlung des weltweit vertriebenen Medienprodukts nicht abseits stehen könne, da gerade die Auseinandersetzung in der Bundesrepublik mit der Serie im Ausland registriert werden würde. So zeigte die amerikanische, britische und israelische Presse ihr Interesse an den Reaktionen in Deutschland bereits zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung in ihren Ländern (Marchart et al. 2003, S. 313). Nach Ansicht von Heinz Werner Hübner war eine Entscheidung gegen den Ankauf nicht zu begründen, denn Zitat man würde uns sicherlich nicht nur im Ausland (...) Feigheit vorwerfen, (…) der Auseinandersetzung auszuweichen, die Vergangenheit verdrängen (...), dass wir (…) über KZ-Prozesse (...) eigentlich mehr oder weniger hinweggegangen sind; dass man (…) nicht in der Lage ist und offenbar auch nicht allzu stark daran interessiert ist, einer größeren Schicht der Bevölkerung, einer größeren Zahl der Zuschauer bewusst zu machen. Diese Aussage deutet an, dass der Kauf der Senderechte und die Ausstrahlung eine Notwendigkeit gewesen zu sein scheint, um dem Vorwurf aus dem Ausland entgegenzutreten, die Deutschen wollten ihre Vergangenheit verdrängen und somit zunächst aus ihrem bloßen Vorhandensein und weltweiten Verkauf entstanden ist. Den antizipierten Vorwurf, dass das deutsche Fernsehen die nationalsozialistische Vergangenheit zu wenig thematisiert habe, wollte der Programmdirektor des WDR für sein Haus nicht akzeptieren. Günther Rohrbach, der Leiter des Programmbereichs Fernsehspiel des WDR, musste allerdings die Einschränkung machen, dass der Nationalsozialismus zwar in Hunderten von Fernsehbeiträgen in Einzelaspekten, nicht aber "in dieser Totalität" wie in Holocaust behandelt worden sei. Aus dieser Aussage lässt sich folgern, dass den WDR-Verantwortlichen bewusst war, dass das deutsche Fernsehen mit seinen Fernsehspielen und Dokumentationen bisher nicht das erreicht hatte, was die fiktionale Geschichte der Familie Weiss in den USA erreicht hat: und zwar ein Bewusstsein für die nationalsozialistischen Verbrechen zu schaffen. Für die WDR-Verantwortlichen war der Erwerb der Senderechte weiterhin sowohl eine politische als auch eine programmpolitische Entscheidung. Der Programmdirektor erklärte, sie hätten nicht den Anspruch "gewissermaßen stellvertretend so was wie die Vergangenheit aufzuarbeiten". Für Hübner und auch den Intendanten des WDR, Friedrich Wilhelm von Sell, erfüllte der WDR mit dem Erwerb der Senderechte und der Ausstrahlung von Holocaust vor allem den Informations- und Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten: Insbesondere junge Leute, die von den Ereignissen nichts oder wenig wissen und auch in der Schule kaum etwas darüber lernen, sollten informiert werden. Das Fernsehen könne dabei eine wichtige Rolle spielen, da es mit seinen Themen ein prinzipiell unendliches, disperses Publikum erreicht: Zitat Man muss es ["Holocaust", S.S.] beurteilen an der Ausstrahlung, die eine solche Serie weltweit hat, und man muss es in Beziehung setzen zu den Möglichkeiten, die die Massenmedien haben, mit ihren Filmen an die Massen, mit denen sie kommunizieren, heranzukommen. Insofern, würde ich sagen, müssen wir den Wert von "Holocaust" messen, an dem, was es an Anregungen, an Initialzündungen für eine Diskussion zu leisten in der Lage ist. Die Verantwortlichen des WDR verheimlichten aber auch nicht ihre Kritik an der US-amerikanischen Fernsehserie. Sie verwiesen darauf, dass sie einen Film über die nationalsozialistischen Verbrechen "vermutlich spröder, dokumentarischer, realistischer, genauer, kritischer und mit einem primär aufklärerischen Ziel produziert" hätten. Die amerikanische Produktion wurde kritisiert, weil sie den Holocaust in Form einer Spielfilmhandlung thematisiert und so Fakten und Fiktion vermische. Die Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus wurden bis zu diesem Zeitpunkt vorwiegend in Dokumentationen oder in Fernsehspielen bearbeitet, da vor allem diesen Fernsehformaten sowohl eine authentische und angemessene Darstellung der Ereignisse als auch eine aufklärerische Wirkung zugesprochen wurde. Die inhaltliche und ästhetische Kritik an Holocaust bezog sich auf die trivialisierte, personalisierte und dramatisierte Behandlung der geschichtlichen Ereignisse in Form einer Familiengeschichte, die von Günther Rohrbach als eine 'typisch amerikanische' identifiziert wurde und der er nicht zutraute, das geschichtliche Ereignis in seiner Komplexität abbilden und vermitteln zu können. Peter Märthesheimer sah dagegen das als 'typisch amerikanisch' bezeichnete Erzählmuster – Personalisierung der historischen Ereignisse und emotionale Darstellung ohne Berücksichtigung der Komplexität des Kontextes – in Holocaust durchbrochen, denn Zitat Autor, Regisseur und Produzent von Holocaust (...) machen nicht das individuelle Schicksal, sondern die historischen Etappen der Judenvernichtung zum Schwerpunkt des jeweiligen Films (…) und ordnen die Individuen gewissermaßen erst nachträglich der Veröffentlichung des Verbürgten zu. (1979b, S. 5) Die Verantwortlichen des WDR sahen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, die Serie verfälsche historische Tatsachen, und Peter Märthesheimer beklagte daraufhin, dass gegen die Darstellung der geschichtlichen Ereignisse in der Serie ein "ästhetischer Rigorismus ins Feld geführt" (1979a, S. 49) werde. Der verantwortliche Redakteur des WDR vertrat nicht nur die Ansicht, dass die Darstellung der Verbrechen des Nationalsozialismus in Holocaust den geschichtlichen Tatsachen entspräche, sondern auch, dass die Fernsehserie eine 'höhere Wahrheit' vermittle. Die ästhetische Kritik wurde von ihm als Ausweichmanöver vor der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gewertet, da Holocaust so als Ganzes in Frage gestellt werde. Sein Betrachtungsschwerpunkt lag also auf der von Holocaust geleisteten Darstellung des ganzen Komplexes nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. In dieser Position traten die historischen und ästhetischen Mängel hinter die "historische Wahrhaftigkeit" (Märthesheimer 1979a, S. 49) von Holocaust als weniger bedeutend zurück. Die Verantwortlichen sahen in dem Erwerb und in der Ausstrahlung also die Erfüllung des Informations- und Bildungsauftrags der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, da so die historischen Ereignisse kommuniziert werden könnten. Hübner erklärte, dass dieser Film dem deutschen Publikum zugemutet werden könne und müsse, weil er trotz seiner Mängel deutlich mache, "dass sich niemand aus der Verantwortung und aus der Geschichte seines Volkes stehlen kann". Diese Aussage zeigt, dass gesellschafts- und bildungspolitische Überlegungen ein wichtiges Motiv für die Entscheidung zur Ausstrahlung von Holocaust waren und bestimmte Erwartungen an diese geknüpft wurden. Die im Sommer 1978 beginnende Zusammenarbeit zwischen dem WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung kann als ein weiteres Indiz für vorhandene gesellschafts- und bildungspolitische Motive und Erwartungen der Verantwortlichen gewertet werden, denn Holocaust sollte nach deren Auffassung "kein Lehrstück, sondern [zum] Lernstück" für das deutsche Fernsehpublikum werden. 4.3 Zusammenarbeit von WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung Auch die Verantwortlichen der Bundeszentrale für politische Bildung erörterten im August 1978 die negativen und positiven Aspekte von Holocaust hinsichtlich ihrer politischen Bildungsarbeit. Ihre Bewertung entsprach im Wesentlichen derjenigen der WDR-Verantwortlichen: Die kritischen Aspekte wurden zum einen darin gesehen, dass die Serie eine kommerziell motivierte Produktion für das amerikanische Fernsehen sei und nicht vorrangig Ziele der politischen Bildung verfolge. Zum anderen wurde auch die Personalisierung der historischen Ereignisse kritisch bewertet, da so die Hintergründe und Gesamtzusammenhänge des historischen Ereignisses ausgespart würden. Als positiver Aspekt wurde vor allem die Ausstrahlung via Fernsehen hervorgehoben. Die Bundeszentrale für politische Bildung rechnete damit, dass dieser Film über den Holocaust ein breites Publikum erreichen würde (Ernst 1980a, S. 509). So wurden unter Hinweis auf die erwartete Breitenwirkung ästhetische und bildungspolitische Ansprüche relativiert. Tilman Ernst, Referent der Bundeszentrale für politische Bildung und vom WDR mit der Holocaust begleitenden Bildungsarbeit betraut, äußerte sich vor der Ausstrahlung dementsprechend optimistisch: Zitat Von meinem Standpunkt aus ergibt sich aber durch die enorme Popularität, die die Sendereihe (...) haben wird, eine geradezu unschätzbare Chance für pädagogisch verantwortliche Personen und Institutionen, das Bewusstsein für die damaligen Geschehnisse zu schärfen und aus ihnen auch für die heutige Situation zu lernen. (Ernst 1978, S. 82) Holocaust als 'Medienereignis' Die Fernsehverantwortlichen standen im Rahmen der Ausstrahlung von Holocaust unter einem nicht geringen Erfolgsdruck. Die Serie hatte viel Geld gekostet, sie ist in den USA die erfolgreichste Fernsehserie des Jahres 1978 gewesen und hatte dort trotz intensiver Informations- und Promotions-Kampagnen eine nicht vorhergesehene Intensität an Zuschauerreaktionen sowie ein nicht erwartetes Ausmaß an Betroffenheit ausgelöst (Marchart et al. 2003, S. 310). In der Bundesrepublik wurde "die ereignishafte Reaktion als das wesentliche Ereignis [wahrgenommen, die es] fortan zu wiederholen galt" (Marchart et al. 2003, S. 312). Für die Verantwortlichen bedeutete dies, dass sich der Erfolg der Serie in der Bundesrepublik auch an den Zuschauerzahlen, aber vor allem an dem Ausmaß der Zuschauerreaktionen würde messen lassen müssen. Dementsprechend standen erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Reaktionen der Zuschauer bei einer öffentlichen Thematisierung von Nationalsozialismus und Holocaust im Mittelpunkt des Interesses (Bergmann 1997, S. 361). Die Zuschauerreaktionen waren auch das Kriterium, das die Bundeszentrale für politische Bildung zum Ausgangspunkt ihrer Bewertung der Serie machte und an das sie ihre gesellschafts- und bildungspolitischen Überlegungen knüpfte, denn sie wollte nicht den Zitat Film "Holocaust" selbst, doch die Reaktionen breiter Teile der Bevölkerung auf ihn – und damit das Thema 'Vergangenheitsbewältigung' – [zur] Aufgabe begleitender Maßnahmen von Seiten [der] politischen Bildung [machen]. (Ernst 1980a, S. 509) Der WDR entwickelte für die Holocaust-Ausstrahlung ein für das deutsche Fernsehen beispielloses Begleit- und Rahmenprogramm, das die Serie didaktisch begleiten sollte (Märthesheimer 1979a, S. 50), und inszenierte sie so als ein umfassendes Medienereignis. Zwei eigens produzierte dokumentarische Features gingen der Ausstrahlung voraus, die das Erste Deutsche Fernsehen am 11.01.1979 und am 18.01.1979 jeweils um 20.15 Uhr ausstrahlte: Die 45-minütige Dokumentation Antisemitismus von Erhard Kloess, die die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland und Österreich vor 1933 behandelte und die 90-minütige Interner Link: Dokumentation Endlösung von Paul Karalus, die das Schicksal der Juden zwischen 1933 und 1945 thematisierte. Darüber hinaus berichtete diese Dokumentation über das Echo und die Wirkung der Serie in den USA, über die Betroffenheit der amerikanischen Zuschauer und zeigte bereits Ausschnitte aus Holocaust, welche durch Zeitzeugeninterviews ergänzt wurden. Die beiden Features sollten offensichtlich in ihrer dokumentarischen Art der Darstellung und Zeugenbefragung die Zuschauer über den historischen Hintergrund von Holocaust aufklären und somit den Bedenken gegenüber der folgenden individualisierten und emotionalen Fiktion entgegenwirken (Wilke 2005, S. 14; Weiß 2001, S. 78). Im Anschluss an jede Folge von Holocaust sollte eine Fernsehdiskussion stattfinden, um die Zuschauer – so Ivo Frenzel, Redakteur dieser Fernsehdiskussion – denen "ein hohes Maß an emotionaler Erschütterung zugemutet wird, zu so später Stunde nicht alleine zu lassen". In diese 'Anruf erwünscht'-Sendungen waren Historiker eingeladen, die zu historischen Fakten Stellung nehmen sollten, sowie bekannte Zeitzeugen, Soziologen und Psychologen, die darüber Auskunft geben sollten, "wie es möglich war, dass ein Volk wie das Deutsche diese Vorgänge so gründlich verdrängt hat". Die Zeitzeugen und Experten diskutierten über das Gesehene untereinander und mit Zuschauern, die per Telefon Fragen, Kommentare und Kritik einbringen konnten. So sorgte der WDR dafür, dass die einseitige Kommunikation zwischen Fernsehen und Zuschauern aufgehoben wurde. Dies ermöglichte vor allem, dass zum einen überhaupt erfahrbar wurde, wie Zuschauer direkt nach der Ausstrahlung auf Holocaust reagierten, welche Einstellungen und Meinungen sie äußerten und zum anderen, dass über Nationalsozialismus und Holocaust bundesweit öffentlich gesprochen und debattiert werden konnte (Kröll 1989, S. 113ff.). Notwendigkeit politische Bildungsarbeit Die Bundeszentrale für politische Bildung und die Landeszentrale Nordrhein-Westfalen produzierten Interner Link: umfangreiches pädagogisches Begleitmaterial, welches zum einen deren bildungspolitischen Absichten und zum anderen den Aspekt, dass die Rezeption von Holocaust nicht unbegleitet von staatlich-politischen Bildungsinstitutionen geschehen sollte, unterstreicht. Gemeinsam mit dem WDR konzipierten sie im Herbst 1978 eine dreistufige Begleituntersuchung; ausführendes Institut war die Marplan GmbH, Offenbach. Die Begleituntersuchung sollte in drei Untersuchungswellen – kurz vor, kurz nach und vier Monate nach der Ausstrahlung – die Reichweite und Wirkungsweise der Fernsehserie erforschen. Sie erhofften sich durch die Begleituntersuchung Aufschluss über bestimmte Wissens-, Meinungs- und Einstellungsstrukturen in der Bevölkerung im Blick auf den Nationalsozialismus, die Judenverfolgung und –ermordung (Magnus 1979a, S. 226). Für die Vertreter der Bundeszentrale für politische Bildung war ein genaueres Bild des Wissensstandes der Bevölkerung hinsichtlich ihrer Bildungsarbeit von großer Bedeutung, "um immer noch notwendig erscheinende Lernprozesse im Hinblick auf die NS-Zeit in Gang setzen zu können" (Ernst 1980a, S. 509). Sie gingen zum Zeitpunkt der Vorbereitung der Ausstrahlung von Holocaust davon aus, dass es in der Bevölkerung Defizite im Bereich des historischen Wissens über den Nationalsozialismus als auch in den Einstellungen zum Nationalsozialismus gäbe und sie mussten feststellen, dass die Erinnerung an Aspekte wie den Interner Link: Autobahnbau, die Bekämpfung der Interner Link: Arbeitslosigkeit oder die Interner Link: Olympischen Spiele 1936 in Berlin stärker war als die an Kriegsverbrechen und die Massenermordung der europäischen Juden (Ernst 1979a, S. 27 & 1979b, S. 77). Alarmiert durch den Verfassungsschutzbericht aus dem Jahr 1977 waren sie davon überzeugt, dass in der Bundesrepublik ein latenter Antisemitismus und steigende Fremdenfeindlichkeit verbreitet seien (Ernst 1978, S. 77f.). Der im Verfassungsschutzbericht konstatierte Anstieg rechtsextremistischer Straftaten ließ die Verantwortlichen zu dem Schluss kommen, das in der Bundesrepublik ansteigende rechtsextreme Tendenzen, insbesondere unter Jugendlichen, bestünden und dass ein Drittel der Bevölkerung zu rechtsextremen Auffassungen neige (Ernst o. J., S. 2). Ihnen stellte sich die Frage, "wie groß die Gruppe ist, die faschistischen Ideologien anhängen und den Faschismus lebensfähig halten" (Ernst 1979a, S. 26). Mit Besorgnis wurde die Aufsehen erregende Boßmann-Studie aus dem Jahr 1977 aufgenommen, die anhand von Aufsätzen von 10- bis 23-jährigen Schülern und Schülerinnen aller Schularten zeigte, dass die Defizite im Wissen von Jugendlichen über den Nationalsozialismus eine "bildungspolitische Katastrophe" (Boßmann 1977, S. 2) signalisierten. Dieser mangelhafte Wissensstand von Jugendlichen ließ die Verantwortlichen der Bundeszentrale für politische Bildung an der Wirkung des Geschichtsunterrichts und der Effektivität politischer Bildung zweifeln (Ernst 1979c, S. 231) und sie kamen zu dem Schluss, "dass pädagogische Bemühungen Bedingungen vorfinden, die die Vermittlung von historisch-korrektem Wissen nicht nur erschweren, sondern zum Teil sogar konterkarieren" (Ernst o. J., S. 8). Es war ein gemeinsames Anliegen der Bundeszentrale für politische Bildung und des WDR, das gegenwärtige Bild der nationalsozialistischen Vergangenheit zu korrigieren (Weiß 2001, S. 79). Die Thematisierung einer möglichen Mitschuld der deutschen Bevölkerung am Holocaust war für die erstrebte Etablierung einer veränderten deutschen Perspektive auf die historischen Ereignisse nach Ansicht der Verantwortlichen dringend erforderlich, denn zum politischen Zeitklima ab dem Jahr 1977 gehörte insbesondere die Debatte um die so genannte 'Hitlerwelle' und -nostalgie sowie die um die Nazi- und SS-Vergangenheit einiger deutscher Politiker (van Laak 2002, S. 184). Vor allem die seit Mitte der 1970er Jahre aufgekommene 'Hitlerwelle' habe ihrer Ansicht nach "einen Markt für den Nationalsozialismus durch zum Teil heroisierende und verharmlosende Publikationen, Filme und 'Dokumente' erschlossen, der gerade auch auf Jugendliche zielt" (Ernst 1980a, S. 510). Die Verantwortlichen sahen dagegen mit Holocaust die Chance gegeben, die Opfer der Gewaltverbrechen in den Mittelpunkt der Betrachtung der historischen Ereignisse zu stellen (Ernst 1978, S. 86ff.). Holocaust als 'Grundreiz' Die Verantwortlichen sahen mit der Holocaust-Ausstrahlung die Möglichkeit, die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen "sinnlich erfahrbar zu machen" (Ernst 1980a, S. 510) und betrachteten die Ausstrahlung der Serie als eine "wertvolle Chance pädagogischer Breitenwirkung" (Ernst 1979c, S. 230). Sie waren sich sicher, dass ein Anlass nötig war, um der Öffentlichkeit deutlich zu machen, wie wenig sie über den Holocaust wisse (Brandt 2003, S. 262). Besonders von der Zusammenarbeit mit dem Massenmedium Fernsehen versprachen sie sich eine Verbesserung der politischen Bildungsarbeit, da die Ausstrahlung von Holocaust ihrer Ansicht nach Zitat allen pädagogisch Verantwortlichen die Gelegenheit [gibt], Themen im Zusammenhang mit der Entstehung, den Untaten und den Konsequenzen des Nationalsozialismus aufzugreifen. Für diese Themenbereiche muss politische Bildung [nun] nicht mehr erst mühsam Interesse schaffen. (Ernst 1980a, S. 509-510) Tilman Ernst ging davon aus, dass die Serie "millionenfach ablaufende Diskussionen im alltäglichen Bereich" (1979c, S. 231) hervorrufen würde, da sie durch die Darstellung individueller Lebens- und Leidenswege die historischen Ereignisse für die Zuschauer greifbar mache (Ernst 1978, S. 85f.). Die von der Bundeszentrale für politische Bildung erwarteten Diskussionen in der Bundesrepublik gaben zum einen den Ausschlag für eine positive Bewertung der Ausstrahlung und zum zweiten sollten sie zur Grundlage für die Anstrengungen der politischen Bildungsarbeit gemacht werden. In dieser Hinsicht stellte Holocaust für sie den "exemplarischen Fall eines intensiven thematischen Angebots des Fernsehens [dar], das gesellschaftspolitische Interessen verfolgt" (Ernst 1979b, S. 74). Es wird deutlich, dass die Verantwortlichen von Wirkungen der Serie sowohl auf die Zuschauer als auch auf das Massenmedium Fernsehen ausgingen: Sie waren erstens davon überzeugt, dass trotz aller Detailkritik an der Serie eine Durchschlagskraft der Inhalte zu verzeichnen sei und weniger über den Film als über den Nationalsozialismus diskutiert werden würde. Für Ernst schaffte Holocaust die "unbedingt notwendige Sensibilisierung breiter Teile der Bevölkerung" (1979c, S. 231), um den Nationalsozialismus und seine Gewaltverbrechen im öffentlichen und privaten Raum zu thematisieren und die Auseinandersetzung über deren Bedeutung für die Gegenwart zu fördern. Zweitens gingen sie davon aus, dass durch die Ausstrahlung von Holocaust historisches Wissen in der Bevölkerung verbreitet werden könne. Und drittens nahmen sie an, dass das Rahmenprogramm und die Ausstrahlung der Serie Konsequenzen für die Konzeption von Produktionen des bundesdeutschen Fernsehens haben würden und so die Grundlage geschaffen würde, gesellschaftlich relevante Themen in Zukunft vermehrt über das Massenmedium Fernsehen transportieren zu können (Ernst 1979a, S. 27 & 1979c, S. 231). Auch Peter Märthesheimer sah in Holocaust einen Auslöser für einen explosiven Diskurs über die deutsche Vergangenheit in der Bundesrepublik: Zitat Wenn Einigkeit besteht darüber, dass unsere Gesellschaft ihre Vergangenheit reflektieren und diskutieren sollte, kann "Holocaust" verstanden werden als das, was Soziologen einen 'Grundreiz' nennen: einen Impuls, der Reflexion und Diskussion auslöst, Kontroversen in Gang setzt, in den Menschen etwas auslöst, das über das hinausreicht und vielleicht sogar vergisst, was der Impuls selbst war. (1979b, S. 5) Er erhoffte sich, dass in den Diskussionen weniger die Serie selbst, sondern deren Inhalte thematisiert werden könnten und die Diskussionen sich so den "spezifisch deutschen Bedingungen" (Märthesheimer 1979b, S. 5) der historischen Ereignisse zuwenden würden, um Hintergründe und Gesamtzusammenhänge der dargestellten Ereignisse thematisieren und auf die Folgen des Nationalsozialismus für die Gegenwart hinweisen zu können. Die Fokussierung der beteiligten Akteure auf die Reaktionen der Zuschauer erscheint hier besonders deutlich. Das Ausmaß der Zuschauerreaktionen nahm den besonderen Stellenwert in der Wirkungseinschätzung der Verantwortlichen ein, weil sie diese zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen hinsichtlich der Gestaltung der zukünftigen Zusammenarbeit zwischen dem Massenmedium Fernsehen und den Institutionen der politischen Bildung bei der Behandlung des Nationalsozialismus machten. Sie gingen zum einen davon aus, dass die Darstellung der historischen Ereignisse anhand der Geschichte von Individuen die "Voraussetzung für höchste Identifikation und höchste Emotion" (Märthesheimer 1979c, S. 16) der Zuschauer sei. Des Weiteren waren sie davon überzeugt, dass eben nur diese emotionale Betroffenheit erstens zu einer Reflexion der deutschen Geschichte führen könne und sie zweitens eine notwendige Voraussetzung für Meinungs- und Einstellungsänderungen hinsichtlich des Nationalsozialismus und seiner Gewaltverbrechen darstelle (Ernst 1979c, S. 236). Diese Annahmen erscheinen bedeutend, da sich in ihnen eine Rezeptions- und Wirkungseinschätzung der Serie in Bezug auf ein Massenpublikum ausdrückt: Die emotionalisierende Wirkung der Serie wird als wichtige Funktion für einen von den Verantwortlichen als notwendig erachteten Reflexionsprozess der Zuschauer über die historischen Ereignisse bewertet. 4.4 Die Veränderungen des US-amerikanischen Originals durch den WDR Die deutsche Version unterscheidet sich von der internationalen Fassung durch die vom WDR vorgenommenen Veränderungen. Diese betreffen die Vertauschung von Szenenfolgen, die Kürzung einer Erschießungsszene im Warschauer Ghetto und die Kürzung des Schlusses. Welches Bild der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen sollte durch die Veränderungen von Holocaust in der Öffentlichkeit betont werden und welche von den Akteuren für die Bundesrepublik als relevant betrachtete Darstellung des Holocaust sollte so etabliert werden? Vertauschte Szenenfolgen Im Verlauf der deutschen Fassung von Holocaust lassen sich im Vergleich mit der US-amerikanischen an drei Stellen Vertauschungen in den Szenenfolgen feststellen, woraus sich zwar keine inhaltlichen Veränderungen, jedoch sinngemäße Verschiebungen ergeben. Zunächst wurden in Folge II Szenen des Warschauer Ghettos vor die Darstellung einer Massenerschießung gesetzt. In Folge III wurde ein Gespräch von Karl Weiss mit einer Künstlerin über die Perfidität des Konzentrationslagersystems vor den Überfall jüdischer Partisanen auf ukrainische Miliz, in dessen Verlauf Rudi Weiss einen Milizionär erschießt, gestellt. Weiterhin wurde in Folge III die Folterung von Karl Weiss durch die SS vor Szenen gesetzt, in denen im Warschauer Ghetto die Erfolgsaussicht des jüdischen Widerstands diskutiert wird. In der deutschen Version sind im Gegensatz zur US-amerikanischen also zuerst die Szenen zu sehen, in denen das Schicksal, die Folterung und Ermordung der jüdischen Protagonisten thematisiert werden. Darauf folgen Sequenzen, in denen der jüdische Widerstand im Warschauer Ghetto diskutiert bzw. explizit gezeigt wird. Der Kontrast zwischen Leid und Ungerechtigkeit einerseits und Widerstand andererseits wird dargestellt, indem auf eine Folterszene eine Widerstandsszene folgt. Brandt folgert, dass die Verantwortlichen des WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung die Absicht hatten, durch die Vertauschung der Szenen von Folter und Widerstand auch "den Widerstand gegen Hitler und den Nationalsozialismus gerechtfertigt, ja sogar positiv erscheinen zu lassen" (Brandt 1999, S. 90). Dies erschien ihnen notwendig, da sie davon überzeugt waren, dass in weiten Teilen der bundesrepublikanischen Bevölkerung der Widerstand gegen den Nationalsozialismus nicht anerkannt war und sie so dessen Akzeptanz stärken wollten (Brandt 2003, S. 261), auch weil man in der Bundeszentrale für politische Bildung "überzeugt war, dass eine stärkere Akzeptanz des Widerstands gegen Hitler auch die Akzeptanz des demokratischen Systems (…) erhöhen würde" (Brandt 1999, S. 90). Durch diese Vertauschung der Szenenfolgen hätte der WDR somit den Versuch unternommen, mit formalen Veränderungen des US amerikanischen Originals eine von den Verantwortlichen als relevant betrachtete inhaltliche Sinnverschiebung vorzunehmen. Durch die Betonung der Notwendigkeit des Widerstands versuchten sie also den Rahmen der Erinnerung an den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik zu verändern und Bezüge zu aktuellen nationalen politischen Begebenheiten herzustellen (Brandt 1999 & 2003). Erklärungen und Begründungen für die Modifizierung der Szenenfolgen wurden von den WDR Verantwortlichen nie öffentlich geäußert und auch in den zugänglichen Holocaust-Produktionsakten lassen sich keine Hinweise darauf finden. Wenn davon ausgegangen wird, dass den Zuschauern durch die Modifikationen Leid und Unrecht vorgeführt und ihnen der darauf folgende Widerstand gegen dieses nahe gelegt wird, lässt sich das mit den politischen Bildungsabsichten und den gesellschaftspolitischen Interessen der Verantwortlichen in Einklang bringen. So äußerte sich Tilman Ernst zur Notwendigkeit, gegen den seit Mitte der 1970er Jahre wieder verstärkt aufkommenden Rechtsextremismus einzutreten, im Vorfeld der Holocaust-Ausstrahlung und betont: Zitat Auch heute müssen wir uns fragen, wie das Bewusstsein der Gesellschaft, insbesondere der Jugendlichen, beschaffen ist (…). [Es] ist die Annahme begründet, dass demokratische Prinzipien und die repräsentative parlamentarische Organisation von Entscheidungen in Zweifel gezogen werden. (1978, S. 76-77) Aus dem Filmmaterial ergibt sich zur Begründung der Veränderungen keine näher liegende Erklärung, denn auch ohne die vertauschten Szenenfolgen dürften das Unrecht und die Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus deutlich werden. Allerdings wird der notwendige und mögliche Widerstand gegen diese durch die Modifikationen stärker veranschaulicht und betont (Weiß 2001; Brandt 1999). Es kann demnach hier angenommen werden, dass der WDR mit Hilfe der vertauschten Szenen eine stärkere Bedeutung der Notwendigkeit des Widerstands für die Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Massenermordung der europäischen Juden in der Bundesrepublik produziert hat. Die Erschießungsszene In Folge II werden Berta und Josef Weiss gemeinsam mit anderen hinter einer Mauer im Warschauer Ghetto Zeugen der Hinrichtung einiger jüdischer Frauen. Vom WDR wurden in dieser Szene Schnitte vorgenommen, die zur Folge haben, dass sich die Erschießung der Frauen zwar aus den Bildern ergibt, jedoch nicht explizit in Bildern zu sehen ist. In der deutschen Version sind im Vergleich zur US-amerikanischen die Männer des Erschießungskommandos, die polnische Armeemäntel tragen, nicht beim Schuss zu sehen. Gegen die Überlegung, der WDR habe die Zuschauer mit den hier dargestellten Grausamkeiten verschonen wollen, sprechen einige andere Folter- und Erschießungsszenen, die dem Publikum in voller Länge präsentiert werden. Diese Szene ist die einzige, in der Gewaltverbrechen dargestellt werden und die vom WDR geschnitten wurde. Zu der Frage, warum der WDR diese Szene korrigiert und andere monierte Mängel nicht verändert hat, findet sich in den zugänglichen Produktionsakten nur wenig Material. Es ist anzunehmen, dass der WDR dem Vorwurf, die Serie verfälsche historische Tatsachen, entgegenwirken wollte, indem diese Szene gestrichen wurde (Brandt 1999, S. 90). Der WDR ließ Holocaust zur Überprüfung der korrekten Darstellung der historischen Ereignisse vom Münchener Institut für Zeitgeschichte untersuchen (Märthesheimer 1979b, S. 6) und die Szenen, in denen die polnischen Armeemäntel zu sehen sind, wurden als historisch unrichtig gekennzeichnet. So heißt es in einer internen Aktennotiz vom 21.11.1978, dass die Szene "wegen des objektiv unrichtigen und des historisch verfälschenden Charakters" geschnitten worden ist. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Betrachtung anderer Exekutionsszenen, an denen Wehrmachtssoldaten beteiligt sind. Es fällt auf, dass die in Holocaust gezeigte Beteiligung der Wehrmacht an der Massenermordung der europäischen Juden, die 1995 im Rahmen der Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der deutschen Wehrmacht 1941-1944 des Hamburger Instituts für Sozialforschung hitzige Debatten und massive Proteste hervorbrachte, in den Jahren 1978 und 1979 gänzlich unkommentiert geblieben und kritiklos hingenommen worden ist. Die Tatsache, dass diese Aussage die Zuschauer nicht empört hat, zeigt, dass Erinnern immer gegenwartsbezogen ist und immer innerhalb der Bedeutungsrahmen der jeweiligen Gegenwart konstruiert wird (Brandt 1999, S. 91). Die Aussage hat die Zuschauer demnach nicht empört, weil im Jahr 1979 erstmals nicht die Befindlichkeit der Mitglieder der 'Tätergesellschaft' im Mittelpunkt einer Darstellung der nationalsozialistischen Vergangenheit stand, sondern das Schicksal der Opfer rassischer Verfolgung (Uhl 2003, S. 160). Der gekürzte Schluss Die deutsche Fassung von Holocaust ist im Vergleich zur US-amerikanischen um ca. sieben Minuten kürzer. Die letzten drei Szenen der Originalversion wurden vom WDR geschnitten. In diesen begegnet Rudi Weiss – der einzige Überlebende der Familie Weiss – seiner Schwägerin Inga Helms-Weiss, die nach England auswandern will, und deren Sohn wieder. Rudi Weiss begleitet eine Gruppe griechisch-jüdischer Kinder nach Palästina und die Schlussszene der US-amerikanischen Fassung zeigt einen lachenden Rudi Weiss, der mit den Kindern Fußball spielt. Mit dem Aufbruch Rudis nach Palästina präsentiert die US-amerikanische Fassung die Massenermordung der europäischen Juden "als faktischen Ursprung des Staates Israel" (Weiß 2001, S. 78). Mit dieser Szene endet die internationale Version von Holocaust, die in der Bundesrepublik ausgestrahlte hat dagegen eine andere Schlusssequenz, die durch die Kürzungen des WDR produziert wurde. Wurden die Kürzungen vorgenommen, weil das Ende der Originalversion mit dem Standbild des lachenden Rudi von den Verantwortlichen aus deutscher Perspektive vor allem als "unangemessen empfunden" wurde? Die Schlussszene der deutschen Fassung zeigt ein Gespräch zwischen Kurt und Marta Dorf, in dem er ihr und ihren Kindern das verbrecherische Handeln Eriks zu vermitteln versucht. Die Rede von Kurt Dorf zeigt den eindringlichen Aufruf an Marta, die Taten ihres Mannes nicht zu verklären und ihn nicht zum Helden zu stilisieren. Für das deutsche Publikum endet Holocaust mit einer Selbstanklage von Kurt Dorf. Dieser hatte in den besetzten osteuropäischen Ländern als Straßenbau-Ingenieur von den nationalsozialistischen Verbrechen profitiert, jedoch gegenüber seinem Neffen Erik auch Kritik an der Behandlung der Juden geäußert. Kurt Dorf sagt in der Schlussszene im Rückblick auf die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen: "Ich habe mit angesehen, was passiert ist, und nichts dagegen getan. Wir müssen erkennen, dass wir uns alle schuldig gemacht haben." Die Verantwortlichen des WDR waren davon überzeugt, dass die Massenermordung der europäischen Juden von der Bevölkerung der Bundesrepublik bisher weitgehend verdrängt wurde. Das Ende der US-amerikanischen Version wurde unter dem Aspekt der gebotenen Reflexion des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik von ihnen als nicht förderlich empfunden, weil es zu optimistisch sei und so den Gesamteindruck der Serie gefährdet hätte (Brandt 1999, S. 90). Durch die Kürzungen des WDR ist eine neue Schlusssequenz entstanden, in der durch die Selbstanklage Kurt Dorfs eine Einsicht formuliert wird, mit der Holocaust in der Bundesrepublik "offensichtlich rezipiert werden sollte" (Weiß 2001, S. 78). So gibt ein internes Schreiben aus Peter Märthesheimers Sekretariat das entscheidende Motiv der Verantwortlichen für die Kürzung des Schlusses an: Zitat Die Schlusssequenzen sind vom WDR gestrichen worden, weil wir (…) der Meinung waren, dass die Szene zwischen Onkel Kurt und Marta Dorf, in der ja auch die für unser Land so zentrale Frage der Mitschuld thematisiert wird, das angemessenere und wirkungsvollere Ende sei. (Sekretariat Märthesheimer, 8.2.1979, zitiert nach Brandt 2003, S. 260) Die Verantwortlichen haben sich aus gesellschafts- und bildungspolitischen Motiven für die Kürzung des Schlusses der US-amerikanischen Version entschlossen und um die dargestellten Ereignisse dem nationalen Rahmen anzupassen. Sie hatten die Absicht, eine von ihnen für die Bundesrepublik als relevant betrachtete Darstellung der historischen Ereignisse anzubieten: Zumindest im Rückblick auf die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen sollte die Schuldfrage auf die "ordinary men in der NS-Zeit" (Uhl 2003, S. 160; Hervorhebung im Original) gerichtet und die Reflexion von Mitschuld und Verantwortung thematisiert werden. Es wird zum einen deutlich, dass die Ausstrahlung für die Verantwortlichen einen Test darstellte, inwiefern eine emotionale, fiktionale Fernsehserie zur Förderung des erwünschten politischen Bewusstseins der Bevölkerung beitragen kann. Zum zweiten werden nochmals die gesellschafts- und bildungspolitischen Intentionen, die die beteiligten Akteure der Bundeszentrale für politische Bildung und des WDR mit der Holocaust-Ausstrahlung verbunden haben, verdeutlicht: Denn wie Peter Märthesheimer in einem Schreiben an Günther Rohrbach vom 08.05.1978 formulierte, sollte "der Kritik und den Zuschauern immer klar sein, dass es sich hier (Holocaust, S.S.) um ein einzigartiges politisches Programm handelt und nicht um eine übliche, mehr oder weniger gute Fernsehserie". 5. Die Rezeption von Holocaust In der bundesdeutschen Presse setzte die Ausstrahlung von Holocaust in den USA eine publizistische Kontroverse in Gang. Publizistische Kontroversen über eine ästhetisch-künstlerische Repräsentation des Holocaust können als Wertkonflikte verstanden werden, in denen um die Legitimität widersprüchlicher und kontroverser Vergangenheitsdeutungen gestritten wird. In diesen öffentlichen Auseinandersetzungen wird deutlich, dass Printmedien eigenständige erinnerungskulturelle Akteure sind. (Thiele 2001, S. 138; Naumann 1998, S. 17). 5.1 Presseberichterstattung Die Berichterstattung zu Holocaust begann in der bundesrepublikanischen Presse mit einigen wenigen Berichten vor deren Ausstrahlung vom 16. bis 19. April 1978 in den USA. Berichtet wurde vor allem über die Begleitmaßnahmen und Informationsmaterialien, die von den jüdischen Gemeinden, Kirchen und Schulen in den USA angeboten wurden. Die ersten Urteile über die Serie waren wohlwollend, gleichwohl wurde auch zum ersten Mal von einem kommerziellen, trivialen Handlungsverlauf der Serie gesprochen. Die ersten Meldungen der Nachrichtenagenturen zur Ausstrahlung von Holocaust in den USA übermittelten positive und negative Zuschauerreaktionen. Am 19. und 20.04.1978 berichteten nahezu alle namhaften deutschen Tageszeitungen über die Ausstrahlung, wobei vor allem die hohen Einschaltquoten, die Kritik an den Werbeunterbrechungen und die von deutschen Diplomaten in den USA und deutschen Politikern befürchteten antideutschen Reaktionen thematisiert wurden. Dabei bleiben diese ersten Meldungen und Berichte im Wesentlichen in ihren Bewertungen der Serie neutral. Elie Wiesels moralisch-ästhetische Kritik als erster Trendsetter Im Anschluss an eine – vom Holocaust-Überlebenden und Bostoner Historiker Elie Wiesel am 16.4.1978 in der New York Times formulierte – moralisch-ästhetische Kritik an Holocaust etablierte sich dann allerdings schnell eine negative Beurteilung der Serie. Wiesel erhob den Vorwurf, die Serie beleidige die Opfer und trivialisiere die historischen Ereignisse. Durch die Verknüpfung von Fiktion und historischen Fakten könne die Glaubwürdigkeit des historischen Ereignisses in Frage gestellt werden. Er verneinte die grundsätzliche Frage nach der Darstellbarkeit des Holocaust, da sich dieser jeder Vorstellungskraft entziehe. Seiner Ansicht nach ist Holocaust nicht ausreichend authentisch und wird somit der Singularität des Holocaust nicht gerecht. Insbesondere Sabina Lietzmanns Artikel in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.4.1978 wird als Trendsetter für die ablehnende Bewertung von Holocaust in der weiteren bundesdeutschen Berichterstattung eingestuft (Gast 1979, S. 3; Siedler 1984, S. 146). Sie begründete die Produktion von Holocaust mit dem kommerziellen Erfolgsdruck der Fernsehgesellschaft NBC und beklagte die Vermischung von Fakten und Fiktionen als unangemessen. Lietzmann votierte für die Verwendung von Dokumentationen zur Vermittlung historischer Ereignisse. Ihr Beitrag wirkte meinungsbildend auf die weitere bundesdeutsche Presseberichterstattung und die Serie wurde von fast allen Zeitungen abgelehnt (Bergmann 1997, S. 353): Die Ablehnung der Serie beruhte vor allem auf ihrer Konstruktion als Familiendrama, die ihr den Vorwurf der Trivialisierung der Massenermordung der europäischen Juden einbrachte. Aufgrund der ihr zugeschriebenen Unterhaltungsfunktion wurde sie als Medium der historisch-politischen Aufklärung abgelehnt, gemessen wurde sie dabei vorrangig an dem Objektivitätsanspruch rein dokumentarischer Darstellungen, denen allein ein aufklärerisches Potential zugeschrieben wurde (Gast 1979, S. 3ff. & 1982, S. 356f.; Siedler 1984, S. 144ff.). Im Mittelpunkt der Berichterstattung stand in dieser frühen Phase also nicht das historische Ereignis, sondern seine Darstellung. Die negative Einschätzung der Serie zeigt sich auch an der Kritik von Publizisten, Politikern und Programmverantwortlichen nach der Bekanntgabe des Ankaufs der Serie und der geplanten Ausstrahlung durch den WDR am 25. April 1978. Die behauptete Einflussnahme von politischen Parteien, die Ankaufmodalitäten, die Frage, ob Holocaust in Deutschland überhaupt ausgestrahlt werden solle sowie die Programmplatzentscheidung wurden kontrovers diskutiert. Rückblickend bewertet Schoeps die Berichterstattung der folgenden Monate als eine Stimmungsmache gegen Holocaust (1979, S. 226). Zuschauerreaktionen in den USA und England leiten Tendenzwende ein Ab Herbst 1978 zeichnete sich in der bundesdeutschen Presseberichterstattung eine Tendenzwende ab. Als maßgeblich für die "signifikante Einstellungsänderung" (Marchart et al. 2003, S. 312) gilt der Artikel von Karl-Heinz Bohrer zur Reaktion auf die Ausstrahlung in England und die daran anschließende 'Selbstkritik' von Sabina Lietzmann (Gast 1982, S. 356). Bohrer beurteilte die Emotionalisierung der Zuschauer durch die Serie positiv und thematisiert so erstmals in der deutschen Debatte um Holocaust massenmediale Wirkungszusammenhänge. Sabina Lietzmann kommt zu dem Schluss, eine fiktionale Darstellung der historischen Ereignisse angesichts der positiven Reaktionen der amerikanischen Öffentlichkeit akzeptieren zu können, wenn es um die Wahlmöglichkeit gehe, entweder keine Information oder Information durch Unterhaltung zu vermitteln. Die Tendenzwende in der bundesdeutschen Berichterstattung geht also vorrangig auf die Beobachtung der Massenwirksamkeit von Holocaust in den USA und in England zurück: Die Betroffenheit des amerikanischen und englischen Publikums wurde als das wesentliche Ereignis aufgenommen und die "aufklärerische Wirkung [wurde] nicht an der Qualität der Information, sondern an der Intensität der Betroffenheit" (Marchart et al. 2003, S. 313) gemessen. Die ästhetischen Bedenken gegenüber der Serie traten in den Hintergrund und die fiktionale Darstellung der historischen Ereignisse wurde nun im Hinblick auf die Vermittlung derselben positiv eingeschätzt. So stand die Spekulation über die möglichen Reaktionen des deutschen Publikums ab Herbst 1978 im Mittelpunkt des Interesses und wurde zu dem Thema der Presseberichterstattung (Marchart et al. 2003, S. 312ff.). Der endgültige Meinungsumschwung hin zu einer uneingeschränkt positiven Bewertung der Serie fand nach dem Presseseminar des WDR (11./12. Januar 1979) statt: Die Serie wurde jetzt nahezu ausschließlich in ihren massenkommunikativen Wirkungszusammenhängen beurteilt (Gast 1979 & 1982). Unmittelbar vor der Ausstrahlung war die Argumentation also unter einem pädagogischen Blickwinkel von der Überzeugung bestimmt, dass die ästhetischen Mängel und die Mängel in der historischen Detailgenauigkeit in Kauf zu nehmen seien. Denn da die Hälfte der deutschen Bevölkerung keine eigenen Erinnerungen mehr an den Nationalsozialismus habe, sei die Serie für sie der einzige nachvollziehbare und empathische Zugang zu den historischen Ereignissen. Das Ende der deutschen Fassung wurde als eine neue Perspektive auf die historischen Ereignisse in der Bundesrepublik beurteilt, die die Zuschauer als eine "neue Erinnerung" treffe. Den Zuschauern wurde die Rezeptionshaltung suggeriert, dass sie mit Holocaust etwas 'Wahres' über die historischen Ereignisse erfahren werden. Berichterstattung während und unmittelbar nach der Ausstrahlung In der Sendewoche wurde unter einem pädagogischen Blickwinkel die aufklärerische Wirkung von Holocaust endgültig zum dominanten Thema der Berichterstattung (Bergmann 1997, S. 355f.; Gast 1982, S. 357). Mit den von Folge zu Folge ansteigenden Zuschauerzahlen und Zuschaueranrufen beim WDR, in denen die emotionale Erschütterung und Betroffenheit, aber auch die Unkenntnis der Anrufer über die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen deutlich wurde (Reichel 2004, S. 258), wurde in der Berichtserstattung die "zunächst nur vage Vermutung zur Gewissheit, dass nämlich der Film die Deutschen ins Mark getroffen hatte." (Wippermann 1979, S. 28). Die weiterhin existierende Kritik an der ästhetischen Gestaltung von Holocaust wurde in den Hintergrund gedrängt, als erkennbar wurde, dass Zuschauer aus allen Alters- und Bildungsgruppen erreicht worden sind. Während der Ausstrahlung dominierte die in dieser Größe und Form unerwartete Resonanz der Zuschauer die Diskussion. Der Erfolg der Serie wurde dementsprechend an den Zuschauerzahlen und der seelischen Betroffenheit der Zuschauer festgemacht (Bergmann 1997, S. 357), die auch als Ausdruck der Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit interpretiert wurde. Holocaust wurde durchaus zugetraut, der konstatierten Verdrängung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und des Holocaust entgegenzuwirken und die nötig befundene Aufklärung leisten zu können. Nach der Ausstrahlung setzte sich endgültig die Berücksichtigung der Chancen, die eine breitenwirksame TV-Serie der historischen Aufklärung ermöglichen kann, durch. Konstatiert wurden große Versäumnisse bei der Vermittlung von Fachwissen an eine breite Öffentlichkeit. Durch die Fokussierung auf individuelle Schicksale bei der Darstellung der historischen Ereignisse seien die Deutschen jetzt über die Massenermordung der europäischen Juden so ins Bild gesetzt worden, dass Millionen erschüttert und aufgerüttelt wurden. Die emotionalisierende Wirkung und das somit ausgelöste Interesse wurden nun also als Stärke und Verdienst der Serie betrachtet, wobei ihre Wirkung aber nicht ausschließlich ihren immanenten Eigenschaften, sondern vor allem der besonderen Rezeptionsbereitschaft des deutschen Publikums zugeschrieben wurde. Schließlich bezog sich der Großteil der erscheinenden Berichte und Meldungen auf die nunmehr angestoßene Aufarbeitung der Vergangenheit (Müller-Bauseneik 2005, S. 131), so dass in der Presseberichterstattung "letztlich die 'Vergangenheitsbewältigung' der letzten dreißig Jahre in der Bundesrepublik zur Debatte" (Bergmann 1997, S. 357) stand. 5.2 Zuschauerrezeption Szene aus der US-amerikanischen Fernsehserie "Holocaust": Adolf Eichmann (rechts, gespielt von Tom Bell) und Erik Dorf (gespielt von Michael Moriarty) besprechen die "Lösung der Judenfrage". (© picture-alliance/dpa) Die Einschaltquoten von Holocaust sowie der folgenden 'Anruf erwünscht'- Sendungen stiegen kontinuierlich an und die Serie erreichte Zuschauer aus allen Alters- und Bildungsgruppen: Schätzungsweise hat jeder zweite Erwachsene Holocaust gesehen (Magnus 1979b, S. 79f.). Die deutliche Mehrheit der spontanen Zuschauerreaktionen – Zuschaueranrufe zu 'Anruf erwünscht' und Briefe an den WDR – befürwortete die Serie (Brauns-Clemens & Vollmann o. J., S. 78), wobei insbesondere die Identifikationsmöglichkeiten mit den Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen und die Fokussierung auf die systematische Massenermordung der europäischen Juden bei der Darstellung des Nationalsozialismus positiv bewertet wurden. In den ablehnenden Stellungnahmen wurde vor allem auf die Bombardierung durch die Alliierten verwiesen und diese den nationalsozialistischen Verbrechen gegenübergestellt. Auch wurde gefordert, das nationalsozialistische Kapitel der deutschen Geschichte endlich zu vergessen (Brauns-Clemens & Vollmann o. J.; Lichtenstein 1982). Das Informationsdefizit über den Massenmord an den europäischen Juden entwickelte sich zu einem zentralen Fragenkomplex, besonders hingewiesen wurde zudem auf die Diskussionen innerhalb der Familien (Schoeps 1979, S. 228). Auffällig sind die vielen, durch Holocaust angestoßenen, eingehenden Erlebnis- und Erfahrungsberichte, in denen Verbrechen aus der Kriegszeit mit zum Teil präzisen Zeit- und Ortsangaben erinnert wurden (Lichtenstein & Schmid-Ospach 1982, S. 81ff.). In einer Untersuchung von Leserbriefen zeigte sich, dass mehr als die Hälfte aller Zuschriften Stellung zur Zeit des Nationalsozialismus nahmen und die emotionale Darstellungsweise unter dem Aspekt der Informationsvermittlung und der Vergangenheitsbewältigung als positiv beurteilten (Gast 1979 & 1982). Die Marplan Forschungsgesellschaft führte im Auftrag des WDR ab Herbst 1978 eine dreistufige Begleituntersuchung zu Wissens-, Einstellungs- und Meinungsstrukturen zum Nationalsozialismus und Antisemitismus durch. (Weichert 1980; Magnus 1979a). Die ermittelten Ergebnisse werden aber nicht nur den immanenten Eigenschaften der Serie, sondern dem 'Gesamtprogramm' – dem pädagogischen Begleitprogramm, der Presseberichterstattung und Holocaust – zugeschrieben (Reichel 2004, S. 253ff.; Magnus 1979b, S. 78; Ernst 1979c, S. 235). Das Publikum von Holocaust setzte sich vorrangig aus jüngeren, formal höher gebildeten und politisch stärker interessierten Personen zusammen, aber auch für die Gruppe der politisch Desinteressierten wurde eine relativ hohe Sehbeteiligung ermittelt (Ernst 1980a, S. 511f.; Magnus 1979b, S. 80). Aus den Ergebnissen der Begleituntersuchung lässt sich ableiten, dass die Serie als authentisch und glaubwürdig wahrgenommen wurde und eine große emotionale Betroffenheit bei den Zuschauern auslöste. Aufgrund ihres hoch bewerteten Informationswerts führte die Serie zu einem subjektiv wahrgenommenen Wissenszuwachs bei einer Mehrheit der Befragten. Holocaust stellte einen Grundreiz dar, sich über die historischen Ereignisse zu informieren und Diskussionen innerhalb und außerhalb der Familie zu führen. Der Nationalsozialismus wurde nach der Ausstrahlung von den Zuschauern stärker negativ charakterisiert und die Zeit des Nationalsozialismus stärker negativ eingeschätzt, als dies vor der Ausstrahlung der Fall war. Zumindest kurzfristige Meinungsänderungen bezüglich antijüdischer Stereotype, der moralischen Verpflichtung zur Wiedergutmachung und der Mitschuld wurden verzeichnet; vermehrt wurde der Widerstand gegen den Nationalsozialismus akzeptiert und die weitere Verfolgung von NS-Verbrechen befürwortet (Ernst 1979c, S. 236ff. & 1980a, S. 525f.). Ingesamt zeigen die Ergebnisse der dritten Befragungswelle 14 Wochen nach der Ausstrahlung, dass die Kurzzeiteffekte in der Tendenz stabil blieben, wobei vor allem der Wissenszuwachs von den Befragten weiterhin positiv eingeschätzt wurde (Ernst 1979f & 1980b). So wird dem Medienereignis Holocaust gemeinhin attestiert, bei den Zuschauern mindestens kurzfristige Meinungsänderungen ausgelöst zu haben, zu deren zeitlicher Stabilität jedoch unterschiedliche Einschätzungen vorliegen (Bergmann & Erb 1991, S. 15; Schmidt-Sinns 1991, S. 10; Bergmann 1997, S. 373). Zusammenfassend lässt sich zum einen festhalten, dass in der Presseberichterstattung ein Umschwung in der Beurteilung der Serie von Ablehnung bis hin zu fast enthusiastischer Zustimmung stattgefunden hat. Zum anderen wurden die Zuschauer durch den pädagogischen Blickwinkel der Presseberichterstattung zu einer Rezeptionshaltung angeleitet, in deren Fokus die Betroffenheit angesichts der individuellen Schicksale stand. Die Ästhetik der Serie wurde von den meisten Kritikern abgelehnt, bis die große Zuschauerresonanz deutlich machte, dass gerade die personalisierte, dramatisierte und emotionalisierte Erzählweise uninformierte Zuschauer mit einer Thematik konfrontieren konnte, die bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen Weg in das öffentliche Bewusstsein der Bundesrepublik gefunden hatte: dem Holocaust und dem individuellen Schicksal der Opfer rassischer Verfolgung. Die Quantität und Qualität der Berichterstattung zeigt, dass mit Holocaust nicht nur eine Fernsehserie zur Debatte stand, "sondern ein kulturpolitisches Ereignis von historischer Tragweite" (Gast 1979, S. 2; Hervorhebung im Original). Über dieses wurde inhaltlich und thematisch äußerst umfangreich und vielschichtig berichtet, so dass Personen mit den Themen Nationalsozialismus und Holocaust konfrontiert werden konnten, die eine künstlerische Auseinandersetzung auf einem hohen ästhetischen und intellektuellen Niveau bis dahin nicht erreicht hatte (Markovits & Hayden 1980, S. 78; Huyssen 1980, S. 135f.). Dieser Erfolg der Serie beim Publikum wird als Auslöser für eine ganze Reihe von Reaktionen in den Massenmedien, im politischen System, in Schulen und der politischen Bildung gesehen. Rückblickend wurden die gesamten öffentlichen Reaktionen als Bereitschaft interpretiert, "sich der deutschen Schuld für die Vernichtung der europäischen Juden zu stellen" (Wilke 2005, S. 9). 6. Die erinnerungskulturelle Funktionalisierung von Holocaust Mit der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust traf 1979 eine audiovisuelle Darstellung des Nationalsozialismus, die die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in den Mittelpunkt stellt, als eine quasi externe Intervention in die bundesdeutsche Erinnerungskultur. Bis zu diesem Zeitpunkt blieb die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik allenfalls auf die Tätergesellschaft beschränkt, die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen blieben anonym und die Frage nach der Mitschuld von breiten Bevölkerungsschichten beim Holocaust spielte keine Rolle. Konfrontiert mit einer weltweit vertriebenen Repräsentation eines spezifisch nationalen, nämlich US-amerikanischen kulturellen Gedächtnisses, welches die jüdische Opferperspektive hervorhebt, veränderte der WDR in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung die US-amerikanische Originalversion gemäß subjektiv empfundener, zeitspezifischer Bedürfnisse und passte sie den gruppenspezifischen, also den nationalen bundesdeutschen Bedeutungsrahmen an. Die Verantwortlichen des WDR stellten eine deutsche Version für ein deutsches Publikum her, dem sie bestimmte soziale Eigenschaften zuschrieben: einen mangelhaften Wissensstand über den Nationalsozialismus, eine stärkere Erinnerung an 'positive' Rechtfertigungsklischees als an die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und rechtsextreme Einstellungen sahen sie insbesondere unter Jugendlichen weit verbreitet. Die vorgenommenen Veränderungen und das pädagogische Begleitprogramm reflektieren die erinnerungskulturelle Funktionalisierung der Serie. Durch dieses Erinnerungsereignis sollten die Gewaltverbrechen in der bundesdeutschen Erinnerungskultur verankert und die Opfer in den Fokus der Vergegenwärtigung des Nationalsozialismus gestellt werden. Zum einen sollte durch die Vertauschung von Szenenfolgen die Legitimität und Notwendigkeit des Widerstands stärker veranschaulicht werden. Zum anderen wird mit der Selbstanklage, mit der die deutsche Version endet, ein Rezeptionsangebot geschaffen, welches die spezifisch deutsche Täterschaft und eine klare Wertperspektive auf die Reflexion der historischen Ereignisse betont. Damit wird die Mitschuld und Verantwortung größerer Teile der Bevölkerung zumindest im Rückblick thematisiert und die Schlusssequenz bietet so einen neuen Aspekt in der Vergegenwärtigung von Nationalsozialismus und seinen Gewaltverbrechen. Die verantwortlichen Akteure des WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung sahen in der Ausstrahlung von Holocaust folglich die Erfüllung ihres Informations- und Bildungsauftrags und im Zentrum ihrer Bemühungen stand letztendlich die Veränderung des kollektiven Wissensbestands über den Nationalsozialismus und den Holocaust. Aufgrund dieser Motive nahmen sie nicht nur Veränderungen an der US-amerikanischen Originalversion vor, sondern entwickelten ein pädagogisches Rahmenprogramm, was gewährleisten sollte, dass die Rezeption von Holocaust nicht ohne Begleitung durch bildungspolitische Institutionen erfolgt. Dabei bestehen zunächst erhebliche Vorbehalte der Verantwortlichen gegen die Serie, die vor allem aus der Darstellung der historischen Ereignisse anhand einer fiktionalen Familiengeschichte, die die Ereignisse personalisiert, und dem emotionalisierten und dramatisierten Handlungsverlauf resultierten. Aufgrund dessen war eine mögliche aufklärerische Wirkung der Serie von ihnen und in der Presse zunächst umstritten. Wegen der enormen Zuschauerresonanz in den USA und England wurde die personalisierte und emotionale Darstellung aber bald als Stärke der Serie eingestuft, da sie als eine Voraussetzung für die Identifikation der deutschen Zuschauer mit den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen gewertet wurde. Die Verantwortlichen des WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung erwarteten, dass die Serie Diskussionen im alltäglichen Bereich über die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen auslösen würde, die sie in der Öffentlichkeit als bisher verdrängt betrachteten. Diese Diskussionen sollten den Ausschlag für ihre Bewertung der Serie geben und auch die Grundlage für weitere politische Bildungsarbeit bilden. In der Presseberichterstattung etablierte sich ein pädagogischer Blickwinkel auf die Serie, in welchem der personalisierten und emotionalisierten Darstellung ein erzieherischer Wert zugesprochen wurde, da diese eine Möglichkeit zur Identifikation mit den Opfern bietet. Holocaust wurde letztendlich zugetraut, Aufklärung über die historischen Ereignisse leisten zu können. Dementsprechend rückten die Zuschauerreaktionen in den Fokus der Berichterstattung, die spätestens während der Ausstrahlung zum eigentlichen Ereignis wurden. Bewertet wurde die Serie also als ein erinnerungskulturelles Instrument und nicht als ein unterhaltendes Medienprodukt. Durch die Diskussionen im Vorfeld, die Presseberichterstattung und das pädagogische Rahmenprogramm definierten Rundfunkverantwortliche, Politiker und Journalisten in öffentlichen Auseinandersetzungen die Ausstrahlung der Serie als ein erinnerungskulturelles Ereignis, durch das eine neue Perspektive auf den Nationalsozialismus und seine Gewaltverbrechen vermittelt wird. Diese Rezeptionshaltung wurde auch den Zuschauern suggeriert. Dass die Serie trotz ihrer Fiktionalität und Emotionalisierung von den Zuschauern als authentisch und damit als glaubwürdig eingeschätzt wurde, lässt annehmen, dass die Serie eher als historische Dokumentation denn als reine Unterhaltungssendung rezipiert wurde, was der suggerierten Rezeptionshaltung entsprach. Die Wirkung auf das Publikum bestand zum einen in emotionaler Betroffenheit, wodurch ein Interessenschub für das Thema Nationalsozialismus und Holocaust ausgelöst wurde. Die Fernsehserie als Repräsentation des kulturellen Gedächtnisses konnte das kommunikative Gedächtnis anregen, indem sie Diskussionen in Familien und Bekanntenkreisen anstieß. Zum anderen kam es vor allem bei jungen Zuschauern zu einem subjektiv wahrgenommenen Wissenszuwachs über die NS-Zeit. Zudem wurden – zumindest kurzfristig – die negativen Aspekte des Nationalsozialismus stärker ins Bewusstsein gerufen, die Zustimmung zum Widerstand gegen Hitler wuchs und die bisherige Position zum Nationalsozialismus veränderte sich. Ob allerdings von einem medialen Erinnerungsereignis auf stabile Veränderungen von Inhalten des kollektiven Gedächtnisses geschlossen werden kann, ist fraglich, zumal miteinander konkurrierende Gedächtnisse verschiedener Erinnerungsgemeinschaften und die Vieldeutigkeit von Erinnerungsbildern für demokratische Gesellschaften charakteristisch sind. Zumindest drei Aspekte der gesellschaftlichen Vergegenwärtigung des Nationalsozialismus und des Holocaust sind in zeitlicher Folge der Holocaust-Ausstrahlung zu konstatieren: Zum einen rücken ab den 1980er Jahren zunehmend die jüdischen Opfer in den Mittelpunkt. Zum zweiten erfährt die fiktionale Darstellung des Holocaust eine größere Akzeptanz und zum dritten erhält die Massenermordung der europäischen Juden einen über alle Sprach- und Kulturgrenzen hinweg verstehbaren Namen: 'Holocaust'. Nicht die Serie als kulturelle Repräsentation allein, sondern vielmehr ihre erinnerungskulturelle Funktionalisierung durch die beteiligten Akteure machen sie in der Bundesrepublik als Erinnerungsereignis bedeutsam. Dies verdeutlicht, dass die Erinnerungskultur das Produkt eines sozialen Prozesses der Vergegenwärtigung der Vergangenheit aufgrund gegenwärtiger Interessen beteiligter Akteure ist, so dass sich Erinnerungskultur in Anlehnung an Burke als "Sozialgeschichte des Erinnerns" (1991, S. 291) betrachten lässt. Dieser Aufsatz ist 2007 erschienen in: Historical Social Research, Vol. 32 — 2007 — No. 1, 189-248. Szene aus der US-amerikanischen Fernsehserie "Holocaust": Adolf Eichmann (rechts, gespielt von Tom Bell) und Erik Dorf (gespielt von Michael Moriarty) besprechen die "Lösung der Judenfrage". (© picture-alliance/dpa) Quellen / Literatur American Jewish Comittee, 1981: Americans Confront the Holocaust, International Journal of Political Education 4/1981: 5-19. Assmann, Aleida, 2000: Individuelles und kollektives Gedächtnis – Formen, Funktionen und Medien, S. 21-27 in: Kurt Wettengl (Hg.): Das Gedächtnis der Kunst. Geschichte und Erinnerung in der Kunst in der Gegenwart. 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Welzer 2004, S. 168. Der Erfahrungsraum des kommunikativen Gedächtnisses konstituiert in Erzählungen so ein Geschichtsbild, das nicht weiter als 80 Jahre zurückreicht. Aufgrund ihrer Fähigkeit zur Emotionalisierung und Personalisierung von historischen Ereignissen bezeichnet Heimann Filme und Fernsehbeiträge als "Agenturen des kulturellen Gedächtnis" (2000, S. 37). Auf die Vielzahl der theoretischen Ansätze der Publikums- und Wirkungsforschung mit ihren direkten, selektiven oder rezipientenorientierten Perspektiven auf Medienwirkungen kann hier nicht eingegangen werden. Zu den unterschiedlichen Perspektiven und zugehörigen Modellen vgl. Schenk 2000 & 1987; Jäckel 2005. So entstehen bei der Rezeption eine Vielfalt von Lesarten in Abhängigkeit von Variablen wie Alter, Bildung, Geschlecht, Vorwissen, interpersonaler Kommunikation, bisheriger Seherfahrung etc. Vgl. zu Authentizität und Angemessenheit im Dokumentarfilm Jochimsen 1996. Zu den so genannten Trümmerfilmen, welche ungeachtet ihrer spezifischen Unterschiede die Niederlage Deutschlands und die Zerstörung infolge des Kriegs, die sich in den Charakteren, Geschichten und Drehorten widerspiegeln, thematisieren vgl. Shandley 2001; Becker & Schöll 1995. Vgl. am Beispiel von Die Mörder sind unter uns (Wolfgang Staudte 1946) Reichel 2004, S. 170f. In jenen Tagen (Helmut Käutner 1947), Ehe im Schatten (Kurt Maetzig 1947) und Zwischen gestern und morgen (Harald Braun 1947). Diese drei Filme wurden von der zeitgenössischen Kritik gelobt und waren kommerzielle Erfolge, vgl. Gallwitz 1999, S. 282; Pleyer 1965, S. 154ff. Zu Produktion und Gestaltung vgl. Bessen 1989, S. 129ff. Lang ist der Weg (Herbert F. Fredersdorf und Marek Goldstein 1948), Morituri (Eugen York 1948). Zu Lang ist der Weg vgl. Kugelmann 1996 und Reichel 2004, S. 181ff.; zu Morituri vgl. Thiele 2001, S. 140ff. Affaire Blum (Erich Engel 1948), Die Buntkarrierten (Kurt Maetzig 1949) und Rotation (Wolfgang Staudte 1949). Z.B. Canaris (Alfred Weidenmann 1954), Des Teufels General (Helmut Käutner 1955), Der 20. Juli (Falk Harnack 1955), Es geschah am 20. Juli (Georg Wilhelm Papst 1955), vgl. Reichel 2004, S. 66ff.; von Hugo 2003; Hickethier 1989. Z.B. 08/15 (Paul May 1954)), Haie und kleine Fische (Frank Wisbar 1957), Hunde wollt ihr ewig leben (Frank Wisbar 1958), vgl. Reichel 2004, S. 66ff.; von Hugo 2003; Hickethier 1989. Eine Übersicht über diese ausländischen Spielfilme bieten Stiglegger 2004 und Thiele 2001, S. 124ff Ab 1957 wurde Nacht und Nebel im Kontext geschichtsdidaktischer Veranstaltungen vor allem bei Schülern, Beamten und Gewerkschaften eingesetzt. Deswegen geht van den Knaap (2002) davon aus, dass Nacht und Nebel auf lange Zeit die Bilder des Holocaust auch in der Bundesrepublik prägte. Z.B. die Fernsehinszenierung von Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür (1957) und die sechsteilige Serie So weit die Füße tragen (Fritz Umgelter 1959). Z.B. Die Festung (Claus Hubalek NWDR 1957) und Unruhige Nacht (Franz-Peter Wirth, SDR 1955). In diesem Zusammenhang muss vor allem auf die globale Berichterstattung über den Eichmann-Prozess 1961 und dessen öffentliche Übertragung via Fernsehen sowie den Auschwitz-Prozess hingewiesen werden. Eine ausführliche Darstellung mit Beispielen für die einzelnen thematischen Gruppen findet sich ebenda. Vgl. Bohrer, Karl-Heinz: Holocaust – eine Prüfung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.1978, S. 23. Leider fehlen systematische Untersuchungen zur Thematisierung und Darstellung von Nationalsozialismus und Holocaust in Film und Fernsehen der 1970er Jahre, vgl. Thiele 2001. Im Kino wurde Ende der 1960er Jahre der Holocaust häufiger thematisiert. Vor allem Artur Brauner und seine Produktionsfirma CCC brachten mit Mensch und Bestie (1963) und Zeugin der Hölle (1965/67) die Verfolgung und Ermordung der Juden auf die Leinwand. Die beiden Filme wurden von der Filmkritik massiv abgelehnt und waren auch kein Publikumserfolg. Für die Autoren und Filmemacher des Neuen Deutschen Films wurde der Holocaust nicht explizit zum Thema, vielmehr erschöpfen sich deren Darstellungen in Anspielungen, vgl. Hickethier 2003, S. 126f.; Thiele 2001, S. 107f. Zur Aneignung und Darstellung des Nationalsozialismus und des Holocaust im Neuen Deutschen Film vgl. Wenzel 2000; Elsaesser 1992. Zu den politischen und kulturellen Produktionsbedingungen vgl. Doneson 2002, S. 141ff. Vgl. Historisches Archiv des WDR, Akte 7934. Durch zusätzliche Bearbeitungs- und Synchronisationskosten wird Holocaust die zu diesem Zeitpunkt zweitteuerste Serie in der Geschichte des deutschen Fernsehens (Siedler 1984, S. 103). Die Presse veröffentlichte Zeitzeugen-Interviews, berichtete über Zuspruch und Ablehnung prominenter US-Bürger und über Schulen und Hochschulen, die nun verstärkt den Holocaust in ihren Unterricht aufnahmen. Vgl. zusammenfassend zur Rezeption in den USA Knilli 1979 und American Jewish Comittee 1981. Von Betroffenheit kann insbesondere dann gesprochen werden, wenn das Schicksal einer anderen Person 'nachempfunden' und auf das eigene Leben bezogen wird (Steinbach 1981, S. 83). Betroffenheit gilt als eine Voraussetzung für Interesse (Schmidt-Sinns 1991, S. 11). So Werner Hübner, vgl. TV-Courier Nr. 1-2 1979, S. 1; Historisches Archiv des WDR, Akte D1797. Von der Übernahme der Serie in das deutsche Fernsehen soll sich das SPD-Präsidium eine Verbesserung der deutsch-amerikanischen Beziehungen versprochen haben (von Nussbaum 1979, S. 10). TV Courier Nr. 1-2 1979, S. 2; Historisches Archiv des WDR, Akte D1797. Der Fernsehspielchef des SWF, Peter Schulze-Rohr, erhob den Vorwurf, der WDR habe Holocaust aufgrund politischer Opportunität erworben, vgl. Schulze-Rohr, Peter: "Keine Frage von rechts und links", Die Zeit, 23.6.1978, S. 7. In einem intensiven Briefwechsel mit Schulze-Rohr wies Fernsehdirektor Heinz Werner Hübner diesen Vorwurf zurück, vgl. Historisches Archiv des WDR, Akte 7934. Vgl. Sauer, Karl-Otto: Geschichtsbewältigung oder Gewinnsucht? Seit Monaten erregt die US-Serie über die Judenverfolgung im Dritten Reich die Gemüter, Süddeutsche Zeitung, 20.9.1978, S. 18. Mitteilung der Programmdirektion des Deutschen Fernsehens vom 30.6.1978; Historisches Archiv des WDR, Akte 7937. Vgl. Schulze-Rohr, Peter: "Keine Frage von rechts und links", Die Zeit, 23.6.1978, S. 7. Vgl. Hübner, Heinz Werner: "Kein Lehrstück, sondern Lernstück. Der Fernsehdirektor des WDR begründet den Ankauf der Serie", Süddeutsche Zeitung, 22.09.1978, S. 26. In Israel brachte die Ausstrahlung der Serie keine wesentlichen öffentlichen Debatten mit sich und die Pressemeldungen hoben vor allem den erzieherischen Wert und die erinnerungskulturelle Bedeutung von Holocaust hervor (Levy & Sznaider 2001, S. 134; Reichel 2004, S. 524). Zur Ausstrahlung in Israel vgl. Levinsohn 1981. Vgl. den Schriftwechsel von Günther Rohrbach und Heinz Werner Hübner mit dem Chefredakteur der Zeitung Die Welt; Historisches Archiv des WDR, Akte 7934. TV-Courier Nr 1-2 1979, S. 4; Historisches Archiv des WDR, Akte 1797. Eine Zusammenfassung der Rezeption der ausländischen Presse liefert van Kampen 1978; Historisches Archiv des WDR, Akte 582. TV-Courier Nr. 1-2 1979, S. 1; Historisches Archiv des WDR, Akte D1797. Vgl. ebd., S. 2. Ebd., S. 5. So konstatierte Peter Märthesheimer, dass die Fernsehspiele und Dokumentationen "vielleicht sogar gesehen [wurden] – wahrgenommen, angenommen, aufgenommen wurden sie nicht. Registriert und akzeptiert wurde vielleicht die Tatsache der Morde, (…) aber nicht als das Leid von Menschen, die unseresgleichen waren" (1979c, S. 15). Die Ausstrahlung von Holocaust wurde als Ergänzung zu bisherigen Beiträgen zum Nationalsozialismus betrachtet, vgl. TV-Courier Nr. 1-2 1979, S. 3; Historisches Archiv des WDR, Akte D 1797. Zur beginnenden Veränderung in den Programmstrukturen ab Mitte der 1970er Jahre von Aufklärung und gesellschaftspolitischer Kritik hin zu mehr Unterhaltung und Fiktionalität vgl. Hickethier 1998, S. 314ff. TV-Courier Nr. 1-2 1979, S. 3; Historisches Archiv des WDR, Akte D 1797. Veröffentlichung der WDR-Pressestelle vom 19.1.1979, S. 5; Historisches Archiv des WDR, Akte D 1797. Ebd. Hier drückt sich die in den späten 1970er Jahren vorherrschende Meinung aus, dass durch Unterhaltung – also auf Identifizierung und Emotionalisierung angelegte Fernsehbeiträge – Wissen nicht vermehrt werden könne (Lersch 2005, S. 75). Vgl. TV Courier 1-2 1979, S. 4f.; Historisches Archiv des WDR, Akte 1797. Zu monierten Mängeln der historischen Detailgenauigkeit, vgl. Brandt 1999, S. 90; Ernst 1979a, S. 26; van Kampen 1978, S. 15f. Insgesamt wurde Holocaust aber vom Münchener Institut für Zeitgeschichte das Bemühen um historische Genauigkeit zugesprochen (Wilke 2005, S. 13). Vgl. Märthesheimer, Peter: "Nichts Gutes dabei empfunden", Die Zeit, 30.06.1978; Historisches Archiv des WDR, Akte 7934. TV-Courier Nr. 1-2 1979, Anhang, S. 1; Historisches Archiv des WDR, Akte D 1797. Hübner, Heinz Werner: "Kein Lehrstück, sondern Lernstück. Der Fernsehdirektor des WDR begründet den Ankauf der Serie", Süddeutsche Zeitung, 22.09.1978, S. 26. Vgl. Knilli 1979, S. 22ff.; Thiele 2001, S. 309f Zum Informations- und Promotionsmaterial der NBC vgl. Historisches Archiv des WDR, Akte 7935. Die Anti Defamation League verbreitete vor der Ausstrahlung eine Dokumentation über den Holocaust in einer Auflage von ca. 10 Millionen Exemplaren über Tageszeitungen (Wilke 2005, S. 13). Durch das Rahmenprogramm wollte der WDR eine möglichst breite Aufmerksamkeit für Holocaust schaffen, vgl. Korrespondenz von Märthesheimer mit Hans-Joachim Wack vom 31.8.1978; Historisches Archiv des WDR, Akte 7940. Vgl. Dossier der WDR-Pressestelle: Holocaust. Die Geschichte der Familie Weiss; Historisches Archiv des WDR, Akte 7940. WDR-Information vom 17.01.1979; Historisches Archiv des WDR Akte D 1797. Ebenda. Vgl. die Übersicht zu Begleitmaterial und Begleitmaßnahmen der Bundeszentrale für politische Bildung und der Volkshochschulen in Nordrhein-Westfalen; Historisches Archiv des WDR, Akte 7940. Der Spiegel machte die Studie anlässlich ihrer Veröffentlichung zur Titel-Story, vgl. Nr. 34/1977, 15.8.1977. Vgl. zur Rezeption der Boßmann-Studie Bier 1980, S. 26; Hackfort 1979a, S. 12. Der Begriff 'Hitler-Welle' bezeichnet keine einheitliche Bewegung, sondern subsumiert eine Reihe von massenmedialen Produkten, die sich insbesondere der Persönlichkeit Hitlers widmeten, vgl. Bier 1980, S. 15 & S. 25f.; Weber 1979, S. 153. So auch Peter Märthesheimer in einem Schreiben an Alexander Mitscherlich vom 24.11.1978; Historisches Archiv des WDR, Akte 7940. Ebenso WDR-Information vom 19.01.1979, S. 2; Historisches Archiv des WDR, Akte D1797. Eine aktuelle politische Entscheidung des Jahres 1979 war die vierte parlamentarische Verjährungsdebatte. Historisches Archiv des WDR, Akte 7940. Die Ausstellung thematisierte konkret und visualisierte explizit erstmals einen Zusammenhang zwischen Wehrmacht und Holocaust in der breiten Öffentlichkeit. Doneson stellt die spezifische Bedeutung des Endes im US-amerikanischen Rezeptionskontext heraus: "Rudi [is] the bridge between the Holocaust and Israel. The Jew who fights back is the Jew who survives. Rudi is the prototype of the new Jew – the Israeli" (2002, S. 171). So Peter Märthesheimer, vgl. TV Courier Nr. 1-2 1979, S. 5; Historisches Archiv des WDR, Akte D1797. Historisches Archiv des WDR, Akte 7940; Hervorhebung im Original. Anonym: "US-Fernsehserie über Judenverfolgung", Der Tagesspiegel, 11.4.1978; Anonym: "US-Serie über Judenverfolgung in Deutschland", Stuttgarter Zeitung, 13.4.1978. Beide im Historischen Archiv des WDR, Akte 7937. Lebens, Brigitte: "USA-Projekt: TV-Serie über Juden in Deutschland", Westfälische Rundschau, 15.4.78; Bölte, Emil: "Auschwitz kommt nun nach Amerika: Fernsehserie über die Judenverfolgung", Kölner Stadt-Anzeiger, 14.5.1978. Beide im Historischen Archiv des WDR, Akte 7937. Anonym: "Schmerzhafte Bürgerpflicht", Der Spiegel, 17.4.1978, S. 158- 162. Anonym: "Schmerzhafte Bürgerpflicht", Der Spiegel, 17.4.1978, S. 158-162. dpa-Meldung vom 18.4.1978 und 19.4.1978; ap-Meldung vom 18.4.1979. Beide im Historischen Archiv des WDR, Akte 7937. Z.B. 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Holocaust – eine Serie im amerikanischen Fernsehen", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.4.1978, S. 25; Anonym: "Amerikanische Fernsehserie über die Judenverfolgung", Neue Zürcher Zeitung, 20.4.1978; Bölte, Emil: "Ja zur Erinnerung, aber nicht als Show", Kölner Stadt-Anzeiger, 21.4.78; Manthey, Marlene: "Die Hölle von Auschwitz zwischen Schock und Geschäft", Stuttgarter Nachrichten, 21.4.1978; Kielinger, Thomas: "Wie das amerikanische Fernsehen deutsche Vergangenheit bewältigt", Die Welt, 22.4.1978. Alle im Historischen Archiv, des WDR, Akte 7937. Lietzmann, Sabina: "Die Judenvernichtung als Seifenoper. Holocaust – eine Serie im amerikanischen Fernsehen", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.4.1978, S. 25. Historisches Archiv des WDR, Akte 7937. 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Lietzmann, Sabina: "Kritische Fragen", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.9.1978, nachgedruckt in Märthesheimer & Frenzel 1979, S. 40-41. Zu den Reaktionen der britischen Zuschauer vgl. Dyer & Rawcliffe-King 1980. Als wichtigste Zeugnisse des endgültigen Meinungsumschwungs gelten: Rühle, Günter: "Wenn Holocaust kommt. Vor der Fernsehsendung über die Massenvernichtung der Juden. Ein Ereignis, dass die Massen spalten wird", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.1.1979, S. 21; Kogon, Eugen: "Über die innere Wahrheit des Fernsehfilms Holocaust", Stern, 18.1.1979, S. 143-146; Zimmer, Dieter E.: "Melodrama vom Massenmord. Holocaust. Ein Fernsehspiel mit dem Entsetzen", Die Zeit, 19.1.1979, S. 23. Vgl. Thiele 2001, S. 321; Bergmann 1997, S. 355. Rühle, Günter: "Wenn Holocaust kommt. Vor der Fernsehsendung über die Massenvernichtung der Juden. Ein Ereignis, dass die Massen spalten wird", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.1.1979, S. 21. Dabei entwickelte laut Bergmann die öffentliche Resonanz eine eigene Dynamik, die eine "Schweigespirale für die Ablehnenden" (1997, S. 357) bedeutete. Die Einschaltquoten stiegen von 31% (1. Folge) über 35% (2. Folge), 37% (3. Folge) auf 40% (4. Folge). Zur Anzahl der Zuschaueranrufe, vgl. Schoeps 1979, S. 230. Vgl. Umbach, Klaus: "Endlösung im Abseits", Der Spiegel, 15.1.1979, S. 133. Hügler, Elmar: "Soll Trivialität geadelt werden?", Die Zeit, 23.2.1979, S. 16. Stromberger, Robert: "An Peinlichkeit nicht zu überbieten", Die Welt, 27.1.1979, S. 24. Vgl. Magnus 1979b, S. 80. Vgl. Schwarze, Michael: "Ein Volk begegnet seiner Schuld. Die Reaktionen auf Holocaust: Das Fernsehen und sein Publikum", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.2.1979, S. 19. Vgl. Mitscherlich-Nielsen, Margarete: "In Wahrheit stand man den Hitler-Filmen recht hilflos gegenüber“, Süddeutsche Zeitung, 23.1.1979, S. 15; "Tiefe Wunden", Frankfurter Rundschau, 24.1.1979, Historisches Archiv des WDR, Akte 7938; Schneider, Norbert: "Für wenige wird viel, für viele wenig angeboten", Frankfurter Rundschau, 25.1.1979, S. 8. Vgl. Reifenrath, Roderich: "Deutschstunden", Frankfurter Rundschau, 29.1.1979, S. 3; Höhne, Heinz: "Schwarzer Freitag für die Historiker. Holocaust: Fiktion oder Wirklichkeit", Der Spiegel, 29.1.1979, S. 22-23; Wirsing, Sybille: "Die hohe und die triviale Tragödie. Holocaust und die Fragen an die Kunst", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.2.1979, S. 19; Fest, Joachim: "Nachwort zu Holocaust", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.2.1979, S. 1. Vgl. Mauz, Gerhard: "Das wird mit keinem Wind verwehen", Der Spiegel, 29.1.1979, S. 24-25. Vgl. Rohrbach, Günter: "Ende der Von-oben-nach-unten-Kultur? Erkenntnisse und Folgerungen für die Arbeit von Fernsehanstalten", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.2.1979, S. 19; Dönhoff, Marion Gräfin: "Eine deutsche Geschichtsstunde. Holocaust – Erschrecken nach dreißig Jahren", Die Zeit, 2.2.1979, S. 1. Vgl. Schwarze, Michael: "Ein Volk begegnet seiner Schuld. Die Reaktionen auf Holocaust: das Fernsehen und sein Publikum", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.2.1979, S. 19. Nur beispielhaft: ein quantitativer Anstieg von Fernsehsendungen zu den Themen Nationalsozialismus und Holocaust, die auf einem personalisierten und identifikatorischen Zugang basieren (Keilbach 1999, S. 142). In den 1980er Jahren stellen Beiträge über Verfolgung und Massenermordung der europäischen Juden den größten Anteil der Fernsehsendungen über den Nationalsozialismus (Kansteiner 2003, S. 259). Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord und Völkermord im Sommer 1979 und eine Auseinandersetzung über den Programmauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems (Bergmann 1997, S. 361ff.). Der Alltag unter dem Nationalsozialismus bekam verstärkt Bedeutung für die politische und historische Bildungsarbeit (Steinbach 1981, S. 87f.). Das Thema Antisemitismus wurde in der Demoskopie wieder aufgegriffen (Bergmann & Erb 1991, S. 14). Der Düsseldorfer Majdanek-Prozess erhält vermehrt publizistische Aufmerksamkeit (Thiele 2001, S. 485).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-07-31T00:00:00"
"2023-01-31T00:00:00"
"2023-07-31T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/holocaust/517871/film-und-fernsehen-als-medien-der-gesellschaftlichen-vergegenwaertigung-des-holocaust/
Dieser Text von 2007 bietet eine systematische Analyse zum Begriff der Erinnerungskultur und zur bundesdeutschen Erstausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust als soziales Ereignis. Im Fokus steht dabei auch die damalige Rolle der Bun
[ "Holocaust", "politische Bildungsarbeit", "Erinnerungskultur", "Holocaust in den Medien", "Nationalsozialismus", "Bundeszentrale für politische Bildung", "Medien", "Judenverfolgung", "Judenvernichtung", "Presse", "Westdeutscher Rundfunk", "Fernsehen", "Völkermord", "Film", "Dokumentarfilm", "Rezeption", "Fernsehserie", "Fernsehserie Holocaust" ]
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Der Deutsche OSZE-Vorsitz 2016 – eine erste Bilanz | OSZE | bpb.de
Unter "normalen" Bedingungen würde man den Erfolg eines OSZE-Vorsitzes nicht zuletzt an der Zahl und Qualität der Beschlüsse messen, die der Ministerrat am Ende des Vorsitzjahres annimmt. Doch derzeit herrschen keine normalen Bedingungen, sondern außerordentlich schlechte. Das Verhältnis Russlands zum Westen hat sich noch weiter eingetrübt, eine Wende zum Besseren ist nicht absehbar. Es besteht ein grundlegender Dissens über die europäische Sicherheitsordnung; die gemeinsame normative Basis ist erodiert, die kooperative Sicherheit auf einem Tiefpunkt. In Bezug auf den Ukrainekonflikt ist es trotz vier Gipfel- und dreizehn Außenministertreffen im Normandie-Format (Ukraine, Russland, Deutschland, Frankreich) nicht gelungen, den in den Minsker Abkommen festgelegten Waffenstillstand umzusetzen und in einen politischen Konfliktlösungsprozess einzusteigen. Dass auch neue Konflikte mit hohem Eskalationspotenzial möglich sind, zeigt das Aufflammen der Kämpfe in Berg-Karabach im April 2016. Dazu kommen negative Einflüsse im Gefolge der Kriege in Syrien, Irak und Libyen und der dadurch ausgelösten Flüchtlingsströme. Unter diesen Bedingungen geht es darum, negative Entwicklungen einzudämmen, wenn möglich zu stoppen, Konflikte zu isolieren und neue Konflikte zu verhindern. Kurz: eine weitere Verschlechterung der Lage abzuwenden und Voraussetzungen für eine längerfristige Verbesserung zu schaffen. Dieses Kriterium gilt auch für die Bewertung des deutschen OSZE-Vorsitzes. Konkret geht es dabei um folgende Fragen: Was wurde bei der Krisenbewältigung erreicht? Inwieweit wurden thematische Schwerpunkte für die nächsten Jahre gesetzt? Gelang es, die Organisation als Instrument und Gesprächsforum zu erhalten, und inwieweit konnte der Dialog zwischen den Teilnehmerstaaten entwickelt werden? Krisenbewältigung von der Ukraine bis zum Kaukasus Zwar ist es nicht gelungen, die Minsker Abkommen hinreichend umzusetzen, aber die Gefahr eines großen Krieges, die Eroberung der Großstadt Mariupul im Südosten der Ukraine und ein anschließender Durchbruch der von Russland unterstützten Separatisten bis nach Transnistrien, was noch Ende 2014/Anfang 2015 als reale Szenarien diskutiert worden waren, ist vom Tisch. Dazu hat die Besondere Beobachtungsmission (Special Monitoring Mission – SMM) der OSZE, die einzige zuverlässige Informationsquelle über die Lage in der Ostukraine, wesentlich beigetragen. Die SMM ist heute personell und von der technischen Ausstattung her besser aufgestellt als noch im vergangenen Jahr. Sie ist solider finanziert und liefert bessere Beiträge für die Arbeit der Trilateralen Kontaktgruppe (TCG) und des Normandie-Formats. In der Republik Moldau gelang es nach längerer Unterbrechung, wieder Verhandlungen im offiziellen 5+2-Format (Moldau, Transnistrien, Russland, Ukraine, OSZE, EU und USA) aufzunehmen. Ferner wurde den transnistrischen De-facto-Autoritäten die Möglichkeit eröffnet, am Freihandelsabkommen (Deep and Comprehensive Free Trade Agreement – DCFTA) zwischen der EU und Moldau teilzuhaben. Erstaunlicherweise erhob Russland keine Einwände gegen diese Regelung. Auch auf der schon traditionellen Bayern-Konferenz in Bad Reichenhall im Juli 2016 wurde an praktischen Fragen weitergearbeitet. Dementsprechend konnte sich der OSZE-Ministerrat im Dezember 2016 in Hamburg auf eine Erklärung zu Transnistrien einigen. Ebenso konnten bei den Genfer Internationalen Diskussionen zu den Konflikten in Georgien, wo Vertreter der georgischen Regierung, der abtrünnigen Gebiete Südossetien und Abchasien sowie Russlands und der USA unter dem gemeinsamen Vorsitz von UN, EU und OSZE zusammenkamen, zumindest atmosphärische Verbesserungen festgestellt werden, auch wenn man von einer Konfliktlösung oder nur der Diskussion darüber weit entfernt bleibt. Neu eingeführt wurde von den Vorsitzenden das Thema statusneutraler Rüstungskontrolle und vertrauensbildender Maßnahmen. Auf örtlicher Ebene wurde der Präventionsmechanismus zur Verhinderung von Zwischenfällen (Incident Prevention and Response Mechanism – IPRM) für Südossetien weitergeführt und für Abchasien nach vierjähriger Unterbrechung wieder in Gang gesetzt. Hier werden konkrete Probleme, wie entlaufenes Vieh, Zugang zu Feldern, aber auch die Ankündigung von Militärübungen, besprochen. Auch im Falle von Berg-Karabach, wo Anfang April 2016 schwere Kämpfe ausgebrochen waren, konnte die OSZE zumindest dämpfend wirken. Anfang April einigte sich die Minsker Gruppe auf eine gemeinsame Erklärung. Der deutsche OSZE-Vorsitz hat 2016 Vorschläge für eine Erweiterung des Beobachtungsteams des Persönlichen Beauftragten für den Konflikt, Botschafter Kasprzyk, sowie für einen Reaktionsmechanismus bei Waffenstillstandsverletzungen ausgearbeitet, die bislang aber noch nicht angenommen wurden. Insgesamt war 2016 zu beobachten, dass die 2014/2015 geäußerte Sorge, dass der Ukrainekonflikt zu einer durchgehenden Verschlechterung der Lage bei allen verschleppten Konflikten führen werde, so nicht zutreffend ist. Vielmehr gelang es, graduelle Erfolge zu erzielen. Neue thematische Schwerpunkte Der deutsche OSZE-Vorsitz 2016 war in der Lage, zwei Denk- und Arbeitsrichtungen wieder neu einzuführen bzw. auf eine höhere Relevanz-Ebene zu heben. Gemeint sind die konventionelle Rüstungskontrolle und das Konzept der wirtschaftlichen Konnektivität. Letzteres, also die Idee, die wirtschaftlichen, ökologischen und infrastrukturellen Verbindungen im OSZE-Raum und darüber hinaus stabilitätsfördernd zu stärken, stammt zwar schon vom Schweizer Vorsitz 2014. Aber mit einer großen Konferenz Mitte Mai 2016 mit mehr als 900 Teilnehmern, davon mehr als die Hälfte aus der Privatwirtschaft und eine chinesische Delegation, wurde das Thema derart in der OSZE verankert, dass niemand mehr die Berechtigung seiner Behandlung in Frage stellt. Dies und ein entsprechender Ministerratsbeschluss eröffnen die Möglichkeit, in Zukunft konkretere Themen zu besprechen. Das andere Thema, von dem bleibende Impulse erwartet werden, ist die Initiative von Außenminister Steinmeier zur konventionellen Rüstungskontrolle vom September 2016. Das ist zwar ein altes deutsches Thema, aber erneut vorgetragen in einer Zeit, wo die Notwendigkeit von Rüstungskontrolle so groß ist wie die Chancen gering sind, diese zu erreichen. Mit dem Beschluss "Von Lissabon nach Hamburg. Erklärung zum 20. Jahrestag des OSZE-Rahmens für Rüstungskontrolle" erkannte der Ministerrat die Bedeutung konventioneller Rüstungskontrolle grundsätzlich an. Die "Steinmeier-Initiative" flankiert auch die erheblichen Anstrengungen des Vorsitzes, Fortschritte bei der Modernisierung des Wiener Dokuments über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen zu erreichen. Obwohl diese Maßnahmen kurzfristig nicht zum Erfolg führten, liegt nun doch ein wesentlich erweitertes Angebot auf dem Tisch, an dem gearbeitet werden kann. Weitere neue Themenschwerpunkte waren Cyber-Sicherheit, wozu Anfang 2016 ein zweites Paket vertrauensbildender Maßnahmen verabschiedet wurde, sowie Migration, wo in einer neu eingerichteten Arbeitsgruppe ein Einstieg in die Thematik erarbeitet werden konnte. Zu beiden Themen nahm der Hamburger OSZE-Ministerrat Beschlüsse an. Im Bereich der menschlichen Dimension wurde eine Reihe von Angriffen auf das Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) abgewehrt. Wahlbeobachtungsmissionen fanden in einer Reihe von Staaten statt, darunter auch in Russland und in den USA. Im Bereich der "menschlichen Dimension" wurde allerdings eine Konsensbildung durch einzelne Teilnehmerstaaten, darunter Russland, verhindert. Stärkung der Organisation In Zeiten zunehmender Fragmentierung die Arbeitsfähigkeit einer internationalen Organisation zu bewahren oder gar punktuell auszubauen, stellt eine erhebliche Leistung dar, die dem deutschen Vorsitz, wenn auch mit Einschränkungen gelang. Dass der OSZE-Haushalt fristgerecht Ende 2015 verabschiedet werden konnte, ist in dieser Organisation keineswegs selbstverständlich, stellt aber eine zentrale Voraussetzung für ihr Funktionieren dar. Dabei konnten sogar noch einige zusätzliche Stellen für die Verstärkung des Konfliktverhütungszentrums des OSZE-Sekretariats geschaffen werden. Dauerhaft verbesserte Planungssicherheit konnte für das wichtigste jährliche Treffen zur "menschlichen Dimension", das Human Dimension Implementation Meeting, erzielt werden, indem die Zugangskriterien für Teilnehmer klarer vereinbart wurden. Keine Einigung wurde über eine Nachfolgerin für die Beauftragte für die Medienfreiheit erzielt, stattdessen wurde das Mandat der Amtsinhaberin Dunja Mijatović um ein Jahr verlängert. Im Fall der Hohen Kommissarin für Nationale Minderheiten, Astrid Thors, gelang es weder das Mandat zu verlängern, noch Konsens über eine/n Nachfolger/in zu erzielen. Förderung des Dialogs Die Förderung des Austausches, auch durch die Schaffung neuer und interaktiverer Dialogformate, stellte ein besonderes Anliegen des deutschen Vorsitzes dar. Dem diente zum einen ein breites Spektrum thematischer Konferenzen von Cyber-Sicherheit über Toleranz und Nicht-Diskriminierung bis zu Rechtsstaatlichkeit und der Bekämpfung von Antisemitismus und Antiziganismus. Was Treffen auf hoher Ebene angeht, waren insbesondere das informelle Außenministertreffen in Potsdam am 1. September und das Mittagessen der Außenminister am 8. Dezember 2016 von Bedeutung. Diese unverdrossenen Bemühungen zeitigten jedoch nicht die erhofften Ergebnisse, weil auf beiden Seiten – im Westen und in Russland – zu viele den Dialog von bestimmten Bedingungen abhängig machten. Ausblick Insgesamt steht die OSZE Ende 2016 besser da als ein Jahr zuvor. Dies in schwierigen Zeiten und gegen vielfältige Widerstände erreicht zu haben, stellt den Erfolg des deutschen OSZE-Vorsitzes dar. Wichtig war, dass sich Deutschland überhaupt bereit erklärte, ohne Aussicht auf strahlende Erfolge den OSZE-Vorsitz zu übernehmen. Das hat die Organisation weiter aufgewertet und anderen Staaten Mut gemacht, den Vorsitz zu übernehmen. Auf Österreich 2017 werden 2018 Italien und 2019 die Slowakei folgen. Literatur Zellner, Wolfgang (2015): Externer Link: Kooperation in Zeiten der Krise. Kriterien eines Stabilitätsrahmens für Europa, in: Internationale Politik und Gesellschaft, 21.04.2015. Links Externer Link: Webseite des Auswärtigen Amtes zum Deutschen OSZE-Vorsitz Externer Link: Beschlüsse und Erklärungen des 23. Ministerrats der OSZE am 8./9. Dezember 2016 in Hamburg Externer Link: OSZE-Website Externer Link: Centre for OSCE Research Externer Link: Informationsplattform des Vereins Humanrights.ch/MERS zur "menschlichen Dimension" der OSZE Externer Link: Die "menschliche Dimension" der OSZE umfasst die Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten, Fragen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie humanitäre Angelegenheiten
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-19T00:00:00"
"2017-01-30T00:00:00"
"2022-01-19T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/internationale-organisationen/osze/241630/der-deutsche-osze-vorsitz-2016-eine-erste-bilanz/
Die Bilanz der OSZE im Jahre 2016, in dem Deutschland den Vorsitz innehatte, ist insgesamt als positiv zu bewerten. Dies zeigt, dass Diplomatie und Dialog bei klugem und beharrlichem Engagement auch in weltpolitisch schwierigen Zeiten Fortschritte er
[ "OSZE", "Konfliktverhütung", "OSZE-Vorsitz", "europäische Sicherheit", "Normandie-Format", "Krisenbewältigung", "Sonderbeobachtermission", "europäischer Dialog" ]
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Literatur- und Linksammlung | Medienkompetenz | bpb.de
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2018-09-03T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/medienkompetenz-schriftenreihe/275223/literatur-und-linksammlung/
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Folgen des 11. September 2001 für die deutschen Sicherheitsgesetze | Islamismus | bpb.de
Am Ground Zero in New York entsteht das One World Trade Center (frühere Bezeichnung: Freedom Tower). (© AP) Einleitung [...] In der Tat führten die Anschläge vom 11. September 2001 zu einer Zäsur in der deutschen Innen- und Sicherheitspolitik. Die mediale Inszenierung der Anschläge spiegelte die tatsächliche Komplexität der neuen Sicherheitslage und ihrer Erfordernisse wider. Aus staatstheoretischer Perspektive ist Sicherheit ein Kollektivgut, das für alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichzeitig und im gleichen Umfang bereitgestellt wird. Grundsätzlich besteht die Aufgabe des Sicherheitssektors darin, reale und potenzielle Gefährdungen zu verhindern. In diesem Zusammenhang bestimmt das Sicherheitsmanagement als Verbindung zwischen security policy [2] und security politics [3] die politischen Gestaltungsmaßnahmen der sicherheitspolitischen Akteure. Hierbei hat der Verlust von Steuerungsfähigkeiten in einer medialen Welt verheerende Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft und damit auch auf die Entscheidungsträger. Sicherheit hat eine subjektive Ebene, die stark von der persönlichen Empfindung abhängig und daher schwer messbar ist. Die objektive Dimension von Sicherheit beschreibt dagegen die Gewährleistungen des erreichten Lebensniveaus, die Bewahrung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sowie den Schutz von Rechtsgütern. Das macht diese Ebene organisierbar. Inwiefern und in welcher Intensität dies geschieht, hängt von der Qualität der Gefahrenlage ab und wird von der jeweils vorherrschenden Sicherheitskultur bestimmt.[4] Auch die deutsche Sicherheitspolitik ist einer Reihe von strukturellen und organisatorischen Zwängen unterworfen, die komplizierte Entscheidungsstrukturen verursachen und damit die Gestaltung von Sicherheit erschweren. Hier sind insbesondere auf nationaler Ebene die föderalistische Organisation der Bundesrepublik und nach außen hin die Rolle der Europäischen Union und die Einbindung in die NATO zu nennen. Auf Letzteres kann im Rahmen dieses Beitrags nicht eingegangen werden. Ersteres wird im Folgenden dargestellt. Innenpolitische Maßnahmen Ausgelöst durch den Schock der Ereignisse vom 11. September 2001 kam es rasch zu gesetzlichen Veränderungen in den Bereichen, die zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit beitragen. Hinter den beschlossenen Maßnahmen steht immer die Frage, wie viele Eingriffe in die individuelle Freiheit des Einzelnen zugelassen werden können, und wo die gesellschaftspolitische Akzeptanzgrenze ist, ohne die demokratische rechtsstaatliche Kultur Deutschlands infrage zu stellen. Die erste Reaktion des damaligen Bundesinnenministers Otto Schily auf die Anschläge in den USA war der Ruf nach einer übergeordneten Behörde, um die Sicherheitsmaßnahmen auf Landes- und Bundesebene besser koordinieren zu können. Das zum 1. Mai 2004 errichtete "Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe" (BBK) war ein erster Beitrag des Bundes zur "Neuen Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland".[5] Zudem verabschiedete die Bundesregierung zügig das erste sogenannte Antiterrorismuspaket, das die Bereitstellung von drei Milliarden Euro für die Nachrichtendienste, die Bundeswehr, den Bundesgrenzschutz, das Bundeskriminalamt und den Generalbundesanwalt vorsah. Im Gesetz sind ferner eine Reihe von Maßnahmen beschlossen worden, die den Sicherheitsauftrag des Staates festigen sollen. Ziel des am 30. November 2001 gebilligten ersten Sicherheitspakets ist die Bekämpfung terroristischer Vereinigungen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die im Rahmen des Sicherheitspakets erlassenen Gesetze und Neuregelungen die Aufhebung des Religionsprivilegs aus dem Vereinsgesetz vorsahen. Das Religionsprivileg in Paragraf 2, Absatz 2, Nummer 3 Vereinsgesetz besagte, dass Vereinigungen, die sich der gemeinschaftlichen Pflege einer Weltanschauung verpflichtet haben, grundsätzlich erlaubt und keine Vereine im Sinne des Vereinsgesetzes waren. In der Konsequenz unterlagen sie nicht den für Vereine bestehenden Kontrollen und Einschränkungen. Die Neufassungen, die unter anderem eine Streichung des in Nummer 3 beschriebenen Privilegs vorsahen, führten dazu, dass seitdem weltanschauliche Gemeinschaften den gleichen Verbotskriterien unterzogen werden wie alle anderen Vereinigungen. Hinzu kam, dass laut Gesetzgeber alle Vereine, deren Mitglieder oder Leiter überwiegend Ausländer aus Staaten außerhalb der Europäischen Union sind (sogenannte Ausländervereine), künftig verboten werden können, wenn ihr Zweck oder ihre Tätigkeit den Prinzipien des Grundgesetzes widersprechen (Paragraf 14 Vereinsgesetz[6] ). Der Staat behält sich nun das Recht vor, Weltanschauungen bezüglich ihrer Kompatibilität mit dem Grundrecht zu überprüfen und gegebenenfalls zu verbieten. Ferner wurde Paragraf 129a des Strafgesetzbuches, der die Bildung terroristischer Vereinigungen unter Strafe stellt, durch Paragraf 129 b ergänzt, so dass nun die Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen sowie Sympathieerklärungen strafbar sind, selbst wenn die Terrorgruppe in Deutschland keine Infrastruktur unterhält.[7] Mit anderen Worten: Durch die Ergänzungen wurde die Bildung krimineller und terroristischer Vereinigungen auch dann strafbar, wenn diese im Ausland agieren. Damit wurde eine Strafbarkeitslücke geschlossen. Denn bereits im Dezember 1998 hatten sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet, die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung in ihrem Hoheitsgebiet unabhängig vom Ort, an dem die Operationsbasis beziehungsweise die Straftat verübt wird, strafrechtlich zu ahnden. Eine weitere Etappe des Sicherheitspakets war die Änderung des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes, die zunächst auf fünf Jahre befristet wurde. Demnach soll eine Sicherheitsüberprüfung aller Personen stattfinden, die an sicherheitsempfindlichen Stellen arbeiten. Auch Angestellte von Krankenhäusern, Rundfunkanstalten oder Energieerzeugern sollen einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen werden. Neu ist dabei, dass die einfache Überprüfung in die Zuständigkeit des Bundes überführt wurde. Nach Paragraf 8 des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes wurde geregelt, dass der öffentliche Arbeitgeber vor der Einstellung eines bestimmten Personenkreises Auskünfte beim Verfassungsschutz des Bundes und der Länder, dem Bundeskriminalamt, dem Bundesgrenzschutz, den Nachrichtendiensten des Bundes und gegebenenfalls dem Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen einholen muss.[8] Der Betroffene hat die Pflicht zu umfangreichen Angaben zur Person sowie unter anderem über Beziehungen zu oder Reisen in Staaten, die nach Angabe des Bundesinnenministeriums als besondere Sicherheitsrisiken gelten. Die rechtliche Umsetzung des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes war allerdings erst Gegenstand des zweiten Sicherheitspakets. Zweites Sicherheitspaket: Terrorismusbekämpfungsgesetz Das Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus (Terrorismusbekämpfungsgesetz)[9] sah mehrere Einfügungen und Veränderungen in 17 Gesetzen und fünf Rechtsverordnungen vor. Die wesentlichen Grundlagen des bisherigen Verfassungsschutzrechts - das Gesetzmäßigkeitsprinzip, das Gebot der organisatorischen Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten sowie der Ausschluss polizeilicher Zwangsbefugnisse - blieben zwar unangetastet, doch beinhaltete das Gesetz im Rahmen einer Präventionsstrategie zahlreiche Veränderungen des Bundesverfassungsschutzgesetzes, des Gesetzes über den Militärischen Abschirmdienst (MAD-Gesetz), des Gesetzes über den Bundesnachrichtendienst (BND-Gesetz), des Bundesgrenzschutzgesetzes, des Bundeskriminalamtgesetzes, deren Kompetenzen erheblich erweitert wurden, sowie des Ausländergesetzes. Das Gesetz zielte auf die Schaffung von Rahmenbedingungen, die einen besseren Informationsaustausch gewährleisten sowie die Einreise terroristischer Straftäter nach Deutschland verhindern und identitätssichernde Maßnahmen bilden. Es sollten eine Sicherheitsüberprüfung von Mitarbeitern in wichtigen Einrichtungen ermöglicht und die Fahndung effektiver gestaltet werden. Das Terrorismusbekämpfungsgesetz schaffte zudem die Grundlage für die Erhebung biometrischer Daten wie Fingerabdrücke, Handform oder die Gestalt der Augeniris. Der Beobachtungsauftrag des Bundesamtes für Verfassungsschutz wurde erweitert, so dass nun auch Bestrebungen, die gegen die Völkerverständigung gerichtet sind, dazugehören. Die Arbeit des Verfassungsschutzes soll weit im Vorfeld terroristischer Bestrebungen erfolgen, um die Gefahrenabwehr zu garantieren. Was unter diesen Bestrebungen zu verstehen ist, wird dagegen nicht weiter ausgeführt. Hier besteht ein weiter Ermessensspielraum der Behörden.[10] Für die Erfüllung ihrer Aufgaben erhält die Verfassungsschutzbehörde die Möglichkeit, von Banken, Luftfahrtunternehmen und Postdienstleistern Kundendaten anzufordern. Zwar wurden hier bürokratische Hürden eingebaut, um einen Missbrauch zu verhindern und die Bürgerrechte zu wahren.[11] Jedoch drängt sich die Frage auf, warum Nachrichtendienste engagiert werden, wenn doch bei begründetem Tatverdacht auch die Polizei Ermittlungen aufnehmen könnte. Unter denselben Auflagen erhalten auch der Militärische Abschirmdienst und der Bundesnachrichtendienst Auskunftsbefugnisse gegenüber Telekommunikations- und Teledienstbetreibern sowie Finanzdienstleistern. Die neuen Kompetenzen der Dienste werden in die bereits bestehenden Kontrollstrukturen integriert. Allerdings können die Dienste bei Gefahr in Verzug mit Maßnahmen beginnen und die Genehmigung für eine umfassende Sicherheitsüberprüfung auch erst im Nachhinein einholen. Ein weiterer Ausbau der nachrichtendienstlichen Kompetenzen ergibt sich durch die sogenannten G-10-Maßnahmen, über welche die Kommunikations- und Reisewege von Privatpersonen leichter nachvollzogen werden können. Die "G-10-Maßnahmen" werden im Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses geregelt.[12] Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie die Ausländerämter übermitteln bei Verdachtsfällen automatisch die Daten der entsprechenden Ausländer an die Behörden. Ferner werden Informations- und Datentransfers zwischen den Diensten rechtlich erleichtert. Dies gilt auch für die Zusammenarbeit mit ausländischen Partnern und Strafverfolgungsbehörden. Das zweite Sicherheitspaket ermöglicht dem Bundesnachrichtendienst zudem, künftig auch stärker im Inland zu ermitteln. Die entsprechenden Regelungen sind jedoch zunächst auf fünf Jahre begrenzt und bedingen einer Verlängerung durch den Bundestag. Die Einrichtung des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums im Jahr 2004 in Berlin ist zudem ein weiterer Schritt, den schnellen Zugriff auf vorhandene Informationen zu organisieren. Hier laufen sämtliche geheimdienstliche Informationen zusammen, so dass sie mit weniger Personalaufwand und aus unterschiedlichster Perspektive ausgewertet werden können. Das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum, das die Spezial- und Analyseeinheiten des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz zusammenführt, soll die Sicherheitsbehörden unterstützen sowie Informations- und Wissensbestände verschiedener Behörden miteinander verknüpfen. Durch die Einbindung von Bundesnachrichtendienst, Kriminal- und Verfassungsschutzämtern der Länder, Bundesgrenzschutz, Zollkriminalamt und Militärischem Abschirmdienst in die gemeinsamen Arbeitsabläufe entstanden wichtige Synergieeffekte, so dass jenseits institutioneller Barrieren die rechtlichen Voraussetzungen für gemeinsame Projektdateien geschaffen werden konnten. Entsprechend wurde am 30. März 2007 auf Grundlage des Gesetzes zur Errichtung einer standardisierten zentralen Antiterrordatei von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten von Bund und Ländern (Antiterrordateigesetz) die Antiterrordatei in Betrieb genommen.[13] Hier werden die Datensätze aller Ermittlungsbehörden des Bundes und der Länder zusammengeführt. Zugriffsberechtigt sind neben Bundeskriminalamt, Bundespolizei, Bundesnachrichtendienst, Bundesamt für Verfassungsschutz, Militärischem Abschirmdienst auch die Landeskriminalämter, die Landesämter für Verfassungsschutz und Staatsschutzdienststellen der Länderpolizeien. In begründeten Fällen ist der Zugriff auf die Datei auch anderen von den Ländern bestimmten Dienststellen der Polizei möglich. Von den Betroffenen werden sowohl Grunddaten (wie Name, Geburtsdatum, Adresse, Sprachen, Dialekte und körperliche Merkmale) als auch erweiterte Daten (wie Bankverbindungen, Ausbildung, Beruf, Volkszugehörigkeit, Religionszugehörigkeit und Fahr- oder Flugerlaubnisse) gespeichert.[14] Die schärfste strafrechtliche Neuerung wurde im Rahmen des Gesetzes zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten (StraftVVG) vom 30. Juli 2009 erlassen. Gemäß den neu eingeführten Straftatbeständen in den Paragrafen 89a, 89b und 91 ist die Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten, die Kontaktaufnahme zwecks Unterweisung zur Begehung von Gewalttaten sowie die Verbreitung oder Beschaffung einer entsprechenden Anleitung zu einer solchen Tat unter Strafe zu stellen.[15] Problematisch ist hier die Tatsache, dass die Straftatbestände sehr unbestimmt gefasst und die Hürden für den Anfangsverdacht sehr niedrig gehalten sind. Wirkungsrealität der Sicherheitsgesetze Erklärtes Ziel der Sicherheitsgesetze nach "9/11" war es, die Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus bereits im Vorfeld geplanter Anschläge effektiv zu "bekämpfen". Viele Maßnahmen wurden zeitlich befristet. Ihre Verlängerung wurde an die Notwendigkeit einer Evaluierung gekoppelt. Dies macht naturgemäß nur dann Sinn, wenn die Evaluierung tatsächlich vor der Verlängerung der Frist stattfindet. Die Frage, ob eine Evaluierung der oben dargestellten Maßnahmen stattgefunden hat, und welche Ergebnisse diese hervorbrachte, rückt angesichts der grundsätzlichen programmatisch-ideologischen Divergenzen der politischen Entscheidungsträger in den Hintergrund. So lehnte die FDP noch als Oppositionspartei im Jahr 2006 das Terrorismusbekämpfungsgesetz mit der Begründung ab, dass die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit, sprich ein ausgewogenes Verhältnis zwischen öffentlicher Sicherheit und Eingriffe in die bürgerlichen Grundrechte, nicht gewährleistet sei. Ihre Position hat sich insofern gewandelt, als dass sie als Mitglied der Regierungskoalition bereit ist, einer Verlängerung der Sicherheitsmaßnahmen zuzustimmen, wenn sich der Koalitionspartner im Gegenzug bei der Vorratsdatenspeicherung dem liberalen Standpunkt - keine verdachtsunabhängige Speicherung von Daten - annähert.[16] Der koalitionsinterne Streit entfachte sich unter anderem durch die Ankündigung der EU-Kommission im März 2011, die Richtlinie zur Speicherung aller Telekommunikationsdaten überarbeiten zu wollen.[17] Neben einer zeitlichen Begrenzung der Datenspeicherung und einem konkreten Verdachtsmoment fordern Kritiker der aktuellen Handhabung auch, die Zahl der Behörden mit Zugriffsrechten auf die Datei einzuschränken. Ihre Position wurde durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts im März 2010 bestärkt.[18] Ein weiterer grundsätzlicher Streitpunkt im Zusammenhang mit den seit 2001 erlassenen Sicherheitsmaßnahmen ergibt sich aus dem Verdacht, durch eine stärkere Bündelung der sicherheitspolitischen, polizeilichen und nachrichtendienstlichen Landes- und Bundeskompetenzen das Prinzip der föderalen Organisation zu untergraben. So scheiterte beispielsweise der Versuch, die Kompetenzen des Bundesamtes für Verfassungsschutz zulasten der Landesbehörden zu stärken, bislang am Widerstand der Länder. Auch die angestrebte Zentralisierung aller operativen Einheiten des Bundeskriminalamtes (BKA) in Berlin ist nicht erreicht. Allerdings erhielt das BKA das Recht, ohne den Umweg über die Länderpolizei Informationen zu sammeln. Sicherheit, Legitimität, Elitendiskurs Die seit dem 11. September 2001 erlassenen Gesetze und Neuregelungen wurden vom Gesetzgeber mit einem Verfallsdatum versehen, weil ihre Wirkungen auf die bürgerlichen Grundrechte nicht unproblematisch sind. Durch die Befristung soll sicher gestellt werden, dass die Entscheidungsträger die Öffentlichkeit angemessen über die Nutzung und Wirkung der Antiterrorgesetze informieren. Zwar sind die Sicherung der Freiheit, der sozialen Wohlfahrt und des inneren Friedens die vornehmsten Aufgaben eines Staates. Jedoch kann es im Rahmen der Organisation von Sicherheit passieren, dass die staatlichen Aktivitäten gesellschaftlich nicht akzeptiert werden, so dass zivilgesellschaftliche Akteure korrigierend eingreifen müssen. Es reicht nicht aus, dass ein Konsens innerhalb der Regierung hergestellt wird. Auch die Sachargumente müssen offen gelegt werden. Sollten sich die Gesetze als effektiv erwiesen haben, so muss dies ebenfalls in die Gesellschaft hineingetragen werden, "denn nur in dem Maße, in dem staatlicher Zwang seine Sicherheitsfunktion im Sinne der Wahrung der Freiheit seiner Bürger erfüllt, kann er Legitimität beanspruchen".[19] Sicherheitspolitik muss inhaltliche Handlungsprogramme verwirklichen und den dafür notwendigen gesellschaftlichen, aber auch institutionellen Konsens organisieren. Dabei entspricht das Management des Sicherheitssektors der stetig vorausschauenden Analyse von Gefahrenpotenzialen und Entwicklungen, der Gestaltung des Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses sowie der Formulierung von sektorübergreifenden Handlungsanweisungen, die in ihrer Gesamtheit eine moderne diskursiv-kooperative Sicherheitspolitik darstellen. Diskursiv-kooperativ deswegen, weil sich eine effektive Sicherheitspolitik vermitteln lassen muss. Hier gibt es in Deutschland noch sehr viel Nachholbedarf. Der deutsche sicherheitspolitische Diskurs ist nach wie vor mehrheitlich ein Diskurs der Eliten. 1 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 31.3.2011. 2 Policy umfasst sowohl inhaltliche Handlungsprogramme, die von den politischen Akteuren und Instanzen verfolgt werden, als auch Resultate von politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen. 3 Hierbei handelt es sich um die Art und Weise wie policy zustande kommt (wie politische Strukturen oder Regierungskunst). 4 Vgl. Peter J. Katzenstein, Introduction, in: ders. (ed.), The Culture of National Security: Norms and Identity in World Politics, New York 1996, S. 1-32. 5 Vgl. Eckart Werthebach, Deutsche Sicherheitsstrukturen im 21. Jahrhundert; in: APuZ, (2004) 44, S. 10ff. 6 Vgl. Vereinsgesetz vom 5. August 1964 (BGBl. I S. 593), das zuletzt durch Artikel 6 des Gesetzes vom 21. Dezember 2007 (BGBl. I S. 3198) geändert worden ist, online: http://bundesrecht.juris.de/vereinsg/BJNR 005930964.html#BJNR005930964BJNG000100326 (15.6.2011). 7 Vgl. Text des Gesetzes: www.gesetze-im-internet.de/stgb/__129b.html (14.6.2011). 8v Vgl. Sicherheitsüberprüfungsgesetz vom 20. April 1994 (BGBl. I S. 867), das zuletzt durch Artikel 6 des Gesetzes vom 26. Februar 2008 (BGBl. I S. 215) geändert worden ist, online: www.gesetze.juris.de/s_g/BJNR086700994.html (15.6.2011). 9 Vgl. BGBl. Nr. 3, 2002, online: www.bmi.bund.de/SharedDocs/Gesetzestexte/ DE/Terrorismusbekaempfungsgesetz.pdf?__blob=publicationFile (14.6.2011). 10 Vgl. Kirstin Hein, Die Anti-Terrorpolitik der rot-grünen Bundesregierung, in: Sebastian Harnisch et al. (Hrsg.), Deutsche Sicherheitspolitik, Baden-Baden 2004, S. 148. 11 Vgl. Paragraf 1, Absatz 9 Terrorismusbekämpfungsgesetz (Anm. 11). 12 Vgl. Artikel 10-Gesetz vom 26. Juni 2001 (BGBl. I S. 1254, 2298), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 31. Juli 2009 (BGBl. I S. 2499) geändert worden ist, Paragraf 1, online: http://bundesrecht.juris.de/g10_2001/ BJNR125410001.html (14.6.2011). 13 Vgl. Antiterrordateigesetz vom 22. Dezember 2006 (BGBl. I S. 3409), das durch Artikel 5 des Gesetzes vom 26. Februar 2008 (BGBl. I S. 215) geändert worden ist, online: http://bundesrecht.juris.de/atdg/BJNR 340910006.html (15.6.2011). 14 Vgl. Paragraf 3, ebd. 15 Vgl. BGBl I, I (2009) 49, 3.8.2009, S. 2437-2442. 16 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 17.4.2011. 17 Vgl. Viviane Reding, Your data, your rights, Brüssel, 16.3.2011, online: http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=SPEECH/11/183 (15.6.2011). 18 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Konkrete Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung nicht verfassungsgemäß, Pressemitteilung vom 2.3.2010, online: www.bundesverfassungsgericht.de/presse mitteilungen/bvg10-011 (15.6.2011). 19 Walter Euchner (Hrsg.), John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt/M. 1977, S. 210. aus: APuZ 27/2011 - Der 11. September 2001 Am Ground Zero in New York entsteht das One World Trade Center (frühere Bezeichnung: Freedom Tower). (© AP)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2011-10-14T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/islamismus/dossier-islamismus/36399/folgen-des-11-september-2001-fuer-die-deutschen-sicherheitsgesetze/
Nach dem Schock von 9/11 kam es auch in Deutschland rasch zu gesetzlichen Veränderungen. Seitdem sind die damals erlassenen Gesetze und Neuregelungen immer wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzungen, denn ihre Folgen für die bürgerlichen Grun
[ "Islamismus", "11. September", "Terrorismus", "Terroranschlag", "Antiterrorismuspaket", "Terrorismusbekämpfungsgesetz" ]
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Bioethik in der Politik | Politische Steuerung | bpb.de
Einleitung Angesichts der fundamentalen Unsicherheiten, welche Wissenschaft und Technologie mit sich bringen, brauchen wir, so die Wissenschaftsforscherin Sheila Jasanoff, ein neues Verhältnis zwischen ExpertInnen, BürgerInnen und Politik sowie neue Formen der Legitimierung der Wissenschaft gegenüber der Öffentlichkeit. Diese sollten über Technologien der Kontrolle und Vorhersage, wie z.B. Risikoabschätzung, hinausgehen. Letztere hätten sich für die Thematisierung von Nicht-Wissen, moralischer und wissenschaftlicher Unsicherheit oder Ambivalenz als ungeeignet erwiesen. Stattdessen geht es, so Jasanoff, um "Technologien der Bescheidenheit", welche mögliche unvorhergesehenen Folgen sichtbar und den impliziten normativen Gehalt des vorgeblich rein Technischen explizit machen sowie die Notwendigkeit verschiedener Sichtweisen und kollektiven Lernens anerkennen. Im Folgenden möchten wir die Frage diskutieren, ob sich im Bereich der Wissenschafts- und Technologiepolitik bereits soziale Technologien entwickelt haben, welche die Kriterien der "Technologien der Bescheidenheit" in Jasanoffs Sinne erfüllen. Dazu lenken wir den Blick auf staatlich initiierte Institutionen und Verfahren, wie nationale Ethikkommissionen, Ethikräte, Ethikbeiräte, Anhörungen oder auch Konsultationsverfahren. Diese Institutionen und Verfahren, deren Aufgabe es ist, die politische Willensbildung und/oder Entscheidungsfindung an kollektive Beratungen über "ethische Fragen" zu binden, sind nur ein Teilbereich der Bioethik. Daneben gibt es je nach institutionellem Kontext die akademische, klinische, hospitale oder auch die betriebliche Bioethik. Für solche Institutionen, Verfahren und Praktiken, die staatlich initiiert, getragen oder gefördert werden, haben wir im Forschungsprojekt Ethical Governance?, auf dem dieser Artikel basiert, die Bezeichnung "gouvernementales Ethikregime" gewählt. Dieses Projekt befasste sich mit der Entwicklung solcher Regime in Deutschland, Frankreich und Großbritannien seit den 1980er Jahren. Seit diesem Zeitpunkt haben sich in den meisten westlichen Ländern eine Reihe von Verfahren, Praktiken und Institutionen entwickelt, die in der einen oder anderen Weise den Terminus "Ethik" im Titel führen. Erfüllt das gouvernementale Ethikregime Jasanoffs Kriterien der "Technologien der Bescheidenheit"? Wenn ja, in welchem Sinne und um welchen Preis? Unsere Einschätzung lautet: Ja, aber. Ja: Tatsächlich stellt das Ethikregime ein Set von Technologien des Denkens und Sprechens über die Wissenschafts- und Technologieentwicklung bereit, das in vielerlei Hinsicht über traditionelle Technologien der Vorhersage und Kontrolle, wie z.B. Technikfolgen- oder Risikoabschätzung, hinausgeht. Das Ethikregime entspricht nicht mehr dem alten, expertokratischen Modell der Wissenschaftspolitik, das von der sozialwissenschaftlichen Wissenschafts- und Technikforschung vielfach als elitistisch und technikzentriert kritisiert worden ist. Etwas Neues hat sich herausgebildet. Aber: Dieses neue Modell hat seine eigenen Probleme und Ambiguitäten, die wir im Folgenden aufzeigen werden. Hierbei dient uns das expertokratische Modell der Wissenschafts- und Technologiepolitik als Kontrastfolie. Das alte Modell trägt folgende Kennzeichen: Es basiert auf den Werten der Rationalität, Effizienz und der Expertise; es verlässt sich hauptsächlich auf quantitative, probabilistische Methoden und formale Analysetechniken; es ist an (messbaren) Folgen und Auswirkungen, aber nicht an Prozessen und Kontexten interessiert; seine institutionelle Entsprechung sind Politikberatungsgremien, besetzt mit wissenschaftlichen ExpertInnen; die Interaktion verläuft zwischen ExpertInnen und PolitikerInnen, die Öffentlichkeit bleibt außen vor. Die Grundidee des technokratischen Modells ist, dass wissenschaftliche ExpertInnen der Politik ein "objektives", auf neutralen, wissenschaftlich erwiesenen Fakten basierendes Bild der Wirklichkeit präsentieren, d.h. "die Wahrheit sagen", auf deren Grundlage die Politik Entscheidungen trifft. Von diesem Modell weicht das Ethikregime in mehrfacher Hinsicht ab. Kein Wahrheitsanspruch, kein Monopol der Wissenschaft "Ethik", so haben unsere InterviewpartnerInnen betont, sei nicht gleichbedeutend mit Wahrheitsproduktion. Eine Angehörige des Comité Consultatif National d'Éthique (CCNE), des französischen Nationalen Ethikkomitees, erklärte: "(M)an muss sagen, dass wir unsere Stellungnahmen nicht als Wahrheit ansehen. Wenn Sie so wollen, sind unsere Stellungnahmen prekär, weil wir zu einem bestimmten Zeitpunkt den Stand des Wissens diskutieren, das evolutionär ist, und zu einem Moment der sozialen Akzeptabilität, die auch evolutionär ist. Also, unsere Stellungnahmen sind prekär und reversibel." Mit dem Anspruch auf Wahrheit wird auch der Anspruch zurückgewiesen, Handlungsanweisungen zu geben. Ein Mitglied des deutschen Nationalen Ethikrats (NER) betonte: "Wir haben uns von Anfang an als eine Instanz [verstanden; d. Verf.], die Diskussionen anregt, die die Diskussionen unter Umständen auslöst, aber keineswegs den Anspruch erhebt, definitive Antworten zu geben." Ähnlich erklärte ein Mitglied des englischen Nuffield Council in Bezug auf dessen Empfehlungen: "(T)his is not prescriptive, this is just telling you what issues you have to address when you're setting up research, you've got to think about them." Wir sehen hier das paradoxe Selbstverständnis, Prinzipien aufzuzeigen, die dem Handeln im Bereich von Wissenschafts- und Technologieentwicklung nötigenfalls Grenzen setzen können, ohne sich jedoch darauf festzulegen, welche Prinzipien dies sein sollen und warum sie richtig sind. Diese paradoxe Aufgabe hatte bereits in den 1980er Jahren Lady Warnock, die Vorsitzende der einflussreichen Warnock-Commission in Großbritannien, so formuliert: "What is common (...) is that people generally want some principles or other to govern the development and use of the new techniques." Das Ergebnis ist eine eingebaute Verzeitlichung der Grenzen, wenn sie denn überhaupt gesetzt werden; sie sind vorläufig und wandelbar und gelten nur so lange, bis neue (vorübergehende) Grenzen festgesetzt werden - eben "evolutionär, reversibel und prekär". Was die ExpertInnen der Ethikkommissionen der Politik anzubieten haben, ist dem eigenen Selbstverständnis nach nicht, wie im klassischen technokratischen Modell, die objektive Repräsentation der Wirklichkeit, welche die Politik nur um den Preis falscher Entscheidungen ignorieren kann. Auch in Bezug auf die Zusammensetzung der Kommissionen und Verfahren unterscheidet sich das Ethikregime vom klassischen technokratischen Modell der Politikberatung. Zwar ist in fast allen diesen Kommissionen, Räten und Verfahren dafür gesorgt, dass ein Teil der Mitglieder aus Medizin und Wissenschaft stammt, und es ist das Privileg der Wissenschaft, für das Verfassen von Informationsmaterialien zuständig zu sein, die als Diskussionsgrundlage fungieren. Damit wird bis zu einem gewissen Grad an der Idee festgehalten, dass die Wissenschaft das objektive und notwendige Wissen zur Verfügung stellen muss, auf dessen Basis normative Urteilsbildung sinnvoll stattfinden kann. Allerdings wird dem Gewicht von Medizin und Wissenschaft fast immer ein "Ausgleich" gegenüberstellt: Nahezu alle Institutionen schreiben die Beteiligung von nichtnaturwissenschaftlichen oder nichtmedizinischen Mitgliedern vor. Dieses Gegengewicht ist in den drei untersuchten Ländern unterschiedlich konstruiert. Die Satzungen der britischen Gremien (Human Fertilization and Embryology Authority/HFEA, Human Genetics Commission/HGC, Nuffield Council) schreiben eine mindestens 50-prozentige Beteiligung von Laien vor, die sich dadurch auszeichnen, dass sie Nicht-MedizinerInnen, Nicht-BiowissenschaftlerInnen und nicht im Bereich der Biotechnologie oder Biomedizin tätig sind. Im französischen CCNE müssen die fünf wichtigsten weltanschaulichen Spektren vertreten sein, nämlich Katholizismus und Protestantismus, das Judentum, der Islam und der Atheismus. In Deutschland ist die Idee der Laienbeteiligung oder des weltanschaulichen Pluralismus zwar nicht formell festgeschrieben, die Vorstellung einer Repräsentanz verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und akademischer Disziplinen spielt bei der Besetzung des Nationalen bzw. Deutschen Ethikrats aber zumindest informell ebenso eine Rolle. In der Zentralen Ethikkommission für Stammzellforschung ist per Gesetz die Beteiligung von EthikerInnen und TheologInnen als Gegenwicht zu Medizin und Wissenschaft vorgeschrieben. Modellhafte Mäßigung Aufgrund welcher Kompetenzen werden Mitglieder von Ethikinstitutionen rekrutiert, die gerade nicht BiowissenschaftlerInnen oder MedizinerInnen sein sollen? Sie werden formell weder als InteressenvertreterInnen berufen noch als VertreterInnen einer politischen Position - wenngleich dies informell durchaus geschehen mag. Sie werden also nicht als politische AkteurInnen rekrutiert und sollen nicht als solche handeln. Als politische AkteurInnen würden sie für die eigene Position bzw. die eigenen Interessen kämpfen, versuchen, diese gegen andere durchzusetzen und damit einen Wahrheitsanspruch erheben, eine Haltung, die im Rahmen des Ethikregimes nicht erwünscht ist. Allerdings werden die nichtwissenschaftlichen Mitglieder auch nicht auf Grund ihrer ethischen Fachkompetenz ernannt. Ausgebildete EthikerInnen sind im Gegenteil eher selten. Die maßgebliche Kompetenz ist nach Auskunft unserer InterviewpartnerInnen eine Befähigung zur moderaten Kommunikation. So kann der CCNE primär als nationales "Vorreflexions-Komitee" verstanden werden, das der Öffentlichkeit ein Modell für eine vernünftige, moderate Konfliktlösung und Verständigung demonstriert. Auch der NER fordert eine gemäßigte Debatte: "Der Nationale Ethikrat sieht die erste und wichtigste Voraussetzung für eine politische Lösung des [Stammzell-]Konflikts in einer Kultur wechselseitiger Achtung, in deren Geist abweichende Meinungen respektiert und vorgetragene Argumente sachlich geprüft werden. Jeder Seite muss zugestanden werden, dass sie sich ernsthaft um die Begründung ihrer Position bemüht." Für diesen Modus der Verständigung ist eine moderate Haltung wichtig, die keinen Anspruch auf Wahrheit erhebt. Ein Mitglied des CCNE sprach von der "ethische(n) Reflexion, die meines Erachtens immer gemäßigt sein muss - (...), keiner erhebt hier den Anspruch auf Wahrheit (...)". Ein Wahrheitsanspruch würde die Verständigung erschweren, da damit zugleich behauptet würde, entgegenstehende Positionen seien falsch. Diese pluralistische, liberale Auffassung ist auch in Großbritannien zentral: Alle können ihre Perspektiven einbringen, definitive normative Urteile gibt es nicht. Allerdings ist der Pluralismus in Großbritannien keineswegs grenzenlos. Es fallen diejenigen aus dem Rahmen, die sich dieser liberalen Auffassung nicht anschließen und behaupten, bestimmte Handlungsweisen seien falsch und deshalb zu bekämpfen. Die damalige Vorsitzende der HFEA erklärte, dass Angehörige einer Lebensschutzorganisation nicht Mitglied der HFEA werden können: "I think that you must subscribe to the acceptability of IVF and the acceptability of embryo research. I do not think that you could sit on the Authority and exercise the kind of decision-making that we have to do if you were fundamentally opposed to the activities that we regulate." Denjenigen, die eine moralisch rigorose Haltung einnehmen, fehlt die entscheidende Schlüsselkompetenz, die ein "gutes" Mitglied des Ethikregimes mitbringen muss: die Bereitschaft, alle Positionen als prinzipiell diskutabel zu betrachten. Ein "gutes" Mitglied kann auch kontroverse Auffassungen so vertreten, dass sich niemand vor den Kopf gestoßen fühlt, es ist offen, umgänglich und trägt auch unter Bedingungen des Dissenses zur rationalen Verständigung bei. Es ist im Falle nichtwissenschaftlicher Mitglieder weniger Fachkompetenz, durch welche sie sich als Mitglied einer Ethikinstitution qualifizieren, als eine bestimmte Haltung. Die geforderte Offenheit ist jedoch zugleich ein Mechanismus der Schließung: Wer in bestimmten Fragen nicht kompromissbereit ist, bestimmte Praktiken für nicht diskutabel hält und an der unveränderlichen Geltung fundamentaler Normen festhält, erfüllt diese Qualifikation nicht und kann, wie im Falle von LebensschützerInnen bei der HFEA, von der Teilnahme ausgeschlossen werden. Öffentlichkeitsbezug Der britische Wissenschaftsforscher Alan Irwin hat die Wendung zu einer neuen Politik im Umgang mit gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technikkontroversen konstatiert, die er politics of talk nennt. Sein Untersuchungsgegenstand war zwar die britische Kontroverse um gentechnisch veränderte Organismen, jedoch können wir die neue Politik des Sprechens, welche durch die Betonung von Offenheit, Transparenz und Öffentlichkeitsbeteiligung gekennzeichnet ist, auch in der Struktur und Funktionsweise des Ethikregimes erkennen. Der Anspruch auf Einbeziehung der Öffentlichkeit ist in allen drei Ländern vorzufinden, in Großbritannien allerdings sehr viel ausgeprägter als in Deutschland und Frankreich. In Großbritannien hat die HFEA, zum Teil gemeinsam mit der HGC, zwischen 1994 und 2007 siebzehn öffentliche Konsultationen zu biomedizinischen und -technologischen Themen durchgeführt. Diese Konsultationen enthalten in der Regel die Aufforderung an die Öffentlichkeit, ein von der Kommission erstelltes Positionspapier zu kommentieren. Die HGC hat zudem Techniken entwickelt, um einen Input von der Öffentlichkeit zu erhalten, z.B. öffentliche Versammlungen, Fokusgruppen, persönliche Interviews mit BürgerInnen, eine Jugendkonferenz mit SchülerInnen und ein consultative panel, bestehend aus Personen, die persönlich von bestimmten, so genannten genetischen Defekten betroffen sind. Der Zweck solcher Öffentlichkeitsbeteiligung ist nicht mehr nur die einseitige Wissenschaftsvermittlung, d.h. die Vermittlung wissenschaftlichen Wissens von der Wissenschaft an die BürgerInnen. Die Ansprache der Öffentlichkeit ist vielmehr Vehikel dafür, die aktive persönliche Auseinandersetzung eines jeden und einer jeden Einzelnen mit den Möglichkeiten der Biomedizin anzuregen. Das Ziel des öffentlichen Dialogs beschreibt der NER so: "Jeder muss sich ein Bild von den Chancen und Risiken der neuen Techniken machen können, um sich auf dieser Grundlage ein eigenes Urteil zu den damit verbundenen ethischen Problemen bilden zu können. Zu diesem Zweck wird sich der Ethikrat darum bemühen, aktuelle Probleme in ihren Voraussetzungen und Folgen verständlich zu machen." Der öffentliche Dialog spricht die Einzelnen an und fordert sie auf, sich in eine persönliche Beziehung zu den neuen Technologien zu setzen. Dies ist nicht nur ein Wissensvermittlungs-, sondern auch ein Erziehungsprozess, in dem "normale" BürgerInnen dazu erzogen werden, biotechnischen oder medizinischen Entwicklungen persönliche Bedeutung beizumessen und ihnen einen Platz in ihrem Denken und womöglich Leben zu geben. In Frankreich ist die Einbeziehung der Öffentlichkeit vor allem in den jährlich stattfindenden Journées annuelles d'éthique institutionalisiert. Hier werden Stellungnahmen des CCNE vorgestellt und diskutiert. Eine besondere Zielgruppe sind SchülerInnen. Sie werden eingeladen, sich in die ethische Diskussion einzubringen: "Auf diese Art werden naive Fragen, Laienfragen gestellt, die die Reflexion des Ethikrates hervorrufen können. Es ist für den CCNE ein Gewinn, diese Journées zu haben (...)." Die Jugendlichen sollen als BürgerInnen die "bioethische" Reflexion üben, wie uns ein Interviewpartner erklärte. Als erfolgreich gilt dieser Einübungsprozess dann, wenn sie verstehen, dass man in der Ethik nie zu endgültigen Lösungen kommt. Es geht also nicht darum, den Teilnehmenden das "richtige" Verständnis bestimmter Sachverhalte zu übermitteln, sondern es gilt, sie zum Nachdenken, Diskutieren, Abwägen und zur Meinungsbildung anzuregen, auch zu Themen, die für sie bis dahin nicht von Bedeutung waren. Vor allem sollen sie verstehen, dass der Diskurs prinzipiell unabgeschlossen bleiben muss. Darüber hinaus dienen die Übungen der jungen Leute dem Komitee als Inspirationsquelle: Ihre "Naivität" wird als Ressource verstanden, um Anregungen für die Stimulation des Diskurses (auch im CCNE) zu erhalten. Zugleich fungieren sie als MultiplikatorInnen, welche die eingeübte "ethische" Reflexion in die Familien tragen. Hier zeigt sich ein Modell, das in ähnlicher Weise auch in Deutschland und Großbritannien zu finden ist. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass den ExpertInnen weniger eine Wissensproduktions- oder Wissensvermittlungsfunktion als eine Moderations- und Stimulationsfunktion zukommt. Sie sollen primär die Diskussion stimulieren, anleiten und moderieren, aber keine Inhalte oder Antworten vorgeben. Zudem handelt es sich nicht um eine One-way-Kommunikation, vielmehr nehmen auch die ExpertInnen etwas aus der Öffentlichkeit auf. Dabei ist es wichtig, die Teilnehmenden selbst zum Sprechen zu bringen und aktiv einzubeziehen, weil die ExpertInnen Ideen für die weitere Gestaltung des Diskurses erhalten können. Zudem ist das Sprechen ein notwendiger Bestandteil des Prozesses, in welchem die Teilnehmenden die richtige Art der ethischen Reflexion lernen. Das Attribut "richtig" bezieht sich dabei nicht auf den Inhalt von normativen Urteilen, sondern auf die Art und Weise des Nachdenkens und Sprechens; das "richtige Sprechen" ist moderat und perpetuell, es vermeidet antagonistische Konstellationen und inhaltliche Festlegungen. Der Sinn der Öffentlichkeitsbeteiligung liegt darin, das "richtige Sprechen", das zunächst im begrenzten Kreis der Ethikinstitutionen praktiziert und der Öffentlichkeit modellhaft vorgeführt wurde, in die Bevölkerung zu tragen. Die Idee, gezielt MultiplikatorInnen einzubinden, um das "richtige Sprechen" zu verbreiten, ist auch in die Förderpraxis des Bundesforschungsministeriums (BMBF) eingegangen. Es veröffentlichte im Mai 2006 einen Aufruf, Diskursprojekte "zu ethischen, rechtlichen und sozialen Fragen in den modernen Lebenswissenschaften" einzureichen. Der Problemhintergrund und die allgemeine Zielsetzung werden im Aufruf wie folgt beschrieben: "Die Fortschritte in den modernen Lebenswissenschaften (...) eröffnen neue, vielversprechende Ansatzmöglichkeiten in medizinischer Diagnostik und Therapie (...), werfen jedoch auch gewichtige ethische, rechtliche und soziale Fragen auf", die nicht ExpertInnen allein überlassen bleiben können, sondern auch "von einer gut informierten Öffentlichkeit mitgestaltet und mitgetragen werden" müssen. Das Förderprogramm des Bundesforschungsministeriums zielt auf die Einbindung "junge(r) Menschen in den Diskursprozess" sowie auf die Entwicklung neuer Projektformen. Die Zielgruppen sollen "junge Menschen" sein oder "Akteure der Jugend- und Erwachsenenbildung", wobei die Projekte darauf zielen, "zu einer qualifizierten Entwicklung und Verstetigung bioethischer Diskursprozesse beizutragen". Die Diskurse sollen aber weiterhin von ExpertInnen angeleitet werden. Dafür müssen diese eine besondere Art Wissen aufbringen, nämlich ein Verfahrenswissen: "Antragsteller müssen einschlägige wissenschaftliche Expertise und praktische Erfahrung in der Durchführung von Diskursveranstaltungen ausweisen." Das Programm richtet sich an DiskursexpertInnen. Deren Produkte sind nicht inhaltliche Empfehlungen, sondern Verfahrensinnovationen. Es geht um "innovative Projektformen, die einen besonderen methodischen Akzent auf die Verbesserung von Diskursverfahren legen". Obwohl keine inhaltlichen Lernziele, weder wissenschaftlicher noch normativer Art, benannt werden, gibt es dennoch einen inhaltlichen Rahmen, in dem sich die Projekte bewegen müssen: "Die Fortschritte in den modernen Lebenswissenschaften (...) eröffnen neue, vielversprechende Ansatzmöglichkeiten in medizinischer Diagnostik und Therapie." Das betrifft "die bereits erzielten und noch zu erwartenden Forschungsfortschritte (...)." Dass der biowissenschaftliche Fortschritt voranschreiten wird und notwendig ist, wird vorausgesetzt. Diese Prämisse zu akzeptieren gehört zu den Geschäftsbedingungen für die Teilnahme. "Reflexive Government" Seit Aufkommen der technik- und wissenschaftsskeptischen Bewegungen in den 1970er Jahren steht die Wissenschafts- und Technologiepolitik vor einem Dilemma, das man mit Michel Foucault als klassisches Dilemma liberalen Regierens verstehen kann: Die Politik soll einerseits die Freiheit des Individuums und die der Wissenschaft sichern und andererseits die Öffentlichkeit ernst nehmen und die Gesellschaft vor Risiken und Gefahren schützen, die aus der Ausübung der Freiheit erwachsen könnten. Das gouvernementale Ethikregime kann als Antwort auf dieses Dilemma verstanden werden; es soll die Bedenken der Öffentlichkeit ansprechen und gleichzeitig eine dynamische Entwicklung von Wissenschaft und Technologie ermöglichen. Es stellt ein Set von politischen Technologien bereit, die dem Management gesellschaftlicher Konflikte dienen. Diese Technologien tragen typisch neoliberale Züge und lassen sich mit den Begriffen des governing at a distance (Rose/Miller) oder des reflexive government (Dean) verstehen: Der Staat sagt den BürgerInnen und der Wissenschaft nicht, was sie tun oder lassen sollen oder was richtig und was falsch ist; gesetzliche Regelungen der Biomedizin werden tendenziell flexibilisiert und dynamisiert; Verbote werden gelockert; die Öffentlichkeit wird nicht ausgeschlossen, sondern zum Reden eingeladen; staatlich geförderte Diskursprojekte sollen den BürgerInnen nicht vermitteln, was richtig oder falsch ist, sondern sie zur "bioethischen" Eigeninitiative und Eigenverantwortung anregen. Auch das Ethikregime sagt uns nicht, was wir tun sollen, es gibt keine Handlungsanweisungen an Wissenschaft, BürgerInnen oder Politik, sondern es strukturiert die Art und Weise, in der über die Entwicklungen in Medizin, Wissenschaft und Technologie gesprochen werden kann. Von reflexive government kann man insofern sprechen, als die Formen und Verfahren des Ethikregimes beständig überdacht, diskutiert und modifiziert werden, auch und gerade im Diskurs mit den BürgerInnen, deren Beiträge als Inspiration für die weitere Entwicklung des Diskurses dienen: Diskursstimulation zur Diskursinnovation und Diskursinnovation zur Diskursstimulation, ein Perpetuum Mobile. Im Vergleich zwischen dem Ethikregime und dem technokratischen Modell ergeben sich folgende Unterschiede: Das Ethikregime erhebt keinen Anspruch auf Wahrheit oder Objektivität. Es ist nicht allein den Werten von Rationalität und Effizienz verpflichtet, sondern thematisiert auch Werte wie Menschenwürde, Autonomie oder Kindeswohl. Die Gremien sind nicht nur mit wissenschaftlichen ExpertInnen besetzt, und die Öffentlichkeit wird nicht ausgeschlossen, sondern einbezogen. Es geht nicht nur um Fakten, messbare Phänomene, Vorhersage und Kontrolle. Die Pluralität möglicher Sichtweisen wird enthusiastisch bekräftigt, und die Weiterentwicklung der Diskursverfahren könnte man als Beleg kollektiven Lernens deuten. Insofern wären die zentralen Anforderungen Sheila Jasanoffs an die zu entwickelnden "Technologien der Bescheidenheit" erfüllt. Allerdings hat diese Pluralität und Offenheit ihren Preis - den des "richtigen Sprechens". Es ist verpflichtet auf Zulässigkeit aller möglichen Themen und Positionen und auf die Vorläufigkeit aller möglichen Ergebnisse, ferner darauf, dass es mit Wissenschaft und Ethik immer weitergeht. Diese Offenheit und Beweglichkeit hat Ausschlussmechanismen: Wer stabile Grenzen fordert, die Notwendigkeit weitergehender Forschung und technologischer Innovation bestreitet, "ethischen" DialogpartnerInnen Eigeninteresse unterstellt, wer bestimmte Positionen oder Praktiken für "falsch" erklärt und zu bekämpfen gedenkt, wer potentiell Machbares für undenkbar hält, fällt aus dem Rahmen des "richtigen ethischen Sprechens" heraus. Alles muss in diesem Rahmen möglich sein, nur eines nicht: Nein zu sagen. Vgl. allg. zum Folgenden Kathrin Braun/Svea Luise Herrmann/Alfred Moore/Sabine Könninger, Die Sprache der Ethik und die Politik des richtigen Sprechens. Ethikregime in Deutschland, Frankreich und Großbritannien, in: Renate Mayntz/Friedhelm Neidhardt/Peter Weingart/Ulrich Wengenrodt (Hrsg.), Wissensproduktion und Wissenstransfer, Bielefeld 2008, S. 221 - 242. Sheila Jasanoff, Technologies of Humility: Citizen Participation in Governing Science, in: Minerva, 41 (2003) 3, S. 240. Die akademische Bioethik findet in Forschung und Lehre an Hochschulen und Universitäten statt, die klinische Bioethik begleitet die Forschung am Menschen, sei es in Universitäten oder Forschungseinrichtungen, die betriebliche Bioethik stattet Unternehmen, wie privatwirtschaftliche Biobanken, z.B. mit einem Ethikkodex aus, und die hospitale Bioethik nimmt die Form der Kollegialberatung über Leben und Sterben von PatientInnen im Krankenhaus an. Weitere institutionelle Kontexte sind denkbar. Das Forschungsprojekt "Ethical Governance?" wurde am Institut für Politische Wissenschaften der Leibniz Universität Hannover durchgeführt. Für die Untersuchung der "gouvernementalen Ethikregime" wurden Dokumente (Einsetzungsbeschlüsse, Berichte, Stellungnahmen, Sitzungsprotokolle) der verschiedenen Institutionen ausgewertet, Interviews mit Mitgliedern geführt sowie Literatur zu den älteren Kommissionen oder Verfahren, die zum Teil bereits unter anderen Fragestellungen erforscht wurde, bearbeitet. Diese Forschung wurde durch die Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ermöglicht (Förderkennzeichen 07SP31). Wir beziehen uns auf Daniel J. Fiorino, Technical and Democratic Values in Risk Analysis, in: Risk Analysis, 9 (1989) 3, S. 293; Sheila Jasanoff, The Fifth Branch. Science Advisers as Policymakers, Cambridge 1994, S. 11; Alonzo Plough/Sheldon Krimsky, The emergence of risk communications studies: social and political context, in: Science, Technology, and Human Values, 12 (1987) 3/4, S. 4 - 10. Mary Warnock, A Question of Life: The Warnock Report on Human Fertilization and Embryology, Oxford 1985, S. 2 (Hervorhebung im Original). Vgl. STC, House of Commons Science and Technology Select Committee: Human Reproductive Technologies and the Law, London 2005, S. 87. Vgl. CCNE, Présentation du Comité consultatif national d'éthique pour les sciences de la vie et de la santé. 2001, in: www.ccne-ethique.fr/francais/start.htm (8.4. 2006). Nationaler Ethikrat, Zum Import menschlicher embryonaler Stammzellen. Stellungnahme, Berlin 2001, S. 11. Vgl. Dominique Memmi, Les Gardiens du Corps. Dix Ans de Magistère Bio-éthique, Paris 1996. STC (Anm. 7), S. 91; Q 1259. IVF: in vitro fertilisation, künstliche Befruchtung. Vgl. Alan Irwin, The Politics of Talk: Coming to Terms with the "New" Scientific Governance, in: Social Studies of Science, 63 (2006) 2, S. 299 - 320. Nationaler Ethikrat (Anm. 9), S. 7. Teilnehmende Beobachtung Sabine Könninger, Journées annuelles d'éthique (16.-17.11. 2004), Université Paris V René Descartes, Grand Amphithéâtre, Paris. Vgl. BMBF, Richtlinien zur Förderung von Diskursprojekten zu ethischen, rechtlichen und sozialen Fragen in den modernen Lebenswissenschaften, 6.5. 2006, in: www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/1276.php (12.1. 2009); dort auch die folgenden Zitate; Hervorhebungen der Verf. Vgl. Michel Foucault, Die Gouvernementalität, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M. 2000, S. 41 - 67; ders., Das Subjekt und die Macht, in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow (Hrsg.), Michel Foucault: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim 1994, S. 241 - 261. Vgl. Nikolas Rose/Peter Miller, Political power beyond the State: Problematics of government, in: The British Journal of Sociology, 43 (1992) 2, S. 173 - 205; Mitchell Dean, Governmentality. Power and Rule in Modern Society. London 1999.
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, Kathrin Braun / , Svea Luise Herrmann / , Sabine Könninger / Moore, Alfred
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32193/bioethik-in-der-politik/
Neue Institutionen und Verfahren der ethischen Auseinandersetzung mit biomedizinischen Entwicklungen sind zwar durch Pluralität und öffentliche Teilnahme gekennzeichnet, schließen jedoch ein Nein zu potenziellen Entwicklungen aus.
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Unterzeichnung der Charta der Vereinten Nationen | Hintergrund aktuell | bpb.de
Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges mit seinen verheerenden Folgen versammelten sich am 25. April 1945 Vertreter aus 50 Staaten in San Francisco, Interner Link: um über eine neue Weltordnung zu beraten. Nach langen Verhandlungen unterzeichneten sie dort am 26. Juni 1945 die Externer Link: Charta der Vereinten Nationen. Da Polen an der Gründungskonferenz nicht teilnehmen konnte, trat es später als 51. Gründungsstaat hinzu. Das Hauptziel der Charta war und ist es Externer Link: den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren. Nur wenige Monate nach ihrer Unterzeichnung trat sie am 24. Oktober in Kraft und die Interner Link: Vereinten Nationen (United Nations, UN) wurden gegründet. Nicht der erste Versuch Bereits nach Ende des Interner Link: Ersten Weltkrieges hatten die Siegermächte 1919 versucht mit dem Völkerbund eine Organisation zu schaffen, die es den Staaten ermöglichen sollte, sich friedlich zu verständigen und Kriege zu verhindern. Doch die Statuten des Völkerbundes sahen weder ein absolutes Gewaltverbot vor, noch besaßen sie Möglichkeiten, Verstöße gegen das eingeschränkte Gewaltverbot zu sanktionieren. Zudem konnte US-Präsident Woodrow Wilson, der sich Interner Link: für den globalen Staatenbund starkgemacht hatte, im eigenen Land keine Mehrheit für einen Beitritt erreichen. Letztlich fehlte dem Völkerbund eine umfassende Anerkennung. Zu keinem Zeitpunkt konnte er mehr als zwei Drittel aller Staaten hinter sich versammeln und wurde 1946 aufgelöst. Die Charta und ihre Ziele Erste Entwürfe für eine neue Weltordnung entstanden bereits in den frühen Kriegsjahren, wie beispielsweise die Atlantik-Charta des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt und des britischen Premiers Winston Churchill aus dem Jahr 1941. Unter Einbeziehung der Sowjetunion nahmen diese Entwürfe in den Konferenzen von Moskau und Teheran (1943), Dumbarton Oaks in Washington D.C. (1944) und Jalta (Februar 1945) immer mehr Gestalt an. Die Grundlagen für die Charta einer neuen Weltorganisation waren daher insbesondere von den Vorstellungen der USA, der Sowjetunion und des Vereinigten Königreichs geprägt. Neben der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit sind in der UN-Charta Interner Link: die folgenden Ziele festgeschrieben: friedliche Schlichtung aller Streitigkeiten, Verzicht auf Gewaltanwendung, Achtung der Gleichheit und der nationalen Souveränität aller Staaten, Förderung freundschaftlicher Zusammenarbeit zur Friedenssicherung, Förderung der internationalen Zusammenarbeit, um wirtschaftliche, soziale, kulturelle und humanitäre Probleme zu lösen, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ungeachtet der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion. Charta der Vereinten Nationen – Präambel "WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIONEN - FEST ENTSCHLOSSEN, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern, UND FÜR DIESE ZWECKE Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, daß Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern - HABEN BESCHLOSSEN, IN UNSEREM BEMÜHEN UM DIE ERREICHUNG DIESER ZIELE ZUSAMMENZUWIRKEN. Dementsprechend haben unsere Regierungen durch ihre in der Stadt San Franzisko versammelten Vertreter, deren Vollmachten vorgelegt und in guter und gehöriger Form befunden wurden, diese Charta der Vereinten Nationen angenommen und errichten hiermit eine internationale Organisation, die den Namen "Vereinte Nationen" führen soll." Quelle: Externer Link: Charta der Vereinten Nationen Struktur der UN Die UN besitzen sechs Hauptorgane: Die Interner Link: Generalversammlung, den Interner Link: Sicherheitsrat, den Wirtschafts- und Sozialrat, den Treuhandrat, das Sekretariat mit dem Interner Link: Generalsekretär an der Spitze und den Interner Link: Internationalen Gerichtshof. Zusätzlich existiert eine Vielzahl von Nebenorganen – Interner Link: Programme und Fonds, wie beispielsweise das Flüchtlingskommissariat oder das Welternährungsprogramm und Sonderorganisationen, wie die Weltgesundheitsorganisation. "WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIONEN - FEST ENTSCHLOSSEN, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern, UND FÜR DIESE ZWECKE Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, daß Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern - HABEN BESCHLOSSEN, IN UNSEREM BEMÜHEN UM DIE ERREICHUNG DIESER ZIELE ZUSAMMENZUWIRKEN. Dementsprechend haben unsere Regierungen durch ihre in der Stadt San Franzisko versammelten Vertreter, deren Vollmachten vorgelegt und in guter und gehöriger Form befunden wurden, diese Charta der Vereinten Nationen angenommen und errichten hiermit eine internationale Organisation, die den Namen "Vereinte Nationen" führen soll." Quelle: Externer Link: Charta der Vereinten Nationen Gegenwärtig haben die UN 193 Mitglieder. 2011 trat der Interner Link: Südsudan als bisher Externer Link: letzter Mitgliedsstaat bei. Der Vatikanstaat sowie eine kleine Anzahl von Staaten, die lediglich von einer Minderheit der UN-Staaten anerkannt sind, zum Beispiel Taiwan, der Kosovo und die Türkische Republik Nordzypern, sind nach wie vor keine Mitglieder der UN. Als Generalsekretär amtiert seit 2007 der Südkoreaner Ban Ki-moon. Blockierung des Sicherheitsrats Laut Artikel 24 der Charta trägt der Sicherheitsrat "die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit". Allerdings gibt es bis heute innerhalb des Sicherheitsrates Probleme, gemeinsame Beschlüsse zu fassen und durchzusetzen. Seine Zusammensetzung spiegelt die globalen Machtverhältnisse zu Ende des Zweiten Weltkriegs wider: die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien sind ständige Mitglieder des Rates. Mit ihrem Vetorecht können sie verhindern, dass gemeinsame Beschlüsse gefasst werden. Aufgrund der äußerst unterschiedlichen Interessen der Vetomächte kann die UN in den gegenwärtigen Konflikten in Syrien und in der Ukraine keine zentrale, friedensstiftende Rolle spielen. Kritik und Reformversuche Mit der Zeit ist sowohl die Zahl der Mitgliedsstaaten der UN enorm gewachsen, als auch die Zahl der Aufgaben, denen sie sich widmet und hierfür immer neue Organisationseinheiten benötigt. Dies hat die Komplexität des Interner Link: UN-Systems erheblich gesteigert und ihm immer wieder den Vorwurf der Unübersichtlichkeit und der partiellen Ineffizienz eingetragen. Indien, Brasilien, Japan und Deutschland setzen sich seit Langem für eine Reform des Sicherheitsrates ein. Aus ihrer Perspektive Externer Link: ist es nötig, die Zusammensetzung des Sicherheitsrates an die globalen Realitäten von heute anzupassen. Bereits im Jahr 2005 hatten sie daher vorgeschlagen, den Sicherheitsrat um sechs ständige Mitglieder (je zwei Sitze für Asien und Afrika und je einen Sitz für die Westliche Gruppe und die Lateinamerikanisch-Karibische Gruppe) und vier nichtständige Mitglieder (je einen Sitz für Afrika, Asien, Lateinamerika und Karibik sowie Osteuropa) zu erweitern. Im selben Jahr scheiterten diese Bemühungen vorerst und sind seitdem nicht vorangekommen. Mehr zum Thema: Interner Link: Märker, Alfredo und Wagner, Beate: Vom Völkerbund zu den Vereinten Nationen Interner Link: Tams, Christian J. und Bruha Thomas: Die Vereinten Nationen und das Völkerrecht Interner Link: Hüfner, Klaus: Das System der Vereinten Nationen Interner Link: Hanrieder, Tine: Globale Seuchenbekämpfung: Kooperation zwischen Ungleichen Interner Link: Hintergrund aktuell (30.11.2012): Vereinte Nationen machen Palästina zum Beobachterstaat
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-08-31T00:00:00"
"2015-06-23T00:00:00"
"2021-08-31T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/208696/unterzeichnung-der-charta-der-vereinten-nationen/
Vor 70 Jahren unterzeichneten 50 Staaten die Charta der Vereinten Nationen. Sie wollten damit ein Staatenbündnis schaffen, das Kriege verhindert und Kooperation gewährleistet. Heute gehören der Organisation 193 Staaten an.
[ "UN", "Vereinte Nationen", "UNO", "Charta der Vereinten Nationen", "Zweiter Weltkrieg", "Roosevelt", "Churchill", "Sicherheitsrat", "Reform", "Menschenrechtspolitik" ]
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British in Spain: the Archetypal Lifestyle Migrant | Zuwanderung, Flucht und Asyl: Aktuelle Themen | bpb.de
There are almost certainly antecedents to the phenomenon of lifestyle migration, for example colonial migrations, expatriates, artists, backpackers and other middle class travelers who settled long-term in their destinations, but lifestyle migration arguably became a modern mass phenomenon during the 1990s with the migration of British (and later German, French, Italian, Swiss, Swedish and other North Europeans) to Spain’s coastal areas. British started settling in Spain’s coastal areas in large numbers from the 1970s and numbers grew throughout the next decades reaching a peak of over a million home owners and 750,000 settlers in 2005. They became something of a media phenomenon during the 1990s, with a television soap opera, Eldorado, based on their supposed lifestyles, and with numerous other soap operas, dramas and news reports portraying British criminals on the run, or British people running bars, and restaurants, and retired British living stressful lives working in the hot sun. The British in Spain are now seen as the archetypal lifestyle migration trend. While, for many, lifestyle migration follows a positive trajectory, for others it can lead to social exclusion, health problems, and financial hardship. Many of these migrants seek a tranquil retirement, but eventually face difficulties associated with leaving their homes and family behind and starting a new life somewhere they cannot speak the language, have no roots, and find themselves lonely and alone as they get older. On the other hand, they continue to celebrate the freedom, warmth, and relaxation of their new lives. Many lifestyle migrants in Spain are also younger, single or with families. These seek self-employed work running a bar, or an estate agency (for examples), or work on their own account doing anything from hairdressing to nail painting. Here are people who are taking huge risks with their futures and their children’s futures by following their dreams and attempting to carve out new lives for themselves. Diverse Flows North Europeans living in Spain have continued to attract academic interest because it is such a conspicuous and numerically significant migration. Europeans living in Spain far outweigh the number of any other immigrant group there. But since the late 1990s and on into the 21st Century academics have become increasingly aware of similar migrations in other parts of the world. There have been case studies of Westerners in Varanasi, India, North Americans in Panama and Mexico, Japanese in Malaysia, and French in Morocco to give just a few examples. Over time, it became apparent that these diverse flows shared many themes in common and that, despite attempts to employ them, existing typologies or conceptualizations were inadequate. These are not (only) elite migrants, counter-urbanites, amenity-driven, or retirement migrants. The sine qua non of lifestyle migration is the ability to privilege the search for "the good life". The term lifestyle migration is thus a theoretical lens through which to examine the similarities and differences of these trends. It draws attention to the singularity of a phenomenon the elements of which share several things in common, albeit with different threads: "Lifestyle migration is a complex and nuanced phenomenon, varying from one migrant to another, from one location to the next. It holds at its core social transformation and wider processes; it is at once an individualized pursuit and structurally reliant and it is a response to practical, moral and emotional imperatives." Interner Link: This text is part of the policy brief on lifestyle migration. Casado-Díaz (2006); O’Reilly (2000; 2012a). Sriskandarajah/Drew (2006). O’Reilly (2001). O’Reilly (2007). Hardill et al. (2005). O’Reilly/Benson (2014). O’Reilly (2012b). Korpela (2009). Benson (2011); Croucher (2009). Ono (2009). Therrien (2014). O’Reilly/Benson (2009), p. 11.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2014-12-19T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/198258/british-in-spain-the-archetypal-lifestyle-migrant/
The term lifestyle migration refers to the (cross-border) movement of relatively affluent people to places where they hope to find "the good life". These migrants are able to put quality of life reasons ahead of other considerations such as work or s
[ "Lifestyle", "Migration", "City", "countryside", "town", "British", "UK", "Spain", "Great Britain" ]
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Afrikas steiniger Weg in die Unabhängigkeit | Afrika | bpb.de
17 afrikanische Staaten feiern in diesem Jahre 50 Jahre Unabhängigkeit. Aber die Freiheit brachte auch viele Schwierigkeiten mit sich. Einige Länder kämpfen noch immer mit den Folgen der Kolonialzeit. "Wir ziehen die Armut in Freiheit dem Reichtum in Sklaverei vor." Guineas Präsident Ahmed Sékou Touré hatte schon 1958 eine klare Meinung zur französischen Kolonialherrschaft. Er wollte die Unabhängigkeit von der so genannten "Communauté Française", der Gemeinschaft Frankreichs mit den überseeischen französischen Kolonialgebieten. In einem Referendum konnten die west- und zentralafrikanischen Kolonien 1958 über ihren weiteren Verbleib in dieser Gemeinschaft abstimmen. In elf Ländern der 12 afrikanischen Mitgliedsstaaten stimmte die Bevölkerung gegen die Unabhängigkeit. Man erhoffte sich von der Nähe zu Frankreich wirtschaftliche Vorteile. Denn die Mitgliedschaft in der "Communauté" umfasste eine ganze Reihe an Hilfs- und Kooperationsverträgen für die Kolonien. Und Frankreichs Ministerpräsident General Charles de Gaulle stellte den Mitgliedsländern in Aussicht, die Unabhängigkeit im Rahmen dieser Gemeinschaft später zu erlangen. Nur in Guinea sprach das Ergebnis des Referendums eindeutig gegen Frankreich und für die sofortige Unabhängigkeit. Frankreich reagierte hart: alle französischen Hilfen wurden sofort eingestellt. Die Kolonialmacht rief Ärzte und Lehrer umgehend in die Heimat zurück und zog medizinisches Material, Unterrichtsutensilien und andere Hilfsgüter ab. Verwaltungsgebäude und Armeebaracken wurden zerstört. Auch wenn die neue Unabhängigkeit für Guinea zunächst schmerzhaft verlief - Guineas Präsident Sékou Touré wurde zum Helden der Anti-Kolonialisten. Immer wieder forderte er die Mitglieder der franco-afrikanischen Gemeinschaft auf, auch die Unabhängigkeit von Frankreich zu verlangen. Der Funke sprang über: 1960 folgten die elf verbleibenden Mitglieder der Communauté Guinea in die Freiheit. Im selben Jahr erlangten auch Kamerun und Togo die Unabhängigkeit. Beide Länder gehörten nicht zur Communauté, standen aber als UN-Treuhandgebiet unter französischer Verwaltung. Von der französischen Kolonie zur Françafrique Die große Unabhängigkeitswelle 1960 verlief komplett anders als Guineas Lossagung von der Grande Nation zwei Jahre zuvor. Viele der neuen afrikanischen Führer arrangierten sich mit Frankreich und trafen etliche Abkommen mit der ehemaligen Kolonialmacht. Léopold Sédar Senghor im Sénégal, Félix Houphouët-Boigny in der Elfenbeinküste oder Léon M´Ba in Gabun fühlten sich Frankreich traditionell eng verbunden und wollten auch jetzt die Nabelschnur zum kolonialen Mutterland nicht vollständig durchtrennen. Senghor hatte in Frankreich studiert; Houphouët-Boigny hatte 15 Jahre in der kolonialen medizinischen Versorgung gearbeitet und anschließend in verschiedenen Regierungen in Frankreich gedient. M´Ba war in französischen Missionsschulen erzogen worden und hatte dann als Beamter für die Kolonialbehörden im Dienst Frankreichs gestanden. Eine besonders enge Beziehung pflegte Frankreich auch zu M´Bas Nachfolger Omar Bongo. 1967 hatte ihn General de Gaulle bei der Präsidentenwahl protegiert. Im Gegenzug hatte Frankreich während Bongos 40-jähriger Amtszeit Vortritt, wenn es um die Verteilung der reichen Ölressourcen in Gabun ging. Bis heute bestehen diese oft fragwürdigen Allianzen zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien fort. Oft geraten sie unter dem Schlagwort "Françafrique" in die Kritik. Noch immer hat Frankreich Armeen in Afrika stationiert, noch immer garantiert die Französische Zentralbank die Konvertibilität des Franc CFA, der Währung der meisten französischen Ex-Kolonien. Das heißt, Frankreich muss Reserven als Zahlungsgarantie für die FCFA-Länder bereithalten. Von der Wirtschaft über Verwaltungsstrukturen bis zum Schulsystem - der französische Einfluss ist in den ehemaligen Kolonien überall präsent. Belgien verlässt die Demokratische Republik Kongo Während der großen Unabhängigkeitswelle 1960 entließ nicht nur Frankreich seine afrikanischen Kolonien in die Freiheit. Mit der Demokratischen Republik Kongo wurde eines der größten Länder Afrikas von Belgien unabhängig. InfoboxUnabhängigkeit 1960: Die Staaten im Überblick Vor 50 Jahren wurden 17 ehemalige afrikanische Kolonien unabhängig, darunter die zehn französischen Kolonien Madagaskar, die Demokratische Republik Kongo, Somalia, Benin, Niger, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Tschad, die Zentralafrikanische Republik, die Republik Kongo, Gabun, Senegal, Mali, Nigeria und Mauretanien. Die Unabhängigkeit erlangten auch Kamerun und Togo, die als UN-Treuhandgebiet unter französischer Verwaltung gestanden hatten. Im selben Jahr befreite sich auch die Demokratische Republik Kongo von Belgien, sowie Nigeria und Somalia, von den Kolonialländern England und Italien. Die Demokratische Republik Kongo hatte während der Kolonialzeit besonders gelitten: Die belgischen Kolonialherren beuteten die Kongolesen gnadenlos aus. Schon König Leopold II. wollte sich seinen Machtbereich in Afrika sichern. Er schickte den Entdecker Henry Morton Stanley an den Kongo-Fluss und ließ ihn "Gebietsverträge" mit Dorfchefs abschließen. 1885 wurde Leopolds "Freistaat Kongo" international anerkannt. Ein Gebiet von mehr 1,5 Millionen Quadratkilometern - Belgien hätte 75 Mal auf diese Fläche gepasst. Durch den Handel mit Elfenbein und Kautschuk wurde Leopold II. zu einem der reichsten Männer Europas. Zu einem hohen Preis: Unter seiner blutigen Herrschaft starben geschätzte zehn Millionen Kongolesen. Der Kongo hat wohl die brutalste Kolonialherrschaft in Afrika hinter sich. Auch der Übergang in die Unabhängigkeit verlief alles andere als sanft: Belgien musste den Kongo in die Freiheit entlassen; der öffentliche Druck war zu groß, die antikolonialen Bewegungen zu stark. Kurz vor dem Unabhängigkeitstag wurde Patrice Lumumba, ein glühender Anhänger des Panafrikanismus, zum Premierminister des Kongo gewählt. Schon bei der Unabhängigkeitsfeier am 30. Juni 1960 trat der Konflikt zwischen dem Kongolesen und dem belgischen König Baudouin offen zutage. Während Baudouin die angeblichen Errungenschaften unter belgischer Herrschaft lobte, kritisierte Lumumba mit scharfen Worten die Unterdrückung und die Ausbeutung durch die Belgier. Seine klare Haltung gegen die Belgier kostete Lumumba das Leben: Noch im selben Jahr stürzte ihn der spätere Diktator Joseph Mobutu mit Hilfe des CIA. Lumumba wurde erst in der kongolesischen Hauptstadt Léopoldville ins Gefängnis gesperrt und dann im Januar 1961 von belgischen Offizieren in die abtrünnige Provinz Katanga gebracht. Dort wurde Lumumba ermordet. Patrice Lumumba gilt bis heute als eine Symbolfigur für den afrikanischen Unabhängigkeitskampf. Sein Tod konnte nie endgültig aufgeklärt werden. Eine belgische Untersuchungskommission stellte allerdings 2001 eindeutig fest, dass belgische Offiziere, Polizisten und Funktionäre in den Mord an Lumumba verstrickt waren. Belgien entschuldigte sich beim kongolesischen Staat, juristische Konsequenzen hatte die Untersuchung bisher nicht. Die Ermordung Lumumbas war der Höhepunkt in dem Chaos, das der Unabhängigkeitserklärung im Juni 1960 gefolgt war: die bürgerkriegsartigen "Kongo-Wirren" erschütterten das riesige Land. Zwei Regionen, Katanga und Kasai, versuchten sich abzuspalten, UN-Blauhelme mussten eingreifen und im Osten des Landes kam es zu einer Rebellion. Als die Belgier den Kongo schließlich ganz verließen, blieb das Chaos im Land zurück. Bis heute hat sich der Kongo nicht davon erholt. Trotz reicher Bodenschätze versinkt der zentralafrikanische Staat in blutigen Rebellen-Kriegen, Misswirtschaft und Korruption. Nigerias Problem mit der kulturellen Vielfalt In der englischen Kolonie Nigeria wurde wie im belgischen Kongo der Weg in die Freiheit von vielen Unruhen begleitet. Allerdings lagen die Probleme hier woanders: Mit der Unabhängigkeit begannen in dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas die Auseinandersetzungen unter den Eliten der größten drei Völker um die Macht: der Haussa-Fulani, der Yoruba und der Igbo. Der dreijährige Biafra-Krieg erlangte weltweit traurige Berühmtheit. Die Igbo hatten vergeblich versucht, die Republik Biafra vom Rest des Landes abzuspalten. Jahrzehnte später kämpft Nigeria noch immer mit blutigen Unruhen in der Bevölkerung. Das Problem hat sich aber von einem ethnischen zu einem eher regional-religiösen Konflikt zwischen dem muslimischen Norden und dem christlichen Süden entwickelt. Auch der niedrige Lebensstandard trägt zu den Ausschreitungen bei. Dabei könnte es Nigeria aufgrund der reichen Ölvorkommen gut gehen, aber davon profitiert die Zivilbevölkerung kaum. Politische Eliten bereichern sich in Abkommen mit multinationalen Ölkonzernen. Grund zum Feiern? Die meisten afrikanischen Staaten, die in diesem Jahr den 50. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit feiern, begehen den Tag mit großen Festlichkeiten. Neben den 15 französischen Kolonien waren das die Demokratische Republik Kongo, Nigeria und Somalia, das von England und Italien unabhängig wurde. Senegals Präsident Abdoulaye Wade lässt das Jubiläumsjahr mit einer gigantischen Statue in die Geschichte eingehen. Ein enorm teures Projekt, das ihm angesichts der miserablen Versorgungslage im Land viel Kritik einbrachte. Die Demokratische Republik Kongo hat in einer versöhnlichen Geste den belgischen König Albert II. zu ihrer Unabhängigkeitsfeier eingeladen. Auch das haben Kritiker nicht verstanden. Sie machen nach wie vor die belgische Kolonialherrschaft für die anhaltend schlechte Lage im Land verantwortlich. Niger dagegen verzichtete auf eine pompöse Veranstaltung. Das Land leidet zurzeit unter einer massiven Lebensmittelkrise. Stattdessen wurden in einer symbolischen Zeremonie Bäume gepflanzt. Das Sahelland will sich auf eine Agrarreform konzentrieren. Die Elfenbeinküste, die nach der Unabhängigkeit mit Kakao und Kaffee das "ivorische Wirtschaftswunder" geschaffen hatte, feierte ihre Unabhängigkeit in Zeiten politischer Instabilität. Präsident Laurent Gbagbo regiert seit 2005 ohne die Legitimation durch Wahlen. 2002 hatte der Bürgerkrieg zwischen den Rebellen des Nordens und der Regierung das einstige Wirtschaftswunder beendet, das Land in Nord und Süd geteilt und in eine tiefe Krise gestürzt. 2007 hatten sich die Konfliktparteien im Vertrag von Ouagadougou zu einem Friedensabkommen verpflichtet. Seitdem sollen eigentlich demokratische Wahlen stattfinden, der Termin wird aber immer wieder aus unterschiedlichen Gründen verschoben. Einen wirklichen "Vorzeigestaat" gibt es unter den 17 Ländern, die vor 50 Jahren unabhängig wurden, nicht. Im Gegenteil: Die aktuelle politische und wirtschaftliche Situation steht in einem krassen Gegensatz zu all den Hoffnungen und Visionen, mit denen die jungen Nationen vor 50 Jahren in die Unabhängigkeit gingen. Urheberrecht Dieser Beitrag ist unter der Creative Commons-Lizenz Externer Link: by-nc-nd/3.0/de lizenziert. Externer Link: Vor 50 Jahren wurden 17 ehemalige afrikanische Kolonien unabhängig, darunter die zehn französischen Kolonien Madagaskar, die Demokratische Republik Kongo, Somalia, Benin, Niger, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Tschad, die Zentralafrikanische Republik, die Republik Kongo, Gabun, Senegal, Mali, Nigeria und Mauretanien. Die Unabhängigkeit erlangten auch Kamerun und Togo, die als UN-Treuhandgebiet unter französischer Verwaltung gestanden hatten. Im selben Jahr befreite sich auch die Demokratische Republik Kongo von Belgien, sowie Nigeria und Somalia, von den Kolonialländern England und Italien.
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Christine Harjes
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-01-25T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/afrika/dossier-afrika/58874/afrikas-steiniger-weg-in-die-unabhaengigkeit/
17 afrikanische Staaten feiern in diesem Jahre 50 Jahre Unabhängigkeit. Aber die Freiheit brachte auch viele Schwierigkeiten mit sich. Einige Länder kämpfen noch immer mit den Folgen der Kolonialzeit.
[ "Afrika", "Kolonialismus", "Unabhängigkeit", "Kolonialherrschaft", "Imperialismus", "Belgien", "Frankreich", "Kongo", "Guinea" ]
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Kongresspartei, Hindunationalistische Volkspartei und regionale Schwergewichte | Indien | bpb.de
Politische Parteien in Indien unterscheiden sich erheblich von jenen in Europa. Sie verfügen praktisch über keine innerparteiliche Demokratie, dynastische Prinzipien dominieren. Landesweit gibt es etwa 120 solcher politischen Dynastien. Auch Wahlen sind eine teure Angelegenheit. Nach Schätzung von Ökonomen und politischen Beobachtern wurden bei den Unterhauswahlen im Jahr 2009 umgerechnet mehr als zwei Milliarden Euro eingesetzt – das ist mehr als im Wahlkampf um die US-Präsidentschaft. Ein großer Teil stammt dabei aus illegalem Hawala-Geld der politischen Klasse, das unter anderem aus (Auslands-) Geschäften mit so genannten Kickbacks (Schmiergeldern) stammt. Die Mantras, mit denen Indien immer wieder als "größte Demokratie der Welt" bezeichnet wird, verhindern oftmals einen realistischen Blick auf diese Tatsachen – dabei offenbaren die Realitäten des politischen Betriebs die offenkundige plutokratische und teilweise auch kriminelle Komponente der indischen Demokratie. Der frühere Kabinettssekretär T. S. R. Subramanian nannte Indiens Politik einmal "das größte private Geschäft". Vor allem deshalb hätten die Politiker kein Interesse an Wandel. Eine Folge davon ist zunehmender Unmut in Teilen der Bevölkerung, was im Jahr 2012 zur Gründung der Aam Admi Party (sinngemäß: Partei der einfachen Leute, AAP) geführt hat. Sie ist aus einer Anti-Korruptions-Bewegung hervorgegangen und hat sich unter anderem die Reform des politischen Betriebs auf die Fahnen geschrieben. Politische Instabilität und Fragmentierung Nach der Unabhängigkeit Indiens am 15. August 1947 dominierte jahrzehntelang die Kongresspartei das politische Geschehen. Diese Dominanz wurde erst Ende der 80er Jahre nachhaltig gebrochen. Die Folge war politische Instabilität, was sich in insgesamt sechs Unterhauswahlen zwischen 1989 und 2004 manifestiert – normalerweise reicht das für eine Periode von 30 Jahren. Fünf Minderheitsregierungen, der politische Niedergang der Kongresspartei und der Aufstieg der hindunationalistischen Indischen Volkspartei BJP sowie die Etablierung von Regionalparteien und eine offenkundige Fragmentierung des Parlaments mit über 40 Parteien führten schließlich zu den zwischen 1998 bis 2004 von der BJP geführten Koalitionsregierungen der National-Demokratischen Allianz (National Democratic Alliance, NDA). Ab 2004 übernahm die Kongresspartei wieder das Ruder mit Koalitionsregierungen der sogenannten Vereinten Progressiven Allianz (United Progressive Alliance, UPA). (Siehe dazu Geschichte Indiens nach 1947) Kurzporträts der wichtigsten politischen Parteien Die Kongresspartei (© picture-alliance/AP) Rückblick: Die Kongresspartei, im Jahr 1885 unter dem Namen Indischer Nationalkongress (Indian National Congress, INC) gegründet, ist die älteste indische Partei und blickt auf vielfältige Transformationen in ihrer Geschichte zurück. Sie war die Speerspitze der indischen Unabhängigkeitsbewegung mit herausragenden Persönlichkeiten in ihren Reihen, darunter Mahatma Gandhi, Interner Link: Subhas Chandra Bose und Dr. B. R. Ambedkar, Vater der indischen Verfassung und verehrter Führer der "Unberührbaren". Hinzu kommen so prominente Politiker wie Interner Link: Jawaharlal Nehru, Indiens visionärer erster Premierminister von 1947 bis 1963. Im Jahr 1977 geriet das bis dahin als selbstverständlich angesehene Herrschaftsmonopol der Kongresspartei erstmals ins Wanken. Morarji Desai übernahm als Führer einer Kongresspartei-Abspaltung sowie eines Bündnisses aus Sozialisten, Bauernführern und Hindunationalisten nach dem Ende des von Nehrus Tochter Interner Link: Indira Gandhi verhängten Ausnahmezustands (1975-77) das Amt des Premierministers. 1980 musste er die Macht jedoch wieder an die "eiserne Lady" abgeben, die bis zu ihrer Ermordung vier Jahre später regierte. Premierministerin war Indira Gandhi davor bereits von 1969 bis 1977 gewesen. Auch ihr zwischen 1984 und 1989 regierender Sohn Rajiv Gandhi gehört zum Erbe dieser großen politischen Sammlungsbewegung. Die gebürtige Italienerin Sonia Gandhi, Witwe von Rajiv Gandhi, setzt mittlerweile das Erbe der Interner Link: Nehru-Gandhi-Dynastie fort. Sie gilt als der "Kitt", der die keineswegs auf sicheren Füßen stehende Partei als deren Präsidentin zusammenhält und bislang vor dem Zerfall in Einzelbestandteile bewahrte. Sonia Gandhi versucht nun den Stab an ihren Sohn Rahul weiterzureichen. Ideologie: Die ursprünglich vom Fabian Socialism inspirierten und überwiegend von Jawaharlal Nehru formulierten gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen (Demokratie, Sozialismus, Säkularismus) verdeckten zunehmend die wahren Interessen einer demokratisch legitimierten post-kolonialen Staatsklasse. Diese Interessen lehnten grundlegende Sozial- und Land-Reformen ab. Der Staat förderte über Subventionen die seit den 90er Jahren verstärkt in den Parlamenten vertretenen Groß- und Mittelbauern. Über den öffentlichen Sektor konnten sich Teile der politischen Klasse, Spitzenbeamte und Funktionäre der parteipolitisch ausgerichteten Gewerkschaften bestimmte Privilegien aufgrund einer unübersehbaren Interner Link: Korruption und Vetternwirtschaft aneignen. "Säkularismus", das heißt die Gleichstellung der Religionen, wird von der Kongresspartei als ein Markenzeichen ihrer Herrschaftsform und gesellschaftspolitischen Überzeugungen immer wieder in den Auseinandersetzungen mit der BJP ins Spiel gebracht. Die BJP ihrerseits wirft dem politischen Gegner vor, dadurch eine Spaltung der Bevölkerung entlang religiöser Trennlinien zu bewirken. Die Wirtschaftspolitik der Kongresspartei, die jahrzehntelang auf eine Abschottung des öffentlichen Sektors und der Privatunternehmen gegen internationale Konkurrenz gesetzt hatte, endete 1991 im finanziellen Offenbarungseid. Durch die danach beschlossene Liberalisierungspolitik unter Premierminister P. V. Narasimha Rao (1991-96) und seinem Finanzminister Manmohan Singh wandte sich die Partei auch verbal vom "Sozialismus" ab und anerkannte das Primat des privaten Sektors der Volkswirtschaft. (siehe dazu Indiens Wirtschaft) Wählerschichten: Die Kongresspartei verfügt traditionell über eine breite Wählerschaft. Dazu gehören Oberkasten aber auch die unteren Kastengruppen der "Unberührbaren" (Scheduled Castes, SC) und Angehörige der indischen Ursprungsbevölkerung (Scheduled Tribes, ST). Hinzu kommen religiöse Minderheiten wie Muslime und Interner Link: Christen. Allerdings gewinnt die Partei nicht mehr wie über viele Jahrzehnte hinweg überproportional viele Mandate in den für SC und ST reservierten Wahlkreisen. Die Parteiführung bemüht sich deshalb, die Interessen der sozial und wirtschaftlich benachteiligten Bevölkerungsgruppen stärker zu vertreten. Sie versucht das etwa durch zahlreiche ambitionierte Sozial- und Beschäftigungsprogramme, die während der Regierungszeit von 2004 bis 2014 verstärkt auf den Weg gebracht wurden. Bei den Unterhauswahlen 2004 und 2009 konnte die Kongresspartei zudem sehr viel Unterstützung aus dem Lager der städtischen Mittelschichten gewinnen. Dies könnte sich durch das Auftreten der Aam Admi Party, die sowohl der Kongresspartei als auch der BJP Wähler streitig macht, in Zukunft grundlegend zu ändern. Gegenwart und Ausblick: Der sogenannte High Command, das heißt de facto Sonia Gandhi und ihr Sohn Rahul sowie ein sehr kleiner interner Zirkel, haben zu einer Überzentralisierung innerhalb der Kongresspartei und zu einem weitgehenden Ausbleiben starker politischer Persönlichkeiten in den Einzelstaaten geführt. Der "Familien-Betrieb" der Interner Link: Gandhi-Dynastie ist in seiner gegenwärtigen Form einerseits dysfunktional, andererseits droht eine Kongresspartei ohne diese Dynastie in seine Einzelbestandteile zu zerfallen, ähnlich wie einst die indischen Sozialisten. Rahul Gandhi hat inzwischen die Demokratisierung der Partei sowie mehr Mitsprache ihrer Basis zu seinem Anliegen erklärt und diesen Prozess in den vergangenen Jahren bereits in den Jugend- und Studenten-Organisationen der Partei begleitet. Zudem hat er der Korruption den Kampf angesagt – kein leichtes Unterfangen angesichts massiver Korruptionsfälle innerhalb der Kongresspartei und der von ihr geführten Koalitionsregierung in den vergangenen Jahren. Die hindunationalistische BJP (© picture-alliance/dpa) Die Indische Volkspartei (Bharatiya Janata Party, BJP), die während ihrer Regierungszeit zwischen 1998 bis 2004 die Koalition der National Democratic Alliance (National-demokratische Allianz, NDA) anführte, wurde nach ihrer Wahlniederlage 2004 durch heftige innerparteiliche Machtkämpfe gelähmt. Vor den Wahlen 2014 sind diese weitgehend in den Hintergrund gerückt – nicht zuletzt aufgrund der Siegeszuversicht der BJP. Ideologie: Die BJP wird von Spitzenkadern des 1925 gegründeten Nationalen Freiwilligenkorps (Rashtriya Swayamsevak Sangh, RSS) – das ideologische und organisatorische Rückgrat des Hindunationalismus – dominiert. Die Partei betont eine Wiederbelebung hinduistischer Identität, Tradition und Philosophie. Entschieden anti-marxistisch verwirft sie die angeblich westlichen Konzepte von Sozialismus und Nehru-Säkularismus und strebt ein "Reich der Hindus" (Hindu Rashtra) mit dem Ziel eines vom (Oberkasten-)Hinduismus dominierten Indien und einer "geo-kulturellen" Einheit des Subkontinents (Hindutva) an. Unter dem Deckmantel eines "positiven Säkularismus" verbirgt sich eine negative Haltung gegenüber religiösen Minoritäten wie Muslimen und Christen. (siehe dazu Hindunationalismus und Hindu-Muslim-Konflikt) Die BJP propagiert eine insbesondere die Interessen des nationalen Kapitals betonende Wirtschaftsliberalisierung zusammen mit einem offen propagierten Groß- bzw. sogar Weltmacht-Anspruch. Ihr "liberaler Flügel" favorisierte während ihrer Regierungszeit zudem eine beschleunigte Öffnung zum Weltmarkt. Wählerschichten: Urbane Ober- und Mittelschichten favorisieren die BJP. Durch Basis- und Sozialarbeit des RSS gelang es der Partei aber auch, Zugang zu Angehörigen der SC und ST sowie den mittleren Kasten der Other Backward Classes (OBC) zu finden. Über ihren Gewerkschaftsdachverband Bharatiya Mazdoor Sangh (BMS), der an Mitgliedern stärksten unter den parteipolitischen Richtungsgewerkschaften, hat die BJP Zugang zu Teilen der häufig aus den Mittel-Kasten kommenden Facharbeiterschaft. Die Partei spricht zudem gezielt Jungwähler und insbesondere Young Professionals an. Auch die Mobilisierung von Frauen trug in der Vergangenheit maßgeblich zu den Erfolgen bei. Muslime und Christen unterstützen die BJP traditionell nicht. Ausblick: Bei den Parlamentswahlen 2014 schickt die BJP den Ministerpräsidenten des wirtschaftlich erfolgreichen Bundesstaates Gujarat, Narendra Modi, als Spitzenkandidaten ins Rennen. Modi propagiert Gujarat als ein auf ganz Indien übertragbares Erfolgsmodell. Er wirbt für Good Governance und wirtschaftliches Wachstum. Wegen seiner angeblichen Entscheidungsfreudigkeit genießt er bei Unternehmern ein hohes Ansehen. Kritiker werfen Modi allerdings vor, dass die Sozialindikatoren in Gujarat keineswegs so positiv wie dargestellt sind und der Staat zudem hoch verschuldet ist. Der ihn umgebende Personen-Kult und sein autoritäres Auftreten werden Modi ebenfalls negativ ausgelegt. Zudem hängen dem Politiker die anti-muslimischen Pogrome in Gujarat von 2002 immer noch an. Modi selbst nutzt erfolgreich die Karte seiner Herkunft aus einfachen sozialen Verhältnissen, um Sympathie-Punkte bei großen Teilen der Wählerschaft zu erwerben. Für die BJP wird 2014 entscheidend sein, ob sie ihre ehemalige Machtbasis im etwa 200 Millionen Einwohner zählenden Bundesstaat Uttar Pradesh zurück erobern kann. Wahlprognosen gehen dabei von einem guten Abschneiden der BJP – sowohl in ihren traditionellen Hochburgen als auch in anderen Staaten wie Bihar und Maharashtra. AAP – ein neues Phänomen der indischen Politik (© picture alliance/ landov) Die Aam Aadmi Party (sinngemäß: Partei der einfachen Leute, AAP) wurde 2012 gegründet und ist aus einer landesweitenInterner Link: Anti-Korruptions-Kampagne hervorgegangen. Bei den Landtagswahlen in der Hauptstadtregion Delhi errang sie Ende 2013 einen spektakulären Erfolg. Sie gewann auf Anhieb 28 von 70 Mandaten. Parteichef Arvind Kejrival wurde daraufhin zum Ministerpräsidenten einer AAP-Minderheitsregierung gewählt, die jedoch aufgrund fehlender Unterstützung bereits nach wenigen Wochen wieder zurücktrat. Es ist noch weitgehend unklar, wie diese neue politische Kraft einzustufen und kategorial zu erfassen ist. Die Einordnungen der AAP reichen von "linksextrem und sozialistisch" bis hin zu einer "linken Kopie" der US-amerikanischen Tea-Party-Bewegung. Parteichef Kejriwal lehnt die Kategorisierungen anhand bestehenden Ideologien jedoch ab. Gleichwohl könnte das Auftreten der AAP die Parameter und Gepflogenheiten bisheriger indischer Politik maßgeblich verändern. Die Partei möchte das bestehende System nachhaltig verändern und richtet sich explizit gegen das politische Establishment. So setzt sie sich für die Verabschiedung eines Anti-Korruptions-Gesetzes ein. Einer rein repräsentativen Demokratie steht sie eher skeptisch gegenüber, sie spricht sich vielmehr für eine aktive Beteiligung der Menschen zwischen den Wahlen durch Bürger- und Nachbarschaftsversammlungen sowie durch Volksentscheide aus. Zudem nutzt sie die sozialen Medien gezielt und mit großem Erfolg. Bei den Unterhauswahlen 2014 wird die AAP erstmals landesweit antreten. Chancen werde ihr dabei vor allem in den mehr als 200 städtischen und halb-städtischen Wahlkreisen (von insgesamt 543) eingeräumt, wo die AAP die Mittelschichten anspricht, die sich in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt aufgrund weit verbreiteter Korruption desillusioniert von der Politik abgewendet haben. Sollte sich die AAP etablieren, könnte sie nicht nur als Katalysator für politischen Wandel und einen veränderten politischen Stil wirken, sondern auch die anderen Parteien zwingen, sich zu verändern. Linke Parteien Plakat der Kommunistischen Partei Indiens in Kerala Foto: Stefan Mentschel Die bedeutendste Linkspartei in Indien ist die Kommunistische Partei Indiens/Marxistisch (Communist Party of India/Marxist, CPI/M). Ihre traditionellen Hochburgen sind die Bundesstaaten Westbengalen, Tripura und Kerala. Allerdings regiert sie nur noch im Kleinstaat Tripura im Nordosten des Landes. In Westbengalen, wo sie jahrzehntelang die Regierung stellte, und in Kerala im Süden ist sie inzwischen führende Oppositionskraft. Ansonsten verfügt sie landesweit nur sehr punktuell über Einfluss. Ideologisch bekennt sich die CPI/M zum Marxismus. In der Regierungspraxis zeichnete sie sich jedoch eher durch eine pragmatische und – wie in der Spätphase ihrer Herrschaft in Westbengalen – sogar durch eine außerordentlich unternehmerfreundliche Politik aus. Gleichzeitig ist die CPI/M durch das Zentrum der Indischen Gewerkschaften (Center of Indian Trade Unions, CITU) vor allem unter den privilegierten Arbeitern des öffentlichen Sektors und teilweise – etwa durch Frauenorganisationen – im großen informellen Sektor der Volkswirtschaft vertreten. Andere zur Linksfront gehörende Parteien wie die Kommunistische Partei Indiens (Communist Party of India, CPI), der Vorwärts-Block (Forward Bloc, FB) und die Revolutionäre Sozialistische Partei (Revolutionary Socialist Party, RSP) sind nur von marginaler Bedeutung. Regionalparteien Regionale Parteien scheinen sich fest etabliert zu haben, wobei ihre direkten Einflussbereiche überwiegend auf einen einzelnen Bundesstaat beschränkt sind. Sie vertreten die Interessen von einflussreichen Kasten-Allianzen, Bauern, sozialen und religiösen Gruppen. Andererseits sind sie auch Ausdruck regionaler und subnationalistischer Identitäten im Vielvölkerstaat Indien. Ihr Erstarken ist aber auch Ausdruck einer "lautlosen Revolution" sowie eines "demokratischen Aufbruchs" der benachteiligten Schichten der indischen Gesellschaft während der letzten 25 Jahre.   Beispielhaft steht dafür die 1984 gegründete Bahujan Samaj Party (BSP), die vor allem einen großen Teil der untersten Kasten sowie der religiösen Minderheit der Muslime vertritt. Diese Partei konnte sich als feste Kraft im bevölkerungsreichen Bundesstaat Uttar Pradesh etablieren. Bei den Landtagswahlen 2007 gewann die BSP dort sogar die absolute Mehrheit. Ministerpräsidentin Mayawati regierte die volle Legislaturperiode, wurde 2012 jedoch abgewählt. Der BSP – landesweit mit fast 5 Prozent der Stimmen als nationale Partei anerkannt – gelang es bislang allerdings nicht, in anderen Teilen Indiens ebenso stark zu werden wie in ihrem Stammland Uttar Pradesh. Aus dem politischen und ideologischen Erbe der indischen Sozialisten bildeten sich in Nordindien weitere wichtige Regionalparteien. Dazu gehören die in Uttar Pradesh seit 2012 regierende Samajwadi Party (SP) und die in Bihar regierende Janata Dal United (JDU). Hinzu kommt mit dem Rashtriya Janata Dal (RJD) eine Partei, die lange die Geschicke in Bihar bestimmte. Ihre Führer vertreten vor allem die Interessen wirtschaftlich aufstrebender (Mittel-) Bauernkasten, aber auch von Muslimen. Allerdings weisen sie, ebenso wie die in diesen Staaten agierenden nationalen und anderen regionalen Parteien, einen sehr ausgeprägten kriminellen Nexus auf. Im südindischen Tamil Nadu wechseln sich die dravidischen Parteien Dravida Munnetra Kazhagam (DMK), die ausgezeichnet organisiert schon lange Phasen der Opposition überdauerte, und die eher populistische All India Anna Dravida Munnetra Kazhagam (AIADMK) in der Regierung ab. Auch in anderen Landesteilen gibt es starke regionale Kräfte. Im östlichen Bundesstaat Orissa etwa regiert die Biju Janata Dal erfolgreich und geht mit guten Aussichten in die nächsten Wahlen. In Nagaland im Nordosten des Landes lenkt die Regionalpartei Naga Peoples Front (NPF) seit 2003 die Geschicke. (© picture-alliance/AP) (© picture-alliance/dpa) (© picture alliance/ landov) Plakat der Kommunistischen Partei Indiens in Kerala Foto: Stefan Mentschel
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Klaus Julian Voll
"2022-02-01T00:00:00"
"2011-12-02T00:00:00"
"2022-02-01T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/asien/indien/44450/kongresspartei-hindunationalistische-volkspartei-und-regionale-schwergewichte/
In Indien gibt es bislang nur zwei Parteien mit nationaler Reichweite – die Kongresspartei und die hindunationalistische Indische Volkspartei BJP. Alle anderen verfügen bestenfalls über regionale bzw. in der Regel nur über einzelstaatliche Präsenz. E
[ "Indien", "Politisches System", "Parteien", "Kongresspartei", "hindunationalistische Indische Volkspartei", "BJP", "Aam Aadmi Party", "Indien" ]
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M 06.04 Artikel für Lokalzeitung oder Schülerzeitung | Fußball und Nationalbewusstsein - Fußball-Welmeisterschaft 2014 in Brasilien! | bpb.de
Wenn ihr eure Projektergebnisse einer breiten Öffentlichkeit präsentieren wollt, bietet es sich an, diese in der Lokalzeitung zu veröffentlichen. (Fast) dieselben Tipps und Hinweise gelten natürlich auch für die Erstellung von Artikeln für eine Schülerzeitung. Dies bedarf einer guten Vorbereitung: die Redaktion der Zeitung sollte frühzeitig (sobald wie möglich) angesprochen werden, um Erlaubnis zu bitten sowie einen Erscheinungstermin für eure Artikel festzulegen;fragt nach, ob eine Redakteurin bzw. ein Redakteur bereit ist, euch im Jugendzentrum oder in der Schule zu besuchen und die Grundlagen des Artikelschreibens zu vermitteln; wenn das nicht möglich ist, fragt eure Deutschlehrerin bzw. euren Deutschlehrer.legt frühzeitig fest, wer in eurem Projekt an dem Zeitungsartikel mitarbeiten will; die Zusage muss verlässlich sein, damit hinterher nicht einer alleine mit der Arbeit da steht;macht während des Projektes Fotos von den einzelnen Aktionen/Phasen, damit ihr Bildmaterial für den Artikel zur Verfügung habt Hier ein kurzer Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten, einen Zeitungsartikel zu schreiben: Die Nachricht In einer Nachricht wird etwas, was geschehen ist oder noch geschehen wird, nüchtern und wertfrei dargestellt. W-Fragen werden beantwortet: Wer macht was, wann, wo, wie, warum, aus welcher Quelle stammen die Informationen? Es gibt die kurze Meldung und den längeren Bericht, der meist Hintergrundwissen und Analysen darstellt. Der Kommentar Der Kommentar gibt persönliche Ansichten und Wertungen des Autors oder Autorin zu politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ereignissen wieder. Der Autor bzw. die Autorin äußert seine Meinung und begründet diese auf der Basis der vorliegenden Fakten und seinen eignen Wertmaßstäben. Der Leser bzw. die Leserin soll durch den Kommentar zur eigenen Meinungsbildung angeregt werden. Das Interview In einem Interview wird der O-Ton des Befragten im Wortlaut wiedergegeben. Die Leserin oder der Leser kann sich so genau mit seinen Äußerungen auseinander setzen. Für genauere Informationen siehe das Methodenblatt "Wie führe ich ein Interview?" Die Reportage In eine Reportage schildert der Autor oder die Autorin ein selbst miterlebtes Ereignis. Dabei geht es nicht nur um Fakten, sondern auch um persönliche Eindrücke und Gefühle. Du kannst auch Fotos machen, die deine Reportage illustrieren. Die Karikatur Die Karikatur ist eine Zeichnung, in der ein politisches Ereignis in spöttischer und übertriebener Weise dargestellt wird. Noch einige Hinweise zur Gestaltung! Fotos, Bilder und Grafiken Nichts ermüdet die Augen und senkt die Aufnahmefähigkeit so sehr wie "Textwüsten". Journalistinnen und Journalisten verstehen darunter lange, über eine Seite laufende Artikel. Fotos, Bilder, Karikaturen und Grafiken sind gut geeignete Mittel, um viel Text aufzulockern. Zwischenüberschriften gliedern den Text und machen ihn überschaubarer. Nicht vergessen! Personennamen müssen Vor- und Nachnahmen enthalten.Ganze Zahlen bis 12 werden ausgeschrieben.Der Autor sollte seinen Namen unter den Artikel schreiben.Zitate aus anderen Texten müssen mit der genauen Quellenangabe versehen werden. Nach: Hanke, Eckhard et al. (1997): Demokratie leben. Sozialkunde Rheinland-Pfalz/Saarland. Hannover: Schroedel Verlag, S. 145. http://www.zeit.de/schule ; http://www.learnline.nrw.de/angebote/zeus (13.08.2004).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-04-19T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/fussball-und-nationalbewusstsein/130991/m-06-04-artikel-fuer-lokalzeitung-oder-schuelerzeitung/
Wie schreibt und gestaltet man einen guten Zeitungsartikel?
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Kommentar: Russische Außenpolitik - alte und neue Handlungsmuster im Konflikt mit der Ukraine | Ukraine-Analysen | bpb.de
In der Ukraine-Krise offenbart Russland bereits bekannte, aber auch ganz neue außenpolitische Handlungsmuster. Nach der Absetzung Wiktor Janukowytschs setzt Moskau alles daran, erstens, auf der Krim zügig Fakten zu schaffen, zweitens, westliche Bemühungen um eine diplomatische Lösung der Krise zu blockieren, und, drittens, in der Ostukraine mit Hilfe einer Medienkampagne die Bevölkerung dort weiter zu politisieren und gegen die neuen Kräfte in Kiew zu mobilisieren. Während all dies durchaus bekannten außenpolitischen Mustern folgt, deuten die Entschlossenheit, mit der der Kreml in der Krim-Krise seine militärische Stärke demonstriert, sowie die Tatsache, dass westliche Kritik an Moskaus Vorgehen im Kreml scheinbar vollkommen ignoriert wird, auf neue Verhaltensmuster hin. Dennoch geht es Moskau nicht zuletzt auch darum, sich im Westen Gehör für die eigene Sicht der Dinge zu verschaffen – mit vielleicht verheerenden Folgen. Alte Muster: Fakten schaffen, Krisendiplomatie blockieren, Desinformation streuen Ob bei der Besetzung des Flughafens von Pristina 1999, dem überfallartigen Einmarsch in Südossetien 2008 oder nun der handstreichartigen, wenn auch inoffiziellen Besetzung der Krim – in allen Fällen schafft Russland, oft mit Hilfe rasch etablierter Marionettenregierungen, Sondertruppen und auch des Militärs, zügig Fakten. Zwar erscheinen diese Aktionen stets wohl orchestriert und durchgeplant, doch sie sind weniger Ausdruck langfristiger strategischer Planung als vielmehr Ad-hoc-Reaktionen auf unerwünschte Entwicklungen. Attraktiv ist eine solche Handlungsweise für Moskau deshalb, weil sie kurzfristig kaum Kosten verursacht und nur mit einem geringen Risiko des Scheiterns verbunden ist. Die längerfristigen Kosten werden ausgeblendet oder erst gar nicht wahrgenommen. In diesem Sinne treibt die pro-russische Marionettenregierung auf der Krim die Abspaltung von der Ukraine zügig voran. Zu erwarten ist, dass Moskau jegliche diplomatischen Bemühungen des Westens solange blockieren wird, bis das Referendum auf der Krim über den Anschluss an Russland, das mittlerweile auf den 16. März 2014 vorverlegt wurde, stattgefunden hat. Ebensowenig wird Moskau substanzielle Zugeständnisse machen, bevor der Westen sich von der von Russland als illegitim angesehenen Übergangsregierung in Kiew distanziert hat. Auch dies ist ein bekanntes Muster russischer Außenpolitik: Krisendiplomatie zu blockieren, wenn Moskau von unerwünschten Entwicklungen überrollt wird und die eigenen Interessen gefährdet zu sein scheinen. Proaktive Schritte, die eine Deeskalation der Lage in der Ukraine in Gang setzen könnten, sind im Moment von Russland also nicht zu erwarten. Ein weiteres bekanntes Instrument ist der Einsatz medialer Desinformation. Insbesondere in der Ostukraine wird von russischen Medien gezielt Stimmung gegen die neue Regierung in Kiew gemacht. Es scheint zwar zunächst nicht das Ziel Moskaus zu sein, ein Auseinanderbrechen der Ukraine herbeizuführen oder gar den Anschluss der Ostukraine an Russland zu forcieren, wohl aber sollen die Fliehkräfte in der Ukraine verstärkt werden. Am Ende könnte eine ukrainische Föderation stehen, deren weitgehend autonome Gebiete selbst bestimmen, wohin sie sich ausrichten wollen. Neue Entschlossenheit: militärische Drohgebärden und Ignorieren westlicher Kritik Neben den bereits bekannten Handlungsmustern lassen sich jedoch auch neue Verhaltensweisen ausmachen. Auffallend ist vor allem, wie schnell Moskau das Militär als Mittel zur Verteidigung der Interessen ethnischer Russen in der Ukraine ins Spiel gebracht hat. Im Georgienkrieg hatte Russland mit der Mobilisierung des Militärs noch bis zum tatsächlichen Ausbruch von Gewalt in Südossetien abgewartet, im aktuellen Fall wurde mit der Entscheidung, Truppen auf die Krim und bei Bedarf auch ins ukrainische Kernland zu schicken, vorauseilend gehandelt. Neu ist auch das demonstrative Desinteresse der russischen Führung an der Kritik aus dem Westen. Präsident Putin hat in seiner Erklärung vor der russischen Presse strikt darauf beharrt, dass Russland keinerlei völkerrechtswidriges Verhalten an den Tag gelegt habe und alle Schritte, einschließlich der Mobilisierung der Streitkräfte, rechtskonform seien. Stattdessen hat er dem Westen vorgeworfen, er bewege sich mit der Unterstützung der Übergangsregierung in Kiew außerhalb des Rechts. Auch die Androhung und Verhängung von Sanktionen seitens des Westens scheinen nur mäßige Wirkung zu zeigen. Putin fühlt sich im Recht, trotz des Verstoßes gegen das Budapest-Memorandum von 1994 und der Verfassungswidrigkeit des Referendums auf der Krim. Er inszeniert sich nach außen als unverwundbar und will zeigen, dass er die Lage unter Kontrolle hat. Russlands Tragik Putin und andere offizielle Regierungsvertreter in Moskau haben immer wieder beteuert, es gehe ihnen weder um die Destabilisierung der Ukraine noch darum, einen neuen Kalten Krieg in Europa zu entfachen. Russland sei an einer stabilen und prosperierenden Ukraine interessiert und man wolle auch keine Trennlinien in Europa, sondern gemeinsam mit dem Westen an einem vereinten Europa bauen. Der Westen mag diese Botschaft in der Vergangenheit nicht gehört und auch nicht ernst genug genommen haben. Mit seinem Vorgehen will Putin erzwingen, dass Russlands Anliegen nun endlich gehört und respektiert wird. Doch eine Politik, die eine konstruktive Lösung für die Ukraine nicht zulässt und dabei die Konfrontation sowohl mit Kiew als auch mit dem Westen förmlich zu suchen scheint, ist dafür kaum geeignet. Sie provoziert das Gegenteil von dem, was Putin so sehr beteuert: Instabilität und Chaos statt Stabilität und Wohlstand in der Ukraine und eine weitere Entfremdung vom Westen statt gegenseitigem Respekt und Vertrauen.
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2014-03-13T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/180644/kommentar-russische-aussenpolitik-alte-und-neue-handlungsmuster-im-konflikt-mit-der-ukraine/
In der Ukraine-Krise offenbart Russland bereits bekannte, aber auch ganz neue außenpolitische Handlungsmuster. Nach der Absetzung Wiktor Janukowytschs setzt Moskau alles daran, erstens, auf der Krim zügig Fakten zu schaffen, zweitens, westliche Bemüh
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Die Selbstgefälligkeit der Intelligenz im Zeitalter des Populismus | Wandel des Politischen? | bpb.de
Spätestens die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten hat bei vielen Zweifel daran geweckt, dass die liberale Demokratie auf Dauer konkurrenzlos ist. In jüngerer Zeit sind Populisten in vielen entwickelten Demokratien auf dem Vormarsch. Bei den Präsidentschaftswahlen in Österreich 2016 erhielt der Kandidat der rechtspopulistischen FPÖ, Norbert Hofer, fast die Hälfte der Stimmen. 2017 stimmte ein gutes Drittel der Französinnen und Franzosen für Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National. Politische Eliten und das gebildete Bürgertum sind bestürzt angesichts der dramatischen Wahlerfolge von radikalen Parteien und Politikern, die einer verunsicherten Bevölkerung vermeintlich einfache Lösungen anbieten. Mit emotionalen Slogans gelingt es ihnen offenbar, breite Unterstützung zu mobilisieren. Rationale Argumente, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen, scheinen die Anhänger dieser Bewegungen kaum noch zu interessieren. Solche Äußerungen prallen an hochgradig emotionalisierten Wählerinnen und Wählern ab, die sich im Konflikt mit dem "Establishment" sehen und dessen Vertretern keinen Glauben mehr schenken. Pauschalkritik an "den Experten", Misstrauen gegenüber den etablierten Medien (der "Lügenpresse") und die zunehmende ausschließliche Nutzung alternativer Internetportale fördern die Bildung von einseitigen Weltbildern und tief sitzenden Ressentiments gegenüber vermeintlichen "Volksverrätern". Die Rede vom "postfaktischen Zeitalter" unterstreicht nur die Ratlosigkeit der etablierten Meinungsmacher. Die liberale Demokratie, so glauben viele, ist zunehmend gefährdet, weil der vernünftige Teil der Gesellschaft die frustrierten und emotionalisierten "Massen" nicht länger erreichen kann. Problemorientierte Deliberation scheint dadurch gefährdet, dass die Gesellschaft mehr und mehr auseinanderdriftet: Die aufgeklärten Bürgerinnen und Bürger, die im sachlichen Austausch gemeinsam nach der Wahrheit und der besten Politik suchen, sind scheinbar konfrontiert mit einem wachsenden Kreis von Mitbürgern, die zur offenen Deliberation nicht mehr fähig sind, weil sie nur noch Bestätigung für ihre vorgefassten Ansichten und identitätsbasierten Gefühle suchen. Scheuklappen der Intelligenz Diese herablassende Sicht auf die "manipulierbaren Normalbürger" ist jedoch ebenso falsch wie gefährlich. Aus ihr spricht eine Arroganz und Selbstzufriedenheit, die verkennt, wie stark auch die angeblich vernünftigeren und gebildeteren Bürgerinnen und Meinungsmacher von irrationalen Gesichtspunkten geleitet werden. Vielleicht sind sie etwas weniger anfällig für populistisches Gedankengut. Emotionalisierung und tribalistische Scheuklappen finden sich aber genauso unter denjenigen, die sich als Teil der Intelligenz sehen. Dies war sicher auch schon in den Zeiten so, als die liberale Demokratie noch nicht in Gefahr zu sein schien. Es steht jedoch zu befürchten, dass diese deliberativen Defizite auch unter der sogenannten Intelligenz weiter zunehmen werden – und dies in einer Zeit, in der die Gesellschaft mehr denn je eine Versachlichung der politischen Auseinandersetzung benötigt. Alle müssen mehr dafür tun, dass eine rationale, offene Diskussion weiter möglich bleibt. Dass intelligente und gebildete Menschen keineswegs gegen gefühlsgeleitete Realitätsverweigerung gefeit sind, haben wir wahrscheinlich alle schon in politischen Debatten erlebt und viele von uns gewiss auch an uns selbst. Diese subjektive Erfahrung wird kaum einen Psychologen überraschen. Zahlreiche Studien bestätigen, dass persönliche Überzeugungen, insbesondere zu ethischen und politischen Fragen, nur selten auf rationaler Abwägung beruhen. Vielmehr wählen wir sie meist unbewusst danach aus, ob sie zu unseren moralischen Intuitionen, unseren Affekten und unseren sozialen Identitäten passen. Am Anfang steht fast immer die subjektive Meinung. Nach überzeugenden Begründungen suchen wir erst im Nachhinein, damit wir unsere Position gegenüber unserer Umwelt rechtfertigen können. Wer glaubt, dass dies bei intelligenteren Personen anders abläuft, täuscht sich. Zwar können Menschen mit einem höheren Intelligenzquotienten ihre Überzeugungen meist besser begründen. Dies liegt jedoch nicht daran, dass sie ihre Meinungen aufgrund gründlicherer Abwägung gewählt haben, sondern hängt damit zusammen, dass es ihnen leichter fällt, stützende Argumente zu finden. Im Rahmen einer Studie baten der Erziehungswissenschaftler David Perkins und seine Kollegen ihre Probanden darum, zu einer kontroversen Frage sowohl Argumente zu nennen, die ihre eigene Position bestätigten, als auch solche, die für die Gegenmeinung sprachen. Intelligentere Testpersonen unterschieden sich von den übrigen nur dadurch, dass sie mehr Argumente für ihre eigene Position anführen konnten. Bei der Zahl der gefundenen Gegenargumente gab es hingegen keinen Unterschied. Ähnlich ernüchternd sind die Resultate eines Forscherteams um den Rechtsprofessor Dan Kahan, das den Zusammenhang zwischen Wissenschaftsbildung und der Einstellung zum Klimawandel untersuchte. Es kam zu dem Ergebnis, dass US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner mit besseren naturwissenschaftlichen und mathematischen Kenntnissen keineswegs eher dazu neigen, den Klimawandel als ernsthaftes Risiko anzusehen. Im Gegenteil: Die Daten zeigten insgesamt sogar eine leicht positive Korrelation zwischen Wissenschaftsbildung und der Unterschätzung der Klimarisiken. Ursache dieses überraschenden Befundes ist offenbar, dass egalitär und kollektivistisch orientierte US-Amerikaner schon aufgrund ihrer politisch-kulturellen Identität und unabhängig von ihren naturwissenschaftlichen Kenntnissen von Klimagefahren überzeugt sind. Konservative US-Bürger neigen hingegen von Haus aus zu Skepsis. Diese ist bei den Gebildeten unter ihnen am stärksten ausgeprägt – vermutlich deshalb, weil sie besser dazu in der Lage sind, die vereinzelten Einwände gegen die vorherrschende wissenschaftliche Position zu finden und zu verstehen. Ähnliche Effekte zeigen sich in Untersuchungen über die Einstellung zum Schusswaffenbesitz. Diese Studien belegen einmal mehr, dass alle Menschen einem sogenannten confirmation bias unterliegen: Sie scheuen kognitive Dissonanz und suchen deshalb einseitig nach Informationen und Argumenten, die ihre gegenwärtigen Meinungen stützen. Und aus Sicht des Einzelnen hat das auch durchaus Vorteile: Wenn ich meine falsche Meinung zu einer politischen Streitfrage korrigiere, ist der gesellschaftliche Nutzen äußerst gering. Schließlich wird meine Stimme schwerlich den Ausgang der nächsten Wahl beeinflussen. Diese Lernerfahrung schwächt aber vermutlich mein Selbstwertgefühl, zeigt sie doch, dass ich lange eine irrige Ansicht vertreten habe. Sie zwingt mich also zu einem Eingeständnis, das besonders unangenehm ist für Menschen, die sich für reflektiert und aufgeklärt halten und schon viel in ihre politische Meinung "investiert" haben. Hinzu kommt, dass ein solches Umdenken uns leicht zu Außenseitern in unserem – gemeinhin ähnlich denkenden – Freundeskreis macht oder dort zumindest Auseinandersetzungen und Irritationen auslöst, die unser Wohlbefinden verringern. Es ist mithin sehr im individuellen Interesse, Fakten und Argumente ungleich zu behandeln, also diejenigen kritischer zu hinterfragen, die unseren Ansichten und denen unserer Freunde widersprechen, und gezielt nach solchen zu suchen, die unsere Sichtweisen bestätigen. Intelligente und gebildete Menschen sind in dieser Hinsicht besonders geschickt. Deshalb fällt es ihnen leichter, Bestätigung für ihre Überzeugungen zu finden. Wenn es jedoch darum geht, eigene Positionen kritisch zu überprüfen oder gar zu revidieren, sind sie keineswegs offener und lernbereiter als der Rest der Bevölkerung. Aktuelle Verstärker von Tribalismus und Emotionalisierung Aber was soll daran so problematisch sein? Wer weniger an rhetorischen Schlagabtäuschen interessiert ist, sondern mehr Freude an ertragreichen politischen Diskussionen hat, mag unsere geringe Lernbereitschaft bedauern. Aber dem öffentlichen Diskurs hat sie bis jetzt offenbar nicht ernsthaft geschadet: Trotz der allgemeinen Neigung, die eigenen Überzeugungen stets nach allen Kräften gegen "die anderen" zu verteidigen, erwiesen sich die westlichen Demokratien lange Zeit als stabil. Ungeachtet mancher Degenerationserscheinungen sind ihre Gesellschaften noch selten in unversöhnliche Lager zerfallen, die einander nichts mehr zu sagen haben und sich gegenseitig Einsichtsfähigkeit oder Legitimität absprechen. Allerdings ist stark zu bezweifeln, dass dieser beruhigende Befund noch lange Bestand hat. Eigentlich ist er jetzt schon überholt, wenn man nach Polen blickt oder sich die starke weltanschauliche Polarisierung in den Vereinigten Staaten ansieht, ohne die Donald Trump nie US-Präsident geworden wäre. Drei laufende Trends lassen befürchten, dass auch die anderen westlichen Demokratien, ja selbst die solide Bundesrepublik, mehr und mehr in unversöhnliche Lager mit unvereinbaren "Wirklichkeiten" zersplittern könnten. Die erste dieser Entwicklungen ist die steigende Komplexität politischer Fragen infolge von Globalisierung und Technisierung. Internationale Finanzkrisen, multilaterale Entscheidungsprozesse, Chancen und Risiken neuer Technologien, ökonomische Verteilungsfragen, grenzüberschreitende Umweltbelastungen und viele andere Probleme überfordern immer mehr das Urteilsvermögen der Bürgerinnen und Bürger. Diese können solche Entwicklungen kaum noch verstehen und die Folgen möglicher Entscheidungen immer weniger abschätzen. Daher bleibt selbst denen, die sich ganz bewusst mit diesen Fragen auseinandersetzen, meist kaum etwas anderes übrig, als sich von sachfremden Gesichtspunkten beeinflussen zu lassen: Entweder orientieren sie sich an den Meinungsführerinnen ihrer jeweiligen Identitätsgruppe oder sie lassen sich ganz von ihren persönlichen Emotionen leiten, vertreten also die Meinung, die sich für sie "irgendwie besser anfühlt". Die zweite Entwicklung betrifft das Internet, das es immer einfacher macht, sich von Andersdenkenden abzuschotten und nur nach Bestätigung der eigenen Meinung zu suchen. Während man in Tageszeitungen, Rundfunk- oder Fernsehnachrichten oder Vereinen gelegentlich noch mit abweichenden Meinungen oder "unpassenden" Fakten konfrontiert wird, kann man sich im Netz problemlos auf die Portale, Blogs oder Diskussionsgruppen konzentrieren, die konsequent die eigene Position vertreten und zahlreiche Links auf bestätigende Informationen anbieten. Zum Teil lenken uns auch schon die Suchmaschinen in diese Richtungen. Soziale Netzwerke von Gleichgesinnten werden hier buchstäblich zu "Echokammern", in denen sich alle nur gegenseitig bestärken und dadurch in ihren Anschauungen weiter radikalisieren. Das Internet leistet so einem tribalistischen Denken Vorschub, das die Welt strikt unterteilt in die klugen und gutwilligen Mitglieder der eigenen Gruppe und gegnerische Gruppen, deren Mitglieder entweder dumm oder selbstsüchtig sind. Es spricht einiges dafür, dass drittens der anhaltende Aufstieg autoritärer oder illiberaler Staaten den demokratischen Konsens zunehmend gefährden könnte. Insbesondere die dynamische Entwicklung Chinas scheint für viele zu belegen, dass das westliche System nicht das einzige Erfolgsmodell ist. Insofern können die Vertreter des westlichen Establishments nicht mehr so einleuchtend behaupten, dass die liberale Demokratie, bei all ihren Unvollkommenheiten und internen Auseinandersetzungen, immer noch die beste Gesellschaftsordnung darstellt. Ihre Bevölkerungen sind nicht mehr so leicht davon zu überzeugen, dass man, ungeachtet zunehmender Einkommensdisparitäten, gemeinsam weiterhin auf der Siegerseite der Geschichte steht. Der Aufstieg der nichtwestlichen Welt untergräbt dabei nicht nur den einigenden Stolz auf die Überlegenheit des eigenen Systems, sondern begünstigt auch eine Verunsicherung, die die Menschen anfälliger für haltlose Pseudoerklärungen macht. Es ist kein Zufall, dass Donald Trump viele Wählerinnen und Wähler davon überzeugen konnte, der angebliche Niedergang Amerikas sei das Werk illegaler Einwanderer, chinesischer Wirtschaftsaggressoren und korrupter US-Eliten. Die Sozialpsychologen Jennifer Whitson und Adam Galinsky fanden in zahlreichen Experimenten heraus, dass verunsicherte Menschen, die wenig Kontrolle über ihr Schicksal zu haben glauben, weit eher dazu neigen, inexistente Zusammenhänge oder Muster zu erkennen. Entsprechend offener sind sie für eigene oder fremde Verschwörungstheorien. In einer globalisierten Welt, in der niedrige Einkommen stagnieren und die westlichen Nationen zunehmend äußeren Einflüssen ausgesetzt sind, droht solche Leichtgläubigkeit immer mehr um sich zu greifen. Meinungsmacher, die falsche Sündenböcke an den Pranger stellen oder andere abwegige Erklärungen für soziale Missstände anbieten, werden somit leichteres Spiel haben. Auch deshalb steht zu befürchten, dass politische Emotionalisierung und ideologische Polarisierung weiter voranschreiten werden. Demokratische Diskussionskultur in Gefahr Dieser bedrohlichen Entwicklung müssen alle entgegentreten, die sich demokratischen Werten verpflichtet fühlen. Wie der ehemalige US-Präsident Barack Obama in seiner Abschiedsrede eindrücklich formuliert hat, ist unsere Demokratie "dann in Gefahr, wenn wir sie als selbstverständlich erachten". Ihre Zukunftsfähigkeit hängt von uns Demokratinnen und Demokraten und unserer Diskussionskultur ab: "Ohne Übereinstimmung bei den grundlegenden Sachverhalten, ohne die Bereitschaft, neue Informationen zuzulassen und einzuräumen, dass ein Gegner womöglich ein gutes Argument anführt und Wissenschaft und Vernunft wichtig sind, werden wir weiter aneinander vorbeireden und es somit unmöglich machen, Gemeinsamkeiten und Kompromisse zu finden." Oder wie es der scheidende Bundespräsident Joachim Gauck wenige Tage später ausgedrückt hat: "Wenn wir nur noch das als Tatsache akzeptieren, was wir ohnehin glauben, wenn Halbwahrheiten, Interpretationen, Verschwörungstheorien, Gerüchte genauso viel zählen wie Wahrheit, dann ist der Raum freigegeben für Demagogen und Autokraten." Demokraten müssen künftig noch mehr darauf achten, dass sie sachlich und rational debattieren. Nur so können sie in der Auseinandersetzung echte Alternativen entwickeln und gleichzeitig die Geschlossenheit gegenüber den Gegnern der Demokratie wahren. Dies gilt auch für Deutschland, das zuletzt von Populismus und politischer Tribalisierung relativ verschont blieb. Nach zwei Großen Koalitionen innerhalb von drei Legislaturperioden wünschen sich manche hierzulande vielleicht sogar klarere Alternativen und leidenschaftlichere Debatten. Aber gerade große Alternativen müssen besonders sachlich debattiert werden. Die sehr emotionale Auseinandersetzung vor dem Brexit-Referendum zeigt zudem, wie schnell die oben erwähnten Faktoren die politische Kultur beschädigen können. Und die jüngste Entwicklung in den USA (aber nicht nur dort) verdeutlicht, dass solche Fehlentwicklungen, sind sie erst einmal eingetreten, schwer zu korrigieren sind. Besonders ernüchternd ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass unter Anhängern der Republikanischen Partei das große Misstrauen gegenüber den Tageszeitungen "New York Times" und "Washington Post" unlängst sogar noch zugenommen hat – vermutlich gerade deshalb, weil diese beiden Qualitätszeitungen zahlreiche Skandale aufgedeckt haben, die die ersten sechs Monate der Trump-Administration überschattet haben. Fast die Hälfte der Republikaner würde es inzwischen begrüßen, wenn amerikanische Gerichte "einseitig" oder "ungenau" berichtende Medien schließen würden. Eine besondere Verantwortung für die Bewahrung demokratischer Diskussionskultur kommt denjenigen Bürgerinnen und Bürgern zu, die aufgrund ihrer Fähigkeiten, ihrer beruflichen Positionen oder gesellschaftlichen Funktionen stärkeren Einfluss auf gesellschaftliche Willensbildungsprozesse nehmen können. Dies gilt also für die sogenannte Intelligenz, die aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Bildung und ihrer alltäglichen Beschäftigung mit komplexeren Zusammenhängen eine Vorbildfunktion hat. Es betrifft natürlich insbesondere diejenigen, die in der Öffentlichkeit spezielle Expertise für bestimmte Fragen reklamieren. Psychologische Studien bestätigen die Vermutung, dass vielen Laien vor allem derjenige als Experte gilt, der ihre eigene Meinung vertritt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit abweichenden Positionen wird dagegen schnell die Fachkompetenz abgesprochen. Einseitige Stellungnahmen von Experten begünstigen diese Art des "Rosinenpickens" und fördern dadurch in besonderem Maße die Polarisierung gesellschaftlicher Debatten. Acht Regeln gegen politische Engstirnigkeit Was aber folgt daraus für die demokratischen Bürgerinnen und Bürger und insbesondere für ihre meinungsprägenden Eliten, die für sich selbst ein höheres Reflexionsniveau in Anspruch nehmen? Wie können sie zu einer offenen Debatte beitragen, ohne ständig vom confirmation bias so fehlgeleitet zu werden, dass sie ungewollt in emotionalisiertes Lagerdenken verfallen? Am Anfang sollte bei allen die nahezu banale, aber doch verdrängte Einsicht stehen, dass politisch Andersdenkende nicht zwangsläufig naiver, unwissender oder egoistischer sind als wir selbst. Dass es intelligentere und gebildetere Menschen als uns in nahezu allen politischen "Lagern" geben muss, sagt uns eigentlich schon der gesunde Menschenverstand. Zu dieser Schlussfolgerung bedarf es keiner besonderen Statistikkenntnisse. Dennoch sperren wir uns immer wieder gegen sie. Wäre es anders, würden wir unsere Ansichten oft mit weniger Vehemenz vertreten und denen aus den anderen "Lagern" offener zuhören. Echte Deliberation verlangt eine gewisse Demut, ohne die wir unfähig sind, von anderen Demokratinnen zu lernen. Auf dieser Grundlage sollten wir eine Reihe von Grundsätzen beherzigen, die beinahe trivial erscheinen mögen, tatsächlich aber ständig missachtet werden – von "einfachen Bürgern" genauso wie von denjenigen, die sich als Teil der "Intelligenz" betrachten: Erstens müssen Sachargumente ernst genommen und geprüft werden, auch wenn sie von der "falschen" Seite kommen. Bei persönlichen Berichten oder Zeugenaussagen vor Gericht ist es sinnvoll, bestimmten Personen eher zu vertrauen als anderen. Ob aber ein politisches Argument richtig ist oder nicht, hängt hingegen nicht von der Person ab, die es äußert. Schließlich wird das gleiche Argument oft von ganz unterschiedlichen Personen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen vorgebracht, ohne dass es deshalb im einen Fall wahr und im anderen Fall falsch wäre. Zweitens sollten Demokraten sich abweichenden Meinungen und Argumenten bewusst und regelmäßig "aussetzen". Wenn wir unsere Überzeugungen nicht immer wieder kritisch überprüfen, sind sie bald schon keine "lebendigen Wahrheiten" mehr, sondern bloß "tote Dogmen". Gerade weil es unbequem, ja manchmal vielleicht sogar ärgerlich ist, mit Positionen konfrontiert zu werden, die der eigenen widersprechen, sollte man immer wieder ganz bewusst das eigene "Ideologie-Getto" verlassen. Dafür sollte man beispielsweise hin und wieder eine Tageszeitung mit einer anderen Orientierung gründlich lesen, unkonventionelle Blogs ansehen oder ein Sachbuch kaufen, das liebgewonnene Sichtweisen infrage stellt. Drittens sollten Freunde, Kolleginnen und Bekannte, die abweichende Meinungen vertreten, dazu aufgefordert werden, diese auch ausführlich zu äußern und zu begründen, statt sie zu entmutigen oder gar auszugrenzen. Das persönliche Gespräch bietet die beste Gelegenheit, seine eigene Sichtweise einer kritischen Überprüfung zu unterziehen und gegebenenfalls von anderen zu lernen. Wer andere Demokraten geringschätzt oder ihnen aus dem Weg geht, nur weil sie politisch anders denken, verrät nicht nur seine eigene Intoleranz oder Arroganz, sondern untergräbt damit auch die Einheit der Demokraten und hemmt die demokratische Willensbildung. Viertens ist eine kritische Haltung gerade auch gegenüber der eigenen politischen Position einzunehmen. Niemand sollte allein schon deshalb stolz auf sein "kritisches Bewusstsein" sein, weil er den herrschenden Verhältnissen mit Skepsis begegnet und ihre Legitimität infrage stellt. Natürlich ist die unkritische Akzeptanz des Bestehenden selten angebracht. Wer aber einfach nur anderer Leute Kritik an den derzeitigen Verhältnissen übernimmt, ohne sie eigenständig auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen, ist in Wahrheit genauso unkritisch wie jemand, der das Bestehende unhinterfragt akzeptiert. Eine kritische Einstellung hat nur derjenige, der jede politische Richtung für grundsätzlich anzweifelbar hält und sich deshalb auch immer wieder fragt, ob er seine eigenen Überzeugungen auch wirklich gut begründen kann. Fünftens sollte echte Lernbereitschaft ein wesentliches Element der Identität eines aufgeklärten Demokraten sein. Er sollte nicht stolz darauf sein, dass er immer loyal zu seinem politischen Lager stand und dessen Linie nie verlassen hat, sondern vielmehr sich darauf etwas einbilden, dass er seine Meinung immer wieder geändert hat, wenn er dafür gute Gründe sah. Der dem Ökonomen John Maynard Keynes zugeschriebene Satz "When the facts change, I change my mind" sollte einer seiner Wahlsprüche sein. Jeder von uns sollte sich fragen, wie oft er in den vergangenen Jahren politische Ansichten revidiert hat. Wer schon lange nicht mehr seine Meinung zu einer wichtigen politischen Frage geändert hat, muss sich ernsthaft fragen, ob dies wirklich nur daran liegen kann, dass er politisch so viel kompetenter ist als der Rest der Bevölkerung. Sechstens darf sich jemand, der im Diskurs nachdrücklich politische Veränderungen fordert, nicht auf normative Begründungen beschränken, sondern muss gleichermaßen die Realisierungsbedingungen mitbedenken. Wer nur "aus dem Bauch heraus" angeblich ungerechte Verhältnisse kritisiert und deren umgehende Beseitigung verlangt, ohne plausible Lösungswege anzubieten, macht vielleicht seiner berechtigten Empörung Luft. Er läuft damit aber Gefahr, nur die politische Debatte zusätzlich zu emotionalisieren, statt realistische Alternativen zu entwickeln, die gesellschaftliche Verhältnisse tatsächlich verbessern könnten. Das befriedigende Gefühl, für die "richtige Seite" einzutreten, kann nicht genügen. Wo normative Ansprüche Fragen der Machbarkeit in den Hintergrund drängen, stehen sich am Ende nur unversöhnliche ideologische Lager gegenüber. Je entschiedener die normativen Forderungen geäußert werden, umso eingehender sollten auch ihre Umsetzbarkeit und mögliche Folgewirkungen angesprochen werden. Wer solche Forderungen nachdrücklich stellt, sollte sich also auch mit den einschlägigen sozialen, technischen und natürlichen Bedingungen befassen und dazu wissenschaftliche Erkenntnisse zu Rate ziehen. Siebtens müssen anerkannte wissenschaftliche Befunde auch dann akzeptiert werden, wenn sie der eigenen politischen Einstellung widersprechen. Natürlich sollten Forschungsergebnisse nicht als unumstößliche Wahrheiten angesehen werden. Schließlich gibt es auch in den Fachwissenschaften viele Kontroversen, die nicht selten dazu führen, dass die Wahrheit von gestern plötzlich als überholt gilt. Dennoch sind wissenschaftliche Verfahren noch am ehesten geeignet, Aussagen über die Wirklichkeit (vorläufig) in wahre und falsche Ansichten zu unterteilen. Für Außenseiter gibt es mithin keinen sachlichen Grund, die aktuell herrschende Meinung innerhalb einer Disziplin abzulehnen. Schließlich glauben wir auch alle, dass sich die Erde um die Sonne dreht, obwohl wir dafür keinen anderen Grund angeben können als das Wort der Astronomen. Das gleiche muss für jeden wissenschaftlichen Befund gelten, der momentan die klare Mehrheitsmeinung der betreffenden Disziplin darstellt. Erst recht sollte man sich davor hüten, ganze wissenschaftliche Disziplinen wie Biologie, Klimawissenschaft, Psychologie, Ökonomie, Gender-Wissenschaft, Schulmedizin und so fort in Zweifel zu ziehen, bloß weil einem "die ganze Richtung nicht passt", die sie in der jüngsten Zeit genommen haben. Wer so verfährt – und das sind leider erschreckend viele –, läuft Gefahr, sich aus dem sachlichen Diskurs auszugrenzen. Achtens sollten Teilnehmer an einer Debatte einander respektvoll begegnen und bewusst die Identität des Gegenübers achten. Dies ist nicht nur ein Gebot der Höflichkeit und die Voraussetzung für ein gutes Gesprächsklima. Gegenseitiger Respekt fördert nachweislich auch die Lernbereitschaft. Menschen verschließen sich fremden Argumenten gerade auch deshalb, weil sie andere Meinungen als Bedrohung ihrer Identität wahrnehmen. Umgekehrt konnten Geoffrey Cohen und andere Psychologen zeigen, dass Personen viel aufmerksamer und offener für neue Argumente sind, wenn sie zuvor Selbstbestätigung erfahren haben. Hierfür genügte es den Probanden schon, sich einen ihrer zentralen Werte ins Gedächtnis zu rufen und an damit zusammenhängende positive Erfahrungen zu denken. Wer seinem Gegenüber glaubwürdig zu verstehen gibt, dass er viele seiner Werte teilt oder zumindest auch für wichtig hält, erhöht somit die Chancen dafür, dass es zu einem fruchtbaren Gedankenaustausch kommt. Demokratien als lernende Systeme Von allen Staatsformen eignet sich die liberale Demokratie immer noch am besten dazu, Irrtümer zu erkennen und Fehlentwicklungen zu korrigieren. Sie ist ein lernendes System – aber nur dann, wenn wir es individuell auch sind und unsere Diskussionskultur zunehmend darauf ausrichten. In einer Welt, die immer komplexer und dynamischer wird, sollte umfassende Lernbereitschaft ein Kernelement unserer politischen Identität werden. Wer sich nicht als lernendes System versteht, weil er lieber im weltanschaulichen Schützengraben seine politische Identität verteidigt, trägt dazu bei, dass Emotionalisierung und Polarisierung immer leichteres Spiel haben und die sachliche Debatte politischer Alternativen an den Rand gedrängt wird. Er ist weder ein aufgeklärter Demokrat noch ein echter Intellektueller. Vgl. Tom Nichols, How America Lost Faith in Expertise. And Why That’s a Giant Problem, in: Foreign Affairs 2/2017, S. 60–73. Vgl. Jonathan Haidt, The Righteous Mind. Why Good People Are Divided by Politics and Religion, New York 2012. Zumindest scheint das für Deutschland zu gelten. Vgl. Robert Vehrkamp/Christopher Wratil, Die Stunde der Populisten? Populistische Einstellungen bei Wählern und Nichtwählern vor der Bundestagswahl 2017, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2017. Vgl. Jonathan Haidt, The Emotional Dog and Its Rational Tail. A Social Intuitionist Approach to Moral Judgment, in: Psychological Review 4/2001, S. 814–834; Marc D. Hauser, Moral Minds. How Nature Designed Our Universal Sense of Right and Wrong, New York 2006. Vgl. David N. Perkins/Michael Farady/Barbara Bushey, Everyday Reasoning and the Roots of Intelligence, in: James F. Voss/David N. Perkins/Judith W. Segal (Hrsg.), Informal Reasoning and Education, Hillsdale 1991, S. 83–105. Vgl. Dan M. Kahan et al., The Polarizing Impact of Science Literacy and Numeracy on Perceived Climate Change Risks, in: Nature Climate Change 10/2012, S. 732–735. Vgl. ders. et al., Motivated Numeracy and Enlightened Self-Government, in: Behavioural Public Policy 1/2017, S. 54–86. Vgl. Roland Bénabou/Jean Tirole, Mindful Economics. The Production, Consumption, and Value of Beliefs, in: The Journal of Economic Perspectives 3/2016, S. 141–164; Geoffrey L. Cohen, Identity, Belief, and Bias, in: Jon Hanson (Hrsg.), Ideology, Psychology, and Law, New York 2012, S. 385–403; Dan M. Kahan et al., Culture and Identity – Protective Cognition. Explaining the White-Male Effect in Risk Perception, in: Journal of Empirical Legal Studies 3/2007, S. 465–505; Michael Shermer, The Believing Brain. From Ghosts and Gods to Politics and Conspiracies – How We Construct Beliefs and Reinforce Them as Truths, New York 2011. Vgl. Tom Nichols, The Death of Expertise. The Campaign against Established Knowledge and why It Matters, New York 2017; Cass R. Sunstein, #Republic. Divided Democracy in the Age of Social Media, Princeton 2017. Vgl. Edward Luce, The Retreat of Western Liberalism, London 2017. Vgl. Jennifer A. Whitson/Adam D. Galinsky, Lacking Control Increases Illusory Pattern Perception, in: Science 5898/2008, S. 115ff. Barack Obama, Abschiedsrede von Präsident Barack Obama, Chicago, 10.1.2017, Externer Link: https://de.usembassy.gov/de/abschiedsrede-von-prasident-barack-obama. Joachim Gauck, Rede zum Ende der Amtszeit zu der Frage "Wie soll es aussehen, unser Land?" aus der Antrittsrede vom 23. März 2012, Berlin, 18.1.2017, Externer Link: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2017/01/170118-Amtszeitende-Rede.html. Vgl. Fox populi. Attitudes Towards the Mainstream Media Take an Unconstitutional Turn, in: The Economist, 5.8.2017, S. 32. Vgl. Dan M. Kahan/Hank Jenkins-Smith/Donald Braman, Cultural Cognition of Scientific Consensus, in: Journal of Risk Research 2/2011, S. 147–174; Erick Lachapelle/Eric Montpetit/Jean-Philippe Gauvin, Public Perceptions of Expert Credibility on Policy Issues. The Role of Expert Framing and Political Worldviews, in: Policy Studies Journal 4/2014, S. 674–697. Tatsächlich scheint es keinen klaren Zusammenhang zwischen Intelligenz und politischer Orientierung zu geben. Einerseits haben Studien für Großbritannien und Brasilien ergeben, dass intelligentere Menschen – unabhängig von Bildungsstand und Einkommen – eher Zentrumsparteien wählen. Andererseits ist für die Vereinigten Staaten gezeigt worden, dass die intelligentesten Studierenden eher dem linken Flügel der Demokratischen Partei zuneigen. Für einen Überblick mit weiterführender Literatur siehe Scott A. McGreal, Intelligence and Politics Have a Complex Relationship, 21.5.2013, Externer Link: http://www.psychologytoday.com/blog/unique-everybody-else/201305/intelligence-and-politics-have-complex-relationship. Hingegen gibt es in vielen Ländern einen eindeutigen Zusammenhang zwischen ethischen Werten und politischer Orientierung: Je mehr eine Person dem linken Spektrum zuneigt, desto höher gewichtet sie Fairness und Hilfe für Schwache gegenüber anderen Werten, wie zum Beispiel Respekt für Autorität, Leistungsgerechtigkeit oder Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe. Vgl. Haidt (Anm. 2), Kap. 8. John Stuart Mill, On Liberty, Oxford 1991 (1859), S. 40. Vgl. Geoffrey L. Cohen/David K. Sherman, The Psychology of Change. Self-Affirmation and Social Psychological Intervention, in: Annual Review of Psychology 2014, S. 333–371.
Article
, Reinhard Wolf
"2022-02-15T00:00:00"
"2017-10-24T00:00:00"
"2022-02-15T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/258495/die-selbstgefaelligkeit-der-intelligenz-im-zeitalter-des-populismus/
In einer immer komplexeren Welt, in der das Internet ideologische "Echokammern" erzeugt, braucht Demokratie eine offenere Diskussionskultur. Gerade die besser Gebildeten müssen künftig mehr tun, um politischem Tribalismus vorzubeugen.
[ "Populismus", "Demokratie", "Meinungsvielfalt", "Diskussionskultur", "gesellschaftliche Verständigung" ]
30,389
Integration und Integrationspolitik in Deutschland | Deutschland | bpb.de
Seit Interner Link: Gründung der Bundesrepublik sahen wechselnde Bundesregierungen Interner Link: trotz phasenweise hoher Einwanderung bis in die späten 1990er Jahre in Deutschland kein Einwanderungsland. Vor diesem Hintergrund wurde über Jahrzehnte keine kohärente Politik zur Unterstützung der Integration von Eingewanderten und ihren Nachkommen konzipiert. Stattdessen wurde die Integrationsarbeit lange Zeit Wohlfahrtsverbänden und Kommunen überlassen. Kritische Stimmen aus Wissenschaft und Politik wiesen allerdings bereits in den 1970er Jahren auf die Dringlichkeit einer aktiven Integrationsförderung hin. So forderte der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Heinz Kühn (SPD), 1979, die faktische Einwanderungssituation anzuerkennen, Einbürgerungserleichterungen auf den Weg zu bringen und Integrationsförderung zu betreiben. Als Aufgabe des Bundes wurde Integration dann im Zuwanderungsgesetz festgeschrieben, das am 1. Januar 2005 in Kraft trat. In diesem Rahmen wurde das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFI) zum Interner Link: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) umgewandelt und mit der Steuerung von Maßnahmen zur Integrationsförderung betraut. Dazu zählen beispielsweise die mit dem Zuwanderungsgesetz eingeführten Interner Link: Integrationskurse – bis heute das zentrale Element integrationspolitischer Bemühungen auf Bundesebene. Sie umfassen einen Sprachkurs und einen Orientierungskurs, der landeskundliche Kenntnisse vermittelt, etwa zur Rechtsordnung, Geschichte und Kultur Deutschlands. Ausländerbehörden können bei der Erteilung des Aufenthaltstitels Zugewanderte dazu verpflichten, an einem Integrationskurs teilzunehmen. Dies ist beispielsweise bei mangelnden Deutschkenntnissen der Fall. Für EU-Bürger:innen besteht keine Teilnahmepflicht. Integrationspolitik als Querschnittaufgabe Neben der Bundesebene findet Integrationspolitik im Interner Link: deutschen föderalen System Interner Link: auch auf Ebene der Bundesländer und Kommunen statt. Sie ist eine Querschnittsaufgabe, die Anstrengungen in unterschiedlichen Politikfeldern und ihren verschiedenen Ressorts erfordert. Integrationsprozesse können dabei durch gesetzliche Regelungen, Fördermaßnahmen wie Sprach- und Qualifizierungsprogramme, die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteuren – beispielsweise im Rahmen der seit 2006 stattfindenden jährlichen Integrationsgipfel im Kanzleramt oder der im selben Jahr initiierten Interner Link: Deutschen Islam Konferenz – sowie symbolpolitischen Maßnahmen wie Einbürgerungskampagnen (begrenzt) gesteuert werden. Alle Bundesländer haben Integrationskonzepte bzw. entsprechende Leitlinien erarbeitet. In drei Bundesländern – Berlin (2010), NRW (2012), Baden-Württemberg (2015) – wurden Integrationsgesetze verabschiedet, die die Verbindlichkeit migrationspolitischer Anstrengungen erhöhen (sollen). In Bayern ist 2017 ein Integrationsgesetz in Kraft getreten, das sich vor allem der Integration von Schutzsuchenden widmet. Bundesweit verfügen auch Interner Link: zahlreiche Kommunen inzwischen über eigene Integrationskonzepte. Integrationspolitischer Grundsatz Die Integrationspolitik in Deutschland folgt dem Grundsatz des Förderns und Forderns, der im Zuge einer "aktivierenden Arbeitsmarktpolitik", insbesondere mit der Anfang 2005 in Kraft getretenen vierten Interner Link: Hartz-Reform, als sozialstaatliches Grundprinzip etabliert wurde. Eingewanderte stehen einerseits in der Pflicht, Deutschkenntnisse zu erwerben und die Grundwerte der deutschen Gesellschaft, insbesondere die freiheitlich-demokratische Rechtsordnung, zu respektieren. Andererseits ist die deutsche Gesellschaft gefordert, Eingewanderten "einen durch Chancengleichheit und Gleichbehandlung gekennzeichneten Zugang zu allen wichtigen Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu gewährleisten, indem bestehende Barrieren erkannt und abgebaut werden". Zwar betont dieser Ansatz, dass auch die aufnehmende Gesellschaft ihren Beitrag zu gelingender Integration von Eingewanderten und ihren Nachkommen leisten muss, etwa durch den Abbau von Diskriminierung. In der Praxis und im öffentlichen Diskurs werden Integrationsleistungen aber vor allem von Migrant:innen gefordert. Dabei hat der Aspekt des Forderns in den letzten Jahren deutlich an Gewicht gewonnen, indem positive und negative Anreize ausformuliert wurden, um Integrationsanstrengungen von Seiten der Eingewanderten zu intensivieren. So kann etwa die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis davon abhängig gemacht werden, ob sich Ausländer:innen bemühen, die deutsche Sprache zu erlernen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, den Lebensunterhalt selbstständig zu bestreiten und die Gesetze zu befolgen. Zudem kann die Nicht-Teilnahme an Integrationskursen mit dem Kürzen von Sozialleistungen sanktioniert werden. Weisen Migrant:innen "besondere Integrationsleistungen" nach, etwa besonders gute Deutschkenntnisse oder ein längeres ehrenamtliches Engagement in einem gemeinnützigen Verein, kann eine Einbürgerung bereits nach sechs (statt wie regulär nach acht) Jahren Aufenthalt in Deutschland beantragt werden. Neue Zielgruppen der Integrationspolitik Bis vor einigen Jahren richteten sich Integrationsmaßnahmen fast ausschließlich an Eingewanderte mit Bleiberecht. Dies änderte sich mit den Asylrechtsreformen ab Herbst 2015 und dem Interner Link: Integrationsgesetz, das infolge umfangreicher Fluchtzuwanderung im Jahr 2016 verabschiedet wurde und in Kraft trat. Es betrifft neben anerkannten Flüchtlingen vor allem Asylbewerber:innen und Geduldete. So dürfen nun Personen, die sich noch im Interner Link: Asylverfahren befinden, von denen aber angenommen wird, dass ihnen ein Schutzstatus und damit ein Aufenthaltsrecht in Deutschland gewährt wird (sogenannte "sichere Bleibeperspektive"), an Integrationskursen teilnehmen. Auch bestimmte Interner Link: Geduldete können sich seither durch den Nachweis von Integrationsleistungen ein Aufenthaltsrecht "verdienen", etwa wenn sie eine langfristige sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nachweisen können. Hintergrund der Ausweitung von Integrationsmaßnahmen auf diese Personengruppen ist zum einen die Erfahrung, dass viele Menschen ohne Bleiberecht dennoch dauerhaft in Deutschland bleiben , weil sie aus unterschiedlichen Gründen nicht abgeschoben werden können: etwa, weil ein genereller Abschiebestopp ins Herkunftsland besteht oder notwendige Reisdokumente fehlen. Zum anderen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich Integrationsprozesse schneller vollziehen, wenn Integrationsangebote frühzeitig eröffnet werden. Dadurch können auch die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kosten von Einwanderung und Flüchtlingsaufnahme gesenkt werden. Schließlich zeigt sich in der Neuausrichtung der Integrationspolitik, dass Schutzsuchende in den letzten Jahren verstärkt als (potenzielle) Arbeitskräfte "entdeckt" wurden. Zwar werden Asyl- und Erwerbsmigration weiterhin als zwei (rechtlich) voneinander zu trennende Migrationsformen verstanden. Dennoch werden Schutzsuchende zunehmend durch die Brille wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit betrachtet und etwa die Gewährung eines unbefristeten Aufenthaltsrechts (Niederlassungserlaubnis) an den Nachweis von Integrationsleistungen geknüpft, durch die die Betroffenen demonstrieren sollen, dass sie "würdig" (deserving) sind, dauerhaft in Deutschland zu leben. Diese Entwicklung kann als Ökonomisierung des humanitären Flüchtlingsrechts beschrieben werden. Kritisiert wird hierbei, dass das humanitäre Grundprinzip der Menschlichkeit an Bedeutung verliere, weil sich der Blick nun weniger auf das zu lindernde menschliche Leid als vielmehr auf die Frage der Wirtschaftlichkeit von Schutzsuchenden richte. Allerdings hat ein in diesem Rahmen u.a. auf Druck von Arbeitsgeberverbänden eingeführter schnellerer Interner Link: Arbeitsmarktzugang von Schutzsuchenden nicht nur Vorteile für die Wirtschaft und den Wohlfahrtsstaat. Er kommt auch den betroffenen Menschen selbst zugute, da sie nicht – wie etwa in den 1990er und frühen 2000er Jahren – über lange Zeit zur Passivität gezwungen werden. Sich seinen eigenen Lebensunterhalt verdienen zu können und nicht (ausschließlich) auf staatliche Zuwendungen angewiesen zu sein, trägt auch dazu bei, ein selbstbestimmte(re)s Leben führen zu können. Die Asyl- und Flüchtlingspolitik befindet sich damit aber auch in einem fortwährenden Spannungsfeld: Einerseits will sie keine Anreize für den Zuzug (und Verbleib) von Personen setzen, die nach geltendem Recht nicht schutzbedürftig sind, andererseits soll aber schutzberechtigten Personen schnell die Integration ermöglicht werden. Verschiedene Begrifflichkeiten bzw. Konzepte der letzten Jahre – so z.B. "sichere Herkunftsländer", "sichere Bleibeperspektive", "arbeitsmarktnahe Asylbewerber" oder "Duldung für Personen mit ungeklärter Identität" – weisen darauf hin, dass innerhalb der Gruppe der Schutzsuchenden immer neue Differenzlinien geschaffen worden sind, die zu einer stärkeren Hierarchisierung der Schutzsuchenden und ihrer Rechte beigetragen haben. Diese Hierarchisierung wiederum reguliert Möglichkeiten des Ein- und Ausschlusses und kann damit als Form von Migrationskontrolle verstanden werden. Dies geschah auch vor dem Hintergrund von Diskussionen über eine "Belastungsgrenze", die es nicht zulasse, alle Neuankömmlinge zu integrieren, weshalb die Integration einiger nur auf der Basis der Desintegration anderer möglich sei. Mit Blick auf Integrationsfragen wird dabei neben dem als "Schlüssel zur Integration" bezeichneten Erwerb ausreichender Deutschkenntnisse und der Einbindung von Eingewanderten und ihren Nachkommen in das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt seit einigen Jahren verstärkt der Aspekt der kulturellen Integration betont. Ein Beispiel ist die unter anderem vom deutschen Kulturrat angestoßene Externer Link: "Initiative kulturelle Integration", die im Mai 2017 Externer Link: "15 Thesen zu kultureller Integration und Zusammenhalt" vorgestellt hat. Auch der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) Externer Link: empfahl, soziale und kulturelle Dimensionen von Teilhabe stärker zu berücksichtigen (im Rahmen des Interner Link: Integrationsmonitorings zur Evaluation von Fortschritten und Defiziten der Integrationsförderung, welche im Anschluss an den 2007 verabschiedeten "Nationalen Integrationsplan" entwickelt wurde. Verstärkendes Moment für die Betonung kultureller Integration war die hohe Interner Link: Fluchtzuwanderung im Jahr 2015, die zu Diskussionen um den Zusammenhalt der Gesellschaft geführt hat. In diesem Kontext hat auch die alle paar Jahre aufflammende Debatte um eine Interner Link: (deutsche) "Leitkultur" wieder Aufschwung erhalten. Integration in der Vielfaltsgesellschaft 2020 hatten 26,7 Prozent der Bevölkerung in Deutschland einen ihnen statistisch zugeschriebenen Interner Link: Migrationshintergrund; bei Kindern unter fünf Jahren waren es sogar 40,3 Prozent. In einigen deutschen (Groß-)Städten haben mittlerweile mehr als die Hälfte der Einwohner:innen einen Migrationshintergrund. Es gibt Stadtteile, in denen Interner Link: numerische Mehr- und Minderheitenverhältnisse nicht mehr auszumachen sind, zumal die verschiedenen Bevölkerungsgruppen auch in sich heterogen sind, Vielfalt also nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ zunimmt – etwa mit Blick auf Lebensentwürfe und Wertvorstellungen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund fordert die 2019 von der Bundesregierung einberufene Fachkommission Integrationsfähigkeit in ihrem 2021 vorgelegten Abschlussbericht, Integration von Migration zu entkoppeln und umfassender als Teilhabe und Teilnahme aller Mitglieder der Gesellschaft zu verstehen. Integration definiert sie als einen dauerhaften interaktiven Prozess, der fortlaufend gestaltet werden müsse – von allen gesellschaftlichen Akteur:innen, nicht nur top-down vom Staat. GrafikBevölkerung mit Migrationshintergrund Bevölkerung mit Migrationshintergrund In Deutschland hat gut jede vierte Person einen Migrationshintergrund – in Westdeutschland galt dies im Jahr 2020 für 29,8 Prozent und in Ostdeutschland für 9,1 Prozent der Bevölkerung. Von allen Personen mit Migrationshintergrund sind 62 Prozent selbst eingewandert und 38 Prozent sind in Deutschland geboren. Interner Link: Mehr unter https://www.bpb.de/61646 Folgt man der Interner Link: Argumentation des Soziologen Aladin El-Mafaalani, zeichnen sich Integrationsfortschritte dabei zunächst nicht durch eine Abnahme gesellschaftlicher Konflikte und Debatten aus. Im Gegenteil: Weil in einer offenen Migrationsgesellschaft zunehmend mehr Bevölkerungsgruppen Anspruch auf Teilhabe und Mitgestaltung erheben und ihre Bedürfnisse und Interessen artikulieren wollen und können, nimmt das Konfliktpotenzial zu. Gesellschaftliche Machtverhältnisse werden infrage gestellt und neu ausgehandelt. Aktuelle Beispiele sind die ineinandergreifenden Debatten über Interner Link: strukturellen und institutionellen Rassismus – angestoßen unter anderem durch die transnationale Interner Link: Black Lives Matter-Bewegung –, Interner Link: Identitätspolitik oder Interner Link: Weißsein als Machtstruktur, die auch in Politik, Wissenschaft und Medien ihren Widerhall finden. Zumeist aktivistische Akteur:innen schaffen mithilfe Sozialer Medien Gegenöffentlichkeiten, wie etwa der tausendfach auf Twitter geteilte Hashtag #MeTwo zeigt, der auf Diskriminierungserfahrungen von Menschen mit Migrationshintergrund bzw. migrantisch gelesenen Menschen aufmerksam macht(e). Diese Akteur:innen wollen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Rassismus in Deutschland weit vor dem beispiellosen Zivilisationsbruch der Shoah Interner Link: begann und nicht mit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft endete, sondern bis in die Gegenwart reicht. Nicht zuletzt die Aufarbeitung der Interner Link: rechtsterroristischen Mordserie des NSU (2000-2006) oder der tödlichen Anschläge in Interner Link: Halle (Oktober 2019) und Hanau (Februar 2020) haben einen gesellschaftlichen Diskurs angestoßen, ob Rassismus mehr sei als eine Ungleichwertigkeitsideologie von Interner Link: rechtsradikalen Einzeltäter:innen, sondern im Gegenteil ein gesamtgesellschaftliches Problem, das einer inklusiven Gesellschaft im Wege steht und Interner Link: strukturelle Lösungsansätze erfordert. So hat etwa Berlin im Juni 2020 als erstes Bundesland ein Landesantidiskriminierungsgesetz beschlossen, das auch im Bereich des strukturellen und institutionellen Rassismus anwendbar ist und damit eine bestehende Lücke im Antidiskriminierungsrechtsschutz schließt. Sein Anwendungsbereich umfasst die gesamte öffentliche Verwaltung und alle öffentlichen Stellen des Landes Berlin, einschließlich der Polizei. Der Schutzbereich des seit 2006 bundesweit geltenden Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) erstreckt sich hingegen vor allem auf das Arbeitsleben und sogenannte Alltagsgeschäfte wie etwa Restaurantbesuche, Interner Link: deckt aber u.a. polizei- und ordnungsbehördliches Handeln nicht ab. Dies erschwert beispielsweise die Ahndung von Kontrollpraxen, die unter dem Vorwurf des Interner Link: Racial Profiling stehen. Einige andere Bundesländer wollen nachziehen und eigene Landesantidiskriminierungsgesetze auf den Weg bringen. Neben solchen institutionellen und rechtlichen Erweiterungen, Diskriminierung anzeigen zu können, ist im medialen Diskurs vermehrt zu beobachten, dass eine breiter angelegte Auseinandersetzung mit Rassismus gefordert wird. Auf diese Weise soll für die Differenz der Erfahrungen etwa von Schwarzen Menschen in Deutschland, Jüdinnen und Juden sowie asiatisch oder muslimisch gelesenen Personen sensibilisiert werden – um, so die Zielsetzung, die gesamtgesellschaftliche Ambiguitätstoleranz zu erhöhen, d.h. mit Mehrdeutigkeit leben und Ambivalenzen aushalten zu können. Muslime und muslimisch gelesene Menschen als die "Anderen" In den Debatten um Einwanderung stehen vor allem jene Menschen, die aus mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern stammen, im Fokus der Aufmerksamkeit. Das war bereits vor der 2015 erfolgten hohen Fluchtzuwanderung der Fall, hat sich aber seither noch einmal verstärkt. Dabei ist das öffentliche Bild "der Muslim:innen" häufig defizitär geprägt, ihnen werden Integrations-, Demokratiefähigkeit und Zugehörigkeit abgesprochen. Das steht einem gesellschaftlichen Selbstverständnis entgegen, welches sich als durch Migration geprägt begreift und Migrant:innen und ihre Nachkommen als selbstverständlichen Bestandteil der Gesellschaft versteht. Einer im Juni 2021 veröffentlichten repräsentativen Umfrage zufolge gehört der Islam für 45 Prozent der Bevölkerung "gar nicht" zu Deutschland , obwohl 2019 zwischen 5,3 und 5,6 Millionen Eingewanderte aus muslimisch geprägten Ländern und ihre Nachkommen in Land lebten und entsprechend zwischen 6,4 und 6,7 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten (auch wenn damit nicht gesagt ist, welche Rolle Religiosität im Alltag all dieser Menschen überhaupt spielt). Dennoch werden in öffentlichen medialen Debatten Einwanderer:innen aus muslimischen Ländern und ihre Nachkommen häufig mit einer als problematisch empfundenen Zuwanderung oder gescheiterten Integration in Verbindung gebracht. Der Islam wird etwa mit Terrorismus, Fanatismus und Intoleranz assoziiert. Nach einer Eskalation des Nahostkonflikts im Mai 2021 flammten erneute Debatten um die Zunahme von Interner Link: Antisemitismus aufgrund der Zuwanderung aus muslimischen Ländern auf. Auch wenn Studien die weite Verbreitung Interner Link: antisemitischer Einstellungen unter Muslim:innen bedingt bestätigen und diesen Tendenzen aktiv entgegengewirkt werden sollte, kann die Auseinandersetzung mit Interner Link: Antisemitismus nur gelingen, wenn antisemitische Einstellungen in der gesamten Gesellschaft in den Blick genommen und bearbeitet werden. Für gesellschaftliche Machtverhältnisse, die eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe aller verhindern, zu sensibilisieren und diese abzubauen, kann als eine wichtige Aufgabe einer Integrationspolitik betrachtet werden, die Integration als gesamtgesellschaftliche Aufgabe versteht – nicht nur als Bringschuld von Eingewanderten und ihren Nachkommen. Bevölkerung mit Migrationshintergrund In Deutschland hat gut jede vierte Person einen Migrationshintergrund – in Westdeutschland galt dies im Jahr 2020 für 29,8 Prozent und in Ostdeutschland für 9,1 Prozent der Bevölkerung. Von allen Personen mit Migrationshintergrund sind 62 Prozent selbst eingewandert und 38 Prozent sind in Deutschland geboren. Interner Link: Mehr unter https://www.bpb.de/61646 Bevölkerung mit Migrationshintergrund Informationen zu Integrationskursen: Externer Link: https://www.bamf.de/DE/Themen/Integration/ZugewanderteTeilnehmende/Integrationskurse/integrationskurse-node.html (Zugriff: 14.06.2021). Externer Link: http://dejure.org/gesetze/AufenthG/44a.html (Zugriff: 14.06.2021). Gesemann, Frank/Roth, Roland (2014): Integration ist (auch) Ländersache! Schritte zur politischen Inklusion von Migrantinnen und Migranten in den Bundesländern. Eine Studie des Instituts Demokratische Entwicklung und Soziale Integration (DESI) für die Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin. Externer Link: http://library.fes.de/pdf-files/dialog/10528-version-20140317.pdf (Zugriff: 14.06.2021). 2019 erklärte der bayerische Verfassungsgerichtshof Teile des Integrationsgesetzes für verfassungswidrig. Bundesministerium des Innern (Hrsg./2014): Migration und Integration. Aufenthaltsrecht, Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland. Berlin. Siehe beispielsweise die repräsentative Bevölkerungsumfrage "Zugleich – Zugehörigkeit und Gleichwertigkeit" zu Einstellungen in der deutschen Bevölkerung von 2014 bis 2020 von Andreas Zick und Nora R. Krott, deren Auswertung zeigt, dass die Erwartungen in der Bevölkerung an eine kulturelle Anpassung von Eingewanderten und ihren Nachkommen gestiegen sind. Umgekehrt befürworten weniger Menschen in Deutschland ein Integrationsverständnis im Sinne eines "Aufeinanderzubewegens". Externer Link: https://www.stiftung-mercator.de/content/uploads/2021/08/ZuGleich_Studienbericht_2021_AndreasZick.pdf (Zugriff: 04.11.2021). Ranko, Annette (2020): Vom Zuwanderungsgesetz zum Migrationspaket. 15 Jahre aktive Einwanderungspolitik und Integrationspolitik als bundespolitisches Handlungsfeld in Deutschland. Konrad Adenauer Stiftung: Informationen und Recherchen, 11. Dezember. Externer Link: https://www.kas.de/documents/252038/7995358/Vom+Zuwanderungsgesetz+zum+Migrationspaket.pdf/0bd7155c-6e26-9f44-37cf-bd284f36fb9b?version=1.0&t=1607693454966 (Zugriff: 21.06.2021). Zur Frage der "Derservingness" siehe auch Sophie Hinger (2020): Integration Through Disintegration? The Distinction Between Derseving and Underserving Refugees in National and Local Integration Policies in Germany. In: Sophie Hinger / Reinhard Schweitzer (Hg.): Politics of (Dis)Integration. IMISCOE Research Series, S. 19-39. Siehe beispielsweise Scherschel, Karin (2016): Citizenship by work? Arbeitsmarktpolitik im Flüchtlingsschutz zwischen Öffnung und Selektion. PROKLA. Verlag Westfälisches Dampfboot, Heft 183, 46. Jg., Nr. 2, S. 245-265. Zur Entwicklung des Arbeitsmarktzugangs von Geflüchteten siehe z.B. Asma Sarraj-Herzberg (2014): Arbeitsverbot für Geflüchtete. Heinrich Böll Stiftung, Heimatkunde, migrationspolitisches Portal. 29. September. Externer Link: https://heimatkunde.boell.de/de/2014/09/29/arbeitsverbot-fuer-gefluechtete (Zugriff: 24.06.2021). Sophie Hinger (2020): Integration Through Disintegration? The Distinction Between Derseving and Underserving Refugees in National and Local Integration Policies in Germany. In: Sophie Hinger / Reinhard Schweitzer (Hg.): Politics of (Dis)Integration. IMISCOE Research Series, S. 19-39. Der Nationale Integrationsplan ist abrufbar unter: www.bundesregierung.de/Content/DE/Archiv16/Artikel/2007/07/Anlage/2007-07-12-nationaler-integrationsplan.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (Zugriff: 14.06.2021). Statistisches Bundesamt (2021): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2020 (Erstergebnisse). Wiesbaden. Externer Link: https://www.destatis.de/ (Zugriff: 02.11.2021). Der Abschlussbericht der Fachkommission Integrationsfähigkeit kann eingesehen werden unter: Externer Link: https://www.fachkommission-integrationsfaehigkeit.de/fk-int (Zugriff: 18.05.2021). Sarina Addy (2020): Juristisches Handwerkszeug zur Bekämpfung von institutionellem Rassismus: In Berlin, an der Spree, gibt es jetzt ein LADG! Grundmenschenrechtsblog der Humboldt Law Clinic. 25. Juni. Externer Link: http://grundundmenschenrechtsblog.de/ (Zugriff: 03.06.2021). Andrea Pürckhauer (2021): Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz: Ziehen andere Bundesländer beim LADG nach? Mediendienst Integration, 08.06.2021. Externer Link: https://mediendienst-integration.de/artikel/ziehen-andere-bundeslaender-beim-ladg-nach.html (Zugriff: 14.06.2021). Naika Foroutan (2012): Muslimbilder in Deutschland. Wahrnehmungen und Ausgrenzungen in der Integrationsdebatte. Expertise im Auftragt der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung. WISO Diskurs, November. Bonn. Externer Link: http://library.fes.de/pdf-files/wiso/09438.pdf (Zugriff: 14.06.2021). Alice Schwarzer Stiftung: Umfrage: Islam und Islamismus, Externer Link: https://alice-schwarzer-stiftung.de/2021/06/11/umfrage-islam-und-islamismus/ (Zugriff: 14.06.2021). Katrin Pfündel, Anja Stichs, Kerstin Tanis (2020): Muslimisches Leben in Deutschland 2020. Studie im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Forschungsbericht 38. Externer Link: https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Forschungsberichte/fb38-muslimisches-leben.html (Zugriff: 14.06.2021). Siehe dazu beispielhaft das Programm der AfD zur Bundestagswahl 2021, wo der Komplex der Migrationspolitik unter der Überschrift "Islam" behandelt wird. Alice Schwarzer Stiftung: Umfrage: Islam und Islamismus, Externer Link: https://alice-schwarzer-stiftung.de/2021/06/11/umfrage-islam-und-islamismus/ (Zugriff: 14.06.2021).
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-05T00:00:00"
"2021-11-26T00:00:00"
"2022-01-05T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/deutschland/344036/integration-und-integrationspolitik-in-deutschland/
Die Förderung von Integration ist mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 als staatliche Aufgabe festgeschrieben worden. Seither ist viel passiert. Die gleichberechtigte Teilhabe für alle bleibt aber eine zentrale Herausforderung in der Migrationsgesells
[ "Integration", "Flucht", "geflüchtet", "Arbeitsmarkt", "Antisemitismus", "Rechtsextremismus", "Migrationshintergrund", "Deutschland" ]
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IT-Sicherheit im US-Wahlkampf | USA | bpb.de
Wahlen werden weltweit immer digitaler. Das bietet neben vielen Vorteilen auch neue Herausforderungen: Am Beispiel der US-Präsidentschaftswahl 2016 lässt sich gut nachvollziehen, wie mit Interner Link: Desinformation und Interner Link: Cyberoperationen versucht wurde, Einfluss auf die Wahl zu nehmen. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2020 haben die USA sowohl auf Regierungsebene als auch auf zivilgesellschaftlicher und privatwirtschaftlicher Ebene Maßnahmen ergriffen, um sich gegen die Wirksamkeit von Cyberoperationen und Interner Link: Desinformation zu schützen. Cyberoperationen und Desinformation im US-Präsidentschafts-wahlkampf 2016 Im Vorfeld der letzten US-Präsidentschaftswahlen 2016 mischte sich Russland mittels Cyberangriffen in den Wahlkampf ein: Russland griff 2015 und 2016 mittels solcher Cyberangriffe die Demokratische Partei auf Bundesebene (Democratic National Committee, DNC) an. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des DNC schickte der russische Geheimdienst innerhalb von fünf Tagen dutzende Interner Link: Spear-Phishing-E-Mails an die Arbeits- und persönlichen Konten. Auch betroffen waren freiwillige Unterstützerinnen und Unterstützer der demokratischen Kandidatin Hillary Clinton. Ziel war es, in deren Computersysteme einzudringen, um mithilfe der gestohlenen Informationen, unter anderem Passwörter, in die Netzwerke des DNC einzudringen. So erhielt der russische Geheimdienst auch Zugriff auf die E-Mails von Clintons Wahlkampfchef, John Podesta. Interner Link: [1] Dort gewonnene Informationen wurden veröffentlicht, was für die Demokraten hochbrisant war. Denn die E-Mails heizten bestehende Zweifel darüber an, wie neutral das DNC bei der Wahl zwischen der Präsidentschafts-Anwärterin Clinton und Anwärter Bernie Sanders war. Die Vorsitzende des DNC trat in der Folge zurück. Interner Link: [2] Ausspähung: Datenbanken der Wählerinnen und Wähler Cyberoperationen dienen außerdem dazu, Schwachstellen von IT-Systemen auszunützen, um an laufende Kommunikation oder gespeicherte Daten zu kommen. Interner Link: [3] Dieselbe russische Geheimdiensteinheit, die für die Cyberangriffe auf das DNC verantwortlich war, zielte auch auf US-Wahlbüros sowie US-amerikanische Hersteller von Wahlgeräten ab. Etwa im Juni 2016 kompromittierte der russische Militärnachrichtendienst GRU das Computernetz des Staates Illinois und erhielt – durch eine Sicherheitslücke auf der Webseite – Zugriff auf eine Datenbank mit Informationen zu Millionen registrierter Wählerinnen und Wähler in Illinois. Interner Link: [4] Zudem gab der Gouverneur in Florida an, dass auch zwei Bezirke in seinem Staat betroffen waren und auch dort ein Zugriff auf jene Daten möglich war. Interner Link: [5] Verzeichnisse über Stimmberechtigte sind wichtig für die Wahl, weil eine Veränderung der Daten dazu führen kann, dass Wählerinnen und Wähler daran gehindert werden, ihre Stimme abzugeben oder dies erst nach einer erneuten Verifizierung tun können. In diesem Fall wurden allerdings keine Änderung der Daten oder Abstimmungen belegt. Allein der Versuch des Eindringens kann jedoch schon problematisch sein, da dadurch die Legitimation der Ergebnisse der Wahlen angezweifelt werden könnte. Interner Link: [6] Soziale Medien: Hetzerische Inhalte und gefälschte Accounts Ein Dreh- und Angelpunkt russischer Aktivitäten in den sozialen Medien in den USA war die Interner Link: Internet Research Agency (IRA). Dieses Unternehmen steuerte laut US-Regierungsermittlungen gefälschte Social-Media-Accounts auf Facebook, YouTube, Twitter, Instagram und Tumblr, um unter anderem hetzerische Botschaften zu gesellschaftlich kontrovers diskutierten Themen zu verbreiten. Interner Link: [7] Oftmals gaben sich IRA-Mitarbeitende dabei als US-amerikanische Bürgerinnen und Bürger oder gemeinnützige Vereine aus. Welche Auswirkungen diese Aktivitäten auf die Wahl hatten, ist umstritten. Einige Analysen sprechen von einer amateurhaften Kampagne Interner Link: [8] und verweisen darauf, dass Ausmaß und Auswirkungen von (russischer) Desinformation nicht klar erfasst sind Interner Link: [9a]. Andere betonen, dass Millionen US-Amerikanerinnen und Amerikaner mit IRA-Inhalten in Kontakt gekommen sind, die oft dazu dienen sollten, etwa Minderheiten von der Wahl abzuhalten oder Streit unter den Unterstützerinnern und Unterstützern der Demokraten anzustacheln Interner Link: [9b]. Es lässt sich in jedem Fall sagen, dass es der IRA gelang, ihre Inhalte über kleine Gruppen im Netz zu streuen. Auch das durch die Berichterstattung vermittelte Gefühl einer "Bedrohung von außen" durch die IRA könnte letztendlich dazu beigetragen haben, Misstrauen in den Wahlprozess zu streuen. Reaktionen und Schutzmaßnahmen in den USA, 2016-2020 Die Einmischung in die US-Wahlen 2016 war ein Wendepunkt in einer langjährigen Diskussion um die Sicherheit von Wahlen. In der Folge wurden in den USA diverse Maßnahmen getroffen. Diese zeigen, dass der Schutz von Wahlen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, denn sie umfassen Maßnahmen des Staates, der Wirtschaft, der Wissenschaft sowie der Zivilgesellschaft. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2020 zeichnete sich ab, wie schwierig es ist, Desinformation und Cyberoperationen in den Griff zu bekommen. Interner Link: [10] Ein Faktor ist, dass sich der Wahlkampf aufgrund der Covid-19-Pandemie noch stärker ins Internet verlagert hat. Das bietet weitere Angriffsflächen: Einerseits werden Kampagnen online geplant und umgesetzt. Andererseits werden aber auch weitaus mehr Menschen als üblich von der Briefwahl Gebrauch machen. Gerade zur Briefwahl und den Wahlmodalitäten in der Pandemie kursierte bereits Monate vor der Wahl Desinformation – diese stammte allerdings nicht vornehmlich von ausländischen Akteurinnen und Akteuren, sondern aus dem Weißen Haus selbst. Hierbei ist die Gefahr vor allem, dass Bürgerinnen und Bürger, das Vertrauen in den Wahlprozess oder das Endergebnis verlieren. Die zentrale Frage ist, wie die Widerstandsfähigkeit von Parteien, sozialen Medien, Bürgerinnen und Bürgern und auch der IT-Infrastruktur so verbessert werden kann, dass die Wirkung von Desinformation und Cyberoperationen abgeschwächt wird. Einige Maßnahmen werden im Folgenden beispielhaft aufgezeigt. Wie gut die Schutzmaßnahmen und Reaktionen wirken und ob sie ausreichen, wird sich erst nach der Wahl zeigen. Konsequenzen russischer Einflussnahme auf den US-Wahlkampf Staat Legislative Gesetze zur Finanzierung von IT-Sicherheitsmaßnahmen Der Kongress stellte insgesamt 805 Millionen US-Dollar für Verbesserungen der Infrastruktur der Wahlsicherheit bereit. Die US-Bundesstaaten entscheiden darüber, wie das Geld verwendet wird. Interner Link: [11] Expertinnen und Experten warnen jedoch davor, dass das Geld nicht ausreiche, um die IT-Sicherheit der Wahlen zu gewährleisten. Ein akutes Problem stellen beispielsweise Wahlgeräte dar, die keine unabhängige Überprüfung der Wahlergebnisse zulassen und die erwiesenermaßen gehackt werden können. Interner Link: [12] Anhörungen Es gab mehrere Anhörungen in parlamentarischen Ausschüssen, etwa zur Sicherung der US-Wahlinfrastruktur oder zum "Schutz des politischen Diskurses" Interner Link: [13] und der Integrität der Wahl Interner Link: [14], um die Problematik nachvollziehbar zu machen und Gegenmaßnahmen zu identifizieren. Beauftragung von Studien Der Kongress gab Studien zur Wahlsicherheit in Auftrag. Hier sticht insbesondere die überparteiliche Untersuchung des Geheimdienstausschusses des US-Senats hervor, die in fünf Bänden detailliert die Einflussnahme Russlands aufarbeitet. Interner Link: [15] Auch Studien speziell zu Desinformation in sozialen Netzwerken wurden veröffentlicht. Interner Link: [16] Exekutive Sonderermittlung Zwischen Mai 2017 und März 2019 untersuchte der Sonderermittler Robert Mueller die Einflussnahme Russlands im US-Wahlkampf 2016. Diese Ermittlung wurde vom US-Justizministerium beauftragt, nachdem hunderte Abgeordnete eine solche Untersuchung gefordert hatten. Interner Link: [17] Der Abschlussbericht kam zu dem Ergebnis, dass es eindeutige und nachweisliche Versuche Russlands gab, Einfluss auf die Wahl und den Meinungsbildungsprozess in den USA zu nehmen. IT-Sicherheitschecks und Öffentlichkeitsarbeit Durch Tests von staatlichen und lokalen Wahlsystemen, die durch das Ministerium für innere Sicherheit (Department of Homeland Security, DHS) durchgeführt wurden, konnten verschiedene Schwachstellen aufgedeckt werden, insbesondere auf lokaler Ebene. Einige Regierungsangestellte teilten zum Beispiel immer noch Passwörter und andere Anmeldeinformationen miteinander oder nutzten Standardkennwörter. Um auf die Gefahr von Cyberangriffen aufmerksam zu machen, warnt das DHS u.a. auf Twitter vor Angreiferinnen und Angreifer und weist auf Möglichkeiten hin, sich davor zu schützen Interner Link: [18]. Verordnungen Einige Verordnungen befassen sich mit Wahlbeeinflussung, beispielsweise die von Präsident Donald J. Trump unterzeichnete Durchführungsverordnung (executive order), welche Sanktionen gegen jede Nation oder Einzelperson vorsieht, die Einmischungen in US-Wahlen autorisiert, leitet oder unterstützt. Interner Link: [19] Cyberoperationen des US-Militärs Das US-Militär (US Cyber Command) nutzte 2018 Cyberoperationen, um den Internetzugang der IRA zu blockieren und so die Verbreitung von Desinformation zu stoppen. Interner Link: [20] Außenpolitische Sanktionen Seit 2015 können auch auf diplomatischer Ebene Sanktionen erfolgen und beispielsweise Personal ausländischer Botschaften oder Organisationen ausgewiesen werden. Interner Link: [21] Das US-Finanzministerium (Department of the Treasury) hat zudem Sanktionen gegen russische Staatsangehörige verhängt, denen vorgeworfen wird, für die IRA zu arbeiten. Interner Link: [22] Judikative Anklagen Das US-Justizministerium hat zwölf russische Geheimdienstoffiziere angeklagt, bei den US-Wahlen 2016 Daten von Beamtinnen und Beamten der Demokratischen Partei gehackt zu haben. Interner Link: [23] Zudem wurden die IRA und einige mutmaßliche Mitarbeitende angeklagt. Interner Link: [24] Parteien IT-Sicherheitsexpertise Das DNC setzte einen vierköpfigen Beirat für Cybersicherheit ein Interner Link: [25], schaffte Stellen für IT-Sicherheitsbeauftragte Interner Link: [26] und führte Trainings und Simulationen Interner Link: [27] durch. Außerdem wurde eine Checkliste mit Sicherheitshinweisen Interner Link: [28] entwickelt. Wahlkampagnen beschäftigen nun interne Spezialistinnen und Spezialisten für Cybersicherheit, so auch die Kampagnen von Joe Biden und Donald Trump im Wahlkampf 2020. Interner Link: [29] Im Vorhinein waren sie auf externe Beraterinnen und Berater angewiesen. Interner Link: [30] Privatsektor Einschränkungen von Werbeanzeigen und Einführung von Werbearchiven In den USA können Werbeanzeigen nicht mehr in ausländischen Währungen bezahlt werden. Es gibt zudem ein öffentlich einsehbares Archiv aller politischen Werbeanzeigen. Interner Link: [31] Zusatzinformationen sichtbar machen Auch große Tech-Konzerne haben in den letzten Jahren personell und technologisch investiert, um gefälschte Social-Media-Accounts rascher zu entdecken. Facebook und Twitter ergänzen außerdem einige politische Posts mit eigenen Informationen, Links und weiterführenden Quellen. Eine unabhängige Kontrolle darüber, wie strikt die Plattformen ihre eigenen Regeln gegen Desinformation und Hetze durchsetzen, gibt es noch nicht. Analyse und Warnungen vor versuchten Angriffen Private Firmen, z. B. Microsoft und Crowdstrike, analysieren Angriffe und warnen während des Wahlkampfes vor versuchten Angriffen. Außerdem geben sie Empfehlungen für IT-Sicherheitsmaßnahmen ab. Interner Link: [32] Wissenschaft Studien und Trainings zur IT-Sicherheit Das parteiübergreifende Defending Digital Democracy Project (D3P) des Belfer Centers der Harvard Universität arbeitet seit 2017 mit Wahlbeamtinnen und Beamten im ganzen Land zusammen, um sie beim Aufbau von Schutzmaßnahmen und der Vorbereitung auf Cyber- und Desinformationsangriffe zu unterstützen. Interner Link: [33] Zivilgesellschaft Analysen und Empfehlungen zur Wahlsicherheit Einige zivilgesellschaftliche Organisationen haben Nachforschungen angestellt und zentrale Personen in der Wahlverwaltung befragt, um die Bedrohungen der Cybersicherheit besser zu verstehen. Danach wurden Maßnahmen entwickelt, die von Wahlbeamtinnen und Wahlbeamten und anderen bei künftigen Wahlen implementiert werden können Interner Link: [34]. Außerdem wurden Studien veröffentlicht, die Angriffstaktiken und Schutzmaßnahmen evaluieren Interner Link: [35]. Glossar Cyberoperation Eine Cyberoperation ist der gezielte Einsatz und die Veränderung von digitalem Code durch Individuen, Gruppen, Organisationen oder Staaten unter Nutzung von digitalen Netzwerken, Systemen und verbundenen Geräten [...] um Informationen zu stehlen, zu verändern oder zu zerstören. Ziel ist es, konkrete Akteurinnen und Akteure zu schwächen oder zu beschädigen. Interner Link: [36] Desinformation Desinformation meint Inhalte, die nachweislich falsch oder irreführend sind und eingesetzt werden, um daraus finanziellen Gewinn zu schlagen und/oder anderen zu schaden. Interner Link: [37] Internet Research Agency (IRA) Dieses Unternehmen sitzt in Sankt Petersburg und steht laut US-Sicherheitsdiensten in Verbindung mit der russischen Regierung. Interner Link: [38] IRA-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden beschuldigt, im US-Wahlkampf gefälschte Social-Media-Konten betrieben zu haben. Das US-Justizministerium klagte das Unternehmen deshalb 2018 an. Interner Link: [39] Spear-Phishing Spear-Phishing ist ein Betrugsversuch, bei dem die/der Angreifer/-in die Opfer davon zu überzeugen versucht, dass die Kommunikation von einer vertrauenswürdigen Quelle kommt. Ziel ist es, so an bestimmte Daten zu kommen. Interner Link: [40] Leaken Leaken ist eine Taktik, bei der vertrauliche Informationen über eine Zielperson herausgefunden und veröffentlicht werden und zielt vor allem auf die Vertraulichkeit von Daten ab. Ziel ist es, an schädigende Informationen über eine Person zu gelangen und diese dann zu veröffentlichen. Interner Link: [41] Fußnoten 1 Robert S. Mueller III. (2019). Externer Link: Report On The Investigation Into Russian Interference In The 2016 Presidential Election. p.36. 2 Edward-Isaac Dovere and Gabriel Debenedetti. (2016). Externer Link: Heads roll at the DNC. Politico. 3 Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. 4 Robert S. Mueller III. (2019). Externer Link: Report On The Investigation Into Russian Interference In The 2016 Presidential Election p.36. 5 Makena Kelly. (2019). Externer Link: Russians hacked voting databases in two Florida counties in 2016 governor says. 6 Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. 7 Robert S. Mueller III. (2019). Externer Link: Report On The Investigation Into Russian Interference In The 2016 Presidential Election. p.36. 8 Thomas Rid. (2018). Active Measures: The Secret History of Disinformation and Political Warfare. Kapitel 30. Farrar, Straus and Giroux.; Aaron Maté. New Studies Show Pundits Are Wrong About Russian Social-Media Involvement in US Politics. 9a Gabrielle Lim. (2020). Externer Link: The Risks of Exaggerating Foreign Influence Operations and Disinformation. 9b Philip N. Howard et al. (2018). Externer Link: "The IRA, Social Media and Political Polarization in the United States, 2012-2018"; Renee DiResta et al. (2018). Externer Link: "The Disinformation Report: The Tactics & Tropes of the Internet Research Agency". 10 Süddeutsche. (2020). Externer Link: Zahlreiche Hackerangriffe auf US-Wahlkampfteams. 11 Miles Parks. (2019). Externer Link: Congress Allocates $425 Million For Election Security In New Legislation. 12 Eric Geller et al (2019). Externer Link: The scramble to secure America’s voting machines. Politico. 13 Subcommittees National Security (116th Congress). (2019). Externer Link: Securing U.S. Election Infrastructure and Protecting Political Discourse. The Committee on Oversight and Reform. 14 Subcommittee of Cybersecurity Infrastructure Protection, & Innovation (116th Congress). (2020). Externer Link: Secure, Safe, and Auditable: Potecting the integrity of the 2020 elections. 15 Select Committee on Intelligence United States Senate. (2019). Externer Link: Report of the Select of Committee on Intelligence United States Senate On Russian Active Measures Campaigns and Interference in the 2016 U.S. Election. 16 Renee DiResta u. a.(2019). Externer Link: The Tactics & Tropes of the Internet Research Agency; Howard u. a. 2018). Externer Link: The IRA, Social Media and Political Polarization in the United States, 2012-2018. 17 Robert S. Mueller III. (2019). Externer Link: Report On The Investigation Into Russian Interference In The 2016 Presidential Election. p.36. 18 Chris Krebs. (2020). Externer Link: Tweet. 19 Executive Office of the President. (2018). Externer Link: Imposing Certain Sanctions in the Event of Foreign Interference in a United States Election. 20 Ellen Nakashima. (2019). Externer Link: U.S. Cyber Command operation disrupted Internet access of Russian troll factory on day of 2018 midterms. 21 U.S. Department of State. (2020). Externer Link: Cyber Sanctions. 22 U.S. Department of the Treasury. (2019). Externer Link: Treasury Targets Assets of Russian Financier who Attempted to Influence 2018 U.S. Elections. 23 Justice Departement. (2018). Externer Link: Case 1:18-cr-00215-ABJ Document 1 Filed 07/13/18. 24 Dan Mangan und Mike Calia. (2018). Externer Link: Special counsel Mueller: Russians conducted ‘information warfare’ against US during election to help Donald Trump win. 25 Noland D. McCaskill. (2016). Externer Link: DNC creates cybersecurity advisory board following hack. 26 Joe Perticone. (2018). Externer Link: The Democratic National Committee hired a Yahoo executive to beef up its cyber security. 27 Tim Starks. (2020). Externer Link: DNC ramps up 2020 cyber protections, NRCC falls victim to hackers. 28 Sean Lyngaas. (2019). Externer Link: DNC updates cybersecurity advice to protect candidates from hackers in 2020. 29 Eric Geller. (2020). Externer Link: Biden campaign taps Obama administration alum to lead cybersecurity team. 30 Michael Riley. (2016). Externer Link: DNC Ignored Cybersecurity Advice that May Have Prevented Recent Breach. 31 Für Kritik hieran, siehe u.a. Mozilla. (2019). Externer Link: Facebook and Google: This is What an Effective Ad Archive API Looks Like. 32 New York Times. (2020). Externer Link: Russian Intelligence Hackers Are Back, Microsoft Warns, Aiming at Officials of Both Parties. 33 Belfer Center. (2020). Externer Link: Defending Digital Democracy Project Advances Election Security. 34 Center for Democracy and Technology. (2020). Externer Link: Election Security Ressources. 35 U.a. von German Marshall Fund. (2020). Externer Link: Alliance For Securing Democracy.; Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. 36 Sven Herpig. (2016). Externer Link: Anti-War and the Cyber Triangle: Strategic Implications of Cyber Operations and Cyber Security for the State. 37 European Commission, COM. (2018). 794 final: Report on the implementation of the Communication ‚Externer Link: Tackling online disinformation: a European Approach, 2–3.; zur Definition siehe auch Alexander Sängerlaub, Miriam Meier, und Wolf-Dieter Rühl. (2018). Externer Link: Fakten statt Fakes. Verursacher, Verbreitungswege und Wirkungen von Fake News im Bundestagswahlkampf 2017. 10–13.; Alexandre Alaphilippe. (2020). Externer Link: Adding a ‚D‘ to the ABC Disinformation Framework. 38 National Intelligence Council. (2017). Externer Link: Background to Assessing Russian Activities and Intentions in Recent US Elections: The Analytic Process and Cyber Incident Attribution. 39 Dan Mangan und Mike Calia. (2018). Externer Link: Special counsel Mueller: Russians conducted ‘information warfare’ against US during election to help Donald Trump win. 40 Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. 41 Sven Herpig and Julia Schuetze. (2018). Externer Link: Der Schutz von Wahlen in vernetzten Gesellschaften. Staat Legislative Gesetze zur Finanzierung von IT-Sicherheitsmaßnahmen Der Kongress stellte insgesamt 805 Millionen US-Dollar für Verbesserungen der Infrastruktur der Wahlsicherheit bereit. Die US-Bundesstaaten entscheiden darüber, wie das Geld verwendet wird. Interner Link: [11] Expertinnen und Experten warnen jedoch davor, dass das Geld nicht ausreiche, um die IT-Sicherheit der Wahlen zu gewährleisten. Ein akutes Problem stellen beispielsweise Wahlgeräte dar, die keine unabhängige Überprüfung der Wahlergebnisse zulassen und die erwiesenermaßen gehackt werden können. Interner Link: [12] Anhörungen Es gab mehrere Anhörungen in parlamentarischen Ausschüssen, etwa zur Sicherung der US-Wahlinfrastruktur oder zum "Schutz des politischen Diskurses" Interner Link: [13] und der Integrität der Wahl Interner Link: [14], um die Problematik nachvollziehbar zu machen und Gegenmaßnahmen zu identifizieren. Beauftragung von Studien Der Kongress gab Studien zur Wahlsicherheit in Auftrag. Hier sticht insbesondere die überparteiliche Untersuchung des Geheimdienstausschusses des US-Senats hervor, die in fünf Bänden detailliert die Einflussnahme Russlands aufarbeitet. Interner Link: [15] Auch Studien speziell zu Desinformation in sozialen Netzwerken wurden veröffentlicht. Interner Link: [16] Exekutive Sonderermittlung Zwischen Mai 2017 und März 2019 untersuchte der Sonderermittler Robert Mueller die Einflussnahme Russlands im US-Wahlkampf 2016. Diese Ermittlung wurde vom US-Justizministerium beauftragt, nachdem hunderte Abgeordnete eine solche Untersuchung gefordert hatten. Interner Link: [17] Der Abschlussbericht kam zu dem Ergebnis, dass es eindeutige und nachweisliche Versuche Russlands gab, Einfluss auf die Wahl und den Meinungsbildungsprozess in den USA zu nehmen. IT-Sicherheitschecks und Öffentlichkeitsarbeit Durch Tests von staatlichen und lokalen Wahlsystemen, die durch das Ministerium für innere Sicherheit (Department of Homeland Security, DHS) durchgeführt wurden, konnten verschiedene Schwachstellen aufgedeckt werden, insbesondere auf lokaler Ebene. Einige Regierungsangestellte teilten zum Beispiel immer noch Passwörter und andere Anmeldeinformationen miteinander oder nutzten Standardkennwörter. Um auf die Gefahr von Cyberangriffen aufmerksam zu machen, warnt das DHS u.a. auf Twitter vor Angreiferinnen und Angreifer und weist auf Möglichkeiten hin, sich davor zu schützen Interner Link: [18]. Verordnungen Einige Verordnungen befassen sich mit Wahlbeeinflussung, beispielsweise die von Präsident Donald J. Trump unterzeichnete Durchführungsverordnung (executive order), welche Sanktionen gegen jede Nation oder Einzelperson vorsieht, die Einmischungen in US-Wahlen autorisiert, leitet oder unterstützt. Interner Link: [19] Cyberoperationen des US-Militärs Das US-Militär (US Cyber Command) nutzte 2018 Cyberoperationen, um den Internetzugang der IRA zu blockieren und so die Verbreitung von Desinformation zu stoppen. Interner Link: [20] Außenpolitische Sanktionen Seit 2015 können auch auf diplomatischer Ebene Sanktionen erfolgen und beispielsweise Personal ausländischer Botschaften oder Organisationen ausgewiesen werden. Interner Link: [21] Das US-Finanzministerium (Department of the Treasury) hat zudem Sanktionen gegen russische Staatsangehörige verhängt, denen vorgeworfen wird, für die IRA zu arbeiten. Interner Link: [22] Judikative Anklagen Das US-Justizministerium hat zwölf russische Geheimdienstoffiziere angeklagt, bei den US-Wahlen 2016 Daten von Beamtinnen und Beamten der Demokratischen Partei gehackt zu haben. Interner Link: [23] Zudem wurden die IRA und einige mutmaßliche Mitarbeitende angeklagt. Interner Link: [24] Parteien IT-Sicherheitsexpertise Das DNC setzte einen vierköpfigen Beirat für Cybersicherheit ein Interner Link: [25], schaffte Stellen für IT-Sicherheitsbeauftragte Interner Link: [26] und führte Trainings und Simulationen Interner Link: [27] durch. Außerdem wurde eine Checkliste mit Sicherheitshinweisen Interner Link: [28] entwickelt. Wahlkampagnen beschäftigen nun interne Spezialistinnen und Spezialisten für Cybersicherheit, so auch die Kampagnen von Joe Biden und Donald Trump im Wahlkampf 2020. Interner Link: [29] Im Vorhinein waren sie auf externe Beraterinnen und Berater angewiesen. Interner Link: [30] Privatsektor Einschränkungen von Werbeanzeigen und Einführung von Werbearchiven In den USA können Werbeanzeigen nicht mehr in ausländischen Währungen bezahlt werden. Es gibt zudem ein öffentlich einsehbares Archiv aller politischen Werbeanzeigen. Interner Link: [31] Zusatzinformationen sichtbar machen Auch große Tech-Konzerne haben in den letzten Jahren personell und technologisch investiert, um gefälschte Social-Media-Accounts rascher zu entdecken. Facebook und Twitter ergänzen außerdem einige politische Posts mit eigenen Informationen, Links und weiterführenden Quellen. Eine unabhängige Kontrolle darüber, wie strikt die Plattformen ihre eigenen Regeln gegen Desinformation und Hetze durchsetzen, gibt es noch nicht. Analyse und Warnungen vor versuchten Angriffen Private Firmen, z. B. Microsoft und Crowdstrike, analysieren Angriffe und warnen während des Wahlkampfes vor versuchten Angriffen. Außerdem geben sie Empfehlungen für IT-Sicherheitsmaßnahmen ab. Interner Link: [32] Wissenschaft Studien und Trainings zur IT-Sicherheit Das parteiübergreifende Defending Digital Democracy Project (D3P) des Belfer Centers der Harvard Universität arbeitet seit 2017 mit Wahlbeamtinnen und Beamten im ganzen Land zusammen, um sie beim Aufbau von Schutzmaßnahmen und der Vorbereitung auf Cyber- und Desinformationsangriffe zu unterstützen. Interner Link: [33] Zivilgesellschaft Analysen und Empfehlungen zur Wahlsicherheit Einige zivilgesellschaftliche Organisationen haben Nachforschungen angestellt und zentrale Personen in der Wahlverwaltung befragt, um die Bedrohungen der Cybersicherheit besser zu verstehen. Danach wurden Maßnahmen entwickelt, die von Wahlbeamtinnen und Wahlbeamten und anderen bei künftigen Wahlen implementiert werden können Interner Link: [34]. Außerdem wurden Studien veröffentlicht, die Angriffstaktiken und Schutzmaßnahmen evaluieren Interner Link: [35]. Eine Cyberoperation ist der gezielte Einsatz und die Veränderung von digitalem Code durch Individuen, Gruppen, Organisationen oder Staaten unter Nutzung von digitalen Netzwerken, Systemen und verbundenen Geräten [...] um Informationen zu stehlen, zu verändern oder zu zerstören. Ziel ist es, konkrete Akteurinnen und Akteure zu schwächen oder zu beschädigen. Interner Link: [36] Desinformation meint Inhalte, die nachweislich falsch oder irreführend sind und eingesetzt werden, um daraus finanziellen Gewinn zu schlagen und/oder anderen zu schaden. Interner Link: [37] Dieses Unternehmen sitzt in Sankt Petersburg und steht laut US-Sicherheitsdiensten in Verbindung mit der russischen Regierung. Interner Link: [38] IRA-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden beschuldigt, im US-Wahlkampf gefälschte Social-Media-Konten betrieben zu haben. Das US-Justizministerium klagte das Unternehmen deshalb 2018 an. Interner Link: [39] Spear-Phishing ist ein Betrugsversuch, bei dem die/der Angreifer/-in die Opfer davon zu überzeugen versucht, dass die Kommunikation von einer vertrauenswürdigen Quelle kommt. Ziel ist es, so an bestimmte Daten zu kommen. Interner Link: [40] Leaken ist eine Taktik, bei der vertrauliche Informationen über eine Zielperson herausgefunden und veröffentlicht werden und zielt vor allem auf die Vertraulichkeit von Daten ab. Ziel ist es, an schädigende Informationen über eine Person zu gelangen und diese dann zu veröffentlichen. Interner Link: [41]
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-02-05T00:00:00"
"2020-10-15T00:00:00"
"2022-02-05T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/nordamerika/usa/317184/it-sicherheit-im-us-wahlkampf/
Wie rüsten sich die USA gegen Desinformation und Cyberoperationen im Wahlkampf? Ein Überblick über die Lektionen aus der russischen Einflussnahme auf die US-Präsidentschaftswahlen 2016.
[ "US-Wahlkampf", "US-Präsidentschaftswahl", "USA", "Wahlkampf" ]
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Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement 1. Podcasts Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: KN:IX talks: Aktuelle Themen der IslamismuspräventionFolgen jeweils 35-40 Minuten, Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus (KN:IX), seit 2022 Interner Link: RISE: Der Podcast zu Identität, Pluralismus und ExtremismusFolgen jeweils 32-53 Minuten, JFF - Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis, seit 2021 Interner Link: Denkzeit-Podcast: RadikalisierungspräventionFolgen jeweils 25-30 Minuten, Denkzeit-Gesellschaft, Interdisziplinäres Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention, 2021 Interner Link: PINs: Primärpräventive Intervention NiedersachsenFolgen jeweils 17-26 Minuten, Landes-Demokratiezentrum Niedersachsen, beRATen e. V., 2021 Interner Link: RADIKAL querdurchdachtFolgen jeweils 14-32 Minuten, Deutscher Volkshochschul-Verband e. V., seit 2020 Interner Link: "Wovon träumst du eigentlich nachts?"Folgen jeweils 20-25 Minuten, ufuq.de, seit 2020 Interner Link: modus I extremFolgen jeweils 12-35 Minuten, modus I zad, 2019-2021 KN:IX talks: Aktuelle Themen der Islamismusprävention Folgen jeweils 35-40 Minuten, Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus (KN:IX), seit 2022 Wie funktioniert Islamismusprävention in Deutschland und international? Welche Methoden, Ansätze und Bereiche gibt es? Welche aktuellen Themen beschäftigten das Arbeitsfeld? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der Podcast-Reihe "KN:IX talks". Die Folgen befassen sich unter anderem mit zivilgesellschaftlichen Präventionsprojekten, globalgeschichtlichem Lernen in der Schule und Homofeindlichkeit in der Distanzierungsarbeit. Verfügbar auf Externer Link: kn-ix.de Interner Link: Zum Anfang der Seite RISE: Der Podcast zu Identität, Pluralismus und Extremismus Folgen jeweils 32-53 Minuten, JFF - Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis, seit 2021 Wie können Jugendliche darin gestärkt werden, sich kritisch mit antidemokratischen und antipluralistischen Weltbildern auseinanderzusetzen? Der RISE Podcast richtet sich an pädagogische Fachkräfte und liefert Grundlagen und Impulse für den Umgang mit Kontroversen und Konflikten über unterschiedliche Wertvorstellungen und Orientierungen. Die Folgen vermitteln Denkanstöße, Methodenskills und Informationen rund um die Themen Gender, Gesellschaftskritik, Pluralismus, Werte & Religion und Rassismus. Verfügbar auf Externer Link: letscast.fm Interner Link: Zum Anfang der Seite Denkzeit-Podcast: Radikalisierungsprävention Folgen jeweils 25-30 Minuten, Denkzeit-Gesellschaft, Interdisziplinäres Kompetenznetzwerk Radikalisierungsprävention, 2021 Was haben Verschwörungserzählungen mit Radikalisierung zu tun? Wie erreicht man Kinder und Jugendliche in salafistisch geprägten Familien? Diese und weitere Fragen beantwortet das Netzwerk in einer Podcast-Reihe rund um die Radikalisierungsprävention. Wissenschaftliche Themen werden dabei kurz und praxisnah aufbereitet. Verfügbar auf Externer Link: netzwerk-radikalisierungspraevention.com Interner Link: Zum Anfang der Seite PINs: Primärpräventive Intervention Niedersachsen Folgen jeweils 17-26 Minuten, Landes-Demokratiezentrum Niedersachsen, beRATen e. V., 2021 Pädagogischen Fachkräften Hilfestellungen für die Präventionsarbeit bieten – das ist das Ziel von PINs. Das Podcast-Angebot widmet sich Themen aus den Bereichen religiös-begründete Radikalisierung und antimuslimischer Rassismus. Verfügbar auf Externer Link: soundcloud.com Interner Link: Zum Anfang der Seite RADIKAL querdurchdacht Folgen jeweils 14-32 Minuten, Deutscher Volkshochschul-Verband e. V., seit 2020 Im Podcast des Projekts Prävention und Gesellschaftlicher Zusammenhalt (PGZ) dreht sich alles rund um das Thema Radikalisierungsprävention. Inhaltlich stützt sich der Podcast auf die Vermittlung von Informationen zu den Themen Radikalisierung, Extremismus und Präventionsarbeit wie auch aus angrenzenden Themenfeldern. Es werden Interviews mit Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft und Praxis umgesetzt. Verfügbar auf Externer Link: podigee.io Interner Link: Zum Anfang der Seite "Wovon träumst du eigentlich nachts?" Folgen jeweils 20-25 Minuten, ufuq.de, seit 2020 ufuq.de spricht mit jungen Gästen aus der Zivilgesellschaft über gesellschaftliche Themen, die sie im Alltag beschäftigen. "Wovon träumst du eigentlich nachts?" lautet dabei die Leitfrage in jeder Folge, die sich sowohl zwei ufuq.de-Mitarbeiterinnen als auch ihre Gäste stellen. Welche Wünsche und Vorstellungen haben sie von der Gesellschaft? Wofür und wogegen setzen sie sich ein? Die Podcasts eignen sich für die Arbeit mit Jugendlichen und erleichtern den Einstieg in Gespräche über ebenso aktuelle wie kontroverse Fragen aus Politik und Gesellschaft. Verfügbar auf Externer Link: ufuq.de Interner Link: Zum Anfang der Seite modus I extrem Folgen jeweils 12-35 Minuten, modus I zad, 2019-2021 Moderatorin Julia Straßer spricht mit Expertinnen und Experten über aktuelle Themen aus dem Bereich Radikalisierung und Extremismusprävention. Inhaltlich geht es dabei sowohl um fundamentale Fragen wie "Warum radikalisieren sich Menschen eigentlich?" als auch darum, ob, wie und wo man sich online radikalisieren kann, welche Rolle Verschwörungserzählungen spielen oder welche Rolle Musik in Hinwendungsprozessen zukommen kann. Verfügbar auf Externer Link: modus-zad.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 2. Podcast-Mini-Serien Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. Interner Link: Deso Dogg. Der Rapper, der zum IS ging6 x 34-48 Minuten, funk (WDR), 2022 Interner Link: Leonora – Mit 15 zum IS12 x 30-47 Minuten, NDR, 2019 & 2022 Interner Link: Frauen und Kinder im Salafismus5 x 13-25 Minuten, bpb, 2019 Interner Link: Bilals Weg in den Terror5 x 30 Minuten, NDR und rbb, 2017 Deso Dogg. Der Rapper, der zum IS ging 6 x 34-48 Minuten, funk (WDR), 2022 Ein Rapper aus Berlin-Kreuzberg radikalisiert sich und zieht für den "IS" in den Krieg – wie konnte das passieren? Die Podcast-Reihe erzählt die Geschichte von Denis Cuspert alias Deso Dogg. Hörende werden mitgenommen in die Berliner Rapwelt der Nullerjahre, in das private Umfeld des Musikers und die islamistische Szene Deutschlands. Um Antworten zu finden, spricht Host Azadê Peşmen mit ehemaligen Vertrauten, Rap-Kollegen sowie Expertinnen und Experten. Verfügbar auf Externer Link: ardaudiothek.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Leonora – Mit 15 zum IS 12 x 30-47 Minuten, NDR, 2019 & 2022 Ein Vater kämpft um seine Tochter, die sich der Terrormiliz "Islamischer Staat" in Syrien angeschlossen hat. Vier Jahre lang begleiten Reporter den Vater dabei, wie er Schleuser trifft, mit Terroristen verhandelt und versucht, seinen Alltag als Bäcker in Sachsen-Anhalt zu meistern. Über Sprachnachrichten halten der Vater und seine Tochter Leonora Kontakt. Ende 2020 wird Leonora von der Bundesregierung zurück in Deutschland geholt. Sie wird zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Wie ist die Rückkehr gelungen, wie funktioniert ein Neuanfang? Ein Reportage-Team hat Vater und Tochter weiterhin begleitet. Verfügbar auf Externer Link: ndr.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Frauen und Kinder im Salafismus 5 x 13-25 Minuten, bpb, 2019 Im Rahmen der bpb-Tagung "Kind. Kegel. Kalifat. Frauen und Kinder: blinde Flecken in der Salafismusprävention?" ist eine Podcast-Reihe entstanden. Sie widmet sich unter anderem Kindern, die in salafistischen Familien aufwachsen, kommunalen Aspekten der Präventionsarbeit oder dem Thema Gefangenenhilfe. Verfügbar auf Externer Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Bilals Weg in den Terror 5 x 30 Minuten, NDR und rbb, 2017 Mit 14 Jahren konvertierte Florent aus Hamburg zum Islam und benannte sich um in Bilal. Mit 17 Jahren zog er für den sogenannten Islamischen Staat nach Syrien in den Krieg, wo er nach nur zwei Monaten stirbt. Für eine fünfteilige Radio- und Podcast-Serie hat der Journalist Philip Meinhold mit Menschen aus Bilals Umfeld gesprochen – mit seinen Lehrern, Sozialarbeitern, einem Pastor und mit seiner Mutter. Aus den Gesprächen setzt sich wie ein Mosaik Bilals Geschichte zusammen. Sie zeigt exemplarisch, wie Jugendliche sich radikalisieren und schließlich sogar in den Dschihad ziehen. Verfügbar auf Interner Link: bpb.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 3. Einzelne Audio-Beiträge Klicken Sie auf die Titel, um zur Beschreibung zu gelangen. 3.1 Radikalisierung, Prävention und Islamismus Interner Link: Radikalisierung im Gefängnis22 Minuten, F. A. Z. Podcast für Deutschland, 2022 Interner Link: Wie sich die türkischen Faschisten der Grauen Wölfe bezwingen lassen58 Minuten, Dissens Podcast, 2021 Interner Link: Was tun mit radikalisierten Menschen?44 Minuten, WEHR51: Kantinengespräche, 2021 Interner Link: Pädagogik zwischen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus63 Minuten, Europahaus Marienberg: Diskutabel, 2021 Interner Link: Islamismus bei Jugendlichen47 Minuten, Draussen mit Claussen, 2021 Interner Link: Hamburg und seine Islamisten-Szene: Überwachen und überzeugen gegen die Radikalisierung19 Minuten, Deutschlandfunk, 2020 Interner Link: Töten im Namen Allahs – Radikalisierung muslimischer Jugendlicher 25 Minuten, hr inforadio, 2019 Interner Link: Muslimische Jugendarbeit16 Minuten, Deutschlandfunk Kultur, 2019 Interner Link: Mädchen und junge Frauen und ihre Rolle im Dschihadismus29 Minuten, Radiofabrik – Frauenzimmer, 2016 3.2 Dschihadismus, Terrorismus & der "Islamische Staat" Interner Link: Verbindungen des Dschihadismus in Deutschland, Syrien und dem Irak28 Minuten, SWR2 Wissen , 2022 Interner Link: Interview mit Terrorismusforscher Peter Neumann zum "IS" und zu Veränderungen der Szene26 Minuten, Deutschlandfunk Nova, 2021 Interner Link: Erfolg im Kampf gegen den Dschihadismus87 Minuten, FAZ: Einspruch Podcast , 2020 3.3 "IS"-Rückkehrende Interner Link: Was erwartet "IS"-Rückkehrerinnen in Deutschland?15 Minuten, Bayerischer Rundfunk, 2021Interner Link: "IS"-Rückkehrerinnen: Wie gefährlich sind sie? 15 Minuten, Bayerischer Rundfunk, 2020 Interner Link: Wie geht die Justiz mit Rückkehrerinnen um?7 Minuten, Deutschlandfunk Kultur, 2019 3.4 Sonstige Interner Link: Muslimfeindlichkeit in Deutschland30 Minuten, NDR/SR, 2022 Interner Link: Koran-Übersetzungen und ihre Auswirkungen5 Minuten, NDR Kultur, 2022 Interner Link: Kühnert und Lobo: Die Stille der Linken bei islamistischem Terror 103 Minuten, Spotify: Lobo – Der Debatten-Podcast, 2020 3.1 Radikalisierung, Prävention und Islamismus Radikalisierung im Gefängnis 22 Minuten, F.A.Z. Podcast für Deutschland, 2022 Warum radikalisieren sich Menschen in Haft? Und wie kann das verhindert werden? Für den "F.A.Z. Podcast für Deutschland" beschäftigt sich Timo Steppat mit den Gründen für Radikalisierung in deutschen Gefängnissen und mit Gegenmaßnahmen. Dazu besucht er eine Haftanstalt in Oberbayern und spricht mit dem Psychologen Ahmed Mansour, der Workshops zur Extremismusprävention für Häftlinge gibt. Verfügbar auf Externer Link: faz.net Interner Link: Zum Anfang der Seite Wie sich die türkischen Faschisten der Grauen Wölfe bezwingen lassen 58 Minuten, Dissens Podcast, 2021 Journalist Lukas Ondreka spricht mit dem Politikwissenschaftler Ismail Küpeli über türkischen Faschismus, die Geschichte und Ideologie der Grauen Wölfe sowie mögliche Fehler der Integrationspolitik und Gefahren. "Ein Verbot wird nicht ausreichen, um den Einfluss der Grauen Wölfe in Deutschland zu schmälern", sagt Küpeli. Verfügbar auf Externer Link: open.spotify.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Was tun mit radikalisierten Menschen? 44 Minuten, WEHR51: Kantinengespräche, 2021 Begleitend zur Theaterproduktion "IS deutsche Räuber im Dschihad" hat das Kölner Ensemble WEHR51 eine Podcast-Folge aufgenommen. Die Theatermacherinnen Andrea Bleikamp und Rosi Ulrich geben Einblicke in ihre Arbeit und diskutieren über Zusammenhänge und Hintergründe von Radikalisierung. Zu Gast sind unter anderem die Extremismusexpertin Claudia Dantschke sowie der Sozialpsychologe Ernst-Dieter Lantermann. Verfügbar auf Externer Link: anchor.fm Interner Link: Zum Anfang der Seite Pädagogik zwischen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus 63 Minuten, Europahaus Marienberg: Diskutabel, 2021 Die Studienleiter des Europahaus Marienberg sprechen mit Pierre Asisi von ufuq.de über Islam, Islamfeindlichkeit und Rassismus. Verfügbar auf Externer Link: europahaus-marienberg.eu Interner Link: Zum Anfang der Seite Islamismus bei Jugendlichen 47 Minuten, Draussen mit Claussen, 2021 Im Gespräch sind der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche Deutschland, Johann Hinrich Claussen, und der Experte für Demokratiepädagogik, Kurt Edler. Es geht um Islamismus, Extremismus und wieso es wichtig ist, den Blick auf deutsche Schulen und nach Frankreich zu richten. Verfügbar auf Externer Link: reflab.ch Interner Link: Zum Anfang der Seite Hamburg und seine Islamisten-Szene: Überwachen und überzeugen gegen die Radikalisierung 19 Minuten, Deutschlandfunk, 2020 In einem umfangreichen Beitrag stellt der Deutschlandfunk die Entwicklungen der islamistischen Szene in Hamburg in den vergangenen Jahren vor. Demnach hat sich die Lage in Hamburg auch nach der militärischen Niederlage des "IS" nicht entspannt. Vielmehr wachsen Gruppen wie Hizb ut-Tahrir und die Furkan-Gemeinschaft. Ein weiteres Thema ist der andauernde Konflikt über die Beobachtung des Islamischen Zentrums. Verfügbar auf Externer Link: deutschlandfunk.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Töten im Namen Allahs – Radikalisierung muslimischer Jugendlicher 25 Minuten, hr inforadio, 2019 Wie groß ist die Zahl der Jugendlichen, die sich für eine radikale Auslegung des Islams begeistern? Was weiß man über ihre Motive? Und was kann eine Gesellschaft dem entgegensetzen? Diese Fragen beantwortet der Podcast von hr info in 25 Minuten. Zu Wort kommen unter anderem Religionslehrerin und Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor, Psychologe Ahmad Mansour, Wissenschaftler Andreas Zick sowie Janusz Biene vom Projekt "PRO Prävention". Verfügbar auf Externer Link: hr-inforadio.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Muslimische Jugendarbeit 16 Minuten, Deutschlandfunk Kultur, 2019 Deutschlandfunk Kultur berichtet in diesem Beitrag über die muslimische Jugendarbeit bei Jugendverbänden wie Mosaik und den Moslemischen Pfadfindern. Abseits der großen Islamverbände bemühen sie sich um einen Zugang zu Jugendlichen und haben dabei häufig mit fehlenden professionellen Strukturen zu kämpfen. Verfügbar auf Externer Link: deutschlandfunkkultur.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Mädchen und junge Frauen und ihre Rolle im Dschihadismus 29 Minuten, Radiofabrik – Frauenzimmer, 2016 Sehnsucht, Emanzipation, WhatsApp-Anwerbung: Viele Mädchen begeistern sich für radikal-religiöse Tendenzen. Die Verheißungen des sogenannten Islamischen Staates erreichen Mädchen und junge Frauen aus allen Gesellschaftsschichten mit unterschiedlicher Herkunft. Claudia Dantschke berichtet in diesem Beitrag unter anderem darüber, warum der "IS" für junge Frauen attraktiv ist, mit welchen Vorstellungen die jungen Frauen nach Syrien oder in den Irak gehen und wie die Rekrutierung erfolgt. Sie zeigt außerdem notwendige Ansätze und Handlungsstrategien auf, um dies zu verhindern. Verfügbar auf Externer Link: cultural broadcasting archive Interner Link: Zum Anfang der Seite 3.2 Dschihadismus, Terrorismus & der "Islamische Staat" Verbindungen des Dschihadismus in Deutschland, Syrien und dem Irak 28 Minuten, SWR2 Wissen, 2022 Wie hat sich die dschihadistische Szene in Deutschland nach der militärischen Zerschlagung des "IS" neu organisiert? In welcher Beziehung stehen deutsche Dschihadistinnen und Dschihadisten zu islamistischen Terrororganisationen in Syrien und im Irak? Und welche Rolle spielen sie für deren Finanzierung? Der Beitrag von SWR2 Wissen beleuchtet diese und weitere Fragen anhand von Fallbeispielen und Expertenmeinungen aus Wissenschaft und Politik. Verfügbar auf Externer Link: swr.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Interview mit Terrorismusforscher Peter Neumann zum "IS" und zu Veränderungen der Szene 36 Minuten, Deutschlandfunk Nova, 2021 Terrorismusforscher Peter Neumann spricht über die Veränderung der Szene nach dem Niedergang des "IS", die Rolle der Corona-Krise sowie die Kommunikationskanäle der Extremisten. Die Tatsache, dass in den nächsten zwei Jahren Hunderte Islamisten aus europäischen Gefängnissen entlassen werden, bezeichnet er als "Herausforderung für die Überwachung". Panik will er jedoch nicht schüren: "Die Rückfälligkeitsrate bei Terroristen ist relativ gering." Verfügbar auf Externer Link: deutschlandfunknova.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Erfolg im Kampf gegen den Dschihadismus 87 Minuten, FAZ: Einspruch Podcast, 2021 Die Folge behandelt das Strafurteil gegen den islamistischen Hassprediger Abu Walaa und den Stand im Kampf gegen islamistischen Terror in Deutschland. Zu Gast ist FAZ-Redakteur Alexander Haneke, der den Prozess eng mitverfolgt hat. Verfügbar auf Externer Link: faz.net Interner Link: Zum Anfang der Seite 3.3 "IS"-Rückkehrende Was erwartet "IS"-Rückkehrerinnen in Deutschland? 15 Minuten, Bayerischer Rundfunk, 2021 Was erwartet mutmaßliche "IS"-Anhängerinnen nach ihrer Rückkehr nach Deutschland? Und wie kann ihr Leben in Deutschland aussehen? Das erklärt Thomas Mücke von Violence Prevention Network im Tagesticket-Podcast des Bayerischen Rundfunks. Seit 30 Jahren ist der Pädagoge in der Ausstiegsarbeit tätig. Verfügbar auf Externer Link: br.de Interner Link: Zum Anfang der Seite "IS"-Rückkehrerinnen: Wie gefährlich sind sie? 15 Minuten, Bayerischer Rundfunk, 2020 Seit drei Jahren gilt die Terrorgruppe "IS" in Syrien und im Irak militärisch als besiegt. Seitdem sind viele (Ex-)Angehörige in kurdischen Lagern in Gefangenschaft, darunter auch fünf bayerische Frauen. BR-Journalist Joseph Röhmel hat mit einer "IS"-Rückkehrerin über Gründe für ihre Ausreise sowie ihre Zeit im "IS" gesprochen. Außerdem sprach er mit Fachleuten über die Gefahr, die von zurückgekehrten Frauen ausgehen könnte. Verfügbar auf Externer Link: br.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Wie geht die Justiz mit Rückkehrerinnen um? 7 Minuten, Deutschlandfunk Kultur, 2019 Claudia Dantschke von der Beratungsstelle HAYAT hat mit Deutschlandfunk Kultur über Frauen gesprochen, die vom "IS" zurückkehren und darüber, wie die deutsche Justiz mit ihnen umgeht. Verfügbar auf Externer Link: deutschlandfunkkultur.de Interner Link: Zum Anfang der Seite 3.4 Sonstige Muslimfeindlichkeit in Deutschland 30 Minuten, NDR/SR, 2022 Wie erleben muslimische Menschen in Deutschland Vorurteile und Diskriminierung im Alltag? Was lässt sich gegen Muslimfeindlichkeit tun, und wo stehen wir in deren Bekämpfung? Anlässlich des "Tages gegen antimuslimischen Rassismus" am 1. Juli 2022 gab ein NDR-Beitrag einen Überblick über die aktuelle Lage. Eine Reportage des SR erzählte von Musliminnen, die sich gegen Diskriminierung und für ihre Rechte stark machen. Verfügbar auf Externer Link: ndr.de Verfügbar auf Externer Link: sr.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Koran-Übersetzungen und ihre Auswirkungen 5 Minuten, NDR Kultur, 2022 Welche Konflikte ergeben sich durch unterschiedliche Übersetzungen des Korans? Inwiefern legen salafistische Gelehrte Suren anders aus als die Mehrheit der islamischen Gelehrten? Der Beitrag beschäftigt sich mit den theologischen und politischen Herausforderungen, die sich durch Koran-Übersetzungen ergeben. Die Islamwissenschaftlerin Johanna Pink bietet dabei Einblicke in das Forschungsprojekt "The Global Qur’an", das sich mit diesen Auswirkungen beschäftigt. Verfügbar auf Externer Link: ndr.de Interner Link: Zum Anfang der Seite Kühnert und Lobo: Die Stille der Linken bei islamistischem Terror 103 Minuten, Spotify: Lobo – Der Debatten-Podcast, 2020 Regelmäßig beobachtet Sascha Lobo nach islamistischen Anschlägen wie in Dresden als erste Reaktion der politischen Linken die Sorge über daraus resultierenden rechten Hass. Der scheidende JuSo-Chef Kevin Kühnert schrieb einen ähnlichen Debattenbeitrag im Spiegel. In der Podcast-Folge diskutieren Lobo und Kühnert gemeinsam über die Reaktionen auf ihre Beiträge. Verfügbar auf Externer Link: open.spotify.com Interner Link: Zum Anfang der Seite Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-09-05T00:00:00"
"2020-04-02T00:00:00"
"2022-09-05T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/307348/audio-podcasts-mini-serien-audio-beitraege/
Bei den Beiträgen handelt es sich um Gespräche und Einblicke aus der Präventionspraxis sowie um Mini-Serien, die sich mit der Radikalisierungsbiografie einzelner Personen beschäftigen.
[ "Islamismus", "Radikalisierung", "Prävention", "Salafismus", "Extremismus", "Audio", "Podcast" ]
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Veranstaltungskalender | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de
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August 2023, Berlin & online Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Interner Link: Online-Seminar: Plan P.-Digital – Wie kann Jugendhilfe und Radikalisierungsprävention im Online-Bereich aussehen?24. August 2023, online Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. (AJS) September Interner Link: Netzwerktreffen: Extremistische Einstellungen staatlich Handelnder – Analyse und Präventionsmöglichkeiten4. September 2023, Düsseldorf CoRE NRW Interner Link: BarCamp Islamismusprävention 4. bis 6. September 2023, Leipzig Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Workshop: Wie argumentieren extremistische Online-"Prediger"? Themen, Thesen und Formate auf Social Media12. September 2023, online Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) & Violence Prevention Network (VPN) Interner Link: Fortbildung: Umgang mit antimuslimischem Rassismus in der pädagogischen Arbeit13. September 2023, Berlin ufuq.de Interner Link: Radikalisierung als Bewältigungsstrategie. Prävention zwischen struktureller und individueller Ebene20. bis 21. September 2023, Frankfurt am Main Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Interner Link: Fortbildung: Gaming als Chance für die Prävention28. bis 29. September 2023, Berlin cultures interactive e. V. Oktober Interner Link: Fortbildung: Mädchen*spezifische Prävention im islamisch begründeten Extremismus04. und 18. Oktober 2023, Berlin cultures interactive e. V. Interner Link: Fachtag: Jugendlich, digital, radikal? Islamismus im Netz zwischen Subkultur und Popkultur19. Oktober 2023, Berlin Violence Prevention Network (VPN) November Interner Link: Workshop: Extremistinnen und Terroristinnen. Rollen, Funktion und Bedeutung von Frauen in Extremismus und Terrorismus9. bis 10. November 2023, Berlin Hochschule Fresenius Interner Link: Weiterbildung: MasterClass "Präventionsfeld Islamismus" für Masterstudierende, Absolventinnen und AbsolventenNovember 2023 bis November 2024, Berlin/Köln/Erfurt und online Bundeszentrale für politische Bildung Dezember Interner Link: Hochschulzertifikat: Extremismus und Radikalisierung. Handlungskompetenz für die Bildungsarbeit mit jungen Menschen1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024, online Pädagogische Hochschule Heidelberg Februar 2024 Interner Link: Save the Date: MOTRA-K Jahreskonferenz 202428. und 29. Februar 2024, Wiesbaden Verbundprojekt MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite August Online-Fortbildung: Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Netz begegnen 31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023, online In der Online-Fortbildung des Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) geht es darum, Jugendliche und junge Erwachsene im Umgang mit extremistischer Ansprache in den sozialen Medien zu schulen. In den Lehrgängen wird zudem die Funktionslogik von sozialen Medien thematisiert und die allgemeine Medienkompetenz der Teilnehmenden verbessert. Mögliche Abläufe von Radikalisierungsprozessen sowie Grundlagen des Online Streetwork bekommen ebenfalls einen Raum in den Seminaren. Ziel ist es, eigene digitale Angebote der Demokratieförderung zu entwickeln und menschenfeindlichen Inhalten im Netz selbstbewusst entgegenzutreten. Die Online-Fortbildung gibt es in drei Durchgängen: 31. Juli 2023 bis 16. Oktober 2023, immer montags & mittwochs von 16:00-17:30 Uhr 12. September 2023 bis 21. November 2023, immer dienstags & donnerstags von 11:00-12:30 Uhr 9. Oktober 2023 bis 18. Dezember 2023, immer montags & mittwochs von 16:00-17:30 Uhr Termin: 31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023 Ort: online Veranstalter: Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von CEOPS Politik- und Pressegespräch: Strukturelle Faktoren von Radikalisierung 14. August 2023, Berlin & online Was brauchen wir als Gesellschaft, um zunehmenden Polarisierungstendenzen zu begegnen? Was braucht es auf individueller und struktureller Ebene, um Menschen zu stärken, die anfällig sind für extremistische Ansprachen? Das diesjährige Politik- und Pressegespräch der BAG RelEx widmet sich den strukturellen Faktoren von Radikalisierung. Der Fokus liegt dabei auf möglichen Lösungsstrategien im politischen Handeln wie auch auf Ebene der zivilgesellschaftlichen Träger. Diese werden im Rahmen eines Impulsvortrags und einer Podiumsdiskussion erörtert. Im Anschluss bietet die Veranstaltung Raum für Rückfragen. Das hybride Politik- und Pressegespräch richtet sich an Vertreter:innen aus Medien und Politik, an Fachkräfte sowie die breite Öffentlichkeit. Journalist:innen können sowohl vor Ort als auch online teilnehmen. Weitere Interessierte können der Veranstaltung online beiwohnen. Termin: 14. August 2023, 18:00-19:30 Uhr Ort: Berlin-Wedding & online Veranstalter: BAG RelEx Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx Online-Seminar: Plan P.-Digital – Wie kann Jugendhilfe und Radikalisierungsprävention im Online-Bereich aussehen? 24. August 2023, online Das Online-Seminar beschäftigt sich mit islamistischer Ansprache in den sozialen Medien. Dabei geht es vor allem darum, wie Staat und Zivilgesellschaft auf die damit einhergehenden Herausforderungen in der Radikalisierungsprävention reagieren können. Das Seminar liefert eine Einordnung zu Ansätzen der Präventionsarbeit und vermittelt Überblick über Projekte der digitalen Jugendarbeit. Im Anschluss werden mögliche Bedarfe in der Jugend- und Präventionsarbeit skizziert. Das Online-Seminar richtet sich an Teilnehmende des Plan P.-Netzwerks sowie Fachkräfte der Jugendhilfe, insbesondere aus den Bereichen des Erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes, der Jugendarbeit und der Sozialarbeit. Termin: 24. August 2023, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Veranstalter: Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. (AJS) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online bis zum 15. August möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der AJS September Netzwerktreffen: Extremistische Einstellungen staatlich Handelnder – Analyse und Präventionsmöglichkeiten 4. September 2023, Düsseldorf In einer wehrhaften Demokratie stehen staatliche Institutionen vor der Aufgabe, immer wieder zu überprüfen, inwieweit sie selbst gegen antidemokratische und extremistische Einstellungen gefeit sind. Staatsbedienstete sind gegen die Verbreitung von extremistischen Einstellungs- und Vorurteilsmustern nicht immun. Aufmerksamkeit verdienen hier nicht nur Justiz, Polizei und Nachrichtendienste, sondern auch der Schul- und Erziehungssektor. Die Frage für Forschung und Praxis ist, woher solche Einstellungen kommen, wie Gruppendynamiken entstehen, wie wir sie in Polizeien in mehreren Bundesländern gesehen haben, und wie diesen Entwicklungen präventiv begegnet werden kann. Darüber soll auf dem Netzwerktreffen intensiv diskutiert werden. Neben Vorträgen und Diskussionen gibt es ausreichend Zeit für Gespräche zur Vernetzung. Termin: 4. September 2023, 9:30-17:00 Uhr Ort: Townhouse Düsseldorf, Bilker Straße 36, 40213 Düsseldorf Veranstalter: CoRE NRW Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail bis zum 25. August unter Angabe des vollen Namens sowie der institutionellen Anbindung Weitere Informationen in Kürze auf den Externer Link: Seiten von CoRE NRW BarCamp Islamismusprävention 4. bis 6. September, Leipzig Im September 2023 findet in Leipzig ein interaktives BarCamp der Bundeszentrale für politische Bildung zum Themenfeld Islamismus statt. Die Fachtagung bietet einen Raum für Akteurinnen und Akteure, die in der Radikalisierungsprävention und der politischen Bildung tätig sind, einmal innezuhalten, gemeinsam über die Entwicklungen zu reflektieren, sich über aktuelle Themen, Debatten aber auch die Belastung in der täglichen Arbeit auszutauschen und gleichzeitig Ideen, multiprofessionelle Perspektiven und neue Energie aufzutanken. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte aus dem Bereich der Präventionsarbeit und der politischen Bildung, Wissenschaftler/-innen und Multiplikator/-innen, die sich bereits intensiver mit dem Phänomen Islamismus und dem Feld der Islamismusprävention auseinandergesetzt haben oder in diesem arbeiten. Auch das Team des Infodienst Radikalisierungsprävention wird auf der Tagung vertreten sein und freut sich, Sie dort zu begrüßen. Termin: 4. bis 6. September 2023 Ort: Hyperion Hotel, Sachsenseite 7, 04109 Leipzig Veranstalter: Bundeszentrale für politische Bildung Kosten: Teilnahmegebühr ohne Übernachtung 50 Euro Anmeldung: Externer Link: online bis zum 21. August 2023 möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung Online-Workshop: Wie argumentieren extremistische Online-"Prediger"? Themen, Thesen und Formate auf Social Media 12. September 2023, online Mit welchen Argumenten verbreiten extremistische "Prediger" online ihre Botschaften? Welche Themen und vermeintliche Belege führen sie an? Welche Plattformen und Formate nutzen sie? Und wie gewinnen sie das Vertrauen von Jugendlichen? Der Workshop beginnt mit einer Auswahl gängiger Phrasen, Aussagen und Argumente extremistischer Online-"Prediger". Im Anschluss diskutieren die Teilnehmenden gemeinsam über folgende Fragen: Welche Formate und Argumente sind bei Jugendlichen besonders wirksam? Welche Themen stehen in der praktischen Arbeit mit Jugendlichen im Vordergrund? Welche Fragestellungen scheinen für Jugendliche zentral zu sein, werden von extremistischen Online-Akteuren jedoch bewusst ausgeklammert? Fachkräfte können vorab Beispiele und konkrete (anonymisierte) Fälle aus der eigenen Arbeit einreichen. Diese werden dann im Rahmen der Veranstaltung aufgegriffen. Termin: 12. September 2023, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Veranstalter: Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) & Violence Prevention Network (VPN) Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail möglich bis zum 1. September 2023 Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der IU Internationalen Hochschule Fortbildung: Umgang mit antimuslimischem Rassismus in der pädagogischen Arbeit 13. September 2023, Berlin Wie können Fachkräfte in der pädagogischen Arbeit auf antimuslimischem Rassismus reagieren und diesem entgegenwirken? Welche Rolle spielt die persönliche Haltung zu Religion? Wie können Betroffene von diskriminierenden oder rassistischen Äußerungen unterstützt und gestärkt werden? Diese und weitere Fragen stehen im Mittelpunkt der Fortbildung. Pädagogische Mitarbeitende aus Schule, Sozialarbeit und außerschulischer Bildungsarbeit sind eingeladen, daran teilzunehmen und Anregungen zum Umgang mit Religion, Resilienz und Rassismus für ihre Arbeit mitzunehmen. Termin: 13. September 2023, 9:00-16:00 Uhr Ort: Räume der Landeszentrale für politische Bildung, Hardenbergstraße 22-24, 10623 Berlin Veranstalter: ufuq.de Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail möglich bis zum 11. September Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq Radikalisierung als Bewältigungsstrategie. Prävention zwischen struktureller und individueller Ebene 20. bis 21. September 2023, Frankfurt am Main Inwiefern kann Radikalisierung beziehungsweise die Hinwendung zu extremistischen Ideologien und Gruppierungen auch als mögliche Bewältigungsstrategie angesichts struktureller gesamtgesellschaftlicher Problemlagen verstanden werden? Welche Implikationen ergeben sich hieraus für die Ausrichtung von Präventionsstrategien und -ansätzen? Welche stigmatisierenden Effekte birgt die Arbeit der Islamismusprävention? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Fachtag. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte und Interessierte. Termin: 20. bis 21. September 2023 Ort: Frankfurt am Main Veranstalter: Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Anmeldung: Externer Link: online bis 1. September möglich Weitere Informationen zum Projekt auf den Externer Link: Seiten von BAG RelEx Fortbildung: Gaming als Chance für die Prävention 28. bis 29. September 2023, Berlin Wie lässt sich Gaming für die Präventionsarbeit nutzen und wie können Jugendliche darüber erreicht werden? Die Fortbildung beschäftigt sich mit diesen Fragen und zeigt auf, wie Menschenrechte, demokratische Haltungen und Medienkompetenz in diesem Bereich vermittelt werden können. Mit Hilfe des Spiels „Adamara“, das cultures interactive e. V. entwickelt hat, sollen die Teilnehmenden lernen, wie Jugendliche eigene Handlungsoptionen, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Lebenserfahrungen im Spiel verarbeiten können. Ziel ist es, ein Verständnis für die Gaming-spezifischen Anforderungen in der Präventionspraxis zu gewinnen. Die Fortbildung richtet sich an Fachkräfte aus der Jugend- und Sozialarbeit sowie der politischen Bildung. Termin: 28. bis 29. September 2023 Ort: Tagen am Ufer, Ratiborstraße 14, 10999 Berlin-Kreuzberg Veranstalter: cultures interactive e. V. Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zum Projekt auf den Externer Link: Seiten von cultures interactive e. V. Oktober Fortbildung: Mädchen*spezifische Prävention im islamisch begründeten Extremismus 4. und 18. Oktober 2023, Berlin Wie prägen Gendervorstellungen den islamisch begründeten Extremismus? Welche Chancen bieten mädchen*spezifische Präventionsansätze? Und wie sehen erfolgreiche Strategien aus für den Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Mädchen*? Diese Fragen stehen im Fokus der zweitägigen Fortbildung für Fachkräfte der Jugendarbeit in Berlin. Neben interaktiven Elementen werden auf der Veranstlatung aktuelle Forschungsergebnisse zu Mädchen* im Salafismus vorgestellt. Darüber hinaus lernen die Teilnehmenden, welche erfolgreichen Strategien es im Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Mädchen gibt. Termin: 4. und 18. Oktober 2023, jeweils von 17:00 – 20:00 Uhr Ort: Berlin Veranstalter: cultures interactive e. V. Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten von cultures interactive e. V. Fachtag: Jugendlich, digital, radikal? Islamismus im Netz zwischen Subkultur und Popkultur 19. Oktober 2023, Berlin Bei diesem Fachtag im Rahmen des Projekts „Islam-ist“ geht es um die Frage, wie islamistische Akteur:innen digitale Räume nutzen, um junge Menschen zu beeinflussen und zu mobilisieren. Thematisch wird das Spannungsfeld zwischen Abgrenzung und Anpassung sowie radikaler Narrative und Verharmlosung ideologisierter Weltbilder bearbeitet. Ziel ist es, konkrete Konsequenzen für die Arbeit von Fachkräften herauszuarbeiten, um unterschiedlichen Ansprachestrategien zu begegnen, ohne dass junge Muslim:innen stigmatisiert werden. Der Fachtag teilt sich in Impulsvorträge, Workshops und Panels auf und lädt zum gemeinsamen Austausch ein. Termin: 19. Oktober 2023, 9:30 – 17:30 Uhr Ort: Berlin, Alt-Reinickendorf Veranstalter: Violence Prevention Network (VPN) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten von VPN November Workshop: Extremistinnen und Terroristinnen. Rollen, Funktion und Bedeutung von Frauen in Extremismus und Terrorismus 9. bis 10. November 2023, Berlin Welche Faktoren motivieren Frauen, sich einer terroristischen Organisation anzuschließen? Welche Funktionen und Rollen nehmen Frauen in den verschiedenen Phänomenbereichen ein? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der zweitägige Workshop der Hochschule Fresenius. Die Veranstaltung richtet sich an Nachwuchswissenschaftler:innen des Themenfelds Extremismus und soll einen Rahmen schaffen, um eigene Forschungsprojekte mit Expert:innen zu besprechen. Hierfür sind die Teilnehmenden dazu eingeladen, eigene Abstracts einzureichen und bei Interesse einen Vortrag zu halten. Termin: 9. bis 10. November 2023 Ort: Berlin Veranstalter: Hochschule Fresenius Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per Mail möglich Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten der Hochschule Fresenius Weiterbildung: MasterClass "Präventionsfeld Islamismus" für Masterstudierende, Absolventinnen und Absolventen November 2023 bis November 2024, Berlin/Köln/Erfurt und online Wie bedingen gesellschaftliche Konflikte Veränderungen innerhalb der islamistischen Szene? Welche Strategien, Inhalte und islamistischen Gruppierungen sind für die Präventionsarbeit in Deutschland relevant? Und wie gelingt der Berufseinstieg in dieses Arbeitsfeld? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich die MasterClass der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Veranstaltung richtet sich an Masterstudierende sowie Absolventinnen und Absolventen mit Interesse an einer beruflichen Tätigkeit in der Islamismusprävention. In fünf Modulen erhalten sie einen Einblick in Theorien, Methoden und Praxis der Präventionsarbeit. Die Umsetzung der Module findet in Präsenz an verschiedenen Orten in Deutschland und online statt. Termin: 17. November 2023 bis 8. November 2024, insgesamt fünf Module Ort: Berlin/Köln/Erfurt und online Veranstalter: Bundeszentrale für politische Bildung Kosten: 150 Euro Teilnahmegebühr. Reisekosten, Hotelkosten und Verpflegung werden übernommen. Bewerbung: Externer Link: online möglich bis zum 7. August. Nach Ablauf der Bewerbungsfrist findet eine Auswahl der Teilnehmenden durch die bpb statt. Die Teilnehmendenzahl ist auf 25 Personen begrenzt. Weitere Informationen zur MasterClass auf den Interner Link: Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung Dezember Hochschulzertifikat: Extremismus und Radikalisierung. Handlungskompetenz für die Bildungsarbeit mit jungen Menschen 1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024, online Wie können pädagogische Fachkräfte souverän reagieren, wenn sich junge Menschen demokratiefeindlich äußern? Wie kann man erkennen, ob jemand nur provozieren möchte oder tatsächlich eine extremistische Haltung entwickelt hat? Die sechstägige Online-Weiterbildung soll Pädagog:innen dazu befähigen, eine Radikalisierung zu erkennen und präventive Maßnahmen einzuleiten. Das Kontaktstudium besteht aus einer Verknüpfung von Theorie und Praxisbeispielen und bietet die Möglichkeit, sich mit Expert:innen aus verschiedenen Fachbereichen auszutauschen. Die Weiterbildung richtet sich an Pädagog:innen, die mit jungen Menschen arbeiten. Sie findet an folgenden Terminen statt: Freitag, 1. Dezember 2023, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 2. Dezember 2023, 10:00 – 17:00 Uhr Freitag, 19. Januar 2024, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 20. Januar 2024, 10:00 – 17:00 Uhr Freitag, 23. Februar 2024, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 24. Februar 2024, 10:00 – 17:00 Uhr Termin: 1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024 Ort: online Veranstalter: Pädagogische Hochschule Heidelberg Kosten: 490 Euro Anmeldung: Externer Link: online bis zum 15. Oktober möglich Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der pädagogischen Hochschule Heidelberg Februar 2024 Save the Date: MOTRA-K Jahreskonferenz 2024 28. und 29. Februar 2024, Wiesbaden Auch im nächsten Jahr veranstaltet MOTRA wieder eine Jahreskonferenz. MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) ist ein Forschungsverbund im Kontext der zivilen Sicherheitsforschung. Im Mittelpunkt der Konferenz steht der disziplinübergreifende Austausch von Wissenschaft, Politik und Praxis zum aktuellen Radikalisierungsgeschehen in Deutschland. Dazu bietet die Veranstaltung ein vielfältiges Programm aus Beiträgen der Radikalisierungsforschung und Präventionspraxis zu einem jährlich wechselnden Schwerpunktthema. Fachkräfte sind dazu eingeladen, Forschungs- und Praxisprojekte zu diesem Thema einzureichen und auf der Konferenz zu präsentieren. Der entsprechende Call for Papers sowie Informationen zum Schwerpunktthema und den Bewerbungs-, Teilnahme- und Anmeldemöglichkeiten werden in Kürze veröffentlicht. Termin: 28. und 29. Februar 2024 Ort: Wiesbaden Veranstalter: Verbundprojekt MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung werden auf den Externer Link: Seiten von MOTRA bekannt gegeben. Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten. Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-08-04T00:00:00"
"2016-01-18T00:00:00"
"2023-08-04T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/infodienst/218885/veranstaltungskalender/
Veranstaltungshinweise und Fortbildungen aus dem Themenfeld Radikalisierung, Islamismus &amp; Prävention
[ "Infodienst Salafismus", "Termine" ]
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Editorial | Arbeitsmarktpolitik | bpb.de
Die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik gehört in Deutschland zu den zentralen und wichtigsten Politikfeldern. Dadurch, dass die Anzahl der von Arbeitslosigkeit Betroffenen nach der Wiedervereinigung bis heute konstant hoch geblieben ist - für das nächste Jahr wird sogar wieder ein Anstieg auf über fünf Millionen prognostiziert -, hat sie immer weiter an Bedeutung gewonnen. Die Arbeitslosenzahlen sind längst zu Kennzahlen für die Regierenden geworden: Ob eine Regierungszeit als erfolgreich bewertet wird oder nicht, hängt maßgeblich von den Fort- und Rückschritten bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ab. Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente haben sich im Laufe der Jahre ständig gewandelt. Eine wichtige Wegmarke stellt das sogenannte "Arbeitsförderungsgesetz" (AFG) dar, das vor genau 40 Jahren (25. Juni 1969) vom Deutschen Bundestag verabschiedet wurde. Durch dieses erfuhr die "aktive" gegenüber der "passiven Arbeitsmarktpolitik" eine erhebliche Aufwertung. Das AFG legte den Schwerpunkt weniger auf die Lohnersatzleistungen für Erwerbslose, als auf zahlreiche begleitende Maßnahmen, um diese (wieder) in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Die jüngste Vergangenheit ist vor allem durch die vier Gesetze "für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" geprägt worden - die sogenannten "Hartz-Gesetze". Sie traten ab 2003 nach und nach mit dem Ziel in Kraft, das Prinzip "Fördern und Fordern" zu stärken (das letzte zum 1. Januar 2005) - ihre Wirkung bleibt jedoch umstritten. So gilt zum Beispiel "Hartz IV", womit die nach dem vierten "Hartz-Gesetz" verschmolzene Arbeitslosen- und Sozialhilfe gemeint ist, vielen inzwischen als Synomym für sozialen Abstieg.
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Piepenbrink, Johannes
"2021-12-07T00:00:00"
"2011-10-05T00:00:00"
"2021-12-07T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31884/editorial/
Die Instrumente der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik haben sich im Laufe der Jahre ständig gewandelt. Die jüngste Vergangenheit wurde allem durch die sogenannten "Hartz-Gesetze" geprägt.
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Workshop 1: Die europäische "Zeitenwende" aus der Sicht Ostmitteleuropas | 18. Bensberger Gespräche 2023 | bpb.de
Die Journalistin Olivia Kortas berichtete davon, dass Ängste vor Russland und Warnungen aus mittel- und osteuropäischen Ländern nicht ernstgenommen worden seien. Auch in energiestrategischen Gesprächen seien warnende Stimmen beispielsweise von polnischen Expertinnen und Experten übergangen worden. Besonders kritisch sehe man die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands, bei denen es insbesondere um Gas- und Energieverträge mit Russland gegangen sei. (© Bundeswehr/Caldas Hofmann) Olivia Kortas wuchs als Kind polnischer Eltern in Deutschland auf. Als freie Journalistin berichtet sie aus verschiedenen Regionen der Welt. Von 2018 bis 2021 lebte und arbeitete sie in Warschau, und im Jahr 2022 hielt sie sich insgesamt 11 Wochen an der ukrainisch-polnischen Grenze und in der Ukraine auf und berichtete von dort. In vielen mittel- und osteuropäischen Ländern herrsche der Eindruck vor, dass Deutschland sich nie wirklich für die Ukraine interessiert habe, sondern nur für Russland, und dass Polen, Tschechien, die Slowakei, die baltischen Staaten usw. als eine Art Pufferzone betrachtet wurden. Die Ängste vor Russland und die Warnungen aus diesen Ländern seien nicht ernstgenommen worden. Auch in energiestrategischen Gesprächen seien warnende Stimmen von polnischen Expertinnen und Experten übergangen worden. Besonders kritisch sehe man die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands, bei denen es insbesondere um Gas- und Energieverträge mit Russland gegangen sei. Kortas belegte dies mit Zitaten aus polnischen und tschechischen Medienberichten. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hätten 80 Prozent der Menschen in Polen Angst gehabt, dass auch das Territorium ihres Landes angegriffen werde. Heute sehe Polen für sich selbst die historische Chance und Verpflichtung, eine Führungsrolle in einer starken Koalition von Ländern zu übernehmen, die die Ukraine auch mit der Lieferung von Waffen unterstützen. Es werde Druck auf Deutschland ausgeübt, etwa in Bezug auf die Lieferung von Panzern. Das Misstrauen infolge der deutschen Haltung werde noch Jahrzehnte in der Region verbleiben, so zitiert Kortas verschiedene Medien. Der Krieg habe in den Ländern Mittel- und Osteuropas viele Änderungen mit sich gebracht. Viele Geflüchtete aus der Ukraine wurden aufgenommen, besonders in Polen. Dies führe zu einer angespannten finanziellen Lage, denn etwa das polnische Bildungs- und Gesundheitssystem seien schon vorher unterfinanziert gewesen. Menschen in baltischen Ländern und in Polen spürten angesichts des russischen Angriffs ein ähnliches Bedrohungsgefühl und Ängste vor einer Ausweitung des Krieges. In der Slowakei und Ungarn gebe es starke innenpolitische Zerwürfnisse, die Menschen und Parteien seien teilweise auch prorussisch eingestellt. Viele Staaten rüsteten militärisch auf. Polen etwa habe Rüstungsdeals mit Südkorea und den USA abgeschlossen, so Kortas. Dabei gebe es kaum politische Diskussionen oder Kritik an den Waffenkäufen. Die Entscheidungen würden zügig gefällt. Woher das Geld kommen solle, sei jedoch unklar. Auch die Energiesicherheit spiele in den mittelosteuropäischen Staaten eine wichtige Rolle. Polen habe in den vergangenen Jahren auf eine Unabhängigkeit von russischen Energieträgern wie Gas oder Kohle gesetzt und Verträge mit Norwegen abgeschlossen, LNG-Terminals gebaut, zudem würden jetzt Atomkraftwerke gebaut. Die deutsche Energiepolitik werde von MOE-Staaten häufig als arrogant empfunden, auch jetzt in der Krise: Deutschland zahle viel und treibe so die Preise für Energie auch für andere in die Höhe. Die staatlichen und privaten Haushalte leiden sehr unter den hohen Preisen. Der Blick auf die Rolle Deutschlands sei insgesamt sehr kritisch, es gebe gerade in Sozialen Medien vielfach eine Art "Deutschland-Bashing". Kortas warf einen Blick auf die bevorstehenden Parlamentswahlen in Polen Ende 2023 – der Ausgang werde wahrscheinlich sehr knapp. Inflation, Energiesicherheit, Justizreform, Gesundheitsversorgung und der Krieg in der Ukraine seien wichtige Themen. Bei den letzten Wahlen hätten die Vertreter der PiS-Partei zum Ende des Wahlkampfs bei einigen Teilen der Bevölkerung stark mit anti-deutschen Ressentiments und Forderungen nach Reparationszahlungen gepunktet. Dies sei auch diesmal wieder möglich. Das polnische öffentlich-rechtliche Fernsehen sei "zu einem Propagandakanal geworden", so Kortas. Insgesamt werde in Polen die öffentliche Debatte in Deutschland sehr genau verfolgt, viele Medienberichte würden umfangreich zitiert. Andersherum sei es leider nicht so. Das Interesse am Nachbarland sei einfach nicht so groß, und leider blieben oft negative Schlagzeilen hängen, etwa über das Justizsystem, antidemokratische Bestrebungen oder erzkonservative Jugendliche. Einige Workshopteilnehmende berichteten von verschlechterten deutsch-polnischen Beziehungen anhand verschiedener Beispiele, so seien zum Beispiel einige polnische Archive für Ahnenforschung nicht mehr zugänglich. Kortas sieht in der jetzigen Situation jedoch auch eine Chance, dass Polen und Deutschland sich als Partner auf Augenhöhe begegnen. Die Journalistin Olivia Kortas berichtete davon, dass Ängste vor Russland und Warnungen aus mittel- und osteuropäischen Ländern nicht ernstgenommen worden seien. Auch in energiestrategischen Gesprächen seien warnende Stimmen beispielsweise von polnischen Expertinnen und Experten übergangen worden. Besonders kritisch sehe man die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands, bei denen es insbesondere um Gas- und Energieverträge mit Russland gegangen sei. (© Bundeswehr/Caldas Hofmann) Quellen / Literatur Dokumentation: Katharina Reinhold Dokumentation: Katharina Reinhold
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2023-04-14T00:00:00"
"2023-02-20T00:00:00"
"2023-04-14T00:00:00"
https://www.bpb.de/veranstaltungen/reihen/bensberger-gespraeche/518412/workshop-1-die-europaeische-zeitenwende-aus-der-sicht-ostmitteleuropas/
Die Journalistin Olivia Kortas gab im Workshop Einblicke in die Wahrnehmung des russischen Angriffs auf die Ukraine und der deutschen Reaktionen aus der Sicht ostmitteleuropäischer Länder, vor allem Polens.
[ "Deutschland", "Polen", "Krieg in der Ukraine", "Waffenlieferung", "Russischer Angriffskrieg" ]
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Analyse: "Eine gute Mutter schafft alles". Frauen zwischen Beruf und Erziehung in der Ukraine | Ukraine-Analysen | bpb.de
Zusammenfassung In der Ukraine sehen sich Mütter heutzutage konfrontiert mit den stereotypen Anforderungen der Gesellschaft an ihre Rolle in der Familie, den widersprüchlichen Einflüssen der Familienpolitik auf ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten und den Besonderheiten des oft mütterfeindlichen Arbeitsmarktes. Die Autorin analysiert die strukturellen Bedingungen der Mutterschaft: die Elternzeit, die Verfügbarkeit öffentlicher Kindergärten, die Chancen von Müttern auf dem Arbeitsmarkt, die verbreiteten Stereotype in Bezug auf die Frauenrolle in der Familie sowie die Wahrnehmung der Frau als "gute Mutter". Diese strukturellen Bedingungen bilden den Rahmen, der die aktuellen Formen der Mutterschaft in der Ukraine definiert. Elternzeit: de jure für jedes Familienmitglied, de facto für die Mutter Der voll bezahlte Mutterschutz wird berufstätigen Müttern in der Ukraine für 126 Kalendertage gewährt, davon 70 Tage vor der Geburt und 56 Tage nach der Geburt. Im Fall einer komplizierten Geburt oder der Geburt von zwei oder mehr Kindern erfolgt eine Verlängerung auf 70 Tage nach der Geburt. Nach dem Mutterschutz wird eine unbezahlte Elternzeit ("Erziehungsurlaub") von bis zu drei Jahren gewährt, in einigen Fällen bis zu sechs Jahren, wenn das Kind aufgrund seines Gesundheitszustands eine häusliche Pflege benötigt. Diese langen Zeiträume wurden 1981 eingeführt. Davor lag die Dauer der Elternzeit bei vier Monaten ab den 1920er Jahren und bis zu anderthalb Jahren ab den 1970er Jahren. Das aktuelle System des Erziehungsurlaubs ermöglicht zwar, dass Mutter oder Vater noch lange nach der Geburt beim Kind bleiben, trägt jedoch nicht dazu bei, Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung miteinander zu verbinden. Nach einer Umfrage der Online-Jobvermittlung "HeadHunter" aus dem Jahr 2016 nahm nur ein Drittel der befragten Mütter den Erziehungsurlaub vollständig in Anspruch: 7 Prozent kehrten schon innerhalb von drei Monaten nach der Geburt zur Arbeit zurück, weitere 29 Prozent innerhalb des ersten Jahres und 30 Prozent im zweiten Jahr nach der Geburt. (Externer Link: https://hh.ua/article/19712?utm_campaign=misc&utm_medium=email&utm_source=email&utm_content=rab_15_12_2016) 40 Prozent der Befragten nannten die finanzielle Lage in der Familie als Grund für die Verkürzung des Erziehungsurlaubs, 26 Prozent – Angst vor dem Verlust ihrer Qualifikationen, 19 Prozent – fehlende Lust auf Hausarbeit und häusliche Routinen sowie 16 Prozent – Interesse an Selbstverwirklichung und Weiterentwicklung im Beruf. Formal ist der Erziehungsurlaub geschlechtsneutral, da er von der Mutter oder dem Vater des Kindes, der Großmutter, dem Großvater oder anderen Angehörigen, die sich tatsächlich um das Kind kümmern, ganz oder teilweise genutzt werden kann. In der Praxis wird er jedoch fast ausschließlich von Frauen beantragt. Schätzungen zufolge nehmen nur 2 bis 3 Prozent der Väter in der Ukraine einen Erziehungsurlaub in Anspruch. Dies hat mehrere Gründe. Erstens gibt es in der Ukraine ein erhebliches geschlechtsspezifisches Lohngefälle von 23 Prozent zwischen Frauen und Männern. Wenn die Frau Erziehungsurlaub nimmt, ist so der Lohnausfall geringer. Zweitens gibt es in der Ukraine nach wie vor traditionelle Vorstellungen über die Rolle von Mutter und Vater, wobei die Betreuung eines Kindes als Aufgabe der Frau gesehen wird. In diesem Jahr wurde ein Gesetzentwurf eingebracht, der den Vätern einen bezahlten Urlaub von zehn Tagen nach der Geburt eines Kindes gewährt. Der Gesetzentwurf sieht für diese Maßnahme jedoch keine Ausgaben aus dem Staatshaushalt vor. Wie nicht anders zu erwarten, führte dies zu Empörung bei Arbeitgebervertretern, die offensichtlich die entsprechenden Kosten übernehmen müssten. Ich vermute, dass die überwiegende Mehrheit der Väter diesen Urlaub nicht nehmen würde – nicht nur, da die Arbeitgeber dagegen sein werden, sondern vor allem, weil ein großer Teil der Beschäftigung schwarz erfolgt und gesetzliche Vorschriften der sozialen Sicherung ignoriert. Die Mütter auf dem Arbeitsmarkt: Chancen und Grenzen Die ukrainische Gesetzgebung enthält viele Regeln zum Schutz der Arbeitsrechte der Mütter, die aus der sowjetischen Familienpolitik übernommen wurden. Beispielsweise dürfen schwangere Frauen und Frauen mit Kindern unter drei Jahren nachts nicht arbeiten, keine Überstunden leisten, nicht am Wochenende arbeiten und dürfen nicht auf Dienstreisen geschickt werden. Schwangere und Frauen, die Kinder unter drei Jahren haben, sowie alleinerziehende Mütter mit einem Kind unter 14 Jahren oder einem behinderten Kind unterliegen einem Kündigungsschutz. Eine berufstätige Frau, die zwei oder mehr Kinder unter 15 Jahren oder ein behindertes Kind hat, oder die ein Kind adoptiert hat, sowie alleinerziehende Mütter erhalten jährlich einen zusätzlichen bezahlten Urlaub von zehn Kalendertagen. Einige dieser Vorteile werden ausschließlich Müttern gewährt. Väter können von diesen Vorteilen auch profitieren – jedoch nur wenn sie alleinerziehend sind, während Mütter diese unabhängig von ihrem Familienstand erhalten. Einige Bestimmungen zum Schutz von Müttern können in der Praxis allerdings kaum durchgesetzt werden. Zum Beispiel gibt es eine Rechtsnorm, die die Ablehnung von Bewerbungen um eine Stelle oder Gehaltskürzungen wegen Schwangerschaft oder Kinderbetreuung – parallel zum oben angeführten Kündigungsschutz – verbietet. Wenn in einem solchen Fall eine Absage erteilt wird, ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Verweigerung schriftlich zu begründen, und diese kann vor Gericht angefochten werden. Selbstverständlich wird kein Arbeitgeber offen Schwangerschaft oder Kinder als Grund nennen. Insgesamt wirkt sich der Schutz von Müttern unter den Bedingungen umfangreicher Schwarzarbeit ambivalent auf die wirtschaftlichen Chancen von Frauen aus. Diskriminierungspraktiken gegen Frauen und Mütter bleiben auch deshalb bestehen, weil viele Arbeitgeber die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz von arbeitenden Müttern als Belastung empfinden, diese nur widerstrebend umsetzen und Frauen oft ungern einstellen. Ein Beispiel ist die 2013 gesetzlich eingeführte Anerkennung der Zeit des Mutterschutzes als Anrechnungszeit für die Rentenversicherung. Diese Neuregelung sollte die Situation der Mütter verbessern. In der Praxis zeigt sich bei in der Privatwirtschaft beschäftigten Müttern jedoch ein gegenteiliger Effekt. Damit der Mutterschutz bei der Rentenversicherung angerechnet werden kann, muss der Arbeitgeber die Sozialabgaben in Höhe von 33 Prozent des Lohnes und die Arbeitnehmerin weitere 2 Prozent leisten. Um die entsprechenden Zahlungen zu verringern, wird ein Großteil des Gehalts schwarz gezahlt. Eine Expertenschätzung geht so davon aus, dass das neue Gesetz zu einer Zunahme der Schwarzarbeit von 10 Prozent geführt hat (Externer Link: https://www.radiosvoboda.org/a/25048302.html). Die neue Regelung hat auch dazu geführt, dass Arbeitgeber schwangere Frauen zur Kündigung gezwungen haben (https://www.unian.ua/society/817662-zmi-noviy-podatok-na-vagitnist-uskladniv-stanovische-jinok- on-robots-video.html). Darüber hinaus bleiben die Arbeitsplätze weitgehend familienunfreundlich. Es mangelt an flexiblen Arbeitszeiten und Fernarbeit. Insbesondere in der Privatwirtschaft sind Überstunden und Wochenendarbeit weit verbreitet, was es Müttern mit kleinen Kindern schwierig macht, berufliche und familiäre Pflichten miteinander zu vereinbaren. Kindergärten: Platzmangel als großes Problem Generell ist die Abdeckung des Bedarfs an Kindergärten in der Ukraine recht hoch. Probleme gibt es jedoch vor allem für Mütter von Kindern unter drei Jahren, Mütter von Kindern mit Behinderungen und im ländlichen Raum. In den 1990er Jahren, als die Geburtenrate infolge der tiefen Wirtschaftskrise stark zurückging, wurden viele Kindergärten entweder in Privatbesitz übergeben oder geschlossen. Nach 2002 stiegen die Geburtenraten langsam an, was zu einem Mangel an Plätzen in Kindergärten führte. Im Jahr 2017 kamen auf 100 Plätze in staatlichen städtischen Kindergärten 123 Kinder. In einigen Regionen hat der Mangel an Kindergartenplätzen aufgrund der großen Anzahl an Binnenflüchtlingen infolge der Kämpfe in der Ostukraine seit 2014 stark zugenommen. In Reaktion auf den Mangel an Plätzen verweigern viele Kindergärten die Betreuung von Kindern unter drei Jahren. Im Ergebnis besuchten 2017 laut offizieller Statistik 14,8 Prozent der Kinder unter drei Jahren einen Kindergarten. Trotz erheblicher Fortschritte in der Entwicklung der integrativen Bildung bleibt das Problem der Verfügbarkeit von Kindergärten für Kinder mit Behinderungen akut. Im Jahr 2017 gab es in der Ukraine fast 15.000 Kindergärten, davon nur 97 mit integrativen Gruppen. Die Gesamtzahl der Kinder in Kindergärten in der Ukraine im Jahr 2017 betrug über 1 Million, davon 9.447 mit Behinderungen. Die Entwicklung privater Kinderbetreuungseinrichtungen kann nicht als Lösung betrachtet werden, da Babysitting und private Kindergärten teuer sind. Die jüngste Regierungsinitiative "städtisches Kindermädchen" zielt darauf ab, Familien bei der Einstellung von Kindermädchen durch Übernahme eines Kostenanteils zu unterstützen. Dieses Programm ist jedoch unwirksam, da die Unterstützung derzeit nur 1.600 Hrywnja pro Monat beträgt, während die monatlichen Kosten für einen Babysitter in der Ukraine von 5.000 Hrywnja in Kleinstädten bis zu 20.000 Hrywnja in der Hauptstadt reichen. Hinzu kommt, dass die Familie für den Erhalt dieser Unterstützung einen Vertrag mit dem Kindermädchen abschließen muss und dieses dafür offiziell als Unternehmerin registriert sein und Steuern zahlen muss. Daher bleibt die Kombination von Mutterschaft und Beruf für viele Frauen in der Ukraine eine Herausforderung. Aufgrund eines längeren unbezahlten Erziehungsurlaubs, des Mangels an verfügbaren Kindergartenplätzen, unflexiblen Beschäftigungsbedingungen und der Benachteiligung von Arbeitnehmerinnen mit Familienpflichten fallen Mütter für lange Zeit am Arbeitsmarkt aus. Dies führt zu negativen Konsequenzen wie einer Abnahme der wirtschaftlichen Aktivität von Müttern, der Verarmung von Familien mit Kindern und insbesondere alleinerziehenden Müttern oder dem Verlust der Berufsqualifikation während eines langen Erziehungsurlaubs. Die Balance zwischen Beruf und Mutterschaft wird auch durch das neue soziokulturelle Image der "guten" Mutter erschwert. In einer Marktwirtschaft sind ukrainische Mütter zwischen den Anforderungen des Arbeitsmarktes und den Vorstellungen einer "intensiven" und kindbezogenen Mutterschaft gefangen. Was bedeutet es in der Ukraine, eine "gute Mutter" zu sein? Die kinderfixierte Erziehung in der Ukraine ist Teil eines globalen Wandels der Mutterschaftskultur in europäischen Ländern. Diese neue Kultur basiert auf der Liebe zum Kind und der aufmerksamen Wahrnehmung seiner emotionalen Welt. Gleichzeitig gibt es eine gewisse Besonderheit dieses Trends in der Ukraine: Die neuen Standards stehen teilweise im Widerspruch zum sowjetischen Bildungsstil, der auf der frühen Fremdbetreuung und der Rückkehr der Mütter zur Arbeit beruhte und damit die Bildung einer emotionalen Nähe zwischen Mutter und Kind behinderte. Das Bild einer "verantwortungsbewussten Mutter" in der modernen Ukraine stellt viele Anforderungen an ihre Kenntnisse und Kompetenzen: Kinderpsychologie, frühkindliche intellektuelle Entwicklungstechniken, medizinisches Wissen, die Fähigkeit, den emotionalen Zustand eines Kindes zu erkennen und psychischen Traumata vorzubeugen, Kenntnisse des schulischen Lehrplans (um dem Kind bei den Hausaufgaben zu helfen) und mehr. Von Müttern wird aufgrund des geringen Lebensstandards aber auch erwartet, dass sie arbeiten, um zum materiellen Wohl der Familie beizutragen. Um dies zu illustrieren, folgen hier einige Zitate von berufstätigen Müttern, die ich fragte, wen sie als "gute Mutter" und "guten Vater" bezeichnen würden. Laut Tetjana (31 Jahre) verbindet eine "gute Mutter" erfolgreich die Rolle der Erzieherin, Lehrerin, beruflich erfolgreichen Frau und "Managerin" des Familienlebens: "Dies ist eine Mutter, die alles schafft. Eine Mutter, die dem Kind Selbständigkeit und Ordentlichkeit beibringt, aber auch Mathematik erklärt… Eine gute Mutter kann das alles, ohne genervt zu sein – Lesen, Schreiben und auch Englisch. Nach der Schule beschäftigt sie sich mit dem Kind… Natürlich kann eine gute Mutter ihre Karriere aufbauen, damit das Kind sich in zwei bis drei Jahren nicht schämt, vom Beruf seiner Mutter zu erzählen. Nun, eine gute Mutter kann sich auch Zeit für sich nehmen, und gleichzeitig eine Atmosphäre in der Familie schaffen, in der Papa und die Kinder wissen, was zu tun ist, und auch die Initiative ergreifen können". Die erfolgreiche Kombination mehrerer Rollen und die Fähigkeit, als "gute Mutter" Zeit für alles zu finden, beschreibt Natalia (34 Jahre) folgendermaßen: "Eine Mutter, die Zeit für ihr Baby, den Vater und für sich selbst finden kann. Das heißt, sie ist eine harmonische und vielseitig entwickelte Person. Eine ruhige und ausgeglichene Person. Das ist eine Mutter – eine professionelle Person, die sich auch in ihrem Beruf verwirklicht hat". Gleichzeitig konzentriert sich das Bild eines "guten Vaters" in der Ukraine häufig vor allem auf seine Rolle als "Ernährer": "Ein guter Vater verdient ein gutes Gehalt. Wenn der Vater gut verdient, kann ihm einiges vergeben werden… Zum Beispiel, dass er abends auf der Couch liegt" (Tetjana). "Papa muss Geld verdienen. Und Papa sollte ein Vorbild sein. Natürlich ist es heutzutage schwierig, gleichzeitig Geld zu verdienen und Zeit mit der Familie zu verbringen. Aber wenigstens einen Tag… Ich denke, auf Papa sollte man sich immer verlassen können, egal was kommt. Und die Mutter ist immer da und kümmert sich um alle" (Irina, 37 Jahre). "Ein guter Vater ist in erster Linie ein guter Verdiener. Dieses Einkommen sollte dann für Lebensmittel, Kleidung und außerschulische Aktivitäten ausreichen. Ein Ehemann und Vater ist der Versorger. Und Mama leistet die Unterstützung dazu. An erster Stelle Verdienst, an zweiter Stelle – Sorge für die eigene Familie" (Natalia, 34 Jahre). Geschlechterrollen in der ukrainischen Familie Die Wahrnehmung der Familienrollen von Frauen und Männern ist in der Ukraine weitgehend traditionell (siehe Grafik 1 auf S. 10). Die Einstellungen von Frauen sind egalitärer als die der Männer, aber auch bei ihnen sind diese stereotypen Wahrnehmungen weit verbreitet (siehe Grafik 2 auf S. 10). Die Zuordnung der Kinderbetreuung zu den Aufgaben der Frau findet im Familienalltag statt. 88 Prozent der Männer gaben an, dass meistens oder ausschließlich ihre Frau bei einem kranken Baby zu Hause geblieben ist (oder bleibt). Auch für das Windeln Wechseln und Anziehen des Babys (69 %) und die tägliche Pflege (62 %) ist ihrer Meinung nach eher die Frau zuständig. Eine gleichberechtigte Aufgabenteilung zwischen den Eltern ist charakteristisch für Erziehungspraktiken. 76 Prozent der Männer gaben an, dass sie gleichermaßen wie ihre Ehefrau an der Erziehung beteiligt waren sowie für die Freizeitgestaltung mit dem Kind (65 %) und die Kommunikation mit ihm (60 %) (Externer Link: https://ukraine.unfpa.org/en/publications/masculinity-today-mens-attitudes-gender-stereotypes-and-violence-against-women). Fazit In der Ukraine liegt die Verantwortung für die Kinderbetreuung vor allem bei Frauen. In der staatlichen Politik wird dieses System durch Gesetzesvorschriften zum Schutz berufstätiger Mütter unterstützt. Diese wirken sich aber ambivalent auf Arbeitnehmerinnen aus und verringern deren wirtschaftliche Chancen vor allem in der Privatwirtschaft. In der Praxis sind berufstätige Mütter in einer Marktwirtschaft, insbesondere im Kontext einer weit verbreiteten Schattenwirtschaft, anfällig für Diskriminierung. Der Arbeitsmarkt und die Familie führen so zur Reproduktion der existierenden Geschlechterordnung: Die Verantwortung von Frauen für reproduktive Arbeit schränkt ihre Chancen auf dem bezahlten Arbeitsmarkt ein (durch Diskriminierung und Beschäftigung in Niedriglohnsektoren). Die begrenzten Chancen auf dem Arbeitsmarkt tragen zur Festlegung der Verantwortung von Frauen für den privaten Bereich bei. Die staatliche Politik trägt dabei zur Reproduktion dieser Geschlechterordnung bei: Das System der langen unbezahlten Erziehungsurlaube (de facto Mutterurlaube) und die ungleichen Zugangsmöglichkeiten zu staatlichen Hilfemaßnahmen bei der Kinderbetreuung verfestigen dieses System. Klischeevorstellungen über Kinderbetreuung als weibliche Pflicht rechtfertigen diese Lage. Die traditionellen Geschlechterrollen werden in der Ukraine jedoch zunehmend in Frage gestellt. So wird das Bild der "aufopfernden" Mutterschaft als Beeinträchtigung der Selbstverwirklichung von Frauen zunehmend diskutiert. In der Öffentlichkeit wird den Geschichten von Männern, die sich um kleine Kinder kümmern, viel Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn auch bisher nur in Einzelfällen beginnen Unternehmen, familienfreundliche Arbeitsbedingungen zu schaffen. Umfragen zeigen, dass die geschlechtsspezifischen Stereotype bei der jüngeren Generation weniger verbreitet sind. Übersetzung aus dem Ukrainischen: Lina Pleines
Article
Olena Strelnyk (Büro für Gender-Strategien und Finanzierung, Poltawa und Fakultät für Soziologie, Nationale Taras-Schewtschenko-Universität, Kiew)
"2021-06-23T00:00:00"
"2019-12-12T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/302131/analyse-eine-gute-mutter-schafft-alles-frauen-zwischen-beruf-und-erziehung-in-der-ukraine/
Was bedeutet es in der Ukraine Mutter zu sein? Die Analyse zeigt auf, mit welchen Stereotypen das Bild der Mutter aufgeladen ist und wie die Familienpolitik strukturelle Bedingungen schafft, die wenig wirtschaftliche Möglichkeiten und Nachteile auf d
[ "Ukraine" ]
30,396
Glossar | Digitalisierung | bpb.de
Agenda Setting das Setzen konkreter Themenschwerpunkte, insbesondere in gesellschaftlichen oder politischen Debatten, und damit Bestimmung dessen, worüber geredet wird Algorithmus eine Handlungsvorgabe, um eine Aufgabe zu lösen. Der Algorithmus verarbeitet nach einer bestimmten Vorschrift Daten und liefert dann automatisiert ein Ergebnis. Anthropomorphismus Prozess der Vermenschlichung, indem anderen Lebewesen oder Objekten menschliche Eigenschaften zugesprochen werden Bandbreite auch Datenübertragungsrate; die digitale Datenmenge, die innerhalb einer Zeitspanne (zumeist eine Sekunde) über einen Übertragungskanal (Kabel oder Funk) übertragen wird bzw. werden kann Big Data große Datenmenge; zudem auch Sammelbegriff für Ansätze, um große Datenmengen auszuwerten und um Muster sowie Gesetzmäßigkeiten in diesen Daten zu entdecken binär Eigenschaft eines Zahlensystems, bei dem nur zwei Ziffern für die Darstellung von Zahlen verwendet werden. Diese Ziffern sind in der Darstellung üblicherweise 0 und 1. Black-Hat-Hackerin /-Hacker eine Person, die ihre Fähigkeiten im Hacken von Datensystemen für illegale oder ethisch verwerfliche Zwecke einsetzt, zum Beispiel um Sicherheitslücken aufzuspüren und so die Software für kriminelle Tätigkeiten auszunutzen Bring your own Device (BYOD) bezeichnet den Ansatz, bei dem Lernende ihre eigenen mobilen Endgeräte an Bildungsorte mitbringen, um sie dort zu nutzen Chatbot technisches System, das textbasiert mit Menschen in Dialog treten kann. Algorithmen bestimmen, welche Antworten ein Chatbot auf welche Fragen gibt. Client-Server-Kommunikation Form der elektronischen Kommunikation, bei der Computer (Clients) von einem zentralen Computer (Server) Dienste und Informationen anfordern. Der Server kommuniziert dabei zumeist mit mehreren Clients und hat eine zentrale Position in einem Netzwerk. Cloud IT-Infrastruktur, bei der verschiedene Geräte und Anwendungen, wie Speicherplatz oder Rechenleistung, über das Internet verfügbar gemacht werden Crowdworkerinnen/-worker selbstständig Beschäftigte, die über das Internet an Aufgaben mitarbeiten, die traditionell unternehmens- oder organisationsintern bearbeitet werden, zum Beispiel Kategorisierung von Materialien Cyberkrieg kriegerische Auseinandersetzung, die zwischen Staaten mit Mitteln der Informationstechnik oder um Mittel der Informationstechnik geführt wird Cyberkriminalität Straftaten, die mittels Computern oder in Computersystemen begangen werden Cybersicherheit auch Informationssicherheit; Eigenschaften von IT-Systemen, die ihre Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität sicherstellen sollen, aber auch die Beschäftigung damit Cyberspionage das Ausspähen von Daten in fremden Computersystemen mittels Hacks; wird oft von Staaten gegen andere Staaten begangen Darknet nicht-indizierter Teil des Internets, der deshalb nicht über herkömmliche Suchmaschinen gefunden werden kann Datenhoheit Personen, deren Daten erhoben, verarbeitet und gespeichert werden, wissen, welche Daten über sie, wo und wie gespeichert sind. digital divide auch digitale Kluft; bestehende Unterschiede des Zugangs zu Informationstechnologien verschiedener Bevölkerungsgruppen oder auch Volkswirtschaften aufgrund sozioökonomischer Faktoren digital literacy / Medien- und Digitalkompetenz Fähigkeit, digitale Technologien, Medien und ihre Inhalte sachkundig und reflektiert zu nutzen und einzusetzen DDoS-Attacke Cyberangriff, der dadurch ausgeführt wird, dass eine Vielzahl an Computern über das Internet Anfragen an ein Zielsystem schickt und es so zur Überlastung bringt Doxing das internetbasierte Sammeln und Veröffentlichen persönlicher, mitunter intimer Informationen E-Government Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in öffentlichen Institutionen Feed Technik zur einfachen und strukturierten, oft listenförmigen Darstellung von Veränderungen und Aktualisierungen auf Websites Filterblase auch Filterbubble; Konzept, wonach algorithmenbasierte Anwendungen, wie Nachrichtenaggregatoren oder soziale Netzwerke, Informationen so stark nach deren jeweiliger Relevanz für den Nutzer bzw. die Nutzerin filtern, dass Informations- und Meinungsvielfalt reduziert wird Gig-Economy Bereich des Arbeitsmarktes, bei dem zumeist kleine Aufträge kurzfristig an Selbstständige vergeben werden Hack / Hacking Finden und Ausnutzen von Schwächen in Soft- und Hardware, um in diese einzudringen und sie ggf. zu manipulieren Hackathon leitet sich vom Begriff Hack im Sinne einer Problemlösung ab und bezeichnet ein Vorgehen, bei dem Engagierte für einen begrenzten Zeitraum gemeinsam an Innovationen arbeiten, die einer bestimmten vorab definierten Herausforderung begegnen Hackerin / Hacker ursprünglich "Tüftlerin" bzw. "Tüftler"; bezeichnet heute Computerexpertinnen und -experten, die in der Lage sind, Schwächen in Soft- und Hardware aufzuspüren und auszunutzen Hardware Sammelbegriff für alle physischen Komponenten eines datenverarbeitenden Systems. Die Hardware führt dabei die Software aus. Hassrede, Online-Hassrede auch Hate Speech; sprachlicher Ausdruck des Hasses zur Beleidigung oder Herabsetzung einzelner Personen oder ganzer Personengruppen Homeschooling Form der Bildung, bei der Kinder und Jugendliche zu Hause oder auch an anderen Orten außerhalb der Schule unterrichtet werden HTTP (Hypertext Transfer Protocol) Protokoll zur Übertragung von Daten im Internet; zumeist verwendet, um Websites in einen Webbrowser zu laden Hybride Kriegsführung feindliches Verhalten eines Staates gegenüber einem anderen Staat mit Methoden, die über traditionelle Kriegsführung hinausgehen und insbesondere auf Manipulation des Gegners oder auf Geheimdienstoperationen setzen Industrie 4.0 verweist auf die vierte Industrielle Revolution und bezeichnet allgemein die weitgehende Automatisierung und Vernetzung der Produktion sowie zentraler Leistungen und Prozesse im Dienstleistungssektor Influencerin und Influencer Person, die online über eine hohe Reichweite verfügt und regelmäßig in sozialen Netzwerken veröffentlicht, oftmals zu bestimmten Themen. Ihr wird zugeschrieben, Einfluss auf ihre Zielgruppe in Bezug auf deren Konsumverhalten und Meinungsbildung zu haben. interaktives Whiteboard weiße horizontale Oberfläche – ähnlich einer Tafel –, die über Sensoren berührungsempfindlich ist und die direkte Interaktion mit Computersystemen ermöglicht Intermediäre auch Vermittler; Bindeglied zwischen zwei verschiedenen Ebenen. Soziale Netzwerke und Suchmaschinen sind beispielsweise Vermittler zwischen Information und Rezipientin oder Rezipient. Internet der Dinge auch "Internet of Things"; Sammelbegriff für Technologien, die physische Gegenstände miteinander und mit virtuellen Anwendungen verknüpfen Internet Governance im engeren Sinne die Verwaltung der zentralen Ressourcen des Internets und seiner Infrastruktur; im weiteren Sinne jegliche Regulierung, die die Nutzung oder Entwicklung des Internets beeinflusst. Darunter fällt insbesondere die Verwaltung von IP-Adressen sowie des weltweiten Webadressenverzeichnisses Domain Name System (DNS). Hierfür ist die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) verantwortlich. Internet Protocol (IP) weit verbreitetes Netzwerkprotokoll, das die Grundlage des Internets darstellt und das Versenden von Datenpaketen lokal und über das Internet ermöglicht. IP-Adressen markieren dabei mögliche Empfängerinnen/Empfänger und Absenderinnen/Absender von Datenpaketen. Internet Service Provider (ISPs) auch Internetdienstanbieter; Anbieter von Dienstleistungen oder Technologien, die für die Nutzung oder den Betrieb von Diensten im Internet erforderlich sind IT-Forensik Beweissicherung mittels Analyse technischer Merkmale und Spuren in Computersystemen und Netzwerken, zumeist, um sie als Beweismittel in gerichtlichen Verfahren zu verwenden Kritische Infrastruktur Infrastrukturen, die für das Funktionieren des staatlichen Gemeinwesens als wesentlich erachtet werden, zum Beispiel das Gesundheitswesen, der öffentliche Nahverkehr, Großbanken oder Telekommunikationsnetze Künstliche Intelligenz (KI) Sammelbegriff für wissenschaftliche Zweige, insbesondere in der Informatik, die sich mit der Automatisierung von Prozessen durch lernende Systeme bzw. automatisiertem intelligentem Verhalten beschäftigen; auch Begriff für Systeme, die maschinell lernen oder sich automatisiert intelligent verhalten. Der Begriff ist umstritten, weil "Intelligenz" nicht hinreichend definiert wird. Malware schadhafte Software; ein Computerprogramm, das Schwachstellen in anderer Software ausnutzt, um deren Funktionsweise zu manipulieren Marktortprinzip Prinzip zur Regelung der Rechtsstellung von Unternehmen. Laut diesem Prinzip müssen sich all diejenigen Unternehmen an die Regularien eines Landes halten, die in dem Markt dieses Landes geschäftlich aktiv sind – auch wenn sie ihren Standort im Ausland haben. Medienpädagogik Forschung und pädagogische Praxis, die sich mit Medien und ihren Inhalten beschäftigt Microtargeting Prozess zur Schaffung von auf die Vorlieben individueller Nutzerinnen/Nutzer ausgerichteter Werbung, die aus Datensammlungen der Person abgeleitet wurden MOOC Abkürzung für Massive Open Online Course (auf deutsch Offener Massen-Online-Kurs); Lehrangebote im Internet, die offen für alle und in den meisten Fällen kostenlos sind Open Educational Resources Lern- und Lehrmaterialen, die kostenlos und unter einer freien Lizenz zur Verfügung stehen PC, Desktop-PC, Personal Computer (stationärer) Computer für den Einsatz als Arbeitsplatzrechner auf Schreibtischen Peer-to-Peer (P2P)-Kommunikation kann mit Kommunikation unter Gleichen übersetzt werden. Bezeichnet in der Informatik die direkte elektronische Kommunikation zwischen zwei Computern, die formal gleichgestellt sind personenbezogene Daten Daten, die direkt oder mittelbar einer Person zugeordnet sind und beispielsweise Rückschlüsse auf ihre Eigenschaften zulassen Phishing E-Mails oder Websites werden so gefälscht, dass sie aus einer legitimen Quelle zu stammen scheinen. Picker Beschäftigte, die in großen Logistikzentren, angeleitet durch digitale Technologien, Waren für den Versand zusammenstellen Plattformökonomie Geschäftsmodell, in dessen Zentrum die Online- Plattform als Umschlagsort für Waren und Leistungen steht Quantified Self auch Selbstvermessung; erfasst das Vorgehen, mit dafür vorgesehener Hardware und Software ein umfassendes Datenbild der eigenen Person und des eigenen Lebens zu erstellen Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) spezielle Art der Überwachung, die Kommunikation erfasst, zum Beispiel durch Bildschirmfotos, bevor diese verschlüsselt wird oder nachdem diese entschlüsselt wurde Robotik Forschungs- und Anwendungsgebiet, bei dem IT-Systeme mit der physischen Welt mechanisch interagieren können Scoring Ansatz, der Werte auf Grundlage bestimmter Daten und Modelle berechnet, um eine Bewertung von Personen oder Vorhersagen über zukünftiges Verhalten zu ermöglichen Server Rollenbezeichnung eines Computers, der anderen Computern (Clients) Dienste und Informationen auf Anfrage zur Verfügung stellt Sharing-Economy Bereich der Wirtschaft, bei dem zumeist über Plattformen eine geteilte Nutzung von ganz oder teilweise ungenutzten Ressourcen ermöglicht wird Smart Cities Siedlungsräume, in denen Produkte, Dienstleistungen, Technologien, Prozesse und Infrastrukturen zum Einsatz kommen, die in der Regel durch vernetzte Informations- und Kommunikationstechnologien unterstützt werden Smart Objects Objekte, in welche Informationstechnik eingebaut ist und die dadurch über zusätzliche Fähigkeiten verfügen. Smart Objects können insbesondere Daten erfassen, verarbeiten und speichern sowie mit ihrer Umgebung interagieren. Smartwatches Uhren, die Körper- und Bewegungsdaten aufzeichnen, auswerten, über diverse Wege darstellen und damit nachvollziehbar machen sowie weitere Anwendungen integrieren, wie Nachrichten empfangen und Telefonate annehmen Social Bot (Chat-)Bot, der in sozialen Netzwerken eingesetzt wird, um beispielsweise mit Menschen zu kommunizieren Social Web Gesamtmenge an sozialen Netzwerken, Plattformen und Blogs im Internet, auf der sich Personen über ihre Profile miteinander vernetzen und austauschen Software Sammelbegriff für alle nicht-physischen (virtuellen) Komponenten eines datenverarbeitenden Systems. Software beschreibt, was ein datenverarbeitendes System tut und wie es Arbeitsschritte durchführt. Stakeholder Person oder Gruppe, die ein berechtigtes Interesse am Verlauf oder Ergebnis eines Prozesses hat, beispielsweise weil die Person oder Gruppe von diesem Prozess betroffen ist Streaming gleichzeitige Übertragung und Wiedergabe von Video und Audiodaten über das Internet Technikdeterminismus Ansatz der Soziologie, nach dem Technik soziale, politische und kulturelle Anpassungen und Wandel hervorruft Tracking Nachverfolgen von Nutzerverhalten im Internet mittels verschiedener Technologien, so wird automatisch registriert und gespeichert, welche Internetseiten für welche Zeitdauer besucht werden Trojaner heimlich eingeschleuste Schadsoftware, die das Zielsystem für die Zwecke der Hackerin bzw. des Hackers manipuliert Überwachungskapitalismus Wirtschaftsform, bei der nicht mehr länger natürliche Ressourcen oder Lohnarbeit die primären Rohstoffe bilden, sondern "menschliche Erlebnisse", die messbar gemacht werden sollen und damit digital erfasst, gespeichert und ausgewertet werden Wearables technische Geräte (Hardware), die am Körper getragen werden und etwa in Kleidung integriert sein können, um Daten über Körperfunktionen, Aktivitäten und Gewohnheiten zu sammeln Whistleblower Person, die ihr bekannte, vertrauliche Informationen an die Öffentlichkeit weitergibt, um beispielsweise Missstände wie Korruption aufzudecken White-Hat-Hackerin/-Hacker eine Person, die ihre Fähigkeiten im Hacken von Datensystemen für legale und ethisch gute Zwecke einsetzt, beispielsweise um Sicherheitslücken aufzuspüren und diese zu melden, damit sie beseitigt werden können World Wide Web über das Internet zugängliches System von Dokumenten, sogenannten Websites, die auf HTML basieren. HTML (Hypertext Markup Language) regelt, wie Informationen im Netz dargestellt werden. Zivilcourage, digitale Bereitschaft, sich online aktiv für Menschenrechte und breit geteilte gesellschaftliche Werte einzusetzen das Setzen konkreter Themenschwerpunkte, insbesondere in gesellschaftlichen oder politischen Debatten, und damit Bestimmung dessen, worüber geredet wird eine Handlungsvorgabe, um eine Aufgabe zu lösen. Der Algorithmus verarbeitet nach einer bestimmten Vorschrift Daten und liefert dann automatisiert ein Ergebnis. Prozess der Vermenschlichung, indem anderen Lebewesen oder Objekten menschliche Eigenschaften zugesprochen werden auch Datenübertragungsrate; die digitale Datenmenge, die innerhalb einer Zeitspanne (zumeist eine Sekunde) über einen Übertragungskanal (Kabel oder Funk) übertragen wird bzw. werden kann große Datenmenge; zudem auch Sammelbegriff für Ansätze, um große Datenmengen auszuwerten und um Muster sowie Gesetzmäßigkeiten in diesen Daten zu entdecken Eigenschaft eines Zahlensystems, bei dem nur zwei Ziffern für die Darstellung von Zahlen verwendet werden. Diese Ziffern sind in der Darstellung üblicherweise 0 und 1. eine Person, die ihre Fähigkeiten im Hacken von Datensystemen für illegale oder ethisch verwerfliche Zwecke einsetzt, zum Beispiel um Sicherheitslücken aufzuspüren und so die Software für kriminelle Tätigkeiten auszunutzen bezeichnet den Ansatz, bei dem Lernende ihre eigenen mobilen Endgeräte an Bildungsorte mitbringen, um sie dort zu nutzen technisches System, das textbasiert mit Menschen in Dialog treten kann. Algorithmen bestimmen, welche Antworten ein Chatbot auf welche Fragen gibt. Form der elektronischen Kommunikation, bei der Computer (Clients) von einem zentralen Computer (Server) Dienste und Informationen anfordern. Der Server kommuniziert dabei zumeist mit mehreren Clients und hat eine zentrale Position in einem Netzwerk. IT-Infrastruktur, bei der verschiedene Geräte und Anwendungen, wie Speicherplatz oder Rechenleistung, über das Internet verfügbar gemacht werden selbstständig Beschäftigte, die über das Internet an Aufgaben mitarbeiten, die traditionell unternehmens- oder organisationsintern bearbeitet werden, zum Beispiel Kategorisierung von Materialien kriegerische Auseinandersetzung, die zwischen Staaten mit Mitteln der Informationstechnik oder um Mittel der Informationstechnik geführt wird Straftaten, die mittels Computern oder in Computersystemen begangen werden auch Informationssicherheit; Eigenschaften von IT-Systemen, die ihre Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität sicherstellen sollen, aber auch die Beschäftigung damit das Ausspähen von Daten in fremden Computersystemen mittels Hacks; wird oft von Staaten gegen andere Staaten begangen nicht-indizierter Teil des Internets, der deshalb nicht über herkömmliche Suchmaschinen gefunden werden kann Personen, deren Daten erhoben, verarbeitet und gespeichert werden, wissen, welche Daten über sie, wo und wie gespeichert sind. auch digitale Kluft; bestehende Unterschiede des Zugangs zu Informationstechnologien verschiedener Bevölkerungsgruppen oder auch Volkswirtschaften aufgrund sozioökonomischer Faktoren Fähigkeit, digitale Technologien, Medien und ihre Inhalte sachkundig und reflektiert zu nutzen und einzusetzen Cyberangriff, der dadurch ausgeführt wird, dass eine Vielzahl an Computern über das Internet Anfragen an ein Zielsystem schickt und es so zur Überlastung bringt das internetbasierte Sammeln und Veröffentlichen persönlicher, mitunter intimer Informationen Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in öffentlichen Institutionen Technik zur einfachen und strukturierten, oft listenförmigen Darstellung von Veränderungen und Aktualisierungen auf Websites auch Filterbubble; Konzept, wonach algorithmenbasierte Anwendungen, wie Nachrichtenaggregatoren oder soziale Netzwerke, Informationen so stark nach deren jeweiliger Relevanz für den Nutzer bzw. die Nutzerin filtern, dass Informations- und Meinungsvielfalt reduziert wird Bereich des Arbeitsmarktes, bei dem zumeist kleine Aufträge kurzfristig an Selbstständige vergeben werden Finden und Ausnutzen von Schwächen in Soft- und Hardware, um in diese einzudringen und sie ggf. zu manipulieren leitet sich vom Begriff Hack im Sinne einer Problemlösung ab und bezeichnet ein Vorgehen, bei dem Engagierte für einen begrenzten Zeitraum gemeinsam an Innovationen arbeiten, die einer bestimmten vorab definierten Herausforderung begegnen ursprünglich "Tüftlerin" bzw. "Tüftler"; bezeichnet heute Computerexpertinnen und -experten, die in der Lage sind, Schwächen in Soft- und Hardware aufzuspüren und auszunutzen Sammelbegriff für alle physischen Komponenten eines datenverarbeitenden Systems. Die Hardware führt dabei die Software aus. auch Hate Speech; sprachlicher Ausdruck des Hasses zur Beleidigung oder Herabsetzung einzelner Personen oder ganzer Personengruppen Form der Bildung, bei der Kinder und Jugendliche zu Hause oder auch an anderen Orten außerhalb der Schule unterrichtet werden Protokoll zur Übertragung von Daten im Internet; zumeist verwendet, um Websites in einen Webbrowser zu laden feindliches Verhalten eines Staates gegenüber einem anderen Staat mit Methoden, die über traditionelle Kriegsführung hinausgehen und insbesondere auf Manipulation des Gegners oder auf Geheimdienstoperationen setzen verweist auf die vierte Industrielle Revolution und bezeichnet allgemein die weitgehende Automatisierung und Vernetzung der Produktion sowie zentraler Leistungen und Prozesse im Dienstleistungssektor Person, die online über eine hohe Reichweite verfügt und regelmäßig in sozialen Netzwerken veröffentlicht, oftmals zu bestimmten Themen. Ihr wird zugeschrieben, Einfluss auf ihre Zielgruppe in Bezug auf deren Konsumverhalten und Meinungsbildung zu haben. weiße horizontale Oberfläche – ähnlich einer Tafel –, die über Sensoren berührungsempfindlich ist und die direkte Interaktion mit Computersystemen ermöglicht auch Vermittler; Bindeglied zwischen zwei verschiedenen Ebenen. Soziale Netzwerke und Suchmaschinen sind beispielsweise Vermittler zwischen Information und Rezipientin oder Rezipient. auch "Internet of Things"; Sammelbegriff für Technologien, die physische Gegenstände miteinander und mit virtuellen Anwendungen verknüpfen im engeren Sinne die Verwaltung der zentralen Ressourcen des Internets und seiner Infrastruktur; im weiteren Sinne jegliche Regulierung, die die Nutzung oder Entwicklung des Internets beeinflusst. Darunter fällt insbesondere die Verwaltung von IP-Adressen sowie des weltweiten Webadressenverzeichnisses Domain Name System (DNS). Hierfür ist die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) verantwortlich. weit verbreitetes Netzwerkprotokoll, das die Grundlage des Internets darstellt und das Versenden von Datenpaketen lokal und über das Internet ermöglicht. IP-Adressen markieren dabei mögliche Empfängerinnen/Empfänger und Absenderinnen/Absender von Datenpaketen. auch Internetdienstanbieter; Anbieter von Dienstleistungen oder Technologien, die für die Nutzung oder den Betrieb von Diensten im Internet erforderlich sind Beweissicherung mittels Analyse technischer Merkmale und Spuren in Computersystemen und Netzwerken, zumeist, um sie als Beweismittel in gerichtlichen Verfahren zu verwenden Infrastrukturen, die für das Funktionieren des staatlichen Gemeinwesens als wesentlich erachtet werden, zum Beispiel das Gesundheitswesen, der öffentliche Nahverkehr, Großbanken oder Telekommunikationsnetze Sammelbegriff für wissenschaftliche Zweige, insbesondere in der Informatik, die sich mit der Automatisierung von Prozessen durch lernende Systeme bzw. automatisiertem intelligentem Verhalten beschäftigen; auch Begriff für Systeme, die maschinell lernen oder sich automatisiert intelligent verhalten. Der Begriff ist umstritten, weil "Intelligenz" nicht hinreichend definiert wird. schadhafte Software; ein Computerprogramm, das Schwachstellen in anderer Software ausnutzt, um deren Funktionsweise zu manipulieren Prinzip zur Regelung der Rechtsstellung von Unternehmen. Laut diesem Prinzip müssen sich all diejenigen Unternehmen an die Regularien eines Landes halten, die in dem Markt dieses Landes geschäftlich aktiv sind – auch wenn sie ihren Standort im Ausland haben. Forschung und pädagogische Praxis, die sich mit Medien und ihren Inhalten beschäftigt Prozess zur Schaffung von auf die Vorlieben individueller Nutzerinnen/Nutzer ausgerichteter Werbung, die aus Datensammlungen der Person abgeleitet wurden Abkürzung für Massive Open Online Course (auf deutsch Offener Massen-Online-Kurs); Lehrangebote im Internet, die offen für alle und in den meisten Fällen kostenlos sind Lern- und Lehrmaterialen, die kostenlos und unter einer freien Lizenz zur Verfügung stehen (stationärer) Computer für den Einsatz als Arbeitsplatzrechner auf Schreibtischen kann mit Kommunikation unter Gleichen übersetzt werden. Bezeichnet in der Informatik die direkte elektronische Kommunikation zwischen zwei Computern, die formal gleichgestellt sind Daten, die direkt oder mittelbar einer Person zugeordnet sind und beispielsweise Rückschlüsse auf ihre Eigenschaften zulassen E-Mails oder Websites werden so gefälscht, dass sie aus einer legitimen Quelle zu stammen scheinen. Beschäftigte, die in großen Logistikzentren, angeleitet durch digitale Technologien, Waren für den Versand zusammenstellen Geschäftsmodell, in dessen Zentrum die Online- Plattform als Umschlagsort für Waren und Leistungen steht auch Selbstvermessung; erfasst das Vorgehen, mit dafür vorgesehener Hardware und Software ein umfassendes Datenbild der eigenen Person und des eigenen Lebens zu erstellen spezielle Art der Überwachung, die Kommunikation erfasst, zum Beispiel durch Bildschirmfotos, bevor diese verschlüsselt wird oder nachdem diese entschlüsselt wurde Forschungs- und Anwendungsgebiet, bei dem IT-Systeme mit der physischen Welt mechanisch interagieren können Ansatz, der Werte auf Grundlage bestimmter Daten und Modelle berechnet, um eine Bewertung von Personen oder Vorhersagen über zukünftiges Verhalten zu ermöglichen Rollenbezeichnung eines Computers, der anderen Computern (Clients) Dienste und Informationen auf Anfrage zur Verfügung stellt Bereich der Wirtschaft, bei dem zumeist über Plattformen eine geteilte Nutzung von ganz oder teilweise ungenutzten Ressourcen ermöglicht wird Siedlungsräume, in denen Produkte, Dienstleistungen, Technologien, Prozesse und Infrastrukturen zum Einsatz kommen, die in der Regel durch vernetzte Informations- und Kommunikationstechnologien unterstützt werden Objekte, in welche Informationstechnik eingebaut ist und die dadurch über zusätzliche Fähigkeiten verfügen. Smart Objects können insbesondere Daten erfassen, verarbeiten und speichern sowie mit ihrer Umgebung interagieren. Uhren, die Körper- und Bewegungsdaten aufzeichnen, auswerten, über diverse Wege darstellen und damit nachvollziehbar machen sowie weitere Anwendungen integrieren, wie Nachrichten empfangen und Telefonate annehmen (Chat-)Bot, der in sozialen Netzwerken eingesetzt wird, um beispielsweise mit Menschen zu kommunizieren Gesamtmenge an sozialen Netzwerken, Plattformen und Blogs im Internet, auf der sich Personen über ihre Profile miteinander vernetzen und austauschen Sammelbegriff für alle nicht-physischen (virtuellen) Komponenten eines datenverarbeitenden Systems. Software beschreibt, was ein datenverarbeitendes System tut und wie es Arbeitsschritte durchführt. Person oder Gruppe, die ein berechtigtes Interesse am Verlauf oder Ergebnis eines Prozesses hat, beispielsweise weil die Person oder Gruppe von diesem Prozess betroffen ist gleichzeitige Übertragung und Wiedergabe von Video und Audiodaten über das Internet Ansatz der Soziologie, nach dem Technik soziale, politische und kulturelle Anpassungen und Wandel hervorruft Nachverfolgen von Nutzerverhalten im Internet mittels verschiedener Technologien, so wird automatisch registriert und gespeichert, welche Internetseiten für welche Zeitdauer besucht werden heimlich eingeschleuste Schadsoftware, die das Zielsystem für die Zwecke der Hackerin bzw. des Hackers manipuliert Wirtschaftsform, bei der nicht mehr länger natürliche Ressourcen oder Lohnarbeit die primären Rohstoffe bilden, sondern "menschliche Erlebnisse", die messbar gemacht werden sollen und damit digital erfasst, gespeichert und ausgewertet werden technische Geräte (Hardware), die am Körper getragen werden und etwa in Kleidung integriert sein können, um Daten über Körperfunktionen, Aktivitäten und Gewohnheiten zu sammeln Person, die ihr bekannte, vertrauliche Informationen an die Öffentlichkeit weitergibt, um beispielsweise Missstände wie Korruption aufzudecken eine Person, die ihre Fähigkeiten im Hacken von Datensystemen für legale und ethisch gute Zwecke einsetzt, beispielsweise um Sicherheitslücken aufzuspüren und diese zu melden, damit sie beseitigt werden können über das Internet zugängliches System von Dokumenten, sogenannten Websites, die auf HTML basieren. HTML (Hypertext Markup Language) regelt, wie Informationen im Netz dargestellt werden. Bereitschaft, sich online aktiv für Menschenrechte und breit geteilte gesellschaftliche Werte einzusetzen
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2022-01-12T00:00:00"
"2020-11-16T00:00:00"
"2022-01-12T00:00:00"
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/digitalisierung-344/digitalisierung-344/318924/glossar/
Auf dieser Seite finden Sie das Glossar zur Ausgabe.
[ "IZPB", "Digitalisierung" ]
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Impuls Esskompetenz | teamGLOBAL | bpb.de
Als PDF herunterladen (505.5kB) Mit der voranschreitenden Industrialisierung änderte sich auch unser Ernährungsmodell. Die Produktionskette unser Lebensmittel wurde deutlich komplexer, der Verarbeitungsgrad stieg und auch der ‚Außerhausverzehr‘ nahm zu. Auch unsere Erwartungen an Essen haben sich in den letzten 100 Jahren stark verändernd. Mit "‚Convenience Food" kamen auch die Zusatzstoffe in unser Essen wie das Impulsreferat von Michael Stollt zum Thema "Aromen, Geschmacksverstärker, Konservierungsstoffe und Co. – Ein Blick auf die Rückseite der Verpackung" zeigt. Zum Download: Interner Link: Esskompetenz Als PDF herunterladen (505.5kB)
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Bundeszentrale für politische Bildung
"2021-06-23T00:00:00"
"2012-02-26T00:00:00"
"2021-06-23T00:00:00"
https://www.bpb.de/die-bpb/partner/teamglobal/67556/impuls-esskompetenz/
Der Impulsvortrag bietet einen Überblick darüber, was Zusatzstoffe sind, welche Bedingungen sie erfüllen müssen, um zugelassen zu werden und warum sie in so vielen Produkten enthalten sind. Bei der Suche nach Alternativen ist auch der Kunde gefragt,
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Vor 15 Jahren: EU-Osterweiterung | Hintergrund aktuell | bpb.de
Am 1. Mai 2004 öffneten der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer und sein polnischer Amtskollege Włodzimierz Cimoszewicz symbolisch die Grenze zwischen Frankfurt (Oder) und Słubice. Noch in derselben Nacht überquerten Hunderte die Oderbrücke zwischen Deutschland und Polen in beide Richtungen und nutzten damit das Recht des freien Personenverkehrs. Mit der sogenannten Interner Link: Osterweiterung galt die Teilung Europas – rund 15 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – als überwunden. Insgesamt zehn Staaten traten an diesem Tag der Europäischen Union bei: die baltischen Staaten und ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen, außerdem Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, die frühere jugoslawische Teilrepublik Slowenien sowie die beiden Mittelmeerstaaten Malta und Zypern. Die EU wuchs von 15 auf 25 Mitglieder – und begrüßte damit rund 75 Millionen neue Unionsbürgerinnen und –bürger. Davon lebte etwa die Hälfte in Polen. Beschränkungen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit Vor dem Beitritt der neuen Mitglieder gab es in einigen der alten Mitgliedsstaaten Interner Link: Vorbehalte wegen der möglichen Folgen der Osterweiterung. Zu groß sei der wirtschaftliche Rückstand der Beitrittsländer zu den bisherigen Mitgliedsstaaten. Auch das Lohngefälle wurde immer wieder als Argument gegen die Erweiterungsrunde angeführt. Viele fürchteten, dass die Zuwanderung von Arbeitskräften aus den neuen Mitgliedsstaaten zu Niedriglöhnen und höherer Arbeitslosigkeit führen könnte. Die Debatte wurde besonders in Deutschland kontrovers geführt: Unmittelbar vor der Beitrittsrunde im Mai 2004 sprachen sich im Interner Link: Eurobarometer nur 28 Prozent der Deutschen für die Erweiterung aus – in keinem anderen alten EU-Mitgliedsstaat lagen die Zustimmungsraten so niedrig (Durchschnittliche Zustimmung in den alten Mitgliedsstaaten: 39 Prozent). Bezüglich der Arbeitnehmerfreizügigkeit einigten sich die Staaten auf eine Übergangszeit ("2+3+2-Regel"): Binnen sieben Jahren konnten die bisherigen Mitgliedsstaaten in drei Stufen entscheiden, ob sie ihren Arbeitsmarkt für Arbeitskräfte aus den neuen Mitgliedsländern öffnen wollten. Nur drei Mitgliedsstaaten – Irland, Schweden und Großbritannien – erlaubten Arbeitsmigration bereits im Jahr 2004. Deutschland und Österreich warteten bis 2011 und reizten die Frist damit voll aus. Die Übergangsregelung galt nicht für Bürgerinnen und Bürger aus Malta und Zypern. Sie besitzen seit dem 1. Mai 2004 die volle Freizügigkeit. Am 1. Januar 2007 traten Bulgarien und Rumänien der EU bei. Sechs Jahre später, am 1. Juli 2013, folgte Kroatien. Enormer Gewinn an Wirtschaftskraft Die neuen Mitgliedsstaaten haben seit 2004 signifikant an Wirtschaftskraft hinzugewonnen. Legt man das Interner Link: Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Kaufkraftstandards (KKS) zu Grunde, lag beispielsweise Litauen im Jahr 2006 lediglich bei 55 Prozent der durchschnittlichen Wirtschaftsleistung der Staaten in der EU, heute sind es 78 Prozent. Tschechien erreichte 2017 bereits 89 Prozent des durchschnittlichen EU-BIPs nach Kaufkraftstandards, Polen 70 Prozent. Etwas anders sieht es bei Bulgarien und Rumänien aus, die erst 2007 der EU beitraten. Die beiden Staaten erreichen heute erst 49 beziehungsweise 63 Prozent der durchschnittlichen EU-Wirtschaftskraft, wobei besonders im Fall von Rumänien seit dem EU-Beitritt eine positive Entwicklung festzustellen ist. Hohe Mobilitätsquote Auch die Unterschiede bei den Interner Link: Arbeitskosten sind längst nicht mehr so hoch, wie sie es beim Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder zur EU im Jahr 2004 waren. Damals bezahlten Arbeitgeber im Schnitt 4,70 Euro pro Arbeitsstunde in Polen, heute sind es 10,10 Euro – ein Plus von 115 Prozent. Im gleichen Zeitraum sind die durchschnittlichen Arbeitskosten in der gesamten EU lediglich um 38 Prozent gestiegen – eine Arbeitsstunde kommt Unternehmen heute mit 27,40 Euro zu stehen. Trotz des relativen wirtschaftlichen Aufschwungs in Osteuropa seit 2004 ist die Interner Link: Mobilitätsquote in manchen der neuen Mitgliedsstaaten überdurchschnittlich hoch. Mehr als 15 Prozent der 15- bis 64-jährigen Rumänen hatte bis 2014 schon einmal mehr als zehn Jahre im Ausland gelebt. Auch in Litauen, Lettland und Kroatien waren es über zehn Prozent. Insgesamt finden sich unter den zehn EU-Staaten mit der höchsten Mobilitätsquote acht osteuropäische Länder, die zwischen 2004 und 2013 der Union beigetreten sind. Die Migration hat jedoch durchaus ihre Schattenseiten – diese werden vor allem in den Herkunftsländern sichtbar. Im Jahr 2017 lebten knapp ein Fünftel (19,7 Prozent) der rumänischen Bevölkerung zwischen 20 und 64 Jahren zum Arbeiten im EU-Ausland. Auch Litauen (15,0 Prozent), Kroatien (14,0 Prozent), Portugal (13,9 Prozent), Lettland (12,9 Prozent) und Bulgarien (12,5) Prozent verfügen über eine hohe Mobilitätsquote. Allerdings mehren sich die Zeichen, dass mit dem anhaltenden Wirtschaftswachstum die Auswanderung abebbt. Tschechiens Bevölkerung ist seit 2009 leicht gewachsen, und auch Polen hat seit 2009 weniger als ein Prozent seiner Einwohner verloren. In Ungarn schrumpft die Bevölkerung dagegen weiterhin, 600.000 ungarische Staatsbürger arbeiten mittlerweile im EU-Ausland. Beobachter erklären das zumindest teilweise mit der autoritären Politik von Ministerpräsident Viktor Orban, die viele Oppositionelle auch beruflich marginalisiert. Sieben Staaten sind Mitglied der Eurozone geworden Seit 2004 sind insgesamt sieben der neuen Mitgliedsstaaten der europäischen Gemeinschaftswährung Euro beigetreten: Slowenien (2007), Zypern und Malta (beide 2008), die Slowakei (2009), Estland (2011), Lettland (2014) und Litauen (2015). Damit ist der Euro zurzeit Landeswährung in 19 von 28 EU-Mitgliedsstaaten. Zu den wirtschaftlichen Voraussetzungen (Interner Link: Konvergenzkriterien) für einen Beitritt zum Euro gehören eine geringe Inflation sowie eine jährliche Neuverschuldung, die höchstens 3 Prozent des BIP beträgt. Grundsätzlich haben sich alle anderen EU-Staaten, die den Euro noch nicht eingeführt haben, zum Beitritt zur Währungsunion verpflichtet – sobald sie die Konvergenzkriterien erfüllen (mit Ausnahme Dänemarks und Großbritanniens). Allerdings gibt es gegenüber einer Euro-Einführung derzeit Vorbehalte in manchen mittel- und osteuropäischen Staaten, wie zum Beispiel in Polen. Die aktuellen Probleme zwischen den älteren und den jüngeren EU-Staaten sind vor allem politischer Natur. In Ungarn und Polen regieren seit 2010 beziehungsweise seit 2015 euroskeptische Parteien, die schrittweise demokratische Prinzipien aushebeln, wie zum Beispiel die Gewaltenteilung und die Pressefreiheit. Das hat wiederholt zu Spannungen geführt und drückt sich derzeit auch in der Debatte um neue Sanktionsmechanismen für EU-Staaten aus, die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen brechen. Zurzeit haben neben der Türkei vier südosteuropäische Staaten den Status als EU-Beitrittskandidaten: Albanien, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien. Während ein EU-Beitritt der Türkei derzeit unrealistisch erscheint, hat EU-Kommissionspräsident Juncker für Montenegro und Serbien zuletzt 2025 als möglichen Zeithorizont genannt, sollten bis dahin die Beitrittskriterien vollständig erfüllt sein. Bosnien-Herzegowina und Kosovo gelten als "potenzielle Beitrittskandidaten" – mit diesen beiden Staaten wurden noch keine offiziellen Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Mehr zum Thema: Interner Link: Marianne Haase: Binnenmigration in der Europäischen Union Interner Link: Fünf Jahre Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland (Hintergrund aktuell, 28.4.2016) Interner Link: Die EU-Osterweiterung und die Arbeitnehmerfreizügigkeit
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"2022-06-01T00:00:00"
"2019-04-29T00:00:00"
"2022-06-01T00:00:00"
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/290350/vor-15-jahren-eu-osterweiterung/
Im Mai 2004 fand die bisher größte Erweiterung der EU statt. Die meisten der zehn mittel- und osteuropäischen Beitrittsstaaten haben sich seitdem aus wirtschaftlicher Sicht positiv entwickelt. Die Rechtsstaatsverfahren gegen Polen und Ungarn relativi
[ "europäische Union", "EU", "Erweiterung", "EU-Erweiterung", "Polen", "Lettland", "Litauen", "Malta", "Zypern", "Estland", "Ungarn", "Tschechien", "Slowenien", "Slowakei", "Mitteleuropa", "Osteuropa", "Migration", "Euro", "Arbeitnehmerfreizügigkeit", "Polen", "Lettland", "Litauen", "Malta", "Zypern", "Estland", "Ungarn", "Tschechien", "Slowenien", "Slowakei" ]
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